Johannes Haller: Eine politische Gelehrtenbiographie 9783666360848, 9783647360843, 1902190490, 1904191399, 9783525360842


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Johannes Haller: Eine politische Gelehrtenbiographie
 9783666360848, 9783647360843, 1902190490, 1904191399, 9783525360842

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Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Band 93

Benjamin Hasselhorn

Johannes Haller Eine politische Gelehrtenbiographie Mit einer Edition des unveröffentlichten Teils der Lebenserinnerungen Johannes Hallers

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Schriftenreihe wird herausgegeben vom Sekretär der Historischen Kommission: Helmut Neuhaus

Umschlagabbildung: Johannes Haller am Schreibtisch. Stuttgart 1934. Universitätsarchiv Tübingen, Nachlass Johannes Haller (302/24) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-36084-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit Unterstützung der Franz Schnabel Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2014 von der Philosophischen Fakultät der Universität Passau als Dissertation angenommen. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

II.

Ancien Régime (1865–1890) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Baltische Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Vaterkomplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3. Russifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

III. Deutscher Schock (1890–1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Berlin – ein »scheußliches Nest« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Promotion in Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 IV. Römische Heimat und Basler Intermezzo (1892–1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Das Königlich Preußische Historische Institut . . . . . . . . . . . 47 2. Haller und das Repertorium Germanicum 1892–1897 . . . . . . 49 3. Leben und Arbeiten in Rom 1892–1897 . . . . . . . . . . . . . . . 52 4. Concilium Basiliense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5. Basel 1897–1901 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 6. Ein Kampf um Rom 1901–1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 V.

Gelehrte Isolation (1902–1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Ein Kampf um Rom – zweite Runde . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Marburg 1902–1904 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Gießen 1904–1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Berufung nach Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

VI. Weltkriegsdeuter (1914–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Geistige Kriegführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Wissenschaft im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Akademischer Rektor im Zusammenbruch . . . . . . . . . . . . . 140

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Inhalt

VII. Berühmter Außenseiter (1918–1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Politische Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3. Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4. Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6. Emeritierung und Nachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 VIII. Nationalsozialismus (1933–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 1. Die Auferstehung der deutschen Nation? . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Papsttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 4. Finis Germaniae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 IX. Überlebt (1945–1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 X.

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

XI. Anhang: Johannes Haller: Lebenserinnerungen, Teil IV . . . . . . . 287 Vorbemerkung des Bearbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Johannes Haller Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes. Teil IV: Im Strom der Zeit . . . 290 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 1. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 2. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 a) Publikationen Hallers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 b) Sonstige gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 3. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

Vorwort Die hier vorgelegte politische Gelehrtenbiographie Johannes Hallers wurde im Sommersemester 2014 von der Universität Passau als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie überarbeitet und um eine Edition des letzten, bislang unveröffentlichten Teils der Lebenserinnerungen Hallers ergänzt. Zusammen mit der von mir bearbeiteten Edition der Briefe Hallers, die im September 2014 in der von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Reihe »Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts« erschienen ist, versteht sich diese Arbeit als ein erster Deutungsversuch dieses eigenwilligen, einstmals berühmten Außenseiters der historischen Zunft. Die Entscheidung, eine biographische Studie über Johannes Haller zu verfassen, fiel erst, als ich bereits mit der Arbeit an der Briefedition begonnen hatte. Die Biographie verdankt ihre Existenz also der Edition, und aus diesem Grund habe ich hier zuerst denen zu danken, ohne die die Edition nicht hätte fertiggestellt werden können: Herrn Dr. Christian Kleinert, dessen Vorarbeiten zur Edition auch für die Biographie eine unabdingbare Voraussetzung bildeten; Herrn Prof. Dr. Heribert Müller, dem Pionier der Haller-Forschung und Initiator der Edition, dem ich zahlreiche Hinweise und Hilfestellungen verdanke; Herrn Prof. Dr. Helmut Neuhaus und Herrn Dr. Karl-Ulrich Gelberg, die vonseiten der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die notwendigen organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen bereitgestellt und sich auch darüber hinaus intensiv um das Gedeihen meiner Haller-Forschungen gekümmert haben bis hin zur Aufnahme dieser Arbeit in die Schriftenreihe der Kommission; Herrn Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, unter dessen Leitung ich die Edition übernehmen und zum Abschluss führen konnte und der mir am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Passau ein ideales Arbeitsumfeld geboten hat. In diesem Sinne danke ich auch den Teilnehmern des Oberseminars von Prof. Kraus für die mehrfache Gelegenheit, die verschiedenen Ergebnisse und Arbeitsstände dieser Arbeit zur Diskussion zu stellen. Insbesondere danke ich den Herren Prof. Dr. Martin Hille, PD Dr. Marc von Knorring, Sven Prietzel und Markus Schubert für die stete Bereitschaft, das Thema Haller mit mir zu diskutieren und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Für die Hilfe beim Korrekturlesen danke ich den Herren Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, PD Dr. Marc von Knorring, Dr. Hartmut Voelkel und Fabian Schmidt. Für hilfreiche Hinweise im Zusammenhang mit Hallers Verhältnis zu Karl Hampe sowie zur Identifikation mancher von Haller aus dem Gedächtnis nicht ganz wortgetreu zitierter Goethesprüche danke ich Herrn Prof. Dr. Folker Reichert.

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Vorwort

Herrn Prof. Dr. Anton Schindling und Herrn Prof. Dr. Franz-Reiner Erkens danke ich für die Erstellung von Gutachten für meine Dissertation. Mein größter Dank schließlich gilt noch einmal meinem Erstgutachter und Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hans-Christof Kraus. Seine stete Bereitschaft, seinen Doktoranden wissenschaftlich wie persönlich zu betreuen und zu fördern, geht weit über das erwartbare Maß hinaus. Berlin, am Georgstag 2015

Benjamin Hasselhorn

I. Einleitung Die Biographie Johannes Hallers ist ein Desiderat der Geschichtsforschung, das nahezu von jedem, der sich in den vergangenen Jahren wissenschaftlich mit Haller befasst hat, als solches benannt wird.1 Dennoch kann man über die Notwendigkeit einer Haller-Biographie geteilter Auffassung sein, je nach dem, für wie relevant man erstens die Person Hallers und zweitens biographische Forschung überhaupt hält. Der Name Hallers ist selbst innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft weitgehend vergessen, seine wenigen Schüler sind längst verstorben, seine Werke werden kaum mehr gelesen. Die Nachwirkung, die Haller immerhin noch bis 1965 gehabt hat – als anlässlich seines 100. Geburtstags eine Jubiläumsausgabe seines großen Alterswerks, des »Papsttums« erschien2 – ist mittlerweile vollständig abgerissen; seit Ende der 1960er Jahre tauchte Hallers Name in der Forschung wenn überhaupt, dann nur noch im Zusammenhang jener »Ideologie des deutschen Weges« auf, die man zur Erklärung für den Erfolg des­ Nationalsozialismus untersuchte.3 Auch Haller selbst hätte den Nutzen einer biographischen Studie über ihn vermutlich nicht eingesehen. Darauf lassen zumindest die ersten Sätze seiner 1960 teilweise publizierten Lebenserinnerungen schließen. Darin begründet er den vollständigen Verzicht auf die Offenlegung seiner »wissenschaftlichen Entwicklung« damit, dass das Zustandekommen seiner Arbeiten niemanden, nicht einmal ihn selbst interessiere.4 Haller bekräftigt seine Auffassung mit einem Zitat des von ihm verehrten Johann Wolfgang von Goethe: »Was ist denn von dem Leben eines deutschen Gelehrten zu berichten, selbst wenn es 80 Jahre währt?«5 Für Gelehrtenbiographien hatte Haller also offenbar nichts übrig. 1 Müller, Der bewunderte Erbfeind, S.  273, Anm.  8; Kaudelka, Johannes Haller, S.  178, Anm. 1; Krumm, Johan Huizinga, S. 171; Kraus, Deux peuples, S. 271, Anm. 17. 2 Vgl. dazu Kapitel X. 3 Vgl. dazu vor allem Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, mit Bezug auf Haller bes. S. 28–61, S. 92–96, S. 189, S. 198, S. 228, S. 245–247 und S. 287. Vgl. außerdem Werner, Das NS-Geschichtsbild; Schönwälder, Historiker und Politik; Wolf, Litteris et Patriae. Ältere­ Literatur über das Leben und Werk Hallers existiert nur in Form von Nachrufen: Dannenbauer, Johannes Haller. 16.  Oktober 1865 – 24.  Dezember 1947; Wittram, Erinnerung an­ Johannes Haller; Ernst, Johannes Haller; Günter, Johannes Haller. Vgl. auch die weiteren Nachrufe, unter anderem von Erich Wittenburg und Eugen Neuscheler, in: UAT 305/31. Eine Auflistung der Nachrufe bietet zudem Gundel, Die Geschichtswissenschaft an der Universität Gießen, S. 250, Anm. 35. Bei Gundel, Johannes Haller, handelt es sich um eine­ kommentierte Edition von Briefen Hallers aus seiner Gießener Zeit. 4 Haller, Lebenserinnerungen, S. 9. 5 Zit. nach ebd., S.  9. Haller zitierte Goethe regelmäßig und aus dem Gedächtnis, daher auch nicht immer ganz wortgetreu. Vermutlich bezieht Haller sich auf Goethes Gespräch mit Johann Peter Eckermann vom 27. Januar 1824: »Und dann, das Leben eines deutschen

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Einleitung

Mittlerweile sieht man das innerhalb der Geschichtswissenschaft aber etwas anders. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft ist ein beliebter Forschungsgegenstand, und dies keineswegs ausschließlich in struktureller Perspektive, sondern auch im Modus biographischer Forschung, was an den zahlreichen Gelehrtenbiographien zu erkennen ist, die in den letzten Jahren erschienen sind.6 Im Hintergrund dieses Phänomens steht zum einen eine Tendenz zur Historisierung der in den 1970er Jahren und auch lange danach noch stark politisch-­ normativ aufgeladenen Fragestellungen, zum anderen ein neues Interesse an den Forschungsthemen und den spezifischen Zugängen, die die ältere deutsche Geschichtswissenschaft entwickelt hat.7 Damit ist normalerweise nicht der Wunsch nach einer Repristination des traditionellen »Historismus« verbunden, aber doch die Auffassung, dass eine einfache Verdammung sachlich unan­gemessen ist. Johannes Haller ist allerdings bislang nicht mit einer Gelehrtenbiographie bedacht worden. Das hängt vermutlich weniger damit zusammen, dass die enorme Bedeutung Hallers in und für seine Zeit bestritten würde, sondern mit zwei anderen Faktoren: Erstens könnte man unter Berufung auf die starke wissenschaftliche Eigenständig- oder sogar Eigenwilligkeit – Hallers Schüler Fritz Ernst nannte ihn einen »vir sui generis«8  – bezweifeln, dass Hallers wissenschaftliche Entwicklung in irgendeiner Weise auch für überindividuelle Fragen von Belang ist. Und zweitens gilt der Deutschnationale und Anhänger der »Dolchstoß«-These Haller, der 1932 einen faktischen Wahlaufruf für die NSDAP unterzeichnete, oft als politisch noch ein ganzes Stück »belasteter« als viele seiner Kollegen. Beides spricht allerdings bei genauerer Betrachtung nicht gegen, sondern für Johannes Haller als Forschungsgegenstand. Innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft seiner Zeit kann er zwar durchaus als Außenseiter gelten: keiner Schule, keinem Zirkel, keiner Akademie angehörend, zu fast keinem direkten Fachkollegen intensiveren Kontakt pflegend. Als Fachgelehrter von Rang aber war er dennoch durchweg anerkannt.9 Seine mitunter mehr als nur ori­

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Gelehrten, was ist es? Was in meinem Fall daran etwa Gutes seyn möchte, ist nicht mitzutheilen, und das Mittheilbare ist nicht der Mühe wert. […] Allein im Grunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen fünf und siebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt.« (Eckermann, Gespräche, S. 105–106.) Nonn, Theodor Schieder; Reichert, Gelehrtes Leben; Thimme, Percy Ernst Schramm; Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft; Hammann, Rudolf Bultmann; Rebenich, Theodor Mommsen; Eckel, Hans Rothfels; Cornelißen, Gerhard Ritter; Radkau, Max Weber; Kreis, Karl Hegel; Jasper, Paul Althaus; Nippel, Johann Gustav Droysen; Lahme, Golo Mann; Steinbach, Des Königs Biograph. Etwas älter, aber doch auch in diese Reihe gehörend sind Meineke, Friedrich Meinecke; Lenger, Werner Sombart; Raulff, Ein Historiker; SzöllösiJanze, Fritz Haber; Chickering, Karl Lamprecht; Cymorek, Georg von Below. Vgl. dazu vor allem Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 642–648, sowie Rüsen, Konfigurationen, S. 95–113. Damit geht teilweise auch ein verstärktes Interesse für das Phänomen des »Historismus« insgesamt einher; vgl. dazu etwa Schlüter, Explodierende Altertümlichkeit, S. 12–17. Ernst, Johannes Haller, S. 12. Vgl. dazu bes. Kapitel V.4.

Einleitung

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ginellen Forschungspositionen setzten sich zwar in der Regel nicht durch, wurden aber als ernstzunehmende und fruchtbare Diskussionsanstöße akzeptiert.10 Nach 1918 wurde der Außenseiter zudem durch seine populärhistorischen Veröffentlichungen zum öffentlichen Aushängeschild seines Faches und war in den Augen des Publikums sogar dessen führender Vertreter.11 In der Frühphase seiner Karriere arbeitete er am Preußischen Historischen Institut in Rom, und zwar genau in den Jahren, in denen dieses zum Zentrum einer der bedeutendsten wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen der wilhelminischen Zeit wurde. Haller erlebte diese Auseinandersetzung nicht nur »hautnah« mit, sondern beteiligte sich auch aktiv an ihr.12 Wer sich daher für die Geschichte der Geschichtswissenschaft zwischen 1890 und 1945 interessiert, hat in Leben und Werk Hallers – der den akademischen Betrieb von innen kannte, aber zugleich so sehr Einzelgänger war, dass er nicht richtig dazugehörte – eine Quelle von hohem Wert. Was nun zweitens die – vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit präsentierten Ergebnisse allerdings zu differenzierende – politische »Belastung« Hallers betrifft, so macht auch sie den Forschungsgegenstand Haller umso relevanter. Anhand der privat wie öffentlich geäußerten politischen Auffassungen Hallers unmittelbar vor und unmittelbar nach 1933 werden Nähe und Distanz eines deutschnationalen Konservativen zum Nationalsozialismus gerade besonders deutlich. Die politische Entwicklung Hallers insgesamt – der erst seit 1914 bzw. 1918 tatsächlich »rechte«, d. h. konservativ-nationalistische Positionen vertrat – verspricht deshalb auch Rückschlüsse in Bezug auf Brüche, Kontinuitä­ ten und »Wegbereitungen«, deren in der Vergangenheit manchmal recht eindimensionale Betrachtung nichts gegen die prinzipielle Berechtigung dieser Fragerichtung sagt.13 Die enorme Bedeutung gerade Hallers hierfür hängt nicht 10 Vgl. dazu bes. Kapitel VIII.3. 11 Vgl. dazu Kapitel VII. 12 Vgl. dazu die Kapitel IV.6. und V.1. 13 Insgesamt neigt die neuere Forschung in diesen Fragen zu erfreulich differenzierten Urteilen. Sehr überzeugend zu diesem Fragenkomplex ist etwa Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 229: »Dahinter zeigt sich zuletzt eine Problematik, die auf die Quellenkritik klassischen Typs zurückverweist. Unter den Bedingungen politischer Zensur reichen Exzerpte der gedruckten Literatur nur bedingt, um die Intentionen von Autoren und die Reaktionen von Lesern zu bewerten. Die oft ungedruckt gebliebenen Pläne und die teilweise ebenfalls nicht gedruckten historiographischen Studien aus dem Umfeld der Forschungsgemeinschaften bedürfen einer überzeugenden Einbettung in die nationalsozialistische ­Volkstumspolitik, um ihren Stellenwert bewerten zu können. Wer sich mit der Geschichtswissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt, muß sich auf ›Zwischentöne‹ einlassen. Damit ist, um dies hier ausdrücklich festzuhalten, keine Apologie der deutschen Historiker gemeint, sondern der Versuch umschrieben, ihr Denken und Handeln im Nationalsozialismus möglichst präzise zu erfassen.« Vgl. außerdem Schöttler, Deutsche Historiker auf vermintem Terrain, S.  15 f.: »Doch tatsächlich verwandeln sich fast alle zeitgeschichtlichen Sachdiskussionen noch immer – oder mehr denn je? – sehr schnell in Kontroversen oder polemische Konfrontationen. Meist fängt es schon bei der Sprache an, bei der Wortwahl: So

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Einleitung

zuletzt auch damit zusammen, dass der große Verkaufserfolg seiner historisch-­ politischen Bücher die Vermutung nahelegt, dass sein Werdegang als repräsentativ für das tonangebende, durch Kriegsniederlage und »Versailles« radikalisierte »nationale« Bürgertum14 in der Weimarer Zeit zu betrachten ist. Ein geringeres Problem als die Begründung des Forschungsgegenstands­ Johannes Haller ist die Begründung des biographischen Zugriffs. Die eingangs gestellte Frage nach der Relevanz biographischer Forschung überhaupt könnte man nämlich mit dem Hinweis auf die »Renaissance der Biographie«15 im Allgemeinen und der Gelehrtenbiographie im Besonderen bereits für praktisch beantwortet halten. Aber auch die in den siebziger Jahren des 20.  Jahrhunderts vorgebrachten und seitdem oftmals wiederholten theoretischen Vorbehalte gegen die Biographie sind inzwischen gründlich widerlegt.16 Ein großer Teil  der Ablehnung biographischer Forschung beruhte auf einer mittlerweile weitgehend als unproduktiv erkannten konfrontativen Gegenüberstellung von »Personen-« und »Strukturgeschichte«. Die weiteren Vorbehalte berufen sich auf besonders prominent von Pierre Bourdieu vorgetragene Argumente, die nur Anhängern eines radikalen Konstruktivismus einleuchten können, auf dessen innere Widersprüchlichkeit schon von verschiedener Seite hingewiesen wurde, und die im Falle ihrer Gültigkeit nicht nur biographische, sondern überhaupt jede geschichtswissenschaftliche Forschung treffen würden.17 als ob auch nach fast 60 Jahren nicht nur nichts vergessen wäre – zumindest expressis verbis wünscht das ja niemand –, sondern jede Positionierung in diesem Fragengeflecht noch immer poli­tische Bedeutung hätte. Es wird abzuwarten sein, ob Historiker über ihre eigene Disziplin in Zukunft diskutieren können, ohne sich ständig, sobald es brisant wird, ent­ weder der Übertreibung oder der Untertreibung zu verdächtigen. Was allerdings nicht heißt, daß es solche Übertreibungen oder Untertreibungen nicht durchaus geben kann, aller­dings im Sinne von sachlich zu korrigierenden Forschungsergebnissen oder Interpretationen. Jedenfalls scheint es mir wichtig, von vornherein auf diese Schwierigkeit hinzuweisen, gleichsam als methodologische Besonderheit bei dieser Art von Forschungen und Diskussionen, die man mitbedenken muß, um auf möglicherweise irritierende oder unangenehme Informationen argumentativ und nicht reflexhaft zu reagieren.« Schöttler hat damit zumindest implizit seine frühere Position in dieser Frage revidiert; vgl. Schöttler, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. Dass allerdings auch in jüngster Zeit noch politisch motivierte »Wegbereiter«-Thesen propagiert werden, zeigt das Beispiel Weiß, Moderne Antimoderne. 14 Vgl. dazu vor allem Kondylis, Konservativismus, S. 470. 15 Hammann, Rudolf Bultmann – eine Biographie für die Gegenwart, S. 52. Vgl. dazu auch Beales, History and Biography, bes. S. 282; vgl. Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 10 f. 16 Vgl. dazu vor allem Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte. 17 Vgl. Bourdieu, Die biographische Illusion. Bourdieu nennt darin die »Einheit« der Person und die »Kohärenz« des einzelnen Lebens, von der biographische Forschung ausgehe, eine »Illusion« und ein ideologisches »Konstrukt«; vgl. dazu vor allem Kraus, Geschichte als­ Lebensgeschichte, S. 322–325. In der Logik eines konsequenten Konstruktivismus würde es liegen, dann auch alle anderen historischen »Realien« für »Konstrukte« und »Erfin­ dungen« zu halten. Grundlegend zu den theoretischen Problemen des Konstruktivismus vgl. Musgrave, Weltliche Predigten, sowie Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt.

Einleitung

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Das gilt genauso auch für das in neueren Arbeiten so genannte »biogra­ phische Paradox«18. Dieses wird im Wesentlichen darin gesehen, dass auf der theoretischen Ebene die »Kohärenz« der Person als »Konstruktion«19 erkannt werde, im praktischen Vollzug biographischer Arbeit dann aber doch eine solche Kohärenz implizit vorausgesetzt werde. Ein derartiges »Paradox« ergibt sich aber nicht aus der Sache selbst, sondern aus einem verfehlten theoretischen Konzept, das in Wirklichkeit nicht die Kohärenz der Person als »Konstruktion« entlarvt, sondern die erlebbare und phänomenologisch beschreibbare Personkohärenz erst künstlich – und gegen jede Erfahrung – dekonstruiert. Wer einem solchen konstruktivistischen Ansatz folgt, muss sich dann aber zumindest fragen lassen, wieso die entsprechende »Illusion« nur eine »biographische«20 sein soll und nicht ebenso für jeden anderen denkbaren Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gilt. Damit soll keineswegs bestritten werden, dass die Textform Biographie mit spezifischen Schwierigkeiten verbunden ist. Sofern dies Grundsätzliches betrifft – etwa die Gefahr einer Überschätzung der Kontinuitätsmomente in einem Lebenslauf und der Vernachlässigung überindividueller Strukturen –, sind die Probleme schon relativ früh, etwa Anfang des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Dilthey, reflektiert worden.21 Neuere theoretische Ansätze zur Rehabilitierung der Biographie – sei es sozial-22, psycho-23 oder wissenschaftsgeschichtlich24 – sind daher als methodische Erweiterungen und Ergänzungen des traditionell vornehmlich auf politikgeschichtliche Aspekte konzentrierten biographischen Mediums zu begrüßen; es bedarf aber keiner grundstürzenden methodischen Revision.25 Es entspricht jedenfalls einem unangemessenen Negativklischee, wenn man der »alten«, »historistischen« Biographie vorwirft, methodisch unreflektierte Nacherzählungen eines Lebens zu bieten und von einem teleologischen und sich nach bestimmten Gesetzen entwickelnden Lebensziel auszugehen.26 Die Anforderungen wiederum, die dagegen für eine »neue« Biographie erhoben werden – die Wendung zum Konkret-Besonderen, die Analyse der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gemeinschaft, die Herausstellung der Kom­ plexität einer Person – sind tatsächlich so neu nicht; es handelt sich vielmehr um »reichlich viel alten Wein in neuen Schläuchen«27. Schon bei Dilthey – und übrigens auch bei Leopold von Ranke – findet sich nämlich der Hinweis, dass die Biographie das Medium der Verschränkung von 18 So Etzemüller, Biographien, S. 153–169. 19 Ebd., S. 9, spricht ausdrücklich von einer »Konstruktion von Kohärenz«. 20 Bourdieu, Die biographische Illusion. 21 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 303–310. 22 Vgl. Gestrich/Knoch/Merkel, Biographie – sozialgeschichtlich. 23 Vgl. Röckelein, Biographie als Geschichte. 24 Vgl. Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte. 25 Vgl. hierzu bes. Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 319–321. 26 Gegen Bödecker, Biographie. 27 Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 320.

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Einleitung

Individuum und allgemeiner Entwicklung und daher in besonderer Weise in der Lage ist, unproduktive Konfrontationen zwischen individuell und über­ individuell ausgerichteter Forschung zu überwinden.28 Die Biographie bietet darüber hinaus die Möglichkeit, ein relativ breites Spektrum an Themen oder Fragestellungen zu bearbeiten, weil diese dadurch verbunden sind, dass ein und dieselbe Person mit ihnen in Beziehung stand.29 Damit ist keineswegs automatisch das willkürliche »Konstruieren« eines »Lebensplans«30 verbunden, sondern dadurch wird ermöglicht, einen spezifischen Lebensweg zu erhellen und dabei sowohl Kontinuitäten als auch Brüche nachzuweisen. In diesem Zusammenhang ist der von Max Weber geprägte Begriff der »Lebensführung«31 weiterführend, weil er den »konstruktivistischen« Einwand, dass ein Leben nicht einem vorgegebenen Ziel folge, sondern individuell gestaltet werde, aufnimmt, ohne den genannten konstruktivistischen Fehlschlüssen zu erliegen. Die durch den biographischen Zugriff ermöglichte Themenbreite kann aller­ dings zugleich auch ein Nachteil sein, was im Falle der Person Johannes Hallers besonders deutlich wird: Schon allein die Veröffentlichungen Hallers enthalten eine solche Fülle an Themen, dass der Versuch aussichtslos wäre, sie alle auch nur zusammenfassend darzustellen, geschweige denn angemessen in i­ hren historischen Zusammenhang einzuordnen oder gar inhaltlich zu beurteilen. Ohne­hin wäre diese Arbeit missverstanden, wenn man sie als definitiven Beitrag bzw. als Abschluss der »Haller-Forschung« begriffe. Vielmehr soll hier der Versuch unternommen werden, eine bisher so gut wie gar nicht existente HallerForschung überhaupt in Gang zu bringen. Dazu soll ein quellengestützter Überblick über Leben und Werk Johannes Hallers gegeben werden, der sich an den für die Wissenschafts-, Politik-, Ideen- und auch Religionsgeschichte zwischen 1871 und 1945 relevanten Fragen orientiert.

28 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 303–310, hier S. 304 und S. 310: »Die Aufgabe des Biographen ist nun, […] den Wirkungszusammenhang zu verstehen, in welchem ein Individuum von seinem Milieu bestimmt wird und auf dieses reagiert. Alle Geschichte hat Wirkungszusammenhang zu erfassen. […] Das Individuum ist nur der Kreuzungspunkt für Kultursysteme, Organisationen, in die sein Dasein verwoben ist«. Vgl. dazu Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S.  326–328, dort auch der Hinweis auf entsprechende Äußerungen von Ranke. Vgl. weiterhin Cornelißen, Gerhard Ritter, S.  11 f.: »Die Biographie bietet, wie in kaum einem anderen Ansatz denkbar, die Möglichkeit, historisches Denken und Handeln mit den Motiven eines Individuums und den bestimmenden Faktoren seiner Lebenswelt in Verbindung zu setzen. […] Es bleibt, methodisch betrachtet, festzuhalten: So wie die Gelehrtenbiographie der Ergänzung durch gruppenbezogene Erkenntnisse und einer Einbettung in übergeordnete Kontexte bedarf, stellt sich der Sach­ verhalt auch umgekehrt dar.« 29 So auch Etzemüller, Biographien, S. 13. 30 So das in der Tat problematische Konzept bei Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 303–310. Vgl. dazu auch Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 327. 31 So der plausible Vorschlag von ebd., S. 321, mit Verweis auf Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 412 und 686.

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Aus diesem Grund ist die Fragestellung dieser Arbeit eine dreifache: Wie verlief Hallers Entwicklung erstens in wissenschaftlicher, zweitens in politischer und drittens in weltanschaulich-religiöser Hinsicht?32 Es handelt sich damit um eine politische Gelehrtenbiographie: um eine Gelehrtenbiographie, indem das wissenschaftliche Werk und die wissenschaftspolitische Bedeutung Hallers analysiert werden; um eine politische Gelehrtenbiographie, weil Haller zwar nicht mehr zum reinen Typus des »Gelehrtenpolitikers«33 gehörte, weil er aber spätestens seit 1914 politisch nicht ohne Einfluss war und sich auch sein wissenschaftliches Werk ohne seine politischen Auffassungen gar nicht erklären lässt. Die Untersuchung der weltanschaulich-religiösen Entwicklung Hallers bietet schließlich zum einen ein notwendiges Bindeglied zwischen seinem politischen und seinem wissenschaftlichen Werdegang. Zum anderen verspricht die Rekonstruktion der religiösen Vorstellungswelt eines protestantischen Pfarrer­ sohnes, der zum Historiker des Papsttums wurde und sich kurz vor seinem Tod in einem Aufsatz zu einer monistischen »Naturreligion«34 bekannte, interessante Aufschlüsse zur Religionsgeschichte um die Jahrhundertwende, deren Erforschung lange Zeit durch eine »nicht hinreichend reflektierte Säkularisierungsthese«35 eher behindert als gefördert wurde. Damit ist noch einmal eine wesentliche Stärke des biographischen Mediums angesprochen, nämlich eine Analyse der »Wirkungszusammenhänge«36 zwischen Individuum und Umwelt zu leisten. In Bezug auf Haller bedeutet dies, vor allem die Prägungen durch sein soziales Umfeld zu berücksichtigen, d. h. zuerst durch seine deutschbaltische Herkunft, dann durch die Welt des – allerdings im allmählichen Abstieg begriffenenen – »Mandarinentums«37 der deutschen Gelehrten. Analysiert werden soll darüber hinaus Hallers spe­ zifische »Lebens­führung«, die sein Leben nicht als auf ein vorgegebenes Ziel führende Linie, sondern als Ergebnis bestimmter Entscheidungen – gegen eine Musikerkarriere, gegen die Fortführung einer Laufbahn in Rom, für ein hohes Engagament in der Kriegspublizistik des Ersten Weltkriegs, für die Wirksam32 Es handelt sich bei dieser Arbeit deshalb auch nicht um eine vollständige, sondern um eine politische Gelehrtenbiographie. Alle anderen Aspekte von Hallers Leben und Werk, die nichts mit seiner wissenschaftlichen, politischen oder weltanschaulich-religiösen Entwicklung zu tun haben, werden daher zwar nicht ignoriert, aber außerhalb der für die Fragestellung relevanten Aspekte bewusst ausgeklammert. Das betrifft vor allem große Teile von Hallers Privatleben sowie sein musikalisches und künstlerisches Interesse. 33 Vgl. dazu bes. Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. 34 Wittram, Erinnerung an Johannes Haller, S. 67 f. Vgl. dazu auch Wittram, Rez. »Johannes Haller: Zum Verständnis der Weltgeschichte«, S. 156 f. 35 Blaschke/Kuhlemann, Religion in Geschichte und Gesellschaft, S. 8. 36 Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S.  328. Das Folgende orientiert sich an den von Kraus (ebd., S.  328–330) für die biographische Forschung aufgestellten vier hauptsächlichen Erkenntniszielen: die Wirkungszusammenhänge zwischen Individuum und Umwelt, die konkrete Gestalt der Lebensführung, das Zusammenspiel von Kontinuitäten und Brüchen sowie die Rekonstruktion der Handlungsspielräume. 37 Ringer, Die Gelehrten, bes. S. 8.

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keit als »Populär­historiker« in der Weimarer Zeit usw. – darstellt und an dessen Ende das Empfin­den des Scheiterns stand.38 Damit verbunden ist die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in Hallers Entwicklung, wobei hier die Diskrepanz zwischen privaten und öffentlich geäußerten Auffassungen – etwa in der Beurteilung Preußens – ebenso untersucht wird wie die Frage, ob seine politische Entwicklung insgesamt eigentlich kontinuierlich bzw. »plausibel« verlief oder ob nicht vielmehr zwischen 1914 und 1918 ein deutlicher Bruch festzustellen ist. Und schließlich sollen auch die »Handlungsspielräume«39 rekonstruiert werden, in denen Haller agierte. Letzteres bedeutet im Wesentlichen, die quellengestützte Rekonstruktion der Entwicklungslinie von Hallers Leben und Werk in den allgemeineren historischen Zusammenhang einzuordnen, in dem sie verlief. Es wird dabei aber bewusst darauf verzichtet, jedes der Themen, die hier relevant sind, systematisch auszuführen. Die vorgenommenen Einordnungen sollen stattdessen lediglich Hinweise darauf geben, inwiefern der Werdegang Hallers den bisherigen Stand der Forschungsdiskussion bestätigt, ergänzt oder infrage stellt. Übergreifende Themen werden hier deshalb nicht oder nur knapp im eigentlichen Sinne bearbeitet, sondern lediglich – neben dem Verweis auf die jeweils einschlägige Literatur – in ihrem unmittelbaren Bezug auf Haller vorgestellt. Mit dieser Vorgehensweise ist den über diesen unmittelbaren Bezug hinaus relevanten Themen ohnehin am besten gedient, zumal die Alternative darin bestünde, breite Rekapitulationen und Kommentierungen der jeweiligen Forschungs­literatur vorzunehmen, die die ganze Arbeit letztlich unnötig überfrachten würden. Selbstverständlich wird aber in dieser Arbeit an den entsprechenden Stellen eigens darauf verwiesen, wenn Ergebnisse nicht nur im Hinblick auf Haller, sondern auch grundsätzlich von Interesse sind. Ein Beispiel für Letzteres ist Hallers Deutung der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. In der bisherigen Forschung gilt Haller als einer der profiliertesten und klügsten Vertreter der sogenannten »Dolchstoßlegende«, nach der das »im Felde unbesiegte« deutsche Heer durch den »Verrat« der Revolutionäre im Inland zu Fall gebracht worden sei. Anstatt nun die Geschichte der »Dolchstoßlegende« erschöpfend darzustellen, wird an der betreffenden Stelle dieser Arbeit dazu nur das Nötigste gesagt, um Haller einordnen zu können, und dann wird Hallers Version der Dolchstoßthese ausführlich präsentiert.40 Das Ergebnis dieser Analyse wiederum könnte auch für die Sichtweise des Komplexes »Dolchstoßlegende« insgesamt Folgen haben, da Haller keine platte, deutlich den historischen Tatsachen widersprechende, sondern eine klug und differenziert argumentierende Form der »Legende« vertrat. Auf diese Weise werden die Vernunft- und die Realitätsmomente eines politischen Schlagwortes von 38 Vgl. dazu bes. Kapitel IX. 39 Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 329, mit Verweis auf Vierhaus, Handlungsspielräume, bes. S. 35. 40 Vgl. dazu Kapitel VI.3.

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kaum zu überschätzender Bedeutung für die jüngere deutsche Geschichte sichtbar, die die enorme Verbreitung der Dolchstoßthese in dieser Zeit möglicherweise besser erklärt als die Konzentration auf leicht widerlegbare Versionen. Die vorliegende Arbeit kann sich auf zwei Hauptquellengruppen stützen: erstens die Veröffentlichungen Hallers, zweitens die zahlreichen Briefe und anderen unveröffentlichten Dokumente aus seinen beiden Teilnachlässen.41 In Tübingen befinden sich persönliche Dokumente Hallers, darunter auch der handschriftliche Originalentwurf der Lebenserinnerungen, Vorträge, Rezensionen und Vorlesungsmanuskripte. Daneben befinden sich dort noch Unterlagen von Hallers Vater sowie von Hallers Kindern, etwa die Chronik der Familie Haller und die Erinnerungen von Adelheid Ignatius, geborene Haller, an ihren Vater.42 Der in den 1950er Jahren dem Bundesarchiv in Koblenz übergebene Bestand enthält zum einen politische und wissenschaftliche Unterlagen – Zuschriften zu Hallers Veröffentlichungen, vor allem aber Rückmeldungen zu dem von ihm 1917 initiierten Aufruf gegen die Reichstagsmehrheit –, zum anderen solche Briefe, die von Haller aufbewahrt wurden und die Zerstörungen infolge des Zweiten Weltkriegs überstanden haben.43 Beide Teilnachlässe zusammen ergeben bei weitem keinen vollständigen Nachlass; es handelt sich vielmehr um Restbestände. Das ist nicht nur mit der teilweisen Vernichtung der Dokumente in und nach dem Krieg zu erklären, sondern auch damit, dass Haller in den ersten, relativ unbeständigen Jahrzehnten seines beruflichen Werdegangs offenbar nur wenige Briefe überhaupt für längere Zeit aufgehoben hat.44 Es ist aber möglich, den Bestand teilweise zu­ ergänzen durch Haller-Briefe aus den Nachlässen seiner Korrespondenzpartner. In insgesamt gut 20 Archiven und Bibliotheken wurden in etwa doppelt so vielen Nachlässen und anderen Beständen noch weitere Briefe von oder an Johannes Haller gefunden. Am umfangreichsten und aussagekräftigsten sind die Korrespondenzen Hallers mit Rudolf Wackernagel, mit Eduard Fueter und dessen gleichnamigen Sohn, mit Johan Huizinga sowie mit Paul Fridolin Kehr.45 Der Gesamtbestand der Briefe – zu Hallers Korrespondenzpartnern gehörten neben den Genannten u. a. auch Friedrich Althoff, Robert Bosch, »Kaise­rin« Hermine, Theodor Heuss, Paul von Hindenburg, Friedrich Meinecke, Rudolf Smend, Martin Spahn und Theophil Wurm – verteilt sich sehr ungleichmäßig auf die gut 70 Jahre, in denen Haller Briefe schrieb und ist ebenso ungleichmäßig im Hinblick auf den Absender- bzw. Empfängeranteil verteilt. E ­ twas ver41 Ein Teilnachlass Hallers befindet sich im Bundesarchiv Koblenz (BArch N 1035), der andere im Universitätsarchiv Tübingen (UAT 305). 42 Vgl. Schäfer, Universitätsarchiv Tübingen: Provisorisches Bestandsrepertorium 305. 43 Vgl. Kinder, Bundesarchiv: Nachlass Johannes Haller N 1035. 44 Eine »Zensur« mancher Briefe durch Hallers Erben ist gerade für den Tübinger Teilnachlass nicht prinzipiell auszuschließen, ist aber doch eher unwahrscheinlich: Sollte eine solche Zensur nämlich aus politischen Motiven erfolgt sein, wurde einiges »brisante« Material übersehen (vgl. dazu bes. Kapitel VIII.1.). 45 Vgl. dazu die ausführliche Auflistung der benutzten Bestände im Literaturverzeichnis.

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gröbernd ergibt sich folgender Befund: Aus den frühen Jahren Hallers, also aus Kindheit, Schul- und Studentenzeit existieren von wenigen Ausnahmen ab­ gesehen fast ausschließlich Briefe von Haller. Auch in den ersten Berufsjahren nach der Promotion in Deutschland, den Jahren 1891–1902 in Rom und B ­ asel, dominieren eindeutig die Briefe von Hallers Hand; im Prinzip gilt dies auch noch für die Zeit in Marburg und Gießen 1902–1913. In der zweiten Lebenshälfte ist es genau umgekehrt: Vor allem aus den Jahren der Weimarer Republik existieren überwiegend an Haller gerichtete Briefe. Ausnahmen sind zunächst die Briefe an Freunde wie Ferdinand Wagner und Hermann Losch sowie an seinen Schüler Dannenbauer; eine große Ausnahme bilden dann vor allem in der nationalsozialistischen Zeit die Briefe Hallers an seine Kinder, besonders an seine Söhne. Leider weist der Briefbestand eine Reihe chronologischer Lücken auf. Eine erste kleinere Lücke fällt auf die Basler Jahre (1897–1900), eine zweite auf fast die gesamte Zeit in Gießen (1904–1913). Letzteres hängt in erster Linie mit dem Tod des Vaters (1905) zusammen, der zuvor der Hauptkorrespondenzpartner Hallers gewesen ist; außerdem spielen hier die Ende 1903 zwar nicht beendete, aber doch merklich abgekühlte Freundschaft zu Paul Kehr sowie der einige Anstrengung erfordernde Familienaufbau des seit 1904 verheirateten Haller eine Rolle.46 Und auch für die Anfangsphase des Ersten Weltkriegs ist der Bestand relativ dünn; erst mit dem Kontakt zu Philipp zu Eulenburg-­Hertefeld in der Endphase des Krieges und der Übernahme des Rektorats der Universität Tübingen im akademischen Jahr 1918/19 ändert sich das.47 Briefe aus den 1920er Jahren sind zwar relativ zahlreich, sofern sie an Haller gerichtet sind; von Haller in dieser Zeit verfasste Briefe sind aber eher selten. Nach 1933 und vor allem nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schließlich gibt es kaum noch »Außenkorrespondenz«, sondern fast nur noch die allerdings zahlreichen Briefe an die Kinder.48 Der Verfasser hat 2014 eine Auswahledition der Haller-Briefe vorgelegt.49 Sofern die in dieser Arbeit zitierten Briefe Hallers in der Edition abgedruckt sind, wird sowohl die entsprechende Archivsignatur als auch die Nummer der Edition in der Fußnote angegeben. Diejenigen Briefe, bei denen in der Fußnote der Hinweis auf die Edition fehlt, sind nicht Bestandteil der Edition. Neben der Korrespondenz Hallers sind für diese Arbeit noch weitere Haller betreffende Dokumente einschlägig, die sich zum größten Teil in den Beständen des Tübinger Universitätsarchivs befinden.50 Besonders wichtig ist dabei 46 Vgl. dazu auch Kapitel V. 47 Vgl. dazu auch Kapitel VII.1. 48 Vgl. dazu auch Kapitel VIII.4. 49 Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller. 50 Für das UAT sind hier in erster Linie seine Personalakte (UAT 126/241) sowie die Akten des Akademischen Rektorats und die Senatsprotokolle (UAT 117, UAT 47/39, UAT 47/40) zu nennen.

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der vierte, bislang unveröffentlichte Teil von Hallers Lebenserinnerungen, der im Wesentlichen die Zeit des Ersten Weltkriegs (und seiner Entstehung) umfasst, aber auch eine kurze Reflexion der Jahre 1918–1945 enthält. Dieser letzte Teil der Lebenserinnerungen ist, mit einem knappen wissenschaftlichen Kommentar versehen, im Anhang an diese Arbeit abgedruckt.51 Der Vergleich zwischen Hallers Veröffentlichungen einerseits, seinen Briefen und den Lebenserinnerungen andererseits, zeigt dabei, wie oft sich die nichtöffentlichen von den öffentlichen Äußerungen unterscheiden. Dies betrifft beispielsweise Hallers Verhältnis zu Deutschland und Preußen, das für einen Deutschnationalen und »Bismarckianer« erstaunlich negativ war.52 Das gibt zu der Vermutung Anlass, dass Haller in seinen Veröffentlichungen eine politische Position bezogen hat, während er in den Briefen, aber auch in der nachträglichen Reflexion in den Lebenserinnerungen seine persönlichen, von keiner politischen Zweckmäßigkeit beeinflussten Auffassungen festgehalten hat. Das fügt dem ohnehin wider­ sprüchlichen Charakter Hallers eine weitere Facette hinzu, ermöglicht aber auch, bestimmte widersprüchlich scheinende Phänomene zu erklären – etwa die politische Parteinahme für Deutschland und Preußen bei gleichzeitiger kulturell-­ atmosphärischer Parteinahme für Italien und Frankreich.53 Der Grobaufbau dieser Arbeit ist chronologisch und orientiert sich zum einen an den für Haller persönlich relevanten Einschnitten – der Auswanderung erst nach Deutschland, dann nach Italien, dann der Rückwanderung nach Deutschland –, zum anderen an den allgemeinen politischen Zäsuren – dem Beginn und dem Ende des Ersten Weltkriegs, der nationalsozialistischen »Machtergreifung«, schließlich dem Zusammenbruch 1945. Innerhalb dieses Aufbaus werden dann die für die Fragestellung relevanten Themen »systematisch« abgehandelt. Durch diese Verflechtung von chronologischer und systematischer Gliederung entstehen bisweilen Wiederholungen bzw. Querverweise, und manche systematisch zusammenhängenden Themen werden nicht durchgängig, sondern auf verschiedene Kapitel verteilt behandelt. Dies scheint allerdings die beste Lösung zu sein, wenn man die Entwicklung – und das heißt insbesondere auch den Wandel der Auffassungen und Motive  – Hallers untersuchen will. Grundsätzlich wird aber versucht, systematische Schwerpunkte jeweils an demjenigen chronologischen »Ort« zu setzen, an den ein Thema am ehesten gehört. So wird beispielsweise das Hallersche Frankreichbild zwar in mehreren Kapiteln erwähnt, allerdings erst dort ausführlich dargestellt, wo es um die 1930 publizierten »Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen« geht, in denen 51 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i bzw. unten S. 287–439. Zu der Teilpublika­ tion von Hallers Lebenserinnerungen durch dessen Schüler Reinhard Wittram vgl. Kapitel X sowie die einleitenden Bemerkungen im Anhang. Zitate aus diesem Teil der Lebenserinnerungen werden analog zu den edierten Briefen doppelt belegt: Es wird also sowohl die Archivsignatur und Manuskriptseitenzahl genannt als auch die Seitenzahl im Anhang. 52 Vgl. dazu bes. Kapitel III. 53 Vgl. dazu bes. Kapitel IV.3.

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Haller selbst so etwas wie die »Summa«54 seiner Überlegungen zu dieser Frage bot.55 Damit soll versucht werden, den richtigen Ausgleich zwischen einer in der Geschichtswissenschaft immer  – bei Biographien aber in besonderer Weise  – notwendigen chronologischen sowie einer im Sinne einer stringenten Analyse geforderten systematischen Gliederung zu finden.56 Zur Politik-, Wissenschafts- und Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gibt es eine große Fülle an Forschungsliteratur, deren Ergebnisse für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden konnten. Das gilt vor allem für bereits relativ breit erforschte Themen wie die Geschichte des Deutsch­ baltentums57, die Geschichte der Geschichtswissenschaft im wilhelminischen Kaiserreich58, die (Gelehrten-)Politik im Ersten Weltkrieg59 und in der Weimarer Republik60, die Religions- und Geistesgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts61 sowie die Geschichte des Konservatismus, insbesondere in seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus.62 Was die spezifische Forschung über Johannes Haller betrifft, so sind hier Hallers Publikationen sowie das umfangreiche unveröffentlichte Material die Hauptquellen. Wenn man nämlich einmal von den unmittelbar nach Hallers Tod 1947 erschienenen Nachrufen und von einigen Lexikoneinträgen absieht, so beschränkt sich die Forschungsliteratur über Haller auf insgesamt ein gutes halbes Dutzend Aufsätze.63 Dabei sind bislang im Grunde lediglich drei Themen näher untersucht worden: Hallers Frankreichbild, Hallers Russlandbild­ sowie sein Verhältnis zum Nationalsozialismus. Immerhin zum Frankreichbild und zum NS-Verhältnis ist hier bereits Grundlegendes, wenn auch nicht in jeder Hinsicht Erschöpfendes, geleistet worden.64 Darüber hinaus gibt es eine Hand54 Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 292. 55 Vgl. Kapitel VII.5. 56 Wer im Namen des Konstruktivismus den Sinn chronologischer Ordnungen überhaupt­ anzweifelt, greift damit nicht nur jede Form geschichtswissenschaftlicher Praxis an, die ja gerade darin besteht, Kausalitäten plausibel zu rekonstruieren, sondern verstrickt sich damit auch in dieselben inneren Widersprüche, unter denen der Konstruktivismus insgesamt leidet: vgl. dazu Nonn, Theodor Schieder, S. 4 f. 57 Vgl. Kapitel II. 58 Vgl. die Kapitel IV und V. 59 Vgl. Kapitel VI. 60 Vgl. Kapitel VII. 61 Vgl. die Kapitel II.2. und IX. 62 Vgl. Kapitel VIII. 63 Braun, The Philosophical Testament; Müller, Der bewunderte Erbfeind; Volkmann, Von Johannes Haller zu Reinhard Wittram; Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung; Haar, Johannes Haller; Kaudelka, Johannes Haller; Kraus, Deux peuples dans le débat des historiens. 64 Weiterführend sind vor allem die Aufsätze von Müller und Kraus, aber auch die ältere Arbeit von Martin Braun über Hallers »philosophisches Testament«, während bei denjenigen von Volkmann, Kaudelka und insbesondere von Haar die Analyse unter der starken normativen Aufladung der Fragestellung leidet.

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voll Aufsätze bzw. Buchkapitel zu Spezialthemen, in denen Haller als Wissenschaftler in seinem Verhältnis zu anderen Kollegen thematisiert wird.65 Hallers Wirken an der Universität Tübingen zwischen 1913 und 1932 ist bislang eher sporadisch und vor allem wenig überzeugend in den Blick genommen worden, was zum Teil auch an unsauberer wissenschaftlicher Arbeitsweise liegt.66 Ansonsten hat lediglich die wissenschaftspolitische Auseinandersetzung um das Preußische Historische Institut in Rom breitere Aufmerksamkeit gefunden.67 Alle anderen Aspekte des Hallerschen Lebens und Werks sind bislang entweder gar nicht oder nur beiläufig von geschichtswissenschaftlicher Seite aus in den Blick genommen worden. Dies soll hiermit geändert werden.

65 Matthiesen, Kontroverse und Konfession; Struve, Johannes Haller – ein Romancier?; Struve, Johannes Haller und das Versöhnungsmahl auf Canossa; Vischer, Eine Buchrezension; Krumm, Johan Huizinga. 66 Das betrifft die Arbeiten von Mathias Kotowski: Kotowski, Noch ist der Krieg gar nicht zu Ende; Kotowski, Die öffentliche Universität. Die Unsauberkeit dieser Arbeiten drückt sich in erster Linie darin aus, dass Äußerungen Hallers falsch bzw. sinnentstellend zitiert werden. Vgl. dazu die Kapitel VI.1. und VI.3. Wissenschaftlich sauber gearbeitet, allerdings in manchen Schlussfolgerungen vor dem Hintergrund des in dieser Arbeit Zusammengetragenen zu revidieren ist dagegen Langewiesche, Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen. 67 Braubach, Aloys Schulte in Rom; Burchardt, Gründung und Aufbau; Elze/Esch, Das Deutsche Historische Institut in Rom; Schubert, Auseinandersetzungen. Ebenfalls relevant hierfür ist Pfeil, Vorgeschichte und Gründung.

II. Ancien Régime (1865–1890) 1. Baltische Verhältnisse Das Baltikum, geteilt in die Gouvernements Estland, Livland und Kurland, gehörte während des ganzen 19. Jahrhunderts zum Russischen Reich. Hier lebten neben Esten und Letten vor allem baltische Deutsche als Nachkommen der seit dem 12. Jahrhundert in Richtung Osten aus dem Reichsgebiet Ausgewanderten.1 Die Position der Deutschbalten war auch im 19. Jahrhundert noch die einer »dominierenden Minderheit«2, die im Gesamtgefüge des Russischen Reiches insofern eine Sonderrolle einnahm, als das Maß an Selbstverwaltung und -regierung im Baltikum sehr hoch war. In jedem Fall pflegten die Deutschbalten, insbesondere der Adel und die Akademikerschaft, ein ausgeprägtes Überlegenheitsbewusstsein gegenüber der zumeist bäuerlichen Bevölkerung der Esten und Letten.3 Die Abschaffung der Erbuntertänigkeit in den Jahren 1816 bis 1819 – die sogenannte »Bauernbefreiung« – änderte zunächst wenig an der ständischen Ordnung des Baltikums. Sie brachte den Esten und Letten aber neue Aufstiegsmöglichkeiten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts, vor allem in der zweiten Hälfte, immer stärker genutzt wurden. Damit einher ging allerdings normalerweise auch eine »Germanisierung« der aufstrebenden Bevölkerungsteile im Sinne einer Assimilation an die deutschbaltische Oberschicht.4 Erst in den 1860er Jahren entstand so etwas wie eine estnische Nationalbewegung, die dafür plädierte, den sozialen Aufstieg nicht mit einer Aufgabe der eigenen kulturellen Identität zu verbinden.5 Dabei handelte es sich anfangs um ein Phänomen der Städte und größeren Ortschaften; auf dem Land verlief die Entwicklung wesentlich langsamer. Vor diesem Hintergrund ist auch die Darstellung der entsprechenden Periode in den Lebenserinnerungen Johannes Hallers zu verstehen. Im ersten Teil, der offenbar in der ersten Hälfte der 1930er Jahre geschrieben wurde,6 schil1 Grundlegend für das Folgende sowie zur Geschichte der Deutschbalten ingsesamt und mitsamt Bibliographie: Pistohlkors, Deutsche Geschichte im Osten Europas. Nach wie vor nützlich ist auch die Überblicksdarstellung des Haller-Schülers Reinhard Wittram: Wittram, Baltische Geschichte. 2 Schlau, Eine Einführung in die Wanderungsgeschichte, S.  11. Der Anteil der Deutschen im Baltikum betrug im 19. Jahrhundert etwa 5 %, während Esten und Letten etwa 90 % der­ Gesamtbevölkerung ausmachten: vgl. Jansen, Die nicht-deutsche Komponente, S. 233, bzw. wesentlich detaillierter für das Gouvernement Estland 1850–1897: Kenéz, Die Bevölkerung, bes. S. 61. 3 Zur Standeseinheit von Adel und Akademikern unter den Deutschbalten vgl. bes. Prehn, Max Hildebert Boehm, S. 33, Anm. 22. 4 Vgl. Jansen, Die nicht-deutsche Komponente, S. 234–240. 5 Vgl. Jansen, Die estnische Nationalbewegung. 6 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 11, Anm. 1.

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dert er die sozialen Verhältnisse, wie er sie als Kind in Estland erlebt hatte. Am 16. Oktober 1865 in Keinis auf der estnischen Insel Dagö als Sohn des luthe­ rischen Pfarrers Anton Haller geboren, verbrachte Haller seine ersten zehn­ Lebensjahre auf der Insel. Die geringe Bevölkerungsdichte und die schlechte Anbindung an das Festland – so Haller – trugen nicht nur zu »Einsamkeit und Weltabgeschiedenheit«7 bei, sondern machten auch ein Auskommen zwischen Esten und Deutschen notwendig. Haller schildert, wie seine Mutter von der estnischen Bevölkerung regelmäßig bei kleineren Krankheiten konsultiert wurde, weil es im Umkreis von 30 km keinen Arzt gab, und Haller erwähnt auch, dass seine »Wärterin« eine schwedisch sprechende Estin gewesen sei.8 Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Hallers Mutter Amalie, »geborene« Sacken, die illegitime Tochter eines Barons von Korff und einer Estin gewesen ist und Haller somit selbst eine estnische Großmutter hatte.9 Haller gibt in seinen Lebenserinnerungen aber auch zu, dass der deutschbaltische Adel und die estnischen Bauern keine herzlichen, sondern »lediglich wirtschaftliche Beziehungen«10 gepflegt hätten. Gutsherrliche Grausamkeiten aber habe es nur als vereinzelte »Ausnahmen«11 gegeben; die Norm sei gegenseitige Achtung, vonseiten der Deutschen sogar väterliche »Verantwortung«12 gewesen. Umgekehrt hätten die Esten »die Überlegenheit des Deutschen willig«13 anerkannt. Haller interpretiert dies nicht nur im sozialkonservativen Sinn, sondern spricht hier sogar von gelebter »Volksgemeinschaft«: »Wenn ich mir die Eintracht zwischen Deutschen und Esten, zumal auf dem Lande, wieder vergegenwärtige, wie ich sie damals erlebte, und wenn ich damit vergleiche, was ich später an gegenseitigem Klassenhaß zwischen Angehörigen eines und des­ selben Vokes kennengelernt habe, so kann ich nur sagen: dem Ideal der Volksgemeinschaft waren wir um 1870 in Estland näher.«14 7 Vgl. ebd., S. 15. 8 Vgl. ebd. 9 Das behauptet jedenfalls Hallers Tochter Adelheid in dem Manuskript »Einige Erinne­ rungen an Johannes Haller«: »Der wirkliche Vater von Amalie v. H. soll ein Baron v. Korff gewesen sein, die Mutter höchstwahrscheinlich eine einfache Estin. Mein Vater erinnerte sich, daß er in der Leuteküche ab und zu eine liebe alte Frau sitzen sah, die ihn manchmal innig an sich drückte u. die von seiner Mutter mit besonderer Freundlichkeit behandelt wurde. Er vermutete später, daß dies seine Großmutter war.« (UAT 305/58, Abschnitt »Eltern und Geschwister von J. H.«, S. 1.) Dass Hallers Mutter jedenfalls streng genommen keine geborene (Osten-)Sacken, sondern adoptiert war, geht auch hervor aus Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 10.  Juli 1939: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 307. 10 Haller, Lebenserinnerungen, S. 16. 11 Ebd., S. 17. 12 Ebd., S. 18. 13 Ebd., S. 19. 14 Ebd., Als Beleg für seine Behauptung nennt Haller die relative Schonung der Deutsch­ balten  im Zuge der Revolution 1905: »Hätte es sich damals wirklich um die Erhebung eines ganzen Volkes gehandelt, das seine Freiheit und sein Menschenrecht gegenüber jahr-

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Haller hat damit die Bedeutung der Identitätsfrage für den estnischen Bevölkerungsteil möglicherweise ebenso unterschätzt wie die historisch bedingte »kühle Nachbarschaft«15 zwischen Esten bzw. Letten und Deutschbalten. Allerdings hat er sich auch zur Frage der »Germanisierung« geäußert und hier nicht nur darauf hingewiesen, dass man spätestens mit der beginnenden Russifizierungspolitik gar keine praktischen Möglichkeiten mehr besessen habe, sondern er hat auch das Recht der Esten und Letten auf ihr »angeborenes Volkstum«16 verteidigt. Selbst wenn man in Hallers weiterer Schilderung der baltischen Verhältnisse das Maß an nachträglicher Idyllisierung und weltanschaulicher Färbung mit einrechnet, wird man doch zugeben müssen, dass vieles davon den Tatsachen entspricht. Haller vergleicht die sozialen Verhältnisse seiner Heimat in seiner Kindheits- und Jugendzeit mit denen in Westeuropa und besonders in Deutschland, und hier ist wohl kaum bestreitbar, dass Estland in puncto technischer und gesellschaftlicher Modernisierung ebenso zurückstand wie im Hinblick auf die Dringlichkeit der sozialen Frage. Insofern trug das Baltikum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirklich noch Züge des »ancien­ régime«17 als »ständisch gegliederte, aristokratisch-liberale«18 Gesellschaft, eben als »letzte[s] Stück der aristokratischen Welt des Ancien Régime«.19 Dass diese Wahrnehmung Hallers mindestens subjektiv ehrlich war, wird auch daran erkennbar, dass Hallers eigene weltanschaulich-politische Präferenzen – wie noch zu zeigen sein wird20 – zumindest bis 1914 eindeutig in eine solche »aristokratisch-liberale« Richtung gingen. Erstaunlicherweise schildert Haller in seinen Lebenserinnerungen zwar relativ ausführlich die Lebensverhältnisse seiner Kindheit auf Dagö, schreibt aber wenig über seine Revaler Jahre 1875–1883. Das hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass Haller sich in Reval nicht wohlfühlte; dies behauptete er­ jedenfalls 1889, nachdem er durch das Studium in Dorpat auch andere Existenz-

hundertelanger Unterdrückung zu erobern suchte, wie es manche Zeitungen in Mittelund Westeuropa nach bequemer Schablone darzustellen beliebten, so wäre wohl kaum ein Deutscher auf dem Lande mit dem Leben davongekommen. In Wirklichkeit waren die ­Opfer zwar schmerzlich, aber verhältnismäßig sehr gering an Zahl, und die reichen Bauern hatten stellenweise ebenso zu leiden wie die Gutsbesitzer.« (Haller, Lebenserinne­ rungen, S. 20). 15 Schlau, Die Völker des baltischen Raumes, S. 7. 16 Haller, Lebenserinnerungen, S. 40. 17 Ebd., S.  32. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Kinderbuch von Hallers Schwester Helene, in dem das Leben einer Pastorenfamilie auf Dagö bis zum Umzug nach Reval geschildert wird: Haller, Pastoratskinder. Im Tübinger Nachlass Hallers befindet sich ein Exemplar mit einer Vorbemerkung, aus der hervorgeht, dass dort das Hallersche Fami­ lienleben geschildert wird; Johannes Haller sei in der Figur des »Benno« verewigt (vgl. UAT 305/47). 18 Haller, Lebenserinnerungen, S. 26. 19 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 161 bzw. unten S. 421. 20 Vgl. dazu die Kapitel IV.3., IV.5., V.2. und V.4.

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weisen kennengelernt hatte.21 Lediglich die Revaler Domschule, die er seit 1876 besuchte, wird in den Lebenserinnerungen ausführlicher erwähnt und als Beispiel für die hohen baltischen Bildungsstandards gelobt: Trotz schwieriger Rahmenbedingungen – vor allem der Pflicht zum Russischunterricht zusätzlich zu Französisch und den Alten Sprachen – sei es den deutschen Schulen des Baltikums im Großen und Ganzen gelungen, mit den humanistischen Gymnasien des Deutschen Reiches mitzuhalten. Das wiederum habe mit der Bereitschaft des deutschbaltischen Adels zusammengehangen, sein Geld in die Bildung der eigenen Kinder zu investieren, aber auch mit dem im Vergleich zu den Verhältnissen im Reich ungleich höheren sozialen Stand des »Oberlehrers« und der­ humanistischen Bildung überhaupt.22

2. Vaterkomplex Hallers Halbjahreszeugnis vom Dezember 1878 ist erhalten; neben einem Beleg für die durchgehend guten Noten in allen Fächern liefert es auch einen ersten Hinweis auf seine zeitlebens angeschlagene Gesundheit, angesichts von 34 eingetragenen Fehlstunden.23 Die prekäre physische Konstitution Hallers scheint ein wesentlicher Grund dafür gewesen zu sein, weshalb er seinen ursprünglichen Plan aufgab, Musiker zu werden, und sich stattdessen 1883 zum Geschichts­ studium entschloss. Die musikalische Neigung Hallers muss groß gewesen sein, zumal er bereits als 14-Jähriger Briefe an seinen Vater mit ausführlichen Konzertkritiken schrieb.24 Letztlich aber wurde Haller kein Berufsmusiker, weil sein Vater – selbst musikalisch ambitioniert – es ihm verbot.25 Dass Haller sich bei der Wahl seines Studienfaches und damit seines Berufsweges dem Willen des Vaters unterwarf, hing natürlich mit der finzanziellen Abhängigkeit des Heranwachsenden zusammen, wirft aber auch ein bezeich21 Vgl. Johannes Haller an Helene Haller, 18. April 1889 [jul.]: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr.  11: »Nicht nur zu Hause empfinde ich eine fortwährende­ Differenz, auch sonst in der Stadt ist mir alles fremd und unsympathisch. Ich vermisse dort so ganz alles wirklich Vornehme und Gebildete, es herrscht ein so merkwürdig enger Kirchturmshorizont, daß ich mich immer beinahe krank dort fühle.« 22 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S.  30–32. Zu Hallers späterem bildungspolitischen En­ gagement vgl. Kapitel VII.3. 23 Ehstländische Ritter- und Domschule. Halbjähriges Zeugniss für den Quartaner Johannes Haller, d. 20. Dezember 1878: UAT 305/35. In seiner Jugend scheint Haller in erster Linie an »Gelenkrheumatismus« gelitten zu haben: vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 95. 24 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 10. Februar 1880: UAT 305/35. 25 Anders ist jedenfalls die entsprechende Passage in Hallers Lebenserinnerungen nicht zu verstehen: »Musiker hatte ich werden wollen, diesen Traum jedoch begraben müssen, weil mein Vater, vielleicht mit Recht, dagegen war.« (Haller, Lebenserinnerungen, S.  57.) Vgl. dazu auch Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 25.  Oktober 1896: Staatsarchiv­

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nendes Licht auf das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Anton Haller war als lutherischer Geistlicher zunächst Pastor in Keinis, ab 1875 in Reval und dort 1886–1889 Stadtsuperintendent.26 Er entstammte einer regelrechten Pastorendynastie – sein Urgroßvater sowie ein weiterer Vorfahre waren sogar ebenfalls in Keinis Pastoren gewesen27  – und war ein typischer Vertreter des deutsch­ baltischen Luthertums und als solcher ein Anhänger der konservativen protestantischen »Orthodoxie«28. Die in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem an den theologischen Fakultäten einflussreiche Gegenbewegung der liberalen Theologie existierte in Estland so gut wie nicht, wie auch umgekehrt das konfessionell-orthodoxe Luthertum wegen des weitgehenden Fehlens einer Gegenpartei nicht denselben kämpferischen Charakter hatte wie in Deutschland.29 Johannes Haller hat im Nachhinein die Auffassung geäußert, dass die Religiosität der Deutschbalten alles andere als flächendeckend orthodox-lutherisch gewesen sei. Man habe aber die konservative Orientierung der Kirche als Institution allgemein begrüßt, weil sie gerade dadurch gleichzeitig »eines der stärksten Bollwerke des Deutschtums« und »ein unentbehrliches Bindeglied zwischen Deutschen und Esten« gewesen sei.30 Hallers Vater aber scheint nicht nur in Bezug auf sein öffentliches Amt, sondern auch im Hinblick auf seine persönliche Frömmigkeit streng orthodox gewesen zu sein. Davon zeugen nicht nur die gedruckten Andachten Anton Hallers,31 sondern auch und vor allem das Unverständnis, mit dem der Vater reagierte, Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 56: »Ich verzichte mit Bewußtsein auf etwas, das ich als das Bessere erkannt habe, so wie ich vor 15 Jahren ohne Bewußtsein auf mein wahres Lebensziel, das Künstlertum, verzichtet habe, einem väterlichen Vorurteil weichend.« Zum musikalischen Interesse Anton Hallers vgl. dessen Klavierkompositionen in: UAT 305/46. 26 Vgl. die biographischen Kurzinformationen über Anton Haller in: Amburger, Die Pastoren des Konsistorialbezirks Estland, S. 42 f. 27 Vgl. dazu Haller, Erinnerungen an das baltische Pfarrhaus, S. 352–354. 28 Zur protestantischen »Orthodoxie« im 19. Jahrhundert und ihrem Gegensatz zum »libera­ len« Lager vgl. Schwarz, Zur Geschichte, S. 3–92, sowie Slenczka, Die Theologische Fakultät, S.  53 f. Zur Theologiegeschichte des 19.  Jahrhunderts insgesamt  – zumindest bis zur Reichsgründung  – vgl. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV und Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie V. 29 Vgl. Wittram, Theologie und Kirche in den Ostseeprovinzen, bes. S. 220–227. 30 Haller, Lebenserinnerungen, S.  51. Ausführlicher hat Haller diese Position dargelegt in:­ Haller, Erinnerungen an das baltische Pfarrhaus. Auch Reinhard Wittram nennt die politische Lage als Grund für den im Vergleich zu Deutschland wesentlich harmonischeren Charakter des  – konservativ geprägten  – kirchlichen Lebens im Baltikum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: vgl. Wittram, Theologie und Kirche in den Ostseeprovinzen, S. 223–225. 31 Anton Hermann Haller: Tägliche Hausandachten in Schriftbetrachtung und Gebet auf alle Tage im Jahre, Reval 1884. Ein Exemplar befindet sich in: UAT 305/57. Vgl. darin den Besitzvermerk »Joh. Haller, stud. Hist. Est. 12/84« sowie das Einlegeblatt mit handschriftlichem Eintrag: »Lernet von mir, sagt der Philosoph, und ihr werdet Unruhe finden. Lernet von mir, sagt Christus, so werdet ihr Ruhe finden. Zum 4. October 1888. AHHaller«.

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als sein Sohn ihm von ersten Glaubenszweifeln berichtete. Am 12. April 1889 – Haller hatte zu diesem Zeitpunkt sein Geschichtsstudium abgeschlossen und war als Hauslehrer in Ringen angestellt – schrieb er seinem Vater: »Was endlich Deine Frage  – denn so fasse ich es auf  – inbetreff meiner religiösen­ Stellung betrifft, so bitte ich Dich, Geduld mit mir zu haben. Es ist mir in der That­ unmöglich, gegenwärtig mit dem, was die Kirche bei uns lehrt, übereinzustimmen, doch kann ich Dich versichern, daß mir nach wie vor diese Dinge ein Gegenstand gründlicher und ernster Prüfung sind. Zum Abschluß bin ich nicht gekommen, doch weiß ich, daß mir in den Erfahrungen des thätigen Lebens manch Wahrheit aufgegangen ist, von der ich früher nichts wußte, und ich darf wol hoffen, daß es mit den Jahren so weiter gehen wird, wie die Religion eine Sache der That und persönlichen Erfahrung, nicht der Reflexion ist. Inzwischen halte ich mich an das Wort Jesu, daß nicht alle die zu ihm Herr sagen ins Himmelreich kommen, wol aber die den Willen des Vaters thun. Und diesen Willen, glaube ich, kann man zu thun streben, auch wenn man mit den Dogmen der Kirche nicht immer übereinstimmt.«32

Die Reaktion des Vaters auf dieses Bekenntnis seines Sohnes, nicht mit der offiziellen Kirchenlehre übereinzustimmen, ist nicht unmittelbar überliefert. Sie lässt sich aber erschließen aus einigen Bemerkungen, die Haller nur sechs Tage später in einem Brief an seine ältere Halbschwester Helene machte. Helene war die Tochter aus der Ehe Anton Hallers mit Natalie Ignatius, die 1860, nur ein Jahr nach der Hochzeit, verstorben war. Zwei Jahre später heiratete A ­ nton Haller Amalie Sacken; aus dieser Ehe gingen sieben Kinder hervor, darunter Johannes Haller als der Erstgeborene. Zu Helene unterhielt Haller von allen seinen Geschwistern anscheinend das herzlichste Verhältnis; jedenfalls sind die erhaltenen Briefe an Helene weitaus die zahlreichsten.33 In dem genannten Brief beschwert sich Haller bei Helene über das Verhalten des Vaters, der bei ­jeder grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit sofort »einen persönlichen­ Misklang« setze. Ihm sei dabei völlig klar, dass er aufgrund seiner abweichenden religiösen Überzeugung zu Hause für einen »verlorenen Sohn« gehalten werde.34 Die Spannungen zwischen Vater und Sohn hatten aber offenbar nicht nur mit solchen Divergenzen zu tun. Im selben Brief diagnostizierte der zu diesem Zeitpunkt 23-Jährige seiner ganzen Familie fehlende Toleranz und warf dem 32 Johannes Haller an Anton Haller, 12.  April 1889 [jul.]: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 10. 33 Die Briefe befinden sich in: UAT 305/52; einzelne Briefe der Geschwister an Haller befinden sich in: UAT 305/21. Laut Adelheid Ignatius-Haller war Agnes die Lieblingsschwester Johannes Hallers; sie verstarb allerdings schon 1880 im Alter von 9 Jahren an Diptherie. Helene, so Adelheid weiter, »stand m. Vater recht nah, wie er überhaupt zu all seinen Geschwistern ein gutes Verhältnis hatte. Sie konnte den gereizten Vater offenbar auch gut ›nehmen‹ und hat manches ausgeglichen.« (»Einige Erinnerungen an Johannes Haller«,­ Abschnitt »Eltern und Geschwister von J. H.«: UAT 305/58, S. 3.) 34 Johannes Haller an Helene Haller, 18.  April 1889 [jul.]: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 11.

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Vater vor, seine groß gewordenen Söhne weiterhin wie Kinder zu behandeln.35 Auch noch Jahre später, als Haller längst in Rom lebte und arbeitete, kam es immer wieder zu brieflich ausgetragenen Konflikten, die zeigen, dass Haller sich von dem anscheinend reizbaren und vor allem hohe Ansprüche an seine Kinder und in erster Linie an seine Söhne stellenden Vater nicht angemessen gewürdigt fühlte.36 1947, kurz vor seinem Tod, soll Haller noch einmal ausführlich über seinen Vater gesprochen haben; Hallers Tochter Adelheid fasst den Bericht folgendermaßen zusammen: »Die älteren Kinder flohen vor ihm; wenn er ins Zimmer kam, hörte jede Unter­ haltung auf, was ihm natürlich nicht verborgen blieb. Er bevorzugte die älteste Tochter Helene in allem, sie bekam den besseren Klavierlehrer und Tanzstunden in Reval – während der 1. Sohn, eben Johannes, stets etwas spärlicher bedacht wurde. Ich glaube, es war wechselseitig etwas von Haßliebe bei den beiden.«37 35 Ebd.: »Was Du über unser Verhältnis zum Elternhause sagtest, unterschreibe ich vollkommen; ich möchte nur noch hinzufügen, – was mir vieles zu erklären scheint – daß wir alle es wenig verstehen, das Fremdartige zu dulden, gegen die Gegensätze milde zu sein, kurz uns fehlt die Toleranz. […] Zu Hause aber geht es ja mit der Verständigung ganz schlecht. Offen gesagt: Papa verlangt von seinen Söhnen zu viel. Er will sie noch als Kinder behandeln, oder wenigstens, daß sie sich ganz als solche behandeln lassen; das geht aber nicht mehr«. 36 Zum heftigsten Streit kam es dabei offenbar Ende 1895, als Haller seinem Vater einen Brief schrieb, in dem er ganz grundsätzlich wurde: »Mir war es nie beschieden, Deine Zufriedenheit zu erregen; das weiß ich längst. Das ist natürlich kein ermunterndes Gefühl. Und letzthin habe ich leider die Erfahrung machen müssen, daß alle Geschwister, Toni­ allein ausgenommen, mehr von Dir in ihrer besonderen Art berücksichtigt wurden, als gerade ich. Es liegt mir ganz fern, daraus eine Beschwerde zu leiten, aber wie es auf einen wirkt, das braucht wol nicht erst gesagt zu werden. Ist es doch genau, wie vor 15 Jahren, wo ich Dir das beste Zeugnis der ganzen Schule nach Hause brachte, vom Direktor öffentlich ausgezeichnet, bei Dir – einen Tadel erntete! Und noch heute, mit 30 Jahren, höre ich dieselbe Stimme, die jeden Punkt hervorzuheben weiß, wo er fehlt, wo es anders und besser sein müßte, aber auf den Ton des Mitgefühls, daß es ja wol nicht anders sein kann, darauf horche ich vergebens. Gott sei Dank, ich habe Freunde, nicht viele zwar, aber wertvolle, die sich meine Art, so schlimm sie sein mag, gefallen lassen, weil sie mich auch so, wie ich bin, noch immer brauchen können. Aber der, von dem ich am ehesten etwas Nachsicht erwarten dürfte, dessen Wort ja auch ganz anders wirken würde, wenn er jene hören ließe, der eigene Vater kennt nur die Schärfe des Gesetzes. Seit Jahren nun bin ich schon gezwungen, unter Fremden zu leben, denen ich im besten Fall gleichgültig bin; die Freunde sind alle fern; was ich mir da gefallen lassen muß an Urteilen und Verurteilungen, offenen und versteckten, davon hast Du, glaube mir, keine Ahnung. Aber es ist der bitterste Tropfen in diesem wahrlich nicht süßen Kelch, zu wissen, daß ich selbst da, wo es natürlich wäre, keinen Rückhalt habe.« (Johannes Haller an Anton Haller, 2. November/21. Oktober 1895: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 46.) 37 »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«, Abschnitt »Eltern und Geschwister von J. H.«: UAT 305/58, S. 2. Adelheid berichtet auch, dass Anton Haller seine jüngeren Kinder milder behandelt habe; immerhin aber habe die Sechstgeborene, Antonie, schon früh wegen des »despotischen« Vaters den Plan gefasst, »den Ersten Besten zu heiraten.« (Ebd., S. 3.) Tatsächlich scheint Antonie Haller den Entschluss, den Mediziner Philipp Strauch zu heiraten, gegen den Willen ihres Vaters getroffen zu haben: vgl. dazu Johannes Haller an ­Helene­

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Die Uneinigkeit in dogmatischen Fragen muss aber für Haller doch einen besonderen Stellenwert gehabt haben, denn er blieb sogar familiären Osterfesten fern, um erst gar keine Gelegenheit für entsprechenden Streit zu geben.38 Mit der liberalen Theologie beschäftigte er sich Ende der 1880er Jahre recht intensiv und klagte darüber, dass der Rest seiner Familie diese Denkrichtung gar nicht wirklich kenne, die ihn selbst zu dem Schluss geführt habe, »daß die sog. orthodox lutherische Theologie für unsere Zeit und die Zukunft unbrauchbar ist, d. h. daß sie keine Zukunft hat, weil sie den ersten Voraussetzungen des modernen Denkens ins Gesicht schlägt, weil sie mit der wissenschaftlichen Weltanschauung streitet.« Die liberale Theologie dagegen habe den vielversprechenden Haller, 30./18.  September 1891: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 16: »Daß es schwere Zeiten zu Hause waren, wußte ich wol, daß Papa sehr litt, desgleichen. Ich habe ihm geschrieben, ihn über die große Frage zu beruhigen versucht, die ihn wol am meisten quälen mag, ob er Tonis Entschluß überhaupt gestatten dürfte. Papa war sehr erfreut über meinen Brief, blieb aber doch dabei, das arme Kind könne kein gutes Gewissen haben, da es ohne väterlichen Segen handle. Mir scheint das hart und ungerecht; denn über das eigene Gewissen kann doch nur jeder selbst ein Urteil haben. Was mich aber noch mehr betrübte, war die Absicht, die Papa offen aussprach, die Zeit der Trauung zur Rückgängigmachung des Ganzen zu benutzen. So verstand ich ihn wenigstens.« 38 Johannes Haller an Helene Haller, 18.  April 1889 [jul.]: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 11: »Zu Ostern gedenke ich überhaupt so bald nicht wieder zu Hause zu sein; es ist das doch eine Zeit, wo die religiösen Differenzen zu stark hervortreten, und das muß man doch vermeiden.« Auch in dem besonders heftigen Streit mit seinem Vater Ende 1895 kam Haller auf die religiöse Frage zu sprechen: »Vor allem aber irrst Du, wenn Du meinst, ich sei unglücklich, weil mir religiöse Gewißheit fehle. Ich habe meine Ueberzeugungen gewonnen und mit ihnen schon eine Weile, auch in recht harten Zeiten, die Probe gemacht; ich hoffe und glaube, sie werden mich in Stand setzen, das Leben zu ertragen, solange es währt, und es mit Fassung zu verlassen, wenn es ein Ende haben soll. Sie gipfeln in der Unterwerfung unter den göttlichen Willen, – nicht in sklavischer, zähneknirschender, sondern in hingebender, die da glaubt, daß alles, auch das Brutalste, endlich doch zu einem guten Zweck führen muß, dem ein jeder von uns zu dienen hat, – und im Bestreben, der Bestimmung gemäß zu leben. Seit ich dies zu glauben angefangen, fühle ich keinen Stachel und verlange nach nichts anderem mehr. Mich stärkt auch, zu wissen, daß vor mir gar viele, und nicht die Schlechtesten, ebenso gedacht haben.« (Johannes Haller an Anton Haller, 2. November/21. Oktober 1895: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 46.) Die Antwort des Vaters fiel offenbar nicht so aus, wie er gehofft hatte; drei Wochen später schrieb Haller: »Ich habe gesagt, was ich für das Beste hielt, indem ich Dir meine Welt- und Lebensanschauung darlegte. Mich leitete die Hoffnung, Du würdest, als Zeuge des Ernstes, mit dem ich diese Dinge, wie wol überhaupt das Leben behandelt habe, meinen Worten zwar keine Billigung schenken, aber doch wenigstens Deine Achtung nicht versagen. Leider kann ich nicht umhin, das Gegenteil zu empfinden. Denn nicht nur, daß Du meine ernstesten Bekenntnisse als leere Phrase behandelst und wie einen wertlosen Gegenstand bei Seite schiebst, machst Du mir auch noch den Vorwurf der Unaufrichtigkeit gegen mich selbst. Diesen Vorwurf habe ich nicht verdient, das weiß ich bestimmt; und für meine Ueberzeugungen, so töricht sie sein mögen, darf ich dieselbe Achtung verlangen, wie jeder andere, da ich mir bewußt bin, sie in schweren Kämpfen erworben zu haben und es mir gerade in dieser Beziehung nicht leicht gemacht zu haben.« (Johannes Haller an Anton Haller, 21./9. November 1895: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 47.)

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»Grundansatz, alles das was in den alten Dogmen mit den Ergebnissen der Wissenschaft (Philosophie, Geschichte, – namentlich in bezug auf das Leben Jesu und die Urzeit der Kirche, – und Naturwissenschaft) unvereinbar ist, als nicht zum Wesen der christlichen Religion gehörig zu streichen. Sie geht überall auf das Leben und die Persönlichkeit Jesu und seine eigenen Worte zurück, und wenn man ihr darin folgt, ist man überrascht, wie Recht sie hat, ja es kann einen wol mitunter Zorn darüber er­ fassen, daß die Menschen die lautere Lehre Jesu mit soviel Zusätzen vermischt und vielen den Glauben dadurch so erschwert haben.«39

Haller hat sein positives Urteil über die liberale Theologie später, infolge der­ Bekanntschaft mit Franz Overbeck, geändert, ohne jemals zur lutherischen Orthodoxie seines Vaters zurückzukehren und den Vorbehalt zu revidieren, diese sei von der modernen Wissenschaft faktisch widerlegt worden.40 Seine wissenschaftlichen und politischen Werke über die Reformation einerseits, das Papsttum andererseits, sind sehr deutlich aus der Perspektive dessen verfasst, was die Theologie etwas abschätzig »Profangeschichte« nennt. Es wäre jedenfalls nichts verfehlter, als von Hallers Forschungsinteresse für Kirchengeschichte auf eine besondere, gar christliche Religiosität zu schließen. Sein Interesse richtete sich vielmehr auf die Kirche als Institution und ihre politische, soziale und kulturelle Wirkung und Bedeutung. In Religionsfragen emanzipierte sich H ­ aller innerlich auf eine Weise von seinem Vater, wie er das in keiner anderen Beziehung vermochte. Dass Haller später auch als kirchenfreundlicher, ja konfessionalistischer Autor wahrgenommen wurde, hängt damit zusammen, dass für ihn sehr früh Kirchenfreundlichkeit und Religiosität zwei sehr verschiedene Dinge waren. Seine eigene Haltung in dieser Frage hat er in seinen Lebenserinnerungen dem Deutschbaltentum seiner Jugend ganz allgemein unterstellt: »die Religion Privatsache, die Kirche die Sache aller. Konservativ und liberal­ zugleich – das galt wie im gesamten Leben auch für die Kirche.«41

3. Russifizierung Kirche, Verwaltung, Wirtschaft und Bildung im Estland des ausgehenden 19.  Jahrhunderts werden in Hallers Lebenserinnerungen letztlich alle nach demselben Maßstab beurteilt: dem der Selbstbehauptung des Deutschbaltentums gegenüber dem Russischen Reich und der seit den 1880er Jahren angestrebten Russifizierung. In der Forschung neigt man inzwischen dazu, die Tragweite der mit diesem Begriff bezeichneten Politik der russischen Kaiser Alexander III. 39 Johannes Haller an Helene Haller, 18.  April 1889 [jul.]: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 11. 40 Vgl. dazu Kapitel IV.5. 41 Haller, Lebenserinnerungen, S. 51. Zu Hallers »Kirchlichkeit« vgl. auch die Kapitel VIII.2. und IX.

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und Nikolaus II. als gering einzuschätzen; manche gehen sogar so weit, »Russifizierung« im Baltikum mehr oder weniger für ein Phantom, mindestens aber für einen wissenschaftlich ungeeigneten Kampfbegriff einer »russophoben« deutschbaltischen Oberschicht zu halten.42 Daran ist sicher richtig, dass die Estländische Ritterschaft die befürchtete Beschneidung ihrer Privilegien sehr lautstark anprangerte und dass viele der Befürchtungen nicht eingetreten sind.43 Die Realität der Russifizierungsmaßnahmen etwa im Bildungssektor – so etwa die Einführung von Russisch als verpflichtender Unterrichtssprache an den Schulen ab der dritten Klasse 1887 und an der Universität Dorpat 1895, die 1893 in »Kaiserliche Universität Jurjew« umbenannt wurde – ist aber nicht ernsthaft bestreitbar.44 Es wäre daher sinnvoll, die differenzierte Einschätzung der älteren Forschung ernstzunehmen, die neben einer ungeplanten, sozusagen freiwilligen Russifizierung nichtrussischer Volksgruppen noch zwischen der administrativen und der kulturellen Russifizierung unterscheidet.45 Während die administrative Russifizierung, also die Zentralisierung und Vereinheitlichung der Verwaltung des Russischen Reiches, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer weiter intensiviert wurde, kann man in Bezug auf den Grad einer geplanten kulturellen Assimilierung ab 1881 unterschiedlicher Auffassung sein.46 42 Vgl. den ansonsten sehr instruktiven Aufsatz: Brüggemann, Als Land und Leute, bes. S.  27–29 und S.  32–34. Es leuchtet nicht ein, wieso der Begriff der »Russifizierung« wegen seines normativen Gehalts für den wissenschaftlichen Gebrauch ungeeignet sein soll, während der Begriff der »Russophobie«, der den damit bezeichneten Deutschbalten eine psychische Störung unterstellt, als wissenschaftlich unproblematisch benutzt wird. Den Begriff übernimmt Brügemann von Pistohlkors, »Russifizierung« und die Grundlagen, S.  58. Vgl. außerdem Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich, S.  383, wo davon die Rede ist, dass die »deutschbaltischen Kräfte […] von der Angst vor der ›Russifizierung des­ Baltentums‹ befallen« gewesen seien. Auch Haltzel, Der Abbau, S. 159, spricht von deutschbaltischer Russophobie. Eindeutig normativ ist der Begriff bei Haar, Johannes Haller. 43 Vgl. Pistohlkors, Deutsche Geschichte im Osten Europas, S.  382–388; vgl. Pistohlkors, Ritter­schaftliche Reformpolitik, S. 16–35. Besonders einflussreich war in diesem Zusammenhang die »Livländische Antwort« des deutschbaltischen Publizisten Carl Schirren: vgl. Schrirren, Livländische Antwort. 44 Vgl. Haltzel, Der Abbau, S. 123–156; vgl. Brüggemann, Als Land und Leute, S. 41–44. 45 Vgl. Thaden, Russification in the Baltic Provinces, bes. S. 8–10 und S. 33–75. Für diesen Ansatz plädiert auch Weeks, Russifizierung/Sowjetisierung. Grundsätzlich zu Phänomen und Forschungsgeschichte der Russifizierung vgl. Gasimov, Zum Phänomen. Zur Realität der Russifizierungsmaßnahmen vgl. außerdem Wittram, Drei Generationen, S. 297–314. 46 Vgl. das Urteil von Haltzel, Der Abbau, S. 157: »Obwohl die Russifizierung die Auswanderung einiger Deutschbalten und den Übergang anderer zum Russentum verursachte, war sie im Letzten doch nur ein begrenztes Phänomen. Es gab – vielleicht ebensosehr wegen der Unfähigkeit ausführender Organe als auch der Politik als solcher – in den baltischen Provinzen keine allgemeine Russifizierung der Kultur.« Stärker betont wird die Realität des Russifizierungsdrucks bei Görlitz, Die Nordostdeutschen Führungsschichten, S. 22 f., und jüngst bei Prehn, Max Hildebert Boehm, S.  34–38, der darauf hinweist, dass gerade viele Lehrer das Baltikum verließen, um der möglichen Versetzung in irgendein russisches­ Provinznest zu entgehen. Eduard von Stackelberg-Sutlem weist in seinen Lebenserinne-

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Die Deutschbalten hatten für solche Differenzierungen natürlich keinen Anlass; sie fühlten sich vor allem deshalb so hart von den Russifizierungsmaßnahmen getroffen, weil ihr kulturelles Überlegenheitsbewusstsein sich nicht nur auf die Esten und Letten, sondern auch auf Russland selbst bezog. Man orientierte sich eindeutig nach Westen, wo es seit 1871 einen deutschen Nationalstaat gab, dem man sich wesentlich näher fühlte als dem Russischen Reich, auch wenn das Deutsche Reich unter Bismarck keinerlei Anstalten machte, sich in die baltischen Angelegenheiten einzumischen.47 Überhaupt war unter den Deutsch­ balten die sogenannte »Kulturträgertheorie«48, als deren Vertreter Haller der Forschung heute gilt, allgemein verbreitet, zumal man sich durch Geschichte und Gegenwart in der Auffassung bestätigt fühlen konnte, dass es erst die Deutschen gewesen seien, die den Osten Europas kultiviert und zivi­lisiert hätten. Dieses Überlegenheitsbewusstsein zusammen mit der staatlich geeinten (klein-)deutschen Nation als westlichem Bezugspunkt erklärt die vehemente Abwehrhaltung, die die Deutschbalten gegenüber den Russifizierungsmaßnahmen einnahmen. In seinen Lebenserinnerungen versteht Haller Russifizierung relativ nüchtern als das Bestreben der russischen Führung, aus dem Vielvölkerstaat Russland einen russischen Nationalstaat zu machen  – und zwar durch Unterdrückung der Fremdnationen.49 Dass man dem aus deutschbal­ tischer Sicht Widerstand entgegensetzen musste, lag auf der Hand, zumal man sich auch darauf berufen konnte, dass die weitgehende Selbstverwaltung bisher einwandfrei funktioniert habe.50 Die Russifizierung des Bildungssektors allerdings wurde als besonders hart empfunden, weil hier die nationale Identität der Deutschbalten am empfindlichsten getroffen werden konnte. Für Haller jedenfalls waren die durchgeführten bzw. angedrohten Maßnahmen entscheirungen darauf hin, dass der Unwille der russischen Regierung, die Deutschbalten kulturell zu assimilieren, vor dem Hintergrund der geplanten und durchgeführten administrativen Russifizierung eine besonders große, nämlich existentielle Bedrohung für die Deutsch­ balten dargestellt habe: vgl. Stackelberg-Sutlem, Ein Leben im baltischen Kampf, bes. S. 93–96. Für die Russifizierungspolitik in Litauen und Weißrussland vgl. Staliūnas, Making Russians. Den Fokus auf Polen legt Weeks, Nation and State. 47 Vgl. dazu Eckel, Hans Rothfels, S.  116–122; vgl. außerdem Rothfels, Bismarck und der­ Osten; Muskat, Bismarck und die Balten, sowie Haller, Lebenserinnerungen. S. 41. 48 Vgl. Dumschat, Ausländische Mediziner, S. 25 f. Der Begriff der »Kulturträgertheorie« wurde in diesem Zusammenhang offenbar von Wolfgang Wippermann wissenschaftlich eingeführt, der hier allerdings die ideengeschichtliche Analyse nicht immer sauber von politisch motivierter Ideologiekritik trennte: vgl. Wippermann, Der Ordensstaat als Ideologie, bes. S. 333; vgl. Wippermann, Der ›deutsche Drang nach Osten‹, bes. S. 133–142. Haller hat den Begriff selbst benutzt: In seinen Lebenserinnerungen sprach er von der Aufgabe der Deutschen »als Vormacht und Kulturträger gegenüber den Ländern an der Ostsee« (­ Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 97 bzw. unten S. 376). 49 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 38 f. 50 Gert von Pistohlkors allerdings behauptet, seit den 1840er Jahren seien die Deutschbalten nicht mehr fähig gewesen, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln und hätten, um ihre Privilegien nicht verlieren zu müssen, das Gespenst der »Russifizierung« erfunden: Pistohlkors, »Russifizierung« und die Grundlagen, bes. S. 64–67.

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dend für seinen ganzen weiteren Lebensweg, weil sie die Entscheidung zur Auswanderung herbeiführten. Als er 1883 an der Universität Dorpat sein Geschichtsstudium begann, tat er dies noch in der Vorstellung, sich als Oberlehrer in der baltischen Provinz niederzulassen. Zu seinem Studienfach hatte ihn die Erfahrung seines Geschichtsunterrichts in der Schule motiviert, der ihn in der Auffassung bestärkte, Geschichte sei fast ebenso sehr Kunst wie Wissenschaft. An der Universität wurde seine Erwartung jedoch rasch enttäuscht. Einigen seiner Hochschullehrer hat er ein freundliches Andenken bewahrt, aber Begeisterung für Geschichte hat ihm keiner von ihnen vermittelt. Großen persönlichen Eindruck hat offenbar lediglich der Physiologe Alexander Schmidt gemacht, da dessen anschauliche, dabei aber gleichzeitig nicht um rhetorisches Schmuckwerk bemühte Art des Vortrags für Hallers eigenen Vortragsstil vorbildhaft geworden ist.51 Die beiden wichtigsten Fachlehrer für Haller waren der Neuzeitler Alexander Brückner und der Mediävist Richard Hausmann.52 Klagte Haller im Herbst 1885 noch darüber, dass Hausmann einem das Studieren erschwere, da er »in seiner ganzen Art und Weise wol sehr dazu angelegt ist, einem die Lust an der sonst so lieben Arbeit zu vertreiben«53, so war es doch derselbe Hausmann, der neun Monate später durch die positive Rückmeldung zu Hallers erster eigenständiger wissenschaftlicher Arbeit diesen davon überzeugte, das richtige Fach gewählt zu haben.54 Seine »Candidatenschrift« – eine zusätzlich zu den Examensprüfungen vorzulegende wissenschaftliche Abhandlung55 – verfasste Haller allerdings im Fach Neue Geschichte bei Brückner. Die Arbeit über »Die Thronbesteigung Kaiserin Katharina I.« erschien 1890 in der »Russischen Revue«.56 Es handelt sich um eine im Wesentlichen auf zwei gedruckten Quellen – den Berichten des französischen Gesandten Cam­prédon und des holsteinischen Ministers Henning Friedrich von Bassewitz  – beruhende Darstellung und Kommentierung der Umstände und Intrigen, die nach dem Tod Peters I. zur Thronbesteigung Katharinas führten. Im Grunde ist die Arbeit nicht viel mehr als angewandte Quellenkritik; mit einer Interpretation hält ­Haller sich weitgehend zurück und nennt die Thronbesteigung eher bei­ läufig eine faktische »Palastrevolution«57. Für die Einschätzung von Hallers wissenschaftlichen und politischen Auffassungen zum Ende seines Studiums sind­ 51 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 59. 52 Zu Brückner vgl. Hausmann, Art. »Brückner, Alexander«; zu Hausmann vgl. Angermann, Art. »Hausmann, Richard«. 53 Johannes Haller an Anton Haller, 7.  Oktober 1885 [jul.]: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 4. 54 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 7.  Juli 1886 [jul.]: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 5. Vgl. dazu auch Haller, Lebenserinnerungen, S. 57 f. 55 Vgl. hierzu die Dorpater Studien- und Prüfungsordnung: Vorschriften für die Studirenden der Kaiserlichen Universität Dorpat, Dorpat 1886. 56 Haller, Die Thronbesteigung Kaiserin Katharina I. 57 Ebd., S. 274.

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allerdings die einleitenden Sätze von Interesse, die man aber wiederum auch nicht überwerten sollte angesichts der Tatsache, dass es sich um eine Qualifikationsschrift handelt. Haller setzt sich hier mit der Frage der historischen Bedeutung einzelner Personen auseinander – einem Dauerbrenner geschichtswissenschaftlicher Methodendiskussion.58 In Anlehnung an seinen Lehrer Brückner vertritt Haller hier die Auffassung, dass Einzelne mindestens so etwas wie eine beschleunigende Wirkung auf die allgemeine historische Entwicklung nehmen könnten.59 Diese, so Haller, laufe auf das »Ziel der Civilisation und Kultur« hinaus, dem Russland durch die Thronbesteigung Katharinas und die damit verbundene Abwehr der »Reaction falschverstandener Nationalitätsbestrebungen« näher gekommen sei.60 Diese Äußerungen legen zumindest nahe, dass das politische Selbstverständnis des jungen Haller das eines Liberalen war, der einem nicht radikalen, aber moderaten Fortschrittsgedanken anhing. Bestätigt wird diese Vermutung durch Briefe Hallers aus derselben Zeit an seine Halbschwester, in denen er sich für »Unabhängigkeit« und gegen die »alten Traditionen« aussprach, insofern diese zu »Vorurteilen« führten.61 Haller hat den Ruf und die wissenschaftliche Bedeutung seiner Heimat­ universität relativ nüchtern eingeschätzt. Dennoch hat er sie in seinen Lebens­ erinnerungen in den allerwärmsten Worten geschildert.62 Das hatte aber tatsächlich wenig mit dem eigentlichen akademischen Betrieb zu tun und stattdessen viel mit dem studentischen Leben. Folgt man Hallers Briefen an die Eltern und an Helene aus seiner Studentenzeit, so lag das in erster Linie an seinem Eintritt in die studentische »Corporation Estonia«. Während er in seinem ersten Semester noch darüber klagte, keinerlei Bekanntschaften unter seinen Kommilitonen zu machen, da die Studentenschaft nur aus »Nullen« und sich abschließenden »Corporellen« bestehe,63 gehörte er im vierten Semester bereits 58 Vgl. dazu etwa Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, S. 315–318, dort auch weitere Lite­ra­ turhinweise. Vgl. zum Problem der »Personalisierung« auch Hardtwig, Deutsche Geschichtskultur, S. 47–55. 59 Vgl. Haller, Die Thronbesteigung Kaiserin Katharina I., S. 210. 60 Ebd., S. 211. 61 Johannes Haller an Helene Haller, 18.  April 1889 [jul.]: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 11. 62 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S.  52–59. Haller hat schon 1894 von Rom aus die Aus­ bildungsqualität in Dorpat relativ negativ beurteilt: »Mir schon, der ich doch in besseren Tagen Dorpat genossen habe, thut jetzt die Zeit leid, die ich dort verdorben, weniger weil ich zuviel der Geselligkeit gelebt – das war für mich ganz gut, vielleicht nötig – als weil die wissenschaftliche Belehrung so miserabel war. Unter meinen Collegen komme ich mir als der reine Autodidact vor, wenn ich höre, welche reiche Anregung sie aus den verschiedensten Vorlesungen mitbekommen haben (allerdings meist ohne sie zu verwerten), während in D ­ orpat doch alles auf das ›Heft‹ hinauslief. Und das muß ja noch um 100 % schlimmer geworden sein.« (Johannes Haller an Anton Haller, 20./6. Februar 1894: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 21.) 63 Johannes Haller an Helene Haller, 7. September 1883 [jul]: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 2.

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selbst zur letzteren Kategorie. Wie wichtig ihm die Studentenverbindung ge­ worden war, zeigt ein Brief an den Vater, der – auch das wieder ein Hinweis auf die prekäre Vater-Sohn-Beziehung – seinem Sohn offenbar vorgeworfen hatte, wegen der neuen Freundschaften seine akademischen Pflichten zu vernach­ lässigen. Haller antwortete ihm, indem er auf seine Einsamkeit als Schüler­ verwies und darauf, dass er nun zum ersten Mal Freunde gefunden habe und sich glücklich fühle: »Wenn Du endlich sagst, Du könntest Dich am Ende veranlaßt sehen, meinen Austritt aus der Estonia zu verlangen, so kann ich darauf nur erwidern, daß ich Dir ohne­ Widerrede gehorchen würde, daß es mich aber auch dann nicht gereuen würde, einmal Corpsbursch gewesen zu sein und das Glück der Freundschaft und Gemeinschaft mit anderen genossen zu haben, das mir vorher versagt war und von dem ich dann wol für immer würde Abschied nehmen müssen. – Doch, wie gesagt, wenn es Dein fester Wille sein sollte, so trete ich lieber heute als morgen aus, schon um der Estonia Vorwürfe zu ersparen, die sie nicht verdient und die nur mich treffen sollten.«64

Aus der Rückschau hat Haller seinem Vater sogar recht gegeben, dass die studentische Geselligkeit der akademischen Arbeit nicht immer zuträglich gewesen ist.65 Er erklärte dies allerdings auch damit, dass es zu seiner Zeit keinen Grund mehr für besonderen Ehrgeiz gegeben habe, da das Baltikum keine­ aussichtsreichen Posten bot, für die sich die Arbeit wirklich gelohnt hätte. Vor allem aber hob Haller auch später noch den großen Wert der Dorpater Universität als »Erziehungsanstalt« hervor, in der tatsächlich nach den Ideen der deutschen Burschenschaft »Jugend von Jugend geführt« worden sei.66 Die drohende mehr als die tatsächliche Russifizierung gab dann schließlich für Haller den Ausschlag, nach zweijähriger Tätigkeit als Hauslehrer das Bal­ tikum 1890 zu verlassen. Schon 1886, als der Bruder des russischen Kaisers, Großfürst Vladimir Alexandrovič, in Dorpat die Deutschbalten davon in Kenntnis setzte, dass sein Bruder eine engere Verbindung zu den Ostseeprovinzen anstrebe, schätzte Haller die künftigen Aussichten relativ nüchtern ein.67 Im April 1889 erwog er dann bereits die Möglichkeit der Auswanderung, wenn er auch zunächst noch meinte, diese Option komme nur dann infrage, wenn er in der Heimat gar keine sinnvolle Tätigkeit finden könne.68 Doch schon im Mai gab es 64 Johannes Haller an Anton Haller, 5. April 1885 [jul.]: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 3. 65 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 60. 66 Ebd., S. 52 und S. 56–57. 67 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 7. Juli 1886 [jul.]: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 5. Zum Besuch des Großfürsten vgl. auch Haltzel, Der Abbau, S. 89 f. 68 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 12. April 1889 [jul.]: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr.  10. Schon ein halbes Jahr zuvor hatte Haller gegenüber seinem Vater die Befürchtung geäußert, »keine Aussicht auf eine Lehrercarriere zu haben.« (Johannes Haller an Anton Haller, 25. Oktober 1888: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 9.)

Russifizierung

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für ihn nur noch die Alternative, entweder mit Hilfe eines Reisestipendiums der »Estonia« ins Deutsche Reich auszuwandern oder sein Glück in den deutschen Kolonien zu suchen: »Hier zu bleiben halte ich jedenfalls für unmöglich.«69 Als einen der Gründe für diese Haltung hat Haller später die Befürchtung angegeben, wegen der exponierten politischen Stellung seines Vaters von den russischen Behörden bei der Stellenvergabe übergangen zu werden. Diese Sorge war wohl übertrieben; ausschlaggebend war für Haller aber auch noch etwas anderes, nämlich dass er unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen gar keine Stelle als Lehrer in Estland oder Livland wünschte. Der Neuregelung entsprechend hätte er nämlich auf Russisch unterrichten müssen, was ihm eine »moralische Unmöglichkeit« war.70 In seinem »geradezu physischen Widerwillen«71 gegen die russische Sprache bündelte sich das ganze kulturelle und moralische Überlegenheitsbewusstsein, das er aufgrund seiner Zugehörigkeit zur deutschen Nation empfand. In dieser Abwehrhaltung ist umgekehrt mindestens ein verstärkender Faktor für Hallers politischen Nationalismus zu suchen, der im Wesentlichen ein Kulturnationalismus, im Grunde sogar – wie man später anhand von Hallers ebenso deutlichem Widerwillen gegen die real existierende deutsche »Kultur« sehen wird72 – ein abstrakter Kulturnationalismus war. Aus der Tatsache, dass Hallers Ablehnung der russischen Sprache letztlich keine rationalen, sondern emotionale Gründe hatte, hat er selbst später zwei Schlussfolgerungen für den Charakter nationaler Identität gezogen, die für den politischen Lebensweg Hallers besonders aufschlussreich sind: »Erstens, daß nationales Gefühl etwas Elementares, von Natur Gegebenes ist, nicht etwas Geschaffenes oder Anerzogenes. Und zweitens, daß es mit der Sprache untrennbar verbunden ist, in ihr sich ausdrückt und von ihr genährt wird. Nationa­lität und nationales Bewußtsein sind nichts anderes als das Bedürfnis, sich selbst gleich zu bleiben, zu bleiben, was man von Natur ist. Dazu aber gehört in erster Linie die Sprache. Sie ist ja nicht, wofür ein Rationalist sie halten könnte, ein Mittel der Verständigung, sie ist Wesensausdruck, wird als solcher instinktiv und unreflektiert empfunden und verteidigt, wo sie angegriffen wird.«73

Da er das erhoffte Reisestipendium erhielt, wählte Haller im Herbst 1890 die Auswanderung in das Deutsche Reich, um dort sein Geschichtsstudium fortzusetzen. Es wäre aber ein Irrtum, wenn man glaubte, der deutsche Nationalist Haller müsse von der Aussicht begeistert gewesen sein, Deutschland selbst kennenzulernen. Der Schwester schrieb er im April 1890: 69 Johannes Haller an Anton Haller, 30. Mai 1889 [jul.]: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 12. 70 Haller, Lebenserinnerungen, S. 62–70, Zitat S. 67. 71 Ebd., S. 64. 72 Vgl. Kapitel III. 73 Haller, Lebenserinnerungen, S. 66. Zu Hallers Nationsbegriff vgl. auch Kapitel VII.2. und VIII.1.

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»Daß ich mit großem Jauchzen an diese Wendung herantrete, könnte man wol nicht behaupten; das Selbstvertrauen schwindet, wenn man seine Kräfte garnicht zu messen Gelegenheit hat. Aber ich habe keine andere Möglichkeit, als eben den großen Sprung zu wagen. Natürlich ist hier immer wieder Frau Fortuna die Hauptperson.«74

Hallers Skepsis bestätigte sich; Deutschland, vor allem Berlin, war weit davon entfernt, ihm zu gefallen, und nicht zufällig kehrte er schon anderthalb Jahre später dem Reich wieder den Rücken, um nach Rom zu gehen. In seinen Lebens­ erinnerungen ist Haller sogar so weit gegangen, den Sinn seiner Auswanderung grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.75 Trotzdem ist er, von einigen Kurzbesuchen abgesehen, nie wieder in seine alte Heimat zurückgekehrt; vielleicht auch deshalb, weil sie aus seiner Sicht in den politischen Umwälzungen seit 1905 un­wiederbringlich verlorengegangen war.76 Seine deutschbaltische Herkunft wollte und konnte er aber zeitlebens nicht verleugnen. Dafür spiegelte sie sich viel zu stark in seinen Charaktereigenschaften wieder, und zwar gerade in denjenigen, die massive Auswirkungen auf sein berufliches Tätigkeitsfeld hatten: sein Überlegensheitsempfinden, das von einer permanenten Unsicherheit im Umgang mit anderen begleitet war und das sich sowohl in persönlicher Distanz als auch in einem ausgeprägten Hang zur Polemik ausdrückte. Max Hildebert Boehm, ein Deutschbalte, der ebenfalls in das Reich ausgewandert war, hat ähnliche Eigenschaften dem Deutschbaltentum insgesamt diagnostiziert: »Wir mußten die volkstümliche Schwäche, die unserer Existenz auf einem so be­ drohten Posten immer anhaftete, freilich durch eine gewisse Überzüchtung der Kräfte des wachen Bewußtseins ausgleichen. So entwickelten sich im baltischen­ Menschen Begabungen, die manchmal bedeutend, aber immer sehr einseitig sind. Unsere besondere geschichtliche Lage erklärt viele Eigentümlichkeiten, die wir an uns kennen und die anderen Deutschen an uns auffallen.«77

74 Johannes Haller an Helene Haller, 22. April 1890: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert,­ Johannes Haller, Nr. 13. 75 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 69. 76 Haller war mit dieser Auffassung unter den Deutschbalten keineswegs allein; vgl. dazu etwa Wittram, Drei Generationen, S. 314–336. 77 Boehm, Zum Geleit, S. 9.

III. Deutscher Schock (1890–1892) 1. Berlin – ein »scheußliches Nest« Haller hat nur ein einziges Studiensemester in Berlin verbracht, und aus dieser Zeit ist nur ein einziger Brief überliefert: Am 19. Oktober 1890 schrieb Haller seiner Halbschwester Helene relativ knapp von seinen ersten Wochen in Berlin. Zwar sei der allererste Eindruck »berauschend« gewesen, aber insgesamt sei er von der »Weltstadt« wenig begeistert. Grund dafür war offenbar vor allem der fehlende soziale Anschluss, was Haller auf die »Zugeknöpftheit« nicht nur der Berliner, sondern auch – von Ausnahmen abgesehen – der in Berlin lebenden Balten zurückführte.1 Ein halbes Jahr später wurde Haller, nun bereits in Heidelberg, noch etwas deutlicher und nannte Berlin ein »scheußliches Nest«; der Süddeutsche sei außerdem sehr viel angenehmer als der Berliner, »wenn er auch trotz alle dem immer ein Deutscher bleibt.«2 So spärlich die Quellen hier sind, so deutet ihr Inhalt doch darauf hin, dass die sehr viel ausführlichere Schilderung des Berliner Semesters in Hallers Lebenserinnerungen seine Erlebnisse zuverlässig wiedergibt. Der unmittelbar überwältigende Eindruck des Ein­wanderers aus dem Osten kommt darin ebenso zur Sprache wie die rasche Enttäuschung zuerst von Berlin, dann von den Deutschen insgesamt.3 Wie sehr die Enttäuschung mit verschmähter Liebe zu einer deutschen Nation zu tun hatte, die ihn und seine Landsleute in vieler Hinsicht als Fremdlinge, ja im Grunde als »Russen«4 betrachtete, ist nicht sicher zu ermitteln. Das Schockerlebnis, das der Übertritt über die Grenze ins Deutsche Reich für Haller mit sich brachte, hat er selbst damit erklärt, dass er nicht nur aus einem fremden Land, sondern im Grunde auch aus einer anderen Zeit stammte. Das galt zunächst für den zivilisatorischen Zustand: Für denjenigen, der estnische bzw. russische Verhältnisse gewohnt war, sei Berlin 1890 ein Muster an Ordnung und Sauberkeit gewesen. Es betraf aber auch das soziale Leben, da Deutschland im Gegensatz zum »aristokratisch-liberale[n]«5 Baltikum von einer bürgerlichen Gesellschaft bestimmt war. Einen deutschen Mittelstand, so Haller, habe es in seiner Heimat gar nicht gegeben, während er im Kaiserreich geradezu ton­ 1 Johannes Haller an Helene Haller, 19./7.  Oktober 1890: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 14. 2 Johannes Haller an Helene Haller, 12.  April 1891: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert,­ Johannes Haller, Nr. 15. 3 Vgl. für das Folgende Haller, Lebenserinnerungen, S. 73–101. 4 Vgl. dazu etwa Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 11.  September 1918: BarchN 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 167. 5 Haller, Lebenserinnerungen, S. 26.

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angebend gewesen sei; umgekehrt habe der Adel in Deutschland keine große gesellschaftliche Rolle gespielt, jedenfalls keine Vorbildfunktion gehabt. Hierin ist dann wohl auch eine Hauptursache dafür zu sehen, dass Haller ­gegenüber Deutschland ein Fremdheitsgefühl entwickelte, das er eigentlich nie los wurde. Die zahlreichen Kritikpunkte Hallers an dem, was er als deutsche Kultur erlebte  – die schon erwähnte »Zugeknöpftheit«, die Bedeutung des Geldes, die fehlende Freiheit und Gelassenheit im gegenseitigen Umgang, der auch von anderen beobachtete »Kultus des Titels«6 – hingen letztlich alle damit zusammen, dass Haller zu Hause anderes kennen und schätzen gelernt hatte. Natürlich ist es nicht weiter verwunderlich, dass Hallers in abstracto ent­ worfenes Idealbild von Deutschland mit der Realität konfrontiert zunächst zu einer Ernüchterung führen musste. Aber bei Haller blieb doch ein prinzipieller persönlicher Vorbehalt gegenüber Deutschland bestehen: »Wir hatten einmal zu hoch von Deutschland gedacht und es war unsere Schuld, aber es bewirkte, daß Deutschland uns nicht zur vollen Heimat werden konnte, daß es sich hier nur leben ließ, wenn man nicht bloß sehr vieles hinzulernte, was einem fremd gewesen war, sondern vor allem einiges zu verlernen und zu vergessen suchte, was man bis dahin für natürlich und wesentlich gehalten hatte.«7

Die deutsche Kultur, die Hallers nationale Identität in Abgrenzung zu Russland ausgemacht hatte, hat er danach mit anderen Augen gesehen. Für Preußen gilt das ganz besonders: Sieben Jahre nach seinem Berlinaufenthalt, 1897, schrieb er wiederum an Helene: »Ich habe innerlich stark gelitten unter meinen Beziehungen zum Preußentum, g­ egen das ich eine tiefe und begründete Abneigung nie werde verwinden können. Preußen ist im Grunde doch nur ein blankgeputztes Rußland, im Kern steckt dieselbe Barbarei, Unmenschlichkeit und Unmoral.«8

Diese Sätze Hallers sind kein Einzelfall: Als er 1895 auf Archivreise in Berlin war, schrieb er dem damals mit ihm befreundeten und zusammenarbeitenden Basler Staatsarchivar Rudolf Wackernagel: »Freitag soll Treitschke eine große Rede zur Erinnerung an die Kriegserklärung halten. Ich schwanke noch, ob ich hingehen soll; es wird schwarz-weiß bis zum Ekel sein, und chauvinistisch bis zur Lächerlichkeit. Aber am Ende sollte man das doch selbst hören.«9 6 Ebd., S. 77. Über das deutsche »Diplom-Menschentum« hat in anderem Kontext auch Max Weber gespottet: Weber, Parlament und Regierung, S. 145. 7 Haller, Lebenserinnerungen, S. 80. 8 Johannes Haller an Helene Haller, 1. Januar 1897/20. Dezember 1896: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 63. 9 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 15.  Juli 1895: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  43. Im selben Brief an früherer Stelle schreibt Haller: »O dieses Berlin! Ich will nicht weiter klagen, da ich hoffe, wenn ich diesmal recht hübsch artig bin, nie wieder diesen Ort der Pein aufsuchen zu müssen. Es ist

Berlin – ein »scheußliches Nest«

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Für jemanden, der wie Haller als dezidiert propreußischer Autor und Bismarck­ verehrer bekannt geworden ist10, sind solche Sätze einigermaßen ungewöhnlich. Aber es blieb nicht nur bei der Abneigung gegen Preußen und einer gewissen Fremdheit gegenüber der realexistierenden deutschen Kultur. Mindestens zwischenzeitlich – wahrscheinlich aber doch Hallers ganzes Leben mehr oder weniger durchgängig begleitend – ist bei Haller eine regelrechte Verzweiflung an Deutschland festzustellen. Die bezog sich natürlich in erster Linie auf die Krisen- und Zusammenbruchsphasen 1918/19 und 1945,11 ist aber auch schon für die relativ ruhige und friedliche Zeit des Wilhelminismus nachweisbar. Seinem Vater schrieb Haller im Dezember 1901: »Ich kann nur wiederholen, was ich Dir glaube ich, schon einmal schrieb: mit meinen heutigen Erfahrungen über Deutschland und die Deutschen würde ich es nicht mehr der Mühe wert finden dem Russentum aus dem Wege zu gehen.«12

1890 war es neben dem allgemeinen gesellschaftlichen auch das politische Leben Berlins, das Haller massiv enttäuschte. In seiner Heimat war Politik zumindest der subjektiven Empfindung nach eine Sache, bei der es um Leben und Tod ging; dagegen erschienen Haller die Sitzungen des Reichstages und die politischen Versammlungen in Berlin entweder langweilig oder würdelos.13 Haller war bei der Gründungssitzung des Alldeutschen Verbandes – damals noch »Allgemeiner Deutscher Verein« – anwesend, die er als typisch nichtssagende, aus »Musik, Bier, Reden und angesäuselten Reichstagspräsidenten« zusammengesetzte Veranstaltung schilderte.14 Noch irritierender war für ihn, dass schon Ende 1890 offenbar niemand mehr in Deutschland dem Reichskanzler Otto von Bismarck nachtrauerte, der im Frühjahr von Kaiser Wilhelm II. entlassen worden war. Im Baltikum, so Haller, habe man den Reichsgründer allgemein als »staatsmännische[s] Genie«15 bewundert, während man ihn in Deutschland offenbar für entbehrlich hielt. Tatsächlich spricht vieles für die Annahme, dass die Entlassung Bismarcks von einer Mehrheit der Deutschen begrüßt wurde, die in Bezug auf die soziale Frage – dem entscheidenden Streitpunkt, der den Anlass für die Entlassung gab – mit dem anvisierten arbeiterfreundlichen Kurs des Kaisers mehr anfangen konnte als mit der unnachgiebigen Haltung Bis freilich stilvoll: häßlich bis zur Unmöglichkeit, Häuser, Straßen, Denkmäler, Wetter und vollends die Menschen! Alles zusammen in einem Stil, für den ich mir das schönklingende Wort ›der knoteske Stil‹ gebildet habe. Welch ein Glück, daß Berlin nicht der Typus Deutschlands, und vor allem, daß der Berliner nicht der Typus des Deutschen ist!« Bei der erwähnten Treitschke-Rede handelt es sich um: Treitschke, Zum Gedächtnis des großen Krieges. 10 Vgl. dazu bes. die Kapitel IV.5., V.3., VII.2. und VIII.1. 11 Vgl. dazu die Kapitel VI.3. und VIII.4. 12 Johannes Haller an Anton Haller, 22.  Dezember 1901: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 74. 13 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 88–94. 14 Ebd., S. 94. 15 Ebd., S. 92.

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marcks.16 Haller selbst hat Bismarck im Laufe seines Lebens immer kritischer beurteilt, vor allem nach dem Erscheinen von Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen«, hat aber doch an der herausragenden positiven Bedeutung Bismarcks für die deutsche Nation festgehalten.17 Dabei konnte er sich immerhin zugutehalten, dass seine Bismarck-Verehrung älter war als die verbreitete jener »Bismarckdeutschen« aus den Zeiten wilhelminischer »Reichsverdrossenheit«, die den Altkanzler erst nachträglich zum Nationalhelden stilisierten.18 Weder in der Stadt noch an der Universität fand Haller wirklich Anschluss. Selbst zu den regelmäßigen Treffen der baltischen Auswanderer, bei denen er auch den wissenschaftspolitisch außerordentlich einflussreichen Theologen Adolf Harnack kennenlernte, ging er schon bald nicht mehr, weil dort seiner Meinung nach eine zu depressive Stimmung herrschte.19 Es zeigt sich in dieser relativen Distanz zur »baltischen Kolonie«20 Hallers ausgeprägte Neigung zum Einzelgängertum, das offenbar nur während seines Studiums durch die Mitgliedschaft in der Studentenverbindung »Estonia« durchbrochen worden war.21 Die Berliner Universität wiederum überforderte ihn mit ihrer Größe. Sein Plan war es, den deutschen Doktortitel zu erwerben, da der Grad des Dorpater »Kandidaten«, den er formal eigentlich für äquivalent hielt, in Deutschland »keinen Kurs« hatte.22 In Berlin fand er aber offenbar nicht den richtigen Doktorvater. Haller selbst hat das später einerseits mit seinem angeschlagenen Gesundheitszustand erklärt, andererseits aber auch gemeint, in Berlin sei ihm die Mangelhaftigkeit seiner Dorpater Ausbildung aufgegangen. Gleichzeitig klagte er aber darüber, wie wenig interessant die Berliner Historiker 1890 gewesen seien. Als einzige Ausnahme nannte er Heinrich von Treitschke, der als Persönlichkeit eindrucksvoll gewesen sei, von dem man aber wegen dessen nationalistischer Agitation nichts habe lernen können.23 16 Vgl. dazu Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, S. 102–106. 17 Vgl. dazu bes. die Kapitel IV.5. und VIII.1. 18 Straub, Kaiser Wilhelm II., S. 184. Vgl. dazu auch Pöls, Bismarckverehrung, S. 183–201. 19 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 82 f. 20 So Max Hildebert Boehm, zit. nach Prehn, Max Hildebert Boehm, S. 64. 21 Vgl. dazu Kapitel II.3. 22 Vgl. hierzu und zum Folgenden Haller, Lebenserinnerungen, S.  94–101, Zitat S.  95. Ein Vergleich von Hallers Candidatenschrift (Haller, Die Thronbesteigung Kaiserin Katharina I.; vgl. Kapitel II.3.) mit seiner Dissertation (Haller, Die deutsche Publizistik; vgl. Kapitel III.2.) offenbart allerdings erhebliche Unterschiede im Hinblick auf den Umfang des Themas, den Grad der methodischen Reflexion und den benutzten Quellenkorpus. Hallers Candidatenschrift erscheint vor diesem Hintergrund doch eher wie eine Art Examensoder Seminararbeit. 23 Haller meinte außerdem, Treitschkes publizierte Vorlesung über »Politik« habe gezeigt, »daß Treitschke von praktischer Politik nichts verstand.« (Haller, Lebenserinnerungen, S.  96). Der Lebenslauf, den Haller seiner 1892 publizierten Dissertation beifügte, ver­ zeichnet nur noch den ebenfalls in den Lebenserinnerungen erwähnten Volkswirt Adolf Wagner sowie den späteren Direktor der preußischen Staatsarchive Reinhold Koser, deren Vorlesungen er in Berlin gehört habe: vgl. Haller, Die Deutsche Publizistik, S. 67.

Promotion in Heidelberg

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Mit Gewinn hörte Haller dagegen den Volkswirtschaftler und Pionier der preußischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Gustav Schmoller.24 Was die Berliner Fachhistoriker betrifft, so wäre er beinahe an den Mediävisten Paul Scheffer-Boichorst geraten, der im Jahr darauf, also 1891, Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica (MGH) wurde.25 Interessanterweise war Haller bei aller Wertschätzung gegenüber Scheffer-Boichorst im Nachhinein doch eher erleichtert über diese verpasste Gelegenheit. Er wäre sonst, so Haller, wahrscheinlich ebenfalls bei den MGH gelandet und in der geschichtswissenschaftlichen Editionsarbeit steckengeblieben. Das wollte er nicht, da ja gerade der künstlerisch-kreative Aspekt ihn zur Geschichte hingezogen hatte.26 Das ist vor allem deshalb so interessant, weil Haller sein erstes Berufsjahrzehnt dann aber doch mit kaum etwas anderem als mit Sammel- und Editionsarbeit verbracht hat, nur eben nicht bei den MGH, sondern am Königlich Preußischen Historischen Institut in Rom.27 In Berlin jedenfalls fasste Haller nicht Fuß. Weder die Stadt noch die Universität sagten ihm atmosphärisch zu. Der negative Eindruck von der deutschen Hauptstadt verdichtete sich sogar zu einer lebenslangen Abneigung gegenüber dem Preußentum und mindestens einer Skepsis gegenüber Deutschland. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Haller kaum ein halbes Jahr nach seiner­ Ankunft Berlin wieder den Rücken kehrte.

2. Promotion in Heidelberg Das Berliner Schockerlebnis wurde etwas abgemildert durch den Eindruck, den Haller ab März 1891 vom Rest Deutschlands gewann. Forschungsaufenthalte für die von ihm geplante Dissertation führten ihn unter anderem nach Wolfenbüttel, Göttingen, Augsburg und München, und wenn er auch das Fremdheitsempfinden gegenüber Deutschland nicht ablegen konnte, so gefiel ihm die Provinz doch ungleich besser als die Hauptstadt. Außerdem fühlte er sich im Süden Deutschlands wesentlich wohler als im Norden. Das ist angesichts von Hallers »norddeutscher« deutschbaltischer Herkunft ebenso erstaunlich wie seine Abneigung gegen Preußen. Hallers Vorliebe für Süddeutschland hing allem Anschein nach damit zusammen, dass er als verhinderter Künstler die romanisch geprägte Kultur des Südens der germanisch geprägten des Nordens vorzog. Im Gegensatz zu Berlin jedenfalls war München »die Stadt nach meinem Herzen«28, nach Heidelberg ver24 Eine wissenschaftliche Biographie Gustav Schmollers fehlt bislang. Vgl. daher einstweilen als Einführung zu Schmoller den Sammelband Backhaus, Gustav von Schmoller. 25 Zu Paul Scheffer-Boichorst vgl. Braubach, Paul Scheffer-Boichorst. 26 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 98–101. 27 Vgl. dazu Kapitel IV. 28 Johannes Haller an Helene Haller, 30./18. September 1891: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 16.

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spürte er noch 50 Jahre später ein »ungestilltes Heimweh«29 und überhaupt war für ihn im Süden zwar der Mangel an nationaler Begeisterung irritierend, aber wenigstens war auch weniger von Deutschlands »nationaler Pubertätszeit«30 der frühwilhelminischen Jahre zu spüren als in Berlin. Haller kam im September 1891 auch nach Wien, das er ebenfalls sehr schätzte. Allerdings hat er relativ früh die Auffassung geäußert, dass Österreich kein Teil von Deutschland und die Deutschösterreicher ein anderes Volk als die Deutschen seien.31 Das wiederum passte in gewisser Weise zu Hallers »borussischer«, weil »kleindeutscher« Sicht auf die deutsche Geschichte. Während er also das Preußentum als Lebensform ablehnte und sich im Süden Deutschlands – anschließend und noch stärker im Süden Europas32 – kulturell viel wohler fühlte, hing er im Hinblick auf die politischen Wege Preußens bis 1871 eindeutig der­ sogenannten »borussischen Schule«33 der Geschichtsschreibung an. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, auch Kritik an manchen den historischen Fakten allzusehr widersprechenden propreußischen Legenden zu üben.34 Mit dieser Haltung war Haller bei seinem Doktorvater Bernhard Erdmannsdörffer gut aufgehoben. Diesen – und damit Heidelberg – wählte Haller, weil Erdmannsdörffer als Spezialist für die deutsche Geschichte zur Zeit Ludwigs XIV. galt, die Haller für seine Dissertation bearbeiten wollte. Erdmannsdörffer war als Professor für neuere Geschichte in Heidelberg Nachfolger Treitschkes und war außerdem Schüler Johann Gustav Droysens, gehörte also zu den­ direkten Epigonen der prominentesten »borussischen« Historiker. Jedenfalls war auch Erdmannsdörffer ein Verehrer Bismarcks und Anhänger der kleindeutschen Reichsgründung, lehnte aber ideologisierende Tendenzen auch seiner Lehrer ab und legte großen Wert auf sauberes wissenschaftliches Handwerk.35 Haller hat Erdmannsdörffer, der nicht zu den ganz Großen und Erfolgreichen seines Faches zählte, zeitlebens ein dankbares Andenken bewahrt. Haller, der nie viel über die Entstehungsgeschichte der eigenen wissenschaftlichen Arbeiten verraten hat, hat später immerhin erwähnt, dass er sein erfolgreichstes 29 Haller, Lebenserinnerungen, S. 108. 30 Ebd., S. 104. 31 Vgl. ebd., S. 106 f. Haller war auch bereits 1934 gegen einen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich: vgl. Johannes Haller an Hermann Losch, 6. August 1934: UAT 305/65 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 273. 32 Vgl. dazu Kapitel IV.3. 33 Zur »borussischen Schule« vgl. Meinecke, Preußen und Deutschland, sowie Hardtwig, Von Preußens Aufgabe. 34 Vgl. dazu vor allem Hallers Positionierung im Streit zwischen Max Lenz und Albert Naudé bzw. Reinhold Koser über die richtige Beurteilung des Siebenjährigen Krieges; dazu: Kapitel IV.3. 35 Zu Bernhard Erdmannsdörffer vgl. Oestreich, Art.  »Erdmannsdörffer, Bernhard«. Als­ Erdmannsdörffers wesentliche wissenschaftliche Leistung gilt die Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts; dies ist auch der Grund, weshalb Haller Erdmannsdörffer als Doktorvater wählte: vgl. Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte. Vgl. auch Haller, Lebenserinnerungen, S. 116 f.

Promotion in Heidelberg

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Buch – die »Epochen der deutschen Geschichte« – einer Anregung Erdmannsdörffers verdanke.36 Am 21. Dezember 1891 wurde Haller in Heidelberg zum Dr. phil promoviert. Die Dissertation hatte den Titel »Die deutsche Publizistik in den Jahren 1668– 1674« und wurde 1892 publiziert.37 Das Gutachten von Erdmannsdörffer ist nicht hymnisch, aber doch voll Anerkennung für eine »lobenswerte Arbeit«, die eine »wirkliche wissenschaftliche Förderung« leiste, methodisch »fast durchgängig« überzeuge und im Großen und Ganzen »fleißig[] und umsichtig[]« gearbeitet sei.38 Bemängelt wurde lediglich die manchmal durchscheinende Neigung Hallers, allzu bestimmte Sachurteile über das ausgewertete Quellenmaterial zu fällen. Noch ein ganzes Stück positiver fiel die Rezension der Arbeit in der Historischen Zeitschrift aus: »Eine der besten Dissertationen, die der Ref. zu Gesichte bekommen hat. Der Vf. urteilt scharf, doch nicht vorschnell, verfügt über eine ausgebreitete Literaturkenntnis und versteht geschmackvoll zu schreiben.«39 Im Rigorosum wurde Haller in drei Fächern geprüft: Geschichte als Hauptfach, politische Ökonomie und Verfassungsgeschichte als Nebenfächer. In Geschichte (bei Erdmannsdörffer und Eduard Winkelmann) sowie in Verfassungsgeschichte (ebenfalls bei Winkelmann) erhielt Haller ein »recht befriedigend«, während der Prüfer in politischer Ökonomie, Karl Knies, im Protokoll notierte: »Ein Teil der Fragen wurde genügend beantwortet.« Als Gesamtbewertung erhielt Haller die »Note No II« – was vermutlich einem »magna cum laude« entspricht.40 Sein Dissertationsthema hat Haller im weiteren Verlauf seiner wissenschaftlichen Laufbahn nicht weiter verfolgt. Weder hat er sich später intensiver mit Flugschriftenliteratur auseinandergesetzt, noch ist er überhaupt bei der Epoche der Frühen Neuzeit geblieben – wobei spätes Mittelalter und Frühe Neuzeit noch wesentlich stärker als Einheit betrachtet wurden als das heute vielfach der Fall ist.41 36 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 117. Zu Hallers »Epochen der deutschen Geschichte« vgl. Kapitel VII.2. 37 Haller, Die Deutsche Publizistik. 38 Gutachten vom 30. November 1891, in: UAT 305/44. 39 Pribram, Rez. »Johannes Haller«, S. 106. Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 285, behauptet, das »wissenschaftliche Gewicht der Untersuchung« sei »schon bei Hallers Habilitation in Basel von den Gutachtern für leicht befunden« worden. Er bezieht sich dabei vermutlich auf Vischer, Eine Buchrezension, S. 493, der allerdings seine Quelle nicht angibt. 40 Protokoll der Doktorprüfung vom 21.  Dezember 1891, in: UAT 305/44. Zur Bedeutung der Note 2 vgl. die immerhin für das Jahr 1886 gültige Promotionsordnung der philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, abgedruckt in: Hintzelmann, Almanach der Universität Heidelberg, S. 205–207. Dort werden vier mögliche Promotionsnoten genannt: »1. Summa cum laude. 2.  Insigni cum laude. 3.  Multa cum laude. 4.  (Ohne Prädikat).« (S. 207). Die für das Jahr 1908 gültige Promotionsordnung sah ebenfalls vier Noten vor, die nun folgendermaßen benannt waren: »I. summa cum laude, II. magna cum laude, III. cum laude, IV. rite« (Jellinek, Gesetze und Verordnungen für die Universität Heidelberg, S. 107). Zu Karl Knies vgl. Braeuer, Art. »Knies, Karl«. 41 Das Konzept einer eigenen Epoche des »Alten Europa« 1200–1800 findet allerdings wieder verstärkte Zustimmung; vgl. dazu Jaser/Lotz-Heumann/Pohlig, Alteuropa.

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Deutscher Schock (1890–1892)

In zweierlei Hinsicht ist Hallers Doktorarbeit für dessen akademische Biographie aber dennoch aufschlussreich: Erstens ist bereits hier das Bemühen um möglichst genaue und saubere methodische Arbeit erkennbar. Die Fragestellung der Arbeit mit ihrem Fokus auf Ideen- bzw. Mentalitätsgeschichte ist an sich schon für das Ende des 19. Jahrhunderts einigermaßen originell: Haller geht es um eine Analyse der zeittypischen Publikationen im Deutschland der Jahre 1668–1674 im Hinblick auf die darin zum Ausdruck kommende Haltung gegenüber Frankreich. Besonders wichtig ist für Haller dabei eine umfassende Sammlung des Quellenbestandes, der als ganzer analysiert werden soll, da nur so ein Überblick über die Stärke und Verbreitung einzelner Parteien und ihrer Standpunkte gewonnen werden und dem willkürlichen Zitieren einzelner »Kraftstellen« eine methodisch abgesicherte Vorgehensweise entgegengestellt werden könne.42 Zweitens liegt der Arbeit ein inhaltliches Interesse zugrunde, das Hallers Leben mehr oder weniger kontinuierlich begleitete: das Interesse an der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen. Der Untersuchungszeitraum, von dem Erdmannsdörffer in seinem Gutachten meinte, er sei etwas willkürlich gewählt,43 umfasste laut Haller den Wendepunkt von der Durchsetzung des »französischen Übergewichts« infolge des Aachener Friedens 1668 bis zum Entschluss des Reiches, dieses Übergewicht zu bekämpfen und Frankreich 1674 den Krieg zu erklären.44 In seiner Analyse macht Haller dann bereits 1671, also noch vor dem 1672 erfolgten Ausbruch des zweiten »Raubkrieges« Ludwigs XIV., einen Stimmungsumschwung in der deutschen Flugschriftenliteratur zuungunsten Frankreichs aus.45 Es wäre daher verfehlt, anzunehmen, dass Haller sich erst infolge der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg näher mit der spannungsvollen Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen auseinandergesetzt hätte.46 Vielmehr wird man sagen können, dass von der Dissertation über das – ebenfalls in wesentlichen Teilen Frankreich gewidmete – 1903 erschienene Werk »Papsttum und Kirchenreform« ein entsprechendes Interesse Hallers ebenso wie ein »Unterton der Bewunderung«47 gegenüber dem westlichen Nachbarn kontinuierlich belegt sind. Nach 1918 gewann das Thema lediglich noch an politischer Brisanz hinzu; es lag aber schon wesentlich früher in Hallers Blickfeld.48

42 Vgl. Haller, Die Deutsche Publizistik, bes. S. 3 f., Zitat S. 3. 43 Gutachten vom 30. November 1891, in: UAT 305/44. 44 Vgl. Haller, Die Deutsche Publizistik, S. 3–4. 45 Vgl. ebd., S. 23–28. 46 So Kaudelka, Johannes Haller, bes. S. 179. 47 Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 285. 48 Vgl. dazu auch Kapitel VII.5.

IV. Römische Heimat und Basler Intermezzo (1892–1902)

1. Das Königlich Preußische Historische Institut Am Anfang von Hallers wissenschaftlicher Laufbahn stand eine Einrichtung, deren Existenz ein Ausdruck jenes deutschen »Partikularismus« war, den Haller später politisch so vehement bekämpfen sollte.1 Das Königlich Preußische Historische Institut in Rom, 1888 noch als »Historische Station« gegründet, war nicht das einzige deutsche Institut dieser Art in Rom und repräsentierte auch nicht ganz Deutschland. Während Frankreich seit 1875 und Österreich seit 1881 ein nationales bzw. gesamtstaatliches historisches Institut in der italienischen Hauptstadt besaßen, führte der deutsche Bildungsföderalismus 1888 zu einer Doppelgründung: dem »Römischen Institut« der katholischen Görres-Gesellschaft und eben der preußischen »Station«, beides zusätzlich zum immerhin gesamtdeutschen und seit 1829 bestehenden »Deutschen Archäologischen Institut«.2 Anlass für die Gründung sowohl des österreichischen als auch der beiden deutschen Institute war die von Papst Leo XIII. 1881 verfügte Öffnung des Va­ tikanischen Geheimarchivs zur wissenschaftlichen Benutzung.3 Diese Entscheidung brachte so etwas wie eine Win-Win-Situation: Den Historikern wurde ein sehr umfangreiches Archiv zur Bearbeitung freigegeben, und der Vatikan gewann durch die Bearbeitung allmählich überhaupt erst selbst einen annähernden Überblick über das vorhandene Archivmaterial, das jahrhundertelang mehr oder weniger vernachlässigt worden war. Hinzu kommt, dass die römische Kirche auf diese Weise den Verdacht ausräumen konnte, politisch bzw. theologisch brisantes Material unter Verschluss zu halten – eine Vermutung, die Verschwörungstheoretiker bis heute umtreibt.4 Das durch die Archivöffnung ausgelöste 1 Vgl. dazu die Kapitel VII.2. und VII.3. 2 Grundlegend zur Entstehungsgeschichte des Preußischen Historischen Instituts in Rom: Burchardt, Gründung und Aufbau. Zur Gesamtgeschichte des Instituts vgl. außerdem Elze/ Esch, Das Deutsche Historische Institut, und darin insbesondere Elze, Das Deutsche Historische Institut. 3 Vgl. dazu Fink, Das Vatikanische Archiv. 4 So etwa Lincoln/Baigent/Leigh, Der Heilige Gral, deren Thesen vor allem durch Dan Browns »Da Vinci Code« weltweit bekannt wurden. Zu dem auch im 19.  Jahrhundert virulenten Verdacht einer Geheimhaltung brisanten Materials durch den Vatikan vgl. auch Haller, Lebenserinnerungen, S. 121. Haller weist darauf hin, dass es schon allein deshalb unmöglich gewesen sei, Brisantes zu verstecken, weil die dafür nötige Voraussetzung – nämlich einen Überblick über das Vorhandene zu haben  – gar nicht gegeben gewesen sei. Vgl. dagegen, wenn auch wenig überzeugend, Santifaller, Bemerkungen, S. 166 f.

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Römische Heimat und Basler Intermezzo (1892–1902)

»Goldfieber«5 hat sich jedenfalls bald gelegt, als klar wurde, dass die im Archiv verborgenen Schätze wesentlich weniger sensationell waren, als man zunächst erwartet hatte. Die Planungen für das preußische Institut gehen bis ins Jahr 1883 zurück.6 Anlass für den Gründungsvorschlag aus den Reihen der Preußischen Akademie der Wissenschaften an das Kultusministerium war neben den schon vorhan­denen Instituten der anderen Nationen vor allem die Ankündigung einer Institutsgründung durch die Görres-Gesellschaft: Von den Erfahrungen des Kulturkampfes geprägt, wollte man die Erforschung des vatikanischen Geheimarchivs nicht den deutschen und österreichischen Katholiken überlassen. Die Publikation wichtiger, die deutsche Geschichte betreffender Akten sowie die Unterstützung von Forschungsvorhaben deutscher Historiker sollte vielmehr in preußische Verantwortung gestellt werden. Die Finanzverwaltung allerdings lehnte die Bewilligung der beantragten Mittel mehrfach ab und verzögerte das Projekt damit erheblich. Dem Regierungsrat im preußischen Kultusministerium Friedrich Althoff gelang es schließlich auf einigen Umwegen, eine bescheidene Finanzierung für das preußische Institut zu gewährleisten. Zunächst gab es nur drei Stellen: die des Leiters unter dem Titel des »Ersten Sekretärs« sowie zwei Assistentenstellen. Als eine Art »Aufsichtsrat«7 wurde von der Preußischen Akademie der Wissenschaften eine Dreierkommission gebildet, deren Vorsitzender der Gene­ raldirektor der preußischen Archive, Heinrich von Sybel, wurde. Erster Sekretär wurde zunächst Konrad Schottmüller, der bereits in Rom gearbeitet hatte und daher als kompetent galt.8 Schon 1890 trat Schottmüller, offenbar aus gesundheitlichen Gründen,9 als Erster Sekretär zurück und gab diesen Posten an Ludwig Quidde ab. Quidde war zu diesem Zeitpunkt noch nicht der in der geschichtswissenschaftlichen Zunft isolierte politische Publizist, der er durch das 1894 publizierte Buch »Caligula« wurde, bei dem es sich erkennbar um eine Polemik gegen Kaiser Wilhelm II. handelte.10 Laut Haller hat er allerdings schon in seiner römischen Zeit nicht nur an diesem Werk gearbeitet, sondern war auch bereits als »Demokrat« und »Freidenker« bekannt.11 Falls dies stimmt, so gab 5 Elze, Das Deutsche Historische Institut, S. 1. 6 Das Folgende orientiert sich an der detaillierten, archivbasierten Studie von Burchardt, Gründung und Aufbau, S. 336–349. Vgl. außerdem Elze, Das Deutsche Historische Institut, S. 1–8. 7 Burchardt, Gründung und Aufbau, S. 342. 8 Schottmüller arbeitete 1880 in Rom über den Templerprozess (Schottmüller, Der Untergang des Templer-Ordens); Haller hat ihm später unterstellt, die ganze Institutsgründung aus Sensationsgier mit Blick auf sein eigenes Forschungsinteresse betrieben zu haben: Haller, Lebenserinnerungen, S. 124. 9 So Elze, Das Deutsche Historische Institut, S. 5. 10 Quidde, Caligula; vgl. dazu Holl, Ludwig Quidde, S.  93–99, sowie zur Rezeption Kohlrausch, Der Monarch im Skandal, S. 118–154. 11 Vgl. ebd., S. 124. Die Passage wird auch von Holl, Ludwig Quidde, S. 71 f., zitiert, ohne diese Behauptung zu bestätigen oder zu widerlegen.

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doch weniger dies den Ausschlag für seinen Weggang 1892 nach ebenfalls nur zwei Jahren, sondern vielmehr die von Quidde von Anfang an als Problem erkannte Tatsache, dass ihm die zahlreichen Organisationsaufgaben keine Zeit für eigene wissenschaftliche Vorhaben ließen; und auch rein persönliche Motive scheinen für den endgültigen Entschluss eine Rolle gespielt zu haben.12 Das Hauptproblem für die Arbeit des Instituts in seiner Anfangsphase war neben der Koordination mit den Konkurrenzeinrichtungen die Abhängigkeit von der Berliner Akademie. Diese führte nämlich zu Interessengegensätzen, die schwer auszugleichen waren: Während es der Akademie vornehmlich um konkrete Resultate in Form von Publikationen und um das Institut als Anlaufstelle für deutsche Aufträge ging, waren die Institutsmitarbeiter daran interessiert, in Rom ihre wissenschaftliche Laufbahn voranzubringen und nicht nur »Hilfsdienste« zu leisten.13 Folgt man Haller, so war Sybel als Vorsitzender der Dreierkommission für dieses Problem der Hauptverantwortliche, da er das Institut zwar finanziell gefördert, es dadurch aber in zusätzliche Abhängigkeit von der preußischen Archivverwaltung gebracht und außerdem nicht immer sachbezogene Personalentscheidungen getroffen habe. Eine Folge davon sei gewesen, dass das Institut nicht zu einer Fördereinrichtung für den wissenschaftlichen Nachwuchs geworden sei, sondern zu einem mehr oder weniger reinen Publizierorgan  – wofür man wiederum nach Hallers Auffassung Lebenszeitstellen hätte schaffen müssen. Die Unentschiedenheit und der mangelnde Interessenausgleich sei jedenfalls zu Lasten der jungen Historiker gegangen, die wie Haller eine befristete Anstellung in Rom erhielten.14

2. Haller und das Repertorium Germanicum 1892–1897 Noch unter Quidde lief das Großprojekt des Preußischen Historischen Instituts an, das dann auch Haller bis 1897 beschäftigte: das Repertorium Germanicum.15 Es ging dabei um eine Erfassung aller Deutschland betreffenden Akten des va12 Den politischen Hintergrund des Rücktritts behauptet Haller, Lebenserinnerungen, S. 124 f.; den wissenschaftsorganisatorischen Elze, Das Deutsche Historische Institut, S. 6 sowie mit ausführlichen Zitaten aus der amtlichen Korrespondenz Quiddes Rahn, Ludwig Quidde im Netzwerk, S. 71–78. Zu den persönlichen Motiven vgl. Quidde, Friedensnobelpreisträger, S. 38 f.; vgl. Holl, Ludwig Quidde, S. 72 f. bzw. Holl, Fragmente einer brüchigen Biographie, S. 20 f. 13 Vgl. Elze, Das Deutsche Historische Institut, S. 4. Vgl. auch Friedensburg, Das Königlich Preußische Historische Institut, S. 33. 14 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 126–130. 15 Vgl. für das Folgende Brosius, Das Repertorium Germanicum, S. 123–142 sowie Gramsch, Der Bestand. Zu Quiddes Initiierung des Projekts, dessen Realisierung aber nicht mehr seinen Vorstellungen entsprach, vgl. außerdem Rahn, Ludwig Quidde im Netzwerk, S. 63–80.

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tikanischen Geheimarchivs, zunächst für den Zeitraum 1378–1447 und für das Teilarchiv, das die Suppliken, also die an den Papst gerichteten Bittschreiben sowie die dazugehörigen Bewilligungsurkunden enthielt. Über das Ausmaß des Projekts hatte keiner der anfangs Beteiligten auch nur annähernd realistische Vorstellungen; schon die viel zu gering veranschlagten Kosten von 60.000 Mark wurden nur bewilligt, weil Kaiser Wilhelm II. im April 1893 Mittel aus dem Aller­höchsten Dispositionsfonds zur Verfügung stellte. Die Kalkulation des preußischen Gesandten am Heiligen Stuhl, Kurd von Schlözer, vier Mann müssten die Arbeiten in vier Jahren erledigen können, erwies sich als eklatante Fehlkalkulation: Die drei mit dem Projekt Beauftragten legten nach fünf Jahren einen ersten Band vor, der die Akten nur eines einzigen Jahres umfasste.16 Die Planungen waren bereits in vollem Gange, als Haller Anfang März 1892 Heidelberg in Richtung Rom verließ. Zu diesem Zeitpunkt plante er allerdings noch keine Tätigkeit beim Repertorium Germanicum. Vielmehr ging er auf den Rat seines Doktorvaters Erdmannsdörffer nach Rom, der meinte, am Preußischen Historischen Institut lasse sich möglicherweise eine dauerhafte Beschäftigung für Haller finden. Zwei Schreiben Hallers vom Februar 1892 an Ludwig Quidde zeigen, dass Hallers eigene Überlegungen von Beginn an dahin gingen, über das Konzil von Basel (1431–1449) zu arbeiten.17 Seine ersten Monate in Rom hat Haller dann tatsächlich mit Konzilsforschung verbracht; bis Mai fand er im Archiv bereits zwei Konzilschroniken und äußerte auch schon den Plan, erstens eine Monographie über die Konzilsüberlieferung zu verfassen und zweitens eine Edition der Konzilsakten in Angriff zu nehmen – beide Pläne wurden später verwirklicht.18 Erst im November 1892 wurde Haller offiziell als Hilfsarbeiter des Königlich Preußischen Historischen Instituts in Rom angestellt. Fortan war die Arbeit am Repertorium Germanicum sein Hauptauftrag; die Dreierkommission drängte zum Beginn der Arbeiten, nachdem bekannt geworden war, dass die GörresGesellschaft ein Konkurrenzprojekt plante.19 Drei Bearbeiter  – 1893 kam ein vierter hinzu  – wurden für das Repertorium Germanicum angestellt, darunter als Leiter der Archivar Robert Arnold, der schon 1891 am preußischen Institut gearbeitet hatte. Die Arbeit im »Arnold-Team«20 war von Anfang an mit Schwierigkeiten verbunden: Zum einen gab es Kompetenzstreitigkeiten zwischen Arnold und dem Stellvertreter des Ersten Sekretärs, Walter Friedensburg, 16 Repertorium Germanicum, Bd. 1. 17 Johannes Haller an Ludwig Quidde, 18. Februar 1892 und 26. Februar 1892: DHI Rom –­ Archiv, Ältere Registratur, Nr. 81 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 17 und 18. 18 Vgl. Johannes Haller an Bernhard Erdmannsdörffer, 8. Mai 1892: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 19. Vgl. dazu Kapitel IV.4. Die Darstellung der Konzilsüberlieferung erschien allerdings nicht als Monographie, sondern zum einen als Aufsatz (Haller, Die Protokolle des Konzils von Basel), zum anderen in der Einleitung zum ersten Band des »Concilium Basiliense«: Haller, Concilium Basiliense I. 19 Vgl. Brosius, Das Repertorium Germanicum, S. 133–136. 20 Gramsch, Der Bestand, S. 564.

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die allerdings rasch geklärt werden konnten. Zum anderen äußerte Haller prinzipielle Bedenken gegen den von Arnold aufgestellten Projektplan. Haller hielt das Unternehmen für zu weit gefasst und die chronologische Ordnung für unsachgemäß, fand aber kein Gehör.21 Das persönliche Verhältnis zu Robert Arnold blieb davon weitgehend ungetrübt; es stellte sich aber eine gewisse Frustration über die als fruchtlos empfundene Arbeit ein. Die Ankündigung der Kommission im Herbst 1896, dass das Repertorium Germanicum nach dem Erscheinen des ersten Bandes möglicherweise nicht weitergeführt werde und Hallers Stelle daher wohl auch nicht verlängert werden könne, beantwortete dieser mit einer Kündigung zum 1. April 1897. Zur Begründung schrieb er: »Stellen Sie sich vor, daß einer den Mißerfolg der eignen Arbeit deutlich vorhersieht; daß er glaubt die Gründe dafür zu erkennen, auch noch die Möglichkeit sieht dem abzuhelfen; und daß ihm dies rundweg abgeschnitten, sein Wort überhaupt nicht­ beachtet, ja als unbefugte Einmischung betrachtet wird; daß endlich mit dieser­ Angelegenheit für ihn die ganze große Zukunftsfrage, in den entscheidendsten Jahren des Lebens, verbunden ist  – wundern Sie sich da, wenn einer erbittert und mißmutig wird?«22

In einem Brief an den Basler Archivar Rudolf Wackernagel brachte Haller sein Dilemma im Oktober 1896 auf den Punkt: »Der Ertrag dieser 5 Jahre ist also auf der einen Seite ein kolossaler Verlust an der kostbarsten Zeit, auf der andern die angenehme Situation, sich auf eigene Faust eine Stelle suchen zu müssen, mit dem Unterschied gegen früher, daß alle Welt hinter der Entlassung irgend ein geheimes Motiv vermuten wird. Und was das Beste ist, das ist die radikale Unmöglichkeit irgend einer wirksamen Bemühung von hier aus, wo man fast außer allem Zusammenhang mit der Welt ist.«23 21 Laut Haller, Lebenserinnerungen, S.  127 f., machte Haller der Dreierkommission einen förmlichen Gegenvorschlag, der aber unberücksichtigt blieb. Vgl. auch Johannes Haller: Ueber das Repertorium Germanicum, 5. April 1903: DHI Rom – Archiv, Ältere Registratur, Nr. 32, fol. 76–89. 22 Johannes Haller an die akademische Kommission des Königlich Preußischen Historischen Instituts in Rom, 29.  Oktober 1896, zit. nach: Brosius, Das Repertorium Germanicum, S. 139 f. (Der Originalbrief konnte infolge einer Neuordnung des Aktenbestandes im DHIArchiv nicht aufgefunden werden). Vgl. auch Hallers inhaltlich identisches Resümee seiner offiziellen Arbeit in Rom in seinen Lebenserinnerungen: »Man wird es mir glauben, daß es kein reines Vergnügen war, an einem Bau mitzuwirken, dessen Fehler in Plan und Anlage für den Beteiligten am wenigsten ein Geheimnis sein konnten. Nimmt man hinzu, daß mein besonderer Auftrag in den ersten fünf Jahren einer rein schablonenhaften, fast mechanischen Arbeit galt, die durch ihre Geistlosigkeit an die Selbstverleugnung des Ausführenden die stärksten Anforderungen stellte, so wird man verstehen, daß ich sie verwünschte, so oft mir mit stillem Groll, ja bisweilen mit grimmiger Erbitterung zum Bewußtsein kam, wie über diesem Kärrnerdienst die entscheidenden Jahre des Lebens verrannen.« (Haller, Lebenserinnerungen, S. 138.) 23 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 4. Oktober 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 55.

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Wackernagel, mit dem Haller in Sachen Konzil von Basel zusammenarbeitete, war es dann, der 1897 einen provisorischen Ausweg aus dem Dilemma bot, indem er ihm eine Arbeit für das Basler Urkundenbuch und die Aussicht auf eine Habilitation an der Basler Universität ermöglichte.24 Dabei hätte Haller letztlich durchaus noch länger in Rom arbeiten können, da das Repertorium Germanicum doch noch einmal für vier weitere Jahre finanziert wurde und da die Akademische Kommission für das Historische Institut ihn sehr gerne in Rom behalten hätte.25 Da er ja aber die ersten fünf Jahre mehr oder weniger als Zeitverschwendung betrachtete und sich nach dem Erscheinen des ersten Repertoriums-Probebandes Ende 1897 angesichts einiger sehr harscher Kritiken bestätigt fühlen konnte,26 kam ein Bleiben in Rom ohnehin kaum infrage. Das tat Haller dann allerdings doch leid; nicht nur, weil er den prinzipiellen Nutzen des Repertorium Germanicum durchaus anerkannte,27 sondern vor allem, weil er mittlerweile in Rom den Heimatersatz gefunden hatte, der Deutschland für ihn nicht war und auch niemals werden sollte.

3. Leben und Arbeiten in Rom 1892–1897 »Von Ihrer freundlichen Erlaubnis, Ihnen über meine Arbeiten Bericht zu erstatten, mache ich erst spät Gebrauch. Was mich bisher davon zurückhielt, war einmal der Zauber, den Italien mit seinen manichfachen [!] Herrlichkeiten auf mich, wie nur je auf einen Nordländer, ausübt, und der mich erst ganz allmählich zum Bewußtsein kommen ließ, einem Bewußtsein, das ich kurz in die Worte zusammenfassen kann: ich bin hier so glücklich und mit meinem Schicksal zufrieden, wie man es auf der Welt nicht mehr beanspruchen darf. Schon jetzt scheint mir, daß, wer mit offenen Augen und offenem Herzen einmal in Italien war, nie mehr ganz unglücklich werden kann; und die Erinnerung an die Zeit, die man hier verbracht, wird einem nie verblassen.«28 24 Vgl. die Kapitel IV.4. und IV.5. Einen ersten Überblick über die Biographie Rudolf Wackernagels, allerdings nur in Bezug auf seine Zeit als Archivar des Basler Staatsarchivs, gibt Stae­helin, Die Geschichte des Staatsarchivs Basel, S. 90–126. 25 Vgl. das Zeugnis der Akademischen Kommission vom 24. März 1897 (UAT 305/22): »Die Akademische Kommission für das historische Institut in Rom sieht sich bei dem Aus­ scheiden des Dr. phil J. Haller aus dem Institut veranlaßt, demselben das ausdrückliche Zeugniß auszustellen, daß sie ihn ungern und nur auf seinen eigenen Wunsch entlassen hat, nachdem er vier Jahre lang durch eingehende Sachkenntniß, große Gewandtheit und regen Fleiß die Arbeiten für das Repertorium Germanicum in hohem Grade gefördert hat. Sie wird seine Hilfe bei der mühsamen und schwierigen Ausführung dieser Arbeiten in dankbarem Andenken behalten.« 26 Vgl. dazu Brosius, Das Repertorium Germanicum, S. 142 f., der allerdings darauf hinweist, dass der Band teilweise auch positive Kritiken hervorrief. 27 Vgl. dazu Kapitel V.1. 28 Vgl. Johannes Haller an Bernhard Erdmannsdörffer, 8. Mai 1892: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 19.

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Mit diesen Worten beschrieb Haller nach nur zwei Monaten Aufenthalt seinem Lehrer Erdmannsdörffer seine ersten Eindrücke von Rom. Das klingt nicht nur unendlich anders als das, was Haller von Berlin berichtet hatte,29 sondern er blieb der Liebe zu Rom auch zeitlebens treu. In der Rückschau erklärte er, der Abschied aus Rom 1897 sei ihm so schwergefallen, »als gelte es, zum zweiten Mal von der Heimat zu scheiden.«30 Und als er 1901 noch einmal für kurze Zeit nach Rom zurückkehrte, erklärte er einem Freund, hier fühle er sich »heimischer […] als irgendwo sonst in der Welt, selbst die alte Heimat nicht ausgenommen.«31 Es wäre allerdings ein Irrtum, wenn man aus Hallers Liebe zu Rom schließen würde, dass er nähere Kontakte mit Italienern geknüpft hätte. Zwar nahm er das italienische Volk gegen die in seiner Generation üblichen Vorbehalte in Schutz  – nämlich »faul, unzuverlässig, unehrlich«32 zu sein  – und hat nicht nur Italien, sondern auch den Italienern ein viel positiveres Andenken als den Deutschen bewahrt,33 aber die deutschen Ausländer in Rom blieben doch weitgehend unter sich.34 Haller schloss sich in seinen ersten fünf römischen Jahren lieber locker dem »Deutschen Künstlerverein« an, einem 1845 gegründeten, faktisch aber wesentlich älteren »Club«, in dem sich die Deutschen in Rom regelmäßig trafen und austauschten.35 Haller suchte vor allem Anschluss an baltische Landsleute wie den Literaturwissenschaftler Otto Harnack und an die vereinzelten Künstler, die dem Namen des Vereins noch einen gewissen Sinn gaben.36 Darüber hinaus war es in erster Linie der optische und atmosphärische Eindruck des alten Rom, dessen Reste Haller gerade noch kennenlernte, bevor  – nach seiner Auffassung seit 1893  – das wilhelminische »Zeitalter des­ Verkehrs«37 auch in Rom Einzug hielt und die Stadt nachhaltig veränderte. Haller scheint in Rom viel freie Zeit gehabt zu haben, was vor allem damit zusammenhing, dass das vatikanische Geheimarchiv nur vier Stunden täg29 Vgl. Kapitel III.1. 30 Haller, Lebenserinnerungen, S. 142. 31 Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 2.  Juni 1901: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 71. 32 Haller, Lebenserinnerungen, S. 192. 33 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 19. September 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  54: »Eigentümlich, daß auch der Unbedeutende, Langweilige und Unsympathische unter den Italienern nie in dem Maße widerwärtig wird, wie es mir leider die meisten Deutschen vom Durchschnitt, trotz ihrer vielen guten Eigenschaften, sind. Es liegt Tragik in diesem Geständnis, das wissen Sie wol.« 34 Haller selbst hat das später damit erklärt, dass die römische Gesellschaft – auch die bürgerliche – eine »geschlossene« gewesen sei, die die Ausländer zwar gastfreundlich, aber doch distanziert behandelt habe: vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 142. 35 Zum »Künstlerverein« vgl. Bongaerts, Vom Freund gezeichnet. 36 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 145–151. Otto Harnack (1857–1914), war ein jüngerer Bruder des Theologen Adolf Harnack. 37 Ebd., S. 141.

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lich für Benutzer geöffnet war.38 In den Sommermonaten war das Archiv sogar ganz geschlossen, sodass Haller neben seiner offiziellen Arbeit und seinem Freizeit­leben noch genügend Zeit für seine eigenen wissenschaftlichen Vorhaben hatte.39 Diese bezogen sich von Beginn an auf das Konzil von Basel, jene Synode des 15. Jahrhunderts, die von der Forschung vornehmlich aus der Perspektive der Vorgeschichte der Reformation behandelt wurde und wird.40 Ursprünglich ging Hallers Plan dahin, eine Gesamtdarstellung des Konzils zu schreiben; er musste aber bald einsehen, dass dazu umfangreiche Vorarbeiten nötig waren, insbesondere die Sammlung und Edition der wichtigsten Quellen.41 Der Leiter des Repertorium Germanicum, Robert Arnold, wies 1897 im Rahmen der Auseinandersetzungen um eine Fortführung des Projekts darauf hin, dass Haller von den Projektmitarbeitern der einzige gewesen sei, der konsequent auch selbständig wissenschaftlich gearbeitet habe.42 Schon sehr früh muss Haller also erkannt haben, dass die Gefahr des »Verbummelns«43 in Rom besonders groß war und er auch nicht zu erwarten hatte, aufgrund seiner Tätigkeit für das Institut irgendeine Sinekure angeboten zu bekommen. Die Beschäftigung mit dem Basler Konzil diente daher auch dem Zweck, ein geeignetes Habilitationsthema zur Förderung der eigenen wissenschaftlichen Karriere zu finden. Darüber hinaus brachte Haller von Rom aus auch allmählich sein akade­ misches Publikationsverzeichnis voran. Eine stärkere Aufsatzproduktion setzte zwar erst mit der Gründung der Institutszeitschrift »Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken« 1898 ein, aber auch schon vorher gelang Haller immerhin die Veröffentlichung dreier Aufsätze sowie zahlreicher Rezensionen.44 Was letztere betrifft, so führten allerdings schon die ersten Gehversuche Hallers zu teilweise erheblichen Streitigkeiten mit Kollegen, die sich von dem zu scharfen Urteilen und heftiger Polemik neigenden Haller ungerecht 38 Vgl. Johannes Haller an Bernhard Erdmannsdörffer, 8. Mai 1892: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 19. In seinen Lebenserinnerungen spricht Haller von nur dreieinhalb Stunden täglicher Öffnungszeit: vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 122. Laut Brosius, Das Repertorium Germanicum, S. 140, betrug die Öffnungszeit pro Tag drei Stunden und zwanzig Minuten. 39 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 156. 40 Johannes Haller an Ludwig Quidde, 18. Februar 1892 und 26. Februar 1892: DHI Rom – Archiv, Ältere Registratur, Nr.  81 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  17 und 18. Zur Forschungsgeschichte zum Basler Konzil vgl. Helmrath, Das Basler Konzil, hier bes. S. 348–352; Müller, Die kirchliche Krise des Spätmittelalters, S. 119–123; Helmrath/Müller, Zur Einführung, S. 19. 41 Vgl. Haller, Concilium Basiliense, Bd. 1, S. VI–VII. Vgl. außerdem Kapitel IV.4. 42 Vgl. Brosius, Das Repertorium Germanicum, S. 140. 43 Haller, Lebenserinnerungen, S. 156: »Eine nicht geringe Gefahr drohte im Rom der neun­ ziger Jahre dem, der für geistige und künstlerische Reize empfänglich war: man konnte dort unversehens verbummeln.« 44 Bei den Aufsätzen handelt es sich um: Haller, Franz von Lisola; Haller, Die Verhandlungen von Mouzon und Haller, Die Protokolle des Konzils von Basel.

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bewertet fühlten.45 Dass dies der akademischen Laufbahn  – die Haller trotz­ aller Verachtung, die er dem »Treiben der gelehrten Kreise Deutschlands«46 entgegenbrachte, weiterhin anstrebte – nicht gerade förderlich sein würde, war Haller im Grunde klar; seinem Vater erklärte er im April 1894, seine Rezensionstätigkeit nicht mehr lange fortsetzen zu wollen, »denn da die meisten Bücher schlecht sind und ich mich nun einmal nicht dazu verstehen kann, dies zu verschweigen, wo es der Fall ist, und da ich wol auch nicht das Talent habe, meine Urteile in milde Formen zu kleiden, so ist das Recensiren der sicherste Weg, mich mit aller Welt zu verfeinden.«47

Entgegen dieser Ankündigung rezensierte Haller weiter und auch weiterhin mit deutlichen Worten, wenn seiner Auffassung nach Kritik notwendig war. Allerdings schrieb er umgekehrt auch nicht ausschließlich Totalverrisse, sondern versuchte, den Wert wie auch die Grenzen der ihm vorgelegten Werke­ gleichermaßen zur Sprache zu bringen. Rhetorische Hiebe wie die angesichts des zweiten Bandes von Theodor Lindners »Deutscher Geschichte unter den Habsburgern und Luxemburgern« geäußerten Zweifel, ob das Buch »irgend jemand dem Verständnis der behandelten Zeit näher bringen wird«48, waren keine Ausnahme, aber Haller fand durchaus auch lobende Worte, wenn dieses seiner Meinung nach angebracht war.49 Auch für die Entwicklung der politischen Anschauungen Hallers ist die römische Zeit 1892–1897 nicht ganz ohne Belang. Auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Politik liegt bereits seine – allerdings nur privat geäußerte – Position im Streit zwischen den Historikern Albert Naudé bzw. Reinhold Koser und Max Lehmann. Im Hintergrund dieses Streits stand neben persönlichen Spannungen zwischen Lehmann und Naudé die richtige Einordnung des Sieben­ jährigen Krieges 1756–1763 bzw. der »borussischen« Geschichtsauffassung im Allgemeinen. Während Naudé und mit ihm Koser den Siebenjährigen Krieg als preußischen Defensivkrieg interpretierten, verband Lehmann seine Deutung 45 Vgl. dazu etwa den Streit zwischen Haller und Simonsfeld, in den Friedrich Meinecke als Herausgeber der Historischen Zeitschrift eingeschaltet werden musste: Johannes Haller an Friedrich Meinecke, 26. Februar 1894: Berlin, GStA, VI. HA, Nl Meinecke, Nr. 14, 61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 22. 46 Johannes Haller an Anton Haller, 15./3. April 1894: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 23. 47 Ebd. 48 Haller, Rez. »Theodor Lindner«, S. 292. Noch drastischer formulierte Haller in einer 1905 erschienen Rezension von Friedrich von Thudichums »Papsttum und Reformation im­ Mittelalter«: »Seinen Leserkreis hat der Vf. sich augenscheinlich recht weit gedacht. Damit ist freilich die platte Art des Vortrags, wovon der Leser dieser Zeilen aus den angeführten Proben schon einen Geschmack erhalten haben wird, noch nicht entschuldigt. Übrigens haben gerade diese üblen Eigenschaften auch ihr Gutes: sie werden ohne Zweifel bewirken, daß das Buch nicht gelesen wird. Und das ist in der Tat sehr zu wünschen.« (Haller, Rez. »Friedrich von Thudichum«, S. 1066.) 49 Vgl. Haller, Rez. »Joseph Reinach« und vor allem Haller, Rez. »Alfred Francis Pribram«.

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des Krieges als offensiven Eroberungsfeldzug mit einer Attacke auf die seiner Ansicht nach zu preußenfreundliche geschichtswissenschaftliche Schule, zu der er Naudé und Koser zählte.50 Ganz im Einklang mit der ingesamt eher »liberalen« politischen Haltung des jungen Haller vor 1914 steht es, wenn dieser Ende 1894 in einem Brief an seinen Freund Ferdinand Wagner für Lehmann Partei ergriff: »Was hat Friedr. d. Gr. mit der Freundschaft zwischen Koser und Lehmann zu thun? Mir scheint, dies ist ein neuer Beweis, wie wenig die deutschen Gelehrten von der Größe des Gegenstandes ahnen, mit dem sie sich beschäftigen. Die Gesellschaft ist unangenehm, wenig respectabel, selbst in ihren besten Vertretern. Mit L. sympa­ thisire ich durchaus, und wünsche nur, daß er jetzt, da die Sache so weit gediehen ist, auch das wahre Ziel seiner Angriffe nennen möge, das doch jeder Kundige längst errät, nämlich die preuß. Unterrichtsverwaltung nebst ihrem spiritus rector, Herrn Schmoller, eine Bande, die sich vom Orden Jesu nur durch anders lautende Schlagworte unterscheidet, im Grunde jedoch ganz dieselbe Methode befolgt und verwandte Ziele hat, nur daß gerade diese hier viel weniger ideal und ewig sind. Wenn man schon in majorem gloriam alicuius lügt, fälscht, strebt und die Wahrheit verleugnet, dann finde ich es doch gerechtfertigter, wo es um des sogenannten Seelenheils des Menschen und um eines erstrebten irdischen Glückzustands für die ganze Welt willen geschieht, als wo das Ziel solcher würdigen Mittel blos die Erhaltung eines­ Systems von zweifelhafter Güte in einem Staate ist, dessen bisherige Leistungen für die Menschheitscultur doch nur ganz dürftige sind. Die Heranbildung von Offizieren und Beamten erscheint mir nicht als Selbstzweck, und sie ist bis heute das einzige, was Preußen aus sich selbst geleistet hat.«51

Diese Äußerung Hallers zeigt nicht nur, dass er Ende der 1890er Jahre gegen die »Borussen« in der deutschen Geschichtswissenschaft stand, sondern auch, dass seine geschichtswissenschaftliche Position erstens mit einer wissenschaftspolitischen – gegen die preußische Unterrichtsverwaltung und gegen den Initiator der »Acta Borussica« und Hofhistoriographen der brandenburgischen Geschichte Gustav Schmoller – und zweitens mit einer allgemeinpolitischen Spitze einher50 Vgl. Naudé, Friedrich der Große; vgl. Lehmann, Friedrich der Große, bes. S. 129–140; vgl. Koser, Zum Ursprung des siebenjährigen Krieges. Vgl. außerdem Marcks, Art.  »Naudé,­ Albert«, S. 592–597. Eine bibliographische Übersicht über die Debattenbeiträge bietet Henning/Henning, Bibliographie, S. 262–265. Max Lehmann galt ursprünglich als »Hoffnungsträger der kleindeutsch-borussischen Geschichtsschreibung«, änderte seine Auffassungen aber seit den 1880er Jahren infolge einer Beschäftigung mit der preußischen Reformzeit; vgl. dazu Grebing, Zwischen Kaiserreich und Diktatur, S. 214 f., Zitat S. 214; vgl. außerdem Reichel, Studien zur Wandlung. 51 Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 30. Dezember 1894: BArch N 1035/28 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 34. Übrigens scheint der »junge« Haller selbst für Friedrich den Großen nicht viel übrig gehabt zu haben. An Wagner schrieb Haller im Dezember 1896: »Daß Sie in Ihren Arbeiten immer am alten Fritz festhalten finde ich sehr rührend. Er ist ein ›Ekel‹ auch nach seinem Tode geblieben, indem man von seiner Anhängerschaft nur Uebles erntet.« (Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 13. Dezember 1896: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 62.)

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ging – gegen Preußen. Das ist so wenig zufällig wie es die positiven Worte sind, mit denen Haller zweieinhalb Jahre zuvor gegenüber seinem Lehrer Erdmannsdörffer den bereits als »Demokraten« bekannten Institutsleiter Ludwig Quidde beschrieben hatte; und das Erscheinen von Quiddes scharf kritisiertem »Caligula« 1894 änderte nichts Wesentliches an Hallers Einstellung gegenüber seinem »Freund und Wolthäter«.52 Es spricht jedenfalls alles dafür, dass Haller zu diesem Zeitpunkt politisch keineswegs der Konservative gewesen ist, als der er Jahre später bekannt wurde. Selbst an seinem politischen Idol Bismarck sparte Haller nicht mit Kritik, wie ein Brief zeigt, den er Anfang 1895 an seinen Vater schrieb: »Welche Verblendung, im modernen Preußen eine politische Offenbarung anzu­ staunen! Ich komme immer tiefer in die Abneigung gegen diesen vergangenheitslosen Barbarenstaat hinein. Denn ob sie auch Folianten mit der Geschichte ihrer Kurfürsten und Könige füllen mögen, das preußische Volk hat erst seit 1800 eine Geschichte, und in dieser bisher hauptsächlich Kriegsgeschichte aufzuweisen. Zur Zeit wird die Staatsvergötterung so weit getrieben, daß man allmählich auf den Rückschlag hoffen kann; doch ist zu fürchten, daß er mit einer starken Erschütterung verbunden sein wird. Die Stimmung ist in ganz Deutschland einesteils gleichgültig teils verzweifelt pessimistisch, von der Zukunft hofft man schon darum wenig, weil man nicht weiß, was man hoffen soll. Bismarck und die Nationalliberalen haben dem Volk die Einbildung so tief eingeprägt, daß es mit der Gegenwart, wie sie ist, zufrieden sein solle, daß mit 1871 das Ziel seiner Absichten erreicht sei, so daß es wol noch Jahrzehnte dauern wird, ehe die Menschen wieder Ideale der Zukunft kennen. Bismarck ist überhaupt eine hochtragische Figur: mit tiefem Schmerz muß er selbst die eigene Saat aufgehen sehen: wer Diener seht [!], wird Sklaven ernten, – er hat es ja selbst eingestanden, in dieser Richtung gesündigt zu haben, und soll seit einiger Zeit sehr verzweifelt in die Zukunft sehen.«53

4. Concilium Basiliense Nach Basel siedelte Haller 1897 auf Einladung des Archivars Rudolf Wacker­ nagel über. Dieser war seit mindestens 1894 Hallers Kontaktperson für ein wissenschaftliches Großprojekt: Wackernagel gehörte dem Vorstand der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel an, mit deren Hilfe Haller die von ihm gesammelten Quellen zum Basler Konzil publizierte. Es ist nicht vollständig rekonstruierbar, seit wann genau Haller mit Basel über eine Quellen­ edition zum Konzil verhandelte; jedenfalls gab er offenbar schon Mitte 1892 seinen eigentlichen Plan auf, eine Gesamtdarstellung in Angriff zu nehmen. Grund dafür waren zwei sensationelle Funde, in der vatikanischen Bibliothek 52 Vgl. Johannes Haller an Bernhard Erdmannsdörffer, 8. Mai 1892: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 19. 53 Johannes Haller an Anton Haller, 10.  Februar/29.  Januar 1895: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 36.

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sowie in der Nationalbibliothek in Paris: die Konzilschronik des Bischofs von Brixen, Pietro del Monte, sowie eine Art offizielles Protokoll des in vieler Hinsicht wichtigsten Konzilsgremiums aus der Feder des Notars Pierre Brunet.54 Haller schätzte anfangs die Aussichten auf eine umfassende Publikation seines Quellenfundes als gering ein; neben anderem fürchtete er vor allem, keine Institution zu finden, die Organisation und Finanzierung des Projektes übernehmen würde.55 Das Preußische Historische Institut kam offenbar wegen des auf Deutschland beschränkten Forschungszwecks dafür nicht infrage. Möglicherweise hat bereits Erdmannsdörffer, als Haller ihm brieflich von seinen Funden und den sich daraus ergebenden Problemen berichtete, die Historische und Antiquarische Gesellschaft zu Basel als denkbaren Anlaufpunkt vorge­ schlagen.56 Wahrscheinlicher ist aber, dass der Kontakt erst später zustandekam, weil Hallers Verhandlungen mit Basel sich bis in den Sommer 1894 hinzogen.57 Im Mai 1894 verfasste Haller für die Basler Gesellschaft einen »Vorschlag betreffend einer Publikation zur Geschichte des Concils von Basel«, mit dem diese um Fördergelder für das Projekt werben konnte.58 Haller betonte darin den großen wissenschaftlichen Wert seiner Quellenfunde und legte einen Zeit- und Finan54 Vgl. Hallers Bericht in: Johannes Haller an Bernhard Erdmannsdörffer, 8. Mai 1892: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  19. Zum offiziellen Charakter des Brunet’schen Protokolls vgl. Helmrath, Das Basler Konzil, S. 15. Endgültig aufgegeben hat Haller den Plan einer Gesamtdarstellung des Basler Konzils wohl erst sehr spät; er hat aber bereits 1894 die Befürchtung geäußert, dass es wohl niemals zu einer Verwirklichung kommen werde: »man muß sich eben erst die Steine selbst zurechthauen, aus denen später der Bau werden soll, und die Gefahr ist groß, daß man entweder zum Bauen nie kommt, oder es nachher nicht mehr versteht und sein Leben lang nur ein Steinmetz bleibt. So wird es am Ende auch mit mir gehen, und meine Geschichte des Concils von Basel wird vielleicht nie über den Plan und die Vorarbeiten hinauskommen.« (Johannes Haller an Helene Haller, 1. Mai/19. April 1894: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 25.) 55 »Das Sachgemäßeste wäre wol eine vollständige Ausgabe aller Chroniken über das Concil zu veranstalten […]. Aber würde sich eine gelehrte Anstalt finden, die das unternähme […]?« (Johannes Haller an Bernhard Erdmannsdörffer, 8. Mai 1892: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 19.) 56 Der exakte Verlauf ist nicht rekonstruierbar, da zum einen keine Antwortbriefe von Erdmannsdörffer an Haller erhalten sind, zum anderen überhaupt keine in Bezug auf Hallers Konzilsprojekt aussagekräftigen Briefe zwischen Mai 1892 und Mai 1894 existieren. Allein in einem Brief an seinen Vater vom Februar 1894 erwähnt Haller, dass es Aussichten auf einen Druck der Konzilsquellen gebe: vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 12. Februar/31. Januar 1894: UAT 305/35. Der persönliche Kontakt zu Wackernagel scheint durch den Bibliothekar Johannes Bernoulli zustande gekommen zu sein, den Haller in Rom kennengelernt hatte; vgl. dazu Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 18. Juni 1894: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 29. 57 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 16. August 1894: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 88a J 10 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 30; vgl. auch Johannes Haller an Anton Haller, 1. Juni/20. Mai 1894: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 27. 58 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 16. Mai 1894: Staatsarchiv Basel Stadt: PA 88a J 10 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 26.

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zierungsplan für insgesamt vier Bände vor. Es gelang ihm am Ende nicht, den sehr eng gefassten Zeitplan einzuhalten, aber er bearbeitete tatsächlich die von ihm anvisierten vier Bände der am Ende auf insgesamt acht Bände angewachsenen Edition.59 Die Verhandlungen waren mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden, die neben gewissen Finanzierungsproblemen im Kern darauf zurückzuführen sind, dass Haller zwar die dringende wissenschaftliche Notwendigkeit des Projekts einsah, aber gleichzeitig glaubte, aus persönlichen wie gesundheitlichen Gründen eigentlich nicht der richtige Bearbeiter zu sein.60 Mit einer Mischung aus sanftem Druck und gutem Zureden scheint es Wackernagel aber gelungen zu sein, Haller bei der Stange zu halten.61 Zwar klagte Haller in der Folgezeit über die Arbeitsbelastung und die »Knechtschaft«62, die die Editionsarbeit bedeute, außerdem über die ihm verhasste Arbeit am Repertorium Germanicum,63 doch entgegen eigener Befürchtungen und trotz »Hiobsbotschaften«64 wie dem unverhofften Auffinden weiterer Quellenhandschriften gelang es ihm, den ersten Band des »Concilium Basiliense« nach nur zwei Jahren Bearbeitungszeit 1896 fertigzustellen.65 Die verwickelte Entstehungsgeschichte dieses Bandes hat Haller selbst im Vorwort geschildert: »Als ich vor einigen Jahren die Beschäftigung mit der Geschichte des Concils von­ Basel aufnahm, schien es mir, angesichts der schon zugänglich gemachten Quellen, als würden einige Monate ergänzender handschriftlicher Studien, vor allem in Rom und Paris, ausreichen, um eine wohlbegründete Darstellung, wenigstens der ersten Hälfte der Concilsgeschichte, in Angriff zu nehmen. […] Und je weiter ich forschte, desto mehr wuchs die Aufgabe. Auf den Plan einer Darstellung aber einstweilen ganz zu verzichten, bewog mich endlich erst die Auffindung des amtlichen Sitzungs­ protokolls einer langen Reihe von Jahren. Bei dem Umfang und der Bedeutung dieser 59 Concilium Basiliense. Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel, 8 Bde., 1896–1936. 60 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 10.  Juni 1894: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 28; vgl. auch Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 7. Januar 1895: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 35. 61 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 18. Juni 1894: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112. 62 Johannes Haller an Anton Haller, 5. November/24. Oktober 1894: UAT 305/35. 63 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 25.  November 1894: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 29. 64 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 29. März 1895: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 39: »Nun kommt noch eine Hiobspost: in Solothurn hat sich eine Fortsetzung des Protokolls der deputatio pro communibus gefunden, 1438–43! Eine weitere H[and-]S[chrift], wahrscheinlich parallel zu unsern bisherigen, gab es gleichfalls in Solothurn, sie scheint aber verschwunden zu sein, wie wol ihre Auffindung, wie Prof. Gisi mir schreibt, noch nicht ausgeschlossen ist. Was sagen Sie dazu? Ich wünschte, diese Codices möchten noch rechtzeitig verbrennen.« 65 Haller, Concilium Basiliense, Bd. 1.

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neuen Quelle hiess es nun entweder die weitere Beschäftigung mit der Geschichte des Concils ganz aufgeben, oder vorerst die Edition in Angriff nehmen. Eine An­regung bei der Historischen Gesellschaft von Basel hatte das erfreuliche Resultat, dass die dazu nötige Unterstützung gewährt wurde.«66

Das hier Geschilderte fand noch in einem Zeitraum statt, in dem Haller als Hilfsarbeiter des Königlich Preußischen Historischen Instituts in Rom eine feste Anstellung hatte. Damit war es allerdings Ende 1896 vorbei, als Haller angesichts der Unklarheit seiner Weiterbeschäftigung und der Unzufriedenheit mit der Arbeit am Repertorium Germanicum dem Institut zum April 1897 kündigte.67 Dieser Entscheidung war eine mindestens anderthalb Jahre dauernde Phase des Hin- und Herüberlegens über die eigene Zukunft vorausgegangen. Im August 1895 schrieb Haller an Wackernagel: »In der That ist mein Lebenskarren wol schon so tief verfahren, daß nur ein besonderes Glück oder eine Riesenanstrengung ihn wieder flott machen kann. Ewig in Rom als ›Junger Mensch‹ beim Institut bleiben, geht doch nicht; und wenn man es selbst wollte – ich könnte vielleicht so weit versimpeln, in Italien! – so wird die Voraussetzung fehlen.«68

Trotz des bei Haller schon früh nachweisbaren Gefühls, in Rom beruflich auf der Stelle zu treten, schlug er zunächst alle Alternativangebote aus. Das betrifft in erster Linie den immer wieder an ihn herangetragenen Rat, endlich mit der Bearbeitung eines Habilitationsthemas zu beginnen. Von der Universität Göttingen scheint sogar das ausdrückliche Angebot an Haller ergangen zu sein, sich vor Ort zu habilitieren, und der damals in Berlin lehrende Historiker Max Lenz versprach Ende 1896, sich bei der Berliner Akademie für ein Forschungsstipendium für Haller einzusetzen; doch dieser lehnte alles ab.69 Das Haupt­problem dürfte dabei darin bestanden haben, dass Haller sich von dem Wunsch, die Geschichte des Basler Konzils zu schreiben, nicht recht lösen konnte und daher möglichen Alternativthemen  – er selbst erwog zeitweilig, den Staatshaushalt der Kurie unter Papst Eugen IV. zu bearbeiten70 – nur halbherzig nachging. Wie sehr ihm das Basler Konzil ans Herz gewachsen war, zeigt eine fast schwärme­ rische Äußerung Hallers gegenüber Wackernagel: 66 Ebd., S. VI–VII. 67 Vgl. Kapitel IV.2. 68 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 4. August 1895: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 44. 69 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 12.  Januar 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  49; vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 25.  Oktober 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  56. Zu Max Lenz vgl. Krill, Die Ranke­ renaissance. 70 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 4.  August 1895: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 44.

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»Unter so düsteren Meditationen trifft mich Ihre Mahnung, nicht länger in den Vorhöfen zu säumen und die Geschichte des Concils alsbald in Angriff zu nehmen. Mein eigener Wunsch treibt mich auch dahin. Dennoch muß ich es einstweilen lassen. Die Aufgabe ist schön, lockend, lohnend; aber sie ist zu schön, denn sie ist zu groß. Eine Herzählung der Begebenheiten wäre wol leicht zu machen. Aber die Vorgänge jener bedeutungsvollen Jahre, so wie sie mir vorschweben, d. h. als eine der folgenschwersten Wendungen der abendländischen Culturgeschichte, als die Conception sozusagen der confessionellen und zum Teil  auch der nationalpolitischen Spaltung darzustellen; zu zeigen, nicht nur ›wie es gewesen‹ (der Ausdruck enthält die ganze Schwäche der Rankeschen Manier), sondern vor allem, warum es so kam, nicht anders kommen konnte, – das erfordert ein Wissen von solcher Ausdehnung, ein Urteil von solcher Reife, wie ich sie jedenfalls noch lange nicht besitzen werde. Nicht einmal anfangen könnte ich jetzt. In müden Abendstunden, wenn man die frische Kraft an totes Formwesen vergeudet hat, kann eine Darstellung nicht mehr entstehen. So muß der Plan einstweilen vertagt werden. Im Auge behalte ich ihn, wie denn mein hauptsächliches Interesse dem Problem gewidmet ist, von dem die Concilsgeschichte einen so wichtigen Teil bildet: der Entstehung der modernen national gefärbten Culturen aus der kirchlich-universellen des Mittelalters.«71

Haller war also überzeugt, mit dem Konzil von Basel auf ein bislang unzu­ reichend beachtetes Schlüsselereignis der abendländischen Geschichte gestoßen zu sein, das er so ohne weiteres nicht aufgeben durfte. Damit aber manövrierte er sich selbst in eine Lage hinein, die kaum die Aussicht auf einen Ausweg bot, da er weder seine Stelle in Rom behalten noch eine neue antreten wollte. Es dauerte über ein Jahr, bis Haller einsah, dass das Hadern mit dem eigenen Schicksal nichts zur Lösung seiner Probleme beitrug. Dass er es sich so schwer machte, hing aber offenbar auch damit zusammen, dass die berufliche mit einer existentiellen Krise zusammentraf, in der der Streit mit dem­ Vater eskalierte und der Junggeselle Haller über die grundsätzliche Verfehlung der e­ igenen Existenz nachdachte.72 Das erklärt auch, warum die aus dieser Zeit von Haller erhaltenen Briefe regelmäßig Grundsatzfragen anschneiden. Von­ besonderem Belang ist hier eine an Hallers Halbschwester Helene gerichtete Notiz, aus der hervorgeht, dass das Basler Konzil nicht nur Hallers historisches Interesse fand, sondern dass er die dort begonnene konstruktive Reformarbeit im Grunde auch für die bessere Alternative zur letztlich destruktiven Refor­ mation hielt – was auch ein gewisses Licht auf Hallers Verhältnis zur Religion bzw. zum Protestantismus wirft:

71 Ebd. 72 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 2.  November/21.  Oktober 1895: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  46; vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 21./9. November 1895: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 47; vgl. Johannes Haller an Helene Haller, 31./9. Dezember 1895: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 48.

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»Leider bin ich nicht Katholik, und es zu werden, hätte auch keinen Zweck; sonst nähme ich einige Weihen, suchte Domherr irgendwo zu werden und lebte alsdann der Wissenschaft. Freilich denke ich mehr an die Kirche vor Luther, an die ver­welt­ lichte Pflegeanstalt der Humanisten; daß diese nicht mehr existirt, das ist die Klage aller ­armen Gelehrten. Ich bin überhaupt kein Freund der Reformation; so notwendig, unvermeidlich sie war in Folge des Vorhergegangen, so muß man doch unbefangen gestehen, daß sie mehr zerstört hat, als geschaffen, wie überhaupt Revolutionen nur zerstören, während das Schaffen in der ruhigen, stillen Arbeit von Jahrzehnten und Jahrhunderten vor sich geht. Und bei dem Zerstörungswerk, das 1517 begann, da ist eine Menge von Dingen für uns verloren gegangen, die sehr nützlich, heilsam und erfreulich waren und noch wären. Die Verantwortung – ein Wort, das ich nur in sehr eingeschränktem und modifizirtem Sinn brauche – liegt freilich nicht bei den Männern von 1517, sondern 100 Jahre und 80 Jahre weiter zurück. Dies wird das Thema meiner ersten darstellenden Arbeit sein, wenn ich zur Ausführung gelange.«73

Hier kommt nicht nur das insgesamt zwiespältige Verhältnis Hallers zur Reformation74 sowie seine religiöse Ungebundenheit an das Christentum zum Ausdruck  – Mitte 1894 schrieb er seiner Halbschwester sogar, wenn er unbedingt eine Religion zu wählen hätte, wäre es aufgrund seiner Schicksalsergebenheit der Islam75 –, sondern auch ein weiterer innerer Widerstreit, mit dem Haller in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre zu kämpfen hatte: die Frage, ob er seine Kraft lieber auf die Editionstätigkeit oder auf die historische Darstellung konzentrieren sollte. Einerseits erschien ihm die Herausgabe und Kommentierung von Quellen als die größere Leistung, da hier – im Gegensatz zu den meist kurzlebigen Geschichtsdarstellungen – Bleibendes geschaffen werden könne. Andererseits war er des Dienstleistungscharakters des Editionsgeschäfts mittlerweile deutlich überdrüssig und empfand die Aussicht sowohl auf den Katheder als auch auf die wissenschaftliche Eigenleistung einer Habilitationsschrift zunehmend verlockend.76 73 Johannes Haller an Helene Haller, 31./9. Dezember 1895: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 48. 74 Vgl. dazu die Kapitel VI.2., VII.2. und VII.4. 75 Johannes Haller an Helene Haller, 1.  Mai/19.  April 1894: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 25: »Suchen wir also wenigstens an unserm Teil nicht in diese Schuld zu verfallen, und stellen wir das Uebrige dem Schicksal anheim! So ist es ja überhaupt mit dem ganzen Leben: thun wir das Unsrige, jeder so gut oder schlecht, als er es kann und versteht, und lassen wir den für das Ganze sorgen, der das Ganze ist. Du fragst, wie man sich dann mit dem Unglück abfinden soll? Ja nun, nicht anders, als alle andren: man sucht es zu ertragen, so gut oder schlecht es geht, und man versucht sich den Satz einzuprägen, daß alles notwendig so kommen muß, wie es kommt, – bis man begreift, daß diese scheinbar so trostlose Weisheit doch der höchste Trost ist, den wir besitzen können. Es ist alles geordnet, niemand bekommt mehr, als möglich ist, und niemand hat zu fragen, wo es nicht notwendig ist. Mir ist es immer als hoch bedeutsam erschienen, daß der Islam nicht nur die meisten, sondern auch die überzeugtesten, gläubigsten Bekenner zählt; wenn ich darum noch eine positive Religion wählen sollte, so wäre es die Mohammeds.« 76 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 25. Oktober 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 56.

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Im Laufe des Jahres 1896 hatte Haller der Mut so sehr verlassen, dass er daran dachte, sowohl seine Arbeit für das Preußische Historische Institut in Rom als auch für die Konzilsedition zu beenden und möglicherweise ganz auf den poli­ tischen Journalismus umzusteigen.77 Das stete Zureden des Ehepaars Wackernagel, mit dem Haller nun auch persönlich befreundet war, trug anscheinend wesentlich dazu bei, dass er diesen Schritt nicht vollzog, sondern sich gegen Rom, für das Basler Konzil und die Aussicht auf eine Habilitation entschied.78 Diese Aussicht hatte Rudolf Wackernagel ermöglicht, nachdem Haller Ende 1896 eine angedrohte Kündigung seiner Arbeit für die Konzilsedition mit einer Art letztem verzweifelten Vorstoß verbunden hatte: »Eine Möglichkeit gäbe es freilich noch, die ich aber nur widerstrebend erwähne, weil es mir scheint, wenn sie ernsthaft in Betracht käme, so wäre sie wol schon in ein re­elleres Dasein getreten. Wenn sich nämlich ein Weg finden ließe, jene Erweiterung der Concilsedition noch jetzt vorzunehmen, und mir damit Gelegenheit gegeben wäre, sei es auch unter den bescheidensten Verhältnissen, irgendwo ein paar Jahre einer wirklich wissenschaftlichen Aufgabe zu leben, vielleicht nebenbei die Docentur zu beginnen: Da wäre mir geholfen. Aber ich begreife, daß so etwas kaum durchführbar ist, und spreche darum hier nur aus dem Grunde davon, weil ich mir sagen möchte, daß ich nichts unterlassen habe, jenen definitiven Bruch mit allem­ Bisherigen zu verhüten.«79

Wackernagel ging sofort auf dieses Ansinnen ein und bot Haller eine dreijährige Anstellung in Basel an, wo er den nächsten Band des von der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft herausgegebenen »Basler Urkundenbuches« bearbeiten sollte. Gleichzeitig könne er seine Konzilsforschung fortsetzen und sich möglicherweise an der Basler Universität habilitieren.80 Das war nun ­offenbar ein Angebot, das Haller nicht ablehnen konnte. Nach einigem Hin und Her81 sagte 77 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 22.  April 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 50; vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 25. Oktober 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 56. 78 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 10. Juni 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 51; vgl. Johannes Haller an Rudolf ­ asselhorn/KleiWackernagel, 21. Juni 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. H nert, Johannes Haller, Nr. 52. Zur Freundschaft zwischen Haller und den Wackernagels vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 4. August 1895: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 44. 79 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 25. Oktober 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 56. 80 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 4.  November 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 57. 81 Vgl. dazu Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 15. November 1896: Staatsarchiv BaselStadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 58; vgl. auch Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 30. November 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 59.

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er am 11. Dezember 1896 zu und zog wenige Wochen später nach Basel um. Wie froh er letztlich über Wackernagels Unterstützung war, zeigt sein Zusage- und Dankesbrief: »So lassen Sie sich denn nochmals von Herzen danken für Ihre aufopfernde Ver­ mittlung, und seien Sie überzeugt daß ich Ihr Eingreifen in mein Geschick als ein­ hohes Glück betrachte. Sie haben mir ein gutes Stück Lebenshoffnung und Glauben an die Welt und die Menschen wiedergegeben. Sie zeigen mir wieder ein festes, und wenn nicht wirkliches Unglück dazwischentritt, ein erreichbares Ziel, und ein Ziel das mich lockt. Aber was vielleicht noch mehr ist, sie führen mich zu diesem Ziele auch auf einem Weg, der mir von vornherein so einladend und reizvoll erscheint, daß ich es mir kaum so zu träumen gewagt hätte.«82

Die Zeit der beruflichen Ungewissheit war damit für Haller noch lange nicht vorbei, doch das Schlimmste hatte er überstanden, wenn es auch Spuren an ihm hinterlassen hatte. Ein gewisser pessimistischer Grundzug ist in Hallers Äußerungen auch vorher schon nachweisbar; allerdings scheint die Zeit zwischen 1894 und 1897 noch einmal besonders starke Folgen für die Ausbildung von Hallers Weltsicht gehabt zu haben. Vor dem Hintergrund der neu eröffneten Perspektive schrieb Haller an seine Halbschwester Helene: »Die christliche Lehre sagt, der gute Vater im Himmel schicke jedem genau das was ihm fromme. Ich finde sie falsch, so falsch wie irgend etwas, das Menschen ersonnen haben. Aber in jedem Irrtum steckt eine Wahrheit, und hier dürfte sie darin liegen, daß jeder Mensch die Aufgabe hat, was immer ihm begegne, zu seinem Nutzen umzuwandeln, wie der gesunde Organismus ohne besondere Anstrengung alles was an ihn kommt sich angliedert zum eigenen Wachstum. Starken Naturen erscheint das so selbstverständlich, daß sie es als äußere Ordnung empfinden, wo es doch ihr eigenes Werk ist. Die Schwachen bringen es nie fertig und klagen in hilflosem Pessimismus. Die große Menge der Mittelstarken, mitunter oft Schwachen wird zwischen beiden Extremen schwanken, die unter ihnen aber die Wahrheit wenigstens erkannt haben, wissen was zu thun ist: stark werden, das gilt’s, dann wird auch alles zum besten dienen.«83

Wie schon erwähnt hat Haller von den insgesamt acht Bänden des »Concilium Basiliense« die ersten vier selbst bearbeitet und herausgegeben. Das ursprüngliche Ziel, eine Gesamtdarstellung zu schreiben, hat er aber nicht erreicht. Seine Generalinterpretation des Basler Konzils konnte er immerhin 1910 publik machen, als sein im Herbst 1909 vor dem Gesamtverein der Deutschen Geschichtsund Altertumsvereine gehaltener Vortrag über »Die Kirchenreform auf dem Konzil zu Basel« veröffentlicht wurde. Seiner Auffassung nach war die verbrei82 Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 11. Dezember 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 60. 83 Johannes Haller an Helene Haller, 1. Januar 1897/20. Dezember 1896: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 63.

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tete Meinung vom Scheitern des Konzils und einem letztlichen Sieg des Papsttums zu undifferenziert; stattdessen müsse man vielmehr von einem »Rückzug« des Papsttums und einer Entwicklung hin zur Staatskirche als wesentliches Ergebnis des Basler Konzils sprechen.84 Ohne die durch das Konzil verbreitete Forderung nach landeskirchlicher Autonomie sei schließlich die Durchsetzung der lutherischen Reformation undenkbar, weshalb man Basel als eine entscheidende »Etappe« auf dem Weg »nach Wittenberg und Worms« sehen müsse.85 Diese Auffassung hat sich in der Konzilsforschung nicht – zumindest nicht vollständig – durchgesetzt.86 Dass Hallers Quellenedition zu den »Pioniertaten«87 und er selbst zu den »Gründervätern«88 der Forschung zum Basler Konzil gehört, steht aber außer Frage.

5. Basel 1897–1901 Auch in Basel blieb Haller unzufrieden. Im Nachhinein bezeichnete er seine Entscheidung zum Umzug als »verzweifelt« und meinte, die damit verbundenen Erwartungen hätten sich nicht erfüllt.89 Dabei lief von außen betrachtet für H ­ aller eigentlich alles nach Plan: Im Sommer 1897 habilitierte er sich an der Universität Basel mit seinen Forschungen zum Basler Konzil,90 1897 und 1900 erschienen 84 Vgl. Haller, Die Kirchenreform auf dem Konzil von Basel, Sp. 21–25, Zitat Sp. 24. 85 Haller, Die Kirchenreform auf dem Konzil von Basel, Sp. 26. 86 Vgl. Helmrath, Das Basler Konzil, S. 348–352. Hallers Hinweis auf die Bedeutung (national-) staatlicher Politik auf dem Konzil im »Zeitalter des werdenden Nationalstaats« (Haller, Die Kirchenreform auf dem Konzil von Basel, Sp. 25) ist aber durchaus in der weiteren Diskussion fruchtbar gewesen; vgl. Müller, Die kirchliche Krise, S.  113–115 sowie mit ausdrücklichem Bezug auf Haller: Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 316. 87 Helmrath, Das Basler Konzil, S. 14. 88 Helmrath/Müller, Zur Einführung, S. 16. 89 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 199. Insofern irrt Vischer, Eine Buchrezension, S. 493, wenn er die Vermutung äußert, »Haller wäre nicht ungern in Basel geblieben.« 90 Es ist nicht zu ermitteln, welche Arbeit genau als Habilitationsschrift eingereicht bzw. als Habilitationsleistung anerkannt wurde. Es werden entweder die bis 1897 publizierten zwei und in Vorbereitung befindlichen weiteren zwei Bände des »Concilium Basiliense« gewesen sein (so Schellakowsky, Haller, S. 233) oder die erst 1903 erschienene, aber großenteils wesentlich früher verfasste Studie über »Papsttum und Kirchenreform« (vgl. Haller, Papsttum und Kirchenreform, S. X; vgl. aber auch Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 4.  November 1901: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  72, woraus hervorgeht, dass Haller die Niederschrift zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendet hatte). Eine Bescheinigung der Universität Basel vom Februar 1901 bestätigt lediglich, dass Haller vom Sommersemester 1897 bis zum Sommersemester 1900 an in Basel habilitiert gewesen sei »und mit gutem Erfolg Vorlesungen gehalten« habe (Bescheinigung der Universität Basel vom 19. Februar 1901: UAT 305/22). Ohne seine Quelle zu nennen, schildert Vischer, Eine Buchrezension, S. 493, die Umstände von Hallers Habilitation folgendermaßen: »Die Empfehlung durch den Stadtarchivar [Wackernagel] konnte nicht

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zwei weitere Bände des »Concilium Basiliense«91, 1899 der von ihm bearbeitete Band des »Basler Urkundenbuches«92, außerdem publizierte er immerhin sechs Zeitschriftenaufsätze.93 Er knüpfte zwar wenige, dafür aber umso intensivere persönliche Beziehungen – nicht zuletzt lernte er in Basel seine spätere Ehefrau kennen – und hatte schon bald einigen Erfolg als politischer Journalist. Was den letzten Punkt betrifft, so liegt der Ursprung dieser Tätigkeit im Grunde noch in Rom. Von dort aus jedenfalls hatte Haller im Herbst 1896 an Rudolf Wackernagel geschrieben, er denke ernsthaft darüber nach, »Schrift­ steller zu werden, zunächst wol Journalist.«94 Tatsächlich arbeitete Haller offen­ bar 1896 in Rom für eine Weile als Berichterstatter des »Deutschen Wochenblatts« bzw. des »Schwäbischen Merkurs« und analysierte hier vor allem die Außenpolitik Italiens gegenüber dem Deutschen Reich.95 In Basel intensivierte Haller dieses Aktionsfeld und schrieb regelmäßig Berichte für die protestantisch-konservative »Allgemeine Schweizer Zeitung«. Seine Artikel geben ein einigermaßen zuverlässiges Bild der politischen Anschauungen, die er um die Jahrhundertwende öffentlich zu äußern bereit war: So kommentierte er etwa die Anfang 1899 von der preußischen Regierung angeordneten Ausweisungen dänischer Dienstboten aus Nordschleswig.96 Haller übte so scharfe Kritik an dieser Form der »Germanisierungspoltik«97, dass seine etwa die förmliche Habilitation ersetzen, vielmehr hatte sich Haller einem Habilitationsverfahren in aller Form zu unterziehen, das das ganze Sommersemester (1897) in Anspruch nahm, bis alle Instanzen ihren Segen gegeben hatten. Die beiden Referenten, A. Baum­ gartner, der Ordinarius der Geschichte, und H. Boos. [!] a.o. Prof., fanden die Dissertation übereinstimmend wenig gut, über alles Lob erhaben aber die beiden Bände des ›Concilium Basiliense‹, die eben erschienen waren.« 91 Haller, Concilium Basiliense II; Haller, Concilium Basiliense III. 92 Haller, Urkundenbuch. 93 Haller, Aufzeichnungen über den päpstlichen Haushalt; Haller, Die Verteilung der Servitia Minuta; Haller, Die Ausfertigung der Provisionen; Haller, Eine Rede des Enea Silvio; Haller, Die Belehnung Renés von Anjou; Haller, Beiträge zur Geschichte des Konzils von Basel. 94 Johannes Haller an Anton Haller, 1. Juni/20. Mai 1894: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 27; Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 25. Oktober 1896: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 56. 95 Vgl. Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 13.  Dezember 1896: BArch N 1035/28 bzw. Hassel­horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 62: »Wenn es Sie interessirt, so sehen Sie gelegentlich das ›Deutsche Wochenblatt‹ an, ich schreibe dort Röm. Briefe, in denen ich mich bemühe die in Dtschld. herrschende Crispi-Verehrung zu zerstreuen.« Vgl. außerdem Haller, Lebenserinnerungen, S. 158–161, wo von der Tätigkeit für den »Schwäbischen Merkur« die Rede ist. Eine Identifizierung einzelner Artikel Hallers aus dieser Zeit ist nicht möglich, da die festen Mitarbeiter der Zeitung normalerweise nicht unter ihrem Namen, sondern unter einem Kürzel veröffentlichten. Die im Folgenden zur Analyse der politischen Anschauungen Hallers herangezogenen Artikel aus der »Allgemeinen Schweizer Zeitung« sind ebenfalls in diesem Sinne anonym, stammen aber höchstwahrscheinlich von Haller, da sie sich in seinem Tübinger Nachlass befinden und da Diktion und Themenauswahl zu Haller passen. 96 Haller, Die Ausweisungen in Schleswig. 97 Vgl. dazu Bohn, Geschichte Schleswig-Holsteins, S. 100.

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Zeitung sich genötigt sah, darauf hinzuweisen, dass Hallers Position von der Redaktion nicht in derselben Radikalität geteilt werde. Besonders empfindlich reagierte Haller auf die Versuche Preußens, die Dänen dadurch zu Deutschen zu machen, dass der Gebrauch der dänischen Sprache im Schulwesen untersagt wurde. Das weckte natürlich unangenehme Erinnerungen an den eigenen Existenzkampf im Baltikum gegenüber der Russifizierungs­politik des Russischen Reiches.98 Haller warnte aber auch grundsätzlich davor, dass selbst das nationale Interesse es niemals rechtfertigen dürfe, gegen »Recht und Menschlichkeit«99 zu verstoßen. Überhaupt ist an Hallers Zeitungsartikeln die Neigung auffällig, aktuelle politische Fragen im Grunde metapolitisch zu bearbeiten, jedenfalls die Dinge in größeren Zusammenhängen zu betrachten. Das betrifft seine Äußerung zum Burenkrieg – in der er für England Partei ergriff, da sonst das europäische Staatengleichgewicht in Gefahr sei, ja ein Weltkrieg und eine russische Hegemonie drohten100 – ebenso wie seine Warnung vor dem Einfluss Russlands in Kleinasien zuungunsten vor allem Deutschlands.101 Vor allem aber ist diese Neigung an einer Reihe von 1898 erschienenen Artikeln zu erkennen, in denen Haller sich anlässlich des Todes Otto von Bismarcks bzw. des Erscheinens der ersten beiden Bände von Bismarcks Memoiren mit der Bedeutung des ehemaligen Reichskanzlers auseinandersetzte. Die Texte zeigen, dass Haller Bismarck zwar für ein politisches »Genie« hielt, das im Gegensatz zu den großen Politikern der anderen europäischen Staaten das Wesen der Politik – das Geltendmachen der Staatsinteressen – nicht moralisch verbrämt habe; sie zeigen aber auch, wie wenig Haller Bismarck bereits zu diesem Zeitpunkt idealisierte, zumal dieser im Grunde seit 1871 mindestens innenpolitisch so gut wie alles falsch gemacht habe und sich nach seiner Entlassung 1890 politisch geradezu schädlich verhalten habe, auch und gerade durch die teilweise erheblich verzerrende Darstellung der tatsächlichen Begebenheiten in den »Gedanken und Erinnerungen«.102 Vor allem vor dem Hintergrund der späteren politischen Entwicklung Deutschlands, die Haller zum Teil sehr aktiv mitverfolgte103, ist seine Haltung zur »jüdischen Frage« von besonderer Brisanz. Brieflich äußerte er sich nur sehr selten dazu; etwa als er sich während seiner Heidelberger Promotionsphase mit einem jüdischen Kommilitonen befreundete, über den er sehr freundlich urteilte, wobei er zugleich bemerkte, dass man seinem »Wesen« die jüdische Identität nicht anmerke.104 In anderem Zusammenhang machte Haller 1901 gegenüber seinem Freund Ferdinand Wagner eine noch deutlich schärfere Bemerkung: 98 Vgl. dazu Kapitel II.3. 99 Haller, Die Ausweisungen in Schleswig. 100 Vgl. Haller, Die Folgen des südafrikanischen Krieges. 101 Vgl. Haller, Rußland und Deutschland in Kleinasien. 102 Vgl. Haller, Bismarck; vgl. Haller, Aus Bismarcks Memoiren. 103 Vgl. dazu bes. die Kapitel VII.1. und VIII.1. 104 Johannes Haller an Helene Haller, 30./18. September 1891: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 16.

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»Aber wie konnten Sie nur einen Juden consultieren und schließlich den Kranken gar in ein jüdisches Krankenhaus bringen! In der Medicin bin ich strenger Antisemit und glaube, jedermann muß es sein. Dem Juden ist alles Geschäft, auch die Krankheit des Nächsten, was nicht ausschließt, daß es viele Christen ebenso machen. Aber – wie der alte Bunsen zu sagen pflegte – wie man sagen kann, es ist im Sommer warm, im Winter kalt, so auch: die Juden sind unanständig, die Christen sind es weniger.«105

Sehr viel aufschlussreicher als diese dahingeworfene antijüdische Privatbemer­ kung ist Hallers Bericht über den zweiten internationalen Zionistenkongress, der am 4. September 1898 unter der Überschrift »Zionismus und Antisemitismus« erschien.106 Haller bezeichnete den Antisemitismus darin als »Giftpflanze« und betonte den Unterschied zwischen älteren Formen der Judenfeindschaft und dem Antisemitismus als modernem, erst unter den Bedingungen des Nationalstaates entstandenem Phänomen. Er äußerte aber auch die Auffassung, dass die Antisemiten zwar in mancher Hinsicht übertrieben – etwa in ihrer Behauptung eines direkten Zusammenhangs zwischen Judentum und »kosmopolitische[m] Liberalismus« –, dass sie aber immerhin die Realität der »jüdischen Frage« richtig erkannt hätten, die im Wesentlichen darin bestehe, dass die jüdische Identität eine nationale sei, die daher in Spannung stehe zur nationalen Identität der europäischen Völker. Die Zionisten hätten das ebenfalls erkannt und schlügen als Lösung die Gründung eines jüdischen National­staates vor. So utopisch dieses Ziel sei, so müsse man es aus europäischer Sicht doch uneingeschränkt befürworten. Als Haller diesen Bericht schrieb, wusste er noch nichts von den zeitgleichen Bestrebungen des Zionistenführers Theodor Herzl, Kaiser Wilhelm II. als Protektor der Juden im Heiligen Land zu gewinnen, um dem Ziel der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina näher zu kommen.107 1944 – Haller schrieb an der Basel betreffenden Passage seiner Lebenserinnerungen – war diese Tatsache bekannt, und Haller wiederholte nun nicht nur seine Sympathie für den Zionismus, sondern bedauerte sogar, »daß das Deutsche Reich damals eine Schicksalsstunde versäumt hat. […] was hätte es nicht für Deutschland bedeutet, wenn es sich offen für die Wünsche des jüdischen Volkes einsetzte und dadurch die Sympathie der national bewußten zahlreicheren Hälfte, der Massen des Ostens, gewann! Welche Vorteile das für die deutsche Politik gebracht hätte, ist kaum zu überschätzen.«108

Besonders aufschlussreich für die grundsätzlichen politischen Überzeugungen Johannes Hallers um die Jahrhundertwende ist schließlich ein Beitrag, den er am 3. Januar 1900 der Frage widmete, was das vergangene Jahrhundert gebracht 105 Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 4. November 1901: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 72. 106 Haller, Zionismus und Antisemitismus. 107 Ausführlich dazu mit Nennung weiterführender Literatur: Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II., S. 113–119. 108 Haller, Lebenserinnerungen, S. 226.

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habe und was das neue bringen werde.109 Haller nahm darin positiv Bezug auf die – liberal interpretierten – Ideale der Französischen Revolution: »Freiheit des Einzelnen, Gleichheit des Rechts« und deutete das 19. Jahrhundert nach diesem Maßstab einerseits als Fortschrittsprozess, wies andererseits aber auf zahl­reiche Hemmnisse hin, die die Kriege brutaler und Rassen- wie Klassengegensätze viru­lenter gemacht hätten. Gegenwärtig sei der freiheitliche bügerliche Nationalstaat von Anhängern des alten Absolutismus ebenso bedroht wie von dem neuen »Problem der Massen«. Für die Zukunft äußerte Haller die Hoffnung, dass der Fortschritt sich überall durchsetzen werde, gleichzeitig aber anstelle der modernen »Anbetung der nackten Macht« wieder die »Ideen und Ideale« des frühen 19. Jahrhunderts zur Geltung kämen. Einen politisch liberaleren Haller als den der Basler Jahre hat es wahrscheinlich nicht gegeben. Neben den Zeitungsartikeln deuten auch die erstaunlich positiven Ausführungen über das liberalkonservative, auf Konsens bedachte politische System der Schweiz in seinen Lebenserinnerungen darauf hin.110 Noch wichtiger als der Eindruck, den Haller von der schweizerischen Politik gewann, dürfte für seine konkreten politischen Präferenzen aber die Begegnung mit Julius von Eckardt gewesen sein. Es ist zwar lediglich ein einziger Brief­ zwischen Haller und dem ebenfalls deutschbaltischen Journalisten und Diplomaten erhalten,111 der 1897–1900 Generalkonsul in Basel war, aber Haller hat später behauptet, von niemandem so nachhaltig in seinen politischen Auffassungen geprägt worden zu sein wie von Eckardt.112 Von ihm jedenfalls habe er gelernt, Reichskanzler Bülow negativ, Bismarck ambivalent, Philipp zu Eulenburg-Hertefeld aber in bestimmter Hinsicht positiv zu beurteilen.113 Eckardt war es offenbar auch, dem Haller die Bekanntschaft Franz von Roggen­bachs verdankte, der Ende 1899 einen Historiker suchte, der die Kaise­rin Friedrich, die Mutter Kaiser Wilhelms II., bei der Abfassung ihrer Memoiren unterstützte. Aus dem Plan wurde schließlich nichts – nicht etwa, weil H ­ aller abgelehnt hätte, sondern weil die Kaiserin, die 1901 an Brustkrebs starb, bereits gesundheitlich zu schwer angeschlagen war. Im Nachhinein ist Haller ganz froh darüber gewesen, dass es nicht zur Ausführung der Vereinbarung gekom109 Haller, 1900, dort auch die folgenden Zitate. Zu der in Deutschland um 1900 allgemein eher optimistischen Stimmung vgl. auch Puschner, Rückblicke, Vorblicke, bes. S. 535. 110 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 199–204, bes. S. 200: »Wer nach menschlichem Maßstab urteilte und keinen Idealzustand verlangte, mußte zugeben, daß die Schweiz sowohl als Eidgenossenschaft wie in den Kantonen im ganzen recht gut regiert war.« 111 Julius von Eckardt an Johannes Haller, 23. April 1904: UAT 305/20. Aus diesem Schreiben geht zumindest hervor, dass es einen Briefwechsel zwischen beiden gegeben hat. In einem weiteren erhaltenen Brief wird Eckardt immerhin erwähnt: Johannes Haller an Anton Haller, 30./17. August 1902: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 94. Zu Julius von Eckardt vgl. Bolland, Art. »Eckardt, Julius«, sowie Bräuer, Das Russlandbild. Vgl. auch Eckardt, Aus den Tagen von Bismarcks Kampf gegen Caprivi. 112 Vgl. für das Folgende Haller, Lebenserinnerungen, S. 213–219. 113 Vgl. dazu Kapitel VII.1.

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men ist;114 die These vom liberalen Haller der Basler Zeit wird durch seine Bereitschaft bestätigt. Das gilt umso mehr, weil Kaiserin Friedrich nicht nur bekennende liberale Gegnerin ihres Sohnes, Kaiser Wilhelms II., war, sondern auch weil die Idee, eigene Memoiren zu schreiben, ausdrücklich als Reaktion auf die 1898 erschienenen ersten zwei Bände von Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen«115 entstanden war, dem die Kaiserin politisch mindestens ebenso feindlich gegenüberstand wie ihrem Sohn. Eine zweite für Haller wichtige Begegnung in Basel war diejenige mit dem Kirchenhistoriker Franz Overbeck.116 Der Freund Friedrich Nietzsches wurde im Jahr von Hallers Ankunft in Basel, 1897, emeritiert. Innerhalb der akademischen Theologie war er ein krasser Außenseiter, da er weder der protestantischen Orthodoxie noch einer der an den Universitäten führenden »liberalen« Schulen anhing. Die liberale Theologie, insbesondere diejenige Adolf Harnacks, war vielmehr der Hauptfeind, gegen den er in seinen spärlichen Veröffentlichungen zu Felde zog. Er warf dieser Denkrichtung vor, sich in dem Bestreben um einen Ausgleich zwischen Kirche und Wissenschaft in lauter Halbheiten zu verlieren. Er selbst setzte diesem Ansatz die Forderung nach einer »profanen Kirchengeschichte« entgegen, also nach einer den üblichen Regeln geschichtswissenschaftlichen Arbeitens entsprechenden Erforschung des Christentums ohne dogmatische oder sonstwie »theologische« Vorbehalte.117 Es ist aus den Quellen nicht rekonstruierbar, über welche theologischen bzw. kirchengeschichtlichen Themen Haller und Overbeck bereits zwischen 1897 und 1901 sprachen; dass sie es taten, ist aber so wenig zweifelhaft wie die weitgehende Einigkeit in vielen Fragen.118 Denn als 1903 die um ein Nachwort erweiterte Neuauflage von Overbecks erstmals 1873 publizierter Streitschrift »Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie« erschien, war Haller begeistert. An Overbeck schrieb er:

114 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 219 f. Vgl. außerdem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 18. Mai 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 176. 115 Bismarck, Gedanken und Erinnerungen I; Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II. Vgl. dazu außerdem Haller, Lebenserinnerungen, S. 219: »Den Anstoß zu dem Plan, ihre Denkwürdigkeiten zu schreiben oder schreiben zu lassen, hatten der Kaiserin Bismarcks­ ›Gedanken und Erinnerungen‹ gegeben […].« 116 Vor allem das Werk Franz Overbecks wurde und wird breit erforscht. Grundlegend ist noch immer: Nigg, Franz Overbeck. 117 Vgl. Overbeck, Über die Christlichkeit, S. 7. 118 Vgl. dazu Franz Overbeck an Johannes Haller, 4.  April 1904: UAT 305/20. Vgl. auch­ Haller, Lebenserinnerungen, S. 208 f. Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 297, Anm. 66, behauptet, Haller sei in einem Gespräch mit Overbeck auf das »Leitmotiv« seiner Papst­ tumsgeschichte  – »die Petrusfrömmigkeit der neubekehrten germanischen Völker als Voraussetzung für den Aufstieg des Papsttums« gekommen. Dasselbe behauptet Dannenbauer, Nachwort, S. 300 f. Vgl. dazu ausführlich Kapitel VIII.3.

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»Was Sie über Ihre Absicht einer profanen Kirchengeschichte und über die Bedeutung des 15. Jahrhunderts sagen, fällt bei mir auf fruchtbaren Boden. Eine Darstellung der KG. frei von scholastischen und konfessionellen Maßstäben ist ein schreiendes Bedürfnis. Schenken Sie sie uns!«119

Aber nicht nur der Wissenschaftler, auch der religiöse Mensch Haller fühlte sich von Overbecks Position angesprochen. Das ist umso bemerkenswerter, als Haller sich selbst seit der intensiven Beschäftigung mit theologischen Fragen in seiner Studentenzeit am ehesten im Lager der liberalen Theologie verortet hatte.120 Nun rückte er religiös gewissermaßen noch weiter nach links, was ihn seiner Ansicht nach interessanterweise wieder näher an den lutherisch-konservativen Vater heranbrachte. Dem wagte er nun erneut, anhand von Overbecks Kritik an Adolf Harnack und dessen außerordentlich erfolgreichen, gedruckten Vorlesungen über das »Wesen des Christentums« den eigenen religiösen Standpunkt zu erklären: »Mit Deiner Kritik des ›modernen Christentums‹ treffe ich, von der andern Seite kommend, auf demselben Punkte zusammen. Es ist nicht anders, als wie es mein a­ lter­ Basler Freund und Gönner Overbeck in seiner jüngsten Flugschrift gegen Harnack und Co. bezeichnet: diese Leute wollen vor allen Dingen als moderne Menschen leben, die alten Christen aber wollten für ihr Christentum sterben; und Harnack beweise mit seinem ›Wesen‹ eigentlich nur die Unwesentlichkeit des Christentums für ihn und die Seinen. (Overbeck steht selbst noch viel weiter links, so weit links, daß man gesagt hat, er sei eigentlich schon wieder rechts.) Mir ist dieses Gebildet- und Christlichtun zugleich, dieses ewige Unterschieben neuer Begriffe unter alte Worte, dieses Glattmachen und Auswattieren alter Ecken und Kanten in tiefster Seele zuwider. Es ist unaufrichtig, unhistorisch, wie nur etwas. Aber der Erfolg, den dieser wässerige Aufguß hat, ist nicht zu verwundern. Harnack verwandelt die enge Pforte in ein breites Flügeltor und den schmalen Weg in eine breite, asphaltierte Chaussee; er gibt der­ großen Masse der sogen. Gebildeten die angenehme Zusicherung, daß sie an sich und ihren Gewohnheiten nicht das Mindeste zu ändern brauchen, und sich darum doch auch als Christen fühlen dürfen. Eine Religion, die keine Ansprüche stellt, keine Forderungen erhebt; und das soll das ›Wesen‹ sein! Harnack wird nach Jahrhun­derten genannt werden, wenn man den Superlativ der geistigen Verflachung bezeichnen will. Seinen Hauptzweck, berühmt zu sein, hat er damit erreicht, aber auf einem bedenklichen Wege.«121

119 Johannes Haller an Franz Overbeck, 7.  April 1904: UB Basel, Overbeckiana I 137 bzw.­ Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  124. Overbeck wiederum äußerte gegenüber Haller ausdrücklich die Absicht, sich für die Ausführung des Plans einer profanen Kirchen­geschichte auch auf Hallers in »Papsttum und Kirchenreform« gewonnenen Ergebnisse zu stützen: vgl. Franz Overbeck an Johannes Haller, 4. April 1904: UAT 305/20. 120 Vgl. Kapitel II.2. 121 Johannes Haller an Anton Haller, 10. Mai/27. April 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 105.

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Mit der Bemerkung, Overbeck stehe soweit links, dass er fast schon wieder als rechts durchgehe – eine Formulierung, die an die verschiedenen politischen Bestrebungen der Zwischenkriegszeit erinnert, ursprünglich linke mit ursprünglich rechten Vorstellungen zu verbinden und die auch schon im 19. Jahrhundert verbreitet war122 – zielte Haller offenbar darauf ab, dass Strenggläubige und religiöse Skeptiker einander wegen ihres Ernstnehmens der christlichen Tradition näher stünden als der liberalen Theologie mit ihren Umdeutungsversuchen. Der Historiker Haller konnte mit Hilfe dieser Überlegung seinem Vater erklären, dass sie sich beide gegen die »moderne Theologie« einig waren, die Texte der religiösen Überlieferung in ihrem historischen Sinn zu verstehen, und dass Haller im Gegensatz zu seinem Vater »lediglich« die Wahrheit der Überlieferung nicht einzusehen vermochte. Haller hat zeitlebens an diesem religiösen Skeptizismus festgehalten, der sich in bestimmter – vor allem in kirchenpolitischer – Hinsicht mit den »Konservativen« einig wusste.123 Durch Franz Overbeck verschaffte er sich über diesen Standpunkt endgültige Klarheit. In Hallers Basler Zeit wurden aber nicht nur seine politischen und seine­ religiös-theologischen Auffassungen entscheidend geprägt, sondern hier lernte er auch Elisabeth Fueter kennen, die er 1904 heiratete. Wann genau die beiden sich zum ersten Mal begegneten, lässt sich nicht mehr feststellen, da vor 1904 keine Briefe überliefert sind und Haller sich in dieser Hinsicht auch in seinen Lebenserinnerungen weitgehend ausschweigt.124 Anknüpfungspunkte waren allerdings zahlreich vorhanden, da die aus einer angesehenen bürgerlichen Familie stammende Elisabeth Fueter einerseits Schwester des Historikers Eduard Fueter125, andererseits Cousine des Historikers Matthias Gelzer126 war. 122 Vgl. dazu Bloy, Zu den Gemeinplätzen, S. 316 f., der den Satz »Die Extreme berühren einander« zu den Gemeinplätzen zählt und darüber ausführt: »Alle Bürger werden Ihnen sagen, daß zwischen den Extremen auch nicht eine einzige Haaresbreite liegt. Eben­deshalb haben sie Angst davor und empfehlen das Mittelmäßige, das juste milieu, den guten Durchschnitt, der das Pulver nicht erfunden hat, weil sie aus der Tiefe ihrer Weisheit davon überzeugt sind, daß die Maulwürfe keinen Augenarzt brauchen und die Kröten den Sonnenstrahlen weniger ausgesetzt sind als die Einhörner oder die Adler.« 123 Vgl. dazu die Kapitel VIII.2. und IX. 124 Vgl. die einzige diesbezügliche Bemerkung Hallers in Haller, Lebenserinnerungen, S. 199: »Dennoch habe ich keinen Grund, das Basler Intermezzo zu bereuen. Abgesehen von ganz persönlichem Gewinn waren es lehrreiche Jahre.« Haller hatte sich nach eigenem Bekunden bereits mit dem Junggesellendasein abgefunden: vgl. Johannes Haller an Helene Haller, 31./9. Dezember 1895: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 48. Vischer, Eine Buchrezension, S.  494, vermutet, dass Haller an den anscheinend zahl­ reichen Hauskonzerten der musikbegeisterten Familie Fueter teilnahm. 125 Grundlegend zu Eduard Fueter vgl. Peyer, Der Historiker Eduard Fueter. Die Behauptung von Pfeil, Vorgeschichte und Gründung, S. 39, Anm. 72, dass Haller sich 1897 in Basel bei Fueter habilitiert habe, ist irrig, da sich der elf Jahre jüngere Fueter selbst erst 1903 habilitierte. Wesentlich plausibler ist daher, dass Fueter in Basel zu Hallers Studenten gehörte (so Schellakowsky, Haller, S. 234, sowie Vischer, Eine Buchrezension, S. 493). 126 Zur Beziehung zwischen Haller und Gelzer vgl. Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 274, dort auch weiterführende Literaturhinweise auf Gelzer.

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Trotz aller unbestreitbaren Erfolge und bereichernden persönlichen Begegnungen war Haller in Basel unzufrieden. Das hatte auch mit objektiven Schwierigkeiten zu tun  – so waren die Lehrveranstaltungen Hallers in Basel relativ schlecht besucht, was angesichts des ausbleibenden Hörergeldes finanziell problematisch war  –, die Hauptursache scheint aber darin zu liegen, dass Haller weiterhin grundsätzlich mit seinem Schicksal haderte. 1899 schrieb er seiner Halbschwester Helene einen knappen, deprimierten Statusbericht: »Von den Aeußerlichkeiten wirst Du ja wissen: wenig Vorlesungen, etwas Zeitungsarbeit – etwas, d. h. wenig für einen Journalisten, der sonst nichts ist, viel zu viel für jemand, der eigentlich ganz etwas anderes sein soll, – das ist der Rahmen. Menschliche Beziehungen schwach, d. h. viel Wolwollen und Freundlichkeit von einigen wenigen, etwas allgemeiner geselliger Verkehr, und tausend Dornen und Widerhaken auf allen Seiten. Das ist die Situation, mit der ich vorlieb zu nehmen mich entschlossen habe, weil sie mir damals mit Berlin verglichen als das geringere Uebel erschien. Ob ich heute noch so dächte, weiß ich nicht, ist aber gleichgültig. Im Grunde gleicht meine Lage einem latenten Krankheitszustande, der jeden Tage wieder akut werden kann. Man muß nicht daran rühren, möglichst wenig daran denken, und deshalb mag ich auch nicht davon reden. Es kommt vielleicht einmal eine Zeit, wo auch dieses, wie so vieles andre, zum Vergangenen gehört, und dann mag die Berichterstattung nachfolgen.«127

Es ist nicht ganz klar, was Haller damals genau wollte, abgesehen davon, dass er sich einen besseren Fortgang seiner akademischen Karriere gewünscht hätte. Am Ende der dreijährigen Anstellung für das Basler Urkundenbuch stand jedenfalls weder eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Wackernagel bzw. der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft noch eine universitäre Anstellung. Mit den Wackernagels kam es sogar zum förmlichen Bruch, als Frau Wackernagel Haller vorwarf, selbst am Scheitern seiner Basler Pläne schuld zu sein und Haller nicht nur erwiderte, dass er besser gar nicht erst nach Basel gegangen wäre, sondern dies auch mit persönlichen Vorhaltungen verband.128 127 Johannes Haller an Helene Haller, 12. März/28. Februar 1899: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 64. 128 Vgl. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 12.  April 1900: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 66; vgl. Johannes Haller an Elisabeth Wackernagel-Burckhardt, 12. April 1900: Staatsarchiv Basel-Stadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 67: »Sie machen mir den Vorwurf, ich hätte durch mein Verhalten eine günstigere Entwicklung der Dinge verhindert. Ich mag mancherlei verfehlt haben, aber daß dies an dem Schlußresultat nur einen Finger­ breit geändert hätte, kann ich nicht glauben. Mein erster Eindruck war, daß das Ein­gehen auf die Basler Anträge ein Fehlschritt gewesen, und dieser Eindruck hat sich mir mit jedem Tage verstärkt. Ich habe immer mehr begreifen müssen, warum es verkehrt war, etwas zu versuchen, was nach der Lage der Dinge und Art der Menschen unmöglich war. Ich habe trotzdem ausgehalten, und mußte zum Schluß finden, daß dies ein noch größerer Fehler war. Käme es mir darauf an, alles auszusprechen, was ich denke, so könnte ich wol eine lange Reihe von Thatsachen anführen, die nicht zu meinen Ungunsten sprechen.

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Dafür war Haller als politischer Journalist so erfolgreich, dass seine Zeitung ihm 1900 einen Zweijahresvertrag anbot. Doch auch dies behagte ihm nicht, da er – wohl zu recht – fürchtete, mit einer Annahme des Angebots seiner akademischen Laufbahn endgültig den Todesstoß zu versetzen. Er wandte sich­ daher an Max Lenz mit der verzweifelten Frage, ob die Preußische Akademie der Wissenschaften ihm nicht einen neuen Forschungsauftrag für ein kleineres Thema – etwa die päpstlichen Kameralakten des 14. und 15. Jahrhunderts – in Rom erteilen könne. Er sehe inzwischen ein, dass es ein Fehler gewesen sei, drei Jahre zuvor der römischen »Tretmühle« entflohen zu sein; sehe er doch, dass alle seine ehemaligen Kollegen mittlerweile feste Stellen hätten.129 Das von Haller vorgeschlagene Thema stieß zwar auf wenig Gegenliebe, anscheinend wegen des fehlenden unmittelbaren Bezugs zu Preußen, aber Haller erhielt schließlich doch, zum April 1901, eine neue Anstellung als Bibliothekar des Preußischen Historischen Instituts in Rom.130

Aber ich halte nichts von Recriminationen bei unabänderlichen Dingen, und hätte auch heute geschwiegen, wenn Sie mir nicht ganz ausdrücklich vorgeworfen hätten, daß ich durch kaltes und hochfahrendes Benehmen es Ihnen – und wie ich verstehen muß, auch andern  – unmöglich gemacht habe, in ein richtiges Verhältnis zu mir zu kommen. Ich muß diesen Vorwurf zurückweisen, und finde ihn gerade von Ihrer Seite weniger be­ rechtigt, als von irgend einer anderen. Sie klagen, ich hätte keine Vertraulichkeit auf­ kommen lassen. Das hat Sie aber doch nicht gehindert, sich meiner intimsten Angelegenheiten – oder was Sie dafür halten mochten – in einer Weise anzunehmen, die ein anderer vielleicht nicht so ruhig ertragen hätte, wie ich es aus Freundschaft und Dankbarkeit für Ihren Mann gethan habe.« Da nur eine Seite dieses Briefwechsels erhalten ist, kann die »Schuldfrage« hier nicht geklärt werden. Haller erwarb sich allerdings auch anderswo rasch den Ruf, »schwierig« zu sein. Immerhin machte er bereits im Januar 1897 gegenüber seiner Halbschwester Helene Andeutungen, dass ihm die Wackernagels etwas zu aufdringlich seien: »Kennst Du den Fall, wo man sich selbst die Entfernung von anderen, ganz sympathischen, ganz werten Leuten doch ein ganz klein wenig weiter wünscht, als diese selbst? Es ist dann eine höchst schwierige Sache, die Distanzierung richtig zu stellen, ohne abzustoßen.« (Johannes Haller an Helene Haller, 1. Januar 1897/20. Dezember 1896: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 63.) 129 Johannes Haller an Max Lenz, 7. Januar 1900: Staatsbibliothek zu Berlin, NL Max Lenz bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 65. 130 Vgl. dazu Haller, Lebenserinnerungen, S.  132. Dort schreibt Haller auch, dass sich das von ihm vorgeschlagene Thema dadurch erledigt habe, dass es von der Görres-Gesellschaft übernommen worden sei. Kurz vor seinem Wiederumzug nach Rom ging Haller aller­dings noch davon aus, das Thema selbst zu bearbeiten: vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 10.  Februar/28.  Januar 1901: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes­ Haller, Nr. 68.

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6. Ein Kampf um Rom 1901–1902 Haller kehrte zu einem Zeitpunkt nach Rom zurück, als sich das Preußische Historische Institut in einer kritischen Phase befand.131 Im Sommer 1901 verließ der Erste Sekretär Walter Friedensburg, der 1892 Ludwig Quidde nachgefolgt war, das Institut und hinterließ damit eine Leerstelle, um die heftig gestritten wurde. Am 11. Januar 1901 war nämlich in der Münchener Allgemeinen Zeitung ein anonymer Artikel erschienen, dessen Autor scharf gegen das Preußische Historische Institut polemisierte und umfassende Reformen forderte.132 Kritisiert wurde, dass das Institut in seiner gegenwärtigen Gestalt nicht mehr als ein Publikationsorgan der preußischen Archivverwaltung sei. Seine natürliche Aufgabe müsse es dagegen sein, die Archivbestände zuerst im Vatikan, dann in ganz Italien systematisch zu sichten und eine Anlaufstelle für deutsche Historiker zu werden, die zur italienischen Geschichte forschen wollen. Dazu brauche man erstens an der Spitze einen Gelehrten von Rang, zweitens ein Stipendiensystem, das die besten Nachwuchshistoriker nach Rom locke und drittens die Umwandlung des Instituts von einem preußischen in ein Reichsinstitut. Autor des Artikels war der Historiker Paul Fridolin Kehr, auf den das­ Göttinger Papsturkundenwerk zurückgeht und der sich nicht zuletzt deshalb selbst Hoffnungen auf die Friedensburg-Nachfolge in Rom machte.133 Seine inhaltliche Kritik am Institut jedenfalls wurde allgemein geteilt; die Kollegen Georg von Below, Karl Brandi und Goswin Freiherr von der Ropp initiierten eine Kehrs Forderungen weitgehend entsprechende Eingabe an den Reichskanzler, die von insgesamt etwa 600 Historikern unterzeichnet wurde. Im Hinblick auf die Personalentscheidung der Preußischen Akademie der Wissenschaften war die Eingabe für Kehr allerdings kontraproduktiv, weil der Streit um die Leitung des Instituts dadurch zu einem Politikum wurde und Kehr kaum mehr als Kompromiss- oder Konsenskandidat infrage kam. Der Konflikt wurde noch durch die konfessionelle Frage verstärkt, da Kehrs Hauptkonkurrent, Aloys Schulte, Katholik war.134 In der Hochphase der sogenannten Paritätsdiskussion über die gleiche Berücksichtigung von Protestan131 Die Geschichte des Instituts wurde gerade für diese Phase bereits relativ detailliert erforscht (Braubach, Aloys Schulte in Rom; Schubert, Auseinandersetzungen; Burchardt, Gründung und Aufbau). Im Folgenden wird daher nur ein knapper Überblick geboten und darüber hinaus lediglich die besondere Rolle Hallers detaillierter untersucht, was­ allerdings das Gesamtbild durchaus um einige neue Facetten zu erweitern geeignet ist. 132 Kehr, Das Preußische Historische Institut in Rom, S. 1–4. 133 Eine wissenschaftliche Biographie über Kehr existiert bislang nicht. Einen Überblick über das Leben Kehrs bietet Schieffer, Paul Fridolin Kehr; dort wird auch auf die weitere Literatur verwiesen. Zum Zusammenhang von Papsturkundenwerk und Historischem Institut in Rom vgl. Matheus, Das Deutsche Historische Institut. Grundsätzlich zum Papsturkundenwerk vgl. Hiestand, 100 Jahre Papsturkundenwerk. 134 Zu Aloys Schulte vgl. Braubach, Aloys Schulte.

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ten und Katholiken vor allem im öffentlichen Dienst – die besonders bekannte Berufung des katholischen Historikers Martin Spahn nach Straßburg fand ebenfalls 1901 statt – war dem Preußischen Historischen Institut in Rom damit die Aufmerksamkeit der Presse sicher.135 Besonders kompliziert wurde die Lage dadurch, dass Schulte zwar von Regierungsseite bevorzugt wurde, aber ­wegen seines betont »unkonfessionalistischen« Auftretens bei weitem nicht für alle Teile des politischen Katholizismus der Wunschkandidat war.136 Als Haller im April 1901 seinen Dienst in Rom antrat, befand er sich in einer relativ günstigen Position, da man ihn von allen Vorwürfen gegen das Institut ausdrücklich ausgenommen hatte.137 In den ersten Monaten beschäftigte ihn der Streit daher kaum, vielleicht auch deshalb, weil Friedensburg erst im Sommer Rom verließ, vor allem aber wohl, weil er sich auf die geplante wissenschaftliche Arbeit konzentrieren wollte.138 Doch schon im Juni äußerte er die Be­fürchtung, dass die öffentliche Debatte dem Institut langfristig eher schaden als nutzen werde; vor allem hielt er die Vorgehensweise von Kehr für unklug.139 Kehr selbst muss aber einen erheblichen Eindruck auf Haller gemacht haben, als er im Sommer 1901 mehrfach nach Rom reiste; in der zweiten Jahreshälfte 1901 hoffte Haller nämlich darauf, dass Kehr die Friedensburg-­Nachfolge antreten werde.140 Die Ernennung Schultes zum provisorischen Institutsleiter Ende 1901 be­ dauerte Haller, und zwar weniger wegen inhaltlicher Differenzen als wegen Schultes Konfession. Da aber zwischenzeitlich mit Goswin Freiherr von der Ropp ein noch »katholischerer« Kandidat im Gespräch gewesen war, nahm er Schulte 135 Zur Paritätsdiskussion und bes. zum Fall Spahn vgl. Strötz, Wilhelm II., S. 184–191; Huber/ Huber, Staat und Kirche III, S.  189–201; Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II., S. 97 f. 136 Vgl. dazu etwa die Meldung der Ernennung Schultes zum Institutsleiter in der Nationalzeitung Nr. 425 vom 12. Juli 1902; vgl. auch Haller, Lebenserinnerungen, S. 135. 137 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 4. April/22. März 1901: UAT 305/35 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  69. Auf Haller war folgende Stelle in Kehrs Artikel bezogen: »Denn die archivalischen Jünglinge, welche jetzt durch die Straßen der ewigen Stadt nach dem Vatikanischen Archiv wandeln, um dort gestern wie heute und heute wie morgen inmitten der reichsten Fülle und Mannichfaltigkeit historischer Ueberlieferungen immer dasselbe einförmige Material zu registriren und zu kollationiren, sind unzweifelhaft sämmtlich tüchtige und fleißige Beamte und gewiß auch zukünftige Zierden der preußischen Archivverwaltung, aber die Meisten von ihnen empfinden selbst die innere Dissonanz zwischen ihrem Wissen und Wollen und dem, was Rom ihnen bietet und darum auch von ihnen fordert: nur Einer von so Vielen hat eigenen wissenschaftlichen Sinn und höheres Talent gezeigt.« (Kehr, Das Preußische Historische Institut in Rom, S. 3.) 138 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 5. Mai/22. April 1901: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 70. 139 Vgl. Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 2. Juni 1901: BArch, N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 71. 140 Vgl. Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 4.  November 1901: BArch, N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 72.

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als das »geringere[] Übel« hin, zumal dieser ein »angesehener Fachmann« sei.141 Doch auch der angenehme persönliche Umgang mit Schulte konnte die Vorbehalte Hallers gegenüber einem Katholiken nicht ausräumen: »Der ›neue Herr‹, Prof. Schulte, ist persönlich nicht übel, von ausgesuchter Höflichkeit; was man gewöhnlich einen netten Menschen nennt. Ein gewisses Mistrauen bringt unsereins natürlich dem Katholiken entgegen; das kann ja nicht anders sein und ist bei mir, obwol ich mich von aller Feindseligkeit gegen die fremde Confession frei weiß, auf Grund von Beobachtungen und Erfahrungen erwachsen.«142

Völlig unverständlich war es für Haller, dass Schulte mit Unterstützung des evangelischen Kirchenhistorikers Adolf Harnack ernannt worden war, der infolge einer Umbildung der für das Preußische Historische Institut in Rom zuständigen Kommission der Berliner Akademie bei der Entscheidung mitge­ wirkt hatte: »Nebenbei gesagt, eine merkwürdige Position; der protestantische Theologe, der als Beauftragter der Centrumspuppe Bülow einen prononciert kathol. Historiker zum Director der Forschungen beim Vatikan macht. Es geht eben alles drunter und drüber im h. deutschen Reiche preußischer Nation.«143

Es liegt allerdings die Vermutung nahe, dass Haller den eigenen protestantischen Konfessionalismus hier gegenüber seinem Vater, dem lutherischen Pfarrer, überbetont hat. Schon im Januar 1902 nämlich äußerte sich Haller wesentlich positiver über Schulte, dem der Rat des romerfahrenen Haller anscheinend wichtig war.144 Offenbar gefiel Haller das Gefühl der eigenen Unentbehrlichkeit angesichts des Umstandes, dass Schulte sich nicht nur kaum in Rom auskannte, sondern auch so gut wie kein Italienisch sprach.145 Im März klagte Haller bereits darüber, dass Schulte angekündigt habe, nur drei Jahre – und nicht länger  – in Rom bleiben zu wollen, während Kehr fortwährend Angriffe gegen das Institut führe.146 Ende Mai 1902 schrieb Haller dem für Verhandlungen nach Berlin gereisten Schulte, dass er seinen Verbleib am Institut von der angestrebten Vergrößerung des Institutsetats ebenso abhängig machen müsse wie von einer Autonomisierung des Instituts gegenüber der Berliner Akademie, da beides Voraussetzungen für eine Verbesserung der eigenen Stelle seien – von 141 Johannes Haller an Anton Haller, 6.  Dezember 1901: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 73. 142 Johannes Haller an Anton Haller, 22.  Dezember 1901: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 74. 143 Ebd. 144 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 19.  Januar 1902: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 75. 145 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 16.  März 1902: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 76. 146 Vgl. Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 16. März 1902: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 77.

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Schwierig­keiten Hallers mit Schulte als Person war zu diesem Zeitpunkt nichts zu spüren.147 Es ist daher verständlich, dass Schulte aus allen Wolken fiel, als Haller am 15. Juli 1902, nachdem offiziell geworden war, dass Schulte zum Oktober des Jahres die Leitung des Instituts dauerhaft übernehmen würde, seine Kündigung mitteilte.148 Im Laufe des Monats Juni 1902 scheint Haller im »Kampf um Rom«149 innerlich die Seiten gewechselt oder zumindest sich für eine Seite – nämlich diejenige Kehrs – entschieden zu haben. Möglicherweise spielte dabei die für Haller schmeichelhafte Positionierung neben den beiden Extraordinarien Karl Hampe und Karl Brandi auf der Berufungsliste für die Göttinger Professur für deutsche Geschichte eine Rolle; am 20. Juni 1902 jedenfalls sprach Haller bereits von der protestantischen als der eigenen, von Friedrich Althoff geführten Partei mit Kehr als Kandidaten für Rom.150 Ebenfalls Ende Juni 1902 setzte dann ein intensiver Briefwechsel zwischen Haller und Kehr ein, der bis Anfang 1904 andauerte und der wertvolle Einblicke in die Tätigkeit Hallers für die Kehr-Partei liefert.151 Schon am 1. Juli 1902 bekannte Haller: »Daß Sie mein Vertrauen besitzen, das wissen Sie wol; Sie besitzen aber auch meine herzliche Dankbarkeit, und wenn es von meiner Seite anmaßend wäre, das Wort Freundschaft zu brauchen, so darf ich doch das Geständnis aussprechen, daß Sie an mir einen treuen Anhänger haben, der nur auf die Gelegenheit wartet, durch die That Beweise zu geben für seine Gesinnung.«152

Hallers Hoffnung ging zu diesem Zeitpunkt noch dahin, in Rom hinter Schulte die zweite Position zu erhalten und damit ein protestantisches Gegengewicht zu bilden, dabei seinen Einfluss so zu stärken, dass Schultes Nachfolger kein weiterer Katholik werden könne. Den dritten Platz hinter Schulte und dem lang­ 147 Vgl. Johannes Haller an Aloys Schulte, 29.  Mai 1902: Bonn, Universitäts- und Landesbibliothek, Hss. u. Rara, S 2761 [NL A. Schulte] bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 78. 148 Vgl. Johannes Haller an Aloys Schulte, 15.  Juli 1902: Bonn, Universitäts- und Landesbibliothek, Hss. u. Rara, S 2761 [NL A. Schulte] bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 82. 149 So nannte Haller die Auseinandersetzung in ironischer Anspielung auf Dahn, Ein Kampf um Rom. Siehe dazu weiter unten in diesem Kapitel. 150 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 16.  März 1902: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 76; vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 20./7. Juni 1902: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  79. Grundlegend zu Karl Hampe: Reichert, Gelehrtes Leben; zu Karl Brandi vgl. Schnath, Karl Brandi. 151 Für den Bestand des Briefwechsels zwischen Haller und Kehr sind zwei Archive einschlägig: die Kehr-Briefe befinden sich im Teilnachlass Hallers im Bundesarchiv Koblenz (BArch N 1035/21), die Haller-Briefe an Kehr befinden sich in Kehrs Nachlass im Ge­ heimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin (GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller). 152 Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 1. Juli 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 80.

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jährigen Institutsmitarbeiter Karl Schellhass betrachtete er als unzumutbar, weil er von dieser Stelle aus weder für das Institut noch für die eigene akademische Karriere Nützliches tun könne. An Reinhold Koser, der als Direktor der preußischen Staatsarchive Hallers Vorgesetzter war, schrieb er in Absprache mit Kehr, dass er eine Besserung seiner Position in Rom wünsche und andernfalls seine Kündigung einreichen müsse.153 Als Koser sich mit einer Antwort Zeit ließ und zeitgleich eine offizielle Ernennung Schultes zum neuen Institutsleiter von der Presse vermeldet wurde, entschloss Haller sich, Schulte von seiner Bitte um Entlassung in Kenntnis zu setzen: »Dieser Schritt, der Sie vielleicht überraschen wird, ist nur die Ausführung eines­ Gedankens, den ich seit Monaten mit mir herumtrug, und der nun in den letzten­ Wochen zur Reife des Entschlusses gediehen ist. Ueber die Gründe will ich Ihnen mit der Offenheit Auskunft geben, die ich Ihnen, nach Ihrem freundlichen Verhalten gegen mich, schuldig zu sein glaube. Sie bestehen in nichts anderem, als daß ich fürchte, mit Ihnen auf die Dauer nicht in der Harmonie zusammenarbeiten zu können, ohne die eine Anstalt, wie das Römische Institut, nicht gedeihen kann. Ich bitte Sie, das nicht als einen persönlichen Vorwurf aufzufassen, als wenn Sie mir Anlaß zu nennenswerten Beschwerden gegeben hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Für die Liebenswürdigkeit, die Sie mir gegenüber im persönlichen Verkehr bewiesen haben, kann ich Ihnen nur danken.«154

Koser unternahm erwartungsgemäß nichts, um Haller aufzuhalten und sagte ihm lediglich zu, eine eventuelle Kündigung zum 1. Oktober 1902 zu akzeptieren.155 Dafür versuchte Schulte, Haller vom Bleiben zu überzeugen, was dieser jedoch mit dem Hinweis ablehnte, eine Position als an dritter Stelle Geduldeter entspreche nicht seinen langfristigen Vorstellungen.156 Auch Max Lenz bat­ Haller inständig, seine Entscheidung zu überdenken, mit der er alles Wohlwollen der preußischen Regierung verspiele.157 Sowohl Lenz als auch Kehr setzten sich bei Koser für Haller ein, und Kehr gelang es auch, Haller dazu zu bringen, 153 Vgl. Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 6. Juli 1902: BArch N 1035/21; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 7. Juli 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 81; vgl. außerdem Johannes Haller an Max Lenz, 7. Juli 1902: BArch N 1035/22. 154 Johannes Haller an Aloys Schulte, 15. Juli 1902: Bonn, Universitäts- und Landesbibliothek, Hss. u. Rara, S 2761 [NL A. Schulte] bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 82. 155 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 20. Juli 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 83. 156 Vgl. Johannes Haller an Aloys Schulte, 24.  Juli 1902: Bonn, Universitäts- und Landesbibliothek, Hss. u. Rara, S 2761 [NL A. Schulte] bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 84. 157 Vgl. Max Lenz an Johannes Haller, 24. Juli 1902: BArch N 1035/22; vgl. Johannes Haller an Max Lenz, 29. Juli 1902: BArch N 1035/22 (eigenhändiges Briefkonzept); vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 29. Juli 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 86.

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seine konkreten Bleibebedingungen zu nennen: Haller forderte eine Position weniger hinter als neben Schulte, in der Titulatur mit diesem gleichgestellt und nicht diesem, sondern direkt der Kommission in Berlin zugeordnet.158 Hallers Fall war zu diesem Zeitpunkt längst ein politisches Instrument in einem wissenschaftspolitischen Kampf geworden, in dem es neben der konfessionellen Frage auch um bloße Machtinteressen ging und in dem als Hauptakteure anscheinend Reinhold Koser auf der einen, Friedrich Althoff auf der anderen Seite standen. Ob Althoff oder Lenz im August 1902 ernsthaft daran dachten, den Streit um Haller zu benutzen, um die Ernennung Schultes zum­ Institutsdirektor in letzter Minute doch noch zu verhindern, steht dahin; in­ jedem Fall sollte die Position Schultes geschwächt werden. Kehr glaubte schon nicht mehr an einen Erfolg in Rom und riet Haller daher am 11. August, innerlich mit dem Institut abzuschließen.159 Hallers Vorgehen, so kurzfristig in Rom zu kündigen, ohne eine konkrete­ berufliche Alternative zu haben, erscheint aber nur auf den ersten Blick sehr riskant. Gerade die politische Aufladung des ganzen Konflikts kam Haller in dem Moment zugute, als er sich für eine Partei entschied, da er nun mit deren Unterstützung rechnen konnte. Hallers forsches Auftreten gegenüber der Berliner Akademie erklärt sich ohnehin nur daraus, dass er Kehr hinter sich wusste, mit dem er bereits seit längerem verschiedene Zukunftspläne entworfen hatte.160 Entscheidend wurde allerdings die Fürsprache des wissenschaftspolitisch so einflussreichen Friedrich Althoff, der Haller kurzerhand und gegen den Willen der betroffenen Fakultät noch im August eine außerordentliche Professur in Marburg verschaffte, pünktlich zum 1. Oktober 1902.161 Auch Haller war der rein politische Charakter der ganzen Auseinandersetzung Ende August klar; seinem Vater stellte er die Konstellation und die Umstände seiner Marburger Ernennung folgendermaßen dar: »Die Sache ist dadurch zustande gekommen, daß zwischen dem Cultusministerium (Althoff – […]) und der Archivverwaltung (Koser) ein heftiger Krieg um das Institut gespielt hatte – der Kampf um Rom – in dem Althoff geschlagen wurde. Darob auf seiner Seite heftiger Zorn, vor allem gegen Schulte, den er überhaupt nicht mag. Also war ihm jeder willkommen, der Schultes Stellung schwächte, und da ich dies durch meinen Abgang that, so war ich in seinen Augen etwas wert und er ließ sich angele-

158 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 3. August 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 88. 159 Vgl. Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 11. August 1902: BArch N 1035/21. Die tatsächliche Kündigungsbestätigung datiert vom 4.  September 1902 (Reinhold Koser an­ Johannes Haller, 4. September 1902: UAT 305/22). 160 Vgl. Kapitel V.1. 161 Die entscheidende Besprechung fand offenbar am 23. August 1902 statt; vgl. dazu Johannes Haller an Friedrich Althoff, 21. August 1902: GStA, VI. HA, Nl Althoff, B, Nr. 61, 3. Vgl. außerdem Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 26. August 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 93.

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gen sein, für mich zu sorgen. In Marburg war das Extraordinariat schon seit ½ Jahre frei; die Facultät hatte einen Juden vorgeschlagen, den die Regierung nicht wollte. Althoff veranlaßte sie, mich ebenfalls vorzuschlagen, und so wurde ich berufen. Der vielgeschmähte Mann ist also mein Protector gewesen […].«162

Als eine Art Gegenleistung wird man die Denkschrift über das Preußische Historische Institut zu verstehen haben, die Haller am 1. September 1902 auf die Bitte Althoffs hin an diesen schickte.163 Er fasste darin noch einmal die wesentlichen Vorbehalte gegen Schulte als Institutsleiter zusammen – mangelnde Kenntnis der italienischen Verhältnisse bzw. der Sprache, kein erkennbares Bemühen, sich wirklich in Rom einzuleben – und empfahl nachdrücklich Paul Kehr als herausragenden Forscher und Italien-Kenner. Vor allem aber versuchte Haller, die Auseinandersetzung wieder auf die wesentliche Sachfrage zurückzuführen, nämlich diejenige nach den inhaltlichen Aufgaben des Instituts. Sowohl Schulte als auch Koser seien der irrigen Auffassung, das Preußische Historische Institut in Rom habe sich auf Themen der deutschen Geschichte zu beschränken. Das sei aber nicht nur unpraktikabel – weil nämlich gar nicht genug »deutsches« Material im eigentlichen Sinne im Vatikanischen Archiv vorhanden sei –, sondern vor allem laufe das Institut damit Gefahr, gegenüber Einrichtungen wie dem­ römischen Institut der Görres-Gesellschaft massiv an wissenschaftlicher Bedeutung zu verlieren: »Darum gilt es jetzt – es ist die höchste Zeit –, den alten, engen Rahmen zu beseitigen und dem Preußischen Institut die Losung zu geben: was geeignet ist, die deutsche Geschichtswissenschaft zu fördern, ihr aus italienischen Quellen neuen Stoff und neue Anregung zu geben, – alles das ist eure Aufgabe!«164

Das sei unter Schulte nicht möglich, da dieser ganz grundsätzlich größeren­ Forschungsvorhaben gegenüber skeptisch sei und lieber kleinere Detailstudien betreibe. Und nicht einmal die Hoffnung, mit einem Katholiken an der Spitze des Instituts die Beziehungen zum Vatikan und zur Görres-Gesellschaft zu verbessern, habe sich erfüllt, da Schulte bislang außerstande gewesen sei, entsprechende Kontakte zu knüpfen. Das hänge aber nicht nur mit Schultes Charakter zusammen, der ihn überhaupt für eine derart exponierte Führungsposition ungeeignet mache, sondern auch damit, dass man nicht bedacht habe, dass ein liberaler Katholik wie Schulte dem Vatikan in mancher Hinsicht noch miss­ liebiger sei als ein Protestant. Man könnte diesen scharfen Angriff Hallers als vergeblichen nachträglichen Protest vonseiten der bereits geschlagenen Schulte-Gegner abtun, wenn sich nicht eine besonders interessante Randnotiz von der Hand Adolf Harnacks – der eigent162 Johannes Haller an Anton Haller, 30./17. August 1902: UAT 305/35. 163 Johannes Haller an Friedrich Althoff, 1. September 1902: GStA, VI. HA, Nl Althoff, A I, Nr. 198 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 96. 164 Ebd.

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lich als Befürworter Schultes galt – auf dem ersten Blatt der Denkschrift befinden würde: »Mit großem Interesse gelesen. Die Beobachtungen des Hrn Haller machen den Eindruck des Zutreffenden. Wie ich schon immer vermutet habe, ist er der Mann, der schließlich nach Rom an die leitende Stelle gebracht werden muß.«165 Das beweist nicht nur die Wirkung des Hallerschen Gutachtens, sondern lässt auch bereits ahnen, dass im »Kampf um Rom« das letzte Wort noch nicht gesprochen war.

165 Ebd. (Randbemerkung Adolf Harnacks.)

V. Gelehrte Isolation (1902–1913) 1. Ein Kampf um Rom – zweite Runde Haller hat in seinen Lebenserinnerungen behauptet, den weiter schwelenden Streit um das Preußische Historische Institut in Rom nach dem Antritt seiner Marburger Professur am 1.  Oktober 1902 nur noch »als Zuschauer aus der Ferne erlebt«1 zu haben. Das entspricht allerdings nicht den Tatsachen. Haller arbeitete vielmehr weiterhin mit Kehr zusammen, der seine Hoffnung auf die Institutsleitung noch nicht aufgegeben hatte. Allerdings ist für die Zeit unmittelbar vor Hallers Stellenantritt tatsächlich eine gewisse Zurückhaltung bei Haller nachweisbar, der seine Kräfte zunächst für die in Marburg auf ihn wartenden neuen Aufgaben sparen wollte. Kehr dagegen riet Haller, sich stattdessen lieber weiterhin auf die gemeinsamen Pläne zu konzentrieren. Davon gab es im Wesentlichen zwei: Entweder sollte Haller der zweite Mann in Rom hinter einem Institutsleiter Kehr werden, oder Haller würde selbst Leiter einer in Paris neu zu gründenden Zweigstelle des Instituts bzw. des Kehrschen Papsturkundenwerks, welche die »Gallia Pontificia« zu bearbeiten hätte.2 Dieser letztere Plan gefiel Haller eine Zeit lang besonders gut, kam aber schließlich nicht zur Ausführung. Grund dafür waren organisatorische, be­ sonders finanzielle, Schwierigkeiten und damit verbunden wohl auch die Befürchtung Hallers, ein zweites Rom zu erleben und beruflich auf der Stelle zu treten, während er in Marburg als akademischer Lehrer Fuß zu fassen begann.3 Dennoch werden diese ersten Sondierungen heute zu recht in die Vorgeschichte des 1958 gegründeten Deutschen Historischen Instituts in Paris eingeordnet.4 Unabhängig von der Frage, ob man Haller deshalb wirklich zu dessen »Gründungsvätern«5 zählen kann, zeigen Hallers Interesse für das Projekt und Kehrs Einschätzung, dass Haller der richtige Mann dafür 1 Haller, Lebenserinnerungen, S. 135. 2 Vgl. Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 20. August 1902: BArch N 1035/21; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 21. August 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 92; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 1. September 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 95. 3 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 1. September 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 95. Vgl. außerdem Pfeil, Vorgeschichte und Gründung, S. 36–43. 4 Vgl. Pfeil, Vorgeschichte und Gründung, S. 25–46; vgl. Pfeil, Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter, hier bes. Martens, Vorwort, und Weiß, Paul Kehr. 5 Vgl. dazu Kaudelka, Johannes Haller, bes. S. 179.

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wäre, wie wichtig Frankreich schon zu diesem Zeitpunkt für das Forschungsprofil Hallers gewesen ist.6 Die römischen Pläne dagegen hatten von Anfang an größere Aussicht auf Verwirklichung. Schon Ende Oktober 1902 diskutierten Haller und Kehr das weitere taktische Vorgehen: ob Kehr sich zunächst formal aus allem, was das Institut betreffe, heraushalten oder seine aktive Beteiligung und Hilfe anbieten solle; ob man irgendein Fehlverhalten Schultes zum Skandal aufblasen oder in Ruhe abwarten solle, bis dieser von selbst die Segel streiche.7 Gegen Hallers Rat, zunächst abzuwarten, entschloss sich Kehr, dem Anfang 1903 neu gebildeten wissenschaftlichen Beirat des Instituts beizutreten.8 Der Beirat begann mit Planungen für die Wiederaufnahme eines Projekts, an dem Haller jahrelang mitgearbeitet hatte und das nach 1901 wegen Nichterfüllung der daran­ geknüpften Erwartungen kassiert worden war: das Repertorium Germanicum.9 Angesichts der Uneinigkeit über Sinn, Zuschnitt und Finanzierbarkeit des Projekts bat der Beirat die bisher daran beteiligten Robert Arnold und Johannes Haller um Gutachten, in denen sie ihre Auffassung darlegen und begründen sollten. Haller legte sein Gutachten am 5.  April 1903 vor.10 Auf 30 Seiten übte er­ umfangreiche Kritik an der bisherigen Arbeitsmethode und vor allem am Aufbau des 1897 erschienenen ersten »Probebandes«; außerdem skizzierte er breit einen Alternativvorschlag, den er sowohl inhaltlich als auch finanziell als wesentlich sinnvoller präsentierte. Haller betonte dabei, dass das Repertorium Germanicum eigentlich das wichtigste Projekt des ganzen Instituts sei, indem es die wissenschaftliche Benutzung eines konkurrenzlos großen Aktenbestandes ermöglichen solle. Der Probeband habe aber die Erwartungen enttäuscht und sogar teilweise dazu geführt, dass das präsentierte Quellenmaterial für­ irrelevant gehalten werde. Das Problem sei aber nicht das Material, sondern die Methode seiner Aufbereitung – Haller vergaß nicht, darauf hinzuweisen, dass er diese Auffassung schon in der Frühphase des Projekts geäußert habe. 6 Vgl. dazu die Kapitel III.2. und VII.5. 7 Vgl. Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 20.  Oktober 1902: BArch N 1035/21; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 21.  Oktober 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 99; vgl. Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 28. Oktober 1902: BArch N 1035/21; vgl. Johannes Haller an Paul F ­ ridolin Kehr, 2.  November 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr.  5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 100. 8 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 8. Februar 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 12. Februar 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 103. 9 Vgl. dazu Kapitel IV.2.; vgl. auch Brosius, Das Repertorium Germancium, S. 143–145. 10 Johannes Haller: Ueber das Repertorium Germanicum, 5. April 1903: DHI Rom – Archiv, Ältere Registratur, Nr. 32, fol. 76–89. Vgl. dazu auch die ausführliche Zusammenfassung des Gutachtens in Brosius, Das Repertorium Germanicum, S. 145–147.

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Die bisherigen Fehler, so Haller, beträfen die inhaltliche, die methodische und die organisatorisch-finanzielle Ebene. Inhaltlich sei die Einschätzung des Materials als vornehmlich von lokalgeschichtlichem Interesse verfehlt, methodisch die chronologische Ordnung, organisatorisch-finanziell der veranschlagte Zuschnitt, der selbst bei großzügiger Schätzung auf einen Gesamtumfang von 60 Bänden hinauslaufe. Das Quellenmaterial biete weniger Aufschlüsse für die Lokalgeschichte als vielmehr für die Personengeschichte des späten Mittelalters, denn in den vatikanischen Beständen finde man biographische Infor­ mationen, die es sonst nirgends gebe. Die chronologische Ordnung verstecke angesichts der Masse an Urkunden das Material eher, daher sei im Prinzip jede andere Ordnung sinnvoller. Was schließlich den Umfang betreffe, so müsse das Repertorium Germanicum wieder zum ursprünglichen Plan zurückkehren, eine bloße Bestandsübersicht zu sein, und aufhören, ein Regestenwerk sein zu wollen. Haller schlug konkret vor, das neue Repertorium Germanicum aus zwei Registern zusammenzusetzen: einem Personen- und einem Ortsregister, jeweils mit einer knappen Schilderung des Kontextes der Erwähnung. Forscher könnten damit feststellen, ob eine gesuchte Person oder ein Ort in einem bestimmten Zeitraum und Kontext in den Archivbeständen auftauche; die weitere Forschung könne dann mit Hilfe der im Institut lagernden Regestensammlungen bzw. mit den Originalquellen im Archiv stattfinden. Dieser Plan erfordere einerseits eine Ausweitung des Zeitraumes  – der Probeband war nur für das Jahr 1431 erschienen  –, insgesamt am besten auf 1316–1527, wobei auch jeder einzelne Band einen größeren Zeitraum in den Blick zu nehmen habe; andererseits eine Beschränkung des präsentierten Materials auf die S­ uppliken- und Kanzlei­ register, also auf das, was für sich besehen nur von geringem Erkenntniswert sei. Ein so angelegtes Repertorium Germanicum eröffne erstens die Möglichkeit für Spezialforschungen zur deutschen Geschichte im vatikanischen Archiv, zweitens sei es von außerordentlichem Wert für übergreifende Fragestellungen zur Entwicklung der Beziehungen zwischen der Kurie und Deutschland am Vorabend der Reformation. Für eine Auswertung so umfangreichen Quellenmaterials müsse man sich unbedingt am methodischen Vorbild der Statistik orientieren. Was Haller hier skizzierte, ist im Grunde ein Vorläufer der sogenannten quantitativen Geschichtsforschung, die die Entwicklung längerer Zeiträume mit Hilfe der statistischen Bearbeitung serieller Quellen untersucht.11 Wie schon im Falle seiner Dissertation ist hier ein besonderes Interesse Hallers nicht nur an methodischen Fragen, sondern vor allem auch an sauberer methodischer Durchführung der geschichtswissenschaftlichen Arbeit erkennbar.12 Die erstaunliche Ausführlichkeit des Gutachtens – Haller machte sogar detaillierte Vorschläge zum Registeraufbau und legte dazu exemplarische Einträge an – erklärt sich daraus, 11 Zur »quantitativen Geschichte« vgl. etwa Furet, Die quantitative Geschichte. 12 Vgl. Kapitel III.2.

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dass Haller damit rechnete, bei einer Wiederaufnahme des Repertorium Ger­ manicum wieder nach Rom berufen zu werden und die Projektleitung zu übernehmen.13 Diese Aussicht wurde im Laufe des Jahres 1903 immer wahrscheinlicher, da der Institutsleiter Aloys Schulte in eine in konfessionspolitisch nach wie vor angespannten Zeiten heikle Angelegenheit verwickelt wurde, die, zum wissenschaftspolitischen Skandal aufgeblasen, letztlich zu seinem Rücktritt führte.14 Den Gegenstand und die Hintergründe dieses Skandals erklärte Haller, der sie von Adolf Harnack erfahren hatte, seinem Vater folgendermaßen: »Schulte hat sich nun endgültig blamiert. Er wollte die Acten des Ablasses von 1517 herausgeben, bekam aber eine solche Angst über die Höhe der Summen, daß er die Regierung mit endlosen Berichten überschüttete, den Gesandten zu Hilfe rief und schließlich vom Reichskanzler den Befehl erhielt, seine Hand von der Sache zu lassen. Das hat Aufsehen und böses Blut gemacht. Das Amüsante aber ist, daß Bülow auf einen privaten Beichtrat seines Pater Josef hin so handelte. Der Pater Josef ist natürlich – Adolf Harnack. Er hat es mir selbst gestanden, als ich ihn in Frankfurt, wo er einen Vortrag über das Papsttum (ziemlich schwach) hielt, deswegen sondierte. Der Fall ist wirklich ergötzlich. Der Papst gibt die Acten heraus, ein kathol. Gelehrter soll sie bearbeiten, und der protest. (oder paritätische) Reichskanzler, auf den Rat eines protest. Theologen, verbietet es. Signatura temporis.«15

Dieser Fall des katholischen Gelehrten, der aus Rücksicht gegenüber dem Vatikan darauf verzichtete, die Akten des Ablassstreites von 1517, also des Ur­datums der Reformation, herauszugeben, machte schon seit Juli 1903 die Runde in der Presse.16 Manches spricht dafür, dass Haller es war, der die ganze Geschichte 13 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 2.  Februar/20.  Januar 1903: UAT 305/35 bzw. Has­selhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  102; vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 9.  April/27.  März 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  104. Haller hat später behauptet, dass die Wiederaufnahme des Repertorium Germanicum­ tatsächlich im Wesentlichen seinen eigenen Vorschlägen entsprochen habe: vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 128. Tatsächlich folgte der wissenschaftliche Beirat unter dem Einfluss Kehrs im Großen und Ganzen dem Hallerschen Gutachten; vgl. dazu Brosius, Das Repertoium Germanicum, S. 147–152. Die Wiederaufnahmen des Projekts 1928 und 1953 führten allerdings wieder zu einer sukzessiven Aufhebung der von Haller vorgeschlagenen Beschränkungen, sodass sich letztlich doch das Konzept Robert Arnolds durchgesetzt hat (vgl. hierzu vor allem Gramsch, Der Bestand, S. 566); das erklärt aber auch, wieso das­ Projekt nach über hundert Jahren Laufzeit noch nicht abgeschlossen ist. Vgl. Brosius, Das Repertorium Germanicum, S. 152–165. 14 So auch Schubert, Auseinandersetzungen, S. 439 und Burchardt, Gründung und Aufbau, S. 371. Braubach, Aloys Schulte in Rom, S. 354, meint dagegen, der Rücktritt Schultes sei seine eigene Entscheidung gewesen angesichts der erkannten Unmöglichkeit, ohne wissenschaftspolitischen Rückhalt das Institut sinnvoll leiten zu können. Faktisch läuft das aber auf dasselbe hinaus, da der Skandal ja eines der Anzeichen für den fehlenden Rückhalt Schultes war. 15 Johannes Haller an Anton Haller, 9.  April/27.  März 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 104. 16 Vgl. dazu Braubach, Aloys Schulte in Rom, S. 545–553.

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durch eine Indiskretion öffentlich gemacht hatte.17 Mitte April 1903 hielt er auf dem Heidelberger Historikertag einen Vortrag über den »Ursprung der gallikanischen Freiheiten«, in den er angeblich einige Nebenbemerkungen über die Schulte-Geschichte einfließen ließ.18 Im September musste Haller sich gegenüber dem preußischen Kultusministerium dafür rechtfertigen und wurde vor allem aufgefordert, seinen Gewährsmann zu nennen: Die ursprüngliche Information war offenbar nicht von Harnack, sondern von Hallers Nachfolger in Rom, Bernhard Bess, gekommen.19 Haller weigerte sich und behauptete zudem, die von ihm in Heidelberg mitgeteilten Tatsachen seien schon seit Frühjahr 1903 in Rom auch unter Journalisten allgemein bekannt gewesen.20 Aus Hallers Briefen ist nicht rekonstruierbar, dass er in Heidelberg vorgehabt hätte, Schulte einen Skandal anzuhängen; und angesichts des Umstandes, dass er sich Kehr gegenüber für das Abwarten und gegen das künstliche Herbeiführen eines Skandals geäußert hatte, ist Hallers Behauptung, zumindest nicht wissentlich Geheimnisse öffentlich gemacht zu haben, durchaus plausibel. Die eigentliche Arbeit, Schulte in den Augen der Öffentlichkeit als Direktor des Königlich ­Preußischen Historischen Instituts in Rom untragbar erscheinen zu lassen, leistete ohnehin Kehr.21 Als der Rücktritt Schultes, der zum 1. Oktober 1903 erfolgte, sich im Sommer bereits immer deutlicher abzeichnete, wurden die alten Pläne Hallers und Kehrs wieder akut. Zuerst ging man wieder verstärkt an die Vorbereitungen des in Aussicht genommenen Frankreichprojekts, für das Haller aber wegen seiner akademischen Verpflichtungen in Marburg nur die Semesterferien zur Verfügung stellen konnte.22 Außerdem war wohl kurzfristig Haller selbst für den Posten des Institutsdirektors im Gespräch, was dieser aber mit dem Hinweis­ 17 In seinen Lebenserinnerungen hat Haller das selbst mehr oder weniger zugegeben, blieb aber dabei, dass er den Pressewirbel weder beabsichtigt noch erwartet hatte: »Nach meinem Fortgang aus Rom hatte ich durch einen Beamten des Instituts über die unglückliche Rolle, die Schulte dort spielte, etwas erfahren und daraus kein Geheimnis gemacht. Zu meinem Verdruß hatte die Sache den Weg in die Tagespresse gefunden und ziemlichen Staub aufgewirbelt.« (Haller, Lebenserinnerungen, S. 231.) 18 So Braubach, Aloys Schulte in Rom, S. 548. In der Druckfassung des Vortrags fehlen die Nebenbemerkungen allerdings: vgl. Haller, Der Ursprung der gallikanischen Freiheiten. 19 Vgl. dazu Haller, Lebenserinnerungen, S. 232; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 20. September 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller; Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 21. September 1903: BArch N 1035/21; Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 25. September 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller. 20 Johannes Haller an Ludwig Elster, 16.  September 1903: GStA, VI. HA, Nl Althoff, A I, Nr. 198 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 117. 21 Vgl. dazu Braubach, Aloys Schulte in Rom, S. 554–557. 22 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 3. August 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 109; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 5. August 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 110. Da für den Zeitraum die jeweiligen Gegenbriefe Kehrs nicht überliefert sind, ist der genaue Stand der Frankreich-Pläne nicht zu ermitteln. Vgl. Pfeil, Vorgeschichte und Gründung, S. 36–41.

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ablehnte, dass er als wissenschaftliche Persönlichkeit dazu noch nicht reif genug sei.23 Mitte August stand dann fest, dass tatsächlich Kehr selbst Leiter des Instituts werden würde; damit war der Plan wieder an der Tagesordnung, Haller als zweiten Mann in Rom anzustellen. Dass dieser Plan schließlich doch nicht funktionierte, war Hallers eigene Schuld und führte beinahe zum persönlichen Zerwürfnis zwischen Haller und Kehr. Anlass dafür war Hallers Wunsch, für seine römische Stelle eine genaue Amtsbezeichnung und einen konkreten Forschungsauftrag zu erhalten. Das erste Problem dabei war, dass die zweite Position, unmittelbar unter dem Institutsdirektor, eigentlich bereits mit Karl Schellhass besetzt war. Kehr stimmte allerdings mit Haller überein, dass man hier lediglich geschickt und behutsam einen Wechsel zu initiieren habe. Haller machte konkret den Vorschlag, lediglich den Titel »Sekretär« zu erhalten und die Leitung des Repertorium Germanicum zu übernehmen, außerdem als Stellvertreter des Direktors Kehr zu fungieren.24 Das zweite und entscheidende Problem war die Frage des dienstlichen Hierarchieverhältnisses zwischen Haller und Kehr. Während dieser wie selbstverständlich davon ausging, als Institutsdirektor gegenüber den Mitarbeitern weisungsbefugt zu sein, in der Praxis akademischer Arbeit aber niemandem­ hereinzureden, verlangte Haller eine Position, die dem Direktor formell nicht untergeordnet sei. Andernfalls stehe er für das Institut nicht zur Verfügung.25 Am 1.  September 1903 waren die Differenzen unüberbrückbar geworden; Haller sprach von einem »Hinterhalt«, in den Kehr ihn zu locken versucht habe und echauffierte sich über die »Drohung« Kehrs, mit seinem Verhalten setze Haller seine ganze berufliche Zukunft aufs Spiel.26 Kehr versuchte in seinem Antwortschreiben einen Tag später die Dinge wieder zurechtzurücken und Haller den Kopf zu waschen, ohne es zum endgültigen Bruch kommen zu­ lassen:27 Er habe eigentlich geglaubt, dass die persönliche Freundschaft und das große gegenseitige Vertrauen ausreichen würden, um alle Gedanken auf Hinterhalte absurd erscheinen zu lassen, habe aber offenbar unterschätzt, dass Haller ein »stolzer, eigenwilliger und mißtrauischer Mann« sei. Er habe auch 23 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 5.  August 1903: MGH-Archiv, NL Bock 182 GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 110. 24 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 20. August 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 111; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 23. August 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 112. 25 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 27. August 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 113; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 29. August 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 114. 26 Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 1. September 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 115. 27 Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 2.  September 1903: MGH-Archiv, NL Bock 182­ (maschinenschriftliche Abschrift), dort auch die folgenden Zitate.

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niemals vorgehabt, in Rom ein »formelles Imperium« aufzubauen, aber er müsse doch darauf bestehen, dass nur der Direktor unmittelbar amtlich mit dem Berliner Kuratorium und dem wissenschaftlichen Beirat korrespondieren dürfe, denn sonst »kann der Director sich auch gleich einen Strick kaufen, an dem er sich aufhänge«; eine »formelle Unabhängigkeit« Hallers innerhalb des Instituts sei jedenfalls ein Ausdruck des Misstrauens gegenüber Kehr und eine sachliche Unmöglichkeit: »In Wirklichkeit liegt die Sache so: Sie als reizbarer und mißtrauischer Mensch haben sich mit einem profunden Mißtrauen gegen mich erfüllt und Angst gekriegt, ich könnte Sie übers Ohr hauen, Ihre Talente mißbrauchen usf. und so haben Sie mit steigender Schärfe Ihre Forderungen aufgestellt. Nun weiter: meine Antwort sei voll Spott und Hohn gewesen und habe sogar eine versteckte Drohung enthalten. ­Wären Sie nicht so empfindlich, so würde ich Ihnen antworten: Werter Herr, Sie s­ehen weiße Mäuse. […] Alle Welt hält Sie für einen Krakehler (ich bis dato nicht) oder doch für ›schwierig‹. Also ein neuer Fall. Sie schlagen die römischen Chancen, die für Sie eine große Zukunft bedeuteten, in den Wind. Und dann darf ich nicht sagen: Achtung! Selbstschüsse!«28

Kehr gelang es mit dem Brief tatsächlich, den Bruch zu verhindern und die Freundschaft zu erhalten; Haller fühlte sich von dem »schönen Brief« charakterlich richtig getroffen und hielt angesichts seines Unabhängigkeitsdranges die Entscheidung, nicht mit nach Rom zu gehen, für das beste, auch im Sinne der persönlichen Freundschaft zwischen ihm und Kehr.29 Trotzdem war das alte Vertrauensverhältnis, vor allem im Hinblick auf berufliche bzw. wissenschaftspolitische Angelegenheiten, unwiederbringlich zerstört.30 Man wird nicht b ­ estreiten 28 Ebd. 29 Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 4. September 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 116. 30 Haller und Kehr korrespondierten noch bis Anfang 1904 relativ intensiv; danach zwar noch einigermaßen regelmäßig, aber wesentlich seltener: vgl. die Briefe Hallers an Kehr in: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller. Ein intensiverer Briefwechsel kam eigentlich nur noch einmal 1913 zustande, als Haller anlässlich seines Rufes nach Tübingen und der Frage seiner Nachfolge in Gießen Kehr zu Rate zog. Immerhin aber hat Haller Kehr im Nachhinein große Dankbarkeit bewahrt; vgl. dazu Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 31. Dezember 1930: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 233: »Mein Leben wäre ohne Sie – das weiß ich jetzt, da ich im letzten, kurzen Abschnitt stehe – anders verlaufen, ohne Aufstieg und ohne g­ rößeres Ziel. Vielleicht, ja wahrscheinlich habe ich das nicht erfüllt, was Sie von mir erwarteten, vielleicht gehöre ich zu denen, an die Sie mit Enttäuschung denken. Ich weiß ja auch nicht, ob ein unparteiischer Richter finden würde, daß es der Mühe wert war, mir aufzuhelfen und Bahn zu machen, wie Sie es im Jahre 1902 taten. Für mich aber bleibt Ihr damaliges Eingreifen darum doch die große Wendung, die meinem Leben einen Zweck und Sinn gegeben hat und mir erlaubt, auf die durchmessene Bahn als auf einen nicht völlig verfehlten Weg zurückzublicken und mir, wenn es einmal zu Ende geht, zu sagen: es war ja nicht gerade schön, aber doch nicht ganz umsonst.«

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können, dass Kehr formal im Recht war und dass seine Schilderung des Konflikts die plausiblere ist; das umso mehr, als Hallers – schon am Verhältnis zu den Wackernagels verifizierbarer – Ruf, charakterlich »schwierig« zu sein, von diesem selbst ja mehr oder weniger zugegeben wurde und in den folgenden Jahren eher noch zu- als abnahm.31 Was Rom betrifft, so war Haller trotz des kleinen Nachspiels im September 1903 um die Frage, wer die Öffentlichmachung des Schulte-Skandals zu verantworten habe, von diesem Zeitpunkt an tatsächlich nur noch Zuschauer aus der Ferne. Dabei grollte er Kehr nicht und hat auch später noch zugegeben, dass dieser der richtige Mann in Rom gewesen sei und erst unter ihm endlich jene »Kette von Fehlern«32 beendet worden sei, die die Institutsgeschichte seit der Gründung geprägt hatte. Auch die Projekte Kehrs, allen voran das Papsturkundenwerk, hat Haller weiter zu unterstützen versucht; eine aktive Zusammenarbeit mit Kehr kam aber nicht mehr infrage.33 Die Umwandlung seines Marburger Extraordinariats in eine ordentliche Professur im März 1904 war nur noch das äußere Zeichen für den längst vollzogenen inneren Abschluss Hallers mit dem Kampf um Rom.34

2. Marburg 1902–1904 Wegen der fortgesetzten Planungen für eine Beteiligung Hallers an den Projekten Kehrs in Rom bzw. in Frankreich hatte die im Oktober 1902 angetretene Marburger Professur etwas Provisorisches. Selbst Althoff, dem Haller den Ruf zu verdanken hatte, scheint Marburg lediglich als vorübergehende Unterbringung verstanden zu haben und dachte jedenfalls schon früh wieder laut über Alternativen für Haller nach.35 Haller selbst hat seine Stelle ebenfalls so aufgefasst, aber für ihn hatte sie doch insofern besondere Bedeutung, als es sich um seine erste Professur handelte und er hier erstmals wirklich interne Ein­blicke in den Univer31 Vgl. dazu bes. die Kapitel IV.5. und VII.4. 32 Haller, Lebenserinnerungen, S. 136. Kehr übrigens hat Haller in seinen 1940 publizierten »Italienischen Erinnerungen« nur ganz am Rande erwähnt und kein Wort über die Arbeit Hallers für das Institut oder die gemeinsamen Pläne von 1901–1903 verloren: vgl. Kehr, Italienische Erinnerungen, bes. S. 24. 33 Vgl. die bei aller Ausführlichkeit der Detailkritik im Ganzen äußerst positive Rezension Hallers zu den »Italia Pontificia«: Haller, Die neue Sammlung der älteren Papsturkunden, bes. Sp. 1669–1678. Der Briefwechsel zwischen Haller und Kehr nach 1904 (GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller) zeugt zwar auch noch von fachlicher Zusammenarbeit; dies betraf aber lediglich noch ein Editionsprojekt Hallers für eine Schriftenreihe des Deutschen Historischen Instituts in Rom: Haller, Piero da Monte. 34 Zur Ernennung Hallers zum ordentlichen Professor vgl. Friedrich Althoff an Johannes­ Haller, 17.  März 1904: UAT 305/22). Die von Wilhelm II. unterzeichnete Ernennungsurkunde datiert vom 9. März 1904 (UAT 305/22). 35 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 2. Februar/20. Januar 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 102.

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sitätsbetrieb erhielt. Später hat er erklärt, dass Marburg ihm den letzten Rest Ehrfurcht vor deutschen Professoren ausgetrieben habe.36 Die Briefe, die er in den insgesamt drei Marburger Semestern an seinen Vater sowie an Paul Kehr schrieb, geben Hinweise darauf, welche konkreten Ursachen dieser Respekt­verlust hatte. Zunächst war natürlich Kehr selbst dafür verantwortlich, der Haller riet, seine akademischen Pflichten in der Lehre nicht allzu ernst zu nehmen und der zugleich praktische Tipps für den rechten Umgang mit den Kollegen gab.37 Das kollegiale Verhältnis war in Marburg offenbar anfangs relativ gut, obwohl es unter dem Vorbehalt stand, dass Haller nicht der Wunschkandidat der Fakultät gewesen war. Mitte Oktober 1902 berichtete Haller an Kehr: »Item – es geht mir wirklich gut, unverdient gut. Marburg ist ein reizender Ort, die Herren Collegen sind freundlich und entgegenkommend, und wenn sie einem auf den Fuß treten, so geschieht es doch nicht aus böser Absicht.«38

Die in Hallers Lebenserinnerungen behauptete »Mißhandlung vor versammeltem Kriegsvolk«39 bei seiner Amtseinführung durch den Universitätsrektor ist aus den Quellen nicht nachweisbar; erste Anzeichen für eine negative Beurteilung seiner Marburger Kollegen gibt es nicht vor Mai 1903.40 Ende Juni klagte er über fehlende kollegiale Unterstützung gegen hochschulpolitische Übergriffe aus Berlin, doch erst Anfang 1904 scheint es zum Ausbruch ernsthafter Differenzen gekommen zu sein.41 Das hing zum einen mit Hallers neuester 36 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 237. 37 Vgl. Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 22. September 1902: BArch N 1035/21; vgl. Johan­ nes Haller an Paul Fridolin Kehr, 25. September 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 97. Vgl. auch Haller, Lebenserinnerungen, S. 237: »Beim Antritt meiner ersten Professur war ich gegen den Glauben an die Gottähnlichkeit des deutschen Professors schon gefeit. Dafür hatten meine Freunde Domaszewski und Kehr gesorgt, deren überlegener Sarkasmus, wenn sie aus der Schule­ plauderten – und das taten sie gern – ihre Amtsgenossen nicht zu schonen pflegte.« Den Alt­ historiker Alfred von Domaszewski kannte Haller aus Heidelberg. 38 Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 19. Oktober 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 98. 39 Haller, Lebenserinnerungen, S. 239. 40 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 10.  Mai/27.  April 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 105. Darin bezeichnete Haller den Marburger Theologen Adolf Jülicher als den einzigen wirklich hochrangigen Gelehrten unter seinen Kollegen und beschwerte sich über deren schlechten Rat hinsichtlich seiner Lehrveranstaltungen. 41 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 27. Juni 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 107. Erst ab 1904 finden sich auch despektierliche Äußerungen Hallers gegenüber dem Berufsstand des Universitätsprofessors: »Ich habe – auf das Nähere mag ich nicht eingehen – üble Erfahrungen mit den Herren Kollegen gemacht, die mich, als die ersten dieser Art, gründlich verdrossen und mir zeitweilig sogar die Arbeit im Berufe fast verleidet haben. Aber gemach! Des­g leichen bleibt wol niemand erspart, der sich in die akademische Menagerie begibt, es sei denn, daß er als Blindschleiche ein stilles aber unrühmliches Dasein führe. Die arme Kunst, sich gleichgültig zu stellen, und die Leute nicht merken zu lassen, wie man im Stillen über sie

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Publika­tion über »Papsttum und Kirchenreform« zusammen, zum anderen mit einem – letztlich gescheiterten – Fakultätsvotum gegen die Ernennung Hallers zum Ordinarius.42 Eine Ursache für Spannungen gerade mit direkten Fachkollegen lag darin, dass mit Goswin von der Ropp und Konrad Varrentrapp gleich zwei Mar­burger Ordinarien ihren Forschungsschwerpunkt wie Haller in mittlerer und neuerer Geschichte hatten. Diese Konkurrenz machte sich vor allem in der Lehre bemerkbar, wo es – wie Haller schon Ende 1902 beklagte – kein lohnendes Feld gebe, das nicht bereits von einem Kollegen bestellt werde.43 Die eigentliche Zuständigkeit Hallers lag allerdings in den Hilfswissenschaften, in denen er zwar durch seine Tätigkeit in Rom und Basel reichlich praktische Erfahrung, aber keinerlei theoretische Expertise besaß. Haller hatte zwar den Ehrgeiz, dieses Defizit so rasch wie möglich zu beseitigen, aber er war ebenso rasch von der mangelnden studentischen Resonanz auf hilfswissenschaftliche Lehrveranstaltungen enttäuscht, sodass er sogar kurzfristig erwog, das ihm unterstellte Seminar für Historische Hilfswissenschaften zu schließen.44 Dieses 1894 gegründete Seminar – erster Direktor war Paul Kehr gewesen – diente in erster Linie der Archivarsausbildung und wurde tatsächlich nach Hallers Fortgang von Marburg 1904 nach Berlin verlegt.45 Die wohl vor allem von Althoff ausgehenden Überlegungen, Haller einen Platz am Historischen Institut in Rom oder einen Lehrstuhl an einer anderen Universität zu verschaffen – in Heidelberg kam er 1903 hinter Gerhard Seeliger und Karl Hampe auf Platz 3 der Berufungsliste,46 Ende 1903 war denkt, die will erlernt sein, und wenn ich auch nicht hoffen darf, jemals ein Meister in ihr zu werden, so weit habe ich es doch gebracht, daß ich äußerlich auch mit Menschen ganz passabel umgehen kann, die ich gründlich gering schätze. […] Du glaubst nicht, wie beschränkt ein deutscher Professor mediae sortis ist. Wer nicht um jeden Kohlstrunk Opposition gegen die Regierung macht, wer nicht einmal am Stammtisch auf Althoff schimpft, der ist als Reptil verdächtig. Habeant sibi!« (Johannes Haller an Anton Haller, 13. März/29. Februar 1904: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 122.) 42 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 11. Januar 1904: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 120); vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 27. Februar 1904: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 121; vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 13. März/29. Februar 1904: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 122. 43 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 8. Dezember 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 101. 44 Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 25. September 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 97; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 2. November 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 100; vgl. Johannes Haller an ­ aller Paul Fridolin Kehr, 8. Dezember 1902: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 H bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 101. 45 Vgl. Burkardt, Die Historischen Hilfswissenschaften, S. 135–147. 46 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 9. April/27. März 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 104. Vgl. dazu außerdem Reichert, Gelehrtes Leben, S. 79–88.

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eine Berufung nach Halle im Gespräch47 –, trugen noch erheblich zu dem Empfinden bei, es handele sich bei Marburg lediglich um eine Durchgangsstation. Dennoch war Haller nach dem Ende seines ersten Jahres in Marburg im Ganzen mit seiner Situation sehr zufrieden. Grund dafür war, dass er den Eindruck gewonnen hatte, endlich seine Berufung gefunden zu haben. Seinem Vater schrieb er im Dezember 1903: »es ist das erste Mal, daß ich mich mit meiner Berufstätigkeit ausgesöhnt fühle. Ein Beweis, daß sie die richtige für mich ist, und daß alle früheren nicht für mich paßten, – oder ich nicht für sie. Der erste Anlauf ist ja auch in diesem Falle das Schönste, und nachher kommt die Ermüdung. Aber ich kann sie diesmal besser überwinden, als sonst, und habe nach wie vor Freude an der Sache. Auch die Zuhörer sind, wie mir scheint, nicht ganz unzufrieden mit mir; sie kommen fleißig und hören aufmerksam zu. Das beste ist aber doch, daß man jeden Tag etwas Neues hinzu lernt, und daß dieses Zulernen eine unendliche Perspective eröffnet. Kurzum, ich bin mit Leib und Seele akademischer Lehrer, und möchte es bleiben.«48

Hallers Überzeugung, nun endlich ein passendes Tätigkeitsfeld gefunden zu haben, hing ganz wesentlich mit seinem Erfolg als Lehrer zusammen. Die Be­ geisterung, die Hallers Vorlesungen bei Studenten auslösten, ist insbesondere für die Tübinger Jahre vielfältig belegt,49 aber auch schon in Marburg scheint der Erfolg nicht ausgeblieben zu sein. Dafür sprechen die studentischen Unmutsäußerungen angesichts von Hallers Fortgang aus Marburg 1904 ebenso wie die lobenden Worte, die Haller seinerseits für die Studentenschaft fand.50 Überhaupt ist der positiv-hoffnungsvolle Ton auffällig, mit dem der sonst immer stark zu Skepsis neigende Haller in den letzten zwölf Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs über die vielversprechende deutsche Jugend schrieb. Es 47 Vgl. Johannes Haller an Ludwig Elster, 16. September 1903: GStA, VI. HA, Nl Althoff, A I, Nr. 198; vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 15. Oktober 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 118. 48 Johannes Haller an Anton Haller, 8.  Dezember/25.  November 1903: UAT 305/35 bzw. Hassel­horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 119. Vgl. auch Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 11. Januar 1904: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  120: »Mit meiner Arbeit hier bin ich zufrieden und sehne mich weniger denn je nach dem Schaden des Rep. Germ. Es ist, nach meinem Gefühl, alles besser gekommen, als ich gehofft hatte.« 49 Vgl. dazu Eschenburg, Also hören Sie mal zu, S. 150–161; Kiesinger, Dunkle und helle Jahre, S. 88 f.; Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 480. 50 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 13. März/29. Februar 1904: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 122: »Die Studenten sind wirklich der bessere Teil der Universität. So faul und leichtsinnig sie in der Mehrzahl sein mögen, die Minorität ist empfänglich, dankbar und für ein ernstes Wort leichter zu begeistern, als ich in unserer materiellen Zeit gedacht hatte. Behalte ich Fühlung mit der Jugend, dann kann mir die Kleinlichkeit der ergrauten Spießbürger Wurst sein und ihr Concurrenzneid nur Mitleid erwecken.« Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 7. Juli/24. Juni 1904: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 126.

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bestätigt sich darin am Einzelbeispiel Hallers der von ihm selbst später diagnostizierte allgemeine »Glaube an die Zukunft«51 der Deutschen jener Jahre. Demgegenüber handelt es sich bei der Bezeichnung der allgemeinen Stimmung Deutschlands (und Europas) um die Jahrhundertwende als »kulturpessimistisch«52 um eine nachträgliche Zuschreibung; man wird für diese Zeit vielmehr von einem ausgesprochenen »Kulturoptimismus«53 sprechen dürfen. In dieser Hinsicht bewegte sich Haller also mehr oder weniger im deutschen Mainstream. Das gilt ebenso von der bei Haller in diesen Jahren zu beobachtenden Politik- bzw. »Reichsverdrossenheit«54, die nur auf den ersten Blick zum gleichzeitigen Zukunftsoptimismus im Widerspruch steht. Der Stolz auf Deutschlands Stärke vor allem in den Bereichen der Wirtschaft und der (Natur-)Wissenschaft ging bei vielen mit einer scharfen Kritik an der Regierungspolitik wie auch der Arbeit des Reichstags einher.55 Gegen die Befürchtung eines sich aus der ökonomisch-naturwissenschaftlichen Orientierung ergebenden »Materialismus« in der Lebensführung wiederum führte Haller weniger die Geisteswissenschaften und schon gar nicht die Politik ins Feld, sondern die Jugend, deren »Idealismus« besonders in der Jugendbewegung zum Ausdruck komme.56 Haller jedenfalls gehörte bei der Reichstagswahl 1903 zu den Nichtwählern, was er gegenüber seinem Vater damit begründete, dass der Reichstag ohne­ hin praktisch einflusslos sei, da die Politik im Wesentlichen von den Beamten, der Großindustrie und den ihrer Stimmen sicheren Zentrumsführern gemacht werde. Selbst zur Schwächung der Sozialdemokratie lohne sich die eigene Stimmabgabe nicht, weil diese ihre besten Zeiten längst hinter sich habe und ihre verbliebenen Stimmen nur durch den unausrottbaren »Klassengeist« der in den Händen des Bürgertums befindlichen Verwaltung zu erklären sei.57 Als es in seinem Wahlkreis zur Stichwahl des Direktkandidaten kam, gab er seine Stimme nach einigem Zögern dem Kandidaten des nationalsozialen Vereins, Hellmut von Gerlach, und begründete das damit, dass dieser gegenüber dem kon­ servativen Kandidaten Karl Rabe von Pappenheim das »geringere Uebel« sei.58 51 Haller, Lebenserinnerungen, S. 227: »Heute ist es schwer, dem, der es nicht erlebt hat, eine Vorstellung davon zu geben, welches frische und frohe Leben damals im deutschen Volk herrschte. Zumal die jüngere Generation trug neben rastlosem Fleiß eine Zuversicht zur Schau, die selbst auf den zur Skepsis neigenden Beobachter ansteckend wirkte. Wenn das Glück der Menschen weniger im Genuß der Gegenwart als im Glauben an die Zukunft liegt, so waren jene ersten Jahre des neuen Jahrhunderts Deutschlands glücklichste Zeit.« 52 Vgl. dazu Stern, Kulturpessimismus. 53 Vgl. Kraus, Niedergang oder Aufstieg, bes. S.  52 f. Vgl. dazu auch Puschner, Rückblicke, Vorblicke. 54 Vgl. dazu Walkenhorst, Nation, S. 190 f. 55 Vgl. dazu etwa Straub, Kaiser Wilhelm II., bes. S. 170–184. 56 Vgl. Haller, Lebenserinnerungen, S. 247. 57 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 2. August/20. Juli 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 108. 58 Johannes Haller an Anton Haller, 21./8. Juni 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 106.

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Das ist umso bemerkenswerter, als Gerlach zu diesem Zeitpunkt den entschei­ denden politischen Schritt »von rechts nach links«59 bereits vollzogen hatte und sogar eher dem linken als dem rechten Flügel der nach eigener Einschätzung »gleichweit […] von der Sozialdemokratie auf der einen und den bürgerlichen Parteien auf der anderen Seite«60 entfernten politischen Formation angehörte. Diese war 1896 von Friedrich Naumann gegründet und nach dem enttäuschenden Wahlergebnis von 1903 – Gerlach war der einzige direkt gewählte nationalsoziale Kandidat  – aufgelöst worden bzw. ging daraufhin eine Fusion mit der Freisinnigen Vereinigung ein.61 Hier zeigt sich wieder, dass der Haller vor 1914 politisch nicht ohne Weiteres mit dem nach 1914 gleichgesetzt werden kann, sondern der »Vorkriegs-Haller«62 ein Liberaler gewesen ist, dem der katholisch-­ konservative Kurs des Reichskanzlers Bernhard von Bülow inhaltlich und at­ mosphärisch missfiel.63 Die »Arbeitermassen für den nationalen Gedanken, womöglich für die Monarchie zu gewinnen«, so Haller in der Rückschau, sei damals das dringendste Problem gewesen, und das national-soziale Parteiprogramm habe am ehesten versprochen, dieses Problem in den Griff zu bekommen.64 Hallers vehemente Kritik am Einfluss des politischen Katholizismus auf die wilhelminische Politik – der in Rom ja für ihn selbst nicht folgenlos geblieben war – sollte allerdings nicht zu dem Fehlschluss führen, dass Haller ein antikatholischer Konfessionalist gewesen wäre. Dagegen spricht die bereits während seiner Zeit in Rom geäußerte Sehnsucht nach der katholischen Kirche als Institution.65 Von Kehr mit dem Vorwurf des »Konfessionalismus« konfrontiert, erwiderte Haller, er sei gerade deswegen gegen katholischen politischen Einfluss, »weil ich gegen confessionelle politische Tendenzen mich wehre.«66 Vor allem 59 So lautet der Titel von Gerlachs Autobiographie: Gerlach, Von rechts nach links, hier bes. S. 145–150. 60 Die Formulierung stammt aus einem 1898 erschienenen Aufsatz Gerlachs in der »Hilfe« (IV. Jg., Nr. 34, 21. August 1898, S. 5), hier zit. nach Düding, Der nationalsoziale Verein, S. 95. 61 Zu Gerlach vgl. Koch, Vom Junker zum Bürger; und hier vor allem Bömelburg, Hellmut von Gerlach, bes. S. 9–11; vgl. außerdem Schulte, Der Publizist Hellmut von Gerlach. Zum nationalsozialen Verein und Gerlachs Rolle darin vgl. Düding, Der nationalsoziale Verein, hier bes. S. 175–193; vgl. außerdem Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus, bes. S. 431 f. 62 Weiß, Paul Kehr, S. 48. 63 Zum liberalen Haller vgl. bes. Kapitel IV.5.; zu Hallers Bülow-Kritik vgl. bes. Kapitel VII.1. 64 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 3–5, Zitat S. 4 bzw. unten S. 293–297,­ Zitat S. 295. Vgl. außerdem Johannes Haller an Theodor Heuss, 22. November 1942: BArch N 1221/81 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 350: »Mit welcher Teilnahme ich das Kapitel über die Wahlniederlage 1903 gelesen, werden Sie sich denken, wenn ich Ihnen sage, daß ich damals mit meiner Stimme für die Wahl v. Gerlachs einen bescheidenen Beitrag geleistet habe. Denn auch ich war damals vom national-sozialen Gedanken ergriffen und – bin es geblieben bis heute.« 65 Vgl. dazu Kapitel IV.4. 66 Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 12. Februar 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 103.

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seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus dieser Zeit belegen tatsächlich, dass Haller jedenfalls in Bezug auf das Mittelalter zu einer nüchternen, ja positiven Sicht auf die katholische Kirche neigte, die erheblich von den Auffassungen der protestantisch-liberalen »Konfessionalisten« abwich und ihm teilweise sogar den Ruf eines »Katholikenfreundes« eintrug.67 Das gilt insbesondere für Hallers erste darstellende Monographie seit der Dissertation, das 1903 erschienene Buch »Papsttum und Kirchenreform«. Den Text hatte er bereits in Basel und Rom verfasst; in Marburg arbeitete er nur noch an den Korrekturen und brachte die Drucklegung auf den Weg.68 Das Buch behandelte lediglich die Vorgeschichte der Konzilien des 15.  Jahrhunderts, denen er einen zweiten Band widmen wollte, wozu es allerdings niemals kam.69 In dem im November 1903 in Marburg verfassten Vorwort bekannte Haller, eine Sicht der katholischen Kirche des späten Mittelalters zu vertreten, die in mancher Hinsicht positiver sei als die in der deutschen Geschichtswissenschaft ver­ breitete. Der Hauptgrund dafür, so Haller, sei ein methodischer: Anstatt die päpstliche Verwaltungspraxis aus den polemischen Schriften der Kuriengegner abzuleiten, rekonstruiere er sie aus den kirchlichen Selbstzeugnissen, nämlich den Akten. Haller betonte außerdem, dass sich die Geschichtswissenschaft ohnehin jeglicher Werturteile zu enthalten habe und lobte zudem die außer­ ordentliche »Liberalität«, die Papst Leo XIII. mit der Öffnung des vatikanischen Archivs bewiesen habe.70 Die sowohl methodische als auch wissenschaftspolitische Problematik seines Vorgehens war ihm dabei durchaus bewusst:

67 Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 13. März/29. Februar 1904: UAT 305/35 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  122. Vgl. auch die Sammlung von Rezensionen zu »Papsttum und Kirchenreform« in: UAT 305/11. 68 Haller, Papsttum und Kirchenreform. Vgl. Johannes Haller an Anton Haller, 2. Februar/ 20. Januar 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 102: »Auf alle Fälle ist mein Verhältnis zu der hohen Facultät kein sehr normales mehr, wenn ich das auch klüglich nicht zur Schau trage. Was man mir vorwirft, sind 3 schwere Sünden: erstens Katholikenfreundschaft, zweitens Freundschaft mit Kehr (dem ich Nb. das meiste zu­ danken habe) und drittens die Gunst des Ministeriums.« 69 Den Briefen sind die Gründe für das Nichtzustandekommen des zweiten Bandes nicht zu entnehmen. Laut Müller, Der bewunderte Erbfeind, S.  297, liegt die Ursache in Hallers Faszination für das Papsttum; außerdem führt er mit Dannenbauer, Haller, S.  443 und Ernst, Johannes Haller, S. 6 die fehlende Edition des Konzils von Konstanz als Grund an; und auch Helmrath, Das Basler Konzil, S.  12 nennt »Quellenprobleme« als Ur­sache für das Ausbleiben einer Gesamtdarstellung des Basler Konzils aus der Feder ­Hallers. Noch im Juli 1908 fragte Haller bei Adolf Harnack an, ob er von der Berliner Akademie einen Kostenzuschuss für Archivreisen erhalten könne, die er für den zweiten Band von »Papsttum und Kirchenreform« unternehmen wolle: vgl. Johannes Haller an Adolf Harnack, 13. Juli 1908: Staatsbibliothek zu Berlin, NL Adolf v. Harnack, K 32 bzw. Hassel­horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  128. In dem 1909 erschienenen Aufsatz Haller, Die Pragmatische Sanktion von Bourges, S. 10 f., kündigte er den zweiten Band noch öffentlich an. 70 Vgl. Haller, Papsttum und Kirchenreform, S. VI–VIII, Zitat S. VIII.

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»Wer heute über die Geschichte des Papsttums reden will, ohne sich einer der beiden feindlichen Parteien zurechnen zu können, die mit ihrem Kampfe das öffentliche­ Leben erfüllen; wer die Vergangenheit nur zum Gegenstande objektiver Betrachtung macht, ohne von ihr etwas zu verlangen, und wer gleichwohl den Anspruch nicht erheben kann, zu den ›Voraussetzungslosen‹ gezählt zu werden, weil er sehr wohl weiß, daß er nicht imstande ist, sich von den Voraussetzungen seines geistigen Daseins, von Natur und Erziehung, loszumachen; wer, mit einem Worte, obwohl er ein Kind seiner Zeit und besonderer Verhältnisse, dennoch den Wunsch hat, nichts weiter zu sein als Historiker, auch wo es sich um Dinge handelt, die keineswegs der Vergangenheit angehören und heute mehr als je lebendige Wirklichkeit sind: der wird gut tun, sich nicht darüber zu täuschen, daß er alle Aussicht hat, seinen Platz zwischen den Stühlen angewiesen zu erhalten. Auch ich bin darauf gefaßt, daß meine Rede denen zur Rechten nicht immer gefallen, denen zur Linken vielleicht noch öfter mißfallen wird. […] Nun aber, da sie schon seit Jahren in den Hauptergebnissen feststand und in großen Teilen auch schon vor Jahren niedergeschrieben wurde, zu einer Zeit, als von der gegenwärtigen Erregung noch kaum die ersten Vorboten zu spüren waren, nun darf ich das Buch getrost allen denen vorlegen, die, wie Gaston Paris im Dezember 1870 im belagerten Paris so schön sagen konnte, in der Welt der reinen, selbstlosen Wissenschaft die Zuflucht und die Einheit wiederfinden, die den Menschen einer­ anderen Zeit die Civitas Dei gewährte.«71

Privat äußerte sich Haller noch deutlicher: Seinem Vater erklärte er brieflich, er habe einen Satz aus dem Vorwort wieder gestrichen, in welchem er sich von der »sog. protestantischen Wissenschaft Deutschlands« abgegrenzt habe, die in Wirklichkeit weniger protestantisch als vielmehr »rationalistisch-liberal« und wie die katholische Kirche vom »Unfehlbarkeitswahn« erfüllt sei.72 Vor allem die Verehrung des Gallikanismus durch diese Wissenschaft sei ihm zuwider, denn damit werde die Religion ausschließlich nach politischen Gesichtspunkten beurteilt – die gegenwärtigen Anhänger einer (deutschen) Nationalreligion befürworteten die vergangenen Anhänger einer (französischen) Nationalreligion: »Ich halte es aber für die gröbste Vertauschung der Werte, daß man eine Religionsform um ihrer politischen Nützlichkeit willen lobe, da doch nach meiner Ueber­ zeugung die Religion das Höhere, das Höchste ist und der Staat unter seinen vielen anderen Aufgaben auch die vornehmste Pflicht hat, die Religion zu pflegen und ihre Entfaltung zu fördern.«73

Über die Bedeutung dieses religiösen Bekenntnisses des Pfarrersohns gegen­über dem Vater wird man unterschiedlicher Auffassung sein dürfen; als zugespitzte Zusammenfassung der Hallerschen Kritik am Gallikanismus – worun­ter er in 71 Ebd., S. X. 72 Johannes Haller an Anton Haller, 10.  Mai/27.  April 1903: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 105. 73 Ebd.

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erster Linie die Unabhängigkeitsbestrebungen der französischen Kirche gegenüber Rom verstand – ist der Brief aber in jedem Fall von großem Wert. Das wird auch daran erkennbar, dass Hallers Befürchtung, gerade hier auf besonderen Widerspruch seitens der Kollegen zu stoßen, vollkommen berechtigt war. Hallers Buch war zweigeteilt: Das erste Kapitel behandelte das avignonesische Papsttum des 14. Jahrhunderts, das er im Gegensatz zur herrschenden Auffassung nicht als schwache, vor allem von Frankreich abhängige Institution interpretierte, sondern das fast umgekehrt die Grundlagen für ein quasiabsolutis­tisches Regiment des Papstes innerhalb der Kirche gelegt habe.74 Gerade dieser eigentlich als grobe Skizze angelegte Teil  der Studie hat »bahnbrechend«75 gewirkt, während sich Hallers Hauptthese des zweiten Kapitels über den Gallikanismus nicht durchgesetzt hat.76 Diese lautete, die Unabhängigkeitsbestrebungen der französischen Kirche seien eigentlich »nichts anderes, als der Versuch, die Staatskirche, die in England um jene Zeit schon bestand, nach Frankreich zu verpflanzen«77. Das, so Haller weiter und ganz im Sinne des Briefes an den Vater, bedeute aber auch, dass der Kern des Gallikanismus – und damit der gesamten spätmittelalterlichen Kirchenreformbestrebungen – kein religiöser, sondern ein politischer gewesen sei; dass es in Wahrheit nicht um die Erneuerung einer korrupten Kirche gegangen sei, sondern um die nationale Selbständigkeit gegenüber Rom.78 Wenn es für Hallers Position eine gegenwartspolitische Motivation gegeben haben sollte, dann ist diese im anhaltenden Konflikt zwischen »katholischer« und »protestantischer« Auffassung zu suchen, deren Einseitigkeiten er jeweils unbedingt vermeiden wollte. Ein darüber hinaus in besonderer Weise zeit­bedingtes Urteil Hallers über Frankreich ist hier, was die Hauptthesen betrifft, nicht nachzuweisen. Das relativiert auch die vornehmlich anhand eines 1901 publizierten Haller-Aufsatzes über »Die Belehnung Renés von Anjou mit dem Königreich Neapel« geäußerte Vermutung, bei Hallers Deutung französischer Diplomatie handele es sich mehr oder weniger um eine Rückprojektion gegenwärtiger Erfahrungen in den historischen Forschungsgegenstand.79 Ohne 74 Vgl. Haller, Papsttum und Kirchenreform, bes. S. 22–26. 75 Weiß, Paul Kehr, S. 47. Vgl. zum skizzenhaften Charakter des ersten Kapitels Haller, Papsttum und Kirchenreform, S. 22, sowie Ernst, Johannes Haller, S. 6. 76 Vgl. die Rezensionen: Spahn, Literatur zur Geschichts- und Kulturwissenschaft; Bess, Papsttum und Kirchenreform; Valois, Papsttum und Kirchenreform. Zur Ablehnung von Hallers Gallikanismus-These vgl. Maier, Demokratie und Kirche, S. 92, Anm. 30. Besonders die Rezension von Bernhard Bess ist ein Beispiel für das Ineinander von hoher Anerkennung für Hallers eigenständige und weiterführende Forschungsleistung und der zum Teil deutlichen Detailkritik, die für die Haller-Rezeption insgesamt typisch wurde. 77 Haller, Papsttum und Kirchenreform, S. 465. Vgl. auch Haller, Der Ursprung der gallikanischen Freiheiten, bes. S. 213, wo fast dieselbe Formulierung benutzt wird. 78 Vgl. Haller, Papsttum und Kirchenreform, S. 478 f. 79 So Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 269–277. Müller legt hier überzeugend dar, weshalb Hallers sehr wirkungsreiche Auffassung von einer französischen »Doppeltaktik« für diesen historischen Fall unplausibel ist. Die Plausibilität der von Müller dann angeführten Gründe, die für eine gegenwartsbedingte Rückprojektion bei Haller sprechen, lei-

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zeitbedingt-ideologische Vorbehalte gegenüber Frankreich auch für die Zeit vor 1914 bei Haller in Abrede stellen zu wollen, wird man doch sagen müssen, dass Haller sehr wohl zwischen wissenschaftlichen und politischen Aussagen zu unterscheiden wusste, ja dass er Anfang des 20. Jahrhunderts sogar besonderen Wert auf diesen Unterschied legte, der seiner Auffassung nach gerade von seinen Kollegen nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Die Vehemenz, mit der Haller auch privat den Vorwurf des Konfessionalismus zurückwies sowie das öffentliche Bekenntnis zur möglichst »objektiven« Wissenschaft im Vorwort von »Papsttum und Kirchenreform« legen jedenfalls nahe, dass auch in Bezug auf Hallers Frankreichbild die Marburger und Gießener Jahre nicht etwa von besonderer politischer Polemik geprägt waren, sondern vielmehr eine Zeit der fachwissenschaftlichen Kontemplation darstellten.

3. Gießen 1904–1913 Als Haller im April 1903 dabei war, die Arbeiten an dem letzten von ihm bearbeiteten Band des »Concilium Basiliense«80 abzuschließen, schrieb er seinem Vater sichtlich erleichtert: »Es ist geschehen: wenn nun in einigen Monaten auch die Correctur beendet sein wird, so kann ich endlich froh sein, mit dieser Stadt und ihren unerfreulichen Menschen nie mehr etwas zu thun haben.«

Die Sätze bezogen sich auf Hallers Arbeitsbeziehungen, in erster Linie vermutlich auf die Historische und Antiquarische Gesellschaft und hier insbesondere det aller­dings darunter, dass die Gründe sich mit Hallers Lebenserinnerungen auf eine Quelle b ­ eziehen, bei der selbst erst zu klären wäre, inwiefern hier Positionen der 1930er und 1940er Jahre in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts rückprojiziert wurden. Das gilt umso mehr, als Haller in seinem Aufsatz von 1902 gänzlich darauf verzichtete, die­ diagnostizierte französische »Täuschung« moralisch zu bewerten und im übrigen in den dargestellten Beziehungen zwischen Frankreich und der Kurie keineswegs nur Frankreich die Verwendung diploma­tischer Täuschungen attestierte: vgl. Haller, Die Belehnung Renés von Anjou, bes. S. 206 f. Vgl. auch die ausführliche Auseinandersetzung Müllers mit Hallers These in Müller, Die Franzosen, bes. Bd. 1, S. 341 sowie Bd. 2, S. 473–527. Müller verweist hier auch darauf, dass Haller die Auffassung vom französischen »Doppelspiel« bereits 1896 in der Einleitung des ersten »Concilium-Basiliense«-Bandes geäußert hatte: Haller, Concilium Basiliense, Bd. 1, S. 148f: »Und in der That, Frankreich hatte ein überlegtes Doppelspiel getrieben. Indem es sich den Anschein gab, für den Papst einzutreten, erstrebte es zunächst die Verlegung des Concils in eine französische Stadt. Dahinter aber stand höchst wahrscheinlich noch mehr: der Gedanke an die Rückkehr der Kurie nach Avignon, an eine Wiederkehr der goldenen Zeiten Johanns XXII. und seiner Nachfolger. Dass dies die Ziele der französischen Politik gewesen sind, dafür haben wir Belege in schriftlichen Äusserungen, dafür sprechen die Thatsachen.« 80 Haller, Concilium Basiliense IV.

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auf die Wackernagels.81 Doch letztendlich irrte sich Haller, wenn er glaubte, Basel mit dem Abschluss bzw. der Abgabe seiner Editionsarbeit endgültig hinter sich zu lassen. Ein gutes Jahr nach der Niederschrift dieses Satzes heiratete er – wie bereits erwähnt – die Baslerin Elisabeth Fueter, die Schwester des Historikers Eduard Fueter, der in Basel bei Haller gehört hatte.82 Haller hatte eigentlich schon ein Jahrzehnt zuvor die Hoffnung auf ein Eheleben aufgegeben; der späte Zeitpunkt des Heiratsantrags – Haller kannte seine Frau bereits seit Jahren – erklärt sich daraus, dass er erst infolge der Ernennung zum Ordinarius und der Gewährung einer Gehaltszulage auf Veranlassung Friedrich Althoffs glaubte, eine Familie nicht nur gründen, sondern auch ernähren zu können.83 Schon kurz nach der Hochzeit erhielt Haller den Ruf nach Gießen zum­ Wintersemester 1904, den er im Juli annahm, sodass die eigentliche Einrichtung eines gemeinsamen Hausstandes erst in Gießen erfolgte.84 Hier kamen auch – 1906, 1908, 1909 und 1911 – alle vier Kinder Hallers zur Welt. Die Briefe, die Haller in diesen Jahren an seine Schwiegermutter schrieb, deuten darauf hin, dass Haller ein gutes und vor allem interessiertes Verhältnis zu seinen Kindern hatte, besonders zum Erstgeborenen Hans Jakob, der später Hallers einstmals selbst gehegten Wunsch nach einer Laufbahn als Berufsmusiker verwirklichte.85 81 Vgl. Kapitel IV.5. 82 Die Hochzeit fand am 8. August 1904 statt; vgl. dazu Haller, Chronik der Familie Haller, Anhang Tafel V. 83 Zu Hallers Junggesellendasein vgl. Johannes Haller an Helene Haller, 31./9.  Dezember 1895: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 48: »Eins nur dürfte gewiß sein: nämlich daß Dein stets wiederholter Wunsch, die Einsamkeit möge sich in Zweisamkeit verwandeln, im Jahre 1896 und in den nächstfolgenden ebenso wenig in Erfüllung gehen wird, wie bisher. Man ist zu vernünftig zu idealistischen Torheiten, und etwas anderes ist für lange hinaus nicht denkbar. Mit Toni hatte ich bei meiner Abreise eine Auseinandersetzung hierüber. Die kluge Kleine sagte mir klipp und klar: jetzt oder garnicht! und da das jetzt unmöglich, bleibe nur das garnicht. Wenn darin ein Stachel liegt, so viel mehr in der Unmöglichkeit, als im Nichtsein. Es muß auch Junggesellen geben, und wenn diese ihren Beruf erkennen und erfüllen, können sie auch ganz stilvolle Figuren sein.« Zur schon seit Jahren bestehenden Bekanntschaft zwischen Haller und Elisabeth Fueter vgl. Johannes Haller an Elisabeth (Fueter-)Haller, 17. April 1904: UAT 305/56. An Althoff schickte Haller die Verlobungsanzeige mit den Begleitworten: »indem ich die Ehre habe, Ihnen die Anzeige von meiner Verlobung zugehen zu lassen, drängt es mich, Ihnen zu sagen, daß ich nie vergessen werde, wem ich es verdanke, wenn dieser jahrelang unterdrückte Lebenswunsch doch noch in Erfüllung gehen kann.« (Johannes Haller an Friedrich Althoff, 25. April 1904 GStA, VI. HA, Nl Althoff, B, Nr. 61, 8 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 125.) 84 Vgl. dazu die Schreiben des Großherzoglich hessischen Ministeriums des Inneren an Johannes Haller, 29. Juni 1904, 5. Juli 1904 und 14. Juli 1904: UAT 305/22; vgl. auch Johannes Haller an Anton Haller, 7. Juli/24. Juni 1904: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 126. 85 Vgl. bes. Johannes Haller an Adelheid Fueter-Gelzer, 12.  April 1908, 17.  April 1910, 8. August 1910 und 20. Oktober 1911: UAT 305/49. Zur besonderen Beziehung zwischen Vater und ältestem Sohn vgl. auch das Manuskript » Einige Erinnerungen an Johannes Haller«, Abschnitt »Physis«: UAT 305/58, S. 7.

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In der Familie seiner Frau fühlte Haller sich außerordentlich wohl, korrespondierte mit Eduard Fueter über dessen geschichtswissenschaftliche Publikationen und unterhielt besonders herzliche Beziehungen zu der von Beginn an als »Mama« angeredeten Schwiegermutter Adelheid Fueter-Gelzer.86 Es spricht alles dafür, dass das Hallersche Ehe- und Familienleben ein durchgängig harmonisches gewesen ist.87 Die neue Beschäftigung in Gestalt von Aufbau und Organisation eines Familienlebens ist einer der Gründe dafür, dass Hallers schon in Marburg spürbare Isolation sich in Gießen noch einmal deutlich verstärkte.88 Ein weiterer ist der Tod von Hallers Vater am 31. Dezember 1905, mit dem eine – von Hallers Basler Zeit abgesehen  – kontinuierlich erhaltene Korrespondenz endete, in der Haller den eigenen Lebensweg regelmäßig rechtfertigte und kritisch reflektierte. Hallers Mutter war bereits 1899 verstorben, und so rasch er sich auch in seine angeheiratete Familie einlebte und in dieser eigentlich auch genügend historisch interessierte Gesprächspartner bereit standen, fand er doch keinen rechten Ersatz. Dass die Isolation Hallers in Marburg und Gießen auch eine fachliche war, zeigt das nahezu vollständige Fehlen einer Fachkorrespondenz im eigentlichen Sinne. Mit der Abkühlung des Freundschaftsverhältnisses zu Paul Kehr Ende 1903 bzw. Anfang 1904 entstand in dieser Hinsicht eine deutliche Lücke.89 Die sechs Haller-Briefe an Eduard Fueter sowie die wenigen Briefe an Friedrich Meinecke (sechs), Karl Brandi (vier) und Karl Hampe (vier) als die neben dem weiterhin sporadischen Kontakt zu Kehr einzigen aus der Gießener Zeit er­haltenen schriftlichen Kontakte zu Kollegen sind jedenfalls alles andere als ein adäquater Ersatz.90 Haller fiel das durchaus auf; nach dem deutschen Historikertag in Braunschweig 1911 schrieb er an Brandi:

86 Die Korrespondenz zwischen Haller und Eduard Fueter befindet sich in: Zentralbibliothek Zürich, Nachl. E. Fueter 4.19; die Briefe Hallers an Adelheid Fueter-Gelzer befinden sich in: UAT 305/49 bzw. UAT 305/60. Vgl. bes. Johannes Haller an Adelheid Fueter-Gelzer, 6. Oktober 1905 und 17. April 1910: UAT 305/49. Zu seiner aus Hallers Sicht glücklichen Ehe vgl. Johannes Haller an Adelheid Fueter-Gelzer, 16. Oktober 1908: UAT 305/49. 87 Vgl. dazu etwa die Briefe Hallers an seine Ehefrau (in: UAT 305/48), sowie das von Hallers Tochter Adelheid verfasste Manuskript »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«: UAT 305/58. 88 Im Mai 1908 bedankte Haller sich bei seiner Schwiegermutter für den von ihr veranlassten Einbau einer schalldichten Doppeltür in das häusliche Arbeitszimmer, dank dessen Haller von Kinderlärm ungestört zu Hause arbeiten konnte: vgl. Johannes Haller an Adelheid Fueter-Gelzer, 17. Mai 1908: UAT 305/49. 89 Vgl. dazu Kapitel V.1. 90 Die Briefe befinden sich in: GStA, VI. HA, Nl Meinecke, Nr.  14 (an Friedrich Meinecke), SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Brandi 59 (an Karl Brandi), Zentralbibliothek Zürich, Nachl. E. Fueter 4.19 (an Eduard Fueter) und Universitätsbibliothek Heidelberg, Nl Karl Hampe, Heid. Hs. 4067 (an Karl Hampe).

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»An Braunschweig denke ich stets mit Vergnügen. Es war mir ein großer und seltener Genuß, eine schöne Unterbrechung der gewohnten Einsamkeit, und ich habe mir vorgenommen, die Historikertage, wenn möglich, in Zukunft öfter zu besuchen, als Präservativ gegen das Einspännertum, in das man ›auf dem Lande‹ (wie ich unser liebes Gießen in geistiger Hinsicht nenne) verfallen muß.«91

Vor allem die erhaltenen Briefe an Karl Hampe zeigen darüber hinaus, dass Haller es sich mit den Beziehungen zu den Kollegen weiterhin nicht leicht machte. Zwar sendete man sich gegenseitig die neuesten Publikationen als Sonderdrucke zu, und der Austausch darüber ging auch über die üblichen höflichen­ Floskeln hinaus. Aber Haller zeigte sich doch wie so oft sehr empfindlich bei Kritik, die  – tatsächlich oder eingebildet  – über die reinen Sachfragen hinausging. Eine Bemerkung Hampes im Zusammenhang mit Heinrich dem Löwen, dessen Sturz Haller und Hampe unterschiedlich beurteilten, über Hallers­ »Widerspruchsgeist« fasste dieser als persönliche Beleidigung auf und stellte Hampe zur Rede.92 Die Folge  – sofern man dies angesichts der möglichen Lücken­haftigkeit der Briefüberlieferung sagen kann – war der stillschweigend-­ einvernehmliche Abbruch des brieflichen Kontakts. Die Provinzialität Gießens war sicherlich ein verstärkender Faktor für die Tendenz Hallers zur fachlichen Vereinsamung; in erster Linie war diese aber hausgemacht. Das hing zum einen damit zusammen, dass Haller bereits in Marburg den Plan gefasst hatte, die von ihm so empfundene Verfahrenheit der allgemeinen wissenschaftspolitischen Lage dazu zu nutzen, sich selbst in den kommenden zehn Jahren in Ruhe zum »Gelehrten« auszubilden.93 Merk­ würdigerweise scheint ihm aber gleichzeitig die wissenschaftliche Tätigkeit in Gießen keine rechte Freude gemacht zu haben: Gegenüber seiner Schwiegermutter klagte er über die eigene Faulheit – tatsächlich publizierte Haller außer einigen Aufsätzen und einer kleineren Quellensammlung in den zehn Gießener Jahren nichts Wesentliches, brachte zumindest außer einer aus einer Seminarübung entstandenen quellenkritischen Spezialuntersuchung keine weitere 91 Johannes Haller an Karl Brandi, 12. Juni 1911: SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Brandi 59:38 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 133. 92 Johannes Haller an Karl Hampe, 9.  Juni 1912 und 11.  Juni 1912: Universitätsbibliothek Heidelberg, Nl Karl Hampe, Heid. Hs. 4067. Zum Thema der Auseinandersetzung vgl.­ Haller, Der Sturz Heinrichs des Löwen, sowie Hampe, Heinrichs des Löwen Sturz. Aus­ führlicher dazu: Reichert, Gelehrtes Leben, S. 92 f. 93 Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 12. Februar 1903: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 103: »Ueberdies ist die allgemeine polit. Lage derart verfahren, daß für beiläufig zehn Jahre eine wesentlich andere Politik, als die jetzige, garnicht zu machen sein wird. Diese 10 Jahre gedenke ich mit Gottes Hilfe zu meiner eigenen wissenschaftlichen Ausbildung zu verwenden. Denn ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dermaleinst auch ein Gelehrter zu werden, zwar kein so großer, wie Sie, aber doch einer, der auf seinem Gebiete jeden Weg und Steg aus eigner Anschauung kennt und sie andern weisen kann.«

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Mono­graphie zuwege, vor allem nicht den mehrfach angekündigten zweiten Band von »Papsttum und Kirchenreform«.94 Er war regelrecht erleichtert, als ihm der Fortgang aus Gießen 1913 einige leidige Aufgaben wie die Herausgabe des Mainzer Urkundenbuches abnahm.95 Auch grundsätzlich scheint Haller schon in dieser Zeit Vorbehalte gegenüber der Entwicklung des deutschen Hochschulwesens gehabt zu haben. Aus den Briefen Hallers ist das höchstens indirekt nachzuweisen, aber in seinen Lebenserinnerungen behauptete er, bereits damals Zeuge eines allgemeinen Niveau­ verfalls in Schule und Universität geworden zu sein. Als Gründe nennt er neben der Zulassung von Frauen zum Studium – einer Maßnahme, deren grundsätzliche Berechtigung er aber durchaus anerkannte – vor allem den Bedeutungsverlust des humanistischen Gymnasiums durch die seit 1900 von Preußen ausgegangene Aufwertung der Realschulen und den damit verbundenen Niedergang der klassischen Bildung.96 Für Haller hing dieses Thema – zu dem er sich in den 1920er Jahren auch öffentlich äußerte – außerdem zusammen mit der Entwicklung der Hochschulen von einer für eine Elite gedachten Institution hin zu einer Massenuniversität, was den Niveauverfall unabwendbar gemacht und die universitäre Lehre vor unlösbare Probleme gestellt habe.97 Ob Haller diese Position bereits vor 1914 bzw. 1918 in solcher Schärfe vertrat, ist zweifelhaft. Allerdings bezog sich sein nachträgliches Urteil tatsächlich auf einen faktischen Wandel des deutschen Hochschulbetriebs, der unter anderem damit umzugehen hatte, dass sich zwischen 1901 und 1913 die Zahl der Studenten beinahe verdoppelte.98 Ansonsten erlebte die deutsche Wissenschaft bis 1914 allerdings eher eine Blüte als einen Niedergang, was wesentlich mit 94 Vgl. dazu auch Johannes Haller an Adelheid Fueter-Gelzer, 4. September 1908: UAT 305/49 (»Uebrigens brauchst Du nicht zu fürchten, daß ich zu fleißig sei: ich bin immer noch so faul, daß die Collegen es nicht sehen dürften, sollte mein Ruf nicht endgültig dahin­ schwinden.«). Hallers mediävistische Publikationen aus Gießener Zeit sind: Haller, Die Quellen zur Geschichte; Haller, Die Marbacher Annalen; Haller, England und Rom; Haller, Canossa; Haller, Das Papsttum und Byzanz; Haller, Die Pragmatische Sanktion von Bourges; Haller, Das Reich Karls des Großen; Haller, Die Verschwörung von Segewold; Haller, Die Kirchenreform auf dem Konzil von Basel; Haller, Der Sturz Heinrichs des Löwen;­ Haller, Auswärtige Politik und Krieg; Haller, Die Karolinger und das Papsttum; Haller, Zur Zusammenkunft von Chiavenna; Haller, Pius II. 95 Zum Mainzer Urkundenbuch vgl. Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 8.  Mai 1912: BArch N 1035/21) sowie Johannes Haller an Elisabeth (Fueter-)Haller, 12. Mai 1912: UAT 305/48. Haller war 1907–1913 Vorsitzender des Ausschusses für das Mainzer Urkundenbuch; vgl. dazu auch Stimming, Mainzer Urkundenbuch, Vorwort. 96 Zu den preußischen Schulreformen unter Wilhelm II. vgl. Albisetti/Lundgreen, Höhere Knabenschulen. 97 Vgl. hierzu Haller, Lebenserinnerungen, S.  234 f. und S.  239–244. Ausführlich dazu vgl.­ Kapitel VII.4. 98 Vgl. dazu Bruch, Universitätsreform als soziale Bewegung, S. 75. Vgl. außerdem Ringer, Das gesellschaftliche Profil, S. 93–95; vgl. Kroll, Kultur, Bildung und Wissenschaft, S. 5, sowie Kroll, Geburt der Moderne, S. 140–159.

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der wilhelminischen Hochschulpolitik im »System Althoff«99 zu tun hatte. Das humanistische Bildungsideal aber trat tatsächlich eher zurück gegenüber einer Konzentration auf Spezialforschung und einer Förderung vor allem wirtschaftlich relevanter Forschungsdisziplinen. Dennoch behielt die Geschichtswissen­ schaft im Großen und Ganzen ihre Funktion als zumindest geisteswissenschaftliche Leitdisziplin.100 Letzteres hätte Haller wohl auch später nicht bestritten; er war aber doch der Meinung, dass sich bereits zu diesem Zeitpunkt und ganz besonders in der akademischen Provinz, in der er sich aufhielt, ein Niedergang abzeichnete, und zwar im Hinblick auf den akademischen Nachwuchs. Aber auch darüber hinaus ist bei Haller so etwas wie eine aristokratische Distanz gegenüber der »mittelständischen Elite«101 der Gelehrten festzustellen. Hier liegt auch ein Erklärungsgrund für die bei Haller immer wieder feststellbare Mischung aus Unsicherheit und Überlegenheitsbewusstsein, denn ohne sich recht dabei wohlzufühlen, gehörte er nun eben doch zu den »Mandarinen« der deutschen Gelehrtenwelt, die sich zwar allmählich im Niedergang befand, deren sozial geprägter »Habitus«102 aber doch auch über die Öffnung des bisher auf das Bildungsbürgertum zugeschnittene soziale »Bezugssystem«103 hinaus noch lange erhalten blieb. Letztlich gab Haller aber selbst zu, dass er vor 1914 grundsätzlich optimistisch in die Zukunft geblickt habe: »Daß wir Epigonen waren und die stolze Reihe der großen deutschen Historiker seit Treitschkes Tode (1896) keine ebenbürtige Fortsetzung fand, habe ich damals wohl gewußt. Aber auch in mir war doch etwas von dem Lebensmut, von dem die Nation beherrscht war. Schwammen wir im Augenblick nicht auf der Höhe des Wellen­ berges, warum sollte nicht schon die nächste Woge uns wieder emporheben? Es galt nur rüstig vorwärts zu streben, Ziel und Aufgabe nicht aus den Augen zu lassen und jeder an dem Platz, auf den er gestellt war, das Seine zu tun, so konnte der Erfolg nicht ausbleiben. In den besten Mannesjahren stehend traute man sich zu, mitzuhelfen, daß die großen Vorbilder nicht mehr lange auf würdige Nachfolge warten sollten.«104

Wenn Hallers Ziel, sich selbst erst einmal in Ruhe zum Gelehrten auszubilden, seine Isolation teilweise erklärt, so ist der Hauptgrund, weshalb Haller mehr oder weniger selbst für seine fachwissenschaftliche Außenseiterposition verantwortlich war, aber wohl in seiner fortgesetzten Neigung zu mitunter scharf polemisch geführten Kontroversen mit Kollegen zu suchen. Als prominentes99 Zum »System Althoff« vgl. Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen; vgl. Brocke, Die Entstehung der deutschen Forschungsuniversität; vgl. Brocke, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik. 100 Vgl. Kroll, Kultur, Bildung und Wissenschaft, S. 7; vgl. Hammerstein, Deutsche Geschichtswissenschaft, bes. S. 7 f.; vgl. Ringer, Die Gelehrten, bes. S. 12–16. 101 Ringer, Das gesellschaftliche Profil, S. 98. 102 Vgl. dazu bes. Boudieu, Homo academicus. 103 Ringer, Das gesellschaftliche Profil, S. 103, sowie insgesamt Ringer, Die Gelehrten. 104 Haller, Lebenserinnerungen, S. 247.

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tes, auf Hallers fachwissenschaftliches Spezialgebiet bezogenes Beispiel sei hier die im Wesentlichen 1909 und 1913 geführte Debatte mit dem französischen Historiker Noël Valois genannt.105 Haller hatte sich bereits 1903 in seinem Vortrag über den »Ursprung der gallikanischen Freiheiten« mit Valois’ vierbändiger G ­ eschichte Frankreichs und des Großen Abendländischen ­Schismas auseinandergesetzt und hatte insbesondere dessen Behauptung bestritten, das Abstimmungsprotokoll zum Obödienzentzug auf der Pariser Synode 1398 sei eine Fälschung.106 Die Verdienste des Valoisschen Werks stellte Haller ausdrücklich nicht in Abrede, äußerte aber – in »Papsttum und Kirchenreform« – auch grundsätzliche Zweifel an der These, Frankreich habe sich um die Einigung der Kirche besonders verdient gemacht; das seien »patriotische Phantasien, die mit Geschichte nichts zu tun haben.«107 Haller hatte hier in der Sache recht und begann in diesem Bewusstsein seit 1909 den Ton gegen Valois zu verschärfen, dem er vor allem vorwarf, aus­ gleichermaßen ultramontaner wie französisch-nationalistischer Perspektive zu urteilen.108 Zuerst richtete er sich gegen Valois’ Darstellung der Pragma­tischen Sanktion von Bourges, die er einer ausführlichen Detailkritik unterzog und der er neben der (kirchen-)politisch motivierten Tendenz auch vorwarf, H ­ allers eigene Forschungen zum Thema »totschweigen« zu wollen.109 Ihren Höhe­ punkt erlebte die Debatte in einem 1913 in der Historischen Zeitschrift geführten Schlagabtausch, der sich um Valois’ Publikation über Papst und Konzil 1418–1450 drehte.110 Haller eröffnete diesen mit einer ausführlichen Rezension des Buches in der Historischen Zeitschrift, die einem Totalverriss gleichkam: Er warf Valois vor, sämtliche Quellen und Literatur zu ignorieren, die seiner propäpstlichen und profranzösischen Sichtweise entgegenstünden und dabei auch vor bewusstem »Verschweigen und Verschleiern der Wahrheit« nicht zurückzuschrecken.111 Valois antwortete mit einer nur unwesentlich weniger polemischen Verteidigung seiner Darstellung, in der er Haller eine an Lächerlichkeit grenzende Vorgehensweise sowie blinde Verehrung für die Väter des 105 Vgl. dazu Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 289 f. und vor allem Müller, Die Franzosen, S.  2 f., mit weiteren Literaturhinweisen. Eine weitere Kontroverse führte Haller in diesen Jahren mit seinem Kollegen Karl Hampe; dabei ging es um den Sturz Heinrichs des ­Löwen: Haller, Der Sturz Heinrichs des Löwen; Hampe, Heinrichs des Löwen Sturz;­ Haller, Zur Zusammenkunft von Chiavenna; Reichert, Gelehrtes Leben, S. 92 f., sowie die oben erwähnten Briefe Hallers an Hampe. 106 Haller, Der Ursprung der gallikanischen Freiheiten, S. 204 f. Vgl. Valois, La France et le Grand schisme d’occident. Valois konterte Hallers Äußerung mit dem Hinweis, dieser habe das Archivmaterial gar nicht selbst eingesehen: vgl. Valois, in Bulletin critique 25, 1904, 461–464; vgl. hierzu Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 290. 107 Haller, Papsttum und Kirchenreform, S. 315. 108 Vgl. dazu Müller, Die Franzosen, S. 3. 109 Haller, Die Pragmatische Sanktion von Bourges, Zitat S. 50. Valois, Histoire de la Prag­ matique Sanction de Bourges. 110 Valois, Le Pape et le Concile. 111 Haller, Rez. »Noël Valois: Le Pape et le Concile«, Zitat S. 344.

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Basler Konzils vorwarf und den Verdacht äußerte, Haller betrachte die Konzilsgeschichte als exklusiv für ihn »reserviertes Jagdgebiet«.112 In seinem darauf wiederum reagierenden »Schlußwort« wies Haller sämtliche Vorhaltungen von Valois mit einer Ausnahme zurück und bemerkte – zutreffend –, dass diese sich auf Nebensächlichkeiten bezögen und dass Hallers Hauptvorwürfe unbeantwortet geblieben seien. Haller verkündete daher, sich in Zukunft nicht mehr mit den Veröffentlichungen von Valois befassen zu wollen.113 Auch wenn der Ton in akademischen Diskussionen dieser Zeit grundsätzlich sehr viel schärfer war als heute, ging Hallers Grad an Polemik doch über das damalige Normalmaß hinaus.114 Nichtöffentlich wurde Haller sogar noch deutlicher; sein »Schlußwort« schickte er an Friedrich Meinecke mit der Bemerkung: »Valois’ MS. mit meinem Nachwort, das ich so kurz wie möglich gehalten habe, folgt hierbei zurück. Er ist doch noch viel dümmer, als ich angenommen hatte.«115

Neben seiner akademischen Tätigkeit im eigentlichen Sinne befasste sich Haller auch in Gießen weiterhin mit meta- und tagespolitischen Fragen. Seine besondere Aufmerksamkeit erregten die Ereignisse in Russland. Schon 1904, nach dem Ausbruch des russisch-japanischen Krieges und den damit verbundenen Unruhen im Baltikum, hatte er gegenüber seinem Vater die Sorge geäußert, man habe dort ein neues »Mittelalter«116 zu erwarten. Die revolutionären Zustände in Russland seit 1905 interpretierte er in Bezug auf seine Heimat als logische Konsequenz des Krieges und fand scharfe Worte für die Duma – eine neugeschaffene und als zweite Kammer fungierende gewählte Versammlung –, die »eine Spottgeburt aus Dreck und Feuer«117 sei. Hallers Hauptinteresse galt der prekären Situation der Deutschbalten in den russischen Ostseeprovinzen – 184 Herrenhöfe wurden infolge der revolutionären Unruhen zerstört, 82 Deutschbalten ermordet.118 Er beteiligte sich aktiv am »Ausschuss für die Unterstützung der notleidenden Deutschen Rußlands«, der Spendensammlungen für die 112 Valois, Entgegnung, Zitat S. 344. 113 Haller, Schlußwort, bes. S. 347 f. 114 Ein Indikator hierfür ist die redaktionelle Vorbemerkung zu Valois’ Entgegnung auf die Haller-Rezension: »Wir haben von unserem Grundsatze, Entgegnungen auf Rezensionen, die über den Rahmen des § 11 des Preßgesetzes hinausgehen, abzulehnen, im vorliegenden Fall eine Ausnahme gemacht, um einem Ausländer Gelegenheit zu geben, in unserer Zeitschrift sich gegen eine besonders scharfe Kritik zu verteidigen.« (Valois, Entgegnung, S. 338.) 115 Johannes Haller an Friedrich Meinecke, 11.  April 1913: GStA, VI. HA, Nl Meinecke, Nr. 14, 69. 116 Johannes Haller an Anton Haller, 13. März/29. Februar 1904: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 122. 117 Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 15.  November 1906: BArch N 1035/28 bzw. Hassel­horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 127. Zum russisch-japanischen Krieg und zur politischen Situation in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. Kreiner, Der RussischJapanische Krieg. 118 Rauch, Geschichte der baltischen Staaten, S. 26 f.

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in existentielle Not geratenen Deutschbalten organisierte, und wurde dessen Sprecher für Gießen.119 In einem öffentlichen Vortrag vom Januar 1906 warb er um reichsdeutsche Unterstützung für die »deutsche Kolonie« an der Ostsee; dabei verwies er auf die Kontinuität russischer Bestrebungen zur Russifizierung des Baltikums seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verteidigte die deutschbaltische Aristokratie gegen den offenbar verbreiteten Vorwurf, die­ bäuerliche Bevölkerung drangsaliert zu haben.120 Neben diesem Engagement ist nur ein weiterer öffentlicher politischer Auftritt Hallers aus der Gießener Zeit bekannt: Am 29. Juli 1905 hielt er die Festrede zur Grundsteinlegung des Bismarckturms der Gießener Studentenschaft. Darin lobte er Otto von Bismarck als den größten Mann des 19. Jahrhunderts und legte dar, wieso der Reichsgründer trotz aller unleugbaren Schwächen ein politisches Vorbild sei. Als Hauptverdienst Bismarcks nannte Haller interessanterweise nicht die Herstellung der deutschen Einheit, sondern die Durchsetzung realistischer Maßstäbe in der Politik. Damit habe er das Zeitalter des »parlamentarischen Dogmas« beendet und sei so zum »Wiederhersteller der monarchischen Idee« geworden; allerdings nicht eines traditionalistischen, auf dem Gottes­ gnadentum ruhenden Absolutismus, sondern eines modernen Volkskönigtums: »des Volkes Führer, nicht sein Herr – das ist der Monarch, wie wir ihn brauchen, weil wir freie Männer und weil wir Deutsche sind«.121 Dieser Vortrag ist vor allem deshalb so interessant, weil die hier geäußerte Auffassung über Bismarck einen Ansatzpunkt für eine Erklärung von Hallers vorübergehendem Liebäugeln mit dem Nationalsozialismus bietet: ­Hitlers ­Führer­tum, so scheint Haller bis zum Spätsommer 1932 geglaubt zu haben, stehe in dieser von Bismarck geschaffenen Linie einer modernen – nicht konservativen – Monarchie.122 Damit wird außerdem eine spezifische Kontinuitätslinie in Hallers politischen Auffassungen deutlich, die auch über den Bruch von 1918 hinweg bestehen blieb und die er mit anderen »Reichsbalten«123 teilte: Ein derartiges Verständnis von »National-Sozialismus« entsprach nämlich in vieler Hinsicht den Vorstellungen Friedrich Naumanns von einer Verbindung von »Demokratie und Kaisertum« zum Zweck eines Ausgleichs von nationalem Interesse und sozialer Verantwortung.124 Überhaupt gibt es starke Indizien dafür, dass die Anziehungskraft des Nationalsozialismus auf Haller ganz wesentlich damit zusammenhing, dass er in diesem einen Versuch erblickte, die »national119 Vgl. Haller, Die Hilfsaktion für die Deutschen in Rußland (ein Exemplar in: UAT 305/87). In dem Ausschuss wirkten noch weitere deutschbaltische Gelehrte wie etwa Adolf H ­ arnack mit: vgl. Nottmeier, Adolf von Harnack, S. 58. 120 Haller, Die Lage der Deutschen in den russischen Ostseeprovinzen, S. 11 (ein Exemplar in: UAT 305/7). Vgl. außerdem die von Haller gesammelten Zeitungsberichte über die Lage in der baltischen Heimat, in: UAT 305/87. Zur Russifizierung vgl. Kapitel II.3. 121 Haller, Rede zur Grundsteinlegung (ein Exemplar in: UAT 305/7), Zitate S. 6, S. 7 und S. 8. 122 Vgl. dazu Kapitel VIII.1. 123 Beispielsweise mit Max Hildebert Boehm: vgl. dazu Prehn, Max Hildebert Boehm, S. 77. 124 Vgl. Naumann, Demokratie und Kaisertum.

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sozialen« Ideen Naumanns zu verwirklichen.125 Der Vortrag von 1905 ist dabei ausdrücklich kein Zeugnis für einen schon vor 1914 politisch radikalen oder gar protonationalsozialistischen Haller, sondern zeigt vielmehr die relative inhaltliche Kontinuität von Hallers politischen Anschauungen über die nach dem Ersten Weltkrieg sukzessive erfolgte Radikalisierung hinweg: Als Vorbild präsentiert wurde 1905 nämlich gerade nicht ein »radikaler«, sondern ein maßvoller Bismarck, und nach Hallers eigenem Bekunden war sein Vortrag unausgesprochen gegen die aus seiner Sicht maßlosen politischen Forderungen der Alldeutschen gerichtet.126 Ganz wohl fühlte Haller sich 1905 allerdings nicht in der Rolle des politischen Redners. Seinem Vater schrieb er im August 1905: »Ich war in den letzten Wochen in G[ießen] recht überhetzt: Doppelte Vorlesungslast, Examina, Druckarbeiten und schließlich noch die Volksrede, die Du hoffentlich inzwischen erhalten hast. Das letzte war das Größte. Zum Glück ging es nach meinem Gefühl passabel, nach dem Urteil der Zuhörer ganz ordentlich. Merkwürdiger Weise konnte ich ohne Ueberanstrengung der Stimme den ganzen, ziemlich großen Platz bequem beherrschen, und stecken geblieben bin ich auch nicht. Aber daß es mir Freude gemacht habe, kann ich nicht behaupten; es geht mir doch wider die Natur.«127

Trotz dieser gelegentlichen Ausflüge in die politische Auseinandersetzung wollte sich Haller in Gießen eben doch in erster Linie einen Ruf als seriöser Fachwissenschaftler erwerben. An der Universität selbst wirkte Haller gerade dadurch noch lange nach; dies auch deshalb, weil er sich um die Erweiterung der Bibliothek des Historischen Seminars sehr verdient gemacht hat.128 Dass es ihm aber auch außerhalb Gießens tatsächlich gelang, als bedeutender Vertreter seines Faches anerkannt zu werden, wird man ungeachtet vielfacher Irritationen wegen Hallers scharfen akademischen Zungenschlags nicht bestreiten können; in den Augen seiner Kollegen galt er als ein zwar eigenwilliger, aber doch ernstzunehmender Kopf. Das bewies spätestens der 1913 an ihn ergangene Ruf nach Tübingen. Seinem »ältesten akademischen Freund«, dem Gießener Kunsthistoriker Christian Rauch, bekannte Haller 1935, seinen Fortgang »als Befreiung« empfunden zu haben, zugleich aber seitdem ein »Heimweh« nach der Gießener Zeit zu verspüren, die für seine »harmonische Ausbildung fruchtbarer« gewesen sei als die anschließenden Jahre der größeren Wirksamkeit.129

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Vgl. dazu die Kapitel V.2. und VIII.1. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 12 bzw. unten S. 307. Johannes Haller an Anton Haller, 10. August/28. Juli 1905: UAT 305/35. Vgl. dazu Gundel, Johannes Haller; vgl. auch Gundel, Die Geschichtswissenschaft an der Universität Gießen, S. 232 f. 129 Johannes Haller an Christian Rauch, 3.  November 1935, zit. nach: Gundel, Johannes­ Haller, S. 188–190.

Berufung nach Tübingen

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4. Berufung nach Tübingen Am 24. Februar 1913 reichte die Philosophische Fakultät der Universität Tübingen ihre Vorschlagsliste für die Besetzung des durch den Fortgang von Walter Goetz freigewordenen Lehrstuhls für mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften an das Akademische Rektoramt weiter.130 Die Liste enthält drei Namen; Haller setzte man nicht nur auf Platz 1, sondern betonte auch, eigentlich komme nur er für die Professur infrage; die auf den beiden anderen Plätzen genannten Albert Werminghoff und Robert Holtzmann hätten bei weitem nicht Hallers Qualifikation.131 Haller sei »literarisch ungewöhnlich fruchtbar und vielseitig«, genieße einen hervorragenden Ruf als akademischer Lehrer und zeichne sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten durch »die vollkommenste methodische Schulung und Gewissenhaftigkeit« einerseits, »einen ausserordentlichen Reichtum an Ideen« andererseits aus.132 Hallers als tendenziell problematisch empfundene Neigung zu Polemik falle demgegenüber nicht ins Gewicht: »Der Fakultät ist wohlbekannt, dass Haller als energische Persönlichkeit hie und da Gegner hat, und dass aus diesem Grunde Bedenken gegen seine Berufung geltend gemacht werden könnten; die Fakultät hat sich indessen auf Grund sehr zahlreicher Aeusserungen eingeweihter Kollegen an den verschiedensten Universitäten überzeugt, dass derartige Bedenken völlig unbegründet sind. Die Fakultät bittet den akademischen Senat dringend, dem K. Ministerium die Berufung dieses­ bedeutenden Forschers und Lehrers angelegentlich zu empfehlen, der wie einer unserer Berichterstatter mit Recht schreibt, eine Zierde auch der grössten Universität sein würde.«133

Der Große Senat der Universität Tübingen schloss sich der Auffassung der­ Philosophischen Fakultät an und leitete die Vorschlagsliste Anfang März 1913 an das Württembergische Ministerium des Kirchen- und Schulwesens weiter. In einem eigenen Begleitschreiben wurden Hallers Qualifikation sowie seine Persönlichkeit knapp beurteilt: »Die Verbindung von ausgebreitetster Kenntnis des Materials, scharfer Kritik und Stellung der Probleme, von Reichtum der Ideen, künstlerischer Verarbeitung und vorzüglicher Lehrgabe in Vorlesung und Seminar hebt ihn aus allen für uns erreich130 Vorschlagsliste der Philosophischen Fakultät Tübingen an das Akademische Rektoramt, 24. Februar 1913: UAT 126/241 (Duplikat in: UAT 119/151). Grundlegend zu Walter ­Goetz: Weigand, Walter Wilhelm Goetz. 131 Zu Albert Werminghoff vgl. Lintzel, Albert Werminghoff; zu Robert Holtzmann vgl. Timm, Art. »Holtzmann, Robert«. 132 Vorschlagsliste der Philosophischen Fakultät Tübingen an das Akademische Rektoramt, 24. Februar 1913: UAT 126/241, S. 2 f. 133 Ebd., S. 3.

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baren mittelalterlichen Historikern heraus. Wenn seine Persönlichkeit zum Teil als etwas schwierig geschildert wird, so tritt das für uns schon darum ganz zurück, weil die vollkommene Vornehmheit und Ehrenhaftigkeit seines Charakters von nie­ mandem bestritten ist.«134

Diese beiden für Haller sehr schmeichelhaften Gutachten sollten aber weder zu dem Fehlschluss führen, dass Hallers fachliche Geltung unangefochten gewesen ist, noch dass er eine glänzende Karriere durchlaufen hätte. 1913 war Haller bereits Ende Vierzig, hatte zehn Jahre in der akademischen Provinz verbracht und erhielt nun den Ruf an eine zwar nicht unbedeutende, aber auch nicht wirklich in der allerersten Reihe stehende Universität.135 Ohne Zweifel bot sich damit für Haller aber die Möglichkeit eines deutlichen beruflichen Aufstiegs. Es ist daher wenig verwunderlich, dass der sonst eher zur Verkomplizierung organisatorischer und institutioneller Fragen neigende Haller keine zwei Wochen brauchte, um sich für die Annahme des Rufes zu entscheiden.136 Das verbleibende knappe halbe Jahr in Gießen nutze Haller, die dortigen Verhältnisse zu ordnen – insbesondere sorgte er dafür, dass Robert Holtzmann sein Nachfolger wurde – und einen wenn auch vergeblichen Versuch zu unternehmen, seinen baltischen Adelstitel von den württembergischen Behörden anerkennen zu lassen.137 Es war dies die erste von zahlreichen Reibereien zwischen Haller und den württembergischen Behörden, deren Schulverwaltung Hallers Kritik besonders herausforderte.138 In seinem ersten Tübinger Semester scheint Haller vor allem bemüht gewesen zu sein, seinen fachlichen Ruf zu festigen und die Möglichkeiten zu nutzen, welche ihm die doch nicht unwesentlich bedeutendere Universität bot. Gemein­ 134 Großer Senat der K. Universität Tübingen an das K. Ministerium des Kirchen- und Schulwesens, 6. März 1913: UAT 126/241 (Duplikat in: UAT 119/151), S. 1 f. 135 Vgl. dazu Hallers eigene Einschätzung: »Die Übersiedlung von Gießen nach Tübingen führte mich von einer ausgesprochen kleinen an eine der mittleren Universitäten.« ­(Haller, Lebenserinnerungen, S. 263.) 136 Vgl. das Schreiben des K. Württ. Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens an Jo­ hannes Haller, 26.  März 1913 sowie das darunter verfasste Antwortkonzept Hallers: UAT 305/22; vgl. die Ausstellungsurkunde vom 9.  April 1913 und die an Haller am 10. April 1913 ergangene Mitteilung darüber: UAT 305/22. 137 Ein Teil der Familie Haller hatte aufgrund besonderer Verdienste für das russische Reich einen einfachen Erbadel erhalten; vgl. dazu Haller, Chronik der Familie Haller, S. 3. Im 18. und 19. Jahrhundert war die Erlangung des Erbadels durch Dienste für das russische Reich relativ einfach; vgl. dazu Wittram, Drei Generationen, S. 255 f. Zu Hallers Bemühungen einer Anerkennung des Titels durch die deutschen Behörden vgl. Johannes Haller an Harry Bresslau, 12. April 1913: Staatsbibliothek zu Berlin, NL Bresslau bzw. Hassel­ horn/­K leinert, Johannes Haller, Nr. 137; vgl. Johannes Haller an das Württembergische Innenministerium, 21. Mai 1913: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 156 Bü 200 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  138; vgl. Württembergisches Innenministerium an Johannes Haller, 30. Juni 1913: UAT 305/22; vgl. Johannes Haller an Albert Brackmann, 30. und 31. Mai 1913: GStA, VI. HA, Nl Brackmann, Nr. 11 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 139 und 140. 138 Vgl. Kapitel VII.3.

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sam mit den Tübinger Juristen Arthur Benno Schmidt und Philipp Nico­lai von Heck begann er die Herausgabe der insgesamt 12 Bände umfassenden »Arbeiten zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte«.139 Daneben konzentrierte er sich auf die Lehrtätigkeit, durchaus mit Blick auch auf im weitesten Sinne gegenwartspolitische Fragen, im Wesentlichen aber auf die relevanten Fachdiskussionen bezogen. Seine Antrittsvorlesung behandelte Kaiser Heinrich VI. als »letzte[n] echte[n] Vertreter« des altdeutschen Kaisertums, das er gegen den Vorwurf der politischen Verirrung qua Nationsvergessenheit in Schutz nahm.140 Die Eroberung Siziliens, so Haller, habe die kaiserliche Macht im deutschen Kernland nicht etwa geschwächt, sondern gestärkt. An Heinrich VI. könne man besonders deutlich erkennen, dass nicht universale Herrschaft das Ziel des deutschen Kaisertums gewesen sei, sondern »Vorherrschaft, Führerschaft, Hegemonie des deutschen Reiches im Kreise seiner Nachbarn.«141 Nur der frühe Tod Heinrichs habe die Verwirklichung dieses Ziels nicht nur des­ Kaisers, sondern auch der deutschen Nation, verhindert. Die in den oben zitierten Gutachten vorsichtig anklingenden Bedenken wegen Hallers »schwieriger« Persönlichkeit schienen sich bis Mitte 1914 nicht zu bestätigen. Folgt man den Erinnerungsnotizen von Hallers Tochter Adelheid, so war Haller in seiner Tübinger Anfangsphase sowohl mit seinem unmittelbaren Kollegen Adalbert Wahl als auch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Robert Wilbrandt befreundet, der erste politisch rechtsaußen, der zweite ein bekennender Sozialist.142 Das ist umso erstaunlicher, als Haller gerade mit diesen beiden Kollegen schon wenige Jahre später in verschiedenen Zusammenhängen in Streitigkeiten geriet, die mindestens im Falle Wilbrandts bis zur offenen Feindschaft führten.143 Vielleicht ist dies auch als Indikator für den Wandel der politischen Anschauungen Hallers zu verstehen, der bis 1914 Auffassungen vertrat, die wie erwähnt am ehesten als liberal zu bezeichnen sind.144 Ein besonderes politisches Engagement ist bei Haller während des Wintersemesters 1913/14 und in den ersten Wochen des Sommersemesters 1914 nicht nachzuweisen. Er hat später behauptet, den Ausbruch des Ersten Weltkrieges kommen gesehen zu haben; das kann sich aber höchstens auf die prinzipielle Erwartung eines Konfliktes mit Russland beziehen.145 Insgesamt war Haller zwar mit der Regierungspolitik des Kaiserreiches in vielen Punkten unzufrieden, dies betraf aber vornehmlich innenpolitische, nicht außenpolitische 139 Vgl. dazu Haller, Lebenserinnerungen, S. 274. Zu Philipp Nicolai von Heck vgl. Bieberstein, Art. »Heck, Philipp Nicolai von«. 140 Haller, Kaiser Heinrich VI., Zitat S. 47. 141 Ebd., S. 63. 142 Vgl. das Manuskript »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«, Abschnitt »Kollegen«: UAT 305/58. Zu Adalbert Wahl vgl. Rapp, Nekrolog; zu Robert Wilbrandt vgl. dessen Lebenserinnerungen: Wilbrandt, Ihr glücklichen Augen. 143 Vgl. Kapitel VII.4. 144 Vgl. dazu die Kapitel IV.5. und V.3. 145 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 1 bzw. unten S. 290.

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Fragen.146 Seine Skepsis gegenüber Deutschland und den Deutschen mag in den Marburger und Gießener Jahren neue Beweise erhalten haben, aber sie war doch bei weitem nicht mehr so präsent wie Anfang der 1890er Jahre.147 Die Monate vor der Julikrise erlebte Haller wie so viele andere eben nicht als düstere, drohendes Unheil kündende Zeit, sondern eher als das Gegenteil, zumindest aber als ambivalent: »Für mich persönlich erhält das Andenken jener Tage einen besonderen Glanz durch die Erinnerung an den langdauernden, sonnig warmen Herbst 1913 und den nicht weniger schönen Frühling und Sommer 1914, in denen die natürlichen Reize Tübingens und seiner näheren und ferneren Umgebung ihren ganzen Zauber entfalteten. Damals habe ich meine glücklichsten Tage erlebt im Genuß einer schönen Gegenwart und froher Erwartung einer noch schöneren Zukunft. […] Da brach der Weltkrieg aus, zerstörte mit jähem Schlag alle Freude an der Gegenwart und rückte alle Hoffnungsziele der Zukunft in ungewisse Ferne. Hinter uns aber war ein eherner Vorhang niedergegangen, der unser gegenwärtiges und künftiges Dasein für immer unerbittlich von der Vergangenheit schied.«148

Im Falle Hallers gilt dies nicht nur für die allgemeinen und politischen Lebensumstände, die der Krieg radikal und nachhaltig veränderte, sondern auch für sein berufliches Leben. Haller wurde 1914, auf seine Erfahrungen im politischen Journalismus zurückgreifend, zum dezidiert politischen, die Gegenwartspolitik kommentierend beeinflussenden Historiker. Das heißt nicht, dass Haller fortan keine fachwissenschaftlichen mediävistischen Studien mehr betrieb, aber sein Fokus wie seine Wirkabsicht lagen fortan – im Grunde bis zur Emeritierung – in anderer Richtung.

146 Vgl. dazu ebd., S. 5–8 bzw. unten S. 295–300. 147 Vgl. Kapitel III. 148 Haller, Lebenserinnerungen, S.  274 f. Zur Stimmung vor 1914 zumindest im Hinblick auf einen eventuell bevorstehenden Krieg vgl. auch Knorring, Die Wilhelminische Zeit, S. 111 f. Vgl. dazu auch die sehr viel ambivalentere Einschätzung Hallers: Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 11 bzw. unten S. 306: »Indem ich mich bemühe, das Bild der letzten Jahre vor 1914 in der Erinnerung wieder aufleben zu lassen, kommt mir erst ganz zum Bewußtsein, wie zwiespältig es war. Äußerer Glanz, schnell wachsender Reichtum, weit ausgreifende Unternehmungslust, feste Ordnung, kurz alle Zeichen des Gedeihens, und doch nicht die entsprechende Stimmung, die sich der Gegenwart freut und der Zukunft vertraut. Die sorglose Zuversicht der Anfangsjahre des Jahrhunderts war einer Unruhe, einer Unzufriedenheit gewichen, die sich mit der äußeren Kraftentfaltung nicht in Einklang bringen ließ.«

VI. Weltkriegsdeuter (1914–1918) 1. Geistige Kriegführung In privatem Kreise scheint Haller bereits am 28. Juni 1914, also am Tag der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares, die Befürchtung geäußert zu haben, das Attentat könne der Auslöser eines europäischen Krieges werden.1 Da schon aus gesundheitlichen Gründen ein Kriegseinsatz für Haller nicht infrage kam, stellte er sich am 1. August 1914, unmittelbar nach der erfolgten Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Russland, dem württembergischen Ministerpräsidenten als freiwilliger Mitarbeiter in der Kriegspublizistik zur Verfügung.2 Es ist unschwer nachzuvollziehen, wieso der Schritt zur politischen Publizistik zu diesem Zeitpunkt naheliegend war. Nicht nur hatte Haller in Rom und Basel bereits entsprechende (neben-)berufliche Erfahrungen gesammelt, sondern die Tätigkeit als Journalist kam auch einem bei Haller sehr früh nachweisbaren Bedürfnis nach Breitenwirksamkeit entgegen. Bereits 1894 hatte er gegenüber seiner Halbschwester Helene über die Fruchtlosigkeit eines spezialistischen Fachhistorikertums geklagt: »Ueberhaupt: der Zweck dieser Art von Arbeit ist mir oft in schwachen Stunden sehr dunkel. Wir mühen uns ein Leben lang, erlegen uns Opfer auf  – denn zur richtigen exacten Forschung gehört für jeden, der nicht von Natur ein Wurm ist, sehr viel Selbstverleugnung – und für wen das alles? Wenige lesen es, diese wenigen sind selber nur Unseresgleichen, und so dreht man sich im Kreise herum; die vereinzelten Laien, die mal ein Geschichtswerk lesen, haben meist weder Genuß, noch Belehrung davon. Der Geschichtsschreiber hat heute kein Publikum.«3

Der Schritt in die Kriegspublizistik war dadurch geradezu vorgezeichnet, denn hier tat sich 1914 ein Tätigkeitsfeld auf, auf dem Haller historische Expertise, Zeitgeschichtsschreibung und politische Analyse verbinden und dabei be­ gründet darauf hoffen konnte, damit ein Publikum zu finden. Es ist daher kaum erstaunlich, dass Haller sofort nach Kriegsausbruch eine so umfangreiche Veröffentlichungs- und Vortragstätigkeit entfaltete, dass er zu den produktivsten Kriegspublizisten des Reiches gehörte.4 Sein Auftrag lautete dabei zunächst, die 1 Vgl. das Manuskript »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«, Abschnitt »Physis«, S. 7: UAT 305/58; vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 68 bzw. unten S. 354. 2 Vgl. ebd., S. 70 bzw. unten S. 356. 3 Johannes Haller an Helene Haller, 1. Mai/19. April 1894: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 25. 4 Vgl. dazu die Publikationsstatistik für die Universität Tübingen in: Langewiesche, Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen, S. 367 f. Es ist daher auch missverständlich, wenn Langewiesche (ebd., S. 387) meint, Hallers Welt sei mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gegangen.

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Stimmung im Volk zu erhalten, also dem »Augusterlebnis« mit den Mitteln des Journalismus Dauer zu verleihen. Allerdings hat er im Nachhinein behauptet, von Kriegsbegeisterung in den ersten Augusttagen 1914 im Stuttgarter Raum nicht viel bemerkt zu haben: »Wenn die Zeitungen jener Tage das leuchtende Bild eines einmütig zu seiner Verteidigung aufstehenden Volkes zeichneten, so muss ich dem für den Kreis, den ich übersehen konnte, widersprechen. Ein kurzer Aufenthalt in Stuttgart am 3. August hat mir einen ganz anderen Eindruck verschafft: schwüle Stimmung, mühsam unterdrückte Besorgnis, von Kampfesfreudigkeit keine Spur, dagegen das widerliche Bild kopfloser Erregung, die schon an Hysterie grenzte. […] Wer ein Gesamtbild des Deutschlands jener Tage geben wollte, müsste mit kontrastieren­den Farben malen; die Stimmung war durchaus widerspruchsvoll, von einheitli­cher Siegeszuversicht keine Rede.«5

Diese Äußerung Hallers passt auf den ersten Blick gut zu der in der Forschung verbreiteten Neigung, das Augusterlebnis in seiner Bedeutung zu relativieren oder sogar für »widerlegt« zu erklären.6 Dieser Eindruck ist aber insofern zu differenzieren, als das wesentliche Charakteristikum des Augusterlebnisses gar nicht die Begeisterung über den angeblich ersehnten Kriegsausbruch war, sondern die Demonstration nationaler Geschlossenheit im Ernstfall, die als ein­ Erfolg wilhelminischer Integrationspolitik zu bewerten ist, zumal der deutsche Nationalstaat noch sehr jung war und die »innere Einheit« keineswegs als selbstverständlich galt.7 Der Tatsachengehalt dieser Form von Augusterlebnis ist nicht im Ernst bestreitbar, und Hallers sofort aufgenommene freiwillige publizistische Tätigkeit ist ein umso größerer Beleg dafür, als er selbst in Bezug auf Stimmungslage wie Erfolgsaussichten skeptisch war. In diesem Sinne – als Demonstration nationaler Einigkeit, nicht als Kriegsbegeisterung – stellte Haller selbst 1915 die Sache dar: »Es war ein Erlebnis, das keiner vergißt, der es geschaut; ein Wunder am hellen Tage: das deutsche Volk, das sich ewig streitende, stets zwieträchtige zum erstenmal einig, rückhaltlos einig, Millionen Herzen vom gleichen Schlage getrieben, Millionen Köpfe vom gleichen Gedanken erfüllt: Deutschland, Deutschland über alles!«8

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Denn erstens bildete die Welt vor 1914 für Haller erst nach 1914 wirklich einen positiven Bezugspunkt, und zweitens begann seine eigentliche Karriere als politischer Historiker erst mit der Kriegspublizistik, die sich dann in seinen Veröffentlichungen nach 1918 fortsetzte. Man könnte daher fast genauso gut umgekehrt sagen, dass Hallers Welt erst 1914 wirklich begann. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 69 f. bzw. unten S. 355 f. Vgl. dazu die Auflistung entsprechender Literatur bei Beßlich, Wege in den »Kulturkrieg«, S. 99, Anm. 197, sowie die Darstellungen von Verhey, Der »Geist von 1914«, S. 129 f., und Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 56–70. Vgl. dazu Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II., S. 232–239. Haller, Wie wir daheim den Krieg erlebten.

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Und auch unmittelbar im August 1914 selbst klang Haller nicht viel anders. Im Entwurf eines Artikels für die Neue Zürcher Zeitung – der wegen deren gebotener Neutralität nicht abgedruckt wurde, obwohl Haller über seinen Schwager gute Verbindungen zur Zeitung hatte – schrieb er: »Die Tage der Mobilmachung haben Eindrücke hinterlassen, wie sie in Jahrhunderten selten vorkommen. Es waren Stunden der Weihe und Erhebung. Wie sie hinauszogen, unsere geliebten und bewunderten Krieger, so heiter und ernst, so sicher und stolz, und doch so bescheiden, zu einem Kampf, wie er noch nicht da war, – als verstehe sich alles ganz von selbst! Fast noch großartiger war die Haltung der Zurückbleibenden: nicht ein Laut der Klage, kaum ein paar verhaltene Thränen, nur hie und da ein Taschentuch sichtbar – ein Anblick, um den uns die Welt beneiden kann. Diese Stimmung hält an […]. Der Geist von 1813 ist wieder bei uns lebendig; das haben die letzten Tage klar­ bewiesen. Ganz wie damals, hat sich auch heute alles zum Kriegsdienst gemeldet. Was gehen und Waffen tragen kann, ergraute Gelehrte und bartlose Knaben, die eben die Schule verließen, und wer zu Hause bleiben muß, schämt sich fast.«9

Haller hat sich ansonsten aber mit Beschwörungen patriotischer Gefühle relativ zurückgehalten. Der Hinweis auf den »Geist von 1813« bezog sich lediglich auf die flächendeckende Kampfbereitschaft; von den »Ideen von 1914«10 scheint Haller gar nicht explizit gesprochen zu haben. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass er von einem »Kulturkrieg« insofern nichts wissen wollte, als eine Aufkündigung der kulturellen Gemeinschaft mit dem »Westen« für Haller nicht infrage kam; vielleicht spielte hier auch Hallers Bewunderung des Bismarckschen »Realismus« eine Rolle. Er beteiligte sich jedenfalls an denjenigen Aktionen und Aufrufen, die sich gegen die gegnerische Kriegspropaganda vom »barbarischen« Deutschland zur Wehr setzten und er sparte auch nicht mit zum Teil beißender Kritik an Frankreich und vor allem an England, aber eine konfrontative Beschwörung deutscher »Kultur« als Gegensatz zu westlicher »Zivi­ lisation« lehnte Haller offenbar ab.11 Das Bemühen, sich gegen Anschuldigungen zu wehren, ohne die Verbindung zum Westen ganz abreißen zu lassen, ist besonders deutlich erkennbar in 9 Johannes Haller, Entwurf eines Artikels für die Neue Zürcher Zeitung, o. D.: UAT 305/20; vgl. dazu auch das Antwortschreiben: Eduard Fueter an Johannes Haller, 15. August 1914: UAT 305/20. 10 Zu Begriff und Phänomen der »Ideen von 1914« vgl. Verhey, Der »Geist von 1914«, S. 219– 224; vgl. Sieferle, Der deutsch-englische Gegensatz, S. 139–160; Hoeres, Krieg der Philosophen, S. 98 f. und S. 579–582; vgl. außerdem Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II., S. 240–248. 11 Prägnant zum Gegensatz von »Kultur« und »Zivilisation«: Mann, Gedanken im Kriege. Bei generalisierenden Untersuchung zur politischen Haltung deutscher Gelehrter in und nach dem Ersten Weltkrieg besteht die Gefahr, solche individuellen Differenzierungen auszublenden; vgl. etwa Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, hier bes. S. 284–287, sowie Langewiesche, Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

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einem von 22 deutschen Universitäten unterzeichneten und im September 1914 ver­öffentlichten Aufruf an die Hochschulen des Auslands, den Haller verfasst hatte.12 Darin wurde der schon vor dem Krieg begonnene »Feldzug systema­ tischer Lüge« gegen Deutschland angeprangert, zugleich aber die Hoffnung­ geäußert, dass sich die akademische Welt des Auslands, mit der man sich »in gemeinsamer Arbeit für die höchsten Ideale der Menschheit verbunden« wisse, nicht weiter daran beteiligen werde. Gerade diejenigen Studenten und Hochschullehrer, die das deutsche Universitätsleben aus eigener Anschauung kennengelernt und von ihm profitiert hätten, seien aufgefordert, das deutsche Volk und das deutsche Heer gegen den Vorwurf des Barbarentums zu verteidigen. Das ausdrückliche Bestreben, die Verbindung zum Westen aufrechtzuerhalten, unterscheidet den Hallerschen Aufruf von dem sehr viel bekannteren »Aufruf an die Kulturwelt« vom Oktober 1914, der sich zwar auch an diejenigen richtete, die »bisher gemeinsam mit uns den höchsten Besitz der Menschheit gehütet« hatten, der aber keine entsprechende Aufforderung enthielt, sondern lediglich die hauptsächlichen Vorwürfe an Deutschland zurückwies und den unbedingten Kampfeswillen der Deutschen betonte.13 Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass Haller nicht zu den 93 Unterzeichnern des Aufrufs gehörte und auch in keiner späteren Unterstützerliste auftaucht. Das bedeutet nicht, dass Haller die militärische und vor allem politische Lage anders einschätzte, wie dies vor allem für den von dem Mediziner Georg Friedrich Nicolai 1914 verfassten, aber erst 1917 publizierten »Aufruf an die Europäer« gilt, den »Bruderkrieg« zu beenden und eine europäische Einigung anzustreben.14 Von der Notwendigkeit, den Krieg zu führen, war Haller überzeugt; nur scheint es so, dass ihm die grassierende Westfeindschaft der Deutschen nicht behagte. Hallers eigentliches kriegspublizistisches Engagement konzentrierte sich jedenfalls im Wesentlichen auf historisch fundierte Lageanalysen, die ihm rasch den Ruf eines »Orakels für europ. Politik«15 einbrachten. Das gilt im Prinzip schon für seine erste nachweisbare öffentliche Stellungnahme Anfang August 12 Die Universitäten des deutschen Reiches an die Universitäten des Auslands: UAT 117/1306 (eigenhändiges Konzept und maschinenschriftliche Abschrift). Der veröffentlichte Aufruf ist abgedruckt in Böhme, Aufrufe, Nr. 4, S. 51–54. Zum eher »moderaten« Charakter dieses Aufrufes vgl. auch Paletschek, Tübinger Hochschullehrer im Ersten Weltkrieg, S. 87. Die Beurteilung der Erklärung bei Jansen, Professoren und Politik, S. 109, nach der sie »in der hysterischen Sprache alldeutscher und annexionistischer Aufrufe« verfasst sei, ist dagegen nicht nachvollziehbar. 13 Der Aufruf ist abgedruckt in: Ungern-Sternberg/Ungern-Sternberg, Der Aufruf »An die Kulturwelt!«, S. 144–147 bzw. S. 156–160. 14 Der Aufruf entfaltete allerdings keinerlei Wirkung, zumal er nur von vier Personen unterzeichnet wurde: neben Nicolai selbst von Otto Buek, Wilhelm Förster und Albert Einstein. Der Aufruf ist abgedruckt in: Nicolai, Die Biologie des Krieges, S. 12–14. Zu Georg Friedrich Nicolai vgl. Grüttner, Die Berliner Universität, S. 43–51. 15 Johannes Haller an Alfred Körte, 15. November 1914: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 144.

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1914, in der er die italienische Neutralität verteidigte.16 Diese entspreche nicht nur der italienischen Staatsräson, sondern sei auch für Deutschland von viel größerem Vorteil als ein Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Mittelmächte, der dort neue Fronten eröffnen würde, wo man jetzt ungehinderte Handelsund Versorgungswege besitze.17 Haller argumentierte auch hier schon teilweise mit historischen Erfahrungen; diese Vorgehensweise rückte vollends ins Zentrum seiner Argumentation, als er anschließend im August und September 1914 mit einer ganzen Reihe von Vorträgen und Zeitungsartikeln an die Öffentlichkeit trat, in denen er über die Kriegsursachen sowie damit verbunden die Kriegsziele der Gegner aufklären wollte. Hallers Analyse der französischen und der russischen Kriegsgründe war­ wenig originell: Frankreich gehe es um die Wiedergewinnung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent, was nur gegen Deutschland zu erreichen sei. Im Zentrum stehe hier Elsass-Lothringen, das eine Schutzzone für das Reich und besonders für Süddeutschland sei, während Frankreich umgekehrt von dort aus seinen Einfluss auf Deutschland geltend machen könne.18 Russland habe die Vorherrschaft auf dem Balkan im Auge, was zu einem Interessen­ konflikt mit Österreich-Ungarn habe führen müssen, ziele aber zugleich auch auf die Herrschaft über die Ostsee, die wiederum deutsches Interessengebiet sei.19 Russland sei im Gegensatz zu Frankreich ausreichend auf den Krieg vorbereitet gewesen; zum Losschlagen aber habe man sich doch nur entscheiden können, weil man sich seit 1904 der Unterstützung Englands sicher sein konnte. England sei somit der »eigentliche Schuldige« am Kriegsausbruch, und die englische Behauptung, man wolle lediglich das europäische Gleichgewicht bewahren, sei vorgeschoben; in Wirklichkeit gehe es um die »Vernichtung« des Deutschen Reiches.20 Selbstverständlich habe die Reichsgründung 1871 zu einigen Konflikten mit England führen müssen, die aber grundsätzlich behebbar gewesen seien. Die wahre Ursache des englischen Kriegseintritts – den offiziellen Anlass, nämlich die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland, hielt Haller nicht der Erwähnung würdig  – sei Neid, einerseits 16 Auf eine systematische Erhebung der zwischen 1914 und 1918 von Haller erschienenen­ Zeitungsartikel wird hier verzichtet. Die in Hallers Tübinger Nachlass aufbewahrten Texte ergeben zusammen mit den Monographien und Zeitschriftenaufsätzen sowie mit Hallers eigener nachträglicher Deutung in seinen Lebenserinnerungen ein hinreichend konsistentes Gesamtbild. 17 Haller, Die Haltung Italiens (ein Exemplar in: UAT 305/8). Der Artikel wurde am 8. August 1914 veröffentlicht; er enthält allerdings noch einen Hinweis auf eine zwei Tage zuvor erschienene in gleichem Sinne lautende Äußerung Hallers. 18 Vgl. Haller, Der wahre Urheber des Weltkriegs (ein Exemplar in: UAT 305/8); vgl. Haller, 2. Kriegsvortrag, 1. Frankreich (ein Exemplar in: UAT 305/8). 19 Vgl. Haller, 3. Kriegsvortrag, 2. Rußland (ein Exemplar in: UAT 305/8); vgl. Haller, 4. Kriegsvortrag, 2. Rußland (ein Exemplar in: UAT 305/8); vgl. Haller, 5. Kriegsvortrag, 3. Rußland (ein Exemplar in: UAT 305/8). 20 Vgl. Haller, Der wahre Urheber des Weltkriegs (ein Exemplar in: UAT 305/8).

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auf die deutsche Wirtschaftskraft, andererseits auf die deutsche Flottenaufrüstung.21 Für Geld zu kämpfen, ja eigentlich sogar andere für sich kämpfen zu lassen, sei empörend: »Vom Klubsessel aus den Krieg zu betrachten, mit dem einzigen Effekt, daß die Verluste ein gewisses Erstaunen hervorrufen, das ist nicht nur unsittlich, das ist teuflisch. In Paris und Petersburg hat man gewissenlos zum Krieg gehetzt. Aber die Gewissenlosigkeit der englischen Staatsmänner steht turmhoch darüber.«22

Diese eindeutige Zuweisung der Hauptschuld an England hing mit der Überraschung über den englischen Kriegseintritt ebenso zusammen wie mit der Enttäuschung Hallers, der eigentlich ein deutsch-englisches Bündnis gegen Russland erhofft hatte.23 Der Sachgehalt von Hallers Analyse des englischen Anteils an der Verantwortung für den Kriegsausbruch allerdings wird von einem Teil  der neueren Forschung in mancher Hinsicht bestätigt und teilweise sogar in dem von Haller behaupteten Ausmaß geteilt.24 Die von Haller genannten Kriegsgründe Englands hat er selbst später revidiert. Schon in seinem bereits zitierten Vortrag hatte er darauf hingewiesen, dass der Krieg für England aus wirtschaftlicher Perspektive eine Fehlkalkulation und die eigentlichen Nutznießer in dieser Hinsicht die USA und Japan seien.25 Ebenfalls schon in der Anfangsphase des Krieges schlug er vor, einen Wirtschaftskrieg gegen England zu führen: Da man eine militärische Entscheidung gegen das Inselreich nicht erzwingen könne, müsse man alles daran setzen, die britische Versorgung abzuschneiden, den Handel zu bekämpfen und die neutralen Staaten wirtschaftlich auf die eigene Seite zu ziehen.26 In seinen Lebens­erinne­ rungen und auch schon 1929 in öffentlichem Vortrag hat Haller schließlich wenigstens implizit zugegeben, sich in diesem Punkt geirrt zu haben: Die britischen Handelskreise seien sich sehr wohl darüber im Klaren gewesen, dass 21 Vgl. Haller, Der Krieg. Englands auswärtige Politik und ihr Leiter (ein Exemplar in: UAT 305/8); vgl. Haller, 5. Kriegsvortrag, 3. England (ein Exemplar in: UAT 305/8). 22 Haller, 5. Kriegsvortrag, 3. England (ein Exemplar in: UAT 305/8). 23 Noch 1929 stellte Haller in einem Vortrag sein eigenes kriegspublizistisches Wirken als den letztlich vergeblichen Versuch dar, für eine Annäherung an England und gegen eine­ Annäherung an Russland zu werben: Haller, England und Deutschland um die Jahr­ hundertwende, bes. S. 5 f. 24 So etwa von Ferguson, Der falsche Krieg, bes. S.  92–120 und S.  200–204. Ferguson begründet seine These von der »Hauptschuld« Englands damit, dass England einerseits durch seine Unterstützung Russland und Frankreich zum Krieg ermuntert habe, andererseits Deutschland über diese Unterstützung so sehr im Unklaren gelassen habe, dass auch Deutschland den Schritt zum Krieg wagte. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Clark, Die Schlafwandler, S. 624–637 und S. 674–699. 25 Vgl. Haller, 5. Kriegsvortrag, 3. England (ein Exemplar in: UAT 305/8). 26 Vgl. Haller, Britannia delenda (ein Exemplar in: UAT 305/8). Hallers Vorschlag war durchaus realistisch; jedenfalls arbeitete die deutsche Kriegswirtschaft effizienter als die englische, die Anfang 1917 vor dem Zusammenbruch stand: vgl. Clark, Wilhelm II., S. 305 f.; vgl. auch Ferguson, Der falsche Krieg, S. 246–310.

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ein Krieg für den Außenhandel immer Verluste bedeute, weshalb sie gegen den Kriegseintritt gewesen seien.27 Die Lebenserinnerungen waren für Haller auch der Ort, etwas zu erörtern, was begreiflicherweise in der Kriegspublizistik unerwähnt bleiben musste: den deutschen Anteil an der Verantwortung für den Kriegsausbruch. Dieser habe in einer extrem unklugen Außenpolitik nach 1890 bestanden, an welcher der eine Politiker mehr, der andere weniger beteiligt gewesen sei, die aber insgesamt in einer von der ganzen deutschen Nation getragenen »nationale[n] Eitelkeit« ihre Ursache gehabt habe.28 Diese habe dazu geführt, dass Deutschland England mit dem Flottenbau unnötig herausgefordert habe, ohne sich dann wenigstens durch ein Bündnis mit Russland abzusichern. Haller lag es fern, das sozusagen moralische Recht des Deutschen Reiches zu bestreiten, als europäische Großmacht entsprechend den anderen Großmächten »Weltpolitik« zu treiben und einen »Platz an der Sonne« anzustreben.29 Er warf der deutschen Regierung  – und dem deutschen Volk – aber vor, in dem Gefühl, sich im Recht zu befinden, alle Regeln diplomatischer Klugheit vergessen zu haben. Insgesamt beurteilte Haller den Kriegsausbruch in der Rückschau gemäß dem Konsens in der älteren Forschung, der in der neuesten Forschung teilweise rehabilitiert wird: »Es war, als tanzten wir mit verbundenen Augen an einem Abgrund entlang.«30 Hallers publizistisches Engagement scheint von Anfang an ein Publikumserfolg gewesen zu sein.31 Wirklich überregionale Aufmerksamkeit hat aber wohl erst sein Kommentar zu Paul von Hindenburg und der Schlacht bei Tannen27 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 55 bzw. unten S. 345 f.; vgl. Haller, England und Deutschland um die Jahrhundertwende, bes. S. 7 und S. 35. 28 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 41–58, Zitat S. 58 bzw. unten S. 334–348, Zitat S. 347. 29 Zum wilhelminischen Konzept deutscher »Weltpolitik« vgl. Geiss, Weltpolitik. 30 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 67 f. bzw. unten S. 354. Den früheren Konsens, die am Ersten Weltkrieg beteiligten Mächte seien mehr oder weniger in ­diesen »hineingeschlittert« (Lloyd George, War Memoirs, S.  49: »The nations slithered over the brink into the boiling cauldron of war without any trace of apprehension or dismay«), wird im Großen und Ganzen – allerdings ohne die damit implizierte Exkulpation der verantwortlichen Politiker und Militärs zu teilen – rehabilitiert in der Arbeit von Clark, Die Schlafwandler, bes. S. 715–718. Dass eine ältere, von Fritz Fischer angestoßene Forschung meinen konnte, das Deutsche Reich trage die Allein- oder doch wenigstens die Hauptschuld am Kriegsausbruch, hängt in erster Linie damit zusammen, dass man sich in national verengter Perspektive ausschließlich mit Deutschlands Anteil an der Verantwortung befasste. Vgl. dazu Fischer, Griff nach der Weltmacht. Der zu sehr auf Deutschland verengte Blick ist Fischer schon unmittelbar nach Erscheinen seines Buches vorgeworfen worden: vgl. Ritter, Eine neue Kriegsschuldthese?, S. 650. 31 Dafür spricht zumindest, dass Hallers Vortragsreihe über die Interessen der Kriegsgegner auf Publikumswunsch hin noch um einen Vortrag erweitert wurde, der die historische Bedeutung des Krieges erklären sollte: vgl. Haller, 5.  Kriegsvortrag, 3.  England (ein Exemplar in: UAT 305/8). Vgl. außerdem Hallers 1915 erschienene, 85 Seiten starke Monographie über den »Ursprung des Weltkriegs«, in der er seine Zeitungsartikel und Vorträge in einen größeren historischen Kontext stellte: Haller, Der Ursprung des Weltkriegs.

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berg gefunden. Am 23. September 1914 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Haller-Artikel, der drei Tage später noch einmal in der Frankfurter Zeitung abgedruckt wurde.32 Haller zog eine Parallele von Hindenburg und Tannenberg zu Hannibal und Cannae: In beiden Fällen habe eine zahlenmäßig deutlich unterlegene Armee durch die extrem risikoreiche Einkreisung des Gegners eine Schlacht gewinnen können. Diese Taktik entspreche der deutschen Kriegführung in der Schule Moltkes bzw. dessen Schülers Alfred von Schlieffen, der die Schlacht von Cannae tatsächlich als Musterbeispiel eines »Vernichtungskrieges« empfohlen habe. Die Verbreitung gerade dieses Haller-Aufsatzes hatte in erster Linie mit der durch Tannenberg entstandenen Hindenburgverehrung in Deutschland zu tun, die Haller zu diesem Zeitpunkt teilte und mit seiner Publikation beförderte. Erst deutlich später hat er sich sowohl zum »Schlieffen-Plan«33 als auch zur Leistung Hindenburgs bei Tannenberg sehr viel kritischer geäußert.34 Es spielte aber wohl auch eine Rolle, dass Haller hier im Grunde ein neues Thema fand, das ihn aus persönlichen Gründen besonders bewegte, in dem er als Experte gelten konnte und das außerdem in eine publizistische Lücke stieß: den Krieg im Osten. Schon im Hindenburg-Artikel warnte Haller davor, dass man angesichts der Ereignisse an der Westfront keineswegs den Osten vergessen dürfe, und diese Warnung wurde im Laufe des Krieges bei ihm geradezu zum Mantra. Die Kenntnis über die Verhältnisse in Osteuropa, so war Haller überzeugt, war unbedingt notwendig sowohl für eine realistische Einschätzung der Bedrohung durch Russland als auch für die Vergewisserung über die eigenen Kriegsziele. Was diesen letzten Punkt betrifft, so gilt Haller der Forschung als typischer Vertreter eines »Siegfriedens« im Gegensatz zu den Verfechtern eines »Ver­ ständigungsfriedens«.35 Tatsächlich warf Haller denjenigen, die den Krieg als reinen »Verteidigungskrieg« betrachteten und als Ziel die Wiederherstellung des status quo ante anstrebten, vor, die politische Lage zu verkennen: Deutschland stehe im Kampf um die eigene Existenz, weil die bisherige Position nicht sicher genug gewesen sei; Ziel müsse es daher sein, Deutschland durch Gebietserwerbungen so zu stärken, dass die bisherige Bedrohung von zwei Fronten aus aufhöre.36 Die Pointe bei Haller war aber, dass dies nicht durch Erobe32 Haller, Hindenburg (ein Exemplar in: UAT 305/8); Haller, Hindenburg und Hannibal (ein Exemplar in: UAT 305/8). 33 Zum Schlieffen-Plan vgl. Ehlert/Epkenhans/Groß, Der Schlieffenplan. 34 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 84–89 und S. 98–106 bzw. unten S. 367–370 und S. 377–383. 35 Vgl. dazu Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, S. 96; vgl. auch Langewiesche, Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen, S. 368. 36 In dieser Frage geriet Haller vor allem mit Hans Delbrück aneinander, auf den er anspielte, als er im Dezember 1914 in einem Vortrag erklärte: »Unlängst sind Stimmen laut geworden, die vor allzu hohen Ansprüchen warnten und zur Mäßigung mahnten. […] Nach dieser Meinung könnten wir alle Tage Frieden schließen auf der Basis des status quo ante. /

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rungen im Westen geschehen könne – die lehnte er kategorisch ab –, sondern durch eine Mischung aus Annexionen und indirect rule im Osten.37 Das war selbstverständlich eine Parteinahme für den »Siegfrieden«, der aber für Haller nur in der Logik des Bismarckschen außenpolitischen Zieles lag, Deutschland als »ehrlichem Makler« die Funktion einer europäischen Friedens- und Ordnungsmacht zuzuweisen.38 Es ist daher zumindest fragwürdig, ob Haller als »führender«39 bzw. »unbelehrbarer Annexionist«40 wirklich zutreffend charakterisiert ist. Es wäre tief zu beklagen, wenn solche Ansichten im Volke Verbreitung fänden. Erhaltung des Gleichgewichts  – wenn dies das Ergebnis des Krieges sein sollte, dann hätten wir ihn umsonst geführt. […] Das ist der vornehmste Zweck, für den wir kämpfen: sicher und frei soll Deutschland in der Welt dastehen, erhobenen Hauptes seinen Weg gehen können, wie es sich ziemt für die größte und stärkste Nation, eine Nation, die wahrlich genug für die Menschheit gearbeitet und geleistet hat, um nicht erst beweisen zu müssen, daß auch sie ein Recht hat, zu leben und zu wirken nach ihrem eigenen Gesetz. […] Aus diesem Kampf muß Deutschland so gestärkt, seine Gegner so geschwächt hervorgehen, daß es sie nicht mehr zu fürchten braucht, nicht nur morgen und übermorgen, sondern ein Menschenalter und länger.« (Haller, Warum und wofür wir kämpfen, S. 23 f.) Zu Delbrücks Position in dieser Frage vgl. Thimme, Hans Delbrück, S. 116–122. Thimmes Behauptung, die Anhänger eines »Siegfriedens« seien »unehrlich« gewesen, wenn sie sich auf die Reden Kaiser Wilhelms II. von Anfang August 1914 berufen hätten (»uns treibt nicht Eroberungslust, uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz zu bewahren, auf den Gott uns gestellt hat, für uns und alle kommenden Geschlechter«), trifft mindestens auf Haller nicht zu, dessen »Kriegsziel­politik« mit den kaiserlichen Äußerungen problemlos vereinbar war. Vgl. zu diesem Zusammenhang außerdem Johannes Haller an Alfred Körte, 15.  November 1914: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  144: »Und es gibt Augenblicke, wo mir schwarz vor Augen wird, weil ich plötzlich die Vision erblicke, wie Deutschland aus diesem Krieg gehetzt und verblutet hervorgeht, ohne greifbaren Gewinn, nur das nackte Leben rettend. Status quo ante nennt man das. […] Ich kann mir nicht helfen: kommt nichts weiter heraus als die ungeschmälerte Fortdauer des Deutschen Reichs, so war der Krieg umsonst.« Haller war mit seiner Position keineswegs allein; auch Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff argumentierte damit, dass zum defensiven Zweck der Sicherung des Friedens eine »Mehrung unserer Macht« zwingend erforderlich sei (Deutsche Hochschulzeitung 27/28 (1916), zit. nach Bleuel, Deutschlands Bekenner, S. 93). 37 Vgl. dazu etwa Haller, Warum und wofür wir kämpfen, S. 10 f.; vgl. auch Haller, Die historische Grenze zwischen Deutschland und Frankreich (ein Exemplar in: UAT 305/8); vgl. auch Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 128–132 bzw. unten S. 398–401. 38 Grundlegend zur Außenpolitik Otto von Bismarcks: Canis, Bismarcks Außenpolitik. 39 So Jansen, Professoren und Politik, S. 109. 40 So Langewiesche, Die Eberhard-Karls-Universität Tübingen, S.  368. Ganz ähnlich, nämlich als »unbeirrbaren Annexionisten«, wird Haller charakterisiert von Kotowski, Noch ist der Krieg gar nicht zu Ende, S. 425. Als Illustration dieser Charakterisierung wird ein Z ­ itat aus einem Vortrag Hallers vom Dezember 1914 angeführt, in dem eine deutsche »Weltherrschaft« thematisiert wird. Belegt wird dieses Zitat aber nicht mit dem Originaltext, sondern aus der Sekundärliteratur, nämlich Weiß, Bücher, Buden, Burschenschaften, S. 111. In der weiteren Forschungsliteratur wird dann durch das Zitieren des Zitats des Zitats ein Beleg aus dritter Hand, so etwa bei Barth, Dolchstoßlegenden, S. 125, der Haller ausdrücklich

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Haller galt der Öffentlichkeit sogar so sehr als Vertreter einer moderaten Position, dass er 1915 vom Auswärtigen Amt die Aufforderung erhielt, einen Text über Bismarcks Friedensschlüsse von 1864, 1866 und 1871 zu schreiben, der als Verteidigung einer Mäßigung der Kriegsziele gegen die extremen Forderungen etwa des Alldeutschen Verbandes geplant war.41 Haller nahm den Auftrag an, konterkarierte aber bewusst die von der Regierung damit verbundene Intention. Schon in der Einleitung nannte er den Wiener Frieden von 1815 als »Beispiel unangebrachter Zurückhaltung« infolge von »Kriegsmüdigkeit«, was offenbar bewusst Assoziationen zur Gegenwart wecken sollte.42 Bismarcks Friedensschlüsse seien dagegen ein staatspolitisches Vorbild, aber nicht weil sie etwa defensiv gewesen seien, sondern weil Bismarck die jeweils unterschiedliche politische Lage optimal zu nutzen verstanden habe; dem »Verständigungsfrieden« von 1866 beispielsweise sei der »Siegfrieden« von 1871 gefolgt. Die einzige Mäßigung, die Bismarck sich grundsätzlich auferlegt habe – und die auch Haller vertrat –, sei die Regel, »niemals nehmen, was man haben kann, immer nur, was man braucht.«43 1871 habe sich Bismarck allerdings leider nicht vollständig an diesen Grundsatz gehalten, sondern habe das »Gebot des Maßhaltens« überschätzt, und in der Gegenwart müsse man sich hüten, diesen Fehler zu wiederholen.44 In diesen Zusammenhang einer Warnung vor einem verfrühten und zu defensiven Friedensschluss ist letztlich auch die von Haller initiierte Erklärung gegen eine Reichstagsresolution vom 19. Juli 1917 einzuordnen. Diese votierte mit einer hauptsächlich durch Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei, des die Forderung nach einer deutschen Weltherrschaft unterstellt. Damit aber wird ­Hallers Aussage in ihr Gegenteil verkehrt; Haller hatte nämlich eine deutsche Weltherrschaft als Kriegsziel ausdrücklich abgelehnt: »Da aber sind wir uns einig, daß wir nichts weniger begehren als Weltherrschaft. Die Feinde, die uns solche Pläne andichten, beweisen damit nur aufs neue, daß sie uns nicht kennen. Vor dem Trachten nach Weltherrschaft sind wir gewarnt durch das Beispiel derer, die sie besaßen und an ihr zugrunde gingen. Herrschaft über andere ist ein Verhängnis für das Volk, das sie übt, je größer die Macht, desto gefährlicher, weil die Völker ebensowenig wie einzelne Menschen es vertragen, daß sie sich alles erlauben dürfen. Das deutsche Volk will nicht über andere herrschen und andere unter­drücken, es will nur frei sein und den andern die Freiheit lassen zu friedlichem Wettbewerb.« (Haller, Warum und wofür wir kämpfen, S. 27.) 41 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S.  78 bzw. unten S.  362. Das Erscheinen des Bandes verzögerte sich bis 1916, anscheinend weil Haller »amtliches Material« benutzt hatte, das nach wie vor als politisch heikel eingestuft wurde: vgl. Arthur Zimmermann (Auswärtiges Amt) an Johannes Haller, 15. März 1916: UAT 305/20. Dort wird aber auch zumindest indirekt auf die Problematik der Kriegszieldiskussion hingewiesen. Haller als »Alldeutschen« zu bezeichnen (so Paletschek, Tübinger Hochschullehrer im Ersten Weltkrieg, S. 89) ist daher auch dann noch verfehlt, wenn man diese Bezeichnung in Anführungszeichen setzt. 42 Haller, Bismarcks Friedensschlüsse, S. 9 f. 43 Ebd., S. 101. 44 Ebd.

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Zentrums und der MSPD zustandegekommenen Mehrheit für einen »Frieden der Verständigung«, lehnte jederlei »erzwungene Gebietserwerbungen« ab und versprach, die »Schaffung internationaler Rechtsorganisationen« zu fördern.45 Haller gelang es, für seine Gegenerklärung 1100 Unterzeichner zu gewinnen, was ihn zum Initiator der nach dem »Aufruf an die Kulturwelt« am stärksten unterstützten Erklärung des Ersten Weltkriegs machte.46 Sie lautete: »Die unterzeichneten Lehrer deutscher Hochschulen, unbeeinflußt von Ansichten­ irgend einer Partei, frei von Sonderinteressen jeder Art, einzig und allein erfüllt von schwerer Sorge um die Zukunft des Vaterlands, erklären hiermit, daß nach i­hrer­ Ueber­zeugung die jetzige Mehrheit des vor fast sechs Jahren unter völlig anderen Verhältnissen gewählten Reichstags es nicht für sich in Anspruch nehmen kann,­ gegenüber den heute zur Entscheidung stehenden Lebensfragen den Volkswillen in unzweifelhafter Weise zum Ausdruck zu bringen. Sie sprechen die Zuversicht aus, daß es den berufenen Leitern von Heer und Staat gelingen wird, allen äußeren und inneren Widerständen zum Trotz einen Frieden zu erringen, wie ihn Deutschland für sein Leben und Gedeihen braucht.«47

Das war nicht etwa blind gegen die Einleitung von Friedensverhandlungen geschrieben, sondern entsprach Hallers Einschätzung, dass die militärische Lage es noch nicht notwendig mache, sich einseitig auf einen Status-quo-ante-­ Frieden festzulegen. Selbst im Sommer 1918 glaubte Haller noch, die zu erwartenden Gebietsabtretungen im Westen könnten durch Erwerbungen im Osten ausgeglichen werden.48 Dass dies eine Fehleinschätzung war, liegt auf der Hand; dass die Lage im Sommer 1917 aber noch eine wesentlich andere war und besonders im Osten durch die Oktoberrevolution in Russland die Karten noch einmal neu gemischt wurden, ist in der Sache ebensowenig bestreitbar. ­Hallers Beteiligung an weiteren Projekten zur Stärkung des Durchhaltewillens im deutschen Volk, darunter am prominentesten sein Beitritt zur 1917 in Reaktion auf die bereits erwähnte »Friedensresolution« des Reichstags von Alfred von Tirpitz und Wolfgang Kapp gegründeten Deutschen Vaterlandspartei, ist ganz wesentlich aus seiner bis fast zum Schluss aufrecht erhaltenen Überzeugung zu erklären, es sei für Deutschland in diesem Krieg zwar kein glatter, aber 45 Resolution des Reichstags vom 19. Juli 1917, zit. nach Michaelis/Schraepler, Ursachen und Folgen, Nr. 241, S. 37 f. 46 Schmid, Die Tübinger Studentenschaft, S. 10, und Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, S. 161, sprechen von 900 Unterzeichnern, übersehen dabei aber, dass es beim Einholen der Unterschriften insgesamt drei Runden gegeben hat. Der Aufruf »An die Kulturwelt« hatte ca. 3000 Unterstützer. Für die korrekte Zahl der Unterzeichner des Hallerschen Aufrufs vgl. die Druckfassung des Aufrufs sowie die Angabe von Haller selbst vom 15. Oktober 1917 in: BArch N 1035/5; vgl. auch die von Haller gesammelten Rückmeldungen zu seiner Erklärung in: BArch N 1035/5 und BArch N 1035/8. 47 Johannes Haller: Erklärung zur Reichstagsmehrheit, o. D. [veröffentlicht am 4.  Oktober 1917]: BArch N 1035/5 (eigenhändige und Druckfassung). 48 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 126 f. bzw. unten S. 396–398.

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doch ein relativer Sieg möglich.49 Hallers spätere Behauptung, im Grunde seit Herbst 1915, spätestens aber seit Ende 1916 nicht mehr an einen für Deutschland günstigen Ausgang des Krieges geglaubt zu haben, ist angesichts der Quellenlage wenig plausibel; auch der von Haller behauptete spürbar skeptische Grundton seiner Korrespondenz in den letzten drei Kriegsjahren lässt sich nicht verifizieren.50 Nachweisbar ist lediglich, dass Haller nicht ganz ohne Sensorium für die sich zuspitzende militärische Lage blieb, da er in der Endphase des Krieges immer radikalere Maßnahmen empfahl, bis hin zu einer Preisgabe des öster­ reichischen Bündnispartners.51 Ab 1916 konzentrierte Haller sich in seiner kriegspublizistischen Arbeit fast ausschließlich auf den Krieg im Osten. Hier ging es ihm im Wesentlichen um zwei Dinge: Erstens versuchte er, den deutschen »Russophilen« entgegenzutreten, zweitens warb er intensiv um ein Verständnis für die besondere Bedeutung der baltischen Frage.52 Das erstere Thema – der Kampf gegen die »Russlandfreundschaft« – hing aus Hallers Sicht mit einer verbreiteten Unkenntnis über Russland zusammen, aus der die besonders bei Konservativen beliebte Be­ fürwortung eines deutsch-russischen Bündnisses resultiere. Die dabei nicht 49 Zu Hallers Engagement für die Deutsche Vaterlandspartei vgl. den Bericht über die Mitgliederversammlung der Ortsgruppe Stuttgart, bei der Haller einen Vortrag über »Friedensschlüsse 1871 und jetzt« hielt: Süddeutsche Zeitung Nr. 28 vom 29. Januar 1918. Vgl. dazu auch Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 22. Januar 1918: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1569, S. 2242–2244. Haller behauptet dort, die Vortragsveranstaltung sei von der USPD gesprengt worden; die Polizei habe nicht eingegriffen. Grundlegend zur Deutschen Vaterlandspartei: Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. 50 Vgl. dazu vor allem Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S.  82 f. und S.  117 bzw. unten S.  365 f. und S.  391. Gegen diese Behauptung Hallers spricht schon die Tat­ sache, dass er 1917 an die Annahme eines Rufes nach Straßburg dachte – wenn er ernsthaft von einer Kriegsniederlage Deutschlands ausgegangen wäre, hätte ihm klar sein müssen, dass dieses Engagement nur von extrem kurzer Dauer hätte sein können; vgl. dazu Kapitel VI.2. Die Erwartung einer deutschen Kriegsniederlage ist aus den Briefen Hallers erstmals für August 1918 nachweisbar (Johannes Haller an Philipp zu Eulen­ burg-Hertefeld, 26.  August 1918: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  166): »Daran knüpfen sich weitere Ueberlegungen, die ich nicht vortragen will, deren Gesamtergebnis aber ist, daß unsere Aussichten, den Krieg zu gewinnen, so ziemlich geschwunden sind. Remis scheint mir jetzt das beste zu sein, was wir erhoffen können, und ob das mehr bedeutet als Verloren.? [!] Es sei denn, daß noch einmal ein Wunder uns rettet, wie im J. 1917 die russische Revolution. Aber wie das geschehen sollte, weiß ich nicht zu sagen.« Erste skeptische Äußerungen Hallers über den Kriegsverlauf sind ­a llerdings schon etwas früher zu datieren; vgl. etwa Johannes Haller an Philipp zu Eulen­burg-Hertefeld, 22.  Januar 1918: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespon­denz III, Nr. 1569, S. 2243: »Ich hoffe – gegen meinen Verstand – immer noch auf einen Erfolg […].« 51 Vgl. Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 14.  Juli 1918: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 164. 52 Vgl. dazu auch den allerdings stark normativen Aufsatz von Haar, Johannes Haller.

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unwichtige Berufung auf Bismarck hielt Haller für historisch falsch, denn der Reichsgründer habe ganz im Gegenteil eine Verständigung mit England angestrebt.53 In Hallers Warnung vor deutscher Ostorientierung und seiner Russlandfeindschaft ist natürlich auch eine wesentliche Ursache seines sehr viel freundlicheren Bildes vom Westen zu sehen. Besonders wichtig war es für Haller dabei, zu zeigen, dass Russlands grundsätzliche außenpolitische Interessen notwendigerweise mit den deutschen in Konflikt geraten mussten. Die angestrebte russische Herrschaft über den Balkan sei nämlich nur der erste Schritt, dem aus der Sicht Russlands noch die Kontrolle über die Ostsee und damit auch das gesamte polnische Gebiet folgen müsste. Eine von deutschen Russlandfreunden erträumte russische Außen­ politik, die sich ausschließlich auf Asien konzentriere, sei zwar prinzipiell möglich, werde aber faktisch von keinem politischen Amtsträger in Russland mehr vertreten.54 Erschwerend komme hinzu, dass mindestens zwischen Russland und Österreich-Ungarn prinzipiell keine Verständigung möglich sei, sodass ein russisches Bündnis nur auf Kosten des österreichischen geschlossen werden könne. Und überhaupt sei die Wirkung solcher Vorschläge zersetzend in einem Krieg, in dem es zuallererst darum gehen müsse, Deutschland eine unanfechtbare Stellung in Europa zu sichern, und das funktioniere nicht, »wenn wir w ­ ieder wie früher nach allen Seiten Katzenpfötchen ausstrecken und unser Bedürfnis nach Freundschaft von früh bis spät zur Schau tragen.«55 Hallers Hauptkontrahent in dieser Frage war der Historiker Otto Hoetzsch, der aufgrund seiner Vorkriegspublikationen als Russlandkenner galt und der während des Ersten Weltkriegs intensiv für eine Verständigung zwischen Deutschland und Russland eintrat.56 Abgesehen von diesem Punkt standen H ­ oetzsch und Haller sich politisch eigentlich relativ nahe; Haller lehnte beispielsweise einen Eintritt in die 1915 gegründete Reichsdeutsche Waffenbrüderliche Vereinigung, die für die Schaffung einer mitteleuropäischen Wirtschaftseinheit eintrat, wegen Hoetzschs Beteiligung ab, obwohl er die Ziele des Vereins für unterstützenswert hielt.57 Gemeinsam mit Paul Rohrbach, einem Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, warnte Haller publizistisch vor Hoetzsch, der die 53 Vgl. dazu Haller, Die auswärtige Politik des Fürsten Bülow; vgl. dagegen Delbrück, Pro­ fessor Haller; vgl. auch Johannes Haller an Hans Delbrück, 9. März 1917: Staatsbibliothek zu Berlin, NL Delbrück, 94 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 149. Seit wann Haller diese Auffassung über Bismarcks außenpolitischen Kurs vertrat, ist unklar. In einem Brief an seinen Vater äußerte er noch 1904 die Meinung, der deutsche Zeitungsleser sei »von Bismarck her russophil dressiert«: Johannes Haller an Anton Haller, 13. März/29. Februar 1904: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 122. 54 Vgl. Haller, Die russischen Kriegsziele im Lichte der Geschichte. 55 Haller, Deutsch-russische Verständigung. 56 Vgl. vor allem Hoetzsch, Rußland, sowie Hoetzsch, Rußland als Gegner Deutschlands. Zu Hoetzsch vgl. Schaper, Otto Hoetzsch, dort auch weitere Literatur von und über Hoetzsch. 57 Vgl. Johannes Haller an Eduard Meyer, 19.  Juli 1916: Archiv der BBAW, NL Eduard Meyer/673 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 147.

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»russische Gefahr im deutschen Hause« repräsentiere.58 Die Werbung um eine deutsch-russische Freundschaft sei nämlich nur durch »Unwissenheit, Urteilslosigkeit, Mangel an innerer Unabhängigkeit«59 zu erklären und ignoriere die Deutschfeindlichkeit der russischen Politik, von der nach wie vor eine große Gefahr für das Deutsche Reich ausgehe. Nach eigener Einschätzung gelang es Haller zwar, den Ruf Hoetzschs zu beschädigen; insgesamt sei Hoetzsch aber aufgrund seiner einflussreichen Position in der Presse und der militärischen Führung Sieger in der Auseinandersetzung geblieben.60 Nicht einmal der allen Hoetzschen Prognosen Hohn sprechende Ausbruch der russischen Revolution im November 1917 habe daran etwas ändern können.61 Immerhin aber scheinen Hallers Schriften dazu beigetragen zu haben, dass Hans Delbrück und Friedrich Meinecke Ende 1916­ verhinderten, dass Hoetzsch, der seit 1913 Extraordinarius für Osteuropäische Geschichte in Berlin war, ein Ordinariat erhielt.62 Die russische Revolution betrachtete Haller als die Gelegenheit, sein zweites zentrales Ostthema auf die Tagesordnung zu bringen: die baltische Frage. Damit scheint er auch erfolgreicher gewesen zu sein als mit dem Kampf gegen die »Russlandfreundschaft«, obwohl für ihn natürlich beides aufs engste miteinander zusammenhing. Aber während die Warnung vor Russland ein negatives Ziel war, so war das Werben für einen deutschen Eingriff ins Baltikum ein ­positives, das außerdem mit den weitgefassten Kriegszielen der Annexionisten gut ver­ einbar war. 58 Haller, Die russische Gefahr im deutschen Hause. Vgl. dazu auch Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 141–144 bzw. unten S. 407–410. Laut Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, S.  107, war Hallers Attacke gegen Hoetzsch einer »der schärfsten Angriffe […], die sich ein deutscher Professor im Weltkrieg gegen einen Kollegen erlaubt hat.« Grundlegend zu Paul Rohrbach: Bieber, Paul Rohrbach. 59 Haller, Die russische Gefahr im deutschen Hause, S. 94. 60 Vgl. dazu Hoetzsch, Russische Probleme; vgl. Stählin, Zur Beurteilung der russischen Geschichte; vgl. Voigt, Otto Hoetzsch, S. 100–102; vgl. auch Hampe, Kriegstagebuch, S. 783, Anm. 446. Der Historiker Alexander Cartellieri notierte am 25. Februar 1917 in sein Tagebuch: »Die Broschüre von Haller gegen Hötzsch rasch gelesen. Mir persönlich gefällt eine solche Schärfe eigentlich nie recht. Es scheint mir nicht ganz der Würde des Gegenstandes angemessen, mit kleinen Witzen zu kommen. Aber es mag sein, dass es Eindruck macht.« (Steinbach/Dathe, Alexander Cartellieri, S. 262.) Die Behauptung von Bleuel, Deutschlands Bekenner, S. 90, Hoetzsch habe allein gegen Haller gestanden, stimmt so wenig wie die Behauptung, Haller heiße mit Vornamen Johann. 61 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 141–144 bzw. unten S. 407–410. Im Gegensatz zu Haller hatte Hoetzsch tatsächlich nicht mit dem Zusammenbruch des russischen Reiches gerechnet: vgl. dazu Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, S.  109. Haller war der profilierteste, aber keineswegs der einzige Kritiker Hoetzschs, dessen­ Einfluss auch auf Kontakte zum Auswärtigen Amt sowie seine Funktion als außenpolitischer Kommentator der »Kreuzzeitung« zurückging: vgl. dazu Schaper, Otto Hoetzsch, S. 236–238. 62 Vgl. dazu Hans Delbrück an Johannes Haller, 25. Dezember 1916: UAT 305/20. Vgl. dazu auch Schaper, Otto Hoetzsch, S. 240.

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Den stärksten Widerhall fand Hallers baltisches Engagement naturgemäß im Kreise der Deutschbalten. Das wurde bereits im Herbst 1914 erkennbar, als Haller zuerst in einem Aufsatz für die Süddeutschen Monatshefte, dann in Berlin auf einer Veranstaltung der Vereinigung für staatsbürgerliche Fortbildung und Erziehung seine Überlegungen zu den »baltischen Ostseeprovinzen« publik machte.63 Haller führte darin aus, dass die Loslösung des Baltikums von Russland für Deutschland nicht nur eine moralische Pflicht – als abendländischer Vorposten gegen das »asiatische« Russland  –, sondern auch eine machtpolitische Notwendigkeit – als Schlüssel zur Herrschaft über die Ostsee – sei.64 Der Vortragssaal war völlig überfüllt, in erster Linie mit Deutschbalten, darunter auch Adolf Harnack, die den Abend zu einer Demonstration des baltischen Deutschtums machten, an dessen Ende die Gründung eines »Baltischen Vertrauensrates« sowie die Forderung nach einer Eingliederung des Baltikums in das Deutsche Reich standen, für die Haller dann eine Denkschrift entwarf. Dass die baltische Frage für Haller persönliche Bedeutung hatte, liegt aufgrund seiner Herkunft auf der Hand. Im Rahmen seiner ab 1916 immer stärkeren publizistischen Anstrengungen, den Krieg im Osten und die Frontstellung gegen Russland in der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten, betonte er daher nicht die moralische, sondern die machtpolitische Bedeutung des Baltikums.65 In einer ganzen Reihe von Artikeln und Vorträgen wies er auf die strategische Relevanz der Ostsee hin, um deren Herrschaft sich Deutschland und Russland stritten, an der aber auch England aus wirtschaftspolitischen Gründen interessiert sei. Es werde sich deshalb an der Ostsee entscheiden, ob Deutschland ein »Weltvolk« bleibe oder nicht.66 Seine steten Warnungen vor zu großer Russlandfreundschaft waren von der Sorge getragen, dass man im Falle eines verfrühten Friedensschlusses genau diese Position leichtfertig aufs Spiel setze – und dann jede Einflussmöglichkeit im Baltikum verliere.67 63 Haller, Gedanken eines Balten. Vgl. außerdem die beiden Vortragsberichte: »Die baltischen Ostseeprovinzen«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 328 vom 27. November 1914 (ein Exemplar in: UAT 305/8); »Eine Kundgebung der Balten in Berlin«, in: Frankfurter Zeitung Nr. 326 vom 24.  November 1914 (ein Exemplar in: UAT 305/87). Vgl. dazu auch Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 138 f. bzw. unten S. 405 f. Haller behauptet dort, die Denkschrift sei als Eingabe an den Reichskanzler verfasst worden und habe auf Anhieb 1000 Unterschriften gefunden; sie sei aber aufgrund eines entsprechenden Verbots erst 1917 weitergereicht worden, und zwar durch Friedrich Meinecke und Carl Friedrich von Siemens, die das Anliegen vor dem Kanzler nicht richtig vertreten hätten. Vgl. dazu auch Meineke, Friedrich Meinecke, S. 251 f. Vgl. außerdem Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, S. 90 f. 64 Haller, Gedanken eines Balten, bes. S. 816: »Die deutsche Nation […] werde wieder, was sie in längst vergangenen Tagen war, Gebieterin in Nord und Ost, Vorkämpferin germanischer Art, Schutzwall abendländischer Gesittung wider die Zwingherrschaft asiatischer Barbarei.« 65 Vgl. Haller, Die baltischen Provinzen, bes. S.  119 f.; vgl. dazu auch Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 134–138 bzw. unten S. 402–405. 66 Haller, Was bedeutet die Herrschaft auf der Ostsee (ein Exemplar in: UAT 305/8). 67 Vgl. Haller, Probleme des Ostens (ein Exemplar in: UAT 305/8).

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Hallers deutschbaltische Herkunft erklärt außerdem seine Empörung angesichts der Veröffentlichung der Kriegsziele der Entente im Januar 1917, die eine – in erster Linie gegen Österreich-Ungarn gerichtete – umfassende Durchsetzung des »Nationalitätenprinzips« forderten.68 Haller reagierte darauf mit einem Aufsatz, in dem er England und Russland vorwarf, ihrerseits geradezu eine »Verneinung des Prinzips der Nationalitäten« darzustellen. Vor allem Russland sei vielmehr das genaue Gegenteil eines Nationalstaats, nämlich ein Eroberungs- und Unterdrückungsstaat. Die Kriegsziele der Entente seien daher nichts als Propaganda.69 Wirkliche Handlungsmöglichkeiten ergaben sich aus Hallers Sicht allerdings  erst infolge der beiden Revolutionen in Russland. Schon im Juni 1917 äußerte er die Überzeugung, dass Deutschland nun die Gelegenheit nutzen müsse, um erstens den Zerfall des russischen Reiches in Nationalstaaten zu forcieren und zweitens dafür zu sorgen, dass nicht England, sondern Deutschland selbst Schutzmacht dieser neu entstehenden Nationalstaaten werde.70 Den Höhe­punkt seines Einflusses in der baltischen Frage erlebte Haller schließlich nach der Oktoberrevolution und dem Waffenstillstand zwischen Deutschland und Russland ab dem 15. Dezember 1917. Bevor am 22. Dezember in Brest-­ Litowsk die Friedensverhandlungen begannen, fand am 18. Dezember eine von Kaiser Wilhelm II. geleitete Besprechung im Großen Hauptquartier in Bad Kreuznach statt, in der vor allem die Frage diskutiert wurde, welche Position Deutschland in Bezug auf das Baltikum einnehmen sollte.71 Zu dieser Besprechung wurde Haller auf Vermittlung der Großherzogin Luise von Baden von Hindenburg als Berater hinzugezogen.72 Eine Beratung im eigentlichen Sinne scheint aber gar nicht stattgefunden zu haben, da Hindenburg von vornherein ganz Hallers Meinung war, dass das ­Baltikum unter deutsche Herrschaft gebracht werden müsse.73 In der Besprechung selbst vertrat Hindenburg die Auffassung, Deutschland müsse die Ostgrenze militärisch sichern und Estland und Livland in Personalunion mit Deutschland bringen.74 Der Kaiser sprach sich demgegenüber für Abwarten aus, während Reichskanzler von Hertling und Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Kühlmann gegen einen Ausgriff Deutschlands auf das Baltikum Bedenken erhoben. Haller gewann dadurch den – sachlich zutreffenden – Eindruck, 68 Abgedruckt in: Stahl, Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender 1917/II, S.  377–379; vgl. dazu auch Fenske, Der Anfang vom Ende, S. 42 f. 69 Vgl. Haller, Rußland und das Nationalitätenprinzip (ein Exemplar in: UAT 305/8). Zu den Kriegszielen der Entente vgl. auch Fenske, Der Anfang vom Ende, S. 27–33. 70 Vgl. Haller, Die Wege der russischen Revolution, bes. S. 533 f. (ein Exemplar in: UAT 305/7). 71 Vgl. dazu Pyta, Hindenburg, S. 315–317. 72 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 99 bzw. unten S. 377 f.; vgl. außerdem Hampe, Kriegstagebuch, S. 783, Anm. 447. 73 Vgl. ebd., S. 98–101 bzw. unten S. 377–379. 74 Vgl. dazu wie für das Folgende das offizielle Ergebnisprotokoll der Besprechung in: Hahlweg, Der Friede von Brest-Litowsk, Nr. 93, S. 129 f.

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dass die politische und militärische Führung völlig unterschiedliche Auffassungen vertraten. Dieses Empfinden verstärkte sich noch, als er drei Tage nach der Besprechung ins Kanzlerpalais nach Berlin geladen wurde, um die Angelegenheit nochmals zu diskutieren.75 Deshalb wandte sich Haller bereits am 23. Dezember 1917 wieder an Hindenburg  – diesmal brieflich  – und beschwor ihn, seinen Einfluss geltend zu machen, um in den Friedensverhandlungen möglichst rasch eine Abtrennung Estlands und Livlands von Russland zu erreichen. Es handle sich dabei um ein Gebot sowohl des Interesses als auch der »Ehre« der deutschen Nation, und wenn man nicht schnell handle, dann werde es in Estland »in kurzem nicht mehr viel zu befreien geben.«76 Der Appell Hallers blieb allerdings ohne spürbare Folge: Die Friedens­ verhandlungen zwischen Deutschland und Russland gingen relativ schleppend voran, was vor allem damit zusammenhing, dass beide Staaten als gleichberechtigte Partner auftraten und dass die kommunistische Führung Russlands die Verhandlungen als Propagandabühne zu nutzen versuchte, um die Arbeitermassen Mitteleuropas für die Weltrevolution zu begeistern.77 Im Februar 1918 eskalierte die Lage in Estland: Nachdem Ende Januar eine Abordnung der­ Ritterschaft Livlands und Estlands in einer Kundgebung die politische Selbständigkeit erklärt und das Deutsche Reich um Schutz gebeten hatte, erklärte am 9.  Februar das Exekutivkomittee der Sowjets Estlands dem deutschbaltischen Adel den Krieg und ließ insgesamt 567 Personen verschleppen.78 Haller war außer sich, zumal er nach wie vor Geschwister hatte, die in Reval bzw. in Petersburg lebten; das Nichteingreifen Deutschlands erklärte er für eine »ewige und blutige Schande für die deutsche Nation«.79 Am 17.  Februar entschloss sich Deutschland, die Kampfhandlungen fortzuführen und besetzte in den folgenden zwei Wochen das gesamte Baltikum. Erst jetzt war Sowjetrussland zu einem Friedensschluss bereit, der für die baltischen Völker eine Regelung nach dem Selbstbestimmungsprinzip vorsah.80 Haller war einerseits erleichtert über das deutsche Eingreifen und freute sich über die Erfüllung seines Traums vom deutschen Reval, blieb aber aufgrund bereits durchgeführter Morde und Verschleppungen deutschbaltischer Adliger 75 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 106–108 bzw. unten S. 383–385. 76 Johannes Haller an Paul von Hindenburg, 23.  Dezember 1917: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 155. 77 Vgl. dazu Hahlweg, Der Friede von Brest-Litowsk, S. 369; vgl. auch Fenske, Der Anfang vom Ende, S. 57–59. 78 Vgl. dazu Brüggemann, Die Gründung der Republik Estland, S. 58–64; vgl. außerdem Volkmann, Die deutsche Baltikumpolitik, S. 91–115; vgl. Pistohlkors, Die historischen Voraussetzungen, S. 35–40; vgl. Rauch, Geschichte der baltischen Staaten, S. 52 f. 79 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 15.  Februar 1918: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 157; vgl. auch Johannes Haller an Ottmar von Mohl, 17. April 1918: Staatsbibliothek zu Berlin, Slg. Darmst. 2f 1896 (14) bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 160. 80 Vgl. dazu Fenske, Der Anfang vom Ende, S. 62–67.

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der entschiedenen Auffassung, Deutschland habe zu spät gehandelt und »Blutschuld« auf sich geladen.81 Später radikalisierte er seine Ansicht noch und warf der militärischen und politischen Führung Deutschlands vor, das Heer nicht wenigstens bis Petersburg vorgerückt haben zu lassen und außerdem fahrlässigerweise versäumt zu haben, die Auslieferung aller schweren Waffen von Russland zu fordern.82 Ob Hindenburg Haller entsprechend dessen späterer Behauptung wirklich eine Stelle in der Verwaltung seiner alten Heimat anbot und Haller dies ablehnte, weil er mit der militärischen Dominanz der Verwaltung nicht einverstanden war, ist ungewiss, auch wegen der Tatsache, dass Haller mit einem gewissen Neid auf seinen seit Studienzeiten bekannten Freund Jakob von Uexküll blickte, der im März 1918 am Estländischen Landtag teilnahm.83 Sicher ist aber, dass Haller mehr oder weniger die gesamte Besatzungszeit von Februar bis November 1918 als eine Kette von Fehlern betrachtete, die letztlich zum Ende des Deutschbaltentums führten. Die beiden entscheidenden Fehler waren aus Hallers Sicht erstens die verfehlte Germanisierungspolitik, die Esten und Letten gegen Deutschland aufgebracht und letztlich dazu beigetragen habe, den Wunsch nach jeweils unabhängigen Republiken zu wecken; zweitens das Versäumnis Deutschland, selbst einen unabhängigen baltischen Staat zu schaffen und mit einer eigenen Armee auszustatten, die sich in den Kämpfen ab November 1918 hätte behaupten können.84 Im Nachhinein hielt Haller den Untergang der Deutschbalten nur für »eine Szene in dem großen Trauerspiel von Deutschlands Untergang.«85 Beides – Szene wie Trauerspiel  – betrachtete er nicht als historische Notwendigkeiten und auch nicht als Folge einer großangelegten Verschwörung gegen Deutschland, sondern als bittere Konsequenz vermeidbarer Fehler der deutschen Politik. Der Fehler, der Deutschland in einen Krieg geführt habe, der letztlich nicht zu gewinnen gewesen sei, sei ironischerweise genau dasjenige wilhelminische Projekt gewesen, das die größte öffentliche Unterstützung erfahren habe: der Flottenbau: »Die Flotte Deutschlands Schicksal, Deutschlands Verhängnis  – daran ist nicht zu zweifeln. Daß sie entstand, führte zum ersten Weltkrieg, der Deutschlands Großmacht, Wohlstand und Freiheit vernichtete. Die Unfähigkeit der republikanischen Regierung, das Volk aus diesem unerträglichen Zustand zu erlösen, bahnte den Weg

81 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16. März 1918: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 159. 82 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 146–148 bzw. unten S. 411 f. 83 Vgl. zum Angebot Hindenburgs Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 149 bzw. unten S. 413; vgl. zu Hallers Neid auf Uexküll Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16. März 1918 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 159. 84 Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 149–163 bzw. unten S. 413–423. 85 Ebd., S. 146 bzw. unten S. 411.

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zur Macht einem Dikta­tor, der, wie wir zu spät erkannten, entweder Verbrecher oder wahnsinnig, vielleicht beides war. Ihn rechtzeitig zu beseitigen, gelang nicht, und so konnte er das deutsche Volk mit allen Mitteln der Täuschung und Gewalt, in dem Wahn, es auf den Gipfel der Weltherrschaft zu führen, nach vorübergehenden Erfolgen in den Abgrund stürzen, aus dem es sich nach menschlicher Voraussicht nicht mehr erheben wird.«86

2. Wissenschaft im Krieg Selbstverständlich führte Hallers intensiver kriegspublizistischer Einsatz ab 1914 dazu, dass seine wissenschaftliche Produktivität zurückging. Keine der vier zwischen 1914 und 1918 publizierten Monographien Hallers hatte thematisch irgend etwas mit seinen bisherigen Forschungsthemen zu tun; alle vier waren eindeutig gegenwartspolitisch motiviert.87 Im ersten Kriegsjahr erschienen noch drei mediävistische Aufsätze Hallers, die allerdings vor Kriegsausbruch verfasst worden waren; den nächsten fachwissenschaftlichen Aufsatz publizierte er 1920.88 Selbst bei den Rezensionen klafft anscheinend ab 1915/16 eine Lücke.89 Andererseits führten ihn die neue politische Situation und sein publizistisches Engagement während des Krieges zu neuen Themen, die zwar zunächst deutlich politisch motiviert waren und diese Motivation auch nie verloren, die aber doch auch Eingang in Hallers wissenschaftliches Repertoire fanden bzw. wenigstens wissenschaftlich von ihm fruchtbar gemacht wurden. Abzulesen ist dies an zwei Vorträgen, die Haller 1917 bzw. 1918 hielt: über die »Ursachen der Reformation« und über den »bildenden Wert der neueren Weltgeschichte«.90 Über die »Ursachen der Reformation« sprach Haller am 7. November 1917 vor dem Stuttgarter Goethebund anlässlich des 400. Jahrestages von Martin Luthers Thesenanschlag vom 31.  Oktober 1517. Mit aktualisierenden Thesen hielt Haller sich in seiner Festrede eher zurück und erwähnte nur ganz zum 86 Ebd., S. 56 f. bzw. unten S. 347. Die Flotte hat Haller auch während des Krieges schon als Krux im deutsch-englischen Verhältnis bezeichnet, hat zu diesem Zeitpunkt allerdings nach außen hin die moralische und staatspolitische Berechtigung Deutschlands zum Flotten­bau betont: vgl. Haller, Der Ursprung des Weltkriegs, S. 44–48. 87 Ebd.; Haller, Bismarcks Friedensschlüsse; Haller, Die russische Gefahr im deutschen Hause; Haller, Deutschlands Stellung an der Ostsee. 88 Haller, Kaiser Heinrich VI.; Haller, Heinrich VI. und die römische Kirche; Haller, Zu den Marbacher Annalen; Haller, Innozenz III. und das Kaisertum Heinrichs VI. 89 Die letzte Rezension Hallers in Kriegszeiten erschien 1916 in der Historischen Zeitschrift: Haller, Rez. »Archivo Muratoriano«. Wegen der fehlenden bibliographischen Hilfsmittel für die Kriegsjahre sind hier aber keine definitiven Aussagen möglich. 90 Haller, Die Ursachen der Reformation; Haller, Der bildende Wert der neueren Weltgeschichte. Hier wäre außerdem der nur noch im erweiterten Sinne zur Kriegspublizistik gehörende Aufsatz Hallers über »Die auswärtige Politik des Fürsten Bülow« vom Januar 1917 zu nennen: Haller, Die auswärtige Politik des Fürsten Bülow; vgl. dazu Kapitel VII.1.

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Schluss die gegenwärtige Situation, der ein großer Mann wie Luther fehle – der aber wiederum auch nur in günstiger Lage habe handeln können.91 Der Kontext des Vortrags war höchstens ein metapolitischer, gehört aber eher noch in wissenschaftliche Diskussionszusammenhänge: zum einen in die methodischtheoretische Auseinandersetzung zwischen Personen- und Strukturgeschichte, zum anderen in den Streit zwischen einer stärker historischen und einer stärker theologischen Deutung der Reformation insgesamt. Eine platte personengeschichtliche Orientierung im Sinne der ­v ielzitierten »Großen Männer«92 lehnte Haller dabei ab: Die Person Martin Luthers als die eine Ursache der Reformation zu bezeichnen, sei der Komplexität der historischen Ereignisse nicht angemessen, zumal Luther weder theologisch noch politisch wirklich Originelles gedacht, sondern die kirchlichen und politischen Reformbestrebungen des späten Mittelalters mehr oder weniger reproduziert habe. Der Erfolg der Reformation hänge daher nicht mit der Besonderheit der Gestalt Luthers zusammen, sondern mit den Besonderheiten der Lage, in der er handelte: Einerseits sei die Reformbewegung des frühen 16. Jahrhunderts stärker, andererseits die Kirche schwächer gewesen als in den Jahrhunderten zuvor. Die religiöse Blüte dieser Zeit habe der Kirche paradoxerweise geschadet, weil ihr an den nun erhöhten religiösen Ansprüchen gemessen desolater Zustand diese nicht mehr habe befriedigen können. Zudem sei die Kirche im Inneren längst nicht mehr scholastisch, sondern humanistisch orientiert gewesen, sodass man an den überkommenen Dogmen nur noch pro forma festgehalten habe: Die Kirche »glaubte nicht mehr an sich selbst.«93 Schließlich müsse man noch den kirchenpolitischen Machtverlust der Kurie seit dem 13. und 14. Jahrhundert in Rechnung stellen, als sich faktisch bereits ein »landesherrliches Kirchenregiment« etabliert habe, das die Reformatoren nicht neu erdacht, sondern bereits vorgefunden hätten.94 Haller betonte in seinem gesamten Vortrag die strukturellen Voraussetzungen der Reformation (kirchlicher Glaubwürdigkeitsverlust, humanistische Überwindung mittelalterlichen Denkens sogar innerhalb der Kirche selbst, Macht­verlust der Kirche gegenüber der weltlichen Obrigkeit), beharrte aber doch darauf, dass man damit zwar notwendige, aber noch keine hinreichenden Bedingungen für den Erfolg der Reformation identifiziert habe. Hier brachte Haller wieder die Bedeutung der Person in der Geschichte ins Spiel, indem er Luthers »mutige Tat« 91 Vgl. Haller, Die Ursachen der Reformation, S. 32. Matthiesen, Kontroverse und Konfession, S. 279, erwähnt diese einschränkende Bemerkung Hallers nicht, was die von ihm (S. 285) gezogene Parallele zur Sehnsucht nach dem messianischen »Führer« als überzogen erscheinen lässt. 92 Klassisch bei Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, S. 28: »Dem Historiker ist nicht gestattet, nach der Weise der Naturforscher das Spätere aus dem Früheren einfach abzuleiten. Männer machen die Geschichte. Die Gunst der Weltlage wird im Völkerleben wirksam erst durch den bewußten Menschenwillen, der sie zu benutzen weiß.« 93 Haller, Die Ursachen der Reformation, S. 22. 94 Ebd., S. 28.

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hervorhob als einen Beweis gegen jene »Geschichtsphilosophen […], die alle Entwicklung aus innerer Notwendigkeit und unbewußtem Werden erklären und die freie Persönlichkeit als bestimmenden Faktor streichen wollen«95. Hallers Position – die er in ähnlicher Weise bereits in seiner Dorpater »Candidatenschrift« vertreten hatte96 – war so etwas wie der Versuch eines Ausgleichs zwischen Personen- und Strukturgeschichte, was der historischen Wirklichkeit angemessener sei als die einseitige Betonung des einen oder des anderen: »So wurde Martin Luther der Urheber der Reformation. Er hätte es nicht werden können, wären die unpersönlichen Kräfte, die Ursachen, nicht längst wirksam gewesen, die seiner Tat den Erfolg verhießen. Man setzt ihn nicht herab, indem man das sagt. Denn was bedeuten alle Möglichkeiten geschichtlicher Entwicklung, solange der bewußte Wille, die Tat eines starken Menschen sich ihrer nicht bemächtigt?«97

Unmittelbar wissenschaftsgeschichtlich wirksam war an Hallers Vortrag aber nicht dieser geschichtstheoretische Aspekt, sondern die – damit allerdings verbundene – Frage nach dem Gesamtcharakter sowie der letztlich auch normativen Beurteilung der Reformation. In den Anmerkungen für die Druck­ fassung des Vortrags setzte sich Haller mit einer Veröffentlichung des Kirchenhistorikers Heinrich Boehmer auseinander, der Luthers Rechtfertigungserlebnis als entscheidende Ursache der Reformation bezeichnet hatte.98 Haller polemisierte gegen diese Auffassung, indem er bestritt, eine Massenbewegung könne aus einem theologischen Spezialsatz erklärt werden, über dessen richtige Interpretation noch heute Streit herrsche. Die praktische, auch politisch bedeutsame Kirchenkritik habe den Ausschlag für den Erfolg der Reformation gegeben, nicht die Details von Luthers theologischer Lehre.99 Wie auch immer man diese Frage beurteilt: Haller befand sich mit seiner Position nicht auf der Höhe der Zeit. Sein Vortrag war der erste Band einer vom Tübinger Mohr-Siebeck-Verlag herausgegebenen Reihe »Reformationsreden«; den zweiten bildete der sehr viel berühmter gewordene Vortrag des Berliner Kirchenhistorikers Karl Holl: »Was verstand Luther unter Religion?«100 Holl leitete damit in der evangelischen akademischen Theologie die »Lutherrenaissance«101 ein, die im Kontext einer allgemein verstärkten Zuwendung zu genuin theologischen Fragen den historischen Luther von den zahlreichen geschichts- und kirchenpolitischen Verfremdungen der vergangenen 400 Jahre befreien wollte. Aus dieser Perspektive hing Haller dem liberalen Lutherbild des Kulturprotestantismus an, nach welchem der wesentliche Ertrag der Reformation – und im Einklang damit des Humanismus – die Befreiung von kirchlicher Bevormun95 Ebd., S. 30. 96 Vgl. Kapitel II.3. 97 Haller, Die Ursachen der Reformation, S. 31. 98 Boehmer, Die Ursachen der Reformation. 99 Vgl. Haller, Die Ursachen der Reformation, S. 41–44. 100 Holl, Was verstand Luther unter Religion. 101 Grundlegend dazu: Assel, Der andere Aufbruch.

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dung gewesen sei. Entsprechend lautete nach Kriegsende der Vorwurf an Haller, der vor allem von Gerhard Ritter erhoben wurde, der wie Haller kein Theologe, sondern »Profanhistoriker« war.102 Ritter störte sich vor allem an der undifferenzierten und – unausgesprochen – zu positiven Darstellung des Humanismus bei Haller: »Es gehört zu den Erbstücken der nachhegelischen und protestantisch liberalen Geschichtsschreibung […], wenn auch einzelne neuere Historiker noch dazu neigen, die ›freiheitlichen‹ religiösen Ideen des Humanismus in allzu enge Verbindung mit denen der Reformation zu bringen. […] In besonderer Weise sind die Unterscheidungslinien verwischt in der Rede von Joh. Haller, Die Ursachen der Reformation, 1917. Da erscheint Erasmus in einem Atem als Aufklärer, Rationalist, Geistesverwandter Lessings und gleichzeitig Luthers. Dieser wird geradezu als sein ›Jünger‹ bezeichnet und das Wesentliche der lutherischen Tat nur darin gesehen, daß er die ›Zündschnur‹ zu einer fertig vorbereiteten Explosion ›faßt und in Brand steckt‹. In den Schriften des Erasmus sei ›alles Wesentliche schon enthalten, was die Reformatoren gegen die bestehende Kirche vorgebracht haben, alles, was sie forderten und durchsetzten.‹ Das ist offenbar ein Rückfall in längst überwundene Vorstellungen.«103

Es entspann sich daraufhin eine Kontroverse zwischen Ritter und Haller, in der dieser jenem eine verzerrte Darstellung der eigenen Position, jener diesem die Vernachlässigung des Theologischen, ja überhaupt des Geistigen, vorwarf, was überhaupt erst zu der Ineinssetzung von Humanismus und Reformation habe führen können.104 In den 1930er Jahren wurde der Streit erneut aufgenommen, als Haller wie Ritter Monographien zur Universitätsgeschichte vorgelegt hatten und Haller nun Ritter vorwarf, aufgrund normativer Vorgaben den Bildungsimpuls des Humanismus völlig außer Acht zu lassen.105 Es liegt auf der Hand, dass hier handfeste weltanschaulich-politische Gegensätze eine Rolle spielten, vor allem eine unterschiedliche Beurteilung der Reformation, die der eher der »Goethefront« als der »Lutherfront« zugehörige Haller mindestens ambivalent einschätzte.106 Es sollte in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden, 102 Ausführlich zu dieser Kontroverse zwischen Ritter und Haller: Matthiesen, Kontroverse und Konfession. 103 Ritter, Die geschichtliche Bedeutung des deutschen Humanismus, S. 433 f. 104 Haller, Humanismus und Reformation; Ritter, Humanismus und Reformation; vgl. dazu auch Matthiesen, Kontroverse und Konfession, S. 284 f. 105 Ausführlicher dazu: Kapitel VII.4. Vgl. dazu auch Matthiesen, Kontroverse und Konfession, S. 291–295. Vgl. außerdem Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 264. 106 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. Friedrich Meinecke an Gerhard Ritter, 13.  Oktober 1936, zit. nach Schwabe/Reichardt, Gerhard Ritter, S.  311 f.: »Neben Ihrem scharfen Intellekt sehe ich dann einen starken, zum Unbedingten strebenden ethisch-religiösen Willen in ­Ihnen wirken. Daher Ihr Bekenntnis, dem Naturrecht nicht so fernzustehen wie ich. Ich aber könnte niemals – und hier greift nun auch einmal mein Intellekt ein – das sacrificium ­intellectus bringen, bestimmte höchste Ideale meines Lebens, deren historische Individualität und Genesis mir wohl bewußt bleibt, als schlechthin absolut und überzeitlich zu erklären. Ich sehe sie nur als Symbole eines unbekannten Absoluten an, fühle mich

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dass Ritter in dieser Frage die »rechte« und Haller die »liberale« Position vertrat.107 Was die Frage betrifft, wessen Intepretation der historischen Realität angemessener ist, so ist darauf hinzuweisen, dass die Gewichtung von »historischem« und »theologischem« – also politischem und religiösem – Faktor bei der Beurteilung der Reformation im Allgemeinen und Luthers im Besonderen noch heute umstritten ist.108 Den zweiten Vortrag, der während des Krieges bereits den Grund für wissenschaftliche Betätigungsfelder nach dem Krieg legte, hielt Haller 1918 im Rahmen der Geschichtlichen Abende im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin über den »bildenden Wert der neueren Weltgeschichte«. Den Rahmen dieses Vortrags bildete das Plädoyer Hallers für historische Bildung als Voraussetzung für eine angemessene Einschätzung gegenwärtiger Politik. Das Fehlen historischer Bildung sowohl bei den politischen Entscheidungsträgern als auch im Volk sei eine wesentliche Ursache für die falschen politischen Einschätzungen vor und während des Krieges.109 Den Rückgang historischer Bildung erklärte Haller als Nebeneffekt eines unwidersprochen hohen Ranges der Geschichtswissenschaft seit einigen Jahrzehnten, der inhaltlichen Debatten eher hinderlich als förderlich gewesen sei. Unter der Leitfrage, wieso man sich eigentlich mit Geschichte befassen solle, beschäftigte sich Haller nun erstmals öffentlich mit Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie. Während er die traditionelle Auffassung von der Geschichte als praktischer Lehrmeisterin des Lebens für überholt erklärte, verteidigte er den prinzipiellen Wert der Geschichtswissenschaft als einer Art empirisch fundierter Anthropologie. Haller bezog sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Jacob Burckhardt und zitierte zustimmend dessen berühmte Äußerung, Geschichte mache »nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer«.110 Einen unmittelbareren politischen Nutzen hielt Haller ebenfalls

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aber dabei ihnen nicht minder stark verpflichtet, als wenn ich sie als unmittelbar, absolut und überzeitlich verehrte. In unserem Gegensatz steht vielleicht die Lutherfront gegen die Goethefront unseres geistigen Lebens. Eigentlich sollten sich beide heute vertragen, aber das tun sie nun einmal, deutschem Radikalismus gemäß, nicht. […] Es spielt auch der Generationsgegensatz mit. Und da will ich zugeben, daß für die eigenartige Lage und Kämpfe, die Ihre Generation durchzumachen hat, ein Zuschuß von absolutierendem Denken und Wollen sehr wirksam und nützlich ist.« Zu Hallers Beurteilung der­ Reformation vgl. vor allem Kapitel VII.2. Ritter warf Haller im Zuge der Debatte nicht ganz ohne Grund vor, sein Verständnis der Reformation ganz an Zwingli und den Reformierten zu orientieren und für die spezifische Bedeutung Martin Luthers keinen Sinn zu haben: ­Ritter, Humanismus und Reformation, S. 173. Vgl. dazu Matthiesen, Kontroverse und Konfession, S. 298 f. Vgl. dazu etwa Lexutt, Rez. »Heinz Schilling«. Haller, Der bildende Wert der neueren Weltgeschichte, bes. S. 190–195. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 10: »Damit erhält auch der Satz Historia vitae magistra einen höheren und zugleich bescheideneren Sinn. Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise ›für immer‹ werden.« Vgl. Haller, Der bildende Wert der neueren Weltgeschichte, S. 181–184.

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fest, allerdings nur für die »neuere Geschichte«, da sie sowohl in Bezug auf den Umfang der Quellen als auch auf die innere Nähe zur Gegenwart den Epochen der Vergangenheit überlegen sei und daher auch einen »Kompaß« für den »Weg in die Zukunft« liefere.111 Unter »Neuerer Geschichte« verstand Haller »alles das von der Vergangenheit, was man kennen muß, um die Gegenwart zu verstehen.«112 Daraus folgerte er, dass mittlere und neuere Geschichte zu großen Teilen zusammengehörten bzw. dass zumindest für die deutsche Geschichte die Epoche der Neuzeit bereits im 13. Jahrhundert beginne. Für Hallers akademisch-politischen Lebensweg ist dieser Vortrag vor allem deshalb von Bedeutung, weil hier erstmals explizit zwei Aspekte eine Rolle spielten, die in Hallers Werk sehr wirkungsreich geworden sind: Zum einen befasste er sich hier mit geschichtstheoretischen Grundsatzfragen, auch und gerade im Hinblick auf mögliche oder sogar notwendige außerwissenschaftliche Zwecksetzungen der Geschichtswissenschaft  – ein Thema, das er 1935 wieder aufgriff, als er sein historistisches Wissenschaftsverständnis gegen die »kämpfende Wissenschaft« der Nationalsozialisten verteidigte.113 Zum anderen bieten Hallers Ausführungen eine Begründung dafür, wieso er nicht nur in der Kriegspublizistik, sondern auch in seinem akademischen Schaffen nach 1918 über sein eigentliches Kerngebiet – die Mediävistik – hinausging und sich auch mit­ Fragen der neuesten Geschichte beschäftigte: Für ihn gehörte beides unmittelbar zusammen. In Bezug auf Hallers praktischen wie ideologischen Lebensweg ist der Vortrag ebenfalls in zweierlei Hinsicht von Belang: Erstens rechtfertigte er mit dem Nutzen der Geschichte zugleich seine eigene Lebensbeschäftigung, was für den verhinderten Musiker Haller keineswegs selbstverständlich war.114 Gegen Ende seines Lebens ging seine Identifikation mit der gewählten Profession so weit, dass er aus der Beschäftigung mit der Geschichte allgemeine lebensphiloso­ phische Prinzipien ableitete, die ihm einen Ersatz für die fehlende religiöse Gewissheit boten.115 Zweitens zeichnete sich hier eine deutliche Verschiebung von Hallers Selbstverständnis als Berufshistoriker ab. Hatte er noch in »Papsttum und Kirchenreform« einer reinen Wissenschaft das Wort geredet und die Jahre in Marburg und Gießen dazu zu nutzen versucht, sich zum Gelehrten auszubilden, so war er nun nach dem Erlebnis von fast vier Kriegsjahren überzeugt, dass der wesentliche Sinn der Geschichte auch als Wissenschaft in der politischen Bildungsarbeit liege.116 Haller forderte ausdrücklich die Rückkehr zu einer »politischen Historie großen Stils«, deren hervorragender Vertreter Leopold von Ranke gewesen und die seit Heinrich von Treitschke in Deutschland 111 112 113 114 115 116

Ebd., S. 186. Ebd., S. 188. Vgl. Kapitel VIII.2. Vgl. Kapitel II.2. Vgl. Kapitel IX. Vgl. dazu auch Kapitel V.

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von niemandem mehr aufgegriffen worden sei.117 Nach Kriegsende versuchte Haller selbst, in Rankes und Treitschkes Fußstapfen zu treten. Er brachte damit eine sich schon seit längerem angebahnte Entwicklung vom auf wissenschaftlich-methodische Sauberkeit höchsten Wert legenden Fachhistoriker der Vorzum dezidiert politischen Historiker der Nachkriegsjahre zum Abschluss. Die teilweise deutlichen politischen Stellungnahmen Hallers während des Ersten Weltkrieges führten dazu, dass sein ohnehin schon in vielen Fällen angespanntes Verhältnis zu den Fachkollegen zusätzlich belastet wurde. Das gilt jedenfalls im Hinblick auf diejenigen Historiker, die Hallers Anschauungen nicht teilten, wie etwa Otto Hoetzsch in der Russland- und Hans Delbrück in der Kriegszielfrage.118 Zu einem förmlichen Bruch ist es in den Kriegsjahren außerdem zwischen Haller und Friedrich Meinecke gekommen. In den Jahren 1905 bis 1914 hatten die beiden einen zwar nicht besonders intensiven, aber doch sehr freundlichen Briefwechsel gepflegt, der mit dem Kriegsausbruch endete.119 Im November 1914 endete auch die Geschäftskorrespondenz zwischen Haller und der von Meinecke herausgegebenen Historischen Zeitschrift, für die Haller zwischen 1914 und 1939 in stillem Protest gegen Meinecke nicht mehr publizierte.120 Als 1928 Albert Brackmann in die Redaktion eintrat und Haller um seine aktive Mitarbeit bat, lehnte der mit Hinweis auf Meinecke ab: »Solange M. als Herausgeber an der Spitze steht, verbietet es mir die Selbstachtung, an der Zeitschrift mitzuarbeiten. Er hat sich zuerst als Redakteur mir gegenüber so illoyal benommen, dann bei anderem Anlaß mein persönliches Ansehen in so rücksichtsloser Weise angegriffen  – ich könnte von einem Versuch menschlicher Dis­ qualifizierung sprechen – daß auch ein anderer an meiner Stelle jede noch so lockere Gemeinschaft mit ihm rundweg ablehnen würde.«121

Die Anspielung auf Meineckes Verhalten als Redakteur lässt sich aus der überlieferten Korrespondenz nicht erhellen; der Angriff auf Hallers persönliches Anse117 Haller, Der bildende Wert der neueren Weltgeschichte, S. 198 f., Zitat S. 199. Haller war natürlich nicht der einzige, der als Historiker nach 1918 das politische Zeitgeschehen kommentierte. Dennoch war die große Zeit des »politisierenden Gelehrten« 1914 im Grunde vorbei; vgl. dazu Schönwälder, Lehrmeisterin der Völker, bes. S. 154 f. Grundlgend dazu: Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. 118 Vgl. Kapitel VI.1. 119 Die Korrespondenz zwischen Haller und Meinecke befindet sich in: GStA, VI. HA, Nl Meinecke, Nr. 14. 120 Geschäftskorrespondenz Hallers mit der Historischen Zeitschrift: Bayerisches Wirtschaftsarchiv, F 5/240, VII 1914 – III 1916. Vgl. dazu außerdem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 30. März 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 147: »Ich habe mit den meisten Kollegen deshalb alle Beziehungen abgebrochen, auch meine Mitarbeit an der führenden Fachzeitschrift offiziell gekündigt, weil der Herausgeber mir zu töricht ist.« Eine offizielle Kündigung der Mitarbeit an der Historischen Zeitschrift konnte allerdings nicht aufgefunden werden. 121 Johannes Haller an Albert Brackmann, 26. Februar 1928: GStA, VI. HA, Nl Brackmann, Nr. 11 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 219.

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hen ist aber mit einiger Sicherheit historisch identifizierbar. Meinecke und Haller, die sich 1903 noch in ihrer Sympathie für den nationalsozialen Verein politisch sehr nahe gestanden hatten, gingen ab 1914 geradezu konträre Wege. Das schlug sich zunächst in der Kriegszieldiskussion nieder, in der Haller einen Frieden mit, Meinecke einen ohne Annexionen befürwortete.122 Zum offenen Ausbruch kamen diese Gegensätze, als Meinecke zusammen mit weiteren Berliner Professoren die von Haller initiierte Erklärung gegen die »Friedensresolution« des Reichstags vom Juli 1917 mit einer Gegenerklärung konterte, die sich ausdrücklich gegen die »Agitation« der »Gegner eines Verständigungsfriedens« richtete.123 In den Nachkriegsjahren verschärften sich die Unterschiede zwischen Haller und Meinecke weiter, ohne dass es noch einmal zu einer direkten Konfrontation gekommen wäre. Es war wohl die Kombination aus politischem Gegensatz  – Meinecke ging nach 1918 einen weiteren Schritt nach links und war einer der bekanntesten »Vernunftrepublikaner«124 der Weimarer Republik, während Haller wie so viele andere, übrigens gerade aus den »reichsbaltischen Kreisen«, eine seit 1914 sich anbahnende »Schwenkung nach rechts«125 vollzog und das »System von Weimar« grundsätzlich ablehnte – und unterschiedlicher geschichtswissenschaftlicher Arbeitsweise – für Haller gehörte Meinecke gemeinsam mit Max Weber und Ernst Troeltsch zu einer Gruppe von dilettantisch »räsonnierenden«126 Geschichtsdenkern und außerdem zur Berliner »feuilletonistische[n] Schule«127  –, die Haller schließlich zu der Auffassung trieb, Meinecke sei sein »Todfeind«128. 122 Zur Haltung Friedrich Meineckes in der Kriegszieldiskussion vgl. Meineke, Friedrich Meinecke, S. 243–264. 123 Erklärung für einen Verständigungsfrieden, mit Begleitschreiben in: UAT 305/20; ohne Begleitschreiben abgedruckt in: Böhme, Aufrufe, Nr.  24, S.  185. Zu einem persönlichen Zusammenstoß zwischen Meinecke und Haller kam es anscheinend im April 1917 im Rahmen einer Veranstaltung in Berlin, zu der das Kultusministerium eingeladen hatte. Vgl. Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 23. April 1917, sowie Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 12. Mai 1917: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller: »In der Erinnerung habe ich an der Beratung vom 29.4 [!] keine Freude, vielleicht weil ich mich­ ärgere, auf die blöde Anrempelung von Meinecke in einem Anfall von Milde und Großmut nicht geantwortet zu haben. Aber ich habe überhaupt den Maßstab für die Dinge ­verloren, da es eigentlich nichts mehr gibt, woran man seine Freude haben kann.« 124 Der Begriff stammt von Meinecke selbst: Meinecke, Verfassung und Verwaltung, S. 281. Grundlegend zum »Vernunftrepublikanismus«: Wirsching/Eder, Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik; hier bes. und unter Nennung der wichtigsten Literatur: Wirsching, Vernunftrepublikanismus, S. 9–12. 125 So Max Hildebert Boehm, zit. nach Prehn, Max Hildebert Boehm, S. 64. 126 Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 7. Januar 1940: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 5006 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 340. 127 Johannes Haller an Albert Brackmann, 26. Februar 1928: GStA, VI. HA, Nl Brackmann, Nr. 11 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 219. 128 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 1.  März 1942: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 340. Zu Hallers gegen Meinecke u. a. entwickeltem Selbstverständnis als Geschichtswissenschaftler vgl. auch Kapitel VII.4.

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Trotz der im Vergleich zu den Vorkriegsjahren eher noch verstärkten Konflikte im akademischen wie im politischen Bereich hat Hallers publizistischer Kriegseinsatz seiner allgemeinen Reputation und damit auch seiner akademischen Karriere weit mehr genützt als geschadet. Im Februar 1916 wurde ihm für sein Engagement vom württembergischen König das Wilhelmskreuz verliehen.129 Im November 1917 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Gießen.130 Und im Juni 1917 erging an Haller der Ruf auf den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte in Straßburg. Das Tauziehen zwischen den Universitäten Tübingen und Straßburg, die beide vehement um Haller warben und zu diesem Zweck auch die Vertreter der anderen historischen Lehrstühle ihrer Universität einspannten, macht den gestiegenen Marktwert Hallers überdeutlich.131 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Haller das Straßburger Angebot offenbar allein aus finan­ziellen Gründen ablehnte. Inhaltlich empfand er einen Lehrstuhl in Straßburg als äußerst reizvoll, vor allem wegen der damit implizit verbundenen nationalerzieherischen Aufgaben.132 Dass die Kriegslage prekär und eine Abtretung ElsassLothringens an Frankreich zu befürchten war, spielte für Hallers Überlegungen keine Rolle. Seine späteren Behauptungen, im Grunde seit 1915, spätestens aber seit 1917 mit einer deutschen Kriegsniederlage gerechnet zu haben, erscheinen vor diesem Hintergrund fragwürdig.133 Als weiteres Zeichen für Hallers akademisches Ansehen im Ersten Weltkrieg ist schließlich die Tatsache zu werten, dass er im April 1917 von Paul Kehr als Fachberater zur Besprechung der Pläne für das noch im selben Jahr gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für deutsche Geschichte eingeladen wurde.134 So wird man insgesamt konstatieren können, dass die Produktion fachwissenschaft129 Verleihungsurkunde vom 25. Februar 1916 in: UAT 305/22. 130 Vgl. Johannes Haller an die Theologische Fakultät der Universität Gießen, 18. November 1917: UAG Theol 9 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 154. 131 Vgl. die entsprechende Korrespondenz in: UAT 305/22. 132 Vgl. Johannes Haller an Otto Pöhlmann, 19.  Juni 1917: UAT 305/22 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 150; vgl. Johannes Haller an Eduard Schwartz, 8. Juli 1917: UAT 305/22 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 151; vgl. Johannes Haller an Otto Pöhlmann, 11. Juli 1917: UAT 305/22. Vgl. außerdem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 6. April 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  175; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr.  1580, S.  2267–2271. Darin äußert Haller die Auffassung, die Integration des Elsass ins Reich sei eine große politische Aufgabe gewesen, die man im Kaiserreich liegen gelassen habe. 133 Vgl. dazu Kapitel VI.1. Allerdings hielt Haller noch Ende 1919 daran fest, dass ein deutsches Elsass die notwendige Bedingung für einen intakten deutschen Staat sei (Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16.  November 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hassel­horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 182): »Straßburg ist für den Bestand eines deutschen Reiches conditio sine qua non, wie es das schon für seine Gründung war. Bleibt es französisch, so halte ich die Losreißung des Südens nur für eine Frage der Zeit, die die Franzosen zu lösen sich beeilen werden.« 134 Vgl. Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 19. April: BArch N 1035/21. Ausführlich dazu: Schubert, Zum Wirken Paul Fridolin Kehrs, S. 439 f.

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licher Texte während des Krieges bei Haller zwar fast vollständig zum Erliegen kam, der Krieg aber gleichzeitig als Katalysator seiner akademischen Karriere wirkte: zum einen, weil seine wissenschaftlichen Leistungen von vor 1914 ebenso wie sein kriegspublizistischer Einsatz seine Reputation erhöhten; zum anderen, weil die Verlagerung des Tätigkeitsfeldes das Kriegsende überdauerte und Haller sich nun immer stärker auf eine auch auf die jüngere Vergangenheit ausgeweitete Geschichte mit dezidiert politischem Anspruch konzentrierte.

3. Akademischer Rektor im Zusammenbruch Es hängt vermutlich auch mit Hallers durch die Kriegspublizistik gestiegener Popularität und Reputation zusammen, dass er in der zweiten Kriegshälfte in zwei Ämter der Universitätshierarchie gewählt wurde. Zunächst bekleidete er 1916/1917 sowie 1917/1918 das Amt des Dekans der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen.135 In dieser Funktion koordinierte er beispielsweise die Zuteilung von Professoren der Fakultät zum seit Dezember 1916 bestehenden »Vaterländischen Hilfsdienst« und damit also die Abordnung zur Arbeit in kriegswichtigen Betrieben.136 Den Höhepunkt seines inneruniversitären Einflusses erreichte Haller, als ihm am 16.  März 1918 das Akademische Rektorat übergeben wurde.137 Schon ein Jahr zuvor hatte Haller sich zur Wahl gestellt, war aber dem Juristen Arthur Benno Schmidt unterlegen, der bis 1916 als Offizier im Kriegseinsatz gewesen war.138 Die Wahl für das akademische Jahr 1918/1919 am 6. Dezember 1917 gewann Haller dann mit einer Gegenstimme und bei zehn Enthaltungen gegen den katholischen Theologen Paul Rießler.139 Haller hat seine Wahl »mit Überspringung eines älteren Kollegen« später damit erklärt, dass man sich von ihm eine wirksame Begrüßung der im kommenden Jahr erwarteten siegreich von der Front heimkehrenden Studenten erhofft habe.140 Ob die Tübinger Professorenschaft tatsächlich im Dezember 1917 von einem baldigen und siegreichen Ende des Krieges ausging, ist fraglich, liegt aber aufgrund der damaligen Lage im Osten im Bereich des Möglichen; Hallers Behauptung erscheint allerdings auch deshalb wenig plausibel, weil sein Gegenkandidat wie Haller selbst dem Geburtsjahrgang 1865 angehörte und somit keineswegs ein »älterer Kollege« war. Dass Haller mit so eindeutiger Mehrheit zum Rektor gewählt wurde, zeigt aber doch, dass man an dem so eifrigen Kriegspublizisten und Wilhelmkreuzträger nicht mehr vorbeigehen konnte. 135 Vgl. das Verzeichnis der Dekane der Universität Tübingen: UAT 117/1406. 136 Vgl. Johannes Haller an das Akademische Rektoramt der Universität Tübingen, 2. Januar 1918: UAT 117/1307. 137 Vgl. das Sitzungsprotokoll des Großen Senats vom 16. März 1918: UAT 47/39, S. 265–268. 138 Vgl. das Sitzungsprotokoll des Großen Senats vom 17. Februar 1917: UAT 47/39, S. 221–225. 139 Vgl. das Sitzungsprotokoll des Großen Senats vom 6. Dezember 1917: UAT 47/39, S. 249–253. 140 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 170 bzw. unten S. 427 f.

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In der ersten Hälfte seiner Amtszeit war Haller mit der Organisation des Kriegsdienstes im weiteren Sinne betraut. So berichtete er auf Aufforderung des württembergischen Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens über pazifistische Bestrebungen in der Tübinger Studentenschaft, nannte dabei auch den Namen eines Anführers, riet aber zu ruhigem Abwarten.141 Außerdem ko­ ordinierte er im Juli 1918 eine letzte Propagandaoffensive, die von Tübinger Professoren mitgetragen werden sollte.142 Die großen Aufgaben erwarteten Haller allerdings erst ab Herbst 1918, als er die Universität Tübingen durch den so plötzlich sich vollziehenden politischen Zusammenbruch infolge der Kriegs­ niederlage führen musste. Am 10. November 1918, am Tag nach der erzwungenen Abdankung und der Flucht des Kaisers sowie der Ausrufung der Republik in Berlin, berief Haller eine Senatssitzung ein, um das Verhalten der Universität in der Krise zu besprechen. In Württemberg war die politische Situation nicht weniger chaotisch als in Berlin – es gab zwei Regierungen, die vom König eingesetzte sowie eine Revolutionsregierung.143 Haller riet angesichts dieser Lage dazu, sich in keiner Weise politisch festzulegen, sondern zunächst die weitere Entwicklung abzuwarten. Der Senat beschloss auf Antrag Hallers, einen von ihm entworfenen Anschlag an die Studenten in der Universität zu verbreiten: »Kommilitonen! In des Vaterlandes schwerster Stunde richten wir an Euch ein ernstes Wort. Von aussen haben die Feinde uns überwunden; sie wollen unsere Vernichtung. Im Innern löst die alte Ordnung sich auf, und eine neue will sich erst bilden. Die Dinge sind in raschem Fluss, jeder Tag, jede Stunde kann Neues, Schweres bringen. Da gilt es, dass ein jeder von uns seine Pflicht kenne und ganz erfülle. Kommilitonen! Wie immer Ihr die Wandlung empfinden möget, die sich vollzogen hat und noch vollzieht, Eure erste Pflicht ist jetzt, ruhig zu sein. Das müsst Ihr schon um unserer Hochschule willen, der Ihr es schuldig seid, alles zu vermeiden, was ihr Schaden bringen könnte. Dringend bitten wir Euch: gebt keinen, auch nicht den kleinsten

141 Johannes Haller an das K. Ministerium des Kirchen- und Schulwesens, 28.  Juni 1918: UAT 117/993 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 163. Das Ministerium hatte am 16. Mai 1918 zu einem Bericht über pazifistische Bewegungen in der Studentenschaft aufgefordert; Haller hatte dies bereits am 22.  Mai mit der kurzen Notiz beantwortet, dass ihm in dieser Hinsicht nichts bekannt sei: vgl. das Schreiben des Ministeriums vom 16. Mai 1918: UAT 117/993. Vgl. dazu auch Schmid, Die Tübinger Studentenschaft, S. 11. Anscheinend hat er auf die Anzeige eines Kollegen wegen »systematischer Flaumacherei« verzichtet, weil er sich aufgrund seines mangelnden Vertrauens in die zuständigen Behörden von einer Anzeige keinen Erfolg versprach. Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 167 bzw. unten S. 426. 142 Vgl. das Schreiben Hallers an mehrere Kollegen vom 25. Juli 1918: UAT 117/993. 143 Vgl. Wicki, Das Königreich Württemberg, S. 160–162.

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­ nstoss dazu, dass die Zustände eine weitere Verschärfung oder Verwicklung erfahA ren. Auch dem Vaterland dient Ihr am besten, wenn Ihr jetzt volle Ruhe und kaltes Blut bewahrt. Nur so könnt auch Ihr Euer Teil dazu beitragen, dass die Ereignisse bald­ wieder in friedliche Bahnen einlenken. Kommilitonen! Eure oberste Pflicht ist heute keine andere als an jedem Tag. Sie heisst: arbeiten. Bleibt bei der Arbeit unverdrossen und unermüdet wie sonst. So werdet Ihr am besten dazu wirken, dass in die werdende neue Zeit recht viel von dem hinübergerettet werde, was an der untergehenden alten gut und schön war: deutscher Fleiss, deutsche Zucht und deutscher Geist.«144

Gerade der Schluss des Anschlags musste den Befürwortern der Republik als »reaktionär« erscheinen, und tatsächlich hat Haller seine Ablehnung der neuen Ordnung während der Umbruchsmonate in den Rahmen einer Anerkennung der alten Ordnung gekleidet. Das gilt etwa für die sehr warme und ehrenvolle Kundgebung an den württembergischen König Wilhelm II. angesichts von dessen Abdankung am 30.  November 1918.145 Haller hat es aber doch vermieden, sich politisch allzu klar zu positionieren und hat damit die Universität aus der Schusslinie gehalten. Das gilt auch und gerade für Hallers Ablehnung, sich Ende November 1918 einem Aufruf der Universität Breslau anzuschließen, die aus Sorge vor einem massiven Eingriff der neuen politischen Machthaber in die Verfassungsstrukturen der Universitäten ihre Solidarität mit den »neu geschaffenen Tatsachen« erklärte – unter der Bedingung, dass man alle Pläne für eine Hochschulreform auf die Zeit nach der Konsolidierung der politischen Verhältnisse verschiebe.146 Der Senat der Universität Tübingen beschloss die Ablehnung des Aufrufs mit dessen Übereiltheit zu begründen; Rektor Haller fügte dem noch eine eigene, ausführlichere Begründung hinzu: »Dem vorgeschlagenen Schritt uns anzuschliessen, war uns schon darum nicht möglich, weil die Regierung, der die geplante Erklärung übergeben werden sollte, keinenfalls unsere Regierung sein könnte. Dieser gegenüber befinden wir uns in der glücklichen Lage, einstweilen keinerlei Eingriffe in unsere Verfassung befürchten zu müssen. Der derzeitige württembergische Herr Kultusminister hat durch öffentlichen Erlass erklärt, er betrachte sich nur als provisorischen Verwalter seines Amtes und werde keine Veränderung in den bestehenden Einrichtungen vornehmen.«147

144 Sitzungsprotokoll des Großen Senats vom 10.  November 1918: UAT 47/39, S.  283 f. Vgl. dazu auch Schmid, Die Tübinger Studentenschaft, S. 21. 145 Sitzungsprotokoll des Großen Senats vom 2. Dezember 1918: UAT 47/39, S. 292–294. 146 Rektor und Senat der Universität Breslau an den Rektor der Universität Tübingen, 19. November 1918: UAT 117/1301. Vgl. dazu auch das Sitzungsprotokoll des Großen Senats vom 28. November 1918: UAT 47/39, S. 289–291. 147 Johannes Haller an Rektor und Senat der Universität Breslau, 29. November 1918: UAT 117/1301 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 169.

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Entgegen anderslautender Suggestionen in der neueren Forschung war mit der Ablehnung des Breslauer Aufrufs keineswegs auch eine grundsätzliche Ablehnung der politischen »neu geschaffenen Tatsachen« verbunden. Haller wies vielmehr ausdrücklich darauf hin, dass man in Tübingen mit der neuen Regierung gut zusammenarbeite und gerade deshalb den Aufruf nicht unterzeichnen könne.148 Man kann dann aus republikanischer Sicht die Haltung des akademischen Rektorats im Winter 1918/1919 als »Ideologie des Unpolitischen«149 bezeichnen, wird aber doch zugeben müssen, dass angesichts der völlig undurchsichtigen und chaotischen politischen Lage das möglichst neutrale Abwarten der weiteren Entwicklung eine verständliche Haltung und vernünftige Option war. Haller scheint in den Monaten ab November 1918 die »Erwartung« gehabt zu haben, »dass der Verlauf der Umwälzung eher harmlos als gewalttätig sein werde«.150 Jedenfalls hat er auf vermeintliche wie tatsächliche Bedrohungen erstaunlich gelassen reagiert. Laut seinen eigenen nachträglichen Angaben hatte die Revolutionsregierung beschlossen, Haller verhaften und erschießen zu lassen, den Beschluss aber nicht ausgeführt.151 Hallers Tochter Adelheid hat sich nach dem Tod ihres Vaters daran erinnert, dass dieser im November 1918 einen anonymen Warnanruf erhalten habe, er solle erschossen werden und müsse daher sofort fliehen – Haller habe das nicht ernst genommen.152 Aus den zeitgenössischen Quellen verifizierbar ist daran nur, dass die Revolutionsregierung Haller durchaus im Fokus hatte. Am 16. Dezember 1918 erhielt er ein Schreiben des Tübinger Garnisonsoldatenrat-Ausschusses, in dem ihm, dem »Agitator der Alldeutschen«, reaktionäre Parteinahme sowie die Verhinderung einer geplanten Vortragsveranstaltung über Frauenwahlrecht vorgeworfen wurde.153 Haller bestritt die Vorwürfe und wies darauf hin, dass er niemals Parteigänger der »Alldeutschen« gewesen sei; die Sache ist anschließend offenbar im Sande ver-

148 Kotowski, Die öffentliche Universität, S. 79, zitiert nur den ersten Satz von Hallers Ablehnung, in dem es heißt, dass die mit dem Aufruf adressierte Regierung »keinenfalls unsere Regierung sein könnte« und erweckt so den Eindruck, Haller habe hier der gegen­wärtigen Regierung grundsätzlich die Anerkennung versagt. Damit ist die Aussage Hallers geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. 149 Kotowski, Die öffentliche Universität, S.  79. Zur Deutung des deutschen Zwischen­ kriegs­konservatismus als »Politisierung des Unpolitischen« vgl. Bussche, Konservatismus in der Weimarer Republik. Bussche versucht diese Deutung in erster Linie gegen die von Mohler vorgeschlagene Phänomenbezeichnung »Konservative Revolution« durchzusetzen, wobei er nicht einen Vorschlag zur alternativen Benennung desselben Phänomens macht, sondern die Existenz des Phänomens »Konservative Revolution« bestreitet (bes. S. 5–15). 150 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 171 bzw. unten S. 428. 151 Vgl. ebd., S. 170 f. bzw. unten S. 428. 152 »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«, Abschnitt »Ein Subjekt«: UAT 305/58. 153 Garnisonsoldatenrat-Ausschuss Tübingen an Johannes Haller, 16. Dezember 1918: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 135 b/Bü 1164.

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laufen.154 Noch im März 1919 allerdings rechnete Haller damit, dass die Revolutionsregierung ihm seinen Lehrstuhl nehmen und ihn vielleicht doch noch als Geisel verhaften werde.155 Man wird nicht umhin kommen, die zurückhaltende, ja für Hallers Verhältnisse moderate Haltung in Rechnung zu stellen, wenn man erklären will, wieso Haller so weitgehend unbehelligt durch den Umbruch 1918/1919 hindurchgekommen ist, während es anderen »Reaktionären« zum Teil sehr viel schlechter erging.156 Es mag aber auch eine Rolle gespielt haben, dass Tübingen in der Provinz und am Rande des politischen Geschehens lag, wo man sich anscheinend mehr erlauben konnte als etwa in Berlin. Die Rede nämlich, die Haller am 16. Februar 1919 bei der Begrüßungsfeier der aus dem Krieg heimgekehrten Tübinger Studenten hielt und mit der er sich zugleich gewissermaßen als Universitätsrektor verabschiedete, war doch in politischer Hinsicht relativ deutlich. Hier nämlich stellte er öffentlich – die Rede lag sehr bald auch gedruckt vor  – eine politische Weiche für die kommenden Jahrzehnte der Weimarer­ Republik und ging für alle sichtbar einen Schritt nach rechts. Die Tragweite dieses Schritts scheint Haller bewusst gewesen zu sein, der in der Rede selbst und auch noch andernorts mehrfach erklärte, diese Ansprache zu halten sei eine der schwersten Aufgaben seines Lebens.157

154 Johannes Haller an den Garnisonsoldatenrat-Ausschuss Tübingen, 16.  Dezember 1918: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 135 b/Bü 1164 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 170. 155 Vgl. Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 30. März 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 174. 156 An der Berliner Universität etwa ernannte sich am 9.  November 1918 ein »Studentenrat« zum leitenden Gremium der Universität, setzte den Rektor Reinhold Seeberg ab und sperrte ihn ein. Am 12.  November war der Studentenrat allerdings wieder entmachtet (vgl. dazu Grüttner, Die Berliner Universität, S.  7–10). Nach der Etablierung der Weimarer Republik wiederum war der Umgang mit republikfeindlichen Professoren in Berlin von einer »Politik der Toleranz« geprägt; kein einziger antirepublikanischer Professor ­verlor sein Amt (Grüttner, Die Berliner Universität, S.  155). Dass die Emeritierungen mittlerweile aber nicht mehr auf Antrag des Professors, sondern automatisch mit dem Erreichen der Altersgrenze erfolgten, wurde von einigen republikfeindlichen Professoren wie etwa Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff als politisch motivierte »Zwangsmaßnahme« empfunden (vgl. dazu Nippel, Alte Geschichte, S.  331, Anm.  42). Ein weiterer Fall, an dem die relative Ungestörtheit Hallers deutlich wird, ist der des Freiburger Historikers Georg von Below, der mit seiner Emeritierung 1924 nicht einverstanden war und einen Rechtsstreit mit dem Staat Baden wegen seiner Bezüge führte, den er verlor  – was er wiederum auf politische Motive zurückführte. Vgl. dazu Cymorek, Georg von Below, S. 66 f. 157 Vgl. Haller, Von Tod und Auferstehung, S. 328. Vgl. dazu außerdem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16.  Februar 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr.  171: »Ich stand bis heute Mittag unter dem Druck der schwersten Aufgabe, die mir in dieser Art jemals zuteil wurde, nämlich den heim­ gekehrten Kriegsteilnehmern eine öffentliche Begrüßungsrede zu halten. Nun liegt dieser

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Besondere Beachtung fand Hallers Einleitung, in der er seine Sicht der politischen Lage darstellte.158 Deutschland habe mit dem Krieg auch seine Ehre und die Achtung der anderen europäischen Nationen verloren, und vor allem sei noch lange nicht ausgemacht, dass bereits das Schlimmste ausgestanden sei: Sachlich völlig zutreffend wies Haller darauf hin, dass der Krieg noch nicht beendet sei und faktisch jederzeit wieder aufgenommen werden könnte.159 Die Ereignisse um den 9. November 1918 bezeichnete er mit dem so assoziations- wie folgenreichen Begriff des »Dolchstoßes«: »Denn wir wissen es wohl: die draußen vor dem Feinde standen und dem Tod ins Auge sahen, haben ihre Pflicht getan. Nicht sie trifft die Schuld, wenn das Ende dennoch schmerzlich und schimpflich zugleich wurde und das Heer, das vier Jahre lang die Bewunderung der Freunde und der Schrecken der Feinde gewesen, zuletzt sich verwandelte in eine wehrlose Schar und  – Schlimmeres. Die Kämpfer haben keine Schuld daran. Sie hatten standgehalten gegen dutzendfache Übermacht und auch den vielfach überlegenen Feind zu schlagen gewußt, bis die politische Gasvergiftung, von der Heimat ausgehend, die Front erreichte und Herzen und Glieder lähmte. Und selbst dann noch wäre das Schlimmste uns erspart geblieben, hätte nicht im gefährlichsten Augenblick wiederum die Heimat den Kämpfern den Dolch in den Rücken gestoßen. Nur so konnte der stolze Baum gefällt, nur so das deutsche Heer überwunden werden, wie Siegfried von Hagen erschlagen ward. Das Volk der Heimat ist es gewesen, das den Krieg verloren, sich selbst mit Schande bedeckt und schließlich das Heer mit sich in den Abgrund gerissen hat.«160

Diese Position Hallers als – in der Sache widerlegte – »Dolchstoßlegende« abzutun, wäre voreilig, weil es sämtliche inhaltlichen Differenzierungen der teils sehr verschiedenen Dolchstoßthesen außer Acht ließe. Deren platteste Form – das »im Felde unbesiegte« Heer hätte den Krieg gewonnen, wenn ihm die Heimat nicht durch Meuterei und Revolution in den Rücken gefallen wäre  – ist

Berg hinter mir, und ich fühle mich wie von einer Zentnerlast befreit und fast wie ein Schuljung am ersten Ferientag  – bis die Nackenschläge in der Presse und vielleicht noch andere kommen, die ich wegen meiner höchst ›reaktionären‹ Worte allerdings verdienen dürfte.« Vgl. auch Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S.  170 bzw. unten S.  428: »Es war die schwerste Aufgabe dieser Art, die mir im Leben gestellt worden ist«. 158 Vgl. beispielsweise die begeisterte Reaktion des Historikers Arnold Oskar Meyer: Arnold Oskar Meyer an Johannes Haller, 10. Mai 1919: BArch N 1035/22. 159 Haller, Von Tod und Auferstehung, S. 330. Das Urteil von Kotowski, Die öffentliche Universität, S. 75, Hallers Behauptung, der Krieg sei noch nicht zu Ende, laufe »auf Realitätsverweigerung hinaus«, ist nicht nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass es zwar einen Waffenstillstand und anlaufende Friedensverhandlungen gab, aber noch längst keinen formalen Friedensschluss, ja dass die Friedensverhandlungen von der permanenten Drohung der Alliierten begleitet waren, man werde den Krieg wieder aufnehmen. Vgl. dazu Fenske, Der Anfang vom Ende, S. 87–106. 160 Haller, Von Tod und Auferstehung, S. 331.

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natürlich historisch unhaltbar.161 Die umgekehrte Auffassung, dass die innenpolitische Krise auf das Kriegsende gar keinen Einfluss gehabt habe, ist aber nicht weniger unhistorisch.162 Hallers Auffassung, die »politische Gasvergiftung« habe auch die Stimmung im Heer geschwächt, und ohne die Revolution in der Heimat wäre ein etwas weniger verheerende Niederlage denkbar gewesen, ist, ihres normativen Gehaltes entkleidet, durchaus diskutabel. Zumindest gehörte Haller damit nicht zu den Vertretern der »radikalen«, sondern einer »gemäßigten« Dolchstoßthese.163 Seine wohl abschließende Auffassung in dieser Frage hat Haller in der 1934 erschienenen Neuauflage seiner »Epochen der deutschen Geschichte« niedergeschrieben; er bestritt darin das Faktum der­ militärischen Niederlage nicht, beharrte aber auch auf der wesentlichen Bedeutung der innenpolitischen Zerrüttungen: »Von Beginn des Krieges an hatte dem Reich der Aufstand der irregeführten und mißbrauchten Volksmassen gedroht. Solange das Heer zu siegen schien, trat diese Gefahr in den Hintergrund; als die Hoffnung auf Sieg im Felde zu schwinden begann, wagte der Verrat sich hervor: die äußere Niederlage sollte dem Umsturz im Innern die Bahn öffnen. […] Als nach vorübergehendem Aufflackern des Siegesfeuers seit dem Hochsommer 1918 der Mißerfolg im Felde nicht mehr zu verschleiern war, als schließlich die militärische Führung selbst eingestehen mußte, daß sie den Krieg verloren gab, da kam im ganzen Reich die längst vorbereitete Revolution zum Ausbruch. […] am 12. November trat der Waffenstillstand in Kraft, dem das geschlagene Heer sich hatte unterwerfen müssen, weil eine Fortsetzung des Kampfes mit der Revolution im Rücken unmöglich war.«164

Im weiteren Fortgang seiner Rektoratsrede von 1919 analysierte Haller die gegenwärtige Lage Deutschlands im Allgemeinen und des akademisch gebildeten Bürgertums im Besonderen. Er nutzte dabei seine These vom »Dolchstoß« nicht für Verschwörungstheorien165, sondern suchte subjektiv ehrlich nach den eigenen Verfehlungen der Deutschen, welche die Katastrophe hatten herbeiführen können. Diese machte er wie viele seiner Zeitgenossen in einer »materialistischen« Generaleinstellung der wilhelminischen Epoche aus, die zwar in Bezug auf Wirtschaft und äußere Kultur floriert habe, die geistig aber von »Epigonen« 161 Vgl. dazu die Zusammenstellung unmittelbar nach Kriegsende vertretener Positionen, darunter auch – allerdings relativ undifferenziert – diejenige Hallers, in: Barth, Dolchstoßlegenden, S. 450–463. 162 Vgl. dazu die Analyse der zeitgenössischen Diskussion in: Heinemann, Die verdrängte Niederlage, S. 177–191, bes. S. 185 f., wo darauf hingewiesen wird, dass auch Gegner der Dolchstoßthese die »vernichtende Wirkung« (S. 186) der Revolution anerkannten. 163 Vgl. dazu auch Thiessenhusen, Politische Kommentare, S.  25–30, die zwischen einer »rechtsextremen« und einer »rechten« Version der Dolchstoßthese unterscheidet, wobei Haller der letzteren zuzuordnen sei. Vgl. zu diesem Zusammenhang außerdem Sammet, »Dolchstoss«. 164 Haller, Epochen 1934, S. 391. 165 Vgl. dazu Barth, Dolchstoßlegenden, S. 5–7.

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beherrscht worden sei, so dass der »deutsche Geist […] schlafen gegangen« sei.166 Die Kriegsniederlage sei gewissermaßen nur die materielle Seite eines eigentlich geistigen Vorgangs, an dessen Ende nun der »Tod« der deutschen Nation stehe. Die Geschichte lehre allerdings, dass prinzipiell auch eine »Auferstehung« möglich sei, und das Mittel dazu sei eine Erneuerung des »deutschen Geistes«.167 Den Gebildeten falle hierbei naturgemäß die Hauptaufgabe zu, da sie durch Bildungs- und Erziehungsarbeit eine starke Jugend heranziehen und damit dem Ausland Respekt abnötigen müssten.168 Haller spielte die so skizzierte nationale Erziehungsaufgabe der Universi­ täten keineswegs unmittelbar konfrontativ gegen die in Entstehung begriffene Republik aus. Er erklärte zwar, man dürfe die von ihm geforderte »Erneuerung« nicht mit der gegenwärtig vielfach zu beobachtenden Tendenz zur »Neuerung« verwechseln. Zugleich aber warnte er davor, sich den bevorstehenden Veränderungen gänzlich zu verschließen: »Wir wollen uns gegen wirkliche Verbesserungen nicht sträuben und jede Änderung als einen Fortschritt begrüßen, sofern wir dadurch fähiger werden, unsere hohe Aufgabe zu erfüllen: mitzuarbeiten an der Erziehung der Nation, daß aus einem­ träumenden, tändelnden, schwatzenden und geldverdienenden Volke wieder ein ernstes, denkendes und strebendes werde, das bereit ist, wenn einmal wieder seine Stunde schlägt, sich zu erheben, die Schande von 1918 abzuwaschen und sein Recht und seinen Rang unter den Völkern der Erde als freies, starkes und ebenbürtiges Volk zurückzufordern.«169

In diesem Zusammenhang – und hier redete Haller natürlich ganz pro domo – komme der historischen Bildung die höchste Bedeutung zu. Das in Ehren Halten der Vergangenheit sei nämlich der wahre Patriotismus, und nur im Rückgriff auf die Vergangenheit gewinne man überhaupt feste Orientierungsmaßstäbe. Insofern gelte es, wenn schon nicht unmittelbar politisch, so doch wenigstens ideell möglichst vieles aus der nun untergegangenen »guten alten Zeit« herüberzuretten und als Glanzzeit der deutschen Geschichte in Erinnerung zu behalten.170 Haller bezog sich hier nicht auf den von ihm selbst ja 166 Haller, Von Tod und Auferstehung, S. 336. Zur enormen Verbreitung der Materialismusdiagnose im Hinblick auf das wilhelminische Deutschland bei denjenigen Kommen­ tatoren der Zwischenkriegszeit, die das wilhelminische Reich selbst miterlebt hatten, vgl. Knorring, Die Wilhelminische Zeit, S. 153–159. 167 Vgl. Haller, Von Tod und Auferstehung, S.  333–335. Die Rhetorik vom »Tod« und von der »Auferstehung« der deutschen Nation verwendete Haller bereits vor Kriegsende, im Oktober 1918 (Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 4. Oktober 1918: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, N. 1572, S. 2247): »Wir gehen den Weg nach Golgatha. Möge ein gnädiger Gott verhüten, daß wir am Ende als­ Nation wirklich gekreuzigt und begraben werden, ohne Hoffnung auf Auferstehung.« 168 Vgl. Haller, Von Tod und Auferstehung, S. 337 f. 169 Ebd., S. 339. 170 Ebd., S. 340 f. Wenn Kotowski, Noch ist der Krieg gar nicht zu Ende, S. 433 f., Haller unterstellt, in seiner Rede das Kaiserreich als Paradies bezeichnet und eine Rückkehr zu ihm

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so scharf kritisierten Wilhelminismus, sondern auf das Kaiserreich unter Bismarck und Wilhelm I. Außerdem prophezeite er, mit genügendem zeitlichen Abstand werde man auch den Ersten Weltkrieg zu den Sternstunden der deutschen Geschichte zählen: »Daß Deutschland imstande war, vier Jahre lang an der Seite schwacher, hilfsbedürftiger Bundesgenossen der ganzen Welt standzuhalten, kleinere Gegner in den Staub zu strecken und die größte Festlandsmacht vollständig zu zertrümmern – das schon wird späteren Geschlechtern als ein Wunder der Größe und Kraft erscheinen, dem nichts in allen Jahrhunderten zu vergleichen ist.«171

Haller schloss seine Rede – die er übrigens von der Kanzel der Tübinger Stiftskirche aus hielt – mit einem Appell an die versammelten Universitätsangehö­ rigen, an der gemeinsamen Aufgabe der »Auferstehung der deutschen Nation« mitzuarbeiten.172 Überhaupt war die ganze Rede kaum nostalgisch oder gar resignierend, sondern eben appellativ und auf die Zukunft gerichtet.173 Mit seinem Schlussappell umriss Haller zudem exakt das, was er sich selbst in den ihm noch bleibenden Berufsjahren zur Hauptaufgabe machte: politisch-historischer Lehrer der deutschen Nation zu werden. Haller war damit noch nicht ganz am Ende seiner politischen Entwicklung angelangt, aber den entscheidenden Schritt hatte er nun vollzogen, nämlich den vom Liberalen aristokratischer bzw. nationalsozialer Prägung, der er vor 1914 im Großen und Ganzen war, hin zum deutschnationalen Konservativen. Er mag das selbst nicht als große Veränderung registriert haben, konnte er doch an den meisten seiner bisherigen Anschauungen nach wie vor festhalten. Aber wegen der schon in der letzten Kriegsphase eingeleiteten tiefgreifenden Wandlung der politischen Rahmenbedingungen bedeutete eben auch das Festhalten an überkommenen politischen Überzeugungen eine faktische Veränderung, die ganz konkrete Folgen hatte. Die wichtigste davon war, dass Haller nun politisch in die »Systemopposition« ging  – wobei ihm dieser Schritt dadurch erleichtert wurde, dass er ihn gemeinsam mit einem großen Teil der bürgerlichen Bildungselite vollzog. Man kann Hallers politischen Werdegang daher in gewisser Weise als typisch für seine Generation und seinen Stand betrachten und so im Nachvollzug der Hallerschen Biographie die Gründe nachzeichnen, die seiner Generation

gefordert zu haben, dann unterschlägt er damit sowohl die indirekte Rede, mit der Haller die entsprechende Auffassung sich eben nicht unmittelbar zu eigen macht, als auch den ausdrücklich relativen Charakter der Bezeichnung des Kaiserreiches als des »verlorene[n] Paradies[es]« (Haller, Von Tod und Auferstehung, S. 340) nur im Vergleich zur gegenwärtigen Lage. 171 Haller, Von Tod und Auferstehung, S. 341. 172 Ebd., S. 342 f. 173 Mit dieser Haltung war Haller geradezu typisch für die rechte Professorenschaft in der Anfangsphase der Weimarer Republik. Vgl. dazu Töpner, Gelehrte Politiker, S. 205 f.

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den Weg in die Weimarer Demokratie versperrten. Die Entwicklung Friedrich Meineckes, Adolf Harnacks und anderer, die von einer ganz ähnlichen politischen Position wie Haller aus nach 1918 »liberal« wurden und sich als »Vernunftrepublikaner« mit der Weimarer Republik arrangierten, ist demgegenüber nicht nur die seltenere gewesen, sondern auch die jenseits von privater Zweckrationalität weniger plausible.174 Vor allem das zwischen 1914 und 1918 Erlebte legte doch eher nahe, die Weimarer Republik als ein Deutschland von außen aufgezwungenes »System der Sieger«175 zu verstehen, wie Haller und mit ihm so viele andere, die vom »Augusterlebnis« geprägt und von der Niederlage und noch mehr von den Friedensverhandlungen schockiert waren, es taten. Aus deren Perspektive wurde dieses System noch dazu von denjenigen getragen, die in der Endphase des Krieges die nationale Solidarität aufgekündigt hatten.176 Durch den weiteren Verlauf nach 1918 fühlte sich diese Generation je länger, desto mehr in der Auffassung bestätigt, dass die parlamentarische Demokratie die massiven Probleme Deutschlands nicht nur nicht löste, sondern sogar verschärfte. Vor diesem Hintergrund konnte man dann auch das Kaiserreich, das man vor 1914 durchaus auch kritisiert hatte, in einem etwas günstigeren Licht sehen, ohne aber ernsthaft zur Monarchie zurückkehren zu wollen. Diese Auffassungen teilte Haller mit einem zu den Deutschnationalen tendierenden Bürgertum wie auch mit den Protagonisten der »Konservativen Revolution«177. Zu Beginn der 1930er Jahre glaubten einige aus diesen Reihen, der Nationalsozialismus biete so etwas wie einen »dritten Weg«, der die Schwächen des »Parteienstaates« beseitige, ohne in die Schwächen des Kaiserreichs 174 Wirsching, Vernunftrepublikanismus, S.  18–20, macht in den 1860–1885 Geborenen zwar eine »vernunftrepublikanische Generation« aus, meint damit aber lediglich, dass innerhalb der Vernunftrepublikaner diese Generation überproportional stark vertreten war, nicht etwa, dass eine Mehrheit dieser Generation vernunftrepublikanisch ge­wesen sei. Vgl. dazu auch Möller, Friedrich Meinecke, S. 260: »Das Erstaunliche für große Teile der deutschen Bevölkerung war also nicht, dass es 1919 noch Monarchisten gab, sondern dass es Republikaner gab. Die häufige Umkehrung dieses Befundes durch spätere Historiker und Publizisten belegt lediglich ein anachronistisches, ein ahistorisches Urteil, das von unseren heutigen politischen Selbstverständlichkeiten ausgeht, nicht aber von den damaligen: Wer im Kaiserreich sozialisiert war, war normalerweise Monarchist […].« Die Gegensätze zwischen denen, die später für und denen, die gegen die Weimarer Republik votierten, waren bereits während des Krieges anhand der Kriegszieldiskussion hervorgetreten: Die »Gemäßigten« wurden in der Regel nach 1918 »Vernunftrepublikaner«, während die »Annexionisten« nach 1918 normalerweise Deutschnational-Oppositionelle wurden; vgl. dazu Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, S. 179–184. 175 Vgl. dazu Möller, Friedrich Meinecke, S. 260. 176 Schon 1916 hatte Haller nicht nur ein Selbstverständnis als eines politisch »Rechten«, sondern dazu auch als eines von der Regierung immer argwöhnischer beäugten Op­ positionellen entwickelt: vgl. dazu Johannes Haller an Hermann Losch, 28. August 1916: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 148. 177 Ausführlich dazu: Kapitel VIII.1.

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zurückzufallen. Auch Haller hat dies kurzfristig geglaubt, und auch hierin ist er für seine Generation typisch gewesen, ist dann aber zu einer anderen Auffassung gelangt und hat die politische Entwicklung ab 1933 eher skeptisch und aus der Ferne, aber auch nicht ohne Anerkennung vor allem für die anfänglichen außenpolitischen Erfolge Hitlers, betrachtet.178 Der Ausgangspunkt dieser politischen Entwicklung bei Haller ist aber weder in seiner deutschbaltischen Herkunft noch seiner sozialen Stellung oder gar seiner Bismarckbegeisterung zu suchen, sondern in den Erfahrungen 1914–1918/19.

178 Vgl. dazu die Kapitel VIII.1., VIII.2. und VIII.4.

VII. Berühmter Außenseiter (1918–1932) 1. Politische Bilanz Die ersten Jahre der Weimarer Republik verbrachte Haller mit zeithistorischer Forschung; als erste Monographien nach 1918 erschienen in rascher Folge 1922, 1923 und 1924 Bücher über die »Ära Bülow« sowie über Philipp zu EulenburgHertefeld.1 Schon während des Krieges war Haller mit dieser Thematik an die Öffentlichkeit getreten, als er 1917 in den »Süddeutschen Monats­heften« eine ausführliche Rezension von Bernhard von Bülows »Deutscher Politik« publizierte, die eine Art Generalabrechnung mit dem ehemaligen Reichskanzler war.2 Im Wesentlichen warf Haller Bülow eine schönfärberische und seit 1914 erwiesenermaßen realitätsferne Beurteilung der deutschen Außenpolitik vor, mit der dieser die Tatsache zu verdecken versuche, dass »zwischen der Weltpolitik der Ära Bülow und dem Weltkrieg von 1914 […] der engste Zusammenhang von Ursache und Wirkung« bestehe.3 Haller benannte damit bereits 1917 einen deutschen Anteil an der Verantwortung für den Kriegsausbruch: »Der Weltkrieg ist die Frucht der Einkreisungspolitik, und die Einkreisung ist die Antwort auf die Weltpolitik des Fürsten Bülow.«4 Insbesondere die Abweisung der englischen Annäherungsversuche um die Jahrhundertwende sei ein verhängnisvoller Fehler gewesen, zumal man bei englischer Unterstützung freie Hand gegen Russland gehabt hätte. Stattdessen aber habe man in der Illusion, damit das Erbe Bismarcks fortzuführen, eine halbherzige und aussichtslose Wiederannäherung an Russland gesucht, die Deutschland nichts eingetragen habe.5 Hans Delbrück kritisierte Hallers Aufsatz in den »Preußischen Jahrbüchern« und verteidigte die deutsche Außenpolitik der Zeit vor 1914 als den berechtigten Versuch, sich einen Platz im europäischen Konzert der Mächte zu sichern. Der Krieg, so Delbrück, sei nicht durch Deutschlands Schuld, sondern durch die Weigerung der anderen Großmächte entstanden, Deutschland einen solchen Platz zuzugestehen.6 Haller verzichtete auf eine öffentliche Entgegnung, be­k räftigte aber brieflich gegenüber Delbrück, dass er prinzipiell anderer Auffassung sei und dass Bülow wie die deutsche Außenpolitik nicht von einer Mitschuld am Kriegsausbruch freigesprochen werden dürften: 1 Haller, Die Ära Bülow; Haller, Aus dem Leben; Haller, Aus 50 Jahren. 1923 erschien außerdem, auf Vorlesungen basierend: Haller, Epochen 1923; vgl. dazu Kapitel VII.2. 2 Bülow, Deutsche Politik; Haller, Die auswärtige Politik des Fürsten Bülow. 3 Ebd., S. 405. 4 Ebd., S. 408. 5 Vgl. ebd., S. 408–415. 6 Vgl. Delbrück, Professor Haller, bes. S. 512 f.

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»Es ist keineswegs meine Absicht, zu zeigen, daß unsere Politik 1914 zusammengebrochen sei. Ich weiß viel zu gut, daß das garnicht der Fall ist. Ich wollte beweisen, daß Fürst Bülow der eigentlich Schuldige am Ausbruch des Weltkrieges ist, wofür ihn ja auch alle Wissenden halten, während er bei den Blinden immer noch Verehrer hat.«7

Auf eine öffentliche Zuspitzung dieser Frage in Gesalt einer expliziten Auseinandersetzung mit Delbrück hat Haller auch in der 1922 erschienenen »Ära Bülow« verzichtet.8 Insgesamt handelte es sich bei dem Buch aber um eine ausführlichere Version des Aufsatzes von 1917, die alle wesentlichen Argumente noch einmal bekräftigte. Das gilt insbesondere für Hallers Auffassung, Bülow habe es zu verantworten, dass Deutschland in Gegensatz zu England geraten sei. Hinzu kam nun noch der Vorwurf an Bülow, das Ansehen des Kaisers systematisch beschädigt zu haben.9 Auch die Fragestellung des Aufsatzes von 1917 wurde im Wesentlichen beibehalten, indem nach dem deutschen Teil der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gefragt wurde, nur dass vor dem Hintergrund der Kriegsniederlage – und der vertraglich fixierten deutschen Kriegsschuld10 – diese Frage noch einmal an Dringlichkeit gewonnen hatte. Eine »Schuld« in diesem Sinne lehnte Haller selbstverständlich ab, aber er beharrte doch darauf, dass auch das Verhalten des Deutschen Reiches vor 1914 mit zum Krieg beigetragen habe. Bemerkenswerter Weise attestierte Haller trotz allen Vorwürfen gegen Bülow auch dem deutschen Volk selbst eine Mitschuld, da die Nation die offizielle Politik nicht nur geduldet, sondern zum Teil sogar unterstützt habe.11 Hallers Abneigung gegen Bülow, die schon für 1902 belegt ist, scheint auch den Ausschlag für Philipp zu Eulenburg-Hertefeld gegeben zu haben, 1917 für ein vertrauliches Projekt Haller auszuwählen.12 Seit Sommer 1915 kannte Haller 7 Johannes Haller an Hans Delbrück, 9. März 1917: Staatsbibliothek zu Berlin, NL Delbrück, 94 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  149. Auch Hermann Oncken widersprach Hallers Auffassungen: Oncken, Das alte und das neue Mitteleuropa, S. 73. Vgl. dazu auch Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 26. August 1918: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 166. 8 Hermann Oncken dagegen wurde ausdrücklich erwähnt und scharf kritisiert: Haller, Die Ära Bülow, S. 100 f. 9 Vgl. vor allem ebd., S. 131–142. 10 Artikel 231 des Versailler Vertrages legte fest: »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Ur­ heber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.« (zit. nach Möller, Weimar, S. 246.) Zur Diskussion um den Versailler Vertrag vgl. Lorenz, Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. 11 Vgl. Haller, Die Ära Bülow, S. 152. 12 Johannes Haller an Anton Haller, 29./16.  Juli 1902: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 85: »Und Bülow ist der schlimmste von allen, ein Pfuscher und Nichtskönner erster Ordnung.« Philipp zu Eulenburg-Hertefeld an Conrad Haußmann, 10. Februar 1917: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1562, S. 2229: »Haben Sie übrigens den Aufsatz von Prof. Haller in dem Januarheft ›Äußere Politik‹ gelesen? Kritik

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den ehemaligen Vertrauten Kaiser Wilhelms II., der sich nach einem 1906–1909 medial und gerichtlich ausgetragenen Skandal um seine Homosexualität zurückgezogen hatte; der Kontakt war über Hallers Freund Jakob von Uexküll zustandegekommen.13 Eulenburg setzte nach der Lektüre des Haller-Aufsatzes im Februar 1917 für diesen einen Kommentar auf, in dem er Haller in der Beurteilung der deutschen Außenpolitik unter Bülow recht gab, einen großen Teil der Verantwortung aber nicht dem Reichskanzler, sondern dem Kaiser selbst zuwies.14 Als Haller Eulenburg im Sommer 1917 in Liebenberg besuchte, bat dieser ihn, eine Abschrift von Eulenburgs politischer Privatkorrespondenz mitzunehmen und an einem sicheren Ort aufzubewahren. Haller sagte zu und deponierte das Exemplar in der Tübinger Universitätsbibliothek.15 Damit begann eine intensive, nicht nur brieflich geführte Freundschaft zwischen Haller und Eulenburg, die bis zum Tod Eulenburgs am 17. September 1921 andauerte und die im September 1918 zu dem Entschluss führte, Haller die Korrespondenz Eulenburgs nach dessen Tod veröffentlichen zu lassen.16 Mit den zwei Monographien, die auf Basis dieses Materials entstanden, unternahm Haller den Versuch einer umfassenden Rehabilitierung Eulenburgs, die nicht nur die aus Hallers Sicht ungerechtfertigten Vorwürfe im Rahmen des Skandalprozesses selbst, sondern vor allem auch die verbreitete Auffassung betrafen, Eulenburg habe einen ungünstigen politischen Einfluss auf den Kaiser ausgeübt. Den Charakter eines Rehabilitierungsversuchs hatten schon die von Haller 1923 herausgegebenen Dokumente aus Eulenburgs Nachlass, die Haller als »Denkwürdigkeiten«17 bezeichnete. Der Fokus war aber doch vornehmlich auf die Präsentation historisch wertvollen Materials gelegt: Die Aufzeichnungen gingen kaum über das Jahr 1890 hinaus, Hallers Kommentierung beschränkte sich auf Sach­ erläuterungen, und im Vorwort kündigte er bereits eine weitere Monographie an, die zusätzliche Dokumente sowie ein Lebensbild Eulenburgs enthalten werde.18

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der äußeren Politik Bülows. Ich habe tatsächlich nichts besseres, besser zusammen­gefaßtes, gelesen als diesen Aufsatz. Denn da ich diese Politik miterlebte, vermag ich ihre Schwächen wohl richtig abzuwägen.« Vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 18 bzw. unten S. 316: »Den Fürsten habe ich erst im Sommer 1915 kennen gelernt. Eine kleine Schrift von mir über die Entstehung des Weltkrieges hatte ihm so gefallen, daß er mir durch Uexküll sagen ließ, er würde darüber gern mit mir sprechen.« Vgl. dagegen Uexküll, Jakob von Uexküll, S. 98, die behauptet, der Kontakt sei schon im Februar 1914 zustandegekommen; vgl. dazu auch: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, S. 2229. Zum Eulenburg-Skandal vgl. Domeier, Der Eulenburg-Skandal, sowie Winzen, Das Ende der Kaiserherrlichkeit. Aufzeichnung Eulenburgs, Februar 1917: Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1563, S. 2230–2232. Vgl. Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 25. August 1917: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr.  1564, S.  2233; vgl. Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, S. 63. Vgl. ebd., S. 63 f. Haller, Aus 50 Jahren, S. VII. Vgl. ebd., S. IX.

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Diese weitere Monographie erschien bereits im folgenden Jahr, 1924, und war erst recht wie eine Verteidigungsschrift aufgebaut, die schon mit ihrem ersten Satz das Ziel der »Rechtfertigung« Eulenburgs bekannte.19 Es handelte sich auch hierbei mehr oder weniger um eine Briefedition, die aber diesmal von Haller sehr ausführlich kommentiert wurde. Im chronologischen Durchgang durch die Lebensstationen Eulenburgs verteidigte Haller den Fürsten gegen alle wesentlichen Vorwürfe: Ein »Günstling« des Kaisers sei Eulenburg schon deshalb nicht gewesen, weil seine Karriere alles andere als glänzend verlaufen sei; ein »Schmeichler« ebenso wenig, da Eulenburg als einer der wenigen überhaupt versucht habe, dem Kaiser auch einmal die »Wahrheit« zu sagen.20 Der Einfluss Eulenburgs auf Wilhelm II., so Hallers Schlussfolgerung, sei nicht zu stark, sondern im Gegenteil zu schwach gewesen und habe sich nicht gegen die tatsächlich unguten Einflüsterungen vonseiten der militärischen Führung behaupten können.21 Von diesen Kreisen und den Eulenburg-Feinden im Auswärtigen Amt sei dann schließlich auch der Eulenburg-Skandal losgetreten worden, der dem empörten Haller ein Zeichen für »perverse« Tendenzen nicht in der kaiserlichen Umgebung, sondern eher in der politisch-medialen Öffentlichkeit war: »Wo es möglich war, einen angesehenen Würdenträger der Monarchie, den persönlichen Freund des Herrschers dadurch zugrunde zu richten, daß man ihn durch einen der gewissenlosesten Volksvergifter aller Zeiten in seinem Privatleben angreifen ließ, indem man, ohne ihm übrigens etwas Strafbares nachsagen zu können, angebliche Verirrungen ans Licht zu ziehen suchte, die schon über zwanzig Jahre zurückliegen sollten; wo die Öffentlichkeit unreif genug war, auf solche Stimmen überhaupt zu achten, da ist es unerläßlich, auch über diesen Punkt alle Zweifel zu zerstreuen, mag es auch jedem seiner empfindenden Menschen Ekel erregen, an diesen Schmutz zu rühren.«22

Das Schweigen Eulenburgs bis zu seinem Tode deutete Haller als bewusst auf sich genommenes »Märtyrertum« eines durchaus fähigen Diplomaten, dessen Ruf wenigstens vor der Nachwelt wiederhergestellt werden müsse.23 Eulenburg, so schloss Haller, sei »ein Muster preußischer Pflichterfüllung, ein Opfer deutscher Freundestreue, ein wahrhaft edler und guter Mensch« gewesen.24 Auf den ersten Blick überrascht es, dass der »Bismarckianer«25 Haller die zuerst private, dann öffentliche Verteidigung des Kaiserfreundes übernahm, der bei der Entlassung des Reichskanzlers 1890 eine tragende Rolle gespielt hatte und der vielen als wesentlicher Urheber kaiserlicher Phantastereien galt.26 Tatsächlich war auch Haller insbesondere nach der Veröffentlichung der kaiserlichen »Mar19 20 21 22 23 24 25 26

Haller, Aus dem Leben, S. III. Ebd., bes. S. 110–125. Vgl. ebd., S. 244–261. Ebd., S. VI. Vgl. ebd., bes. S. 310–363. Ebd., S. 372. Weiß, Paul Kehr, S. 48, Anm. 59. Vgl. dazu Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, bes. S. 17–19.

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ginalien« irritiert darüber, dass Eulenburg den Kaiser offenbar in vielem eher bestärkt als gehemmt habe.27 Die Fähigkeiten Eulenburgs als Politiker schätzte Haller ohnehin relativ nüchtern ein, was er auch anderen gegenüber betonte.28 Am Ende überwogen aber die Gründe, die für eine Übernahme des Publikationsprojektes sprachen: Zunächst schmeichelte Haller das Interesse und die Aufmerksamkeit adliger bzw. politisch bedeutsamer Persönlichkeiten, was schon um die Jahrhundertwende an seiner Bereitschaft erkennbar geworden war, Ghostwriter der Kaiserin Friedrich zu werden.29 Weiterhin waren sich Eulenburg und Haller sowohl persönlich als auch politisch sehr sympathisch: Haller hatte nicht nur den Eindruck, von Eulenburgs politischer Praxiserfahrung profitieren zu können und wurde durch Eulenburgs Lebensführung nicht nur daran erinnert, dass er selbst eigentlich dem Adel angehören wollte und sich in der deutschen Gelehrtenwelt doch letztlich als ein Fremdkörper empfand, sondern er fühlte sich auch dem dilettierenden Künstler Eulenburg nahe, da er sich ja selbst als verhinderten Musiker betrachtete.30 Offenbar wurde durch das 27 Vgl. ebd., S. 65 f. Zu Hallers Schock angesichts der kaiserlichen Marginalien vgl. auch Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16.  November 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 182. Vgl. außerdem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 11. Januar 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1593, S. 2299–2300. Darin empfiehlt Haller angesichts der Publikation des Briefwechsels zwischen Wilhelm II. und Nikolaus II., aktiv gegen die »fable convenue« vorzugehen, Eulenburg habe »den Kaiser durch Schmeichelei verdorben.« (S. 2300.) 28 Vgl. Johannes Haller an Ludwig Schemann, 2.  Juli 1933: UB Freiburg, NL 12 Ludwig Schemann IV B 1/2 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  258: »Sie schreiben S. 510, ich stelle Eulenburg als Staatsmann ›sehr hoch‹. Ich weiß nicht, welche Stelle meiner Veröffentlichungen dieses Misverständnis veranlaßt haben kann. Mir ist es in Wirklichkeit nicht ganz leicht gewesen, in einer Darstellung, die doch eine Rechtfertigung gegen ungerechte Vorwürfe sein sollte, die guten und wertvollen Eigenschaften, die der Fürst unstreitig auch als Staatsmann besaß, gebührend ins Licht zu setzen, ohne dabei meine persönliche Meinung zu deutlich hervortreten zu lassen, daß ihm nämlich zum bedeutenden und wirksamen Staatsmann das Wichtigste fehlte: die Willenskraft und der Trieb zum öffentlichen Wirken. Es tut mir leid, wenn mir das nicht so gelungen ist, wie ich wünschte, denn das berechtigt doch zu einigem Zweifel an meiner Urteilskraft und damit auch an dem Gewicht dessen, was ich zur Rechtfertigung E.’s sage.« Haller bezog sich auf einen Aufsatz Schemanns über Eulenburg: Schemann, Philipp zu Eulenburg. 29 Vgl. Kapitel IV.5. 30 Vgl. die Kapitel II.2. und II.3. Vgl. dazu auch Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 18 bzw. unten S. 316: »Wir fanden außerhalb der Politik so viel Gemeinsames in unsern Interessen für Geschichte, Literatur und Musik, und ich lernte im Fürsten eine so seltene Vereinigung wertvollster Vorzüge des Geistes kennen, daß sich ein dauernder brieflicher und persönlicher Verkehr zwischen uns entwickelte.« Vgl. außerdem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 25. September 1920: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 188: »Sie werden mich noch lange geleiten und mir heimlich zuflüstern, was ich eigentlich schon lange weiß, aber immer wieder vergesse: daß ich nicht in meiner Welt leben darf. Wirklich, wenn ich mich jetzt wieder von Amtsgeschäften, kollegialem Gerede und dergleichen schönen Dingen umgeben sehe, die nun einmal mein ›Milieu‹ bilden, so faßt mich das Heimweh nach der so ganz anders gearteten Umwelt, die ich eben verließ.«

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Schicksal Eulenburgs und den öffentlichen Umgang mit diesem außerdem das ausgeprägte Gerechtigkeitsempfinden Hallers geweckt.31 Ausschlaggebend aber wird schließlich die Tatsache gewesen sein, dass Haller hier die Aussicht hatte, exklusiven Zugriff auf einen sehr umfangreichen Quellenbestand von hohem historischem Wert zu erhalten.32 Den Inhalt von Eulenburgs politischer Korrespondenz hielt er für so sensationell, dass er im Vorwort seiner EulenburgBiographie vollmundig ankündigte: »Auf den folgenden Blättern wird man die Wahrheit finden. Sie ist das Gegenteil von allem, was man bisher für wahr gehalten hat.«33 Der Briefwechsel Hallers mit Eulenburg gibt wertvolle Aufschlüsse über die politischen und weltanschaulich-religiösen Auffassungen Hallers in der Endphase des Krieges und in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Was den religiösen Aspekt betrifft, so war Eulenburg der erste Briefpartner Hallers neben den engsten Verwandten, dem er seinen »Unglauben« bekannte. Anderen gegenüber sprach er höchstens in Andeutungen, wie der Theologischen Fakultät der Universität Gießen, der er in seinem Dankesbrief anlässlich der Ver­ leihung der theologischen Ehrendoktorwürde im November 1917 schrieb, er befasse sich deshalb so intensiv mit Kirchengeschichte, weil man gerade in Bezug auf das Mittelalter feststellen müsse, »daß nichts auf die Gestaltung des Diesseits stärker wirkt, als die Vorstellung, die sich die Menschen vom Jenseits machen« – und nicht etwa, so könnte man hinzufügen, wegen des eigenen Glaubensbekenntnisses.34 Eulenburg dagegen begegnete er in dieser Hinsicht ganz offen: Im November 1917 bezeichnete Haller sich selbst gegenüber Eulenburg als 31 Vgl. Johannes Haller an Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld, 25.  August 1917: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1564, S. 2233: »Für die reichen Tage, die ich bei Ihnen verleben durfte, ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen und Ihrer Durchlaucht, der Fürstin, herzlichst zu danken. Sie werden es kaum nachfühlen können, was es für mich bedeutet, wenn Sie mich Blicke tun lassen in eine Welt, von der ich von Amts wegen zu reden habe, ohne sie selbst zu kennen, Aber höher noch stelle ich die Freude, einen Mann kennen zu dürfen, der wie Sie, Durchlaucht, dem Schicksal getrotzt und es überwunden hat, ohne innerlich die Spuren des Kampfes zu tragen, die einem Geringeren nicht erspart geblieben wären: Bitterkeit und Menschenverachtung. Wer selbst keinen Rosen­weg zu gehen hatte, kann sich angesichts so überlegener Größe des Duldens wohl beschämt, aber auch gestärkt fühlen. Dafür vor allem wollte ich meinem wärmsten Dank Ausdruck geben.« Vgl. außerdem Haller, Aus dem Leben, S. III: »Dieses Buch will eine Rechtfertigung sein, die Rechtfertigung eines Verstorbenen, dem im Leben das bittere Unrecht geschah, ungehört verdammt zu werden für Dinge, die er nicht verbrochen hatte.« In diesen Zusammenhang ist auch die Bemerkung von Hallers Tochter Adelheid einzuordnen, ihr Vater habe ein Jahr lang fast ununterbrochen an seinem Eulenburg-Buch gearbeitet und sei in dieser Zeit weder äußerlich noch innerlich zur Ruhe gekommen: vgl. das Manuskript »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«: UAT 305/58, Abschnitt »Fürst Eulenburg«. 32 Zum Quellenwert der Korrespondenz Eulenburgs vgl. Röhl, Eulenburgs politische Kor­ respondenz I, S. 1–7. 33 Haller, Aus dem Leben, S. III. 34 Johannes Haller an die Theologische Fakultät der Universität Gießen, 18. November 1917: UAG Theol 9 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 154.

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»Skeptiker von Natur und durch Erfahrung«, der »im Glauben sehr schwach« sei.35 Als Haller im Juli 1918 auf die Zusendung eines Eulenburgschen Privatdrucks über »Des Leides Licht« antwortete, pries er zwar die Vorzüglichkeit des Christentums – da es »das Leiden adelt und verklärt« –, tat dies aber im Grunde mit distanziert-religionswissenschaftlichem Blick und machte kein Geheimnis daraus, dass er selbst keine »Hoffnung auf ewige Fortdauer« habe.36 Als Eulen­ burg 1919 behauptete, in den Schriften des Nostradamus eine Prophezeiung des Ersten Weltkriegs gefunden zu haben, widersprach Haller höflich, aber bestimmt: Weder sei er in der Sache überzeugt noch würden solche Voraussagungen irgendjemandem etwas nützen, da sie doch immer erst im Nachhinein als solche erkennbar würden. Zur Erklärung seines Skepsis fügte er hinzu: »Ich bin Ihrer Güte ein Bekenntnis schuldig, warum ich mich gegen alles MystischProfetische [!] ablehnend verhalte. Ich habe in jüngeren Jahren darin großen Reiz gefunden, bis ich entdeckte, daß diese Beschäftigung mir die Klarheit des Urteilens und Denkens zu trüben drohte. Nun ist aber der klare, scharfe Verstand das einzige Gegengewicht, daß mir die Natur zu einer überlebhaften Phantasie und Empfindung verliehen hat (erbliche Familienanlage). Ohne ihn wäre ich rettungslos entgleist. Seit ich das erkannt, scheue ich mich etwas vor den Dingen, die sich durch den Verstand, besser durch Erkenntnis nicht ohne Rest auflösen lassen. Es ist also, wenn Sie wollen, eine Scheu, die aus Schwächegefühl entsteht, und deswegen bitte ich um Nachsicht.«37

Möglicherweise spielte Haller damit auf seinen kurzzeitigen Flirt mit dem Spiritismus während seiner Studentenzeit an; jedenfalls aber präsentierte er sich gegenüber Eulenburg als religiöser Skeptiker.38 Religiös konnotiert war dagegen 35 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 10. November 1917: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 153. 36 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 14. Juli 1918: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 164. Vgl. außerdem Eulenburg, Des Leides Licht. Im Januar 1918 hatte Haller allerdings noch etwas anders geklungen (Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 11. Januar 1918: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1568, S. 2241): »Keine Kraft geht verloren; auch was Sie im Dienste Ihres Herrn gearbeitet, kann nicht umsonst gewesen sein. Es wird und muß sich lohnen, wenn nicht in unserer Zeit, dann in einer späteren. Und unser aller letzter Zweck liegt ja nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit.« Vgl. aber auch Johannes Haller an­ Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 19.  September 1918: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 168: »Die Zeit schien mir so elend, so öde, jedes Wirken so undankbar und unfruchtbar, daß ich glaubte, man täte am klügsten, sich auf sich selbst zurückzuziehen und das große Leben seinen Lauf nehmen zu lassen. Und das ist für jemand, der nicht an die Ewigkeit glaubt, eine düstere Aussicht.« 37 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 28. September 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 179. 38 Zu Hallers wenigstens kurzzeitigem Interesse für den Spiritismus vgl. Johannes Haller an Helene Haller, 7. September 1883: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 2. Haller versuchte in seinen Eulenburg-Publikationen, dessen spiritistische Neigungen herunterzuspielen und gab lediglich zu, Eulenburg sei »Spiritualist, d. h. von dem Vorhandensein einer übersinnlichen Geisteswelt überzeugt« gewesen (Haller, Aus dem Leben, S. 29).

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Hallers Sprache, wenn es um politische Grundsatzfragen ging, in erster Linie um das Schicksal der deutschen Nation. Angesichts des Alters und der prekären Gesundheit der beiden Briefpartner auf die Todesthematik kommend, erklärte Haller Eulenburg im August 1919: »Was mit dem Todesgedanken versöhnt, ist ja doch nur die Überzeugung von der Fortdauer und Fortentwicklung des Ganzen, in dem auch das eigene Ich weiterlebt. Daran zu glauben, ist heute wahrhaftig schwer.«39

Und bereits im Oktober 1918, noch vor dem endgültigen Zusammenbruch Deutschlands, schrieb Haller an Eulenburg: »Aber die politische Entscheidung ist gefallen. Darüber kann man nicht zweifelhaft sein und soll man nicht mehr viel Worte machen. Nun stehen wir am Sterbebett des deutschen Reiches, an das wir glaubten, auf das wir hofften, für das wir lebten. Es stirbt – durch die Schuld der Nation selbst. Sie hat sich als unfähig erwiesen, die Aufgaben zu lösen, die sie sich vornahm.«40

Hallers Glaube, so wird aus diesen Sätzen deutlich, bezog sich nicht auf das christliche Dogma oder überhaupt auf einen Gott, sondern auf die – letztlich als transzendent verstandene – Nation. Man könnte daher auf die Idee kommen, Haller ideengeschichtlich dem Nationalismus als »Ersatzreligion« zuzuordnen.41 Es ist aber fraglich, ob diese Charakterisierung so pauschal überhaupt stimmt. Für viele aus Hallers Generation war die Nation nämlich kein religiöser Ersatz, sondern eher eine Ergänzung des Christentums.42 Es spricht außerdem vieles dafür, dass hinter jeder prinzipiellen politischen Position eine glaubensartige Überzeugung steht, was eine strikte Trennung von »Politik« und »Religion« unmöglich macht.43 In diesem Sinne wäre die Nation als politisch-theologisches Identitätsangebot zu verstehen, das im »langen« 19.  Jahrhundert überaus erfolgreich gewesen ist und das eben auch Haller mit Leib und Seele erfasste. Das gleichzeitige Schwinden kirchlicher Bindungen mag den Siegeszug der Nation in den Köpfen der Europäer beschleunigt haben, war aber nicht dessen Ursache. 39 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 30. August 1919: BArch N 1035; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1585, S. 2279. 40 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 4. Oktober 1918: BArch N 1035; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1572, S. 2248. 41 Hallers Rektoratsrede vom Februar 1919 (Haller, Von Tod und Auferstehung) bezeichnet Langewiesche, Die Eberhard-Karls Universität, S. 370 f. in diesem Sinne als eine »Art­ säkularisierter Predigt, in der die ›Nation‹ zum Ewigkeitswert sakralisiert wurde.« Zum Nationalismus als »Ersatzreligion« vgl. den allerdings analytisch schwachen und zugleich stark normativ argumentierenden Aufsatz von Funke, Nationalismus als Ersatzreligion. Analytisch sehr viel stärker und damit nach wie vor grundlegend zum Phänomen der­ »politischen Religion« ist: Voegelin, Die politischen Religionen. 42 Zum Phänomen des »Nationalprotestantismus« vgl. Gailus/Lehmann, Nationalprotestan­ tische Mentalitäten. 43 Ausführlich dazu: Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II., S. 9–15.

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Es wäre daher übertrieben, wenn man Haller unterstellte, mit Hilfe des Nationalismus religiöse Bedürfnisse befriedigt zu haben, die die traditionelle Religion nicht mehr zu befriedigen vermochte. Eher wird man sagen müssen, dass Hallers politische Weltanschauung, indem sie bis in die Rhetorik glaubensartig wurde, der Normalform politischer Weltanschauung entsprach, nur dass im Ernstfall von Krieg und Zusammenbruch die Intensität der geäußerten Überzeugungen besonders hoch war. In Hallers Fall war der Grad an »Religiosität« des politischen Bekenntnisses allerdings tatsächlich dadurch noch einmal erhöht, dass ihm keine andere Form von Religiosität zur Verfügung stand, auf die er notfalls hätte zurückgreifen können. Daher hielt er auch dann noch an seinem politischen Glauben an die deutsche Nation fest, als er bereits deren faktisches Ende konstatiert hatte: »So philosophiert man über den eigenen Untergang. Ich habe mich zu dieser ›Höhe‹ aufgeschwungen, seit ich mich innerlich von der deutschen Nation losgesagt; d. h. von der empirischen Erscheinungsform von heute. An der Idee kann ich nicht verzweifeln; das hieße, in den leeren Weltenraum stürzen.«44

Wie intensiv das Erlebnis der Kriegsniederlage Deutschlands und des Endes der Monarchie für Haller waren, wird nirgends so deutlich wie in den Briefen an Eulenburg, in denen er zwischen tiefer Niedergeschlagenheit und vorsich­tigen Hoffnungen, zwischen nüchterner Lageanalyse und spekulativer Schwärmerei hin und her wechselte. Während er Ende Oktober 1918 zwar die Nieder­lage bereits antizipierte, aber doch relativ nüchtern analysierte – in ganz ähnlicher Weise übrigens wie einen Monat später Max Weber sprach Haller davon, dass die deutsche Geschichte nun noch einmal »da capo«45 von 1648 beginne –, war er im Dezember 1918 überzeugt, das Ende der deutschen Geschichte erlebt zu haben: »Die Rolle der Deutschen in der Geschichte ist ausgespielt; sie können in der Zukunft nicht mehr in der Welt bedeuten, als die Schweiz in Europa, wenn ihnen nicht gar das Schicksal Polens blüht, die Aufteilung zwischen Ost und West, die sie von jeher am meisten bedrohte. […] Unser Volk hat sein wahres Gesicht gräßlich enthüllt, es ist eine Diebesbande. […] Es ist darum leider nicht anders: Die Weltgeschichte war­ diesmal wirklich das Weltgericht. Wir haben unser Schicksal verdient.«46 44 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16.  Februar 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 171. 45 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 26. Oktober 1918: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1573, S. 2249: »Wir spielen die letzten 270 Jahre deutscher Geschichte da capo: müssen wieder bei 1648 anfangen.« Max Weber schrieb am 24. Oktober an den Münchener klassischen Philologen Friedrich Curtius: »Wir fangen noch einmal wie nach 1648 und 1807 von vorn an. Das ist der einfache Sachverhalt.« (Zit. nach Weber, Max Weber, S. 648.) 46 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 22. Dezember 1918: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1575, S. 2252 f.

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Im Februar 1919 wechselte Hallers Stimmung sogar innerhalb weniger Tage von Resignation zur durch Eulenburgs Zureden bestärkten Hoffnung auf den »Tag des Gerichts […], wo die Elenden zur Rechenschaft gezogen werden, die uns so weit gebracht haben«47; und einige Wochen später wiederum bedauerte Haller lebhaft, 1900 nicht die Möglichkeit genutzt zu haben, Schweizer zu werden.48 Die Stimmungsschwankungen Hallers waren selbstverständlich wesentlich durch die Anfang 1919 noch völlig ungeklärte politische Gesamtlage Deutschlands im »Traumland der Waffenstillstandszeit«49 bedingt. Haller rechnete damit, dass es entweder zum Bürgerkrieg oder zum französischen Einmarsch oder zu beidem gleichzeitig kommen werde.50 An den Eulenburg-Briefen wird aber auch die allmähliche Verfestigung der gegenwartspolitischen Auffassungen Hallers nach 1918 erkennbar. Dass er die »sogen. Regierung«51 Ebert-Scheidemann vom Februar 1919 – mit Ausnahme Gustav Noskes – geringschätzte und ihr die Errichtung eines »System[s] der Lüge«52 vorwarf, ist so wenig überraschend wie sein Entsetzen angesichts der Unterzeichnung des Versailler Vertrags.53 Erstaunlicher ist da schon, dass­ 47 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 18.  Februar 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 172. Hallers Resignation wird deutlich in: Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16.  Februar 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 171. 48 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16.  Februar 1919: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1579, S. 2258. 49 Troeltsch, Spektator-Briefe, S. 51. Vgl. dazu auch Albertin, Liberalismus und Demokratie, S. 209–212. 50 Vgl. Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16. Februar 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 171: »Ich glaube nicht, daß wir ohne Bürgerkrieg durchkommen. […] Schließlich werden wir doch eine Weiße Garde bilden müssen. Die Frage ist nur, ob Noske dabei mittut und einen Teil seiner Genossen mitnimmt.« Vgl. außerdem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 22. Juni 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 178; vgl. auch die entsprechenden Befürchtungen Hallers im Vorfeld der Reichstagswahl vom Juni 1920: Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 13. Mai 1920: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/­K leinert, Johannes Haller, Nr. 184. 51 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 23.  Februar 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 173. 52 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 6. April 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 175. 53 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 22.  Juni 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  178: »Ich kann den Umschlag nicht schließen, ohne mit einem Wort dieses Tages zu gedenken. Welch furchtbarste Sonnenwende! Balder ist tot. Daß es so kommen werde, wußte man ja, und doch – ! Was nun weiter? Daß wir die ›entehrenden Bedingungen‹ binnen Kurzem ebenso angenommen haben werden, wie alles Uebrige, was wir vor 6 Wochen pathetisch als unannehmbar erklärten, ist nicht zweifelhaft. Ob uns das vor französischem Einmarsch rettet? Ich fürchte, auch das nicht einmal. In jedem Falle kommt jetzt die innere Auseinandersetzung. Gott weiß, wie sie ausfallen wird. Unsern sogenannten Regierungen hängt das Herz im Hosen­

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Haller nicht nur generelle Versäumnisse Deutschlands vor 1914 zugab, sondern sogar bei sich selbst einen Teil der Schuld sah: »Ob ich auch immer alles tat, was ich hätte tun können, ist eine andere Frage, und die muß ich leider verneinen. Auch ich bin eben ein Teil meiner Zeit gewesen und habe weniger geleistet, als ich sollte. […] Wol war auch ich bequem geworden in der Zielsetzung fürs eigene Schaffen. Aber ich weiß doch jetzt auch, wie sehr ich innerlich unter dem lähmenden, wiederziehenden [!] Einfluß der ganzen Umgebung litt. Das Leben in Deutschland von 1902–1914 – vorher kannte ich es kaum, da mein Wohnsitz 1892– 97 und 1901/2 in Rom, dazwischen in Basel war – dieses Leben war äußerlich bequem, sicher und behaglich, innerlich aber unfruchtbar und leer.«54

Haller ging sogar so weit, zu behaupten, Deutschland sei schon 1914 so sehr­ »heruntergekommen« gewesen, dass auch ein militärischer Sieg 1918 nichts­ Wesentliches geändert hätte.55 Ab der zweiten Jahreshälfte 1919 wuchs allerdings Hallers Hoffnung wieder; er erwartete einen politischen Rechtsruck, nahm sogar monarchistische Tendenzen in der Jugend wahr, befürchtete aber, dass diese ohne einen präsentablen »Führer« folgenlos bleiben würden.56 Dabei war eine einfache Rückkehr zur Monarchie gar nicht unbedingt Hallers favo­ risierte Option: »Wenn ich alles überblicke und meine Wünsche formuliere, so gehen sie dahin, daß es noch recht lange bei der ›revolutionären‹ Verfassung bleiben möge, aber mit einem Diktator von rechts an der Spitze. Man kann ja diese Verfassung auch einmal mit der rechten Hand anwenden, und da wirkt sie vielleicht ganz gut.«57 boden, und sie sind bereit, alle möglichen Begütigungsversuche nach links zu machen. Die Urheber des Stuttgarter Spartakistenputsches vom Januar sind vom Schwurgericht freigesprochen worden – ! Wir müssen uns selbst helfen und schützen. So bin denn auch ich in die Bürgerwehr eingetreten, um nichts versäumt zu haben. Im Grunde ist ja alles eins. Meine Familie schicke ich so bald wie möglich in die Schweiz, was jetzt keine großen Schwierigkeiten mehr macht. Dann komme, was da kommen will, und komme, was da mag!« 54 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 18. Mai 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 176. 55 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 13. Juni 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1602, S. 2321. 56 Vgl. Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 30. August 1919: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1585, S. 2279 f.; vgl. Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 28. September 1919: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1586, S. 2284; vgl. Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 26.  Oktober 1919: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 180; vgl. Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 11. Januar 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1593, S. 2300 f.; vgl. Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 5. Dezember 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1607, S. 2335. 57 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16. November 1919: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 182.

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Zwar war Haller davon überzeugt, dass die demokratische Republik in jeder Hinsicht die schlechtere Staatsform sei als die Monarchie, diese aber sei in Deutschland »für ein Menschenalter unmöglich« geworden.58 Grund dafür war aus seiner Sicht nicht so sehr das Scheitern des Kapp-Putsches im März 192059, sondern erstens der – negativ gewertete, weil egalitaristische – »demokratische[] Instinkt«60 des deutschen Volkes, zweitens die Diskreditierung der­ Monarchie durch das Verhalten der Monarchen Ende 1918 – allen voran Kaiser Wilhelms II. Diesen verteidigte er zwar gegen manche Vorwürfe Eulenburgs mit dem Hinweis, Wilhelm sei nun einmal der »Repräsentant, der Exponent der Nation«61 gewesen, gab aber zu, dass dies eigentlich nur für die schlechten Eigenschaften des deutschen Volkes gelte.62 Von der Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Wilhelm II. und Nikolaus II. und von Eulenburgs Berich-

58 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 25.  Januar 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr.  1596, S.  2304 f. Zur Grundsatzkritik Hallers an der Demokratie vgl. auch Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 13. Mai 1920: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 184: »Ein Volk besteht aus lauter Einzelnen, und diese Einzelnen sind nur sehr selten im Stande politisch, d. h. im Sinne des Ganzen zu denken: sie denken und urteilen auch in Sachen der Allgemeinheit nach den Grundsätzen der Einzelmoral. Darum ist es heute für den Herrscher um so schwerer, lediglich nach Nutzen und Vorteil zu entscheiden, je weniger sein Volk politisch geschult ist; d. h. je kleiner in ihm die Zahl derer ist, von denen der Nutzen der Gesamtheit instinktiv erkannt und allen andern Regungen vorgezogen wird.« In seinen Lebenserinnerungen behauptete Haller, bereits in Italien zum Antidemokraten­ geworden zu sein: »Die Beobachtungen, die ich am Staatsleben in Italien machen durfte, haben mir zum Verständnis moderner Politik viel genützt; ich bin durch sie zum überzeugten Gegner der parlamentarischen Regierungsform geworden, und ich glaube, es ist den meisten von uns, die wir als deutsche Gäste dem Schauspiel zusahen, ebenso gegangen. […] Da hätte also das Regieren leicht sein müssen. Statt dessen war die Kammer der Abgeordneten der Tummelplatz beständiger Kämpfe, in denen Zeit und Kraft vergeudet wurde, weil in Ermangelung politischer Gegensätze die landschaftlichen und örtlichen Interessen und noch mehr der Ehrgeiz und die Eifersucht strebsamer Gruppenhäuptlinge das Feld beherrschten. Daß diese Erscheinung nur auf den italienischen Volks­charakter zurückzuführen sei, habe ich schon damals nicht geglaubt; sie konnte durch ihn wohl gesteigert werden und gewisse eigentümliche Farbtöne erhalten, ihre wahren Ursachen lagen in der Natur der Dinge, im Wesen der Politik oder besser des Politikers, mußten unter gleichen Bedingungen überall zu den gleichen Folgen führen.« (Haller, Lebenserinnerungen, S.  173 f.) Aus den Briefen Hallers ist das weder verifizierbar noch falsifizierbar; es ist aber nicht unplausibel. 59 Vgl. dazu Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 25. April 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1598, S. 2307. 60 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 13.  Juni 1920: BArch N 1035; Röhl, Eulen­burgs politische Korrespondenz III, Nr. 1602, S. 2322. 61 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 4.  Oktober 1918: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1572, S. 2248. 62 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 30. März 1919: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1579, S. 2261.

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ten über das kaiserliche »Umherpfuschen« in der deutschen Politik war Haller regel­recht entsetzt.63 In gewisser Hinsicht lässt dies Hallers politische Anschauungen sogar als »moderner« erscheinen als diejenigen Friedrich Meineckes, dessen Bekenntnis zum »Vernunftrepublikanismus« ausdrücklich mit dem Hinweis verbunden war, dass er selbstverständlich »Herzensmonarchist«64 bleibe. Haller nun sah bei allem Widerwillen gegen den Staat von Weimar nach 1918 zunächst auch keine vernünftige Alternative zur Republik – die er sich allerdings in einer möglichst autoritären Form wünschte  –, und ein »Herzensmonarchist« war Haller weder vor noch nach 1918. Wenn überhaupt, so ist bei Haller von einem abstrakten Monarchismus zu sprechen, denn eine Restauration der alten Ordnung wünschte er keinesfalls, so wie ihm auch nichts an legitimistischen Vorstellungen oder überhaupt einer Rückkehr Wilhelms II. auf den Thron lag. Insofern gehörte Haller auch zu den Vernunftrepublikanern, nur eben nicht im Umfeld der DDP, sondern im Umfeld der DNVP, wo es durchaus einen mehr oder weniger republiktreuen »volkskonservativen« Flügel gab, der sich 1930 sogar von der Partei abspaltete.65 Dabei hat Haller den Kaiser durchaus differenziert beurteilt, hat auf dessen große Beliebtheit im Volk hingewiesen und anlässlich des 75. Kaisergeburtstages eine ausgewogene Würdigung geschrieben, die allerdings nicht veröffentlicht wurde.66 Hallers »Ära Bülow« und seine Eulenburg-Publikationen trugen 63 Goetz, Briefe Wilhelms II. Vgl. außerdem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Herte­ feld, 11.  Januar 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1593, S. 2299: »Daß der Kaiser die unvergleichliche Karte des englischen Bündnisangebots 1898 weggeworfen hat, indem er mit ihr in Petersburg hausieren ging, wußte ich ja schon. Aber die Form, in der es geschah – ich habe meinen Augen nicht getraut und wäre umgefallen, hätte ich nicht schon auf dem Sofa gelegen, als ich das Blatt las. Von dem Gesamteindruck kann ich mich gar nicht erholen! Eine kitschige Reproduktion von Friedrich Wilhelm IV. – mir wird übel. Wenn der Kaiser so in politischen Dingen umherpfuschte, so närrisch über sie redete und dachte, wie kann man vom einfachen Staatsbürger verlangen, daß er politisch reif sei?« 64 Meinecke, Verfassung und Verwaltung, S. 281. 65 Vgl. dazu Jonas, Die Volkskonservativen. 66 Entwurf Johannes Hallers für einen Artikel über Wilhelm II. (1934): UAT 305/1c und UAT 305/7 (maschinenschriftlich): »So verketteten sich auch die Fehler von Herrscher und Volk, und wer will ausmachen, wen das grössere Verschulden trifft? In dem Hauptbuch der Geschichte, das das Soll und Haben von Menschen und Zeiten verzeichnet, sind die Ziffern oft erloschen und darum der Abschluss unsicher. Eine spätere Zeit wird leichter urteilen können, weil sie unbeteiligter sein wird. Das Geschlecht, das diesen Kaiser erlebte, ist zum Richten nicht berufen weil es selbst mitangeklagt ist. Das sollten wir nie vergessen und, anstatt den Herrscher zu beschuldigen, vielmehr der eigenen Schuld uns bewusst bleiben. Am wenigsten aber ziemt es uns am heutigen Tage, dem Gestürzten die Rechnung vorzuhalten, unter dessen Regierung das Deutsche Reich seine glänzendste Zeit erlebt hat, und der nun schon ein halbes Menschenalter lang sein schweres Schicksal mit vornehmer Würde und ohne jede Bitterkeit erträgt, unbeirrt in der Liebe zu seinem Volk, dessen Erwachen und Auferstehen er mit lebendiger Teilnahme verfolgt. Nichts besseres können wir ihm zum

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ihm sogar Sympathien aus Doorn ein, wo sich der ins holländische Exil gegangene Kaiser seit 1920 aufhielt: Der Kronprinz schickte ein Dankesschreiben, und Wilhelms zweite Ehefrau Hermine versuchte in zahlreichen Briefen und persönlichen Treffen, Haller zu einer Reise nach Doorn zu bewegen.67 Haller wich den Einladungen aus, weil er den begründeten Verdacht hegte, man wolle ihn zum offiziellen Historiographen und Verteidiger des Kaisers machen, und weil er die ebenso begründete Befürchtung hatte, eine explizite Aufforderung dieser Art nicht ablehnen zu können.68 heutigen Tage wünschen, als dass ihm vergönnt sei, auch die Früchte dieses neuen Frühlings noch wachsen und sein Volk wieder frei und in aller Welt geachtet dastehen zu s­ ehen.« Haller wollte diesen Artikel ursprünglich als Anhang zu seinen Lebenserinnerungen­ veröffentlichen. Vgl. außerdem Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 13 bzw. unten S. 308: »Um 1900 hatte man in den Barbierstuben, wo oft die Zungen sich lösen, von ›unserem glänzenden, unserem genialen Kaiser‹ können sprechen hören und wo immer er sich zeigte, war der Jubel groß gewesen. Ich glaube, das unterstreichen zu sollen, da es heute wohl gründlich vergessen ist, daß Wilhelm II. einmal volkstümlich, beliebt und bewundert war.« Vgl. auch Haller, Vorwort, S. VIIf.: »Zu den Gestalten, über die die Nachwelt vielleicht niemals einig sein wird, gehört Kaiser Wilhelm II. Aber heute schon weiß man, daß ihr Urteil anders lauten wird als das, das in den Tagen seiner Regierung die Öffentlichkeit beherrschte. Von der schnellfertigen Verdammung, die in ihm den Hauptschuldigen, ja den Alleinschuldigen am Unheil Deutschlands und der Welt erblicken wollte, hört man heute schon nichts mehr. Eine nach der anderen sind die furchtbaren Beschuldigungen, die auf seinen Namen gehäuft wurden, in nichts zerronnen, immer mehr entlastet sich die Rechnung seiner persönlichen Verantwortung für die verhängnisvollen Fehler seiner Regierung, und die Zeit ist vielleicht nicht mehr fern, wo der Abschluß von Soll und Haben einen Überschuß zu seinen Gunsten aufweisen wird.« 67 Vgl. Kronprinz Wilhelm an Johannes Haller, 18. März 1922: BArch N 1035/17: »Ihr Buch ›Aera Bülow‹ hat mich nicht nur ungemein gefesselt, sondern es hat auch eine Beurteilung unserer damaligen sehr unglücklichen Politik geschildert die ich in den meisten Punkten nur unterschreiben kann. Sie haben vollkommen Recht, daß damals die Schicksalsstunde Deutschlands war, als England ein Bündnis mit uns suchte.« Vgl. auch Johannes Haller an Kronprinz Wilhelm, 5.  April 1922: BArch 1035/17 (eigenhändiges Konzept) bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 195, sowie die Korrespondenz zwischen der »Kaiserin« Hermine und Johannes Haller, in: WLB, Cod. autogr. bzw. BArch N 1035/20. 68 Vgl. dazu Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 15 bzw. unten S. 312: »Meine Rechtfertigung des Fürsten Eulenburg war es, die die ›Kaiserin‹ Hermine veranlasste, mich mit einer längeren persönlichen Unterredung und wiederholten brieflichen Mitteilungen zu beehren. Sie glaubte wohl, ich würde es verstehen, ihrem hohen Gemahl den gleichen Dienst zu erweisen, zu dem dann ein gewisser Nowak sich herangedrängt hat. Ich durfte das nicht, weil ich mir darüber klar war, daß in diesem Fall die Verteidigung nur auf­ mildernde Umstände, niemals auf Freisprechung antragen konnte. Darum bin ich der wiederholten Einladung nach Doorn ausgewichen, hätte ich sie angenommen, so wäre eine Ablehnung des Auftrags nicht mehr möglich gewesen. Ich bedaure das, denn ich bin dadurch der persönlichen Bekanntschaft des interessantesten meiner Zeitgenossen verlustig gegangen und habe den Zauber seiner menschlichen Liebenswürdigkeit nicht kennengelernt.« Vgl. auch Johannes Haller an Axel Varnbüler, 9.  Juni 1925: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, P 10 Bü 1091 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 208: »In irgendwelche Restaurationsintrigen möchte ich mich nicht verwickeln lassen.«

Politische Bilanz

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Die Sympathiebekundungen aus dem Haus Hohenzollern machen deutlich, dass Haller mit seinen Veröffentlichungen über Bülow und Eulenburg eben nicht nur jüngste Geschichte geschrieben, sondern auch politisch Stellung bezogen hatte. Dementsprechend fiel die Rezeption sehr ambivalent aus: Einerseits gab es Befürworter wie Kritiker aus politischen Gründen, andererseits herrschte Uneinigkeit über den wissenschaftlichen Wert der Bücher. Während die Publikationen sich äußerst positiv auf Hallers Bekanntheitsgrad auswirkten, litt gleichzeitig – wenn auch nicht gravierend – seine wissenschaftliche Reputation.69 Selbst Hallers Schüler Reinhard Wittram hat im Nachhinein geurteilt, Haller habe bei der Verteidigung Eulenburgs nicht immer dieselben quellenkritischen Maßstäbe eingehalten, die er bei sich und anderen sonst angelegt habe.70 Als ihm sogar nachgewiesen wurde, dass er einzelne Briefe nicht korrekt zitiert hatte, traf ihn das besonders heftig, zumal er sich von Eulenburg über die »Echtheit« der ihm zur Verfügung gestellten Abschriften getäuscht sah.71 Insofern war Hallers öffentlicher Einsatz für die Reputation Eulenburgs eine taktische Fehlentscheidung, zumal sie auch seinen Ruf verstärkte, zu inhaltlichen Überspitzungen zu neigen. Mit der Familie Eulenburg kam es in den 1930er Jahren zum Bruch, nachdem nicht nur die Zweifel an der Authentizität der Abschrift, sondern auch finanzielle Streitigkeiten und die Beauftragung des Schriftstellers Reinhold Muschler mit einer weiteren Eulenburg-Biographie das persönliche Verhältnis zur Witwe und zum Sohn immer stärker belastet hatten.72 Dem Fürsten selbst bewahrte Hal69 In der Historischen Zeitschrift etwa erschien noch eine relativ positive Besprechung der »Ära Bülow« (Luckwaldt, Rez. »Johannes Haller«); die beiden Eulenburg-Publikationen dagegen wurden ignoriert. Ein Beispiel für eine positive Rezeption der beiden Eulenburg-Bücher ist Wolff, Das Vorspiel, Nachwort, der mit Verweis auf Hallers Veröffentlichungen feststellte, dass Eulenburg »sehr viel Geist« gehabt und dem Kaiser durchaus Paroli geboten habe. Haller selbst meinte im Nachhinein, die Rezeption sei einhellig positiv gewesen, bis der Verlag die Restauflage verramscht und die Familie Eulenburg den Fehler begangen hätte, mit Reinhold Muschler einen »Asphaltliteraten« zum Zweitbiographien Eulenburgs zu machen und gleichzeitig immer neue Schriftstücke Eulenburgs auf den Markt zu werfen: Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 19 bzw. unten S. 317: »So war der Eindruck stärker als erwartet, in wenigen Wochen war die Auflage vergriffen, eine zweite gedruckt, und in der Presse schlug das Urteil mit einem Ruck zu Gunsten des Fürsten um. […] Nur zu bald aber kamen Rückschläge, die mir die Freude an dem Werk verdarben. […] Das ist nun nicht mehr zu ändern, und ich muß mich über den teilweisen Mißerfolg mit dem Bewußtsein trösten, einer guten Sache so weit gedient zu haben, wie die Umstände und meine Kräfte es erlaubten.« 70 Vgl. Wittram, Art.  »Haller, Johannes«, S.  553. Hallers Schüler Fritz Ernst beharrte allerdings darauf, dass bei aller Einseitigkeit des Hallerschen Eulenburg-Bildes dessen Arbeit sich doch nicht »einfach ignorieren« lasse, wie das beispielsweise die Historische Zeitschrift getan habe: Ernst, Johannes Haller, S. 8. 71 Vgl. dazu Johannes Haller an Axel Varnbüler, Freiherr von Hemmingen, 29.  März 1935: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, P 10 Bü 1091 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 284. 72 Vgl. dazu Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, S.  66 f. Vgl. außerdem Muschler, Philipp zu Eulenburg, sowie Johannes Haller an Friedrich Wend Fürst zu Eulenburg-Herte­ feld, 9. August 1936: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 292.

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ler allerdings trotz allem ein positives Andenken. Das hing neben der persönlichen Sympathie wohl vor allem damit zusammen, dass der Briefkontakt Haller in einer kritischen Phase die Möglichkeit gegeben hatte, sich nicht nur über die politische Situation, sondern auch über den eigenen weiteren Lebensweg Klarheit zu verschaffen. Haller verzichtete nämlich auf unmittelbares politisches Engagement – zwar sympathisierte er offen mit der DNVP und trat als Gast auf deren Parteitagen auf; zu einer aktiven Mitarbeit kam es aber nicht.73 Stattdessen wurde er eben zum politischen Historiker, der sich – abgesehen von seinen tagesaktuellen Stellungnahmen zur Schulpolitik74 – auf den Bereich der politischhistorischen Grundsatzfragen konzentrierte. Damit wollte er  – wie bereits in seiner Rektoratsrede vom Februar 1919 angekündigt75 – einen Beitrag zur Nationalerziehung und damit wiederum zum geistigen Wiederaufstieg Deutschlands leisten. Von der Tagespolitik ließ er bis 1932 im Großen und Ganzen die Finger.

2. Epochen Die »Ära Bülow« und die beiden Eulenburg-Bücher hatten Haller dem Publikum bekannt gemacht; regelrecht berühmt wurde er hingegen erst durch seine fast zeitgleich erschienenen »Epochen der deutschen Geschichte«. Dieses Buch ist ein Phänomen, denn erstens handelt es sich mit einer Auflage von insgesamt mindestens 237.000 Exemplaren76 um eines der »meistgelesenen«77, vielleicht 73 Vgl. dazu Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 9. Oktober 1921: Barch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  194: »Ich war in München auf dem deutschnat. Parteitag (als Gast). Er stand auf einem über Erwarten hohen Niveau. Die Partei hat denn doch die besten Köpfe und Charaktere in ihren Reihen, leider allerdings auch die gefährlichsten Draufgänger. Meines Erachtens ist sie am meisten durch die törichten alten Generäle und Offiziere gehandicapt, die von Politik keine Ahnung haben, und doch bei­ jeder Gelegenheit das Maul aufreißen, wo sie dann natürlich Dummheiten machen und die Partei kompromittieren.« Zu Eulenburgs Einfluss in dieser Hinsicht vgl. vor allem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 14. November 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1606, S. 2333: »Mir geht es so merkwürdig, ich bin mit dem Leben so völlig fertig, wie ich es nie gedacht hätte, und doch, ja gerade seit ich den inneren Abschluß gemacht, ist mein Lebensmut und Hoffnung größer als in früheren Zeiten. Ich kann auch den Gedanken nicht aufgeben, daß auch Ihnen noch eine Zeit beschieden ist – aus reinstem Egoismus. Sie wissen ja, daß ich Ihre Sache als meine­ Lebensaufgabe ansehe.« Anscheinend hat die DNVP Haller sogar einen Sitz im Reichstag angeboten: vgl. Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 163 bzw. unten S. 423. 74 Vgl. dazu Kapitel VII.3. 75 Vgl. dazu Kapitel VI.3. 76 Vgl. dazu Haller, Epochen 1962. Daraus geht hervor, dass die Nachkriegsausgabe der­ »Epochen« mindestens bis zum 87. Tausend ging, während laut Klappentext die Originalausgabe über 150.000 Exemplare umfasste. 77 Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 443.

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sogar um das »erfolgreichste«78 deutsche historische Buch des 20. Jahrhunderts, zweitens ging der Verkauf kontinuierlich über zwei Systemwechsel hinweg: Die »Epochen« waren in der Weimarer Republik ebenso populär wie zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, und auch in der frühen Bundes­republik wurden sie wieder gekauft und gelesen.79 Das Buch ist daher in der Geschichtswissenschaft auch immer wieder als Kronzeuge für Kontinuitätsthesen angeführt worden, etwa im Hinblick auf eine »Ideologie des deutschen Weges«80 oder auf die »Anfälligkeit«81 konservativer Historiker für die nationalsozialistische Weltanschauung. Üblicherweise wird dabei auf prinzipielle Gemeinsamkeiten zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus verwiesen, wie etwa die Hochschätzung der Nation oder die »Machtstaatstheorie«.82 Problematisch ist allerdings an einer solchen Vorgehensweise, dass sich die entsprechenden ideologischen Elemente auch in anderen politischen Lagern finden und dass der Nationalsozialismus keineswegs auf genau diese Elemente reduziert werden kann. Damit soll nicht bestritten werden, dass ein großer Teil  der deutschen Zwischenkriegs78 Werner, Das NS-Geschichtsbild, S. 71. Vgl. dazu auch Franz, Rez. »Johannes Haller«, S. 111: »Es ist höchst erfreulich, daß dies Buch heute bereits im 31. Tausend vorliegt und damit einen Bucherfolg aufzuweisen hat, wie ihn wohl seit Treitschkes ›Deutscher Geschichte‹ kein Werk eines zünftigen deutschen Historikers auch nur annähernd gehabt hat. Das­ beweist zugleich, daß wirklich gute historische Werke sich auch der Belletristik und dem Ästhetizismus gegenüber durchzusetzen vermögen und daß weit über die Studentenschaft hinaus auch in den vergangenen Jahren die große Schicht der Gebildeten das Gefühl für eine männliche und mutige Darstellung unserer Geschichte nicht verloren hatte.« Vgl. außerdem Faulenbach, Die Historiker und die »Massengesellschaft«, S. 241: »Waren auch von Historikern verfaßte ›Bestseller‹ selten, so gab es doch Veröffentlichungen wie Johannes Hallers ›Epochen deutscher Geschichte‹ [!], die durchaus politische Leitvorstellungen transportierten und hohe Auflagen erzielten.« 79 Auflagen der »Epochen« erschienen 1923, 1925, 1927, 1934 (erweitert), 1937, 1939 (erweitert), 1940, 1942, 1950, 1954 und 1962. Im Dezember 1945 wurde die Benutzung der ­»Epochen« als Examenslektüre noch untersagt; 1950 gab es dagegen bereits eine vornehmlich auf der Erstausgabe beruhende Neuauflage; vgl. dazu Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 448. 80 Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges; mit Bezug auf Haller S. 28, 31, 39, 45, 55, 59–61, 92–96, 189, 198, 228, 245–247, 278 und 284–287. 81 So explizit und mit Bezug auf Hallers »Epochen« Werner, Das NS-Geschichtsbild, S. 70– 95, obwohl dort insgesamt relativ differenziert auch über die »Resistenz« (S. 61) der deutschen Geschichtswissenschaft gegenüber dem NS-Regime gesprochen wird. Vgl. außerdem Volkmann, Von Johannes Haller, S. 21, der Haller als Bereiter »des geistigen Nährbodens, auf dem nationalsozialistisches Gedankengut wachsen konnte«, analysiert. Zum weiteren Kontext dieser Auffassung vgl. Stern, Kulturpessimismus, bes. S. 2 f. sowie das Vorwort zur Neuausgabe 2005. 82 Mit ausdrücklichem Bezug auf Hallers »Epochen« und aus marxistischer Perspektive: Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung, S.  61. Vgl. außerdem Werner, Das NS-Geschichtsbild, S.  69 und S.  88 f.; vgl. Schönwälder, Historiker und Politik, S. 270–274.

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rechten zu Beginn der 1930er Jahre seine Hoffnungen gerade deshalb auf die Nationalsozialisten setzte, weil man sich von ihnen eine Politik versprach, die mit den eigenen Vorstellungen zwar nicht in jeder Hinsicht kompatibel war, die aber angesichts der krisenhaften Lage als möglicher radikaler Ausweg erschien.83 Dieser Sachverhalt sollte aber nicht dazu verleiten, die Differenzen zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus zu verwischen.84 Für die Kontinuität in den Auffassungen des bürgerlichen Lesepublikums sind Hallers »Epochen« tatsächlich ein deutlicher Indikator. Warum es sich dabei aber gerade um eine nationalsozialistische Kontinuität gehandelt haben sollte, leuchtet nicht ein. Das gilt umso mehr, als das Geschichtsbild, das Haller in den »Epochen« entwarf, zum nationalsozialistischen sehr deutliche Unterschiede aufweist.85 Hallers erklärtes Ziel mit seinem erstmals 1923 publizierten, aus Vorle­ sungen hervorgegangenen Buch war es, zwar keine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte zu schreiben, aber doch ein Gesamtbild in groben Zügen zu entwerfen, indem er eben deren »Epochen«, also die entscheidenden Wendepunkte, in den Blick nahm. Damit wollte Haller einer »nüchternen Selbsterkenntnis« ebenso dienen wie dem »Glauben« der Deutschen an eine »bessere Zukunft«, in der »ein neues Geschlecht mit neuer Kraft auch der deutschen Geschichte ihren Sinn wiedergeben wird.«86 Die Zielsetzung entsprach ganz Hallers in der Rektoratsrede vom Februar 1919 entworfenen Programm einer historischen Bildungs- als metapolitischer Aufbauarbeit für die deutsche

83 Ausführlich dazu: Kapitel VIII.2. 84 Prägnant dazu: Nonn, Theodor Schieder, S.  120 f. Die Unterschiede der ideologischen »Leitgedanken und Denkmotive« des Nationalsozialismus zu denen des Konservatismus werden deutlich herausgearbeitet von Kraus, Über einige geistesgeschichtliche Voraus­ setzungen, S. 28–40 (Zitat S. 29); vgl. vor allem ebd., S. 39: »Es bleibt in jedem Fall festzu­ halten, dass alle diese zentralen Ideologiebestandteile, diese Ideologeme des National­ sozialismus sich seit Beginn der Moderne, seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet haben und dass eben jene Ideologie mit den Grundmotiven ihrer radikalen Traditionsfeindschaft, ihrer konsequenten Zukunftsorientierung, ihrem genuinen Antiindividualismus und Antiliberalismus, endlich auch ihrem ebenso genuin antimetaphysischen und religionsfeindlichen, in seinen Konsequenzen extrem brutalen politischen Naturalismus etwas nach Form und Inhalt vollkommen Neues gewesen ist, ein Phänomen der modernen, durchrationalisierten und durchtechnisierten Welt, das nichts, aber auch gar nichts zu tun hat mit den traditionellen politischen Ordnungen und den Lebenswelten des vorrevolutionären alten Europa.« Vgl. zu diesem Zusammenhang außerdem Kroll, Utopie als Ideologie, bes. S. 309–313, sowie die Fallstudien zu konservativen Zeitschriften vom Ende des 19. zur Mitte des 20. Jahrhunderts: Kraus, Konservative Zeitschriften. 85 Zum nationalsozialistischen Geschichtsbild vgl. bes. Kroll, Utopie als Ideologie. Vgl. außerdem Kapitel VIII.1.; dort wird auch das ideologische Verhältnis Hallers zum Nationalsozialismus analysiert. Im Folgenden wird daher auf einen Detailvergleich des Hallerschen Geschichtsbildes mit den Geschichtsauffassungen der Nationalsozialisten verzichtet, sondern lediglich Hallers Geschichtsbild nachgezeichnet. 86 Haller, Epochen 1923, Vorwort (unpaginiert).

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Nation.87 Die »Epochen« sind daher eine Quelle sowohl für Hallers Geschichtsbild als auch für seine – damit eng verbundenen – politischen Anschauungen.88 Im expliziten Gegensatz zu der nicht nur von völkischen Autoren vertretenen Auffassung, die deutsche Geschichte beginne mit der germanischen Vorzeit bzw. den Germanen der Spätantike, setzte Haller ihren Beginn im 10. Jahrhundert an. Das deutsche Volk, so Haller, sei nämlich keine »natürliche, sondern eine geschichtlich gewordene Einheit«, die durch die Vereinigung verschiedener Stämme entstanden sei, welche wiederum mit der Wahl Konrads I. zum König des ostfränkischen Reiches 911 begonnen habe.89 Haller behauptete damit nicht, dass es bereits im 10. Jahrhundert so etwas wie ein nationales Zusammenghörigkeitsbewusstsein der »Deutschen« gegeben habe, sondern gab zu, dass sich ein solches vielmehr in einem über Jahrhunderte dauernden Prozess gebildet habe, der staatsrechtlich erst 1871 abgeschlossen worden sei. Dennoch war für ihn die deutsche Nation eine historische Realität und keine »Erfindung«90 des 19. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht war er sich etwa mit Friedrich Meinecke völlig einig, der das zeit- oder sogar epochenweise Fehlen eines nationalen Selbstbewusstseins damit erklärte, dass man zwischen einer früheren Epoche, »in denen die Nationen im ganzen ein mehr pflanzenhaftes Dasein und Wachstum hatten«, von einer späteren unterscheiden müsse, »in denen der bewußte Wille der Nation erwacht«.91 Hallers Entscheidung, die deutsche Geschichte im 10.  Jahrhundert beginnen zu lassen, war in zweierlei Hinsicht folgenreich: Erstens war damit eindeutig festgelegt, dass er keine Volks-, sondern eine Nationalgeschichte schrieb, 87 Vgl. Kapitel VI.3. 88 Die folgende Analyse geschieht auf der Basis der 1923 erschienenen Erstauflage. Die Änderungen, die die »Epochen« in den späteren Auflagen, insbesondere nach 1933 und dann wieder nach 1945 erfahren haben, werden an anderer Stelle behandelt: vgl. die Kapitel VIII.1. und X. 89 Haller, Epochen 1923, S. 12. Andere »deutsche Geschichten« aus der Weimarer Zeit setzten dagegen mit zum Teil ausführlichen Beschreibungen der germanischen Frühzeit ein: vgl. etwa Brandi, Deutsche Geschichte, der von den Germanen als den »alten Deutschen« (S. 6) sprach; vgl. auch Goetz, Eine deutsche Geschichte, sowie die erstmals 1909 erschienene Darstellung des völkischen Autors Heinrich Claß: Einhardt, Deutsche Geschichte. Von nationalsozialistischen bzw. zeitweise mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Historikern wie Otto Westphal wurde Haller für seine Ausklammerung der Germanen aus der deutschen Geschichte ausdrücklich kritisiert: vgl. Hying, Das Geschichts­ denken, S. 36 f. 90 Zur Vorstellung, die Nation sei eine »Erfindung« vgl. Anderson, Die Erfindung der Nation. 91 Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S.  13. Meinecke stellte dabei ausdrücklich fest, dass die Nation auch in den früheren Epochen selbstverständlich existierte: »Immer aber handelt es sich dabei nur um eine graduelle, nicht um eine radikale Wandlung. Auch in den Zeiten des mehr vegetativen und schlummernden Daseins der Nationen fehlte es nicht an einzelnen Momenten, wo sie das Auge aufschlugen, wo sie sprachen und dachten durch das Organ einzelner geistiger Führer, wo sie handelten durch gemeinsame große Kundgebungen und Willensakte.« (ebd., S. 13 f.)

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und zweitens war für ihn damit der deutsche »Partikularismus« von Beginn an in der deutschen Geschichte angelegt. Ursprünglich, so Haller, habe es nämliche keine »volkliche« Einheit und somit auch keine nationale Identität gegeben, sondern eine Vielheit von Stammesidentitäten, die unter dem deutschen Kaisertum  – mit Unterstützung der Reichskirche  – erst allmählich gelernt­ hätten, sich als zusammengehörig zu verstehen.92 Die Geschichte des Kampfes zwischen den Verfechtern des Partikularismus und denen einer Reichs- bzw. später nationalen Einheit war der innenpolitische Leitfaden der »Epochen«, wie Haller auch selbst konsequenter Gegner der föderalistischen Tradition Deutschlands war und in dieser Hinsicht sogar Hoffnungen auf die Revolution 1918 gesetzt hatte.93 Außenpolitischer Leitfaden der »Epochen« war dagegen die besondere geographische Lage Deutschlands, aus der sich das »Problem der doppelten Front« ergeben habe.94 Dieses sei allerdings im Hochmittelalter noch nicht sonderlich hervorgetreten, da Deutschland sich außenpolitisch weder nach Westen noch nach Osten, sondern nach Süden orientiert habe. Mit der engen Verbindung zwischen Deutschland und Italien, die Konrad II. insbesondere mit der Annexion Burgunds besiegelt habe, setzte Haller die klassische Zeit des »altdeutschen Kaisertums« an, deren Höhepunkt die Herrschaft Friedrich Barbarossas und die mit Friedrich II. bereits zu Ende gewesen sei.95 Aus Hallers Sicht war die Ausdehnung des deutschen Herrschaftsbereiches nach Italien nicht etwa der Ausfluss einer universalistisch-religiösen Romantik, sondern folgte machtpolitischen Interessen und wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten.96 Deshalb lehnte Haller auch ausdrücklich die seit Heinrich von Sybel unter deutschen Historikern verbreitete Auffassung ab, die Italienpolitik der deutschen Kaiser sei ein verhängnisvoller Fehler gewesen, weil darüber das deutsche Kernland vernachlässigt worden sei.97 Von den Kaisern des Mittelalters eine »nationale« Politik zu verlangen, sei ohnehin ein Anachronismus, aber auch davon abgesehen habe die Sicherung der italienischen Handelsrouten eindeutig deutschen Interessen entsprochen. Daher, so Haller, sei die »Unterwerfung Italiens, die Gründung des deutsch-römischen Reiches […] eine politische Tat, die bis auf diesen Tag die glänzendste geblieben ist, die der deutschen Nation glückte.«98 Mit Friedrich II.  – ein »Fremder in dem Lande seiner Vorfahren«  – allerdings, der eine Fortsetzung der Reichspolitik durch Otto IV. verhinderte, sei der Haller, Epochen 1923, S. 12–28. Vgl. dazu Kapitel VII.1. Haller, Epochen 1923, S. 30. Ebd., S. 40. Vgl. dazu auch Haller, Von den Karolingern zu den Staufern; vgl. Haller, Das altdeutsche Kaisertum. 96 Vgl. Haller, Epochen 1923, S. 40–53. 97 Zur sogenannten Sybel-Ficker-Kontroverse vgl. Brechenmacher, Wie viel Gegenwart verträgt historisches Urteilen. Zur Einordnung von Hallers Position in die Forschungsdiskussion seiner Zeit vgl. Schneider, Neuere Anschauungen. 98 Haller, Epochen 1923, S. 53. 92 93 94 95

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politische Erfolg wieder zunichte gemacht worden.99 Haller brachte auch in dieser Hinsicht religiöser »Schwärmerei« keine Sympathie entgegen und hielt auch nichts davon, in Friedrich II. den Ausdruck des »Geheimen Deutschlands«100 zu sehen, sondern beurteilte den letzten Stauferkaiser nüchtern nach dessen­ politischem Ertrag für die deutsche Geschichte  – und dieser fiel aus Hallers Sicht ausgesprochen negativ aus. Schuld am Untergang des altdeutschen Kaisertums sei aber nicht allein Friedrich II. gewesen, sondern auch die deutschen Fürsten, die einen gehörigen Teil der Verantwortung trügen: »Wir wissen also nun, woran das deutsche Kaisertum zugrunde gegangen ist: an der Uneinigkeit, der Selbstsucht, der Kurzsichtigkeit der deutschen Fürsten. Wer kann sich darüber täuschen, daß hier Eigenschaften verhängnisvoll hervortreten, die uns auf den Blättern der deutschen Geschichte immer wieder begegnen: der Mangel an Sinn für das Ganze und Gemeinsame, die Bevorzugung des Besonderen und Eigenen, die Schwäche des politischen Instinktes! Diese Nationalfehler sind schuld daran, daß Deutschland seine beherrschende Stellung im Abendland um die Wende des 12. zum 13. Jahrhundert verspielt hat.«101

Aus diesen Sätzen spricht überdeutlich das Gegenwartsinteresse Hallers, der seine zu Beginn gestellte Leitfrage, »wie wir wurden, was wir sind«102, so be­ antworten wollte, dass dadurch eine ganz konkrete politische Selbstvergewisserung möglich würde. Auf die »Nationalfehler« wies Haller besonders vehement hin, weil er hoffte, damit einen Lernprozess in Gang zu setzen, der solche »Fehler« künftig vermeiden helfen würde. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass Haller immer wieder aktualisierende Bezüge oder Formulierungen in die historische Darstellung einbaute. So erklärte er beispielsweise, England und Frankreich seien im Spätmittelalter Deutschland deshalb überlegen gewesen, weil sie geschlossene Staatsgebilde gehabt hätten: »sie besaßen die volle Staatseinheit, die es erlaubte, das Gewicht der ganzen Nation auf einmal und dauernd, nicht nur für ein paar heiße Augustwochen, in die Waagschale des Schicksals zu werfen.«103 Man erkennt an solchen Sätzen übrigens auch, dass es zwar stimmen mag, dass das in den »Epochen« entworfene Geschichtsbild 99 Ebd., S. 76–81, Zitat S. 81. 100 Vgl. dazu vor allem das im Umfeld des Kreises um den Dichter Stefan George entstandene Buch über Kaiser Friedrich II.: Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite. An der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um dieses Buch (vgl. dazu vor allem Wolf,­ Stupor mundi) beteiligte Haller sich allerdings nicht. Der Historiker Alexander Car­tellieri glaubte sogar, Hallers Veröffentlichungen zum »altdeutschen Kaisertum« gemeinsam mit dem Kantorowicz-Buch als Anzeichen für ein »Erwachen des Kaisergedankens« in der deutschen Wissenschaft Ende der 1920er Jahre nehmen zu können (Tagebuch­eintrag vom 27. Januar 1929, abgedruckt in: Steinbach/Dathe, Alexander Cartellieri, S. 595). Zum­ Topos des »Geheimen Deutschland« vgl. Kraus, Das Geheime Deutschland. 101 Haller, Epochen 1923, S. 87. 102 Ebd., S. 9. 103 Ebd., S. 94 f.

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schon vor 1914 in seinen Grundzügen für Haller feststand, dass er die Darstellung vor dem Hintergrund der Kriegsniederlage aber doch noch einmal gründlich überarbeitete.104 Die Zeit von 1250 bis 1500  – Hallers wissenschaftliches Kernkompetenzgebiet – deutete er vor diesem Hintergrund einerseits als Zeit des Niedergangs, andererseits aber als für die historische Bildung der Gegenwart besonders wichtige Periode. Denn hier, so Haller, beginne eigentlich die Neuzeit, zumindest insofern, als das späte Mittelalter noch unmittelbar auf die Gegenwart wirke. Zum einen stammten nämlich aus dieser Epoche die meisten noch erhaltenen älteren Sachüberreste, zum anderen liege hier der Anfang des deutschen­ »Föderalismus«: Während der Partikularismus in der Zeit davor seine Wurzel in der »Stammesart« gehabt habe, sei er nun »dynastisch und staatlich« geworden.105 Damit hänge die Unterentwickeltheit des deutschen nationalen Selbstbewusstseins ebenso zusammen wie der nur auf die eigenen territorialen Grenzen beschränkte politische Horizont der deutschen Landesfürsten.106 Die vor allem von liberaler Seite aufgestellte Behauptung, in dieser historischen Situation seien es die Städte gewesen, die in ihrer freiwilligen Unterordnung unter den Kaiser Träger der Einheitsidee gewesen seien, lehnte Haller als grotesk ab: In Wirklichkeit habe sich hinter der Maske des städtisch-bürgerlichen Patriotismus ein »noch krasserer Partikularismus« verborgen, habe das Bürgertum den Kaiser lediglich als Puppe im Kampf gegen den Adel gebraucht – einem Kampf, der in Deutschland anders als in den anderen europäischen Großstaaten nicht zugunsten einer der beiden Parteien entschieden worden sei, was ausgesprochen negative Folgen gehabt habe.107 Als einzige positive Ausnahme im allgemeinen Niedergang des Spätmittelalters machte Haller die »deutsche Kolonisation an der Ostsee« aus, die er entsprechend der in seiner Generation und besonders bei seinen deutschbaltischen Landsleuten allgemein verbreiteten »Kulturträgertheorie« als deutsche »Zivilisierung seiner östlichen Nachbarn« interpretierte.108 Es handle sich dabei, so Haller, um »die größte Tat, die das deutsche Volk in allen Jahrhunderten vollbracht hat, eine Tat, die allein genügen würde, ihm seinen Platz unter den führenden Kulturvölkern zu sichern.«109 Aber auch dies sei nicht das Verdienst des Reiches gewesen, sondern der mehr oder weniger privaten Organisationen der Hanse und 104 Vgl. ebd., Vorwort (unpaginiert): »Man könnte argwöhnen, ich hätte mich in meiner­ Ansicht von der deutschen Vergangenheit durch den Augenblick bestimmen lassen. Das ist nicht der Fall. Das Bild, das man hier findet, habe ich in allen wesentlichen Zügen meinen Zuhörern seit mehr als fünfzehn Jahren zu zeigen gesucht. Nur der Schluß freilich klang früher anders, als auch ich die zuversichtliche Auffassung teilte, daß die Nacht für immer verscheucht und die Zukunft unser sei.« 105 Ebd., S. 108–113, Zitate S. 113. 106 Vgl. ebd., S. 113–120. 107 Ebd., S. 121–129, Zitat S. 123. 108 Ebd., S. 132–146, Zitate S. 142 und S. 144. Zur »Kulturträgertheorie« vgl. Kapitel II.1. 109 Haller, Epochen 1923, S. 142.

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des Deutschen Ordens. Davon abgesehen sei aber der Niedergang Deutschlands bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gerade auch in der Außenpolitik erkennbar, wo das Problem der »doppelten Front« so akut geworden sei, dass eine vollständige Vernichtung Deutschlands möglich erschien. Dafür mitverantwortlich sei die Tatsache, dass Kaiser Sigismund der letzte gewesen sei, der überhaupt noch Reichspolitik betrieben habe, während die Habsburger nach ihm nur noch im Partikularinteresse ihres eigenen Hauses gehandelt hätten.110 Deren Heiratspolitik, vor allem die burgundische Heirat Maximilians I. 1477 habe nämlich erst den deutsch-französischen Gegensatz heraufbeschworen, der in seinem historischen Ursprung ein österreichisch-französischer gewesen sei. Karl V. habe diesen­ Gegensatz dann verschärft und auf das gesamte Reich übertragen.111 Auch sonst, so Haller, sei die Kaiserwahl von 1519 ein Unglücksdatum der deutschen Geschichte, da Deutschland für Karl V. nur ein »Nebenland« gewesen sei, das er als bloße Ressource für seine internationalen Interessen genutzt habe.112 Dabei habe sich Deutschland zu Beginn des 16. Jahrhunderts wieder im Aufschwung befunden und sogar eine Blüte des »nationalen Selbstbewußtseins« erlebt.113 Diese Blüte erkläre auch die weit verbreitete romfeindliche Stimmung in Deutschland, die umso heftiger gewesen sei, als Deutschlands fehlende staatliche Einheit die Bedingung für römische Bevormundung gewesen sei.114 Diese Konstellation  – nationales Selbstbewusstsein, Romfeindschaft, aber fremder Kaiser – erkläre hinreichend die Erfolge wie die Rückschläge der von Martin Luther angestoßenen Reformation. Haller kritisierte Luther wegen seines fehlenden politischen Geschicks  – vor allem die Weigerung vor dem Wormser Reichstag 1521, sich dem Beschluss eines allgemeinen Konzils zu unterwerfen, sei ein verhängnisvoller Fehler gewesen –, wie er überhaupt in der Reformation eine zusätzliche Belastung nicht nur der nationalen Einheit, sondern auch des politischen Sinns der Deutschen sah: »Wer den politischen Charakter der Deutschen des 16.  Jahrhunderts  – und leider nicht nur des sechzehnten!  – kennenlernen will, der studiere die Geschichte des Schmalkaldischen Bundes! Ererbte Eigenschaften erscheinen hier gesteigert durch das neue Moment der freien individuellen Überzeugung in Glaubenssachen. Seit man es gelernt hat, in den letzten und wichtigsten Fragen nur das Wort Gottes und das eigene Gewissen zu hören, war die Neigung, sich anderen unterzuordnen, um gemeinsamer Ziele willen besondere Wünsche hintanzusetzen, wenn sie je bestanden hätte, völlig gewichen. Ein jeder kannte und suchte nur die eigene Sicherheit, den eigenen Vorteil; was aus den andern wurde, war gleichgültig.«115 110 Vgl. ebd., S. 156–163. 111 Vgl. ebd., S.  164–172. Zu Hallers Deutung der deutsch-französischen Geschichte vgl.­ Kapitel VII.5. 112 Haller, Epochen 1923, S. 172–176, Zitat S. 175. 113 Ebd., S. 184. Haller gab allerdings zu, dass das Selbstbewusstsein mitunter »zur lächerlichen Selbstvergötterung« tendierte (S. 185). 114 Vgl. ebd., S. 185–191. 115 Ebd., S. 202 f.

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Vor dem Hintergrund des konsequent politischen und an der nationalen Einheit orientierten Blicks Hallers wäre es wenig verwunderlich gewesen, wenn er die Reformation aufgrund der durch sie ausgelösten konfessionellen Spaltung im Ganzen negativ beurteilt hätte. Stattdessen fiel Hallers Urteil aber ambivalent aus: Zum einen habe nicht etwa Luther das Reich gespalten, sondern die bereits mehr oder weniger bestehende politische Spaltung habe die religiöse erst ermöglicht. Zum anderen habe die Reformation ja nicht nur die Katastrophe der Glaubensspaltung gebracht, sondern auch »dem deutschen Volksgeist eine Tiefe und einen inneren Reichtum gegeben, den andere Völker nicht kennen.«116 Ganz im Einklang weniger mit völkischen Autoren, sondern eher mit einem großen Teil der liberalen protestantischen Theologie des 19. Jahr­hunderts interpretierte Haller die Reformation zudem als eine notwendige »Germanisierung des Christentums«117: »Es kann also wohl nicht anders sein, als daß für die eigentümliche Art des deutschen Geistes die protestantische Religionsform die geeignetere, die passendere ist, um seine Kräfte zu wecken und zu entwickeln und ihn zum Höchsten zu befähigen. Sieht man die Dinge so an, so erkennt man wohl, wie notwendig es in einem noch­ höheren Sinne war, daß ein großer Teil  der deutschen Nation sich von Rom losriß und seinen Weg ins Jenseits auf eigene Hand suchte. Es war notwendig, und es war ein Gewinn – trotz allem.«118

Während es aus Hallers Sicht im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges zweimal – bei der Schlacht am Weißen Berg und beim Kriegseintritt Gustav Adolfs – so ausgesehen hatte, als könnte sich die protestantische Seite durchsetzen und so vielleicht die Einheit gewaltsam wiederherstellen, so hielt er das Ende für umso niederschmetternder: Die Ausweitung des Krieges habe aus dem nationalen 116 Ebd., S. 209. 117 Die Reformation wurde von so unterschiedlichen evangelischen Theologen wie Friedrich Schleiermacher und Reinhold Seeberg unisono im Sinne einer »Germanisierung des Christentums« gedeutet, während völkische Autoren wie Arthur Bonus in einer solchen »Germanisierung« vielmehr eine noch zu leistende Aufgabe sahen: vgl. Schleiermacher, Die christliche Sitte, S. 139; vgl. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte IV/2, S. 935; vgl. Bonus, S. 2. Ausführlich dazu: Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II., S. 144–163. Im 1934 erschienenen ersten Band seines »Papsttums« hielt Haller diese These nicht mehr uneingeschränkt aufrecht; jedenfalls deutete er stattdessen nun die Christianisierung der Germanen, insbesondere die von England angestoßene Mission und ihren Einfluss auch auf die Franken im 7. und 8. Jahrhundert als die eigentliche »Germanisierung des ­Christentums« und wendete diese Formel explizit gegen Völkische und gegen den liberalen Protestantismus. Vgl. dazu Kapitel VIII.3. 118 Haller, Epochen 1923, S.  210 f. In der für die Ausgabe von 1927 überarbeiteten Fassung fügte Haller hier noch den Satz ein: »Der deutsche Gedanke aber und das deutsche Gewissen sind von Natur protestantisch.« (Haller, Epochen 1927, S. 211.) Dass Haller sich mit dieser Deutung der Reformation ganz in einer protestantischen Traditionslinie befand und damit zugleich in Gegensatz zur katholisch-großdeutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhundert, die zu einer negativen, den destruktiven und revolutionären Charakter der Reformation betonenden Beurteilung neigte, liegt auf der Hand. Vgl. dazu Brechen­ macher, Großdeutsche Geschichtsschreibung, S. 209–239.

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einen internationalen Konflikt gemacht, und der Westfälische Friede 1648 sei in seiner Weise als Vollendung des deutschen Föderalismus zu verstehen und sei jedenfalls »der Totenschein des deutschen Reiches.«119 Damit habe man den Tiefpunkt der deutschen Geschichte erreicht, da 1648 sowohl die konfessionelle als auch die politische Einheit dauerhaft unmöglich gemacht habe und stattdessen nun der landesfürstliche Absolutismus auf den Plan getreten sei.120 Außerdem sei Deutschland 1648 zum »Schachbrett« geworden, »auf dem die Großmächte ihre Partien spielten.«121 An erster Stelle sei hier Frankreich zu nennen, dem unter Ludwig XIV. sogar die Annexion des Elsass gelungen sei. Die endgültige Aufteilung der Reste Deutschlands unter die Nachbarn sei damit in greifbare Nähe gerückt worden, aber: »Es ist in Wirklichkeit ganz anders gekommen. Deutschland hat seine Vergangenheit eines Tages vollständig liquidiert, alle alten Überlieferungen über Bord geworfen und in bewußtem Bruch mit ihnen, im schnurgeraden Gegensatz zu dem Hergebrachten und Bestehenden, den Weg zur staatlichen Einheit und zur Großmacht gefunden. Wenn das geschehen sollte, bedurfte es allerdings einer gründlichen Umkehr. Eine konservative Politik, die das Bestehende im Staatsleben zu erhalten und zu entwickeln suchte und an den Grundlagen des geschichtlichen Rechts festhielt, konnte hier, wie die Dinge lagen, nur zur Auflösung und zum Untergang der Nation führen. Sollte das vermieden werden, so mußte eine Revolution erfolgen: das Bestehende mußte zerstört, das Reich vollständig aufgelöst und auf seinen Trümmern und aus ihnen etwas Neues geschaffen werden. Das ist geschehen, und daß es geschah, war das Werk des preußischen Staates.«122

Damit begann Haller seine Version vom »deutschen Beruf« Preußens zu erzählen, mit der er sich im Prinzip in der Tradition der kleindeutschen »borussischen« Geschichtsschreibung bewegte, ohne allerdings gegen die historischen Fakten den preußischen Herrschern besondere »nationale« Motive zuzuschreiben.123 Haller wies stattdessen einfach darauf hin, dass die außenpolitischen 119 120 121 122 123

Haller, Epochen 1923, S. 223–239, Zitat S. 234. Vgl. ebd., S. 240–243. Ebd., S. 256. Ebd., S. 259. Das unterscheidet Haller von den radikalen Vertretern der These vom »deutschen Beruf« Preußens. Das Beispiel des Historikers Erich Marcks, der vor 1918 eine der Hallerschen Darstellung nicht unähnliche Auffassung vertrat, nach 1918 aber geradezu teleologisch von der Bestimmung Preußens zur nationalen Einheit sprach, legt außerdem die Vermutung nahe, dass in Gegenreaktion zu der massiven politischen Kritik an Preußen zu Beginn der Weimarer Republik eine Radikalisierung der »borussischen« These stattfand. Zu Erich Marcks vgl. Knorring, Erich Marcks und sein Bild der preußischen Geschichte, bes. S.  111–116. Auch bei Haller ist letztlich eine solche Radikalisierung zu konstatieren; aber da er die »borussische« Schule vor 1914 mehr oder weniger ablehnte (vgl. dazu Kapitel IV.3.), bestand seine Radikalisierung darin, nun eine gemäßigte Form der These vom »deutschen Beruf« Preußens zu vertreten. In generalisierenden Darstellungen wie Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, hier bes. S. 45, ist für derartige Differenzierungen natürlich kein Platz.

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Interessen des preußischen Staates im 18. und 19. Jahrhundert jeweils mit den Interessen der deutschen Nation zusammengefallen seien, dass also die preußischen Herrscher bloß ihrer – wenn man so will – partikularistischen Staatsräson folgen mussten, um ihren »deutschen Beruf« zu erfüllen. Das unterscheide Preußen von dem Vielvölkerstaat Österreich, dessen Interessen ganz außerhalb des deutschen Kerngebiets gelegen hätten.124 Und auch wegen seiner inneren Ordnung sei der »Militärstaat« Preußen ein Vorreiter der nationalen Einheit geworden, da hier ein politischer Patriotismus auftrat, den man seit der griechischen und römischen Antike nicht mehr gekannt habe.125 Diese für einen kleindeutschen Nationalisten doch relativ nüchterne Einschätzung  –  Preußen sozusagen als natürliches Mittel zum Zweck der nationalen Einheit – erklärt sich wohl auch aus Hallers grundsätzlich ambivalenter Haltung gegenüber Preußen, das er einerseits verabscheute, andererseits bewunderte.126 Zur Illustration des gleichsam natürlichen und unbeabsichtigten »deutschen Berufes« Preußens wies Haller darauf hin, dass Preußen erstens aufgrund seiner westlichen Provinzen ein Interesse gehabt habe, Deutschland gegen den Einfluss Frankreichs zu schützen, dass es zweitens aufgrund seiner vom Kernland abgetrennten östlichen Provinzen darauf habe dringen müssen, im Osten den Deutschen »verlorenes Gebiet« zurückzuerobern, und dass schließlich wiederum aufgrund der westlichen Provinzen die Schaffung eines einheitlichen deutschen Wirtschaftsraumes gerade für Preußen geboten war.127 Notwendige Bedingung für die Vorreiterrolle Preußens auf dem Weg zur deutschen Einheit sei aber die Sicherung der durch das »Werk des Genius« Friedrich dem Großen hergestellten Großmachtposition gewesen, und daran seien dessen »Epigonen« gescheitert.128 Zugleich habe die Französische Revolution die alten expansiven Ziele Frankreichs fortgesetzt und dabei die strukturelle Schwäche Deutschlands genutzt. Die Katastrophe von 1807 sei insofern lediglich logische Konsequenz aus sechshundert Jahren deutscher Geschichte.129 124 Vgl. Haller, Epochen 1923, S. 265–268. 125 Ebd., S. 268–270, Zitat S. 268. 126 Vgl. dazu Kapitel III; vgl. außerdem Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 13. Juni 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1602, S. 2321: »auch ein militärischer Sieg, selbst der denkbar vollständigste hätte uns nichts genützt, wir hätten nichts damit anzufangen gewußt, so heruntergekommen wie wir waren – was sich freilich erst seit 1918 ganz gezeigt hat. Mir geht dabei ein Messer durch das Herz; denn an diesem deutschen Wesen, dessen reinste Ausprägung das Altpreußentum war, habe ich gehangen mit aller Liebe, Begeisterung, Verehrung, deren ich fähig bin. Ich weiß, daß Sie darüber stutzen werden: ich, der Fremde, der nie Soldat war, schwärme für etwas, das meinem eigenen Sein und Streben doch so entgegengesetzt sein muß.« Seine Vorliebe für den »banausischsten Typus, den das deutsche Volk aufzuweisen hat«, erklärte Haller damit, dass Preußens Militarismus für Deutschland notwendig gewesen sei, und dass Preußen sich auch in Bezug auf die »Geistesbildung« einige Verdienste erworben habe. 127 Vgl. Haller, Epochen 1923, S. 265–268, S. 273–275 und S. 331 f. 128 Ebd., S. 275–282, Zitate S. 275. 129 Vgl. ebd., S. 282–293.

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Zum Ende der deutschen Nation sei es aber auch diesmal nicht gekommen, da gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine deutsche Geistesbewegung unter den Gebildeten hervorgetreten sei, die sich unter dem Eindruck der napoleonischen Fremdherrschaft zur Nationalbewegung weiterentwickelt habe. Deutschland habe zu dieser Zeit Frankreich als geistig-kulturelle Vormacht Europas abgelöst, wobei die frühen Protagonisten der »Deutschen Bewegung«130 von der Vorstellung durchdrungen gewesen seien, das deutsche sei zugleich das »wahre Weltvolk« und Deutschland sei der »eigentliche Träger aller Menschheitsideale.«131 Von dieser Bewegung sei der Widerstand gegen Napoleon ausgegangen, und Preußen habe erst nach einigem Zögern erkannt, dass es sich zur Speerspitze der Bewegung machen musste: »Von unten ist die Bewegung ausgegangen, mit Mühe nur hat sie die Regierung fortgerissen.«132 Einen unmittelbaren nationalpolitischen Ertrag habe 1813  – die »Goldene Zahl der preußischen Geschichte«  – aber nicht erbracht, wofür die »innere­ Uneinigkeit Deutschlands selbst« ebenso verantwortlich gewesen sei wie die Tatsache, dass man nur im Verbund mit den anderen Großmächten Europas Napoleon habe schlagen können.133 Die Bestimmungen des Wiener Kongresses 1815 lägen daher in der traurigen Kontinuität deutscher Geschichte, indem sie die Deutschen  – wie die Italiener  – zur »Nation zweiter Klasse« gemacht hätten.134 Im Dualismus zwischen Preußen und Österreich hätten sich zudem die Gewichte zugunsten Österreichs verschoben, das nach wie vor keine eigentlich deutschen Interessen vertrat, während durch Preußens Annexion nur eines Teils von Posen und zugleich des Rheinlandes das deutsche Problem der 130 Zur »Deutschen Bewegung« vgl. Nohl, Die Deutsche Bewegung, S.  78–86. Nohl nahm­ damit eine Anregung seines Lehrers Wilhelm Dilthey auf. Der hatte in seiner Basler­ Antrittsvorlesung schon 1867 die Einheit der deutschen geistigen Bewegung der letzten Jahrhundertwende postuliert: »Aus einer Reihe konstanter geschichtlicher Bewegungen entsprang in Deutschland im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts eine geistige Bewegung, in einem geschlossenen und kontinuierlichen Gange ablaufend, von Lessing bis zu dem Tode Schleiermachers und Hegels ein Ganzes. Und zwar lag die stetig fortwirkende Macht im Verlauf dieser Bewegung in dem geschichtlich begründeten Drang, eine Lebens- und Weltansicht zu begründen, in welcher der deutsche Geist seine Befriedigung finde.« (Dilthey, Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland S.  13.) Aus­f ührlicher dazu: Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II., S. 145–148. 131 Haller, Epochen 1923, S. 294–306, Zitate S. 306. 132 Ebd., S. 313. Haller vertrat in dieser Frage mehr oder weniger die liberalnationale Deutung der Befreiungskriege, die sich von der konservativen – nach welcher die Herrscher und ihre Staatsmänner den Krieg »vorbereitet, gegründet, geschaffen« (Schlesier, Kleinere Schriften, S. 39) hätten und das Volk lediglich gefolgt sei – ebenso unterschied wie von einer während des Wilhelminismus entstandenen Synthese, die besonders prominent von Friedrich Meinecke vertreten wurde und die den Anteil von Volk und Staat an den Befreiungskriegen gleichermaßen im Sinne einer kongenialen Wechselwirkung hervorhob (Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung, bes. S.  2). Ausführlich dazu: Hasselhorn, Der Mythos des Freiwilligen. 133 Haller, Epochen 1923, S. 315–317. 134 Ebd., S. 321–324, Zitat S. 324.

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»doppelten Front« nun in jeder Hinsicht auch ein preußisches Problem geworden sei. Diese Interessenkonvergenz sei so offenkundig gewesen, dass der österreichisch-preußische Dualismus sich dadurch sogar verschärft habe, indem er nämlich auch die süddeutschen Staaten involvierte, die ihre Partikularsouveränität von Preußen bedroht sahen.135 Dass Preußen seinen »deutschen Beruf« in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts vernachlässigt habe, ja dass es nicht einmal die Gelegenheit nutzte, welche die aus dem Wunsch der Jugend nach nationaler Einheit hervorgegangene ­Revolution von 1848 geboten habe, sei die Schuld des hoffnungslos in der Vergangenheit lebenden preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. gewesen. Dessen Weigerung, zum »Führer der Nation« zu werden, habe dann auch das Schicksal der Frankfurter Nationalversammlung besiegelt, in der zwar unstreitig die »besten Köpfe der Nation« gesessen hätten, deren politischen Vorstellungen man aber den Vorwurf der »Kindlichkeit« nicht ersparen könne.136 Das Scheitern der Revolution schien dann zunächst auch das endgültige Scheitern einer deutschen Einheit zu bedeuten: »Die Fürsten wollten sie nicht, und die Nation konnte sie nicht schaffen.«137 An dieser Stelle nun wird deutlich, warum Haller trotz aller Kritik an Bismarck138 doch zeitlebens dessen Verehrer blieb: In einer politisch völlig verfahrenen Lage sei es allein das Genie Bismarck gewesen, der den preußisch-österreichischen Dualismus zugunsten Preußens entschieden und unter Ausschaltung Frankreichs und mit Duldung der anderen europäischen Mächte die deutsche Einheit geschaffen habe. Diese Leistung sei noch umso höher zu bewerten, als Bismarck dies letztlich gegen den Willen der Mehrheit der Deutschen durchgesetzt habe: »Die Nation hat ihren Erlöser nicht erkannt; wäre es auf sie angekommen, man hätte ihn ans Kreuz geschlagen und verbrannt.«139 Es ist in diesem Zusammenhang übrigens sehr aufschlussreich, dass Hallers Bewunderung für Bismarcks politische Fähigkeiten zwar ein Kontinuum in seiner Weltanschauung bildete, dass aber die konkreten Inhalte, für die er Bismarck bewunderte, sich ändern konnten: Der »liberale« Haller vor 1914 lobte vornehmlich Bismarcks realistischen Politikstil, während der »nationalistische« Haller nach 1918 in Bismarck zuerst den Stifter der nationalen Einheit verehrte.140 135 136 137 138

Vgl. ebd., S. 333–335. Ebd., S. 360–368, Zitate S. 362, S. 365 und S. 368. Ebd., S. 369 f. Vgl. dazu Kapitel IV.5. 1921 schrieb er Eulenburg sogar: »Ueberhaupt, je mehr über den großen Mann bekannt wird, desto mehr verschwindet die Gloriole, in die er sich bei Lebzeiten zu hüllen verstand, und es erscheint ein geistiger Riese mit manchen recht­ häßlichen Zügen, im Grunde ein böser, unangenehmer Mensch, dessen schlechte Eigenschaften im Alter immer schärfer hervortreten.« (Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 20. Februar 1921: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 192.) 139 Haller, Epochen 1923, S. 372. 140 Zu Hallers Sicht auf Bismarck vor 1914 vgl. Kapitel V.3.

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Eine neue Epoche sei 1870/71 allerdings nicht angebrochen; vielmehr sei das Bismarcksche Reich als bloße »Episode« zu betrachten, da es – wie im Falle Friedrichs des Großen auch – den »Epigonen« nicht gelungen sei, das politisch Erreichte auf Dauer zu stellen.141 Mit diesem rein negativen Ausgang wollte­ Haller seinen Durchgang durch die deutsche Geschichte aber nicht beenden. Stattdessen schloss er mit einem Aufruf zu einem nationalen Wiederaufbau: »Wir alle wissen, daß Deutschland noch nie so tief am Boden lag wie heute. Wir möchten verzweifeln und das Todesurteil der Geschichte hinnehmen: gewogen und zu leicht befunden. Aber es ist nicht nur das innerste Gefühl, der Wille zum Leben, was sich gegen diese Einsicht sträubt, es ist auch die Kenntnis unserer Geschichte, die uns ein Recht gibt, gegen das vorschnelle Urteil des Tages Berufung einzulegen. Mehr als einmal schon hat es nach menschlichem Ermessen ausgesehen, als wäre alle­ Hoffnung umsonst. Denken wir an 1648, an 1807! Und immer wieder hat das Volk mit seiner zähen Lebenskraft und ehernen Tüchtigkeit sich erhoben und herauf­ gearbeitet zu besserem Lose. Sollte diese Kraft heute geschwunden sein? An uns ist es, zu beweisen, daß sie noch da ist, ungebrochen im innersten Mark und fähig, sich neu und stark zu entfalten. Und wenn der Fall diesmal tiefer war als je früher, so hatten wir dafür auch früher nie so hoch gestanden. Warum sollten wir nicht auch dieses Mal an eine Auferstehung glauben dürfen? Noch einmal wie vor hundert Jahren mag es sich ereignen, daß große Taten und Erlebnisse, die zunächst umsonst ge­schehen schienen, mit der Zeit erst ihre Wirkung offenbaren. Wie künftig das Gedächtnis an die Episode Bismarck und die kurze, herrliche Glanzzeit, die er heraufgeführt, zur Aussaat für die Zukunft werden, die reife Früchte trägt, wenn ihre Zeit gekommen ist. Von uns selbst wird es abhängen, daß dies geschehe. Tun wir unsere Pflicht, so haben wir auch ein Recht, an unsere Zukunft zu glauben. Die Jahrhunderte unserer Geschichte selbst sind es, die dem, der auf ihre Stimme zu lauschen weiß, die Losung zurufen: Wir heißen euch hoffen!«142

In diesen Schlussworten wird noch einmal ganz explizit das nationalerzieherische Selbstverständnis Hallers nach 1918 deutlich. Die »Epochen« waren nur Teil einer ganzen Reihe von Büchern, mit denen Haller seinen metapolitischen Kurs in die Tat umsetzte und in denen er wissenschaftlich fundierte histori141 Vgl. Haller, Epochen 1923, S. 372–374. Erst in der erweiterten Fassung der »Epochen« von 1934 führte Haller die Geschichte des Kaiserreiches näher aus und blieb dabei im Wesentlichen bei seiner schon in der »Ära Bülow« vertretenen Auffassung: Bismarck selbst habe Deutschland zwar außenpolitisch auf Kurs halten können, habe aber mit seiner kon­f rontativen Innenpolitik die innere Spaltung der Nation nicht beseitigt, sondern vertieft. Bismarcks Nachfolger schließlich hätten die außenpolitische »Einkreisung« Deutschlands nicht nur nicht verhindert, sondern durch ihre verfehlte Politik  – allen voran Bülow mit seiner überzogenen »Weltpolitik« – geradezu herbeigeführt. Wie auch in seinen Spezialveröffentlichungen über Bülow entließ Haller aber die deutsche Nation selbst nicht aus einer wesentlichen Mitverantwortung für diese Katastrophe. Die Niederlage von 1918 habe Deutschland dann schließlich wieder an denselben Punkt zurückgebracht, wo es ­bereits 1648 und 1815 gewesen sei. (Haller, Epochen 1934, S. 374–395). 142 Haller, Epochen 1923, S. 374–375.

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sche Bildungsarbeit mit konkretem politischem Anliegen verband.143 Der Erfolg der »Epochen« erklärt sich ganz wesentlich gerade aus dieser Mischung, die Haller ebenso allgemeinverständlich wie stilistisch brillant verpackte. Wohl bewies Haller auch in den »Epochen« polemisches Talent und eine Neigung zu pointiertem, manchmal eigenwilligem Urteil.144 Darüber hinaus war aber wohl für die außerordentliche Verbreitung des Buches gerade die Tatsache verantwortlich, dass Hallers Gesamtbild der deutschen Geschichte unter der Perspektive der nationalen Einheit im Wesentlichen ein konventionelles war. Die Kontinuitätslinien zu den Werken liberaler und gemäßigt konservativer Historiker des späten 19. Jahrhunderts – insbesondere natürlich der »borussischen« Schule – sind jedenfalls überdeutlich, während so gut wie keine Verbindung zu den damals als »innovativ« geltenden Ansätzen wie der völkischen oder Sozialgeschichtsschreibung erkennbar ist.145 Mit seiner ganz konsequent auf die Frage der inneren wie äußeren Einheit der deutschen Nation konzentrierten Perspektive hatte Haller zudem einen Nerv getroffen, weil diese Frage unter dem Eindruck der Bestimmungen des Versailler Vertrags nicht nur unzweifelhaft auf der Tagesordnung stand, sondern auch lagerübergreifend Einigkeit über ihre Dringlichkeit herrschte.146 Man geht daher fehl, wenn man Hallers Buch als bloße »Fibel ›zur Macht‹«147 charakterisiert, denn es war eben nicht der »Machtsstaatsgedanke«, sondern 143 In diesen Zusammenhang gehören Haller, Das altdeutsche Kaisertum; Haller, Von den Karolingern zu den Staufern; Haller, Wendepunkte der deutschen Geschichte; Haller, Von den Staufern zu den Habsburgern. Vgl. hier beispielsweise Haller, Das altdeutsche Kaisertum, S. 248: »Geblieben aber in allen Jahrhunderten und auch im Unglück der jüngsten Jahrzehnte nur gewachsen ist ihm der Wille zur Einheit. Es bildet das kostbare Erbe, das die altdeutsche Kaiserzeit der Nachwelt hinterlassen hat, jene Zeit, in der Deutschland zuerst zeigte, daß es eins sein kann und in der Einheit stark ist. Dieses Erbe zu bewahren und zu mehren, ist die Mahnung, die die große Vorzeit, recht verstanden, allen folgenden Geschlechtern zuruft. Möge sie stets begriffen und beherzigt werden!« Außerdem sind natürlich die »Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen« zu nennen; vgl. dazu Kapitel VII.5. 144 Hallers Neigung zu pointiertem Urteil kommt besonders deutlich in seinen prägnanten Herrschercharakterisierungen zum Ausdruck: Kaiser Friedrich III. schilderte er als­ »krämerhaft«, außerdem »Phlegmatisch, apathisch bis zur feigen Würdelosigkeit«; Johann Sigismund von Brandenburg und Johann Georg von Sachsen sogar als »jämmerliche Tröpfe; man wird schwer entscheiden können, welcher von beiden der dümmere war.« (Haller, Epochen 1923, S. 104 und S. 137.) 145 Vgl. zur Situation der Geschichtswissenschaft um die Jahrhundertwende Hammerstein, Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900; vgl. Kroll, Geburt der Moderne, S. 153–156. Zur »innovativen« Volksgeschichte vgl. Oberkrone, Volksgeschichte, sowie Oberkrone, Geschichte, Volk und Theorie. 146 Vgl. dazu etwa Heinemann, Die verdrängte Niederlage, S. 230–253. 147 So Werner, Das NS-Geschichtsbild, S. 71. Auch die konkreten Beispiele, die Werner aus den »Epochen« zitiert, belegen seine Behauptung nicht: Am Bürgertum kritisierte Haller nicht, dass es zu keiner machtpolitischen Betrachtung fähig gewesen sei, sondern, dass es den nationalen Gedanken zuerst gar nicht, dann nicht konsequent genug verfolgt habe; und den preußischen Militarismus pries Haller nicht als »Machtmaschine«, sondern­ wegen des daraus hervorgegangenen staatsbürgerlichen Patriotismus.

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die Idee der Nation, die seinen Kern bildete. Wenn, dann müsste man also von den »Epochen« als einer Fibel zur Nation, oder genauer: zur nationalen Einheit, sprechen. Damit soll keineswegs bestritten werden, dass Haller nach 1918 ein Anhänger des »Machtstaatsgedankens« war, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem im Umkreis der Nationalliberalen durchgesetzt hatte.148 Ein eindrucksvoller – allerdings privat geäußerter – Beleg dafür ist in einem Brief Hallers an Eulenburg vom Mai 1920 zu finden: »Alles in allem: der Staat muß egoistisch, darf nur egoistisch handeln. Ich gehe darin sogar weiter als Sie: für mich ist der Staat keine moralische Institution, sondern ein Produkt der menschlichen Natur, das wie alle Naturprodukte sein eigenes Lebensgesetz in sich trägt. Dies ist beim Staat sowenig ein moralisches Gesetz wie etwa bei einem Baum oder Korallenriff. Sie wollen leben, sich entfalten nach ihrer Art, d. h. wachsen. Selbsterhaltung und Selbstentfaltung sind denn auch die obersten Gesetze des Staates, zu denen alles andere, auch Recht und Wahrheit, sich verhalten wie Mittel zum Zweck. Der Staat ist seinem Wesen nach amoralisch […]. Insoweit bin ich persönlich ›jenseits von Gut und Böse‹. Aber – Sie warten natürlich schon auf dieses Aber: wer in der Politik sich gegen die Moral vergeht, wird sich zu überlegen haben, welcher Schaden größer ist, die Unmoral oder die Folgen der Moralität. Dafür kann es eine allgemeine Regel nicht geben.«149

Aber auch hier ging es Haller kaum um eine Verehrung der Macht »an sich«, sondern um eine – von moralischen Skrupeln weitgehend freie – Anwendung der Macht als Mittel zum Zweck, und dieser Zweck war für Haller eben die deutsche Nation. Diese war nach 1918 – und übrigens nicht auch vor 1914150 – der 148 Hier ist in erster Linie Heinrich von Treitschke zu nennen, der das Wesen das Staates als »zum Ersten Macht, zum Zweiten Macht und zum Dritten nochmals Macht« definierte: Treitschke, Die Einheitsbestrebungen zertheilter Völker, S. 152; vgl. dazu auch Crampen, Der Machtstaatsgedanke bei Heinrich von Treitschke, bes. S. 106–116. Dass der Ursprung des deutschen »Machtstaatsgedankens« allerdings bereits im Idealismus und konkret bei Hegel zu verorten ist, hat schon 1921 Hermann Heller festgestellt: Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke, bes. S. V f. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass auch und gerade bei den liberalen »48ern« nach dem Scheitern der Revolution eine Entwicklung hin zum »Machtstaatsgedanken« zu beobachten ist, nämlich im Kontext einer Hinwendung zur »Realpolitik«; vgl. dazu insbes. Rochau, Grundsätze der Realpolitik, bes. S.  25: »Das Studium der Kräfte, welche den Staat gestalten, tragen, umwandeln, ist der Ausgangspunkt aller politischen Erkenntnis, deren erster Schritt zu der Einsicht führt: daß das Gesetz der Stärke über das Staatsleben eine ähnliche Herrschaft ausübt wie das­ Gesetz der Schwere über die Körperwelt.« Im Rahmen seiner Tätigkeit als Korrespondent für die »Allgemeine Schweizer Zeitung« um die Jahrhundertwende hatte Haller den »Machtstaatsgedanken« noch ausdrücklich abgelehnt; vgl. dazu Kapitel IV.5. 149 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 13. Mai 1920: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 184. 150 Vgl. als Beispiel Johannes Haller an Franz Overbeck, 7.  April 1904: UB Basel, Overbeckiana I 137 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 124. Nach der Lektüre des vierten Bandes der »Kirchengeschichte Deutschlands« von Albert Hauck schrieb Haller

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alleinige Kern von Hallers politischer Weltanschauung. Darin  – und nicht in­ etwaigen weiteren ideologischen Übereinstimmungen  – liegt auch der Grund dafür, warum Haller Anfang der 1930er Jahre Partei für die Nationalsozialisten ergriff: Er erhoffte sich von ihnen einen Wiederaufstieg der deutschen Nation; nicht mehr und nicht weniger.151 Mit den »Epochen« änderte sich Hallers Leben noch einmal nachhaltig: Zum einen war er jetzt endgültig finanziell »saturiert«. Noch bis 1917 hatte er immer wieder über seine prekäre finanzielle Situation geklagt; damit war es nach 1923 endgültig vorbei, und einige Jahre später verwies Haller ausdrücklich auf die »Epochen« zur Erklärung seines Reichtums.152 Zum anderen begründeten vor allem die »Epochen« Hallers außerordentliche Popularität. V ­ ielleicht nicht aus Sicht der Fachkollegen  – die »Epochen« wurden in Fachorganen durchaus wahrgenommen und als mutiger Diskussionsanstoß begrüßt, aufgrund ihrer »Einseitigkeit« und ihrer »Neigung zur Modernisierung der Probleme«153 allerdings auch deutlich kritisiert –, aber in den Augen der Öffentlichkeit wurde Haller vor allem mit diesem Buch zum »ersten lebenden Historiker Deutschlands«154.

3. Schule In Bezug auf Hallers relative Zurückhaltung in tagespolitischen Fragen nach 1918 gibt es zwei große Ausnahmen: Die eine ist der von ihm mitunterzeichnete faktische Wahlaufruf für die NSDAP im Juli 1932155, die andere ist sein En­gagement in der württembergischen Bildungspolitik. Haller ging es im zweiten Fall zunächst um die Aufrechterhaltung des Bildungsniveaus, das aus seiner Sicht infolge der schon vor dem Ersten Weltkrieg mit den Schulreformen

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an Overbeck: »Hauck’s 4. Band, so groß seine Vorzüge sind, reizt mich beinahe zu einer Gegenschrift. Er geht überall von dem Axiom aus, daß der Staat, und zwar der nationale Einheitsstaat das absolut Höchste sei. Was doch sehr der Einschränkung bedürfte!« Zu Hallers politischen Auffassungen vor 1914 vgl. außerdem Kapitel IV.5. Vgl. Kapitel VIII.1. Vgl. dazu Johannes Haller an Eduard Schwartz, 8. Juli 1917: UAT 305/22 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 151. Vgl. auch Kapitel V.2. Zu Hallers durch den Verkauf der »Epochen« bedingten Reichtum vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 23. Oktober 1938: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 300. So die Rezension in den von Albert Brackmann und Fritz Hartung herausgegebenen »Jahresberichten für deutsche Geschichte«: Gerhard, Allgemeines zur deutschen Geschichte, S. 210 f. Die Formulierung stammt von Hallers Schüler Heinrich Dannenbauer: Heinrich Dannenbauer an Edmund Stengel, 20. August 1941: Hessisches Staatsarchiv Marburg 340 Stengel Karton 18 (maschinenschriftliche Abschrift). Zur großen Bekanntheit Hallers seit dem Erscheinen der »Epochen« vgl. Eschenburg, Also hören Sie mal zu, S. 150–159. Vgl. dazu Kapitel VIII.1.

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von 1900 in Gang gebrachten Bildungsexpansion in Gefahr war.156 Eine Schlüsselbedeutung hatte für Haller in diesem Zusammenhang die Gleichsetzung von humanistischem Gymnasium mit Realgymnasium und Oberrealschule im Hinblick auf die Berechtigung, das Hochschulreifezeugnis zu vergeben. ­Haller hielt diese Entscheidung in ihrer Wirkung für fatal. Daher unterzeichnete er noch während des Krieges, im Juni 1917, eine Erklärung von 66 Professoren der Universität Leipzig, die sich für den Erhalt der humanistischen Gymnasien aussprach, da nur diese eine optimale Vorbereitung auf ein geisteswissenschaftliches Studium böten – und das auch nur dann, wenn der altsprachliche Unterricht nicht angetastet würde.157 Nach 1918 nahm die Bildungsexpansion noch einmal deutlich an Fahrt auf; die Studentenzahlen stiegen nach dem Ersten Weltkrieg geradezu exponentiell an.158 Die Befürchtungen von konservativer und bildungsbürgerlicher Seite, dass dies zu einem massiven Niveauverlust führen werde, wurden durch die von den neuen Regierungen entwickelten Pläne einer Schulreform noch verstärkt. Diese Pläne zielten tatsächlich darauf ab, das bürgerliche Bildungsmonopol zu brechen und eine »nationale Einheitsschule«159 zu schaffen, die auch anderen gesellschaftlichen Schichten einen Zugang zu höherer Bildung verschaffen sollte. Die radikalen Verfechter dieses Konzepts forderten eine Einebnung des mehrgliedrigen Schulsystems zugunsten einer Gesamtschule; Moderate wie der Deutsche Lehrerverein strebten hingegen lediglich eine verlängerte und für alle gemeinsame Grundschulzeit an und ansonsten eine »organische« Gliederung der Schulformen, die für ein durchlässiges, Auf- und Abstieg jederzeit er­möglichendes System sorgen sollte.160 156 Vgl. dazu Kapitel V.3. Vgl. dazu auch Ringer, Das gesellschaftliche Profil, S. 99–104. Ringer weist darauf hin, dass das Bildungsbürgertum seit 1890 seinen Einfluss verlor; zwar nicht zugunsten einer egalitären »Verteilung« der Bildung, aber zugunsten des wirtschaftlich einflussreichen Großbürgertums. 157 Vgl. den Abdruck der Erklärung in: Schwäbische Kronik, des Schwäbischen Merkurs zweite Abteilung Nr. 281 vom 19. Juni 1917; ein Exemplar in: UAT 117/93, 1. Dort befinden sich auch weitere Unterlagen zu dieser Sache, u. a. das maschinenschriftliche Original der Tübinger Beitrittserklärung und maschinenschriftliche Exemplare der ursprünglichen Leipziger Erklärung. Schon kurz nach Hallers Übersiedlung nach Tübingen, im Oktober 1913, äußerte er sich in einem Brief an Paul Kehr äußerst negativ über das deutsche Bildungswesen: »Es ist mir je länger desto unbegreiflicher, welches Interesse die Schulverwaltungen daran haben, auch den Universitätsunterricht zu ruinieren, nachdem sie das mit den Gymnasien bereits so gut besorgt haben. In Würtemberg [!] sind die Gymnasien noch weniger als anderswo betroffen worden, dafür wird die Universität auf mancherlei Art von ihrem alten Niveau herabgepreßt.« (Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 21. Oktober 1913: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 141.) 158 Vgl. Titze, Hochschulen, S. 210. 159 Zymek, Schulen, S. 159. 160 Vgl. Sienknecht, Der Einheitsschulgedanke, S. 148–173; vgl. Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation, S. 183–190; vgl. auch Zymek, Schulen, S. 159–161.

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In dieser Situation fand 1919 in Württemberg in Vorbereitung der im Sommer 1920 veranstalteten Reichsschulkonferenz eine Landesschulkonferenz statt, in der vor allem die Einheitsschulfrage diskutiert wurde. Haller, bis März 1919 noch akademischer Rektor der Tübinger Universität, sorgte dafür, dass auch zwei Vertreter der Hochschule an der Konferenz teilnehmen durften.161 Gesendet wurden der Philosoph Konstantin Ritter und der Altphilologe Wilhelm Schmid, und besonders letzterer profilierte sich als Wortführer der Konservativen in der Debatte. Er trat vehement gegen die Reformpläne auf, warnte davor, dass schon die Reformen von 1900 zu einem Niveau­verlust geführt hätten, der bei einer weiteren Schwächung der humanistischen Gymnasien noch zunehmen würde. Es sei daher auch unbedingt notwendig, die Grundschulzeit auf vier Jahre zu begrenzen, denn mit jedem weiteren Grundschuljahr würde den Gymnasien Bildungszeit genommen. Die Kritik, hier eine politisch nicht mehr zeitgemäße »Standesschule« zu propagieren, konterte Schmid mit dem Hinweis, dass man in Bildungs­fragen nicht politischen oder sozialen, sondern didaktischen Erwägungen folgen müsse.162 Dieser Einspruch von universitärer Seite war nicht auf Württemberg beschränkt: Universitäten und höhere Schulen bildeten insgesamt ein konservatives Gegengewicht in den Schulreformdebatten der Weimarer Republik. Es war allerdings weder dieser Widerstand noch derjenige von kirchlicher Seite gegen die geplante Abschaffung der konfessionellen Schulen, der eine uneingeschränkte Durchsetzung der Reformpläne verhinderte. Dies hing viel eher mit der föderalen Tradition Deutschlands zusammen und mit den sich daraus ergebenden Kompetenzstreitigkeiten zwischen Reich und Ländern.163 Der Versuch, Bildung einheitlich auf Reichsebene politisch zu organisieren – sichtbarster, wenn auch weitgehend ergebnisloser Ausdruck war die allerdings nur durch Mitwirkung der Länder ermöglichte Reichsschulkonferenz von 1920 – scheiterte jedenfalls im Großen und Ganzen.164 Tatsächlich eingeführt wurde lediglich die für alle verpflichtende vierjährige Grundschule zur Garantierung einer »egalitäre[n] Ausgangslage«165 und außerdem eine Reform der Volksschullehrerausbildung in Richtung auf eine Professionalisie-

161 Vgl. das eigenhändige Briefkonzept von Haller an das württembergische Ministerium des Kirchen- und Schulwesens vom 15. Februar 1919 sowie die Antwort des Ministeriums vom 4. März 1919: UAT 117/93, 2. Vgl. außerdem das Sitzungsprotokoll des Großen Senats der Universität Tübingen vom 15. März 1919: UAT 47/39, S. 317. 162 Vgl. den ausführlichen Bericht »Die erste württemberg. Landesschulkonferenz«, in: Beilage zur Schwäbischen Tagwacht Nr. 125 vom 2. Juni 1919; ein Exemplar in: UAT 117/93, 2. Eine parallele Konferenz fand in Preußen statt, in der die konservativen Befürworter des mehrgliedrigen Schulsystems in der Mehrheit waren; vgl. dazu Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation, S. 265 f. 163 Vgl. dazu Führ, Zur Schulpolitik, bes. S. 120 f. 164 Vgl. Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation, S. 263–277. 165 Zymek, Schulen, S. 165.

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rung, die mittelbar zu einem weiteren Anstieg der Absolventenzahlen höherer Schulen führte.166 In Württemberg, das weder ein Vorreiter – wie Preußen – noch ein Gegner der Reformen – wie Bayern – war, scheint es im Laufe der 1920er Jahre ­immer wieder zu Konflikten zwischen der für Schulpolitik zuständigen Ministerialbehörde und der Tübinger Universität gekommen zu sein, die sich offenbar in ihren Einsprüchen gegen die Reformen ignoriert fühlte.167 Dieser schwelende Konflikt eskalierte, als Haller im Mai 1925 einen Artikel in der zum »Schwäbischen Merkur« gehörenden »Schwäbischen Kronik« unter der Überschrift »Warnungszeichen im höheren Schulwesen« veröffentlichte.168 Haller berichtete darin von den desolaten Prüfungsergebnissen der Lehramtsstudenten: mehr als ein Drittel der Kandidaten habe im letzten Durchgang die Prüfung nicht bestanden. Dies aber, so Haller, sei kein abrupter Einschnitt, sondern nur das vorläufige Ende eines kontinuierlichen Prozesses der Niveauverschlechterung unter den Studenten. Man könne dies mittlerweile auch nicht mehr mit den Kriegsfolgen erklären, da die gegenwärtigen Studenten gar keine Kriegsteilnehmer mehr seien, sondern »Revolutionsschüler«. Die Verantwortung liege daher bei den höheren Schulen – und hier weniger bei den Lehrern selbst als bei der von oben verordneten Schulpolitik  –, die sowohl in der Vermittlung der für ein Studium nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten als auch in der charakterlichen Erziehung versagten. Die Folge seien Studenten, denen elementare Vorkenntnisse fehlten, die in den Vorlesungen nicht zur Ruhe zu bringen seien und die, anstatt mitzuschreiben, auf Anregung und Unterhaltung durch den Dozenten warteten. Die Politik mit ihrer »dilettantischen Reformiererei« habe Schul­reformen durchgedrückt, deren Tendenz dahin gehe, »das positive Wissen zu unterschätzen, den Wissensstoff zu verdünnen, die geistige und die sittliche Zucht zu lockern.« Wenn man dem nicht rasch ein Ende bereite, dann würden die deutschen Universitäten schon bald ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können. In Reaktion auf diesen scharfen Angriff erschien wenige Tage später eine amtliche Stellungnahme, die darauf verwies, dass es auch vor dem Krieg – näm166 Vgl. Kroll, Kultur, Bildung und Wissenschaft, S. 16 f. Zum konfliktreichen Zustandekommen des Grundschulgesetzes vgl. Becker/Kluchert, Die Bildung der Nation, S.  190–196; zur Reform der Volksschullehrerausbildung ebd., S. 199–206. 167 Vgl. dazu etwa das Sitzungsprotokoll des Großen Senats der Universität Tübingen vom 30. Juli 1921: UAT 47/39, S. 357–360. Bei den Konflikten zwischen Ministerium und Universität ging es allerdings nicht ausschließlich um Fragen der Schulpolitik; vgl. dazu auch Kapitel VII.4. 168 Haller, Warnungszeichen im höheren Schulwesen, dort auch die folgenden Zitate. Vgl. dazu auch Paletschek, Die permanente Erfindung, S. 442–444. Haller scheint übrigens schon im Sommer 1914 mit öffentlichen Äußerungen zur Schulpolitik den Unmut des Kultministeriums hervorgerufen zu haben, das die Angelegenheit wegen des Kriegsausbruchs aber nicht weiter verfolgte: vgl. das Schreiben des Staatsministers Hermann von Habermaas an Max von Rümelin (Kanzler der Universität Tübingen), 19. August 1914: UAT 119/151.

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lich 1912 – einen exzeptionell schwachen Prüfungsjahrgang gegeben habe und dass das jetzige schlechte Abschneiden weder den höheren Schulen noch den Schulreformen angelastet werden könne, die in ihrer Gesamtheit das Niveau nicht gesenkt, sondern gehoben hätten.169 Überhaupt seien die gegenwärtigen Prüflinge in ihrer Schullaufbahn von den Reformen noch gar nicht betroffen gewesen. Hallers Diagnose eines charakterlichen Wandels der Jugend bestätigte man, wies aber darauf hin, dass dieser nicht nur negative Seiten habe. Ansonsten verwies man auf die Mitverantwortung der Universität, die immerhin vier Jahre Zeit gehabt habe, etwaigen Mängeln entgegenzuwirken. Haller sah sich daraufhin genötigt, eine Erwiderung zu veröffentlichen.170 Darin warf er der zuständigen Ministerialabteilung vor, die offenkundigen Probleme zu leugnen oder zu verharmlosen und in blindem Reformeifer einen Kurs zu verfolgen, von dem selbst seine Anhänger bereits vielfach zugegeben hätten, dass er mit einem Niveauverlust einhergehen werde. Haller wies darauf hin, dass er die allgemeine Auffassung an deutschen Universitäten repräsentiere und außerdem Zustimmung sowohl aus der Lehrer- als auch aus der Studentenschaft erhalten habe. Seit Jahren aber werde die Stimme der Universitäten in der Bildungspolitik wie an den Schulen selbst ignoriert. Danach ruhte die öffentliche Debatte für fast anderthalb Jahre. In der Zwischenzeit verfolgte Haller die Angelegenheit aber – wenn auch nichtöffentlich – weiter und versuchte vor allem, der Universität ein Mitspracherecht in schulpolitischen Entscheidungen zu sichern.171 Das von Regierungsseite in Aussicht gestellte Angebot einer Konferenz mit Vertretern der Universitäten und der höheren Schulen nutzte Haller, um seine Kollegen in Stellung zu bringen und mit diesen gemeinsam darauf zu dringen, weitere geplante Reformen wie einen neuen Stundenlehrplan so lange aufzuschieben, bis man die Universität in der Sache angehört habe.172 Zur Vorbereitung der Konferenz wurden von allen Fakultäten Meinungsäußerungen eingeholt, von denen diejenige der Philosophischen Fakultät, also Hallers, die elaborierteste war. Darin wurde in aller Deutlichkeit die Position formuliert, dass die gegenwärtige höhere Schulbildung nicht mehr als Grundlage für ein Universitätsstudium ausreiche und dass der Grund dafür die Schulreformen der letzten Jahre seien: »Wir erkennen darin die Folgen einer veränderten Richtung, die sich schon längere Zeit im Schulbetrieb fühlbar machte und seit einigen Jahren angefangen hat, praktisch wirksam zu werden, einer Richtung, die unter dem Vorgeben, modernen Theorien und Ideen zur Geltung verhelfen zu wollen, mehr oder weniger bewusst darauf ausgeht, die früher geltende Strenge der Anforderungen und des Urteils zu lockern, 169 »Die ›Warnungszeichen‹«, in: Schwäbische Kronik Nr. 241 vom 27. Mai 1925. 170 Haller, Universität und Schule. 171 Vgl. dazu Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 9. August 1925: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 209. 172 Vgl. Johannes Haller an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen, 22. Oktober 1925: UAT 117/93, 7 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 211.

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und deren ersten greifbaren Erfolg wir in einem peinlichen Rückgang der Leistungen vor uns haben. […] Unseres Erachtens ist der Augenblick gekommen, Mass­ nahmen zu erwägen, die geeignet sind, einem Zustand abzuhelfen, der bei längerer Dauer ein unaufhaltsames Sinken der wissenschaftlichen Leistungen und der gesamten G ­ eistesbildung zur Folge haben müsste; der vor allem uns in der philosophischen Fakultät der Möglichkeit berauben würde, einen brauchbaren Nachwuchs an Lehrern für die höheren Schulen auszubilden.«173

Basierend auf den Stellungnahmen der Fakultäten wurden dann »Leitsätze«­ formuliert, die zur Vorbereitung eines Beratungsgesprächs auch dem württembergischen Kultministerium zur Verfügung gestellt wurden. Darin wurde eine Mitentscheidung der Universitäten in Fragen der Schulpolitik eingefordert, da nur so sachkompetent über Hochschulreife entschieden werden könne. Nötig zur Erlangung der Hochschulreife sei aus Sicht der Universität eine angemessene geistige sowie eine zur akademischen Freiheit befähigende sittliche Schulung. In beiden Punkten gebe es gravierende Mängel, die mit gewissen »Zeitströmungen« ebenso zu tun hätten wie mit dem insgesamt schädlichen Einfluss »der neuesten Reformpädagogik«.174 Kritisiert wurde in erster Linie die Oberflächlichkeit der Bildungsziele infolge der Stärkung des kulturkundlichen zuungunsten des sprachlichen Unterrichts, außerdem die Neigung zu ­gefühlsbetontem »Erlebnisunterricht«, der als Ausdruck eines »Kultus der Schülerindividualität« nicht geeignet sei, »Knaben zu Männern zu erziehen.«175 Als Maßnahmen zur Abhilfe empfahl man eine Einordnung des höheren Schulwesens in den universitären Bildungsaufbau, einen bildungspolitischen Zusammenschluss mit Baden und Bayern, die sich relativ erfolgreich gegen die Schulreformen zur Wehr setzten, außerdem eine Beibehaltung und Stärkung des fremdsprachlichen Unterrichts mit Französisch als Pflichtfach auch an humanistischen Gymnasien, schließlich eine ständige Vertretung der Universität in der Schulbehörde.176 Die in Aussicht gestellte Konferenz fand Ende Januar 1926 mit der Teilnahme Hallers tatsächlich statt und scheint insgesamt konstruktiv verlaufen zu sein.177 Allerdings war der Staatspräsident, Wilhelm Bazille, aus Krankheitsgründen nicht anwesend. Schlimmer noch aus Hallers Sicht war aber, dass entgegen des einstimmigen Votums der Konferenz die neuen Stundenlehrpläne vom Ministerium genehmigt wurden. Bazille, als DNVP-Politiker kein reiner Anhänger der Reform, versuchte Haller mit dem Hinweis zu beruhigen, es komme nicht so 173 Zusammenstellung der Aeusserungen der Fakultäten betr. die neuen Stundenpläne für die höheren Schulen, in: UAT 117/93, 7, S. 3 f. 174 Leitsätze der Universität betr. die Aufgaben der höheren Schulen, in: UAT 117/93, 7, S. 1. 175 Ebd., S. 2 f., Zitate S. 3. 176 Vgl. ebd., S. 3. 177 Vgl. das Schreiben des Württ. Kultministeriums an das akademische Rektoramt Tübingen, 23. Dezember 1925; vgl. außerdem Johannes Haller an Wilhelm Bazille (württ. Staatspräsident), 29. März 1926; beide in: UAT 117/93, 7.

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sehr auf die Pläne selbst als vielmehr auf ihre Umsetzung an. Eine anvisierte erneute Besprechung musste aber offenbar wegen der Gesundheitslage des Staatspräsidenten mehrfach vertagt werden und stand auch im Mai 1926 noch aus.178 Haller war darüber aufgebracht, ließ sich aber noch eine ganze Weile hinhalten. Erst Ende Oktober 1926 griff er die Angelegenheit wieder auf und meldete sich erneut öffentlich zu Wort.179 Anlass war diesmal ein von der Ministerialabteilung für die höheren Schulen herausgegebenes und seit Ostern 1926 offiziell als Lehrmittel in Umlauf befindliches Geschichtsbuch.180 Haller präsentierte dieses Buch als Beweis dafür, dass die Schulbehörde selbst für die Verschlechterung der Schulbildung mitverantwortlich sei. Das Buch, an dem entgegen anders lautender Versprechungen seitens des Ministeriums kein Fachhistoriker mitgearbeitet habe, biete einen für die Reifeprüfungen notwendigen Wissenskanon. Dieser sei aber nicht nur höchst lückenhaft, sondern strotze auch vor falschen oder zumindest missverständlichen Angaben und zeige zudem eine Tendenz zur Anbiederung an die gegenwärtige Staatsform, die man in Bezug auf das wilhelminische Kaiserreich immer als Byzantinismus kritisiert habe. Insgesamt, in seiner Tendenz, Daten wegzulassen zugunsten allgemeiner Entwicklungsbezeichnungen, fördere das Buch Ungenauigkeit und Unklarheit und beraube die Geschichte der notwendigen Anschaulichkeit. Die Philosophische Fakultät der Universität Tübingen habe sich deshalb dazu entschlossen, »die Reifezeugnisse der württembergischen höheren Schulen nicht mehr unbedingt anzuerkennen, d. h. die Zulassung zu den Seminarübungen vom Bestehen einer besonderen Prüfung abhängig zu machen.«181 Diesmal veröffentlichte das Ministerium bzw. die Schulbehörde gleich zwei Entgegnungen. Die erste hatte amtlichen Charakter und war im Grunde eine Gegendarstellung:182 Das Ministerium habe der Universität zwar zugesichert, dass man sie vor der Beschließung neuer Lehrpläne konsultiere, das gelte aber nicht für die Einführung neuer Lehr- und Lernmittel. Haller, den man bereits vor drei Monaten seitens des Ministeriums vergeblich zur schulpolitischen Mitarbeit eingeladen habe, habe außerdem den Zweck des kritisierten Geschichtsbuches gänzlich missverstanden, das kein Lehrbuch, sondern ein »Hilfmittel«, nämlich eine Art Leitfaden für Lehrer wie Schüler sei. Auch die Behauptung einer Nichthinzuziehung von Fachleuten sei falsch; das Buch sei »unter Mit­ wirkung praktisch bewährter Geschichtslehrer an den höheren Schulen von dem Fachberichterstatter der Ministerialabteilung ausgearbeitet worden.« Die Ankündigung Hallers, Reifezeugnisse nicht mehr vorbehaltlos anzuerkennen, 178 Vgl. dazu Wilhelm Bazille an Johannes Haller, 3. Februar 1926; vgl. Johannes Haller an Wilhelm Bazille, 26. März 1926; vgl. Wilhelm Bazille an Johannes Haller, 29. März 1926 sowie eine darauf befindliche Notiz vom 2. Mai 1926; alle in: UAT 117/93, 7. 179 Haller, Der Geschichtsunterricht an den höheren Schulen. 180 Ministerialabteilung, Auswahl. 181 Haller, Der Geschichtsunterricht an den höheren Schulen. 182 »Der Geschichtsunterricht an den höheren Schulen«, in: Schwäbische Kronik Nr. 518 vom 5. November 1926, dort auch die folgenden Zitate.

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sei besonders bedenklich, da eine solche Anerkennung allein dem Ministerium obliege und Hallers Aufforderung als »Anreiz zur Nichtbeachtung amtlicher Anordnungen« verstanden werden könne. Die zweite Entgegnung stammte vom Verfasser des infrage stehenden Geschichtsbuches selbst, einem ehemaligen Lehrer.183 Dieser wies sämtliche Haller­ schen Unterstellungen sachlicher Fehler zurück und führte die meisten davon auf unterschiedliche Interpretationen geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen zurück. Das Buch sei zudem nicht als Lehrbuch gedacht und ersetze auch nicht den Lehrervortrag, sondern diene der Wiederholung des Stoffes. Ein großer Teil von Hallers Kritik sei schließlich damit zu erklären, dass dieser einen rein politik- und militärgeschichtlichen Ansatz vertrete, während das Ministerium von der besonderen Wichtigkeit der Wirtschafts-, Verfassungs- und Sozialgeschichte überzeugt sei. Die zwei bis drei Geschichtsstunden pro Woche müssten daher »zu Wesentlicherem und Bildenderem« genutzt werden als dem Einpauken der Regierungszahlen deutscher Kaiser. Hallers Artikel löste aber auch darüber hinaus eine breite regionale Debatte aus, in der die meisten Leserzuschriften eine vermittelnde Position einnahmen und eine gütliche Einigung zwischen Universität und Ministerium forderten.184 Manche kritisierten Haller allerdings relativ deutlich dafür, dass er den Zweck des Geschichtsbuches als bloße Gedächtnisstütze verkannt und sich zudem in einen unpassenden »Kampfeseifer« gegen ein Ministerium verrannt habe, mit dem er sich eigentlich verbünden müsse, um auf eine in beiderseitigem Interesse stehende Ausweitung des Geschichtsunterrichts insgesamt hinzuwirken. Haller entschloss sich daher, Ende November ausführlich auf die Entgegnungen zu antworten.185 Die Ratschläge zu einer gütlichen Einigung, so Haller, gingen an die falsche Adresse, wenn man sie an die Universität richte. Diese sei nämlich vom Ministerium im laufenden Jahr bereits zweimal schulpolitisch brüskiert worden, und erst vor diesem Hintergrund habe Haller sich zur »Flucht in die Öffentlichkeit« entschlossen. Die Sachkritik an dem Geschichtsbuch hielt Haller auch unter dem Eindruck der Gegendarstellungen vollumfänglich aufrecht: Gerade die Verteidigung der schiefen Auffassungen des Verfassers zeigten die Berechtigung von Hallers Befürchtung, das Buch erziehe zu Unklarheit und Ungenauigkeit. Er könne zudem nicht verstehen, wieso man ihm unterstelle, den Zweck des Buches missverstanden zu haben, da er doch ganz entsprechend der amtlichen Stellungnahme diesen darin erblickt habe, einen minimalen Wissenskanon als Grundlage für Prüfungen zu bieten. In seiner Ungenauigkeit und Lückenhaftigkeit werde das Buch nicht nur seinen Zweck verfehlen, sondern auch die allgemeine Tendenz zum Wissensverlust weiter bestärken. Haller verteidigte außerdem die Politik- gegen die Kulturgeschichte, die nicht in 183 Lenze, Der Geschichtsunterricht, dort auch die folgenden Zitate. 184 »Der Geschichtsunterricht an den höheren Schulen«, in: Schwäbische Kronik Nr. 525 vom 10. November 1926, dort auch das folgende Zitat. 185 Haller, Nochmals der Geschichtsunterricht, dort auch die folgenden Zitate.

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den Geschichtsunterricht gehöre, ohnehin nur ein bloßes Modewort sei und die Jugend zu historischem Dilettantismus ermuntere. Dagegen sei das Lernen von historischen Daten und Fakten in der Schule unabdingbar, und das nicht­ allein um der historischen Anschauung willen, sondern auch als »Gedächtnisgymnastik«, da das Gedächtnis »wie ein Muskel« arbeite und daher regelmäßig trainiert werden müsse. Eine zeitliche Ausweitung des Geschichtsunterrichts schließlich sei gar nicht unbedingt nötig: »Denn ›das wirkliche Verständnis geschichtlichen Geschehens‹ wird am sichersten erzielt nicht durch lange Reden und schlagwortreiche Betrachtungen, sondern durch eindrucksvolle Wiedergabe der Tatsachen.« Dieser Artikel wiederum führte zu neuen Angriffen auf Haller, gegen die dieser sich im »Reutlinger Generalanzeiger« zur Wehr setzen durfte – dem einzigen Presseorgan, das uneingeschränkt für Haller Stellung bezogen hatte. Es handelte sich aber nur noch um ein Rückzugsgefecht, in dem Haller darauf beharrte, dass er auch als Beamter das Recht habe, die Arbeit anderer Beamter zu kritisieren. Darüber hinaus stellte er nur noch einmal seine Intention klar und erklärte sein Engagement in der Angelegenheit für beendet: »Die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit der Ministerialabteilung zu lenken, habe ich mich erst entschlossen, nachdem ich durch 13jährige Beobachtung zu der Ueberzeugung gekommen war, daß es so nicht weiter gehen dürfe, darum fühlte ich mich verpflichtet, neuerdings an einem handgreiflichen Fall aus dem Gebiete der von mir vertretenen Wissenschaft, zu zeigen, daß die Ministerialabteilung ihrer Aufgabe nicht gewachsen ist. […] Für Besserung zu sorgen, ist Sache derer, die dazu die Macht haben. Meine Pflicht habe ich getan.«186

Tatsächlich hat sich Haller nicht mehr öffentlich in die schulpolitische ­Debatte eingemischt. Das Thema beschäftigte ihn aber durchaus weiter: 1932 setzte er sich kritisch mit den bildungspolitischen Vorstellungen der Nationalsozialisten auseinander, und noch in den 1940er Jahren verfolgte er hoffnungsvoll die Neugründung humanistischer Gymnasien.187 Auch in seinen Lebenserinnerungen hat Haller die württembergische Schulverwaltung scharf kritisiert, dabei aber nicht auf den inhaltlichen Streit über die Schulreformen hingewiesen, sondern die Behörde als veraltete Organisation charakterisiert, die sich geweigert habe, Änderungen etwa in der Prüfungsordnung zuzulassen. Aufgrund seiner hier gemachten Erfahrungen sei er erst zum »Unitarier« und Gegner des Partikularismus geworden.188 Das ist in dieser Zuspitzung auf die Schulverwaltung historisch vermutlich nicht richtig, zumal Haller den Partikularismus auch schon 186 Haller, Der Geschichtsunterricht an den höheren württ. Schulen, dort auch die folgenden Zitate. 187 Vgl. Johannes Haller an Alfred Rosenberg, 18. August 1932: BArch N 1035/9 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  246; vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 16.  August 1942: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  346. Vgl. dazu auch Kapitel VIII.2. 188 Haller, Lebenserinnerungen, S. 258–260, Zitat S. 259.

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1919 gegenüber Eulenburg als »Feind schlechthin«189 bezeichnet hatte. Besonders pikant ist aber, dass Haller hier im Nachhinein denjenigen Faktor – den deutschen Bildungsföderalismus – angriff, der wesentlich dafür verantwortlich war, dass die von Haller bekämpften Schulreformen sich eben nicht vollständig durchzusetzen vermochten.

4. Universität Der Konflikt zwischen Haller und der württembergischen Schulbehörde hatte eine – in Hallers Presseartikeln ja auch angedeutete – Vorgeschichte, die die beiderseitigen Empfindlichkeiten erklären hilft.190 Schon im Oktober 1913 hatte Haller – anscheinend aber nur in privatem Kreise und nicht gegenüber der Behörde selbst – über die württembergische Schulverwaltung geklagt, die sowohl den Gymnasial- als auch den Universitätsunterricht »ruiniere«.191 Im April 1923 beschwerte sich Haller dann direkt beim Kultminister über das Verhalten eines Oberregierungsrats Löffler in einer Prüfungsangelegenheit. Es ging dabei um einen Studenten, dessen Arbeit Haller zu begutachten hatte und die er als so schlecht einschätzte, dass er empfahl, dem Kandidaten eine Zurückziehung der Prüfungsanmeldung nahezulegen. Löffler wiederum hatte als Mitglied der Prüfungskommission dem Kandidaten das Ergebnis mitzuteilen und wies diesen offenbar darauf hin, dass diese Empfehlung von Haller stamme und die Kommission selbst die betreffende Arbeit gar nicht kenne. Haller empfand dies als Bloßstellung, zumal der Kandidat ihm anschließend in triumphierendem Ton von dem Vorfall Meldung machte und ankündigte, sich nun einfach einen neuen Gutachter zu suchen. Außerdem, so Haller in seiner Beschwerde, handele es sich um eine Pflichtverletzung, da Löffler Interna der Prüfbehörde weiter­ gegeben habe. Haller erwartete daher eine Entschuldigung und eine Klarstellung und kündigte an, bis auf weiteres keine Examensprüfungen mehr in mittelalterlicher Geschichte zu übernehmen.192 189 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 16. November 1919: UAT 305/19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 182. 190 Vgl. dazu Kapitel VII.3. 191 Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 21. Oktober 1913: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5: Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 141: »Einen Schatten warf soeben die erste Anmeldung zum Seminar: ein Jüngling im 9. Semester, der kein Latein kann, und ich bin offiziell genötigt, auch solche Männlein aufzunehmen. Es ist mir je länger desto unbegreiflicher, welches Interesse die Schulverwaltungen daran haben, auch den Universitätsunterricht zu ruinieren, nachdem sie das mit den Gymnasien bereits so gut besorgt haben. In Würtemberg [!] sind die Gymnasien noch weniger als anderswo betroffen worden, dafür wird die Universität auf mancherlei Art von ihrem alten Niveau herabgepreßt.« 192 Vgl. Rudolf Karl Friedrich Bälz (Ministerialdirektor im Württ. Ministerium des Kirchenund Schulwesens) an Max von Rümelin (Kanzler der Universität Tübingen), 5. Juni 1923; vgl. Max von Rümelin an Rudolf Karl Friedrich Bälz, 17. Juni 1923; beide in: UAT 119/26a.

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Der Streitfall wäre beinahe eskaliert, da Löffler eine in Teilen polemische Rechtfertigung und Erwiderung schrieb, von der Haller Kenntnis erhielt, der daraufhin eine extrem polemische Replik gegen Löffler verfasste. Ins Lot gebracht werden konnte die Angelegenheit nur durch das behutsame und koordinierte Vorgehen von Universitätskanzler und Kultministerium, die eine beiderseitige Rücknahme der Beleidigungen und eine gütliche Einigung erreichten.193 Die offizielle Regelung des Ministeriums bestand dann darin, die Preisgabe von Interna durch Löffler sowie die gegenseitigen Beleidigungen zu rügen, wobei diejenigen von Haller als die weitaus schwereren bezeichnet wurden. Aufgrund der Rücknahme der Beleidigung sowie der Versicherung Hallers, in Erregung gehandelt zu haben, wurde aber von einer Ordnungsstrafe abgesehen.194 Besonders interessant an dem Fall ist das Verhalten des Universitätskanzlers, der Haller gegenüber dem Ministerium zwar in Schutz nahm und auch darauf hinwies, dass man an der Universität in der ursprünglichen Streitsache auf Hallers Seite stehe, der aber zugleich mehrfach andeutete, dass die Eskalation des Streites auf das Temperament und die schwierige Persönlichkeit Hallers zurückzuführen sei.195 Haller war schon in der Anfangsphase seiner Karriere damit aufgefallen, im persönlichen Umgang mit Kollegen für Konflikte zu sorgen oder sogar verbrannte Erde zu hinterlassen.196 In Tübingen lebte er bald in­ latenter Spannung und teilweise permanenter Zerstrittenheit mit einem Teil der Professorenschaft. Direkt betraf dies kurioserweise vor allem diejenigen Kollegen, zu denen Haller anfangs freundschaftliche Beziehungen aufgebaut hatte, nämlich Adalbert Wahl und Robert Wilbrandt.197 Mit letzterem sowie mit dem Juristen Wilhelm von Blume geriet Haller aus politischen Gründen aneinander, die erst infolge des Zusammenbruchs von 1918 wirklich virulent wurden.198 Die politischen Gegensätze verschärften sich im Laufe der 1920er Jahre so weit, dass Haller Wilbrandt während einer Senatssitzung den Vorwurf machte, mit seinen 193 Vgl. Rudolf Karl Friedrich Bälz an Max von Rümelin, 11.  Juli 1923; vgl. Rudolf Karl­ Friedrich Bälz an Max von Rümelin, 28. September 1923; vgl. Rudolf Karl Friedrich Bälz an Johannes Haller, 28. September 1923; alle in: UAT 119/26a. 194 Vgl. Württ. Ministerium des Kirchen- und Schulwesens an die Ministerialabteilung für die höheren Schulen, 7. Januar 1924: UAT 119/26a. 195 Vgl. Max von Rümelin an Rudolf Karl Friedrich Bälz, 17. Juni 1923: UAT 119/26a. Beispielsweise schrieb Rümelin: »Ein anderer als Professor Haller würde freilich wohl nicht sofort mit einer Eingabe beim Herrn Kultminister vorgegangen sein.« 196 Vgl. dazu die Kapitel IV.5. und V.1. 197 Vgl. dazu Kapitel V.4. 198 Vgl. dazu Johannes Haller an Wilhelm von Blume, 13. März 1919; vgl. Wilhelm von Blume an Johannes Haller, 14. März 1919; beide in: UAT 119/26b. Vgl. dazu weiterhin das Sitzungsprotokoll des Großen Senats der Universität Tübingen vom 10. Juni 1920: UAT 47/39, S. 461 f. Vgl. außerdem das Manuskript von Hallers Tochter Adelheid »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«: UAT 305/58, Abschnitt »Kollegen«. Zu Hallers Streit mit Wahl vgl. Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 22. Januar 1933: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 251.

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öffentlichen Äußerungen die Grenze zum »Landesverrat« zu berühren.199 Anlass war eine Rede, die Wilbrandt auf dem »Republikanisch-Vaterländischen Abend« in Stuttgart gehalten hatte. Darin plädierte Wilbrandt einerseits für eine Integration von Pazifismus und Sozialismus in die deutsche »Volksgemeinschaft«, nannt aber andererseits als anzustrebendes politisches Endziel den­ Völkerbund als »Staat aller Staaten«.200 Wilbrandt stellte Haller wegen seiner Äußerung im Senat brieflich zur Rede und schrieb sich dabei vom Herzen, »was ich […] zur Kennzeichnung Ihrer Politik seit langem in mir trage.«201 Besonders verwerflich erschien ihm, dass Haller 1919 bei der Begrüßung der aus dem Krieg heimgekehrten Tübinger Studenten in öffentlicher Rede von einem »Dolchstoß« gesprochen hatte, und auch, dass Haller sich in Wilbrandts Beisein extrem abfällig über die Rote Ruhr­armee geäußert habe.202 Trotz seiner scharfen Ablehnung solcher Äußerungen erklärte sich Wilbrandt zur Versöhnung bereit, da er von der Notwendigkeit der »Volksgemeinschaft« auch über politische Gräben hinweg überzeugt sei, die eben auch Hallers »krankhaft verzerrte Vaterlandsliebe« und überhaupt »unerträgliche Denkungsart« mitzutragen habe.203 Da der Brief nicht direkt, sondern mittelbar über das Universitätsrektorat an Haller ging, antwortete dieser auch nicht Wilbrandt, sondern dem Rektor Wolfgang Stock.204 Eine offizielle Erwiderung lehnte er ab, da er nicht den Eindruck erwecken wolle, sich rechtfertigen zu müssen. Die Vorhaltungen Wilbrandts seien aus seiner Sicht gegenstandslos, und überhaupt: »Auf irgendwelche Gemeinschaft mit Leuten von der Denkweise des Hn Wilbrandt lege ich keinen Wert, ja ich müßte sie sogar entschieden ablehnen.« Wilbrandt gab sich damit offenbar nicht zufrieden und versuchte zu erreichen, dass eine Kommission den Vorwurf des Landesverrats für unzutreffend erkläre. Die Sache verlief aber wegen formaler Schwierigkeiten und der Verweigerung Hallers im Sande.205 Aufschlussreich ist die Streitsache Haller-Wilbrandt aber nicht nur, weil sie zeigt, wie weit Haller bei Konflikten mit Kollegen zu gehen bereit war, sondern auch, weil Wilbrandt einen weiteren Punkt ansprach, in dem Haller sich politisch disqualifiziert und überdies in Gegensatz zur Universität gestellt habe: sein 199 Vgl. Johannes Haller an Wolfgang Stock (Rektor der Universität Tübingen), 20. März 1925: UAT 119/26 b bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 207. 200 Robert Wilbrandt: Das »Andere Deutschland«. Ansprache gehalten auf dem RepublikanischVaterländischen Abend in Stuttgart am 4. März 1925: UAT 119/26 b (maschinenschriftliches Manuskript). 201 Robert Wilbrandt an Johannes Haller, 18. März 1925: UAT 119/26 b. 202 Zu Hallers Rede von 1919 vgl. Kapitel VI.3. 203 Letztere Zitate stammen aus Wilbrandts Rede vom 4. März 1925; in seinem Brief an ­Haller vom 18. März 1925 bezog er die entsprechende Passage ausdrücklich auf diesen (beide in: UAT 119/26 b). 204 Johannes Haller an Wolfgang Stock, 20.  März 1925: UAT 119/26  b bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 207, dort auch das folgende Zitat. 205 Vgl. den weiteren, bis zum 10. Juni 1925 reichenden Schriftverkehr in der Sache, in: UAT 119/26 b.

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Verhalten anlässlich der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau im Juni 1922.206 Am 27. Juni fand auf studentische Anregung eine universitätsöffentliche Gedenkveranstaltung statt, in der der Mord verurteilt und die republikanische Staatsform verteidigt wurde, in der aber auch davor gewarnt wurde, die Rathenaugegner aus den Reihen der DNVP einfach mit den Attentätern in einen Topf zu werfen.207 Wenige Tage nach der Veranstaltung setzte Haller das Akademische Rektorat der Universität Tübingen brieflich davon in Kenntnis, dass von studentischer Seite die Einladung zur Veranstaltung mit der Behauptung verbunden worden sei, dass die parallel liegenden regulären Vorlesungen ausfielen.208 Zur Antwort erhielt er die Auskunft, dass man vom Ausfall der Vorlesungen als Selbstverständlichkeit ausgegangen sei, da ja auch und gerade die Professoren zur Gedenkveranstaltung eingeladen worden seien.209 Wilbrandt nun warf Haller 1925 vor, dieser habe hier nicht nur der Verwunderung über mögliche studentische Eigenmächtigkeiten Ausdruck gegeben, sondern auch aus Protest gegen die Gedenkveranstaltung sein eigenes Seminar »ostentativ […] nicht« ausfallen lassen.210 In seiner Antwort auf Wilbrandts Vorwürfe bestätigte Haller dies: »Ich habe es damals für eine Schwachheit gehalten, daß die Ermordung eines politischen Parteimanns  – die ich persönlich ebenso mißbilligte wie wol alle Kollegen – von der Universität wie ein nationales Unglück behandelt wurde. Dieser Ansicht bin ich auch heute. Eine Verpflichtung, mich der unangebrachten Totenfeier anzuschließen, bestand nicht, und meine Zuhörer waren mit Ausnahme eines einzigen mit mir einverstanden.«211

Aber auch jenseits politischer Konflikte führte Hallers Verhalten an der Univer­ sität zu zahlreichen Schwierigkeiten mit Kollegen. Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass Haller dazu neigte, sich in alle möglichen, auch eigentlich fachfremden Angelegenheiten einzumischen. Das geeignete Podium dazu waren die Sitzungen des Großen Senats der Universität Tübingen, in denen Haller sich an den allermeisten Debatten beteiligte. Sie reichten von der Nichtzulassung von Ausländern zum Studium in Tübingen über die Besetzung 206 Vgl. Robert Wilbrandt an Johannes Haller, 18. März 1925: UAT 119/26 b. Zum Rathenaumord vgl. Sabrow, Der Rathenaumord. Einige Mitglieder der »Organisation Consul«, die den Mord verübte, haben den Mord im Nachhinein selbst als Fehler bezeichnet; man habe einen »Erfüllungspolitiker« beseitigen wollen und dabei Rathenaus politische Absichten völlig missverstanden. Vgl. dazu Salomon, Der Fragebogen, S. 110–112. 207 Vgl. die Zusammenstellung von Zeitungsberichten in: UAT 117/1301. Vgl dazu auch Kotowski, Die öffentliche Universität, S. 89–92. 208 Vgl. Johannes Haller an das Akademische Rektoramt der Universität Tübingen, 29. Juni 1922: UAT 117/1301. 209 Vgl. Akademisches Rektoramt der Universität Tübingen an Johannes Haller, 1. Juli 1922: UAT 117/1301. 210 Robert Wilbrandt an Johannes Haller, 18. März 1925: UAT 119/26 b. 211 Johannes Haller an Wolfgang Stock, 20.  März 1925: UAT 119/26  b bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 207.

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theologischer und historischer Lehrstühle, die Entsendung von Vertretern zu Feiern anderer Universitäten bis hin zu der Frage nach dem geeigneten Bauplatz für ein Seminargebäude.212 In diesen Fällen folgte allerdings die Senatsmehrheit den von Haller gemachten Vorschlägen. Und auch wo das nicht oder nicht eindeutig der Fall war – etwa bei der Schaffung eines universitären Ehren­ bürgertitels als Ersatz des Ehrendoktors, der Besetzung der Stelle des Bibliotheksdirektors und weiterer Extraordinariate und Lehrstühle, bei Finanzfragen sowie in Bezug auf das Beamtengesetz zum Schutze der Republik213 – muss man Haller noch kein Querulantentum unterstellen, sondern könnte ihm auch einfach besonderes Engagement für die Angelegenheiten seiner alma mater attestieren. Man mag Hallers eigentlich fachfremde Einmischung in den Streit um die Besetzung des Lehrstuhls für theoretische Physik, bei dem der Senat Hallers Antrag folgte, als einen Grenzfall einstufen.214 Überschritten wurde diese Grenze spätestens in denjenigen Fällen, in denen in den Senatssitzungen persönliche Unstimmigkeiten zwischen Haller und seinen Kollegen ausgetragen wurden, so auch – aber nicht nur – im Zuge der Konflikte mit den Professoren Blume und Wilbrandt.215 Und auch darüber hinaus gab es eine Reihe von Wortmeldungen und Anträgen Hallers, die offenbar von vielen Senatsmitgliedern als störend empfunden wurden.216 Hallers Tochter Adelheid hat zudem später berichtet, dass Haller mit der Tübinger medizinischen Fakultät verfeindet gewesen sei, seit er 1918 bei der gütlichen Regelung einer heiklen Angelegenheit geholfen habe, die ihm im Nachhinein aber als unsachgemäße Einmischung ausgelegt worden sei.217 Der Eindruck, Haller habe willkürlich oder immer nur in politisch einschlägigen Fällen im Senat das Wort ergriffen, bedarf allerdings der Korrektur bzw. Ergänzung durch den Hinweis auf den Streit um die Besetzung des Lehrstuhls für Alte Geschichte seit Dezember 1929. Haller setzte sich darin vehement für die Berufung Richard Laqueurs ein, der neben anderem auch wegen seiner jü212 Vgl. die Sitzungsprotokolle des Großen Senats der Universität Tübingen vom 10. Juli 1919, 11. Dezember 1919, 30. Juli 1921, 15. Juli 1922, 22. Dezember 1923, 5. März 1924, 2. Juli 1925 und 21. Dezember 1925: UAT 47/39, S. 338–340, 394, 560–562, 619 f., 684 f., 678 f., 721 f. und 743 f. 213 Vgl. die Sitzungsprotokolle des Großen Senats der Universität Tübingen vom 10.  Juni 1920, 13. Dezember 1920, 20. Januar 1921, 3. Februar 1921, 8. März 1921, 17. Dezember 1921, 23. Februar 1922, 15. Juli 1922, 20. Juli 1922, 8. März 1923, 23. Juni 1923, 26. Oktober 1926 und 22. Dezember 1926: UAT 47/39, S. 458 f., 507 f., 514–518, 522–524, 534, 585, 589 f., 620, 622–625, 653 f., 662 f., 737 f. und 787. 214 Vgl. das Sitzungsprotokoll des Großen Senats der Universität Tübingen vom 27. Juli 1922: UAT 47/39, S. 629–631. 215 Vgl. die Senatsprotokolle des Großen Senats der Universität Tübingen vom 11. Dezember 1919, 10. Juni 1920 und 11. Juli 1925: UAT 47/39, S. 396 f., 461 f. und 724–726. 216 Vgl. die Senatsprotokolle vom 4. November 1920, 28. Mai 1921, 16. November 1922 und 14. Dezember 1922: UAT 47/39, S. 494, 541–543 und 636–638. 217 Vgl. das Manuskript »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«, Abschnitt »Freunde«: UAT 305/58.

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dischen Abstammung von einigen Senatsmitgliedern abgelehnt wurde. Es ist nicht zuletzt Hallers entschiedener Fürsprache zu verdanken, dass Laqueur den Ruf schließlich doch erhielt.218 In vielen Fragen, darunter auch bezüglich der Bildungspolitik, war Haller zudem mit der Universitätsmehrheit durchaus einig.219 Haller konnte überdies auf ein kleineres Netzwerk von Kollegenfreunden blicken, darunter so unterschiedliche Personen wie Eduard Schwartz, Rudolf Smend, Johan Huizinga und Otto Scheel.220 In der Studentenschaft scheint der als begnadeter Lehrer geltende Haller ohnehin außerordentlich beliebt gewesen zu sein; gerade deutschbaltische Studenten zog es zu ihm, sodass man 218 Vgl. dazu die Sitzungsprotokolle des Großen Senats der Universität Tübingen vom 12. Dezember 1929 und vom 22. Mai 1930: UAT 47/40, S. 81 f. und 95 f. Vgl. auch Johannes Haller an Elisabeth (Fueter-)Haller, 25.  Mai 1930: UAT 305/48 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  229. Vgl. außerdem den ausführlichen Sitzungsbericht des Kanzleramtes an den Ministerialrat Bauer vom 25. Mai 1930: UAT 119/150. In diesem Schreiben wird auch erwähnt, dass die jüdische Abstammung Laqueurs ein Grund für dessen­ Gegner sei, ihn abzulehnen. Wie wichtig die Lehrstuhlbesetzung für Haller war, geht vor allem aus dem Manuskript von Hallers Tochter Adelheid »Einige Erinnerungen an Johannes Haller« hervor (UAT 305/58): »Als ein Althistoriker etwa 1929 berufen werden sollte, setzte sich J. H. besonders für Prof. Laqueur ein. Dieser war Offizier im 1. Weltkrieg gewesen schwerstbeschädigt und mit dem EK I ausgezeichnet – abgesehen von seinen fachlichen Vorzügen. Es muß dabei im Senat zu einer schrecklichen Szene gekommen sein, denn meine Mutter schrieb mir nach Berlin, der Vater sei totenblass mit einem schweren Herzanfall heimgekommen – wir wohnten damals schon in der Gartenstraße. Sie mußte einen Arzt rufen und J. H. lag über eine Woche streng zu Bett. Es war von mehreren Kollegen gegen Prof. L. vorgebracht worden, daß er Halbjude war. Das hatte J. H. furchtbar empört und zu einem schlimmen Disput geführt. Diese Szene habe ich mit meinem Vater nie ausführlich bereden können, weil man ihm anmerkte, wie sehr es ihn angriff und immer noch empörte.« Zwar stimmt hier die Erinnerung von Hallers Tochter offenbar nicht ganz – Hallers Frau war zum genannten Zeitpunkt gar nicht in Tübingen; auch geht aus dem Schreiben des Kanzleramtes an Bauer hervor, dass die jüdische Herkunft Laqueurs zwar eine Rolle spielte, in der Sitzung selbst aber nicht thematisiert wurde  –, aber das akute Herzleiden Hallers war immerhin so bekannt, dass das Kanzleramt fürchtete, Haller könne mit Hilfe eines entsprechenden ärztlichen Gutachtens um seine Emeritierung bitten – was tatsächlich geschah; vgl. dazu Kapitel VII.6. 219 Vgl. dazu Kapitel VII.3. 220 Die ein gutes Dutzend Briefe umfassende Korrespondenz Hallers mit Eduard Schwartz aus den Jahren 1917 bis 1934 befindet sich in: UAT 305/22 bzw. BSB Schwartziana II A, Haller, Johannes; zu Eduard Schwartz vgl. außerdem Wolfhart, Art. »Schwartz, Eduard«. Die Korrespondenz zwischen Haller und Rudolf Smend aus den 1920er und 1930er Jahren befindet sich in: SUB Göttingen, Cod. Ms. R. Smend A 288; zu Smend vgl. außerdem Campenhausen, Rudolf Smend. Die Korrepondenz zwischen Haller und Johan Huizinga befindet sich in: Letterkundig Museum, Den Haag, H 08961 bzw. Barch N 1035/20. Einige Briefe aus der Korrespondenz zwischen Haller und Huizinga sind abgedruckt in: Huizinga, Briefwisseling II (Nr. 722, 819, 820, 905, 919, 943, 959, 1018 und 1021) und in: Huizinga, Briefwisseling III (Nr. 1082, 1085, 1096, 1120, 1121, 1161, 1166, 1182, 1216, 1239 und 1379); zu Huizinga vgl. außerdem Strupp, Johan Huizinga, sowie Krumm, Johan Huizinga, bes. S. 175–182 (zum Verhältnis zwischen Huizinga und Haller). Einige Briefe Otto Scheels an Johannes Haller befinden sich in: BArch N 1035/19; zu Scheel vgl. außerdem Graf, Art. »Scheel, Otto«.

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beinahe von einer durch Haller gegründeten kleinen »baltischen« Historikerschule sprechen könnte.221 Es zeigt sich daran wie an zahlreichen Gemeinsamkeiten in den politischen Anschauungen der »Altreichsbalten«222, welche Bedeutung trotz allen Einzelgängertums und aller Italienbegeisterung die bal­ tische Herkunft Hallers nach wie vor besaß. Es ist aber doch auffällig, dass Haller sich eigentlich nur mit solchen Kollegen wirklich gut verstand, die entweder – wie Helmut Göring und Heinrich Dannenbauer – deutlich jünger bzw. seine Schüler oder aber fachlich oder zumindest räumlich deutlich von Haller entfernt waren. Damit gewinnt Hallers Selbsteinschätzung als »Outsider«223 in der Zunft eine gewisse Plausibilität, zumal er keinerlei Akademie oder größeren Kommission angehörte und sich auch nicht eindeutig einer »Schule« zuordnen ließ. Dass Hallers Publikationen in den Fachorganen meistens respektvoll rezensiert wurden und ihm sogar zweimal – 1923 und 1925 – ein Lehrstuhl in München angetragen wurde, steht dazu nicht im Widerspruch, denn Hallers Ruf in der Öffentlichkeit und seine – nicht ohne Stolz vor sich hergetragene – »splendid isolation«224 in der engeren Fachwelt gingen Hand in Hand.225 In einem Brief an seine Frau erklärte er diese­ Situation 1929 relativ einleuchtend: »Ein so eigenwilliger Außenseiter, wie ich bin, kann garnicht mehr erwarten, als­ geduldet zu werden. Es trifft sich merkwürdig, daß ich vor ein paar Tagen fast dasselbe Gespräch mit [Fritz] Volbach führte, der sich nicht erklären konnte, daß ich, ob ich doch ›an der Spitze der deutschen Historiker stehe‹, nicht auf ein höheres Katheder berufen sei. Ich antwortete: ich stehe nicht an der Spitze, sondern abseits und das mit Ueberzeugung (was er begriff und billigte, als ich es ihm an den Koryphäen 221 Vgl. dazu Mühlen, Deutschbaltische Geschichtsschreibung, S.  342; vgl. Hehn, Deutschbaltische Geschichtsschreibung, S. 378. Mühlen nennt als deutschbaltische Schüler Hallers Reinhard Wittram, Helmuth Weiß, Wilhelm Lenz, Albert Bauer, Heinrich Bosse, Gert Kroeger, Helmut Speer und Georg von Rauch. Vgl. zu diesem Zusammenhang außerdem Gehrke, Deutschbalten an der Reichsuniversität Posen, S. 397–401, sowie Garleff, Deutschbalten, S. 2. Die Behauptung von Białkowski, Reinhard Wittram, S. 359, »die­ Tübinger Seminare Hallers am Anfang der 1920er Jahre [bildeten] für baltische Studenten ein Auffangbecken für die NS-Ideologie«, entbehrt dagegen jeglicher Grundlage. Zu Hallers Wirkung als akademischer Lehrer vgl. außerdem Eschenburg, Also hören Sie mal zu, S. 150–161, sowie Kiesinger, Dunkle und helle Jahre, S. 88 f. 222 Boehm, Die Balten im Reich, S. 384. Zu den politischen Gemeinsamkeiten vgl. bes. Prehn, Max Hildebert Boehm, S. 64 und S. 77. 223 Haller hat den Begriff in Bezug auf sich selbst mehrfach gebraucht: Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 17. Juli 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr.  1604, S.  2328; Johannes Haller an Philipp zu EulenburgHertefeld, 18. Januar 1921: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 191; Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 15. Januar 1939: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 5003 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 305. 224 Braun, The Philosophical Testament, S. 199. 225 Zu den Berufungsvorverhandlungen mit München vgl. Johannes Haller an Eduard Schwartz, 4. Oktober 1925: BSB, Schwartziana II A, Haller, Johannes bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 210.

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Meinecke, Oncken etc. deutlich machte), und was die größeren Katheder betrifft, konnte ich ihm auch den Zusammenhang erklären.«226

Die Briefpassage deutet schon an, dass einige der Gegnerschaften Hallers weniger mit seinen persönlichen Umgangsformen als mit grundsätzlichen inhalt­ lichen Divergenzen zu tun hatten. Besonders Hallers »Todfeind« Friedrich Me­necke war davon betroffen, den er – wie bereits erwähnt – als führenden Vertreter eines völlig falschen Verständnisses von Geschichtswissenschaft betrachtete.227 Das Vorherrschen dieser Richtung hielt Haller für die Haupt­ursache jener vieldiskutierten »Krise des Historismus«228, die unter anderem den Status der Geschichtswissenschaft als Leitdisziplin sukzessive beseitige. Seine Auffassung in dieser Frage legte er in einer anscheinend unveröffentlicht gebliebenen Niederschrift dar, die vermutlich in den 1930er Jahren entstand: »Es ist nicht zu leugnen, die Führung, die wir einst besaßen, haben wir verloren. […] Die Krise der Geschichtsschreibung ist Schuld der Historiker. Nicht erst seit gestern, nicht infolge von Krieg und Revolution. Die Wurzeln des Übels sitzen viel tiefer. Die Richtung, die seit einem Menschenalter die Geschichtsstudien in Deutschland nahmen, war keine glückliche. Immer seltener wurde es, dass ein Historiker von Fach es unternahm, gebildeten Lesern schlicht und anschaulich zu sagen, wie es gewesen. An die Stelle bescheidener Wiedergabe dessen, was geschehen, trat mehr und mehr eine teils philosophisch räsonierende, teils psychologisch analysierende Betrachtung, die sich weniger um die Taten und Schicksale der Völker, als um die Gedankenwelt und das Seelenleben von Einzelnen bemühte, als ob im Dasein der Menschen Gedanken und Geschmack ausschlaggebend, Trieb und Wille nebensächlich wären. Dabei wurde dann der Stoff immer magerer, die Luft immer dünner, bis man schließlich hoch über der Welt der Tatsachen in der Stratosphäre abstrakter Reflexion angelangt war. Da konnte dann der eigene Geist der Herren im Bilde der Zeiten weidlich sich bespiegeln, während der Verlauf der Begebenheiten den letzten Rest von Anschaulichkeit verlor. Diese Entwicklung zur reinen ›Geistesgeschichte‹, von Nichthistorikern eingeleitet, aber dem Zuge der Zeit und dem Geschmack einer Generation von geistigen Genießern entsprechend, hätte das Feld so sehr nicht erobert, hätten sich ihm die Historiker von Fach nicht auch ergeben«.229 226 Johannes Haller an Elisabeth (Fueter-)Haller, 12. August 1929: UAT 305/48 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 225. 227 Vgl. dazu schon Kapitel VI.2. 228 Angestoßen wurde die Diskussion Anfang der 1920er Jahre vom evangelischen Theologen Ernst Troeltsch: Troeltsch, Die Krisis des Historismus. Vgl. auch Oexle, Krise des­ Historismus. Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges, S. 293, weist zu recht darauf hin, dass gerade die Geschichtswissenschaft von der »Krise des Historismus« weitgehend unberührt blieb. Der allmähliche Verlust der gesellschaftlichen Leitungsfunktion ist allerdings durchaus als Folge der »Krise« interpretierbar. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Kittstein, Mit Geschichte will man etwas, S. 63–116, sowie Schlüter, Explodierende Altertümlichkeit, S. 35–67. 229 Niederschrift Johannes Hallers über die Geschichtswissenschaft, undatiert: BArch N 1035/10. Haller hielt außerdem seit 1907 regelmäßig Vorlesungen über Geschichtsstudium und Geschichtsschreibung: vgl. Blanke/Jaeger, Historik in akademischer Praxis, S. 283.

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Die Wendungen »sagen, wie es gewesen« und »Wiedergabe dessen, was geschehen« erinnern nicht zufällig an die berühmte Formulierung Leopold von Rankes, die Geschichte solle nur »zeigen, wie es eigentlich gewesen«.230 Haller hatte schon früh – trotz manch einschränkender Kritik – Ranke als historiographisches Vorbild empfohlen.231 Brieflich erklärte er noch Ende 1934: »Ich schwöre zu Ranke«232. In seiner Niederschrift nannte er außer Ranke noch explizit Johann Gustav Droysen, Jacob Burckhardt, Heinrich von Treitschke – und Johan Huizinga. Letzteren bezeichnete er als Beispiel dafür, »wie echte Kultur- und Geistesgeschichte auszusehen hat«233. Damit verdeutlichte er, dass es ihm nicht einfach um den Gegensatz zwischen Politik- und Diplomatiegeschichte auf der einen, Kultur- und Geistesgeschichte auf der anderen Seite ging, sondern um die Art und Weise des Umgangs mit Geschichte überhaupt. In dieser Hinsicht kritisierte er auch die bloß »antiquarische Forschung, die nie zu entbehren ist, aber für sich allein nur dem Gelehrten etwas bietet«, was auf die großen Editions­ projekte etwa seines alten Freundes Paul Kehr gemünzt war.234 Noch verfehlter aber seien eben jene »philosophisch-ästhetischen Verflüchtigungen […], die den verwöhnten Gaumen des Feinschmeckers kitzeln, aber den Hunger nach Anschauung nicht stillen.« Haller nannte hier keine Namen. Das tat er dafür in einem Brief an ­Eduard Fueter vom Januar 1940, der zum großen Teil  demselben Thema gewidmet war.235 Hier benannte Haller als Gegenspieler seiner Rankeaneschen Geschichtsauffassung Friedrich Meinecke, aber nicht nur diesen, sondern auch eine ganze Schule, die sich von Wilhelm Dilthey ableite und deren hervorragende Vertreter neben Meinecke Ernst Troeltsch und Max Weber seien. Hallers Hauptvorwurf in diese Richtung lautete, man rede dort über Geschichte, »anstatt wirklich Geschichte zu schreiben«.236 Auch hier machte Haller deutlich, dass er keineswegs einer a­ usschließlich politik- und diplomatiegeschichtlich orientierten Geschichtswissenschaft das Wort redete  – und auch früher 230 Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker, S. VII. 231 Vgl. dazu die Kapitel IV.4. und VI.2. Vgl. außerdem Johannes Haller an Eduard Fueter, 21. Juni 1911: Zentralbibliothek Zürich, NL Eduard Fueter 4.19 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 134. 232 Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 30. Dezember 1934: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 4995 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 282. 233 Niederschrift Johannes Hallers über die Geschichtswissenschaft, undatiert: BArch N 1035/10, dort auch die folgenden Zitate. 234 Vgl. dazu die Kapitel IV.6. und V.1. 235 Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 7. Januar 1940: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr.  5006 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  314. Der enge Zusammenhang  zwischen der Niederschrift Hallers und diesem Brief wird auch daran deutlich, dass Haller im Brief das Schlusszitat der Niederschrift – eine Goethe-Sentenz – wieder aufnimmt. 236 Ebd. Zu Wilhelm Dilthey vgl. stellvertretend für eine Fülle an Literatur: Lessing, Wilhelm Dilthey; ebenso zu Ernst Troeltsch: Drescher, Ernst Troeltsch; zu Max Weber: Radkau, Max Weber.

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schon hatte er sogar seine eigene Arbeit als Ideengeschichte tituliert237 –, aber er hielt die neueren Strömungen gegenüber der traditionellen doch für sekundär in ihrer Bedeutung und für gefährlich in ihrer Tendenz. Haller stand mit dieser Position nicht allein da, sondern vertrat damit eine mehrheitsfähige Auffassung wenigstens unter den älteren deutschen Historikern seiner Zeit.238 Er klagte aber darüber, dass in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive die maßgeblichen geschichtswissenschaftlichen Positionen mit Vertretern der »neuen« Richtung besetzt worden seien. Der Sachgehalt dieser Auffassung ist kaum bestreitbar, zumal nicht erst nach 1918, sondern auch schon im Kaiserreich neue methodische Ansätze zur Diskussion gestellt wurden, von denen ein sozialhistorischer – vornehmlich vertreten durch Gustav Schmoller und Otto Hintze – sowie ein geistesgeschichtlicher durchaus Verbreitung fanden.239 Gegen diese geistesgeschichtliche Schule wandte sich Haller; ihr machte er den Vorwurf, für den Prestigeverlust der Geschichtswissenschaft verantwortlich zu sein. Hallers Kampf für die Grundlagen der Geschichtswissenschaft wurde allerdings erst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme auch öffentlich geführt.240 Während der Jahre der Weimarer Republik hielt er sich mit unmittelbaren und öffentlichen Konfrontationen gegenüber Kollegen eher zurück.241 237 Vgl. dazu Johannes Haller an die Theologische Fakultät der Universität Gießen, 18. November 1917: UAG Theol 9 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 154: »Seit ich mir der Ziele meines Studiums bewußt zu werden anfing, hat mir stets die Geschichte der Ideen als das Lohnendste vorgeschwebt«. 238 Man könnte darüber nachdenken, Haller der sogenannten »Rankerenaissance« zuzuordnen, zumal er zu dessen Hauptvertreter, Max Lenz, in seinen ersten Berufsjahren guten Kontakt pflegte. Dagegen spricht allerdings erstens, dass Haller sich explizit keiner »Schule« anschließen wollte, und zweitens, dass unter »Rankerenaissance« zum Teil  sehr unterschiedliche historiographische Ansätze zusammengefasst werden, die die Tragfähigkeit solcher Zuordnungen insgesamt fraglich erscheinen lassen. In erster Linie hängt das damit zusammen, dass die Anknüpfung an Ranke sowohl im Hinblick auf das Objektivitätsideal als auch im Hinblick auf bestimmte Grundannahmen über den historischen Verlauf wie etwa dem Primat der Außenpolitik geschehen konnte. Vgl. dazu Krill, Die Rankerenaissance, bes. S. 256–259, der allerdings sehr einseitig eine an die politischen Ideale Treitschkes anschließende Linie Lenz-Marcks-Haller von einer an Rankes »Universalismus« anschließenden Linie Meinecke-Hintze-Oncken unterscheidet. Überzeugender ist die Bezeichnung beider Historikergruppen als »Neorankeaner«  – gewissermaßen qua Generationenzugehörigkeit – bei Nordalm, Historismus und moderne Welt, S. 124–131, in dem Sinne, dass sie an Rankes politik- und diplomatiegeschichtlichem ­Fokus gegen neuere Ansätze wie dem von Karl Lamprecht festhielten. Erich Marcks gehört dann allerdings ausdrücklich nicht zu den »Neo­rankeanern«. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Knorring, Erich Marcks, S. 154 und Knorring, Erich Marcks und sein Bild der preußischen Geschichte, S. 103, Anm. 11. 239 Vgl. Bruch, Gustav Schmoller, sowie Schulze, Otto Hintze. Vgl. außerdem Kroll, Geburt der Moderne, S. 154–156. 240 Vgl. dazu Kapitel VIII.2. 241 Das bedeutet nicht, dass Hallers Veröffentlichungen aus dieser Zeit weniger polemisch gewesen wären und sich dies nicht auch gegen Kollegen richten konnte. In seine »Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen« beispielsweise baute er einen Seitenhieb gegen die Deutung Metternichs bei Heinrich von Srbik ein (Haller, Tausend Jahre, S. 89; vgl. dazu

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Eine Ausnahme davon ist der Streit zwischen Haller und Gerhard Ritter, den­ allerdings nicht Haller, sondern Ritter vom Zaun brach. Zu Beginn der 1920er Jahre lieferten sich die beiden einen Schlagabtausch über die Frage der histo­ rischen Beurteilung des Humanismus in seinem Verhältnis zur Reformation, in dem Ritter eine neue und »rechte«, Haller eine traditionelle und »liberale« Position bezog.242 Der Streit wurde 1939 wieder aufgenommen, als Haller in der Historischen Zeitschrift einen Beitrag zur Universitätsgeschichte ver­ öffentlichte, bei dem es sich im Grunde um eine ausführliche Rezension der 1936 erschienenen Heidelberger Universitätsgeschichte aus der Feder Ritters handelte.243 Haller übergoss Ritter geradezu mit teilweise spöttischer Kritik und lehnte das Buch insgesamt als »mißlungen«244 ab. Kernstreitpunkt war nach wie vor die Beurteilung des Humanismus: Ritter, so Haller, überschätze nicht nur die politische Bedeutung der Heidelberger Universitätsgründung maßlos, sondern vor allem »bagatellisiere[]« er den Gegensatz zwischen Humanismus und mittel­a lterlicher Scholastik, die er als gewissermaßen harmonische »Entwicklung« verharmlose.245 Der Streit war allerdings sehr deutlich nur noch ein Nachklapp. Ritter äußerte sich noch einmal in einem Aufsatz im »Archiv für Reformationsgeschichte«, verteidigte seinen methodischen Ansatz sowie seine neue, gegen die von Haller vertretenen »alten liberalen Vorurteile von der historischen Befreierrolle des Humanismus« gerichtete Interpretation, und damit war die Angelegenheit beendet.246 Dass Haller sich überhaupt noch einmal zu der Frage äußerte, hing damit zusammen, dass nicht nur Ritter eine Universitätsgeschichte geschrieben hatte, sondern auch Haller. Der entsprach nämlich nach einigem Zögern der Bitte, für die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 450-jährigen Bestehen der Universität Tübingen deren Geschichte zu schreiben.247 Nach erstaunlich kurzer Bearbeitungszeit auch Heinrich Ritter von Srbik an Paul Kluckhohn, 12. Juli 1931: Kämmerer, Heinrich Ritter von Srbik, Nr. 216, S. 367), und vor allem im Zusammenhang seiner Pro-Eulenburg- und Anti-Bülow-Veröffentlichungen sparte er nicht mit scharfen Worten (vgl. Kapitel VII.1.). 242 Vgl. dazu Kapitel VI.2. 243 Ritter, Die Heidelberger Universität im Mittelalter; Haller, Zur Geschichte der deutschen Universitäten. Ausführlicher dazu: Matthiesen, Kontroverse und Konfession, S. 288–295. 244 Haller, Zur Geschichte der deutschen Universitäten, S. 102. 245 Ebd., S. 99–101. 246 Ritter, Zur Geschichte des deutschen Universitätswesens, Zitat S. 155. Ritter erklärte an dieser Stelle auch, den Streit mit Haller nicht mehr weiterführen zu wollen, da dessen Unfruchtbarkeit jedem einleuchte, »der seine Schriften und seine Kampfesweise kennt«. 247 Vgl. die Sitzungsprotokolle des Jubiläumsausschusses in: UAT 117/2003, 2.  Haller erklärte sich am 18. Dezember 1925 zur Übernahme der Aufgabe bereit, wies aber bereits zu­ diesem Zeitpunkt darauf hin, dass er mehr als die Anfänge der Universitätsgeschichte in so kurzer Zeit nicht bewältigen könne (ebd., S. 9 und 13). Vgl. auch das Sitzungs­protokoll des Großen Senats der Universität Tübingen vom 15.  Juli 1926: UAT 47/40, S.  774. Vgl. außerdem Hallers Korrespondenz in dieser Angelegenheit, in: UAT 117/2003, 61. Vgl. schließlich auch die Bemerkung in Hallers Vorwort, »daß auch mir die Zeit zu knapp bemessen schien« (Haller, Die Anfänge der Universität Tübingen I, S. VI).

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stellte Haller 1927 einen Band fertig, der zwar nicht den gesamten Zeitraum der Universitätsgeschichte abdeckte, aber immerhin deren »Anfänge« 1477–1537 in den Blick nahm.248 Haller bettete die Anfangsphase der Universität in die deutsche Universitätsgeschichte insgesamt wie in den allgemeinen politischkulturellen Zeitkontext ein, wies auf die »Verspätung« deutscher Universitätsgründungen im europäischen Vergleich ebenso hin wie auf den Charakter der Tübinger Gründung als später »Hochburg der Scholastik«, zugleich aber auch als »vorgeschobener Angriffsposten des Humanismus«.249 Entsprechend war der Leitfaden in Hallers Darstellung ganz in der Linie der Kontroverse mit Ritter der Kampf der »Kräfte des Alten« – nämlich der Scholastik – mit denen des »Neuen« – nämlich des Humanismus –, die beide an der Tübinger Hochschule prominente Vertreter gehabt hätten.250 An seinen Sympathien für letzteren ließ Haller keinerlei Zweifel: Die Scholastik habe sich Ende des 15. Jahrhunderts eigentlich längst totgelaufen; das auch, weil die von Wilhelm von Ockham begründete nominalistische Schule nie wirklich Ernst gemacht habe mit ihren eigentlich aufklärerischen Über­legungen, da ihren Vertretern »Offenbarung und Glaube höher standen als Denken und Erkennen«.251 Der Humanismus dagegen habe die »abstrakte Spekulation« der Scholastiker durch »lebendige Anschauung und Kritik« ersetzt und eine Lanze für die »souveräne, freie Wissenschaft« gebrochen.252 Auf die humanistischen Einflüsse innerhalb der Tübinger Universität führte Haller es auch zurück, dass der Kampf gegen die sich ausbreitende Reformation von­seiten der Universität allerhöchstens widerwillig und halbherzig geführt worden sei.253 Erst die Durchsetzung der evangelischen Lehre in Württemberg habe dann eine nachhaltige Erneuerung der Universität Tübingen in den 1530er Jahren ermöglicht.254 An seiner Tübinger Universitätsgeschichte wie an seinem ganzen Streit mit Gerhard Ritter wird Hallers insgesamt zwiespältiges Verhältnis zum Protestantismus noch einmal deutlich.255 Positiv an der Reformation waren für ihn, den politischen »Reaktionär«, dessen humanistische Elemente, als deren wichtigstes er die Geistes- bzw. Wissenschaftsfreiheit benannte. Im Grunde näherte er sich damit doch wieder denjenigen Deutungen des liberalen Protestantismus an, die er mit Blick auf Adolf Harnack um die Jahrhundertwende explizit verworfen hatte.256 Wenn man jedenfalls die einflussreiche Unterscheidung zwischen 248 249 250 251 252 253 254 255 256

Haller, Die Anfänge der Universität Tübingen I. Ebd., S. 3–10, Zitate S. 208. Ebd., S. V. Ebd., S. 208–210, Zitat S. 210. Vgl. dazu auch Haller, Die Anfänge der Universität Tübingen II, S. 74–75, wo Haller sich in diesem Punkt kritisch, aber nicht undifferenziert mit den Forschungen Gerhard Ritters auseinandersetzt. Haller, Die Anfänge der Universität Tübingen I, S. 210–211. Vgl. ebd., S. 316–321. Vgl. ebd., S. 332–341. Vgl. dazu die Kapitel II.2. und IV.4. Vgl. dazu Kapitel IV.5.

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einem alten und einem »Neuprotestantismus« akzeptiert, die Ernst Troeltsch vorgeschlagen hat, dann war Haller eindeutig ein Anhänger des Neuprotestantismus, sozusagen in einem altliberalen Sinne.257 Mit der in der theologischen und historischen Wissenschaft nach 1918 ganz neuartigen Herausstellung positiver, ja im Grunde viel modernerer Aspekte des »Altprotestantischen«, wie sie von Ritter, aber auch von der sogenannten »Lutherrenaissance« zur Debatte gestellt wurden, konnte Haller dagegen nichts anfangen.258 Da Haller aber die »Neuprotestanten« aus politischen Gründen ablehnte, stand er in dieser Kontro­ verse faktisch ohne Verbündete da. Diese mangelnde Fühlung mit den neuesten geisteswissenschaftlichen Entwicklungen trug sicher dazu bei, dass Hallers Universitätsgeschichte von der Kritik teilweise ignoriert wurde.259 Er bedauerte das ganz besonders, da er dieses Buch als sein eigentliches »Lieblingskind« empfand.260 Vielleicht lag das auch daran, dass er hier in das Gebiet seiner ursprünglichen wissenschaftlichen Expertise zurückkehrte – das späte Mittelalter bzw. den Übergang zur frühen Neuzeit. Das Ineinander von kollegialer Anerkennung und Außenseiterschaft aber, das Hallers ganze Karriere – und besonders die Tübinger Jahre – prägte, lässt sich gerade anhand dieses Buches illustrieren: Man betraute Haller mit der ehrenvollen Aufgabe, die offizielle Jubiläumsschrift der Universität zu schreiben, die Inhalte dieser Schrift diskutierte man aber praktisch nicht.

5. Frankreich Da Haller so gut wie keine Informationen über die Umstände und Motive hinterlassen hat, die zur Entstehung seiner Publikationen führten, ist nicht mit­ Sicherheit zu sagen, ob der Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner 1930 erschienenen »Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen« bewusst gewählt 257 Vgl. dazu Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit. 258 Vgl. dazu Kapitel VI.2. Grundlegend zur »Lutherrenaissance«: Assel, Der andere Aufbruch. Zur spezifischen Modernität konservativer bzw. konservativ-revolutionärer Ansätze in der deutschen evangelischen Theologie nach 1918 vgl. auch Hasselhorn, Religiöse Form, bes. S. 18–24 und S. 36–38. 259 In der Historischen Zeitschrift wurde das Buch nicht rezensiert. Völlig ignoriert wurde es aber nicht: vgl. Baron, § 42. Humanismus, bes. S. 445: »Wir besitzen keine zweite Universitätsgeschichte, die man als Einführung in das akademische Leben der Zeit so sehr empfehlen könnte.« Vgl. außerdem Stenzel, § 64. Württemberg und Hohenzollern, sowie den sich positiv auf Hallers Universitätsgeschichte berufenden Aufsatz: Joachimsen, Zwei Universitätsgeschichten. 260 Haller, Lebenserinnerungen, S. 268. Zur Beurteilung von Hallers Universitätsgeschichte vgl. etwa Ritter, Zur Geschichte des deutschen Universitätswesens, S. 152, Anm. 1: »Ihre [gemeint ist Hallers Universitätsgeschichte] Vorzüge sind bekannt: eine sehr lebendige, anmutige, obgleich vielfach leicht medisante Schilderung von Zuständen und Persönlichkeiten, besonders auch in den landesgeschichtlichen Partien.«

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war oder nicht. Für ersteres spricht, dass am 30. Juni 1930 der schon seit längerem angekündigte Abzug alliierter Truppen aus dem Rheinland vollzogen wurde  – und Haller den Festvortrag einer unmittelbar danach abgehaltenen universitären »Befreiungsfeier« hielt, der bereits am 2.  Juli in der »Tübinger Chronik« abgedruckt wurde.261 Haller verglich darin die Besetzung des Rheinlandes nach 1918 mit entsprechenden Maßnahmen Deutschlands nach dem Sieg über Frankreich von 1871 und kam zu dem Ergebnis, dass die Deutschen sich in Frankreich sehr maßvoll verhalten und damit den Frieden gefördert hätten, während insbesondere das Verhalten der Franzosen im Rheinland die Beziehungen zu Deutschland erheblich belastet habe.262 Haller zitierte vor allem Stellungnahmen englischer und US-amerikanischer Offiziere, um nachzuweisen, dass die Franzosen die Besatzungszeit systematisch dazu genutzt hätten, »das Volk zu quälen«263 mit dem Fernziel einer Abtrennung des ganzen Gebietes von Deutschland und seiner Eingliederung in das Territorium Frankreichs. Das Scheitern dieses Plans sei dem rheinischen Volk zu verdanken, das pas­siven Widerstand geleistet habe, aber auch die aktiven Widerstandskämpfer würdigte Haller ausdrücklich als »Märtyrer des Vaterlands«; allen voran Albert Leo Schlageter.264 Haller schloss seinen Vortrag mit der Bemerkung, die Befreiung des Rheinlandes gebe das Beispiel für die noch ausstehende Befreiung ganz Deutschlands. Zuvor warnte er aber noch ausdrücklich davor, die französische Niederlage für endgültig zu halten und wies darauf hin, dass Frankreich »in wechselnden Formen« seit drei Jahrhunderten den Rhein als Landesgrenze anstrebe und von diesem Ziel sicher auch in Zukunft nicht ohne weiteres lassen werde.265 Exakt diese Auffassung war es, die Haller in den »Tausend Jahren deutsch-­ französischer Beziehungen« ausführlicher begründete. Es ist dabei ausdrücklich zu betonen, dass es Haller also nicht etwa um tausend, sondern wenn überhaupt, so um dreihundert Jahre »Erbfeindschaft«266 ging. Auch darüber hinaus war Hallers Darstellung weit entfernt von den in dieser Zeit auf beiden Seiten vorhandenen extrem polemischen und chauvinistischen Schilderungen des­ jeweiligen Nachbarn.267 Gerade die deutsch-französischen Beziehungen des 261 Haller, Die Befreiungsfeier der Universität; im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck der Rede als Haller, Rheinlands Befreiung. 262 Vgl. ebd., S. 344–346. 263 Ebd., S. 347. 264 Ebd., S. 351–353, Zitat S. 352. Zu Albert Leo Schlageter vgl. Zwicker, Nationale Märtyrer. 265 Haller, Rheinlands Befreiung, S. 354. 266 Grundlegend zum Vorstellungszusammenhang einer deutsch-französischen »Erbfeindschaft«: Sieburg, Die Erbfeindlegende, sowie Müller, Der bewunderte Erbfeind, S.  285– 288. Zum Frankreichbild deutscher Historiker in der Weimarer Zeit vgl. außerdem­ Schulin, Das Frankreichbild deutscher Historiker. Zu Unrecht beruft sich Steinbach, Des Königs Biograph, S. 173, Anm. 27, auf Schulin, wenn er fälschlicherweise behauptet, Haller sei ebenso wie Erich Marcks von einer tausendjährigen und unentrinnbaren deutschfranzösischen Erbfeindschaft ausgegangen. 267 Vgl. dazu Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 292–296.

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Mittelalters hat Haller in einer Weise skizziert, die im Großen und Ganzen »noch immer Gültigkeit«268 beanpruchen darf. Für Haller waren Deutsche und Franzosen gewissermaßen Brudervölker, aus derselben Wurzel – dem fränkischen Reich – hervorgegangen, die seit dem 10. Jahrhundert zwar keine freundschaftlichen, aber doch friedliche Beziehungen pflegten.269 Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts sei Deutschland der mächtigere von beiden gewesen, dann aber sei Frankreich zuerst soziokulturell, dann kirchlich und schließlich seit dem 13. Jahrhundert auch politisch und militärisch führend geworden.270 Aus dieser – von Haller uneingeschränkt zugestandenen – Überlegenheit habe sich der französische Anspruch entwickelt, als legitimer Erbe Karls des Großen die Hegemonie in Europa beanspruchen zu können. Haupt­gegner dieses Anspruches sei zunächst aber gar nicht Deutschland, sondern E ­ ngland gewesen, und erst infolge der Habsburgischen Heiratspolitik in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sei ein zuerst französisch-österreichischer und schließlich französisch-deutscher Gegensatz entstanden.271 Haller führte dann im Grunde lediglich diejenige Position näher aus, die er schon in seinen 1923 erschienenen »Epochen der deutschen Geschichte«­ vertreten hatte:272 Die Reformation habe durch den entstehenden Konfessionsgegensatz verhindert, dass Frankreich das eigentlich notwendige Bündnis mit dem protestantischen Deutschland gesucht habe, während zugleich die Wiederentdeckung antiker Literatur in Frankreich der Vorstellung vom Rhein als natürlicher Grenze neue Nahrung gegeben habe. Im 16. Jahrhundert könne man daher von gegenseitiger Abneigung, aber nicht von politischer Feindschaft  sprechen, zumal Deutschland keinerlei westliche Ambitionen gehabt habe.273 Erst mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und den Bestimmungen des Westfälischen Friedens müsse man von einem dauerhaften Feindschaftsverhältnis zwischen Deutschland und Frankreich sprechen, da in Frankreich seitdem als politisches Erbe Richelieus der langfristige Erwerb des linken Rheinufers als notwendig zur »Verteidigung der eigenen Sicherheit«274 betrachtet worden sei. Haller interpretierte Ludwig XIV. daher auch nicht als Verfälscher, sondern als – gescheiterten – Vollstrecker der Pläne Richelieus. Das gelte sogar für die »Raubkriege«, die nicht dem Ziel der Eroberung, sondern der Absicherung der Position Frankreichs gedient hätten.275 In Deutschland aber, das nach dem Dreißigjährigen Krieg noch lange politisch mehr oder weniger bedeutungslos gewesen sei, habe der »Sonnenkönig« damit einen in diesem Ausmaß bislang unbe268 Ebd., S. 301. 269 Vgl. Haller, Tausend Jahre, S. 1–7. 270 Vgl. ebd., S. 8–12. 271 Vgl. ebd., S. 13–18. 272 Vgl. Kapitel VII.2. 273 Vgl. Haller, Tausend Jahre, S. 22–26. 274 Ebd., S. 40. 275 Vgl. ebd., S. 42–44.

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kannten »Franzosenhaß«276 hervorgerufen. Dennoch habe Frankreich während des 18. Jahrhunderts vor allem in den späteren Rheinbundstaaten regelmäßig Verbündete gegen Österreich gefunden.277 Der Aufstieg Preußens konnte in diesem Zusammenhang zunächst von Frankreich begrüßt werden, weil er ein innerdeutsches Gegengewicht gegen Österreich schuf. Insofern, so Haller, habe man sich im Frankreich des 18. Jahrhundert in einem »Goldene[n] Zeitalter«278 gefühlt, außenpolitisch »gesättigt«279 und kulturell als führende Macht Europas anerkannt. Erst die Revolutionsregierung verfocht nach Haller wieder ganz radikal die Vorstellung vom Rhein als natürlicher Grenze, und das »partikularistische« Deutschland habe gegen den geballten Patriotismus der Revolutionsarmee keine Chance gehabt.280 Haller ging hier scharf ins Gericht mit dem mangelnden Nationalbewusstsein der politischen und vor allem der kulturellen Eliten Westdeutschlands und nannte den Frieden von Lunéville 1801, in dem die Abtretung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich anerkannt wurde, den Tiefpunkt der deutsch-französischen Beziehungen: »Nie zu tilgen ist die Schande, die Deutschlands Fürstenhäuser auf sich und die Nation geladen haben, als sie sich vor dem französischen Sieger in den Staub warfen, um einige Fetzen Land und einige tausend Untertanen mehr zu erschnappen.«281

Dieser französische Sieger, so Haller weiter, habe unter Napoleon zur Sicherung der Rheingrenze ein rechtsrheinisches Puffergebiet erobert, das sich schließlich bis zur russischen Grenze ausgedehnt habe. Die deutschen Gebildeten, die sich längst einen ganz und gar unpolitischen Patriotismus zugelegt hätten, habe das nicht weiter gestört – bis zu dem Punkt, als Preußen unterworfen wurde. Dies erst habe ein politisches Nationalbewusstsein in Deutschland in Gang gesetzt, das sich in den Befreiungskriegen gegen Napoleon artikuliert habe.282 Nicht die »Kabinette«, sondern die »Nation« sei 1813–1815 gegen den Unterdrücker in den Kampf gezogen, so fasste Haller seine ganz nationalliberale Deutung der Befreiungskriege zusammen.283 Er leugnete dabei natürlich nicht, dass es eine deutsche Nation im politischen Sinne zu diesem Zeitpunkt noch nicht gab; gerade darauf führte er die politische Ertraglosigkeit des Sieges von 1814/15 zurück. Zwar sei Frankreich gezwungen worden, die linksrheinischen Gebiete wieder abzutreten; das Elsass aber und damit die »deutschen Thermopylen«284 habe es behalten dürfen und damit die Gefahr einer Invasion weiter latent gehalten.285 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285

Ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 54 f. Ebd., S. 59. Ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 63–74. Ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 82–86. Ebd., S. 87. Vgl. dazu auch Kapitel VII.2. Haller, Tausend Jahre, S. 54. Vgl. ebd., S. 88–93.

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Den französischen Historiker Albert Perraud zitierend, vertrat Haller die These, dass Frankreich unmittelbar nach 1815 zwar nach außen hin maßvoll auftrat, tatsächlich aber immer an der Rückeroberung des Rheinlandes festhielt.286 Der offiziellen Begründung, dass nur damit der Schutz Frankreichs vor einer deutschen Invasion gewährleistet sei, widersprach Haller mit dem Hinweis darauf, dass der deutsche Angriff auf Frankreich im August 1914 trotz deutschen Besitzes nicht nur des Rheinlandes, sondern auch Elsass-Lothringens, nur durch belgisches Gebiet habe erfolgen können.287 Auf der anderen Seite seien der französische Irrglaube über die defensive Notwendigkeit der Rheingrenze sowie die Unterschätzung des sich in Deutschland bildenden Nationalstolzes  – der vor­ allem eine antifranzösische Stoßrichtung gehabt habe – im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass Frankreich es unterlassen habe, das eigentlich notwendige und sinnvolle Bündnis mit Deutschland zu suchen. Selbst Befürworter eines Zusammengehens wie Victor Hugo hätten an der deutschen Herausgabe des Rheinlandes festgehalten, und nur Alexis de Tocqeville habe erkannt, wie fatal es für Frankreich gewesen sei, seinen natürlichen Bundesgenossen mit derlei Forderungen zu vergraulen. Haller betrachtete die Periode 1815–1848 daher auch im Nachhinein als die aussichtsreichste Zeit für ein – auch aus seiner Sicht sinnvolles – deutsch-französisches Bündnis. Dass es nicht zustandegekommen sei, sei Frankreichs Schuld, und nach 1848 sei die Gelegenheit vorbei gewesen, weil die deutsche Frage nun eine immer deutlicher antifranzösische Stoßrichtung gewonnen habe, in der nicht mehr der französische Gewinn des Rheinlandes, sondern der deutsche Erwerb des Elsass auf der Tagesordnung gestanden habe.288 Selbst in dieser Situation sei allerdings ein Bündnis noch möglich, ja sogar natürlich gewesen, als Preußen die deutsche Einigung in die Hand nahm und Deutschland und Frankreich dadurch in Österreich einen gemeinsamen Feind gehabt hätten. Sowohl Bismarck als auch Napoléon III. hätten daher auch eigentlich ein deutsch-französisches Bündnis für wünschenswert gehalten.289 In einer Mischung aus Ungeschicklichkeit und Machtlosigkeit gegenüber der verbreiteten antideutschen Stimmung in Frankreich habe Napoléon sich aber umentscheiden müssen und erst nach dem preußischen Sieg über Österreich 1866 noch einmal das Bündnis gesucht, das aber durch das Scheitern der Verhandlungen endgültig ad acta gelegt worden sei.290 Haller bedauerte das zwar, vertrat aber auch die Meinung, dass aufgrund der so eindeutig antideutschen französischen Volksstimmung alle Bündnispläne von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen seien; dass er Frankreich die alleinige Schuld an diesem Scheitern gab, ist daher wenig überraschend.291 Und auch der deutsch-französische 286 Vgl. ebd., S. 96–98. Bei dem von Haller zitierten Artikel handelt es sich um Albert Perraud: La question rhénane et la politique française, in: Revue des deux Mondes V (1923), S. 678 ff. 287 Vgl. Haller, Tausend Jahre, S. 98 f. 288 Vgl. ebd., S. 100–117. 289 Vgl. ebd., S. 118–132. 290 Vgl. ebd., S. 133–152. 291 Vgl. ebd., S. 153–156.

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Krieg 1870 sei auf das Betreiben Frankreichs zurückzuführen, während Bismarck einen bewaffneten Konflikt möglichst zu vermeiden versucht habe.292 Haller bestritt zudem vehement, dass Bismarck die spanische Thronfrage zur Entfesselung des Krieges habe nutzen wollen, sondern genau umgekehrt habe die französische Regierung sich auf die Kandidatur »förmlich gestürzt […], um sie zum Casus belli aufzublähen.«293 Die Bismarcksche Redigierung der Emser Depesche verstand Haller nicht als Schachzug, um die französische Kriegserklärung zu provozieren, sondern als diplomatische Wiedergutmachung der Preußen düpierenden erfolgreichen französischen Forderung des spanischen Thronverzichts:294 »Es mußte festgestellt werden, daß Frankreich, um die bevorzugte Lage nicht aufgeben zu müssen, die ihm der Westfälische Friede geschaffen und der Wiener Kongreß bestätigt hatte, die das A und O der französischen Politik unter Richelieu und Ludwig XIV. und Vergennes gewesen und seit 1866 verloren gegangen war, den ersten besten Vorwand benutzte, um den Krieg zu entfesseln, der die deutsche Einheit und Großmacht in der Geburt ersticken und der deutschen Nation die Ebenbürtigkeit mit den andern großen Kulturnationen der Welt für immer abschneiden sollte. Was Bismarck dazu getan hat, beschränkt sich auf einen einzigen Griff, der die Fäden der französischen Diplomatie, die das Losgehen der Kriegsmaschine noch um einige Tage hintanhalten sollte, jählings zerriß und den Gegner zwang, sich sofort zum Kampf zu stellen.«295

Dass man mittlerweile die Schuld am Kriegsausbruch vornehmlich bei Preußen sehe, führte Haller nicht nur auf systematische französische Propaganda zurück, sondern auch auf das Versäumnis Deutschlands, die entsprechenden­ Akten zu veröffentlichen sowie auf Bismarcks eigene missverständliche nachträgliche Darstellung der Emser Episode in den »Gedanken und Erinnerungen«.296 Und auch die Friedensbedingungen von 1871, allen voran die Abtretung von Elsass und Lothringen an Deutschland, rechtfertigte Haller als vernünftige Entscheidung, die auch gar nicht so sehr der Volksstimmung in Deutschland gefolgt sei, sondern eher den nationalen Sicherheitsinteressen gegenüber Frankreich.297 Haller wies dabei ausdrücklich darauf hin, dass Deutschland damit die traditionelle französische Argumentation für die Annexion des Rheinlandes umgedreht habe, beharrte aber darauf, dass dies vor dem Hintergrund der historisch erfahrenen und auch für die Zukunft zu erwartenden »Angriffsabsichten« Frankreichs sehr wohl berechtigt gewesen sei.298 292 Vgl. ebd., S. 157–169. 293 Ebd., S. 169–173, Zitat S. 171. 294 Vgl. ebd., S. 173–175. 295 Ebd., S. 175 f. 296 Vgl. ebd., S. 176 f. Vgl. auch Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II, S. 87–92. 297 Vgl. Haller, Tausend Jahre, S. 178–181. 298 Ebd., S. 182–185, Zitat S. 183.

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Bismarck habe nach erfolgter Reichsgründung dann alles getan, um freundschaftliche Beziehungen zu Frankreich aufzubauen, und bis zu einem gewissen Grad sei ihm dies auch gelungen.299 Erst seit 1885 hätten in Frankreich die ­Revanchisten wieder das Sagen gehabt, und Bismarck habe sich gegen einen­ erneuten Krieg entschieden, den Haller im Nachhinein als die bessere Lösung bezeichnete, weil er »die Einleitung zu bleibender Versöhnung«300 hätte werden können. Bismarcks Nachfolger jedenfalls seien alles andere als geeignet gewesen, das deutsch-französische Problem in den Griff zu bekommen, zumal sich unter ihnen auch die Beziehungen zu Russland und England zunehmend verschlechterten, was wiederum Frankreich konsequent ausgenutzt habe.301 Trotz aller sachlichen Berechtigung ihrer politischen Ziele habe sich die deutsche Führung eine Reihe von Fehlern zu Schulden kommen lassen, während Frankreich durch das Festhalten am Ziel der Rückeroberung von Elsass-­Lothringen den Krieg unvermeidlich gemacht habe.302 Frankreichs Bestreben im Ersten Weltkrieg sei aber mitnichten nur die Revision von 1871 gewesen, sondern außerdem die Abtrennung des Rheinlandes von Deutschland.303 Das sei zwar letztlich nicht gelungen, aber der Versuch habe doch die Beziehungen vermutlich endgültig zerstört. Haller begrüßte das nicht; im Gegenteil: Er schloss sein Buch mit einem Abgesang auf die deutsch-französische Freundschaft: »Daß Deutschland und Frankreich aufeinander angewiesen und im Grunde natürliche Verbündete seien, ist oft behauptet worden, von Gelehrten und Staatsmännern, deren Urteil etwas wiegt. Die Geschichte hat sich dennoch nie daran gekehrt, sie ist ihren Weg in entgegengesetzter Richtung gegangen […]. In ungleicher Weise verteilt sich die Schuld; hat Deutschland wohl den Willen, aber nicht immer das nötige Geschick bewiesen, so darf man von Frankreich sagen: es hat nicht gewollt. Den ­Schaden tragen beide Länder und mit ihnen die ganze Welt. Welche politischen Vorteile das eine wie das andere Volk von einträchtigem Zusammengehen haben würde, liegt auf der Hand […]. Daß ihr geistiger Austausch für beide Teile fruchtbar und förderlich ist, steht über jedem Zweifel. Sie scheinen dazu bestimmt, voneinander zu lernen und einander zu ergänzen, gerade weil sie so verschieden, ja gegensätzlich geartet sind. […] Deutsche und Franzosen können auch in Zukunft für ihre Ent­ wicklung voneinander lernen, wie sie es bisher getan haben, und würden dabei auch künftig bleiben, was sie sind. Aber an dauernde Aussöhnung zu glauben, die doch die erste Bedingung fruchtbaren Zusammenlebens ist, fällt heute schwerer denn je. […] Wer sich über den Gesichtskreis des Deutschen oder Franzosen erhebt, der weiß, was es für die Welt bedeutet haben würde, hätten diese beiden Nationen zu rechter Zeit den Bund aufrichtiger Verständigung geschlossen. Ihr vereintes Wirken hätte dem europäischen Abendland die Herrschaft über den Erdball dauernd gesichert, die heute bereits verloren ist und nicht wiederkehren wird. Das Erstgeburtsrecht 299 300 301 302 303

Vgl. ebd., S. 186–195. Ebd., S. 202. Vgl. ebd., S. 204–207. Vgl. ebd., S. 208–216. Vgl. ebd., S. 217–219.

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Europas […] konnte nur vereint von den großen Völkern des Okzidents bewahrt­ werden; ihr tödlicher Zwist mußte es den andern Erdteilen ausliefern. Er wäre nicht ausgebrochen und die Weltgeschichte hätte sich in ungebrochener Linie fortsetzen können, wären die beiden führenden Nationen des europäischen Festlands zu rechter Zeit einig geworden und geblieben. Das nachzuholen, ist es für immer zu spät, und über den Verlust der schönsten Möglichkeiten können wir uns nur mit der entsagenden Einsicht trösten, daß das Vollkommene wohl einmal im Reiche der Kunst, im­ Leben niemals Wirklichkeit wird.«304

Diese Schlussworte Hallers begründeten noch einmal ausführlich seine schon im Vorwort benannte Auffassung, eine deutsch-französische Versöhnung sei nicht nur sein persönlicher, sondern auch »der gemeinsame Wunsch meiner Generation«305 gewesen. Wer Haller dennoch für einen Propagandisten der »Erbfeindschaft« hält, der sollte zumindest in Rechnung stellen, dass Haller die Erbfeindschaft keineswegs begrüßte, sondern lediglich schonungslos deren Ursachen analysieren wollte. Dass er als Ergebnis der Analyse Frankreich die Hauptverantwortung zuwies und für die Zukunft schwarz sah, ist angesichts seiner persönlichen historischen Erfahrung kaum verwunderlich.306 Ebenso wenig verwunderlich ist, dass Hallers Darstellung, je näher sie zeitlich an diese unmittelbare Vergangenheit gelangte, tendenziell an Einseitigkeit und polemischer Schärfe zunahm.307 Das war lediglich die logische Konsequenz aus seinem Selbstverständnis als nicht interesselos-distanzierter Beobachter, sondern als »Anwalt«308 der deutschen Nation. Dass Haller trotz dieser Einschränkungen als »Wegbereiter sachgerechter Präsentation«309 zu gelten hat, ist nicht ernsthaft zu bestreiten. Dabei spielte auch eine Rolle, dass Haller in Bezug auf den Westen  – anders als beim Osten – keinerlei biographisch bedingte Vorbehalte hatte. Ganz im G ­ egenteil ist Haller eine ausgesprochene und für einen »borussisch« argu304 Ebd., S. 229 f. 305 Ebd., S. VIII. 306 Auch durch den weiteren Verlauf der Ereignisse wie etwa den Ausgang der Londoner­ Konferenz vom Juli 1931, in der angesichts der Weltwirtschaftskrise über den Umgang mit Deutschlands Reparationszahlungsverpflichtungen beraten wurde, sah Haller seine­ Befürchtung bestätigt, dass Frankreich die Destabilisierung Deutschlands anstrebe und jeder deutsche Versöhnungsversuch illusionär sei; vgl. dazu Haller, Verständigung. 307 So lautet auch das Urteil von Sattler, § 5. Allgemeines zur deutschen Geschichte und Gesamtdarstellungen, S. 107. 308 Haller, Tausend Jahre, S. 209. 309 Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 306. In diesem Sinne äußert sich auch Kraus, Deux Peuples, S. 282. Kaudelka, Johannes Haller, will diese Auffassung nicht gelten lassen, hat ihr aber in der Sache gar nichts entgegenzusetzen. Dass Hallers düstere Zukunftsprognose politisch missbrauchbar gewesen sei (bes. S. 193 f.), ist weder so eindeutig, wie Kaudelka suggeriert, noch besagt es irgendetwas gegen Hallers Sachanalyse. Schöttler, Die deutsche Geschichtswissenschaft und Marc Bloch, S. 162, wird Hallers Darstellung ebenfalls nicht gerecht, wenn er es neben zwei älteren Werken von Fritz Kern und Aloys Schulte als re­ präsentativ für die Auffassung der deutschen Historikerschaft »über die tausendjährige Expansionspolitik des westlichen Nachbarn« bezeichnet.

Frankreich

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mentierenden Deutschnationalen erstaunliche Romanophilie zu attestieren.310 Diese beschränkte sich nicht auf Italien, sondern umfasste auch Frankreich mit, das er um die Jahrhundertwende sehr oft zu Forschungszwecken bereiste. Dass er von Paris begeistert war, und zwar noch stärker als von Rom, ist durch seine Briefe aus dieser Zeit belegt.311 Im Zuge der Pläne, die er mit Paul Kehr schmiedete, war zeitweilig sogar die Möglichkeit einer dauerhaften Übersiedlung nach Paris aufgeschienen.312 Und schließlich war Frankreich für Haller ein kontinuierlicher Untersuchungsgegenstand in Forschung und Lehre.313 Von seiner insgesamt sachlichen Beurteilung der deutsch-französischen Frage ist Haller nur während der beiden Weltkriege abgewichen. Seine Stellungnahmen von 1917 und 1940 sind geprägt von einer deutlichen Verschärfung der Polemik, auch von einer generalisierenderen Kritik an der französischen Deutschlandpolitik.314 Doch auch 1917 hielt Haller noch an dem Wunsch einer »Versöhnung« fest – unter der Voraussetzung allerdings, dass sich ein »neues Frankreich« bilde, nachdem man das alte vernichtend geschlagen habe.315 Haller war sich der Wirkungen solcher Äußerungen durchaus bewusst: Als 1920 sein Nachname auf einer Liste französischer Auslieferungsforderungen erschien, hielt Haller es zwar für unwahrscheinlich, dass man ihn meine, schloss dies aber mit Blick auf seinen Aufsatz von 1917 nicht aus, da Frankreich auch die Auslieferung derjenigen Personen gefordert habe, »die während des Krieges die öffentliche Meinung ir­regeführt hätten.«316 Als gültige Zusammenfassung des Hallerschen Frankreichbildes jedenfalls sind nicht seine kriegspublizistischen Artikel, sondern eben die »Tausend Jahre« zu verstehen.317 Das öffentliche Echo auf das Buch war groß und vornehmlich positiv: In der Tagespresse wurde es zumeist wohlwollend besprochen – übrigens auch in der englischen, was 1932 zu einer Übersetzung führte.318 Hallers pessimistischer 310 Vgl. dazu auch die Kapitel III und IV. 311 Vgl. bes. Johannes Haller an Rudolf Wackernagel, 19. September 1894: Staatsarchiv BaselStadt, PA 82a L 1.5 112 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 31. 312 Vgl. dazu Kapitel V.1. 313 Vgl. dazu Kapitel III.2. Vgl. außerdem Ernst, Johannes Haller, S. 8 und S. 12. Haller hielt zudem regelmäßig eine vierstündige Vorlesung über »Frankreich, England und den­ Orient«; vgl. etwa Johannes Haller an das württembergische Kultministerium, 25. Januar 1931: UAT 126/241 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 234. 314 Haller, Das Elsaß und das Reich; Haller, Deutschland und Frankreich. 315 Ebd., S. 497. 316 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 8. Februar 1920: BArch N 1035/28; Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz III, Nr. 1597, S. 2306. Tatsächlich war nicht Haller, sondern ein gleichnamiger Hauptmann gemeint; vgl. dazu Röhl, Eulenburgs politische Korrespondenz I, S. 63. 317 So auch Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 296. 318 Haller, France and Germany. Vgl. dazu auch E. W. Dickens an Johannes Haller, 17. November 1931: UAT 305/4; dort befinden sich auch weitere Briefe zur Anbahnung der englischen Übersetzung sowie die Besprechung des Buches im englischen »Guardian«. Dass Haller umgekehrt in Frankreich nicht mit Lob überschüttet wurde, ist wenig verwunderlich:

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Schluss wurde von manchen Rezensenten bedauert, von den meisten allerdings als folgerichtig eingeschätzt.319 Zu den zahlreichen brieflichen Gratulanten gehörten der deutsche Untergeneralsekretär im Völkerbund, Albert Dufour von Féronce, die britische Schriftstellerin Dora von Beseler, der deutsche Botschafter in Paris, Roland Köster und nicht zuletzt der niederländische Historiker Johan Huizinga.320 Und auch die anderen Fachkollegen fanden zwar Anlass zu Einzelkritik oder störten sich an den teilweise »überspitzt[en]« Urteilen, lobten das Buch aber zumeist als begrüßenswerten und differenzierten Diskussionsbeitrag.321 Das war auch der Tenor der Rezension von Wilhelm Mommsen in der Historischen Zeitschrift, der die Breite des Hallerschen Ansatzes lobte, zugleich aber die Behauptung zurückwies, Bismarck habe im Ernst ein deutsch-englisch-französisches Bündnis favorisiert.322 Denselben Kritikpunkt benannte Werner Frauendienst in den »Berliner Monatsheften«, der das Buch ansonsten aber fast hymnisch lobte und Hallers Darlegung ausführlich zusammenfasste.323 Es zeigt sich darin ein auch bei Hallers anderen auf ein breiteres­ Publikum zielenden Veröffentlichungen beobachtbarer Unterschied zwischen der Rezeption des Publikums und der Fachkollegen.324 Dieser Unterschied ist vgl. dazu Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 306; vgl. auch die allerdings tendenziöse Darstellung bei Kaudelka, Johannes Haller, S. 192. 319 Eine Sammlung zahlreicher Rezensionen der »Tausend Jahre« befindet sich in: UAT 305/4. Dieser Befund entspricht auch demjenigen von Schulin, Das Frankreichbild deutscher Historiker, der für die Weimarer Zeit feststellt, dass es zwar vereinzelt auch »positivere« Auffassungen vom deutschen Verhältnis zu Frankreich gab als diejenige Hallers, dass Haller aber wohl doch als Vertreter einer differenzierten Position innerhalb des Hauptstroms der deutschen Historikerschaft zu betrachten ist. 320 Vgl. Albert Dufour von Féronce an Johannes Haller, 5. Oktober 1931; Dora von Beseler an Johannes Haller, 16. September 1931; Roland Köster an Johannes Haller, 28. Februar 1933; alle in: UAT 305/4, dort auch zahlreiche weitere Privatbriefe zu Hallers Buch. Vgl. außerdem Johan Huizinga an Johannes Haller, 29.  August 1931: BArch N 1035/20; Huizinga, Briefwisseling II, Nr. 905, S. 348 f. 321 Vgl. Arnold Oskar Meyer an Johannes Haller, 18. Mai 1930: BArch N 1035/22; vgl. Otto Scheel an Johannes Haller, 12. April 1935: BArch N 1035/19; vgl. Alfred Körte an Johannes Haller, 5. Mai 1930: UAT 305/4, dort auch das Zitat. Mit Arnold Oskar Meyer hatte­ Haller schon während des Ersten Weltkrieges über die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen korrespondiert; vgl. dazu Johannes Haller an Arnold Oskar Meyer, 1. Januar 1916: SUB Göttingen, Cod. Ms. A. O. Meyer 169, 7 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  146. Vgl. dazu auch Meyer, Die Wurzeln der deutsch-französischen Erbfeindschaft. Meyer setzt darin den definitiven Ausbruch des Gegensatzes wie Haller im 17. Jahrhundert an, geht aber von einer seit der Reichsteilung im 9. Jahrhundert latent bestehenden Feindschaft aus (bes. S. 7–13). 322 Mommsen, Rez. »Johannes Haller: Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen«, S. 402. 323 Vgl. Frauendienst, Rez. »Johannes Haller: Tausend Jahre deutsch-französischer Bezie­ hungen«, S. 196–198. Vgl. dazu auch Werner Frauendienst an Johannes Haller, 26. Februar 1931: UAT 305/55. 324 Vgl. dazu auch Kapitel VII.2.

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aber nicht allzu hoch zu veranschlagen: Weder nahm das Publikum Hallers Darstellung vollständig kritiklos hin, noch versagten ihr die Fachorgane den Respekt. Insgesamt war Hallers Sichtweise der deutsch-französischen Beziehungen in ihrer historischen Dimension ein sehr einflussreicher und nahezu einhellig als mindestens diskutabel akzeptierter Debattenbeitrag.

6. Emeritierung und Nachfolge Schon bei der Übernahme der Jubiläumsschrift für die Tübinger Universität wird es eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben, dass Haller sich damit von einem großen Teil  seiner Lehrverpflichtungen befreien lassen konnte.325 Ab Ende der 1920er Jahre richtete Haller gewissermaßen regelmäßig die Bitte an das Ministerium, von immer weiteren Amtsverpflichtungen entbunden zu werden. Zwischen 1929 und 1931 erreichte er mit dem Hinweis auf seine prekäre Gesundheit zuerst die Befreiung von der Abhaltung von Seminarübungen, später auch teilweise von Vorlesungen.326 Im Oktober 1931 – zwei Tage vor seinem 66. Geburtstag – war für ihn der Punkt erreicht, um die Versetzung in den R ­ uhestand zu bitten. Er bot allerdings an, sein Gesuch zurückzuziehen, wenn ihm dafür zugesichert werde, »mich von der Teilnahme an den Sitzungen und von allen Geschäften des Senats und der Fakultät ein für allemal als befreit anzusehen.«327 Für das Sommersemester 1932 allerdings musste Haller um vollständige Beurlaubung bitten, für das Wintersemester dann endgültig um die Versetzung in den Ruhestand, die tatsächlich zum 1. Oktober des Jahres erfolgte.328 In den Gesuchen nannte Haller zur Begründung ausschließlich seinen Gesundheitszustand und sein Alter. Tatsächlich dürften Hallers chronische Gelenk-, Herz- und Ohrenbeschwerden, die er nur mit einem strikten Gesundheitsprogramm und regelmäßigen Kuraufenthalten einigermaßen in den Griff bekam, für die wiederholten Bitten um Entlastung ausschlaggebend gewesen sein. Die Bitte vom Oktober 1931, ihn doch wenigstens von der Teilnahme an allen Angelegenheiten des Senats und der Philosophischen Fakultät zu be325 Vgl. Württ. Kultministerium an das Akademische Rektoramt der Universität Tübingen, 8. Mai 1926: UAT 117/2003, 61. 326 Vgl. dazu die Schreiben Hallers an das württembergische Kultministerium, 19. April 1929, 17. September 1930 und 25. Januar 1931, alle in: UAT 126/241. 327 Johannes Haller an das württembergische Kultministerium, 14.  Oktober 1931: UAT 126/241 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 237. Vgl. auch die Genehmigung des Gesuchs vom 17. November 1931: UAT 126/241. 328 Vgl. Johannes Haller an das württembergische Kultministerium, 17.  Februar 1932 und 2. Juni 1932: UAT 126/241 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 240 und 245. Vgl. auch die Annahme des jeweiligen Gesuchs vom 27. Februar 1932 und vom 21. Juni 1932: UAT 126/241.

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freien, lässt allerdings noch einen zweiten Grund vermuten, nämlich das immer schwierigere Verhältnis zu den Kollegen.329 Die Vermutung wird bestätigt durch einen Brief, den der Emeritus Haller im Januar 1933 an seinen lang­ jährigen Freund Ferdinand Wagner schrieb, dem er die Gründe für sein Handeln darlegte: »Das Unterrichten vom Katheder herab war mir niemals wirkliches Bedürfnis, ich war seiner allmählich recht müde geworden, und da die fortgesetzten Kränkungen und Hetzereien, die ich von Seiten meines nächsten Kollegen Wahl und einer ihm­ folgenden Gruppe zu erdulden hatte, zu einem förmlichen Bruch mit der Fakultät­ geführt hatten (schon 1930/1), so nahm ich meine immer schwankender werdende Gesundheit (Gallensteine, Gelenkrheuma, Herzbeschwerden und Katarrhe) zum Anlaß, um meine Emeritierung zu erbitten. Sie wurde mir, da ich das dazu erforderliche Alter (67) schon überschritten hatte, unter schmeichelhafter Anerkennung meiner Dienste als Lehrer und Forscher, Rektor und Historiograph der Universität, gewährt.«330

In den Akten findet sich aus der Zeitspanne, die Haller hier nennt – 1930/31 – ausschließlich der Streit um die Berufung des Althistorikers Richard Laqueur, bei dem eine Gruppe um Adalbert Wahl gegen, Haller jedoch für die Berufung Partei ergriffen hatte. Bei diesem Streit spielte offenbar auch die jüdische Abstammung Laqueurs eine Rolle.331 Damit scheint also das Tischtuch zwischen Haller und Teilen seiner Fakultät endgültig zerschnitten gewesen zu sein. Haller lag aber keineswegs mit der ganzen Universität im Streit, als er ging: Die Studentenschaft machte ihm ein Abschiedsgeschenk, und die juristische Fakultät verlieh ihm die Ehrendoktorwürde.332 Hallers Schüler Heinrich Dannenbauer, 329 Vgl. dazu Kapitel VII.4. 330 Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 22.  Januar 1933: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 251. Faktisch hatte Haller das erforderliche Alter von 67 Jahren zum Zeitpunkt seiner Emeritierung noch gar nicht überschritten, da er dieses Alter erst am 16. Oktober 1932 erreichte. 331 Vgl. dazu Kapitel VII.4. Die Feindschaft zwischen Wahl und Haller war allerdings noch älter und hatte verschiedene Ursachen; vgl. dazu etwa Eschenburg, Also hören Sie mal zu, S.  160: »Sie wohnten ungefähr fünf oder zehn Minuten auseinander, hatten denselben Weg zur Universität, aber grüßten sich nicht. Der Grund dafür war, daß Haller, der Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte, ein Kolleg über Bismarck hielt, wozu er natürlich das Recht hatte, was aber Wahl als Einbruch in sein Gebiet empfand. Das Verhältnis verschlimmerte sich noch, seit Spengler in seinem berühmten ›Untergang des Abendlandes‹ geschrieben hatte, es gäbe eigentlich nur eine brauchbare Geschichte der Französischen Revolution, nämlich die von Wahl. Nun goß Haller Hohn und Spott über Spengler und sein vielbesprochenes Buch aus, in dem er ein besonders drastisches Beispiel für Effekthascherei sah. Ob nun eine Zahnpastafabrik ihre Ware ›Nivea‹ nenne oder eine phar­ mazeutische Fabrik ihre Hühneraugenmittel ›Kukirol‹ oder ein Schriftsteller sein Buch ›Der Untergang des Abendlandes‹, so spottete er, es sei alles dasselbe, nämlich Reklame.« 332 Vgl. Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 22. Januar 1933: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 251. Vgl. Außerdem das Schreiben des akademischen Rektors der Universität Tübingen an Johannes Haller, 27. Juli 1932: UAT 126/241.

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der ihn in den Ausfallsemestern bereits vertreten hatte, veröffentlichte zudem einen offiziellen Abschiedsgruß, in dem er Hallers Qualitäten als Lehrer hervorhob und darauf hinwies, dass Haller trotz hoher Anforderungen und seiner »ausgeprägte[n], scharfe[n] und kantige[n] baltische[n] Art« ein herzliches und anteilnehmendes Verhältnis zu seinen Schülern gehabt habe.333 Dass derselbe Dannenbauer schließlich auch Hallers Nachfolger auf dem Tübinger Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte wurde, lag allerdings zunächst gar nicht in Hallers Absicht. Die Vorschlagsliste der Philosophischen Fakultät enthielt den Namen Dannenbauers überhaupt nicht. Auf Listenplatz  1 standen gleichberechtigt Fritz Rörig und Hermann Aubin.334 Rörig war bis dahin verfassungs- und wirtschaftshistorisch ausgewiesen und hatte sich intensiv mit der Geschichte der Hanse beschäftigt.335 Aubin, ein Schüler Georg von Belows, stand dagegen für einen neuen, volksgeschichtlichen Ansatz, der auch Anregungen aus der »Kulturgeschichte« Karl Lamprechts aufnahm.336 Als nicht ebenbürtig, aber dennoch vorbehaltlos für den Tübinger Lehrstuhl geeignet galten der Fakultät außerdem der Karl-Hampe-Schüler Friedrich Baethgen sowie Bernhard Schmeidler, ein Schüler Paul Scheffer-Boichorsts.337 Im Großen Senat der Universität Tübingen meldete Haller einen Vorbehalt gegen die Vorschlagsliste an; dieser betraf aber nicht die Nichtberücksichtigung Dannenbauers, sondern lediglich die Gleichwertigkeit von Rörig und A ­ ubin. Aubin, so Haller, vertrete eine seiner eigenen diametral entgegengesetzte geschichtswissenschaftliche Richtung. Deshalb beantrage er, Rörig allein auf Platz 1 zu setzen und Aubin dahinter auf Platz 2.338 Im ausdrücklichen Einverständnis mit der Philosophischen Fakultät wurde die so modifizierte Liste an das Ministerium weitergegeben.339 Rörig allerdings lehnte den Ruf ab, was die Verhandlungen verzögerte und eine direkte Berufung zum Wintersemester 1932/33 unmöglich machte. Erst die neuen politischen Bedingungen nach dem 30. Januar 1933 führten dann zur Berufung des NSDAP-Mitglieds Dannenbauer, obwohl dieser auch auf der neuen Vorschlagsliste – auf Platz 1 Friedrich Baethgen, auf Platz 2 Carl Erdmann, auf Platz 3 Paul Kirn – fehlte. Das württembergische Kultministerium wünschte aber die Berufung des Parteigenossen und forderte Haller zum Gutachten auf. Dieser machte sich nun doch vehement für seinen Schüler stark, 333 Heinrich Dannenbauer: Zum Abschied Herrn Prof. Hallers, in: UAT 305/22. 334 Philosophische Fakultät der Universität Tübingen an den Großen Senat der Universität Tübingen, 12. Juli 1932: UAT 119/151. 335 Zu Rörig vgl. Pauler, Rörig, Fritz. 336 Zu Aubin vgl. Mühle, Hermann Aubin. 337 Zu Baetghen vgl. Tellenbach, Das wissenschaftliche Lebenswerk; zu Schmeidler vgl. Löwe, Bernhard Schmeidler. Baethgen vermutete hinter seine Nichtberufung eine Intrige Hallers: vgl. dazu Reichert, Gelehrtes Leben, S. 282. 338 Vgl. das Sitzungsprotokoll des Großen Senats der Universität Tübingen vom 30. Juli 1932: UAT 47/40, S. 154 f. 339 Großer Senat der Universität Tübingen an das württembergische Kultministerium, 30. Juli 1932: UAT 119/151.

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was aber wiederum vom Universitätssenat als Einmischung empfunden wurde, sodass der Senat nicht einmal bereit war, ­Dannenbauer auf Platz 4 zu setzen. Die Liste völlig ignorierend, setzte das Ministerium daraufhin Dannenbauer zum 1. Juli 1933 als Hallers Nachfolger ein.340 In wissenschaftlicher Hinsicht hat Haller seine Intervention für Dannenbauer später zumindest teilweise bereut.341 In politischer Hinsicht war damit vonseiten Hallers keine Stellungnahme zugunsten des Nationalsozialismus verbunden, da er sich zu diesem Zeitpunkt bereits innerlich von der Hoffnung auf die NSDAP losgesagt hatte und da Dannenbauer sehr bald nach der Berufung – unisono mit Haller – als dezidierter Kritiker der nationalsozialistischen Geschichts- und Wissenschaftspolitik auftrat.342 Es ging Haller vielmehr ausschließlich darum, einen Schüler zu versorgen, der ihm durch seine Vertretungen den beruflichen Ausstieg erheblich erleichtert hatte.

340 Ausführlich dazu Lüdtke, Vom Elend der Professoren, S. 117–119, dort auch die entsprechenden Quellenverweise auf die Sitzungsprotokolle und den Schriftverkehr des Ministeriums. Vgl. außerdem Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 31.  Mai 1933 und 24. Juni 1933: BArch N 1035/29; vgl. Heinrich Dannenbauer an Johannes Haller, 28. Mai 1933 und 6. Juli 1933: BArch N 1035/19. Vgl. schließlich Daniels/Michl, Strukturwandel, S. 62 und Nagel, Im Schatten, S. 35. 341 Vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 15. April 1938: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 298: »Ueberhaupt: was aus einem übrigens tüchtigen Menschen werden kann, wenn er nicht versteht oder es verschmäht, sich Freunde zu machen, das sehe ich jetzt an Dannenbauer. Ich fürchte, es kostet ihn noch den Kragen. Er hat aber auch garnichts getan, seine Stellung zu sichern. Man kennt ihn in Tübingen heute so­ wenig wie vor 4 Jahren. Schließlich bin ich noch der Blamierte, da ich ihn gegen alle Widerstände durchgesetzt habe. Bisher hat er das nicht gerechtfertigt, denn irgendwelche Leistungen von Gewicht hat er überhaupt nicht aufzuweisen. Es bekümmert mich, aber es ist nicht zu ändern.« 342 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.

VIII. Nationalsozialismus (1933–1945) 1. Die Auferstehung der deutschen Nation? In Bezug auf Hallers Verhältnis zum Nationalsozialismus sind die Fakten im Großen und Ganzen bekannt. Ihre Interpretation ist allerdings umstritten: Gilt Haller in einer Perspektive als anfänglich hoffnungsvoller, sehr bald aber eher kritisch-distanzierter Beobachter des politischen Geschehens im Sinne einer »angewiderten Bewunderung«, so steht er in anderer Perspektive als zwar hier und da kritischer, im Wesentlichen aber begeisterter Befürworter der nationalsozialistischen Politik da.1 Zum einen ergibt sich die Differenz der Interpretationen aus dem jeweils gewählten Interpretationsrahmen, wobei grundätzlich gilt, dass Hallers »NS-Nähe« umso stärker behauptet wird, je mehr man dazu neigt, die Unterschiede zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus überhaupt zu negieren.2 Zum anderen – und teilweise unmittelbar damit verbunden – werden Handlungen wie Äußerungen Hallers nicht bloß verschieden gewichtet, sondern auch unterschiedlich gedeutet und kontextualisiert. Der Versuch einer historisch plausiblen Einordnung von Hallers Verhalten gegenüber dem Nationalsozialismus ist daher unbedingt geboten, zumal sich aus dem Verhalten des in vielerlei Hinsicht für den deutschnationalen Konservatismus der 1920er und 1930er Jahre typischen Haller gerade auch das grundsätzliche Verhältnis zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus erhellen lässt. Hallers erste »Aktion« im Hinblick auf den Nationalsozialismus war die­ Unterzeichnung eines Aufrufes der Sektion »Universitäten und Hochschulen« des »Kampfbundes für deutsche Kultur«, der am 30. April 1932 im »Völkischen Beobachter« erschien.3 Der Veröffentlichungsort war einschlägig, aber es handelte sich ausdrücklich nicht um eine Werbemaßnahme für die NSDAP. Der »Kampfbund« wurde vielmehr als parteiübergreifende Organisation vorgestellt, deren Ziel die Sammlung zu einer Art neuem Kulturkampf, nämlich gegen den »Kulturbolschewismus« sei. Geworben wurde besonders um die Akademikerschaft, die wegen der wünschenswerten »akademischen Freiheit« von unmittelbaren politischen Bindungen absehen wolle, die aber doch an diesem alle 1 Die erste Perspektive wird eingenommen von Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, sowie tendenziell von Weiß, Paul Kehr, S. 48; die zweite von Volkmann, Von Johannes Haller sowie tendenziell von Kaudelka, Johannes Haller, S. 196 und Krumm, Johan Huizinga, S. 169 f. 2 Vgl. dazu auch Kapitel VII.2. Als Überblick zu den verschiedenen, jeweils auch spezifisch politisch motivierten Deutungsmöglichkeiten des Verhältnisses zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus vgl. Nolte, Konservativismus und Nationalsozialismus. 3 Aufruf des »Kampfbundes für deutsche Kultur«, in: Völkischer Beobachter vom 30. April 1932, dort auch die folgenden Zitate. Grundlegend zum »Kampfbund«: Gimmel, Die politische Organisation.

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Deutschen angehenden »Schicksalskampf« teilnehmen müsse. Dem Aufruf angehängt waren die Unterschriften von 42 deutschen Gelehrten, darunter neben Haller auch Adalbert Wahl und Jakob von Uexküll. Man darf aber trotzdem davon ausgehen, dass Haller zu diesem Zeitpunkt seine politischen Hoffnungen in die NSDAP setzte; schon allein deshalb, weil der von Alfred Rosenberg gegründete Bund faktisch eine Vorfeldorganisation der NSDAP war.4 Unmissverständlich machte Haller seine politischen Präferenzen öffentlich, als seine Unterschrift Ende Juli 1932 wiederum im »Völkischen Beobachter« – aber nicht nur dort – auf einer »Erklärung deutscher Universitätslehrer« erschien.5 Von den insgesamt 51 Unterzeichnenden waren drei Historiker, und von diesen – neben Haller handelte es sich noch um dessen Schüler und Freund Helmut Göring sowie um Günther Franz – war Haller mit Abstand der bekannteste. Die Erklärung gipfelte in dem Satz: »Wir erwarten zuversichtlich von nationalsozialistischer Führung im Staate die Gesundung unseres ganzen öffentlichen Lebens und die Rettung deutschen Volkstums und sind entschlossen, jeder an seinem Teil dafür zu wirken.«6

In einem längeren Vorlauf begründete man diese Auffassung damit, dass die NSDAP Trägerin einer »Volksbewegung« sei, die in den geistigen Traditionen Friedrichs des Großen, Fichtes und des Freiherrn vom Stein stehe und die eine »nationale Gesinnung« mit einem »sozialem Gewissen« verbinde. Vorbehalte gerade aus intellektueller Sicht wurden allerdings durchaus thematisiert: »Auch wir akademische Lehrer sind durch alle Bedenken hindurchgegangen, die den intellektuellen Menschen bei einigen Zielgedanken der national-sozialistischen Bewegung kommen. Die wesentlichen Gedanken aber, vor allem: die Bekämpfung des fremdrassigen Einflusses in unserem Volksleben, die Einschränkung des Eigen­nutzes auf allen Gebieten, soweit er dem allgemeinen Nutzen entgegen handelt, der Wille zur Befreiung des Staates und des sozialen Lebens von der materialistischen Fessel des­ Finanzkapitals, diese wesentlichen Zielgedanken sind durch alle einzelnen Bedenken 4 Vgl. ebd., S.  13–22. Einen weiteren Hinweis auf Hallers positive Haltung zum National­ sozialismus im April 1932 bietet die Antwort auf einen nicht aufgefundenen Brief Hallers an den Maler Hans Lietzmann: Hans Lietzmann an Johannes Haller, 18. April 1932: BArch N 1035/22: »Politisch klopfte der Nationalsozialismus in der letzten Zeit in dreifacher Gestalt an meine Türe, erstens Ihr langer u mich sehr beeindruckender Brief […].« Vgl. dazu auch Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S.  455, Anm.  36. Andererseits be­ urteilte er brieflich gegenüber seinem ältesten Sohn die NSDAP nicht unkritisch: Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 10. Mai 1932: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 244: »Wenn nur die NS. nicht mit so viel früheren Sünden behaftet wären und­ etwas bedeutendere Vertreter hätten! Aber damit hapert es überall. Ihr Anhang wächst, aber ihre Führer sind und bleiben problematische Gestalten.« 5 Erklärung deutscher Universitäts- und Hochschullehrer, in: Völkischer Beobachter Nr. 211 vom 29. Juli 1932. Offenbar erschien der Aufruf mindestens auch noch in der Tübinger Lokalpresse: vgl. Schönhagen, Tübingen unterm Hakenkreuz, S. 63 f. 6 Erklärung deutscher Universitäts- und Hochschullehrer, in: Völkischer Beobachter Nr 211 vom 29. Juli 1932, dort auch die folgenden Zitate.

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hindurch von uns als grundsätzlich richtig erkannt. Die von vielen gefürchtete Einschränkung der geistigen Freiheit durch ein engstirniges nationalistisches Schema fürchten wir nicht, nachdem wir die geistige Öde und Unduldsamkeit des unter dem Scheine geistiger Freiheit wirkenden internationalen Schemas in Kunst, Film und Rundfunk kennengelernt haben. Bedenken über einzelne Erscheinungen treten für uns zurück, da wir dem Geist der oberen Führer und ihrer erprobten Fähigkeit zur Reinhaltung der Bewegung vertrauen.«7

Das war schon eine weitgehende Aneignung weltanschaulicher Kernelemente des Nationalsozialismus, wobei allerdings  – im Hinblick auf die Bemerkungen zur »Bekämpfung des fremdrassigen Einflusses in unserem Volksleben« und das »Finanzkapital« – zu bemerken ist, dass dies höchstens implizit, jedenfalls nicht explizit auch den Antisemitismus umfasste und dass die erwähnten »einzelnen Bedenken« sich durchaus auch und gerade darauf beziehen konnten. Hallers in den Lebenserinnerungen nachträglich aufgestellte Behauptung, »niemals Antisemit«8 gewesen zu sein, mag in dieser Absolutheit nicht zutreffen – von gewissen antijüdischen Vorbehalten war er nicht frei9 –, aber er polemi­sierte doch deutlich gegen die nationalsozialistische Rassenlehre und­ bekannte sich zu Freunden mit »halbjüdischen« Ehepartnern wie Jakob von Uexküll auch dann noch, als dieser in Bedrängnis geriet.10 Es handelte sich bei der »Erklärung der Hochschullehrer« auch weniger um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit sämtlichen Aspekten der nationalsozialistischen Weltanschauung als vielmehr um Tagespolik: Denn auch wenn von Wahlen in der Erklärung nicht die Rede war, so handelte es sich doch schon allein aufgrund des Veröffentlichungszeitpunktes so kurz vor der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 faktisch um einen Wahlaufruf zugunsten der NSDAP. Diese erhielt 37,4 % der Stimmen und wurde damit mit Abstand die stärkste Partei des neuen Reichstags. Dieselbe Reichstagswahl wiederum verstärkte bei Haller die schon zuvor nachweisbaren Vorbehalte gegenüber der Partei: Infolge von Ausschreitungen vor allem aus dem Lager der NSDAP einerseits, der mit 14,6 % drittstärksten Partei, der KPD, andererseits, waren über dreihundert Menschen ums Leben gekommen und mehr als tausend verletzt worden.11 Am 13. August 1932 machte Hitler zudem in einem Gespräch mit dem Reichspräsidenten Hindenburg und dem Reichskanzler Papen deutlich, dass er als Vizekanzler und damit als Teil einer nicht von ihm selbst geführten Regierung nicht zur Verfügung stehe.12 7 Ebd. 8 Haller, Lebenserinnerungen, S. 238. 9 Vgl. dazu vor allem Kapitel IV.5. 10 Vgl. dazu Kapitel VIII.2. Eine Übersicht über Aussagen Hallers in dieser Frage bietet außerdem Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 467, Anm. 72. 11 Vgl. dazu Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S.  456 f., dort auch weitere Literaturhinweise. 12 Vgl. dazu die Aufzeichnungen über das Treffen, abgedruckt in: Minuth, Das Kabinett von Papen I, S. 391–396. Vgl. außerdem Pyta, Hindenburg, S. 718–726.

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In einem Brief an Axel Varnbüler vom 28. August 1932 ließ Haller daher bereits deutliche Zweifel an der Richtigkeit seiner Unterstützung der NSDAP erkennen, die er sich allerdings fürs erste noch von Varnbüler wieder ausreden ließ.13 Zehn Tage zuvor hatte Haller sich brieflich an Alfred Rosenberg gewandt und diesen vor einer Umsetzung nationalsozialistischer Bildungsreformpläne gewarnt, die die in Universitätskreisen um sich greifende Skepsis gegenüber der Bewegung noch verstärken würden. Dabei habe man mit der öffentlichen Er­k lärung vom 29. Juli genau dem entgegenwirken wollen, sei allerdings bei der Parteiführung auf taube Ohren gestoßen und müsse daraus wohl schließen, dass die NSDAP keine Unterstützung aus der Professorenschaft wünsche.14 Spätestens am 17. September 1932 waren dann für Haller alle Hoffnungen auf die NSDAP erledigt. Der letzte Anstoß scheint die Reichstagssitzung vom 12. September 1932 gewesen zu sein, in der die NSDAP-Fraktion das Misstrauens­voutum der Kommunisten gegen die Regierung Papen unterstützte, deren Sturz nur dadurch verhindert werden konnte, dass der Reichstag zuvor rechtskräftig aufgelöst worden war.15 Demselben »Kampfbund für deutsche Kultur« jedenfalls, den Haller im April 1932 öffentlich unterstützt und dem er im Mai sogar einen Zeitschriftenaufsatz versprochen hatte, kündigte Haller am 17. September 1932 die Mitarbeit auf und begründete dies mit der Nähe des Bundes zur NSDAP, die er anfangs noch aufgrund der durch die Partei repräsentierte »nationale Bewegung« toleriert habe: »Darin habe ich mich vollständig geirrt. Niemand kann sich heute mehr darüber täuschen, dass die Partei sich für die proletarische Richtung entschieden, und dass sie mit ihrer ›Taktik‹ ihre eigenen bisherigen Ziele und Bekenntnisse verleugnet hat. Abgesehen von den öffentlichen Vorgängen, die jeder kennt, habe ich auch persönlich gewisse Erfahrungen machen müssen, die keinen Zweifel darüber lasse [!], dass Mitarbeit aus akademischen Kreisen – entgegen früher gehörten Versicherungen – bei den massgebenden Stellen der Parteileitung auf Gleichgültigkeit, ja auf Ablehnung stösst. Ich kann mich also der bitteren Einsicht nicht länger verschliessen, dass alle Hoffnungen und Erwartungen, die ich mit vielen anderen auf diese Bewegung gesetzt hatte, grundlos waren und nie in Erfüllung gehen werden.«16 13 Johannes Haller an Axel Varnbüler, Freiherr von Hemmingen, 28.  August 1932: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, P 10 Bü 1091 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  247: »Daß Sie gegenüber der nationalen Bewegung mit mir fühlen, hat mich im tiefsten Herzen erfreut und gestärkt. Wenn ein Mann von Ihrer Lebenserfahrung, Ihrem Scharfblick an eine Sache glaubt, so müssen alle Zweifel schweigen, die sich ja – bei mir wenigstens – oft genug meldeten.« 14 Johannes Haller an Alfred Rosenberg, 18.  August 1932: BArch N 1035/9 (eigenhändiges Briefkonzept) bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 246. 15 Vgl. dazu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte VII, S. 1092–1100. 16 Johannes Haller an den Kampfbund für deutsche Kultur, 17. September 1932: UAT 305/19 (maschinenschriftliche Abschrift) und BArch N 1035/9[a] (eigenhändiges Konzept) bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 248. Es handelte sich dabei bereits um ein Erklärungsschreiben Hallers; die Aufkündigung der Mitgliedschaft muss einige Tage zuvor erfolgt sein: vgl. dazu das Schreiben des Kampfbundes für deutsche Kultur an Johannes ­Haller,

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Einen Monat später erklärte Haller auch dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, dass er den Nationalsozialismus nicht mehr öffentlich unterstützen werde, weil er sich »in der Beurteilung der in der nationalsozialistischen Bewegung führenden Personen geirrt habe.«17 Und auch im privaten Umfeld machte Haller kein Geheimnis aus seiner nun negativen Beurteilung der »Hitlersche[n] Bewegung«.18 Öffentlich äußerte sich Haller zwar nicht mehr zur Sache, aber die Briefe an Rosenberg, Kampfbund und Studentenbund waren doch mindestens so etwas wie eine parteiintern öffentliche Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus. Und als am Tag vor der Reichstagswahl vom 6. November 1932 ein erneuter Professorenaufruf im »Völkischen Beobachter« erschien, der mit demselben Satz endete wie derjenige vom Juli des Jahres, war der Name Hallers in der Liste der Unterzeichner nicht mehr zu finden.19 Die Gründe für Hallers Ablehnung des Nationalsozialismus liegen somit auf der Hand: Mit der Sorge vor einem Sieg der »proletarischen Richtung« inner­ halb der Partei war nicht so sehr die Befürchtung gemeint, der »linke« Flügel um die Brüder Strasser könne sich gegen Hitler durchsetzen20, sondern sie war Ausdruck der Abneigung gegenüber einer revolutionären und gewaltsamen Politik und der Befürchtung, das politische Personal der NSDAP sei ungeeignet, die von Haller seit 1919 erhoffte »Auferstehung der deutschen Nation« in die Wege zu leiten.21 Dieses Ziel – die Retablierung Deutschlands als kulturelle und politische Großmacht – war es auch, das Hallers kurzzeitiges Liebäugeln mit dem Nationalsozialismus hinreichend erklärt. Die nationalsozialistische Ideologie – insbesondere der Antisemitismus – spielte in diesem Zusammenhang für Haller keine Rolle. Nur solange und insofern er die NSDAP als Spitze einer »nationalen Bewegung« verstehen konnte, die die Folgen der Niederlage des Ersten Weltkriegs beseitigen werde, war Haller ein Befürworter des Nationalsozialismus. Hitler war in solcher Perspektive gewissermaßen ein »neuer Bismarck«22, der dessen politisches Erbe antrat: die Restituierung und Konsolidierung des deutschen Nationalstaates. Schon 1920 hatte Haller seine Hoffnungen in eine Entwicklung der Weimarer Republik hin zu einer autoritären Staatsform mit einem 15. September 1932: BArch N 1035/9[e]. Vgl. außerdem Kampfbund für deutsche Kultur an Johannes Haller, 9. Mai 1932: BArch N 1035/9[e]. 17 Johannes Haller an den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, 27.  Oktober 1932: BArch N 1035/9[d] bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 250. 18 Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 22. Januar 1933: N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 251. Vgl. auch Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 29. Januar 1933: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 252. 19 Deutsche Hochschullehrer für Adolf Hitler. Erklärung deutscher Universitäts- und Hochschullehrer, in: Völkischer Beobachter Nr. 310 vom 5. November 1932. 20 Gegen Volkmann, Von Johannes Haller, S. 23 f. 21 Vgl. dazu Kapitel VI.3. 22 Johannes Haller an Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, 30. Dezember 1920: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 190.

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Diktator an der Spitze gesetzt; und Hitler schien ihm 1932 offenbar als der erste aussichtsreiche Kandidat für dieses Amt.23 Dies ist auch vor dem Hintergrund von Hallers vehementem Kampf gegen den deutschen »Partikularismus« zu­ sehen; die »nationale Bewegung« konnte aus seiner Perspektive auch verstanden werden als Garant einer gesellschaftlichen Einheit auf dem Wege einer Verbindung von nationalem und sozialem Gedanken, die Haller schon im Zusammenhang mit seiner Wahlentscheidung für den nationalsozialen Verein 1903 beschäftigt hatte.24 Aus ähnlichen Gründen hatte sich Haller außerdem dem 1928 ergangenen Gründungsaufruf zum »Bund zur Erneuerung des Reiches« des ehemaligen Reichskanzlers Hans Luther angeschlossen. Darin wurde eine Reichsreform zur Schaffung eines »dritten Reichs« gefordert, die vor allem die Folgen der föderalen Struktur des Reiches durch eine Zentralisierung von Politik und Verwaltung beseitigen sollte.25 Solche Vorstellungen waren in der Weimarer Republik nichts ungewöhnliches und auch nichts, was allein bei der äußersten Rechten zu finden war: Am »Lutherbund« beteiligten sich auch die »Vernunftrepublikaner« Harnack und Meinecke, und auch Robert Bosch, Konrad Adenauer sowie der – in seiner Partei allerdings isolierte – Sozialdemokrat Gustav Noske.26 Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Dauerkrise der Weimarer Republik, die nach­ Meinung sämtlicher Parteien durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages zumindest erheblich verschlimmert wurde, war der Wunsch nach Abhilfe naheliegend.27 Eine ganze Reihe Intellektueller sah darin außerdem den Niederschlag einer noch umfassenderen politischen wie geistigen Krise der euro­ päischen Moderne, der man mit radikalen Mitteln begegnen müsse. Diejenigen Gruppen, die entsprechende Auffassungen vertraten, die sich aber nicht einfach mit dem Nationalsozialismus identifizieren lassen, werden in der Forschung­ unter dem Begriff der »Konservativen Revolution« zusammengefasst.28 23 Vgl. dazu ebd. Vgl. dazu auch Kapitel VII.1. 24 Vgl. dazu Kapitel V.2. Vgl. außerdem Haller, Gesellschaft und Staatsform. Darin forderte Haller ausdrücklich eine organische Zusammenfassung des Volkes als Grundlage eines funktionierenden Staatswesens. 25 Der Aufruf vom 6. Januar 1928 ist abgedruckt in: Hohlfeld, Deutsche Reichsgeschichte III, Nr. 11, S. 52 f., Zitat S. 53. Vgl. dazu – wenn auch aus marxistisch-leninistischer Perspektive – Gossweiler, Bund zur Erneuerung des Reiches, bes. S. 376–378. Vgl. ebenso Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung, S. 53. 26 Vgl. Gossweiler, Bund zur Erneuerung des Reiches, S. 378. 27 Vgl. dazu etwa Thoß, Demokratie ohne Demokraten?, bes. S. 180–182. 28 Grundlegend zur geistesgeschichtlichen Bewegung der »Konservativen Revolution« ist nach wie vor das erstmals 1950 erschienene Standardwerk Mohler/Weißmann, Die Konservative Revolution. Mohler/Weißmann fassen unter diesem Begriff diejenigen Versuche der Weimarer Republik von konservativer Seite zusammen, nicht durch eine Rückkehr in vormoderne Verhältnisse, sondern durch die Auseinandersetzung mit der Moderne Lebensbedingungen zu schaffen, die zu erhalten sich lohnen würde. Vgl. auch Breuer, Anatomie. Breuer bestreitet die Tragfähigkeit des Begriffs »Konservative Revolution« zur Kennzeichnung einer eindeutig abgrenzbaren politischen Strömung und schlägt stattdessen für den Kernbereich der

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Es ist daher einigermaßen erstaunlich, dass der Name Hallers im Zusammenhang mit der »Konservativen Revolution« nirgends auftaucht. Hauptgrund dafür dürfte sein, dass Haller den meisten doch eher als »klassischer« Deutschnationaler gilt. Das ist auch nicht ganz falsch, aber doch zu undifferenziert, da Haller jedenfalls von einem »Altkonservatismus« inklusive monarchischer ­Restauration nichts wissen wollte.29 Zudem lassen sich bei Haller Sympathien für oder sogar gute Kontakte zu Vertretern von mehreren der fünf konservativ-revolutionären Hauptgruppen nachweisen.30 Seine eigenen politischen Auffassungen – nichtvölkischer Nationalismus31, Demokratie- bzw. Parlamentarismuskritik, Hoff»Konservativen Revolution« – die Jungkonservativen und die Nationalrevolutionäre – den Begriff »Neuer Nationalismus« vor, da von einer Zuordnung zum traditionellen Konservatismus, aber auch zum Nationalsozialismus nicht die Rede sein könne (bes. S. 181–194). Der Alternativbegriff »Neuer Nationalismus« ist allerdings nicht weniger problematisch, während die Heterogenität und schwierige Abgrenzbarkeit der »Konserva­t iven Revolution« wesentlich mit deren ideologischer Dominanz in den 1920er und 1930er Jahren zusammenhängt. 29 Zur Einordnung Hallers als Deutschnationaler vgl. Faulenbach, Ideologie, S. 314; vgl. auch Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 453–454. Oberkrone, Volksgeschichte, S. 191, kennzeichnet Haller als nationalkonservativ. Zu Hallers Verhältnis zur DNVP vgl. auch Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 9. Oktober 1921: BArch N 1035/28 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 194. Zu Hallers differenzierter Ablehnung einer monarchischen Restauration vgl. Haller, Die Monarchie im Wandel der Geschichte. 30 Zu den Gruppen der »Konservativen Revolution« vgl. Mohler/Weißmann, Die Konservative Revolution, S. 99–177. Haller äußerte Sympathien für den Rechtsanwalt der »Landvolk«Bewegung, Walther Luetgebrune und für den nationalrevolutionären Freikorpsführer und Kopf des »Wiking«-Bundes, Kapitän Hermann Ehrhardt, hatte als Doktorvater Kleo Pleyers Kontakt zu einem völkischen Autor und war von Jugend auf mit Jakob von Uexküll­ befreundet, der immerhin zum Umfeld der »Konservativen Revolution« gezählt wird (vgl. Mohler/Weißmann, Die Konservative Revolution, S.  365). Vgl. dazu Johannes Haller an Rudolf Smend, 10. September 1924: SUB Göttingen, Cod. Ms. R. Smend A 288 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  205; Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 21. August 1934: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 276. 31 Haller hatte schon in den »Epochen« einen historisch, nicht ethnisch begründeten Nationsbegriff vertreten (vgl. Kapitel VII.2.). In den 1934 erschienenen »Wendepunkten der deutschen Geschichte« bekräftigte er diese Auffassung noch einmal: »Wir sprechen heute von der deutschen Nation, als verstände es sich von selbst, daß es sie gibt. Nichts wäre irriger als diese Meinung. Geworden ist sie erst im Laufe langer Jahrhunderte, und nachdem sie schon zu werden begonnen, war es oft genug zweifelhaft, ob sie dereinst sein würde. Im Anfang war sie nicht da. Es gab wohl deutsche Völker und Volksstämme, aber kein Volk. […] Germanen hießen sie bei den Römern, aber so hießen nicht nur sie. Germanen waren auch­ Goten und Burgunder, Vandalen und Lagobarden, die wir nicht zu den Deutschen zählen dürfen, mögen sie auch einst auf deutschem Boden gesessen haben. Germanen waren und sind ebenso die Dänen, Norweger und Schweden, ursprünglich von den benachbarten Stämmen schwerlich so verschieden, daß sie nicht ganz wohl mit ihnen hätten verschmelzen und zu einem Gesamtvolk werden können. Sie sind es nicht geworden, weil die Geschichte sie abseits geführt hat, so daß sie keinen Anteil haben an dem gemeinsamen Erleben der andern. Denn was ist es, das die Einheit einer Nation schafft und erhält, was ist es anderes als das Bewußtsein gemeinsamer Vergangenheit und der Wille zu gemeinsamer Zukunft? Was sich als schicksalsverbunden weiß und fühlt, das ist eine Nation.« (Haller,

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nungen einerseits auf einen autoritäreren Staatsaufbau, andererseits auf metapolitische Arbeit, schließlich die Ablehnung der »Ideen von 1789« und ein daraus abgeleiteter Kulturpessimismus32 – liegen sehr dicht bei der »konservativsten« dieser Gruppen, den Jungkonservativen. Für eine solche Einordnung Hallers spricht auch seine wenigstens sporadische Teilnahme an einer Stuttgarter »Herrenrunde«, die wohl als regionaler Ableger des jungkonservativen »Deutschen Herrenklubs« zu verstehen ist.33 Gegen die Zugehörigkeit Hallers zur »Konservativen Revolution« spricht dann eigentlich nur seine Generationenzugehörigkeit, da es sich bei den Kernautoren der »KR« um Angehörige der in den 1880er und 1890er Jahren geborenen »Frontgeneration« handelte.34 Allerdings wurden auch Hallers politische Auffassungen durch den Ersten Weltkrieg entscheidend geprägt, und auch aus seiner Generation findet sich eine Reihe von Denkern, die man mit Recht der »Konservativen Revolution« oder zumindest ihrem Umfeld zugeschlagen hat.35 Auch die eher liberale politische Positionierung Hallers vor 1914 spricht keineswegs gegen eine Zuordnung zur »Konservativen Revolution«.36 In jedem Fall Wendepunkte, S.  5 f.) Dass Haller mit dieser Auffassung im Gegensatz zum NS-Regime stand, wurde zeitgenössisch durchaus wahrgenommen. In einer Rezension der »Epochen«Neuauflage von 1934 in der Historischen Zeitschrift wurde Hallers Nationsbegriff ausdrücklich als »Begrenzung« der Hallerschen Geschichtsauffassung genannt: Franz, Rez. »Johannes Haller«, S. 112. 32 Vgl. Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 9. Oktober 1921: BArch N 1035/28 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  194: »Anständiger wird die Weltgeschichte dadurch nicht werden. Sie hat ihre beste Zeit vor 1789 gehabt. Was nachher kam, war das Abendrot, jetzt hat die Dämmerung begonnen.« Vgl. ansonsten zu den politischen Anschauungen Hallers nach 1918 die Kapitel VI.3. und VII.1. 33 Zu den Jungkonservativen vgl. Mohler/Weißmann, Die Konservative Revolution, S. 115–144; vgl. Ishida, Jungkonservative in der Weimarer Republik, zum »Deutschen Herrenklub« vgl. bes. S. 55–77. Vgl. zum »Herrenklub« außerdem Schoeps, Der Deutsche Herrenklub. Zu Hallers Zugehörigkeit zur Stuttgarter »Herrenrunde« und ihrer zumindest infor­mellen Zugehörigkeit zu den jungkonservativen »Herrenklubs« vgl. Johannes Haller an Ferdinand Wagner, 22.  Januar 1933: BArch N 1035/28 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 251; vgl. außerdem Johannes Haller an Hermann Losch, 2. Dezember 1934: UAT 305/65 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 281. 34 So Breuer, Anatomie, S. 33. 35 Dazu gehören beispielsweise Werner Sombart (Jahrgang 1863), Ludwig Schemann (Jahrgang 1852) – mit dem Haller in freundschaftlichem Austausch stand; vgl. den Briefwechsel in: UB Freiburg, NL 12 Ludwig Schemann IV B 1 /2 und BArch N 1035/23 –, Hans von Seeckt (Jahrgang 1866) und nicht zuletzt Jakob von Uexküll (Jahrgang 1864), dessen Einordnung in die »Wissenschaftler im Umkreis der Konservativen Revolution« (Mohler/ Weißmann, Die Konservative Revolution, S. 365) dann wohl auch für Haller gelten müsste. 36 Auch wenn man nicht die vor allem von Panajotis Kondylis vertretene Auffassung teilt, dass der Konservatismus insgesamt im 19. Jahrhundert untergegangen und dass die »Konservativen« danach in Wirklichkeit mehr oder weniger Altliberale gewesen seien, ist deutlich, dass die »Konservative Revolution« nicht einfach als Radikalisierung der wilhelminischen Rechten zu erklären ist, sondern dass sich hier auch ehemalige Liberale und Sozialisten sammelten. Vgl. Kondylis, Konservativismus, bes. S. 447–493.

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also war der Haller der 1920er und 1930er Jahre ein Rechtskonservativer mit deutlicher Affinität zu jungkonservativen Ideen, der die latente Regimekritik Oswald Spenglers in »Jahre der Entscheidung« lobte und den die Ermordung einflussreicher Jungkonservativer wie Edgar Julius Jung – trotz der irritierenden Bemerkung, um ihn und andere aus seinem Umfeld sei es nicht sonderlich schade – im Zuge des sogenannten »Röhm-Putsches« am 30. Juni 1934 so sehr beunruhigte, dass er sein Testament aufsetzte.37 Damit bewegte sich Haller zumindest in einem Übergangsfeld zwischen Deutschnationalen und Konservativ-Revolutionären, wie überhaupt viele seiner Auffassungen – gerade im Hinblick auf die Restaurationsproblematik  – sehr denen der »Vernunftrepublikaner« ähneln, die den »volkskonservativen« Flügel der DNVP bildeten.38 Als dieser sich 1930–1932 parteipolitisch eigenständig organisierte, war Haller aller­dings so sehr von der »Gesamtradikalisierung«39 der politischen Kultur der Weimarer Republik erfasst, dass er seine Hoffnungen nicht mehr in die DNVP, sondern in die NSDAP setzte. Eine Zuordnung Hallers wenigstens zum erweiterten Umfeld der »Konserva­ tiven Revolution« würde seinen Abstand wie seine »Nähe« zum National­sozia­ lismus hinreichend erklären. Soweit dies den ideologischen Bereich betrifft, ist dabei neben der Heterogenität der »Konservativen Revolution« auch die »Uneinheitlichkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung allgemein«40 zu berücksichtigen. Positionen sowohl der »Völkischen« – etwa im Falle des schon erwähnten Alfred Rosenberg – als auch der Nationalrevolutionäre und zum Teil auch der Jungkonservativen – vor allem bei Joseph Goebbels – wurden von einflussreichen Nationalsozialisten vertreten.41 Gerade für die frühen 1930er Jahre ist allerdings auch das »Moment der Tarnung«42 – von beiden Seiten aus – in Rechnung zu stellen, mit dem sich die anfängliche Betonung tatsächlicher oder vermeintlicher Gemeinsamkeiten erklären lässt. Es ist bekannt, dass zahlreiche Konservative 1933 ihre Hoffnungen in eine »Zähmung« des NS-Regimes setzten, das seinerseits diese Hoffnungen systematisch schürte.43 Erst mit dem 30. Juni 1934 konnte man sich keine Illusionen mehr darüber machen, als ob 37 Vgl. Johannes Haller an Eduard Fueter, 22. Oktober 1933: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 4993 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 261; vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 21.  August 1934: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 276. Vgl. dazu außerdem Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 186 bzw. unten S. 438: »Völlig irre bin ich an ihm [Hitler] geworden durch den 30. Juni 1934.« Vgl. auch Spengler, Jahre der Entscheidung, bes. S. Xf. 38 Ausführlicher dazu: Kapitel VII.1. 39 Jonas, Die Volkskonservativen, S. 167. 40 Kroll, Konservative Revolution und Nationalsozialismus, S. 106. 41 Vgl. ebd., S. 107–118. 42 Mohler/Weißmann, Die Konservative Revolution, S. 199. 43 Vgl. dazu für die deutschen Historiker Faulenbach, Die »nationale Revolution«. Man denke außerdem nur an den »Tag von Potsdam« am 21. März 1933; vgl. dazu Kopke/Treß, Der Tag von Potsdam. Haller selbst wurde gerade durch dieses Ereignis zu seiner ersten öffentlichen Äußerung nach der »Machtergreifung« inspiriert: Haller, Zum 1. April 1933.

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die »nationale« auch eine »konservative Revolution« gewesen sei. Besonders die Jungkonservativen, und hier in erster Linie deren genuin »konservative« Positionen, standen seitdem unter dem Verdacht der »Reaktion«, die von der NS-Führung erbittert bekämpft wurde.44 Solange allerdings der deutsche Nationalsozialismus als Teil  einer gesamteuropäischen Bewegung der Abwendung von Demokratie und Parlamentarismus auftrat, konnte er auch von konservativer Seite auf Sympathien zählen. Haller etwa war ein ausdrücklicher Bewunderer Mussolinis und des italienischen Faschismus, und das auch dann noch, als er sich längst innerlich vom deutschen Nationalsozialismus abgewendet hatte.45 In dieser Perspektive konnte er den Nationalsozialismus noch Ende 1933 als Teil einer »große[n] Umwälzung« begreifen, die die parlamentarischen Eliten durch »einen aus dem Volk hervorgehenden, das Volk darstellenden Orden« ersetzen sollte: »Es ist eine merkwürdige Zeitspanne, wenn auch eine gefährliche. Mislingt der Umguß, so ist es mit der Zukunft der europäischen Völker endgültig vorbei, und die Welt gehört den Farbigen.«46 Mit dieser Vorstellung vom Faschismus als einem letzten und radikalen Rettungsversuch der europäischen Kultur angesichts des drohenden »Untergangs des Abendlandes« war Haller keineswegs allein.47 Für die Frage, wie man sich nach der »Machtergreifung« konkret verhalten sollte, spielten für Haller wie für viele andere Konservative aber nicht nur weltanschauliche Gründe im strengen Sinne eine Rolle, sondern auch pragmatische Erwägungen. Eine eindeutige und öffentliche Positionierung war ­gerade für den bereits emeritierten Haller gar nicht notwendig, und die Frage etwa des aktiven Widerstandes stellte sich ihm überhaupt nicht. Er wählte stattdessen eine Mischung aus Anpassung und »innerer Emigration«, wobei er es sich nicht nehmen ließ, hier und da wider den Stachel zu löcken.48 In den Na44 Vgl. dazu auch Mohler/Weißmann, Die Konservative Revolution, S. 205–208. 45 Vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 25. September 1938: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 299; vgl. Johannes Haller an Roland Haller, 1. August 1943: UAT 305/62 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 363. 46 Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 22. Oktober 1933: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 4993 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 261. Haller war offenbar durch die Lektüre von Oswald Spenglers Buch »Jahre der Entscheidung« zu dieser Auffassung gelangt: Vgl. Spengler, Jahre der Entscheidung, hier bes. den Abschnitt »Die farbige Weltrevolution«. 47 Das gilt etwa für den Liberalen Ludwig von Mises. In seinem 1927 erschienenen Buch »Libe­ralismus« schrieb dieser: »Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben. Doch die Politik, die im Augenblick Rettung gebracht hat, ist nicht von der Art, daß das dauernde Festhalten an ihr Erfolg versprechen könnte. Der Faszismus war ein Notbehelf des Augenblicks; ihn als mehr anzusehen, wäre ein verhängnisvoller Irrtum.« (Mises, Liberalismus, S. 45.) Aber auch bei Max Weber lassen sich ähnliche Überlegungen nachweisen; vgl. dazu vor allem Mommsen, Max Weber, S. 442–477. Vgl. dazu auch Hennis, Max Webers Fragestellung. 48 Vgl. dazu Kapitel VIII.2.

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tionalsozialismus als Bewegung setzte er wie schon festgestellt seit September 1932, spätestens seit Juni 1934 keinerlei Hoffnungen mehr; in Hitler als Politi­ ker allerdings schon. Von diesem erhoffte er sich in erster Linie eine Revision der Bestimmungen des Versailler Vertrags und eine Rückkehr zu den politischen Grundsätzen Otto von Bismarcks  – und bis in die Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges hinein war Haller in dieser Hinsicht wenigstens vorsichtig zuversichtlich.49 Öffentlich artikulierte er seine Hoffnungen erstmals am 3.  April 1933, als zu dem recht konstruierten Anlass des 117. Geburtstags Otto von Bismarcks ein Artikel Hallers in der »Süddeutschen Zeitung« erschien. Darin zog er eine Parallele von der »Machtergreifung« 1933 zur Reichsgründung 1871, da es sich in beiden Fällen jeweils um eine »nationale Revolution« gehandelt habe, in der die bisherigen Bahnen politischen Handelns verlassen worden seien.50 Den »Tag von Potsdam« am 21. März 1933, an dem die Eröffnung des neugewählten Reichstags für die Inszenierung eines Schulterschlusses zwischen preußischkonservativer Tradition und nationalsozialistischer Bewegung genutzt wurde, nahm Haller ausdrücklich als Beleg dafür, dass nun endlich die »Irrbahn«51 von Wilhelminismus und Weimarer Republik verlassen worden sei. Hitler, so Haller weiter, habe das Zeug, Bismarcks »Erbe, sein Fortsetzer, ja, will’s Gott, der Vollender seines Werkes« zu werden.52 Seine Hoffnung galt hier also nicht irgendeinem spezifisch nationalsozialistischen Ziel, sondern einer Rückkehr zu dem Bestreben Bismarcks, »der deutschen Nation den Platz unter den Mächten zu­ erringen, der ihr zukommt, ihr die Sicherheit zu verschaffen, deren sie bedarf, um in Frieden leben und arbeiten zu können.«53 Je länger das NS-Regime andauerte, desto mehr war dies auch als Mahnung zu verstehen. Als Haller 1934 eine Neuauflage seines Bestsellers, der »Epochen der deutschen Geschichte«, veröffentlichte, führte er die Darstellung bis 1918 fort und fügte – im Grunde entsprechend der Verfahrensweise von 1923, in der er die Darstellung mit der Reichsgründung abgebrochen, aber dann noch um einige gegenwartsgeschichtliche Bemerkungen ergänzt hatte  – einen Schluss­ passus über die unmittelbare Vergangenheit an.54 Darin lobte er Hitler dafür, das Bismarcksche Einigungswerk fortgesetzt und vor allem mit der Verbindung von nationalem und sozialem Gedanken – ein Thema, das Haller nachweisbar seit mindestens 1903 beschäftigte, als er den Ideen von Friedrich Nau49 Vgl. dazu auch Kapitel VIII.4. 50 Haller, Zum 1. April 1933, S. 377 f., Zitat S. 377. Ganz ähnlich argumentierte auch der Historiker Otto Westphal: vgl. Westphal, Bismarck und Hitler. 51 Haller, Zum 1. April 1933, S. 380. Wie Steinbach, Des Königs Biograph, S. 232 f., auf die Idee kommt, Haller habe sich damit direkt zum sogenannten »Ermächtigungsgesetz« geäußert, ist ein Rätsel; der vom Autor gegebene Hinweis auf Schönwälder, Historiker und Politik, S. 20, gibt diesen Bezug nicht her. 52 Haller, Zum 1. April 1933, S. 381. 53 Ebd., S. 380. 54 Haller, Epochen 1934, S. 374–395; siehe dazu auch das Vorwort vom Oktober 1934.

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manns nationalsozialem Verein anhing55 – etwas geschafft zu haben, was lange Zeit als unmöglich gegolten habe.56 Er schloss allerdings mit einer Warnung vor »Selbstverblendung« und einer mahnenden Erinnerung daran, dass gerade Deutschland auf Gemeinschaft mit seinen Nachbarn angewiesen sei.57 In einer weiteren Neuauflage 1939 schließlich würdigte Haller den Nationalsozialismus zunächst noch ausführlicher: Im Vorwort bekannte er, dass seine bei der Erstauflage 1923 geäußerte Hoffnung auf eine Wiederauferstehung der deutschen Nation tatsächlich in Erfüllung gegangen sei.58 Im letzten Kapitel setzte er sich außerdem etwas eingehender mit der nationalsozialistischen Regierung auseinander, die ihre wesentlichen politischen Ziele – »Unterdrückung des Kommunismus, Beseitigung der Arbeitslosigkeit und Wiederherstellung von Deutschlands Ehre und Freiheit«59  – bereits erreicht und den Anschluss Österreichs sogar ohne Blutvergießen vollbracht habe. An seiner Mahnung von 1934 hielt er aber auch fest, denn nun gelte es, das Erreichte zu erhalten und zu verteidigen: »Bleiben wir auch dessen eingedenk, daß ein Volk ebenso wie der einzelne Mensch nur in Gemeinschaft mit andern leben kann, und daß am wenigsten die deutsche Nation an dem Platz, der ihr auf der Erde zugewiesen ist, sich von dieser Gemeinschaft lossagen kann. Lassen wir die Lehren der Geschichte, die wir wahrlich teuer genug bezahlt haben, nicht an uns verloren sein!«60

Diese Sätze wurden nicht nur als Warnung vor »Hybris«61 verstanden, sondern waren von Haller auch genauso gemeint, der hier einen »Mittelweg«62 zwischen Würdigung und Kritik des Regimes zu gehen versuchte. Dasselbe gilt für ­weitere Veröffentlichungen Hallers wie seinen Beitrag in der Festschrift für Karl Straube; dasselbe gilt weiter für Hallers private Korrespondenz nach 1933, in der er einerseits sehr deutliche Kritik am NS-Staat übte, andererseits an der

55 Vgl. dazu Kapitel V.2. 56 Vgl. Haller, Epochen 1934, S. 393 f. 57 Ebd., S. 395. 58 Haller, Epochen 1939, Vorwort. 59 Ebd., S. 404 f. 60 Ebd., S. 408. 61 Alfred Körte an Johannes Haller, 27.  Juli 1939: BArch N 1035/22. Vgl. dazu auch Karl Straube an Johannes Haller, 19.  Januar 1940: BArch N 1035/24. Auch von nationalsozialistischer Seite nahm man wahr, dass Haller auch in den neuen »Epochen«-Auflagen nicht auf nationalsozialistischem Boden stand. Vgl. dazu Nationalsozialistische Bibliographie 1939/12, S. 3: »Die Neuauflage behandelt, selbstverständlich ohne den Versuch zu machen, die Darstellung nachträglich in eine nationalsozialistische umbiegen zu wollen, in knappen Zügen auch die neueste Entwicklung bis zur Rückgliederung der Ostmark.« 62 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 2.  April 1939: UAT 305/61. Ausführlicher dazu:­ Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 466 f. Das Urteil von Volkmann, Deutsche Historiker, S.  867, Hallers letztes »Epochen«-Kapitel von 1939 sei »nach Inhalt und Umfang ein Kotau gegenüber Adolf Hitler«, ist unhaltbar.

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Hoffnung auf eine außenpolitische Restituierung Deutschlands festhielt.63 Es ist­ daher auch ganz richtig, Hallers Publikationen zwischen 1933 und 1945 nicht als »Pflichtübungen«, sondern als »Ausdruck von Gesinnung« zu verstehen.64 Aber auch die öffentlich geäußerte Gesinnung war keineswegs eine einfach pro-nationalsozialistische, sondern ein kompliziertes Ineinander von Ablehnung und Zustimmung, in dem der Nationalsozialismus weniger nach ideologischen als nach politischen Kriterien beurteilt wurde, was zu sehr ambivalenten ­Ergebnissen führte.

2. Auseinandersetzungen Hallers positiver Vergleich zwischen Bismarck und Hitler erschien 1934 in einer vielbeachteten Sammlung seiner »Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik«.65 Das inhaltliche Gegenstück dazu bildete der Einleitungsaufsatz über den »Eintritt der Germanen in die Geschichte«. Entsprechend seiner schon in den »Epochen« geäußerten ablehnenden Haltung gegenüber einer vor allem bei den »Völkischen« anzutreffenden Gleichsetzung von Deutschen und Germanen übte Haller hier deutliche Kritik an einer ideologisch motivierten Hochschätzung der germanischen Frühzeit.66 Aber auch einer einseitig positiven 63 Zu Hallers Festschriftbeitrag vgl. Haller, Vom nationalen Staat, sowie Schönwälder, Historiker und Politik, S. 377 und Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 472 f. Als Beispiele aus der privaten Korrespondenz seien genannt: Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 11. November 1934 und 7. Juni 1935: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 279 und 288; Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 15. April 1938: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 298, sowie der gesamte Briefwechsel Hallers mit Johan Huizinga, in: Letterkundig Museum, Den Haag, H 08961 bzw. BArch N 1035/20. Einige Briefe aus der Korrespondenz zwischen Haller und Huizinga sind abgedruckt in: Huizinga, Briefwisseling II (Nr. 722, 819, 820, 905, 919, 943, 959, 1018 und 1021) und in: Huizinga, Briefwisseling III (Nr. 1082, 1085, 1096, 1120, 1121, 1161, 1166, 1182, 1216, 1239 und 1379). Ausführlich dazu: Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 468–472. Zur Freundschaft zwischen Haller und Huizinga vgl. auch Krumm, Johan Huizinga, S. 175–182. 64 So Volkmann, Von Johannes Haller, S. 40, der dies allerdings einseitig als Ausweis »intentionaler Übereinstimmung mit dem NS-Regime« versteht. 65 Haller, Reden und Aufsätze. Zur Rezeption vgl. die Besprechung in der Historischen Zeitschrift aus der Feder von Percy Ernst Schramm: Schramm, Rez. »Johannes Haller«. Vgl. außerdem die Sammlung von Rezensionen sowie zahlreichen brieflichen Rückmeldungen in: UAT 305/5. 66 Haller, Der Eintritt der Germanen 1934, bes. S. 3: »Es ist heute üblich, von einer urgermanischen Kultur zu reden, sogar von einer hohen Kulturstufe, die diese Völker schon bei ihrem Eintritt in die Geschichte erreicht haben sollen. Soweit das etwa nationaler Gefälligkeit entspringt, kann es auf sich beruhen. […] Lassen wir also das Vergnügen, ihren Kulturstammbaum in der Phantasie zu verlängern, allen denen, denen es nicht einzig und allein um Erkenntnis der Wahrheit zu tun ist.« Vgl. dazu auch Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 461 f. Zu den »Epochen« vgl. Kapitel VII.2.

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Beurteilung der Germanen der Völkerwanderungszeit erteilte Haller eine Absage und wies daraufhin, dass die Germanen keine klare Einheit gebildet hätten und schon gar nicht als Eroberer, vielmehr als – zwar kriegerische, aber rombegeisterte – Zuwanderer in das römische Reich gekommen seien.67 Das frühe Mittelalter und insbesondere das fränkische Reich waren in Hallers Darstellung keine »germanische« Schöpfung, sondern lebten vielmehr ganz aus der Fortsetzung römischer Traditionen.68 Die Verbindung römischer mit germanischen Elementen war für Haller auch biologisch zu verstehen: Die germanischen Völker seien ohnehin von Anfang an keine »rassischen« Einheiten gewesen, und die »Völker des Abendlandes sind längst keine Rassen mehr, sondern Mischvölker«.69 In einer Fußnote wurde Haller noch deutlicher und kritisierte die »Übertreibungen, denen der Rassenbegriff neuerdings ausgesetzt ist«.70 Die historische Bedeutung der Germanen definierte Haller daher auch nicht über deren biologische Ausstattung, sondern über die Fortsetzung römischer Tradition in einem spezifisch germanischen »Geist«, der in erster Linie in einem aristokratischen Freiheitsverständnis zu sehen sei.71 Diese Attacke Hallers auf ein Element des offiziösen Geschichtsbildes mitsamt der Rassenlehre steht nicht isoliert da, sondern war Teil eines geschichtsund wissenschaftspolitischen Kampfes, den Haller in den ersten Jahren des NS-Regimes führte. Unterstützung erhielt er dabei überraschenderweise von seinem Schüler Heinrich Dannenbauer, der ja eigentlich als Parteigenosse nach Tübingen berufen worden war.72 Dannenbauer vertrat in zwei Vorträgen  – seiner Antrittsvorlesung im November 1934 und einem öffentlichen Vortrag in Stuttgart Anfang 1935 – dieselben Auffassungen wie Haller in Bezug auf die­ historische Bedeutung der Germanen und verweigerte sich allen damals politisch korrekten Vorgaben.73 Die Veröffentlichung des ersten Vortrags löste eine gegen Dannenbauer gerichtete Pressekampagne aus, die denselben württembergischen Ministerpräsidenten, der Dannenbauers Berufung betrieben hatte, zu einer Miss­billigungserklärung gegen seinen Schützling veranlasste.74 Der gab 67 Vgl. Haller, Der Eintritt der Germanen 1934, S. 8–15. 68 Vgl. ebd., S. 18–35. Haller ging sogar so weit, Spätantike und frühes Mittelalter zu einer Epocheneinheit zu erklären (S.  35). Die von Haller hervorgehobene Bildungsexpansion unter Karl dem Großen (S. 34 f.) wird übrigens auch in der neueren Forschung besonders­ betont; vgl. dazu Fried, Das Mittelalter, S. 63–78. 69 Haller, Der Eintritt der Germanen 1934, S. 37. 70 Ebd., S. 37, Anm. 2. 71 Ebd., S. 36–45. 72 Vgl. dazu Kapitel VII.6. 73 Dannenbauer, Germanisches Altertum; Dannenbauer, Vom Werden des deutschen Volkes. Vgl. dazu auch Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 459–461. 74 Vgl. Theodor Steche: »Voraussetzungslose Forschung?«, in: Völkischer Beobachter Nr.  9 vom 9.  Januar 1935; vgl. Heinrich Dannenbauer an Christian Mergenthaler, 2.  Juli 1935: UAT 305/9; vgl. Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 2. Juni 1935: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 287.

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allerdings nicht klein bei, verweigerte sich jeder weiteren politischen Mitarbeit in der NSDAP und musste sich sogar einem Parteigerichtsverfahren in Stuttgart stellen.75 Ausschlaggebend für Dannenbauers Entscheidung, die Wissenschaft gegen Anwürfe aus dem nationalsozialistischen Lager zu verteidigen, war Haller, der ihm im Sommer 1933 nicht nur geraten hatte, sich von jeder politischen Arbeit fernzuhalten und sich stattdessen einen Ruf als Wissenschaftler zu erarbeiten, sondern der sich mit Dannenbauer auch regelmäßig und intensiv über die neuesten wissenschaftlichen und politischen Unmöglichkeiten des Regimes austauschte.76 Beide hatten nur Spott übrig für die im Mai 1934 groß aufgezogene Debatte über die Echtheit der »Ura-Linda-Chronik«, die in völkischen Kreisen als angebliches Dokument der germanischen Vor- und Frühgeschichte Aufsehen erregt hatte und die etwa Herman Wirth als Beleg für die Existenz einer »nordischen Atlantis« propagierte.77 Gefährlicher war aus Hallers wie Dannenbauers Sicht die geschichtspolitische Initiative Alfred Rosenbergs, Karl den Großen zum antigermanischen »Sachsenschlächter« und dessen sächsischen Gegner Widukind zum »Ahnherrn« des Nationalsozialismus zu stilisieren.78 Haller versuchte Dannenbauer zu einem öffentlichen Streitgespräch mit Rosenberg zu bewegen, wozu es aller­dings nicht 75 Vgl. Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs, S.  35 f.; vgl. auch Adam, Hochschule und­ Nationalsozialismus, S. 203 f. sowie Zauner, Die Entnazifizierung, S. 964. 76 Vgl. Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 14. Juli 1934: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 270: »Uebrigens möchte ich auch Ihnen raten, Allotria von jetzt ab ganz zu unterlassen und sich auf wissenschaftliche Arbeit zu konzentrieren. In Ihrem eigensten Interesse. Die Zeit ist vielleicht nicht fern, wo Ihr Schicksal, nachdem andere Stützen versagt haben, ganz von der Anerkennung abhängen wird, die Sie sich bei den Kollegen erworben haben werden. Halten sie Ihre Antrittsvorlesung so bald, so gut und so wissenschaftlich wie möglich, imponieren Sie als Gelehrter ohne jeden Beigeschmack von Politik. Sie werden mir zugeben, daß ich Ihnen bisher nicht schlecht gedient und geraten habe. Lassen Sie sich also auch diesen Rat freundlichst gefallen! Er ist sehr ernst gemeint.« Vgl. dazu auch Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 460 f. Außerdem: Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 25. November 1934: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 280: »wir stehen vor Ereignissen, die leicht zur Folge haben können, daß für einen von der jetzigen Regierung mit einem Amt Bedachten die­ Anerkennung seiner Amtsgenossen ein sehr nötiger Schutz werden dürfte.« 77 Vgl. Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 1. Juli 1934: BArch N 1035/29 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 268; vgl. Heinrich Dannenbauer an Johannes Haller, 8. Juli 1934: BArch N 1035/19. Dannenbauer nannte in seiner Antrittsvorlesung die »UraLinda-Chronik« als Beispiel einer Fälschung, »die manchem sehr aufgeklärten Zeit­genos­ sen die gesunde Vernunft verwirrt hat.« (Dannenbauer, Germanisches Altertum, S.  6. Vgl. auch seinen Seitenhieb auf Herman Wirth: ebd., S. 8.) Über Herman Wirth existiert bis heute keine wissenschaftliche Biographie. Als vorläufiger Ersatz können gelten: Löw, Völ­ kische Deutungen, sowie Wiwjorra, Herman Wirth. 78 Vgl. dazu die Aufstellung zeitgenössischer Literatur in: Schönwälder, Historiker und Politik, S. 310; weitere Literaturhinweise bei Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 462, Anm. 57.

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kam.79 Anlass der Bitte war, dass Haller sich selbst bereits in die Debatte eingeschaltet und von nationalsozialistischer Seite massiv angefeindet worden war: Am 25. Juni 1934 war ein Artikel von ihm in der »Süddeutschen Zeitung« erschienen in Erwiderung auf eine Ankündigung umfangreicher Widukind-Gedenk­ feiern im Rahmen des Niedersachsentages. Der Text der Ankündigung enthielt eine massive Kritik an Karl dem Großen, in der die Berechtigung seines Bei­ namens mit Hinweis auf seinen Umgang mit Widukind und den Sachsen insgesamt in Zweifel gezogen und besonders die Hinrichtung von 4500 Sachsen durch Karl bei Verden an der Aller hervorgehoben wurde.80 Haller entgegnete, dass die Bekehrung Widukinds aller Wahrscheinlichkeit nach völlig friedlich verlaufen sei und nur der nördliche Teil Sachsens mit Gewalt zum Christentum habe bekehrt werden müssen.81 Beim Verdener Blutgericht habe es sich um eine »im Zweck verfehlt[e]«, grundsätzlich aber legitime »Kriegsmaßregel« gegen »Hochverräter« gehandelt. Wer zudem die Bedeutung Karls des Großen – »der bekanntlich den Monaten und Winden deutsche Namen gab, die deutschen Heldenlieder sammelte und an einer deutschen Sprachlehre arbeitete« – für die deutsche Geschichte leugne, der betreibe damit faktisch Geschichtspolitik für Frankreich, das schon seit langem »Charlemagne« für sich zu vereinnahmen versuche. Das rief nun die »Nationalsozialistische Landpost« auf den Plan, die am 6. Juli 1934 einen offenen Brief des Volkskundlers Hans Strobel an Haller abdruckte.82 Strobel zog die Zuverlässigkeit von Hallers Quellen in Zweifel, die von einer freiwilligen Unterwerfung Widukinds sprächen und amüsierte sich über Hallers Rettungsversuch der »Deutschheit« Karls, den man doch lieber, so wie von Haller befürchtet, den Franzosen überlassen solle. Besondere Empörung rief Hallers Kennzeichnung der hingerichteten Sachsen als »Hochverräter« hervor; diese seien vielmehr Freiheitskämpfer gegen einen Unterdrücker gewesen, so wie etwa Andreas Hofer oder die nationalsozialistische Bewegung selbst. Die Bemühungen Hallers, über Dannenbauer und über die württembergische Regierung offizielle Unterstützung zu erhalten, schlugen fehl; die Initiative Rosenbergs verlief aber ohnehin im Sande, da Hitler sich ausdrücklich gegen eine negative Beurteilung Karls des Großen verwahrte.83 Das Thema be79 Vgl. Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 14. Juli 1934: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 270; vgl. Heinrich Dannenbauer an Johannes Haller, 8. Juli 1934: BArch N 1035/19. 80 Hugo Brühl: Die Wacht am Grabe Widukinds, in: Sport-Rundschau. Tägliche Beilage der Süddeutschen Zeitung Nr. 165 vom 20. Juni 1934; ein Exemplar in: UAT 305/25. 81 Haller, Karl der Große und Widukind (ein Exemplar in: UAT 305/25), dort auch die folgenden Zitate. 82 Hans Strobel: Die sächsischen »Hochverräter« und der Hochschulprofessor in Tübingen, in: Nationalsozialistische Landpost vom 6. Juli 1934; ein Exemplar in: UAT 305/25, dort auch die folgenden Zitate. 83 Vgl. Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 14.  Juli 1934: BArch N 1035/29 bzw. Hassel­horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 270: »Lieber Herr Kollege, die Antwort auf Ihren freundlichen Brief lassen Sie mich mit der Hauptsache beginnen: Karl dem Großen.

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schäftigte Haller aber natürlich weiter; seine eigene Sicht der Dinge legte er während der 1930er Jahre noch in weiteren Veröffentlichungen dar.84 Folgen­reicher als die Frage der Beurteilung Karls des Großen war allerdings eine grundsätz­ lichere Frontstellung, die in dem offenen Brief Strobels ebenfalls bereits benannt wurde: Haller wurde dort als Vertreter eines veralteten Objektivitätsideals in der Wissenschaft bezeichnet, der vergesse, dass jeder historische Beurteilungsstandpunkt »rassisch weltanschaulich« bedingt sei.85 Die sogenannte »objektive« Wissenschaft werde daher in naher Zukunft durch eine »deutsche Wissenschaft« ersetzt werden. An dieser Stelle nun setzte Haller seine Auseinandersetzung mit dem NSRegime direkt fort, und das wieder in einem mit Dannenbauer gemeinsam abgestimmten Vorgehen. Am 15.  November 1934 hielt Haller in Münster einen Vortrag über »Die Aufgaben des Historikers«  – zeitgleich mit Dannenbauers Antrittsvorlesung, in der es nicht bloß um die Forschungen zur germaDas wenige, was ich zu seinen Gunsten in der Südd. Z. sagte, hat mir eine öffentliche Verunglimpfung im Organ des Reichsbauernführers und Reichslandwirtschaftsministers, der NS. Landpost eingetragen. Ein Sieur Hans Strobel pöbelt mich an wie einen Schul­jungen, der seine Lektion nicht kann, und denunziert mich schliesslich als Befürworter des Versailler Vertrags und der weiland marxistischen Regierung (Nr.  vom 6. Heu(!)monat). Ich glaubte, die Erörterung in breiterem Rahmen dadurch einzuleiten, daß ich den mir vorgesetzten Minister M[ergenthaler] um seinen Schutz anrief, und ließ durch [Helmut] ­Göring vorfühlen. Ergebnis: der Rat, nichts zu unternehmen, dagegen mit Rosenberg mich ›auszusprechen‹, von dem der Minister begeistert ist. Eine private ›Aussprache‹ hätte keinen Zweck, würde auch kaum zustandekommen, da R. nicht zu­ antworten pflegt, eine öffentliche würde wol durch Schutzhaft verhindert werden. Also sind wir machtlos, wenn nicht ein angesehener P[artei-]G[enosse] sich der Sache annimmt. Wollen Sie der sein, so wird es mich freuen, und ich bin nach wie vor zu sekundieren bereit.« Zu diesem Aspekt nationalsozialistischer Geschichtspolitik vgl. Schönwälder, Historiker und Politik, S.  75–82; vgl. Schönwälder, Lehrmeisterin der Völker, S. 133–141. 84 Vgl. Haller, Die Entstehung der germanisch-romanischen Welt sowie Haller, Der Eintritt der Germanen 1939. Das Erscheinen der letzteren Schrift verzögerte sich offenbar aus­ politischen Gründen um vier Jahre; vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 11.  Dezember 1938: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 301: »Vielleicht interessiert es Dich, daß nun endlich das Göschenheft über den ›Eintritt der Germanen‹­ erscheinen wird. Die letzten Korrekturen liegen eben vor mir. Vier Jahre also mußten vergehen, damit dieses Schmerzenskind das Licht der Welt erblicken konnte. Signatura temporis!« Haller führte darin seine Sicht auf Karl den Großen näher aus und gab den Anhängern der »Sachsenschlächter«-These zu bedenken, »daß es ohne die Unterwerfung der Sachsen eine deutsche Nation heute nicht geben würde.« (Haller, Der Eintritt der Germanen 1939, S. 87.) Auch zog er zumindest das Ausmaß des Verdener »Blutgerichts« mit Hinweis auf die Quellen und die neuere Literatur in Zweifel (ebd., S. 87 f.). Vgl. dazu auch (mitsamt weiterführenden Literaturhinweisen): Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 462–463. 85 Hans Strobel: Die sächsischen »Hochverräter« und der Hochschulprofessor in Tübingen, in: Nationalsozialistische Landpost vom 6. Juli 1934; ein Exemplar in: UAT 305/25, dort auch die folgenden Zitate.

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nischen Frühgeschichte ging, sondern auch um das diesen Forschungen jeweils zugrunde­liegende Wissenschaftsverständnis.86 Dannenbauer bekannte sich dabei zu einer »voraussetzungslosen« Forschung; und vor allem dieses Bekenntnis war es, das den Unmut der Partei hervorrief.87 Hallers Vortrag aber war noch wesentlich deutlicher, zumal das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft sein Hauptthema war. Er entwickelte darin seine nach wie vor an Ranke – und hier besonders am Objektivitätsideal  – orientierte Auffassung, die er diesmal nicht gegen die als »innovativ« geltenden Ansätze der Kultur-, Sozial- und Geistes­geschichte verteidigte – er vertrat sogar die Ansicht, politische und Kulturgeschichte seien faktisch gar nicht zu trennen –, sondern gegen die Propagierung einer »mythische[n] Schau der Vergangenheit« sowie gegen die »deutsche« oder auch »kämpfende Wissenschaft« der Nationalsozialisten.88 Auf diese jedenfalls war Hallers Warnung vor »subjektiver« Wissenschaft gemünzt, die auf reine »Willkür« hinauslaufe und in Wahrheit »Spott mit der Wissenschaft« treibe.89 Und auf diese waren auch Hallers Schlussworte bezogen: »Wer das Bild der Geschichte verfälscht oder verfälschen läßt, wo er das echte kennt, der handelt an denen, die ihm folgen, wie einer, der den Wanderern die Wegzeichen verrückt oder den Schiffern falsche Leuchtfeuer zeigt. Denn so heilsam die Kenntnis der wahren Geschichte sein kann, so verhängnisvoll ist ihre Vertauschung mit dem, was wie Geschichte aussieht, aber es nicht ist. Wehe dem Volk, das sich von Unberufenen über seine Geschichte irreführen läßt! Es kann sich nicht selbst erkennen, wird sich für etwas anderes, vielleicht für mehr halten, als es ist, und den Irrlichtern der Einbildung und Eigenliebe nachlaufend in den Abgrund stürzen oder im Sumpf ersticken. Es davor zu bewahren, ist Pflicht des Historikers, indem er nicht müde wird, das wahre Bild der Vergangenheit zu zeigen, die Dinge darzustellen, wie sie wirklich waren, eingedenk der Mahnung, die schon Cicero ihm einschärft, nichts Unwahres 86 Dannenbauer, Germanisches Altertum. Vgl. dazu auch Heinrich Dannenbauer an Johannes Haller, 11.  November 1934: BArch N 1035/19: »Mein Kolleg (Kaiserzeit) habe ich auch mit einigen unzeitgemäßen Betrachtungen über objektive Forschung, Karl d. Gr. u. dgl. eröffnet u.  – dröhnenden Beifall gefunden. Ich war überrascht.« Vgl. außerdem Dannenbauers Bericht über die begeisterte Reaktion seiner ihm bislang nicht gerade wohlgesonnenen Kollegen: Heinrich Dannenbauer an Johannes Haller, 18. November 1934: BArch N 1035/19. Zum Zustandekommen von Hallers Vortrag vor dem Historischen Verein in Münster vgl. Hermann Wätjen an Johannes Haller, 5.  Juli 1934: BArch N 1035/25. 87 Dannenbauer, Germanisches Altertum, S. 17–19: »Ich muß das heute, wo ich mit der herkömmlichen akademischen Feierlichkeit von meinem Lehrstuhl Besitz ergreife, ganz­ deutlich aussprechen: ich bekenne mich zu dem Grundsatz der voraussetzungslosen Forschung. […] Nur beschränkte Geister können glauben, dem Staat zu nützen, indem sie dem Forscher vorschreiben, welche Ansicht er in bestimmten wissenschaftlichen Fragen, die sie selbst meist nur ungenügend kennen, vorzutragen habe.« 88 Haller, Über die Aufgaben des Historikers, S. 4 und S. 26; vgl. Frank, Kämpfende Wissenschaft. Vgl. dazu auch Kapitel VII.4. Vgl. außerdem Schönwälder, Historiker und Politik, S. 75–82. 89 Haller, Über die Aufgaben des Historikers, S. 28 f.

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zu sagen, aber keine Wahrheit zu verschweigen. Wo der Historiker so seine Pflicht tut, da wird seine Arbeit für die Wissenschaft zum Dienst am Vaterland. Denn die Geschichte, lauter und wahr gelehrt, ist das Gewissen der Nation.«90

Hallers Vortrag, bereits 1935 gedruckt, erregte einiges Aufsehen. In einem nationalsozialistischen Gaublatt erschien noch im November 1934 eine scharfe Replik, in der Haller vor allem dafür kritisiert wurde, in seinem »Fachmenschentum« steckenbleibend keine klare Stellung zur »deutsche[n] Aufgabe des Historikers« bezogen und sogar einige undeutliche spöttische Bemerkungen gemacht zu haben, die als Parteinahme für die Opposition ausgelegt werden könnten.91 In der Folge erging an Haller die Aufforderung von offizieller Seite, sein Manuskript herauszugeben, und schließlich erstellte die »Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums« ein Gutachten.92 Dieses fiel allerdings im Ganzen positiv aus: Hallers Warnungen vor einem verfehlten Geschichts­ verständnis seien nicht zwangsläufig gegen die »vom nationalsozialistischen Erlebnis her bestimmte[] Geschichtswissenschaft« gerichtet, und diese könne Hallers Vortrag jedenfalls als ernsthaften Diskussionsbeitrag zur Kenntnis nehmen.93 Haller kam daher äußerst glimpflich davon; ganz im Gegensatz beispielsweise zu Hermann Oncken  – der sich viel eher als Haller für die »neue Richtung« ausgesprochen hatte  –, gegen den der Leiter des 1935 gegründeten »Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland«, Walter Frank, einen auch persönlich motivierten Vernichtungsfeldzug initiierte, der zur Zwangsemeritierung ­Onckens führte.94 90 Ebd., S. 31. 91 »Verpflichtung der Wissenschaft als Glied der Gemeinschaft. Kritisches zu der Rede von Johannes Haller im Historischen Verein«; ein Exemplar in: UAT 305/6. Zum Veröffentlichungsort und -zeitpunkt vgl. Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 25. November 1934: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 280. 92 Gutachten der »Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums« vom 29. März 1935: UAT 305/6; vgl. auch Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 25.  November 1934: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 280. 93 Gutachten der »Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums« vom 29. März 1935: UAT 305/6. 94 Vgl. Walter Frank: L’Incorruptibile. Eine Studie über Hermann Oncken, in: Völkischer Beobachter Nr. 34/35 vom 3./4. Februar 1935. Oncken hatte sich die persönliche Feindschaft Franks dadurch zugezogen, dass er als Zweitgutachter von dessen Doktorarbeit ein »Magna cum laude« anstelle des vom Erstgutachter empfohlenen »Summa« durchgesetzt hatte. In dem Artikel griff Frank Oncken dann gar nicht wegen des Verdachts auf Opposition an, sondern wegen Onckens Opportunismus, der es ihm erlaubt habe, sich erst auf die Seite des Wilhelminismus, dann der Weimarer Republik und jetzt des Nationalsozialismus zu schlagen. Ausführlich dazu: Heiber, Walter Frank, S. 172–244. Vgl. dazu auch Johannes Haller an Albert Brackmann, 29. Juli 1934: GStA, VI. HA, NL Brackmann, Nr. 11 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 271; vgl. zudem Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 13. Januar 1935: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 283. Zu Onckens Auseinandersetzung mit der »neuen Richtung« vgl. außerdem Oncken, Die nationalen Werte der Geschichte.

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Die relative Folgenlosigkeit von Hallers Invektive hing natürlich damit zusammen, dass man ihn nicht mehr emeritieren konnte, aber wohl auch damit, dass das Echo auf den Vortrag ansonsten nahezu ungeteilt positiv ausfiel.95 Die meisten Rezensenten sprachen es nicht offen aus, aber schon durch das­ Gewicht, das in den Besprechungen auf Hallers Festhalten am Objektivitätsideal gelegt wurde, liegt nahe, dass die große Resonanz unmittelbar darauf zurückzuführen ist, dass man es hier mit einer Kampfansage gegen nationalsozialistische Wissenschaftskonzepte zu tun hatte.96 Die These von der verbreiteten »Resistenz« der deutschen Historiker – und nicht nur dieser – gegenüber einer nationalsozialistischen Gleichschaltung der Geschichtswissenschaft erhält dadurch zusätzliche Plausibilität.97 Haller jedenfalls ging es darum, die 95 Einzig eine Rezension in der von Max Horkheimer herausgegebenen »Zeitschrift für­ Sozialforschung« (Bd. 5, 1936, S. 131) fiel negativ aus; ansonsten war der Ton in den Be­ sprechungen in der Frankfurter Zeitung, der Theologischen Rundschau, der Tübinger Chronik, in »Bildung und Erziehung«, in der »Hilfe«, im Schwäbischen Merkur in der »Deutschen Zukunft« sowie in einigen Dankesbriefen, etwa von Alfred Körte, positiv bis hymnisch: vgl. dazu die Zusammenstellung von Rezensionen in: UAT 305/6. Die Reaktion des Münsteraner Publikums von Hallers Vortrag war nahezu ungeteilt positiv; vgl. dazu Real, Zwischen Zuversicht und Entartung, S. 96: »Jedermann spürte sofort, wie sehr es ihm [Haller] darauf ankam, zuweilen mit beißender Ironie die Positionen überkommener Geschichtswissenschaft zu verteidigen. Und wenn wie an diesem Abend mit dem Geheimrat Heinrich Finke, einem der bedeutendsten Senioren unserer Wissenschaft, sein Schüler Anton Eitel, der nun auch schon seit 1927 den mittelalterlichen Lehrstuhl in Münster innehatte, den Saal betrat, empfanden viele Zuhörer die Veranstaltung wie ein glanzvolles Reststück der heilen Welt inmitten stürmischer, ins Ungewisse drängender Verwandlungen.« 96 Vgl. dazu bes. Johannes Haller an Johan Huizinga, 10. Februar 1935: Huizinga, Briefwisseling III, Nr. 1120, S. 57; vgl. Johan Huizinga an Johannes Haller, 14. Februar 1935: Huizinga, Briefwisseling III, Nr. 1121, S. 58 f.; vgl. Jakob von Uexküll an Johannes Haller, 22. März 1935: BArch N 1035/34. Vgl. dazu auch Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 465. 97 Klassisch dazu Werner, Das NS-Geschichtsbild, bes. S. 61; neuer und unter Nennung der wichtigsten Forschungsliteratur Wolf, Litteris et Patriae, S. 15–20 und S. 389–405. Gegen diese These ist Widerspruch erhoben worden und dabei auf die »Brauchbarkeit« der methodisch korrekt arbeitenden, inhaltlich aber aufgrund ihres Konservatismus NS-nahen Historiker für die Legitimation des Regimes verwiesen worden (vor allem Schönwälder, Historiker und Politik, S.  15–18 und S.  274; vgl. auch Conrad, Rez. »Ursula Wolf«, tendenziell auch Schöttler, Geschichte als Legitimationswissenschaft). Damit ist allerdings die These gar nicht widerlegt, sondern nur politisch-normativ neu interpretiert, gegen die Interpretation bei Werner, Das NS-Geschichtsbild, S. 68: »Man sollte aber billigerweise das Verdienst, das im Festhalten an wissenschaftlichen Grundsätzen unter einem Regime, das sie nicht schätzte, liegt, und die dadurch erreichte erhebliche Störung in den Plänen der Machthaber nicht ungewürdigt lassen. Verbitterte Nazis sahen sich genötigt, ähnlich wie bei der Kirche drohend an die Zeit nach dem gewonnenen Kriege zu erinnern, in der man dann ›aufräumen‹ werde mit den Reaktionären.« Ein differenziertes Urteil über Nähe und Distanz der deutschen Hochschullehrer insgesamt zum Nationalsozialismus, bei dem sowohl politische als auch soziale Aspekte berücksichtigt werden, fällt Grüttner, Die deutschen Hochschullehrer.

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Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft gegen alle Angriffe – auch nationalsozialistische – zu verteidigen.98 Aber auch jenseits seines eigentlichen Fachgebietes legte er sich mit den neuen Machthabern an, und zwar im Bereich der Kirchenpolitik. Über einen ehemaligen Tübinger Studentenpfarrer hatte Haller den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm kennengelernt, dessen Einsatz im Kirchenkampf für die »Bekennende Kirche« und gegen die vom Regime unterstützte »Glaubensbewegung Deutsche Christen« Haller beeindruckte.99 Als Wurm Ende November 1935  – zu einem Zeitpunkt, als der Versuch der Bildung einer deutschchristlich geführten evangelischen »Reichskirche« bereits faktisch gescheitert war und sich als Konsequenz eine ganz gegen das Christentum gerichtete ­Religionspolitik andeutete  – in einer Denkschrift die politische Führung aufforderte, sich aus innerkirchlichen Anlegenheiten zurückzuziehen und auch ihre Unterstützung anti-christlicher Gruppierungen zu beenden, sekundierte Haller mit einer eigenen Stellungnahme.100 Darin warnte Haller die nationalsozialistische Regierung davor, denselben Fehler zu begehen wie die Französische Revolution und »auf das kirchliche Gebiet hinüberzugreifen«. Eine »gewaltsam erzwungene konfessionelle Einheitlichkeit« nütze dem Staat überhaupt nichts, zumal im Falle ihrer Organe – Deutsche Christen und Deutsche Glaubensbewegung101  – gar nicht »von einer mächtigen religiösen Bewegung« gesprochen werden könne.

98 Hallers Verteidigung der Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft richtete sich aber nicht ausschließlich gegen nationalsozialistische Angriffe, sondern auch gegen solche Positionen, die im Namen der Naturwissenschaften den Wissenschaftscharakter der Historiographie bestritten. Haller wies demgegenüber in einem 1936 erschienenen Aufsatz für die von Eduard Fueter herausgegebene »Schweizer Hochschulzeitung« auf die strukturelle Ähnlichkeit etwa zwischen Geschichtswissenschaft und Biologie hin: vgl. Haller, Biologie und Geschichte. 99 Eine wissenschaftliche Biographie Theophil Wurms fehlt bislang. Eine Einführung in Leben und Werk bietet Sautter, Theophil Wurm. Zum Kirchenkampf vgl. die dreibändige Gesamtdarstellung Scholder/Besier, Die Kirchen und das Dritte Reich, sowie als­ Ergänzung Baumgärtel, Wider die Kirchenkampf-Legenden. Zum Zustandekommen des Kontakts zwischen Haller und Wurm vgl. das Manuskript von Hallers Tochter Adelheid »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«, in: UAT 305/58, Abschnitt »Freunde«. Zu Hallers Stellung im Kirchenkampf vgl. auch Otto Scheel an Johannes Haller, 18. Oktober 1934 und 22. Oktober 1934: BArch 1035/19. Vgl. außerdem Johannes Haller an Hermann Losch, 2. Dezember 1934: UAT 305/65 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 281. 100 Theophil Wurm: Die Entkonfessionalisierung der deutschen Politik, 26. November 1935, abgedruckt in: Schäfer, Die evangelische Landeskirche, Bd. 4, S. 465–471. Vgl. dazu auch Scholtyseck, Robert Bosch, S.  166 f. Außerdem: Stellungnahme Hallers zum Kirchenkampf, 28. November 1935: BArch N 1035/9[e], dort auch die folgenden Zitate. 101 Zur »Deutschen Glaubensbewegung« vgl. Breuer, Die Völkischen in Deutschland, S. 259– 264. Grundlegend ist außerdem Nanko, Deutsche Glaubensbewegung.

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»Wer vollends in der deutsche Geschichte zu lesen versteht, kann sich der gebie­ terischen Forderung nicht verschliessen, die auf ihren Blättern so oft mit eindrucksvoller Beredsamkeit erhoben wird: Dass auf religiösem Gebiet Duldung die Richtschnur sei, gegenseitige Duldung der Bekenntnisgruppen untereinander, Duldung jedes leben­digen Glaubens durch den Staat. Es ist der Grundsatz, der in einer der Reichsverfassung jener Tage gemässen Form schon in den Anfängen der Reformation anklingt und im Augsburger Religionsfrieden 1555 in gewissen Grenzen anerkannt wurde, dass jeder Stand des Reiches seinem eigenen Glauben folgen dürfe. Wo immer dieser Grundsatz beobachtet wurde, ist er dem Ganzen zum Heil ausgeschlagen, wo er verletzt wurde, blieben die verhängnisvollen Folgen nicht aus. Das gilt von den Landesstaaten ebenso wie vom Reich im Ganzen. Dass der branden­burgisch-preussische Staat, und zwar nicht erst seit Friedrich dem Grossen, sich auf diesen Standpunkt stellte, hat ihn gross gemacht, während Oesterreich durch das Gegenteil sich seiner besten Kräfte beraubte. Es wird auch heute und in Zukunft nicht anders sein. Nur auf der Grundlage religiöser und konfessioneller Duldung und Gleichberechtigung lässt die Einheit des deutschen Volkes sich erhalten, und die nat. soz. Bewegung widerspricht sich selbst, wenn sie, um der Volkseinheit willen, die Duldung verleugnet.«

Hallers Stellungnahme kursierte in seinem Bekanntenkreis und gelangte anscheinend sogar bis zum Reichsaußenminister Konstantin von Neurath, blieb aber wirkungslos.102 Haller verfolgte den weiteren Verlauf des Kirchenkampfes auch noch in den folgenden Jahren und wurde dabei – offenbar von Wurm selbst – regelmäßig mit vertraulichen Dokumenten versorgt.103 Hallers Engagement für den Kirchenkampf ist angesichts seiner eigenen weitgehenden Glaubenslosigkeit einigermaßen erstaunlich. Allerdings hatte er schon in Bezug auf seine baltische Heimatkirche die Auffassung vertreten, dass man zwischen persönlichem religiösem Bekenntnis und kirchlicher Bindung unterscheiden müsse, da letztere mehr als nur ersteres umfasse.104 Entsprechend lautet auch

102 Vgl. dazu Robert Bosch an Johannes Haller, 10. Dezember 1945: BArch N 1035/9[e]: »Sehr geehrter Herr Professor! Ich habe soeben Ihre Ausführungen über den Kirchenstreit gelesen und beglückwünsche Sie aufrichtigst zu dieser Tat. Hochachtungsvoll und ergebenst Robert Bosch«. Vgl. außerdem das Manuskript von Hallers Tochter Adelheid »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«, in: UAT 305/58, Abschnitt »Krieg«. 103 Es handelt sich dabei um Abschriften von Dokumenten des Benediktinerabtes Alban Schachleiter sowie um eine Abschrift aus dem Referat des Landesbischofs Wurm über die kirchliche Lage anlässlich der Dekanskonferenz am 16. April 1936, um Abschriften von Briefen des Landesbischofs Wurm an Staatssekretär Lammers 1936 und an die Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche 1936, um die Abschrift eines Briefes von Friedrich von Bodelschwingh an Theophil Wurm vom April 1936, um Mitteilungen des Informationsdienstes des EOKs zur kirchlichen Lage vom April 1936, um eine Denkschrift Wurms zur Kirchenpolitik vom August 1938 und um die Abschrift eines »Offene Aussprache« betitelten Schreibens Wurms an Joseph Goebbels vom April 1942. Die Dokumente befinden sich sämtlich in: BArch N 1035/9[e]. Vgl. außerdem Theophil Wurm an Johannes Haller, 29. Dezember 1936: UAT 305/3d. 104 Vgl. dazu Kapitel II.2.

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die nachträgliche Erklärung von Hallers Tochter Adelheid für das plötzliche kirchenpolitische Interesse ihres Vaters: »J. H. war – nach seinem eigenen Bekenntnis – theologisch so ziemlich bei Harnack, also um die Jahrhundertwende, stehen geblieben. Doch im sog. Dritten Reich hat er immer wieder gesagt, ›Religion muß Jeder selbst erleben, aber die Kirche ist Sache Aller‹ und dann auch ›Ich hätte nie gedacht, daß ich noch einmal so kirchlich werde! Ich glaube (mit ironischem Lächeln) es ist ›das BLUT‹, von dem man heute so viel redet. Das Blut von unzähligen Vorfahren, die Lehrer und Pfarrer waren, empört sich in mir.‹«105

Dabei bemühte sich das NS-Regime durchaus, Haller auf die eigene Seite zu ziehen oder wenigstens für sich zu reklamieren. Kleinere Anfragen, etwa um Vorträge vor regionalen HJ-Gruppen zu halten, nahm Haller auch tatsächlich an, lehnte aber jede engere Zusammenarbeit ab.106 Das Ineinander von Anpassung und »innerer Emigration«, von Nähe und Distanz wurde in der Spätphase des Regimes, zum Jahreswechsel 1942/43, besonders deutlich: An Heiligabend 1942 erschien ein Artikel Hallers im »Stuttgarter Neuen Tagblatt«, der sich unter dem Titel »Eine Wende im deutschen Schicksal« den Umständen der Ent­lassung Otto von Bismarcks als Reichskanzler 1890 widmete.107 Dem Text selbst, der sich im Wesentlichen auf die Information über Fakten und Zusammenhänge beschränkte, war seine Stoßrichtung nicht anzumerken; diese wurde nur durch eine einleitende Bemerkung der Schriftleitung erkennbar. Darin wurde der 1942 im Kino ausgestrahlte Film »Die Entlassung« von Wolfgang Liebeneiner erwähnt und im Hinblick darauf festgestellt: »Da für den Film besondere Gesetze gelten und der Künstler das Recht zu einer freieren Gestaltung des darzustellenden Stoffes hat, wird der folgende Aufsatz, der den Hergang und seine tieferen Gründe so zeigt, wie sie die Forschung festgestellt hat,­ unsere Leser besonders interessieren.«

105 »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«, in: UAT 305/58, Abschnitt »Krieg«. Es ist zu vermuten, dass dieses kirchenpolitische Engagement Hallers die Ursache dafür war, dass er 1941 in einem Schreiben aus dem Stab des Stellvertreters des Führers an das Amt Rosenberg zu denjenigen Historikern gezählt wurde, deren unsichere Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus auf ihre »konfessionellen Bindungen« zurückzuführen seien: vgl. dazu Schönwälder, Historiker und Politik, S. 313, Anm. 105. 106 Vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 15.  April 1938: UAT 305/61 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  298; für die Ablehnung einer näheren Zusammenarbeit mit der Historischen Zeitschrift vgl. Karl Alexander von Müller an Johannes Haller, 21.  November 1935: BArch N 1035/23; vgl. Karl Alexander von Müller, 9.  Dezember 1936: BArch N 1035/23; vgl. das undatierte Briefkonzept Johannes Haller an Karl Alexander von Müller: BArch N 1035/23 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  293. Ausführlicher dazu Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunde­r ung, S. 471 f. 107 Haller, Eine Wende im deutschen Schicksal, dort auch das folgende Zitat.

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Genauso – als eine Art Richtigstellung des Films – wollte Haller seinen Aufsatz aber auch verstanden wissen.108 Der Artikel erregte daher einiges Aufsehen und trug dem Schriftleiter, Otto Haendle, sogar ein vom Propagandaministerium initiiertes Ehrengerichtsverfahren ein.109 Quasi zeitgleich, nämlich Mitte Januar 1943 – und hieran zeigt sich das »Ineinander« – erhielt Haller einen Besuch »eines der obersten Beamten des Prop[aganda-] Ministeriums«, der Haller die offizielle Anfrage übermittelte, eine Serie von Rundfunkvorträgen über deutsche Geschichte zu halten.110 Dazu kam es zwar nicht – Haller vermutete, weil es nun doch politische Widerstände gegen den Plan gebe111 –, aber nützlich war die Anfrage für Haller bzw. vor allem für Haendle doch: Dieser erreichte nämlich einen glimpflichen Ausgang des Ehrengerichtsverfahrens, indem er eine Stellungnahme Hallers verlas, die auf die paradoxe Situation verwies, dass dasselbe Propagandaministerium, das ihn zu öffentlicher Mitarbeit auffordere, nun einen Schriftleiter dafür anklage, dass dieser Haller für öffentliche Mitarbeit gewonnen habe.112

3. Papsttum Das stärkste Argument für die These, dass Haller während der nationalsozialistischen Herrschaft in »innerer Emigration« lebte, ist die Tatsache, dass er den­ allergrößten Teil seiner Arbeitskraft nicht mehr politischen oder auch nur metapolitischen, sondern genuin wissenschaftlichen Fragen widmete. Schon in den 1920er Jahren hatte er sich entschieden, ein wissenschaftliches Lebenswerk in Angriff zu nehmen: eine Geschichte des Papsttums.113 Die Pläne dafür wa108 Vgl. dazu Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 14. Januar 1943: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 353. Schon Liebeneiners Bismarckfilm von 1940 hielt Haller für misslungen: vgl. dazu Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 23.  März 1941: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 328: »Der Bismarckfilm könnte 10 mal besser sein. Das Buch ist flüchtig zusammengeschmiert mit mehreren groben Fehlern und Entstellungen (Kriegsrat nach Königgrätz hat es nicht gegeben, und Moltke hat damals B. unterstützt, der alte König dagegen sich unter Protest gegen den schimpflichen Frieden gebeugt. Das Gespräch mit Nap[oléon III.] hat in dieser Weise nie stattgefunden, und Benedettis Auftreten ist glatte Erfindung ohne ein Körnchen Wahrheit. Die Darstellung ist nur sehr teilweise brauchbar. B. hat nicht gesprochen wie ein Ortsgruppenleiter und Augusta nicht wie eine Küchenmagd. Schade! Es wäre so leicht besser zu machen gewesen.« 109 Vgl. Otto Haendle an Johannes Haller, 9. Juli 1935: BArch N 1035/20. Vgl. auch Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 14. Januar 1943, 31. Januar 1943, 7. Februar 1943 und 21. Februar 1943: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  353–356. Vgl. dazu außerdem Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 472. 110 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 31.  Januar 1943: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 354. 111 Vgl. ebd. 112 Vgl. Otto Haendle an Johannes Haller, 9. Juli 1943: BArch N 1035/20. 113 Vgl. Johannes Haller an Robert Kröner, 24.  März 1926: DLA Marbach, Cotta Br. bzw. Hassel­horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 214.

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ren noch wesentlich älter und reichen anscheinend bis in die 1880er Jahre zurück. Die Lektüre der »Geschichte der Päpste« von Leopold von Ranke hinterließ damals bei Haller den Eindruck, dass hier ein lohnendes Thema vorhanden sei, das Ranke selbst nur unbefriedigend bearbeitet habe.114 Zu Ranke kehrte Haller mit dem »Papsttum« auch insofern zurück, als er sich im Vorwort des ersten Bandes ausdrücklich von jener Art politisierender Geschichtsschreibung distanzierte, die er selbst in den vergangenen Jahren gepflegt hatte.115 Ausdrücklich erklärte er nun: »Wie alle Geschichtsschreibung, die den Namen verdient, soll auch dieses Buch nur der Erkenntnis dienen, die zum Verstehen der Vergangenheit dient. An Gegenwart und Zukunft habe ich dabei nicht gedacht.«116

Als Heinrich Dannenbauer etwas irritiert bei seinem akademischen Lehrer nachfragte, wie denn der Autor der »Epochen« und der »Tausend Jahre« einen solchen Satz so absolut aussprechen könne, antwortete Haller: »Darf ich Sie an das [!] von Ranke zu seinem ersten Buch erinnern (›nur zeigen, wie es gewesen ist‹)? Auch Ranke war gelegentlich Politiker und hat mit Leidenschaft Politik getrieben, wie ich es bescheidener Weise in 2 Büchern und einigen Vorträgen versucht habe, wahrscheinlich mit noch geringerem Erfolg. Deswegen glaube ich doch auch jetzt noch wie 1903 das Recht zu haben, ohne Neben- und Hintergedanken lediglich zu sagen, wie es meiner Ansicht nach gewesen ist. […] Uebrigens kann ich Ihnen verraten, daß ich bei der Korrektur im Begriffe stand, zwischen ›dabei‹ und ›nicht‹ ein ›diesmal‹ einzufügen. Ich unterließ es in der Annahme, die Leser würden es selbst in Gedanken ergänzen. Eine allgemein gültige Vorschrift für die Geschichtsschreibung auszusprechen, lag mir fern.«117 114 Ranke, Die römischen Päpste. Vgl. Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 1. Juli 1934: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 289: »Uebrigens habe ich Ihnen wol schon erzählt, daß es gerade Rankes Einleitung zu den ›Päpsten‹ war, die mich, den 23jährigen, auf den Gedanken brachte, selbst Geschichtsschreiber der Päpste zu werden. Ich fand jene Einleitung, so reich sie an Einfällen und Anregungen ist, doch so unbefriedigend, daß ich mir sagte: das sollte man ganz anders darstellen, diese paar Seiten sind zu aphoristisch. Seitdem las ich, was ich an Papstgeschichten fand, und bestärkte mich in meiner Ansicht, bis sie mir zur Absicht wurde. Daß ich mich mit dem Buch übereilt hätte, wird man also nicht sagen können.« Vgl. dazu auch Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 10. Mai 1944: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 5014 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 372. In den erhaltenen Briefen nachweisbar ist Hallers Plan, die Geschichte des Papsttums zu bearbeiten, erstmals für April 1913: Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 6. April 1913: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller: »Nur möchte ich vorher noch die zwei Dinge aussprechen, die mich seit Jahren bewegen, die Entstehung des Papsttums und die Entwicklung des deutschen Volkes zur Nation und zum Staat. Aber darüber entscheidet das Schicksal.« 115 Vgl. dazu bes. Kapitel VII. 116 Haller, Das Papsttum I 1962, S. 9. 117 Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 14. Juli 1934: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  270. Vgl. auch Heinrich Dannenbauer an Johannes Haller, 8. Juli 1934: BArch N 1035/19.

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Der Hinweis auf 1903 bezieht sich auf Hallers damals erschienenes »Papsttum und Kirchenreform«, in dem er für eine objektive und unparteiliche Geschichtsschreibung über das Papsttum plädiert und die »reine Wissenschaft« als quasireligiösen Zufluchtsort beschrieben hatte.118 Wie damals, so auch jetzt ging es Haller vor allem darum, den Eindruck zu vermeiden, er schreibe die Geschichte des Papsttums als protestantischer Eiferer. Tatsächlich kritisierten einige Katholiken das Buch als konfessionelle Polemik, aber von den meisten Rezensenten wurde Hallers Bemühen um einen neutralen Standpunkt durchaus gewürdigt – selbst da, wo man von der Unmöglichkeit objektiver Wissenschaft überzeugt war.119 Interessanter als diese erwartbare wissenschaftstheoretische Positionierung war Hallers im Vorwort gegebene Erklärung des Untertitels seines Werkes, »Idee und Wirklichkeit«.120 Hier bekannte sich Haller nämlich einmal mehr zu einem ideengeschichtlichen Ansatz und erklärte überdies, was genau er darunter verstand:121 Nicht die Päpste, sondern das Papsttum als Idee wolle er untersuchen, und diese wiederum nicht im luftleeren Raum oder idealtypisch, sondern in ihrer Verkörperung in der konkreten historischen Wirklichkeit. Wer so frage, der erkenne rasch, dass die von Anhängern wie Gegnern des Papsttums als selbstverständlich hingenommene Einheit und Kontinuität der Idee des Papsttums auf einem Irrtum beruhe. Stattdessen gelte es, ihren Entstehungs- und Wandlungsprozess im Laufe der Geschichte sichtbar zu machen. Auch wenn quantitativ der Schwerpunkt in Hallers insgesamt aus vier122 Bänden bzw. Halbbänden bestehender Darstellung eindeutig im hohen Mittelalter liegt – der erste Band umfasst siebeneinhalb, der zweite dreieinhalb, die beiden letzten gemeinsam lediglich zwei Jahrhunderte –, so ist der erste Band doch gerade im Hinblick auf die Leitfrage der interessanteste. Das hängt weniger damit zusammen, dass Haller den römischen Primat weder für ursprünglich noch für biblisch begründet hielt  – da war er sich mit etlichen Historikern ganz einig –, sondern vielmehr mit seiner Haupt- und Kernthese.123 Diese 118 Vgl. dazu Kapitel V.2. 119 Letztere Position vertrat etwa Stapel, Das Papsttum, bes. S.  709 f. Zur Kritik von Hallers »Papsttum« vgl. die insgesamt keineswegs durchweg negative Würdigung bei Tüchle, S. 141 f. Vgl. dazu auch Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 297, Anm. 66. Vgl. außerdem die Würdigung und den Hinweis auf weitere bewundernde, aber zugleich äußerst kritische Rezensionen in Aubert, Haller, Sp. 176 f. 120 Vgl. Haller, Das Papsttum I 1962, S. 7–9. 121 Zu Hallers Verhältnis zur Ideengeschichte vgl. Kapitel VII.4. 122 Erst die posthum erschienene, von Heinrich Dannenbauer besorgte Neuausgabe des »Papsttums« umfasste fünf Bände; der ursprüngliche Band III/1, »Krönung und Einsturz« wurde auf die Bände 4 »Krönung« und 5 »Einsturz« aufgeteilt und mit den von Haller noch zum großen Teil selbst fertigstellten, zu seinen Lebzeiten aber nicht mehr erschienenen Anmerkungen und Nachweisen versehen. 123 Haller bestritt ganz im Sinne der historischen Bibelkritik des 19. Jahrhunderts die His­ torizität großer Teile der neutestamentlichen Überlieferung und ging wie selbstverständ-

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l­autete nämlich, dass das Papsttum als religiöse Idee eine Schöpfung der Germanen gewesen sei.124 In römischer Zeit sei zwar eine besondere Machtstellung des Bischofs von Rom entstanden; diese aber sei im Wesentlichen machtpolitisch und als Folge der Institutionalisierung der Kirche und ihrer Anbindung an das römische Reich zu erklären. Erst die »Germanisierung des Christentums« infolge der »Christianisierung der Germanen«125 habe dem Papsttum als Rechtsinstitution im eigentlichen Sinne eine religiöse Komponente hinzugefügt: Der noch lebendige germanische Glaube – am deutlichsten erkennbar bei den Angeln und Sachsen – habe die mit Mt 16,18 begründete »Schlüsselgewalt« des Petrus magisch verstanden, nämlich als vom geistlichen in den weltlichen Bereich übergehende Macht des himmlischen Torwächters Petrus und seiner Nachfolger, zu binden und zu lösen. Petrus selbst als besonders ausgezeichneter unter den Gefolgsleuten Christi sei zudem ein außerordentlich beliebtes­ Objekt der Verehrung gewesen, zumal es dem germanischen Denken entsprochen habe, sich Christus als Heerführer und die Apostel und Heiligen als­ Kommandanten vorzustellen, denen man sich direkt zu unterstellen habe, um in Christi Heer mitkämpfen zu können. In Rom habe man diesen Glauben zuerst gar nicht richtig begriffen, dann aber als moralisches Machtmittel genutzt, nachdem die entsprechenden Vorstellungen von England aus auch auf die ­Franken übergegangen seien. Das Ergebnis des päpstlich-fränkischen Bündnisses aber sei der Kirchenstaat gewesen, durch den das Papsttum als Idee erst das habe werden können, was es dann nahezu im ganzen folgenden Mittelalter gewesen sei: die geistliche wie weltliche Spitze des Abendlandes, unangefochten herrschend innerhalb wie außerhalb der Kirche. Die besondere Bedeutung der germanischen Völker für die Ausbildung einer religiösen Idee des Papsttums hatte schon Ranke erwähnt; diese Tatsache war aber offenbar so sehr vergessen worden, dass sie Haller selbst nicht mehr vor lich davon aus, dass Jesu Auferstehung nicht historisch sei. Die Petrusüberlieferung, mit der der römische Primat begründet werde, hielt er sowieso für unecht: »Was Petrus in den Anfängen der Gemeinde bedeutet hat, tritt in den Erzählungen des Neuen Testaments nicht klar hervor. Vielleicht waren seine Verdienste größer, als dort ausgesprochen wird, vielleicht ist er es gar gewesen, der zuerst auf den Gedanken kam, der Tod Jesu sei nicht das Scheitern seiner Sendung, sondern ihre Erfüllung und, als Vermächtnis an die Jünger, der Anfang einer neuen Bewegung.« (Haller, Das Papsttum I 1962, S. 13.) Vgl. außerdem Haller, Das Papsttum I 1962, S. 21: »Hier wie dort fehlt der Sinn für tatsächliche Wahrheit, denn nicht aufs Wissen kommt es an, sondern aufs Glauben, und der Glaube schafft sich seinen Inhalt selbst. Darum kann es eine geschichtliche Überlieferung, die diesen Namen verdiente, in den ersten Jahrhunderten der Kirche nicht geben, und man vergewaltigt die schriftlichen Überreste dieser Zeit, wenn man sie als geschichtliche Zeugnisse anspricht, da sie doch etwas ganz anderes sein wollen.« Dass Haller mit dieser Ansicht keineswegs allein stand, geht etwa aus einer Sammelrezension der Historischen Zeitschrift hervor: Brandi, Rez. »Erich Caspar/Johannes Haller/Franz Xaver­ Seppelt«, S. 334. 124 Für das Folgende vgl. Haller, Das Papsttum I 1962, bes. S. 266–283 und S. 337–342. 125 Ebd., S. 276.

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Augen stand.126 Er war jedenfalls nicht durch Ranke-Lektüre, sondern – folgt man seinem Schüler Dannenbauer – durch eine Bemerkung Franz Overbecks um die Jahrhundertwende darauf aufmerksam gemacht worden, dass man neben der »Hellenisierung« des Christentums in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten die Bedeutung der »Germanisierung« des Christentums seit dem 7. Jahrhundert nicht unterschätzen dürfe.127 Die daraus gewonnene These, dass die religiöse Dimension des Papsttums germanischen Ursprungs sei, hat Haller in dieser Deutlichkeit erst im ersten Band seines »Papsttums« vertreten; eine Vorform davon allerdings hatte er bereits 1911 in einem Vortrag auf dem Braunschweiger Historikertag geäußert und damit u. a. Friedrich ­Meinecke­ beeindruckt.128 Schon zu diesem Zeitpunkt war die »Germanisierung des Christentums« ein weitverbreitetes Schlagwort, das vor allem von völkisch-­religiösen Autoren ins Feld geführt wurde, die die Formel als Forderung verstanden, ein von allen »jüdischen«, katholischen und überhaupt dogmatisch verengten Elementen befreites, eben »germanisches« Christentum zu schaffen. Aber auch in der evangelischen Theologie des ganzen 19. Jahrhunderts fand das Schlagwort breite Verwendung, wobei man die »Germanisierung des Christentums« zumeist historisch mit der Reformation und der damit verbundenen Befreiung von der römischen Amtskirche identifizierte.129 In den 1930er Jahren, als Haller den ersten »Papsttum«-Band niederschrieb, erhielten die völkischen »Germanisierer«, aber auch die protestantischen Anhänger der »Germanisierungs«-These noch einmal politischen Auftrieb. Indem Haller nun das Schlagwort aufnahm, es aber in einem ganz anderen historischen Kontext benutzte, wendete er es gegen seine Befürworter: Eine »Germanisierung des Christentums«, so legte Hallers Darstellung nahe, müsse nicht erst in der Zukunft erfolgen  – wie die Völkischen meinten  – und habe auch nicht erst mit der Reformation stattgefunden – wie ein großer Teil vor allem des 126 Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker, S. XVIII: »Darf ich sagen, wie es mir scheint, so ist die eigentliche Macht des Papstthums, diejenige, welche­ Bestand gehabt, nicht vor dem siebenten Jahrhundert gegründet worden. Damals zuerst erkannten die Angelsachsen in dem Papst, von dem ihre Bekehrung unmittelbar ausgegangen, ihren wahren Patriarchen, nahmen einen Primas von seiner Bestallung und zahlten ihm den Romschoß.« Vgl. dazu Dannenbauer, Nachwort, S. 300. 127 Ebd., S. 300 f., Zitate S. 301. 128 Vgl. Haller, Die Karolinger und das Papsttum 1912. Haller vertrat darin die These, dass das fränkisch-päpstliche Bündnis auf der religiösen Verehrung des Petrus durch die­ Franken beruht habe. Dass die religiöse Idee des Papsttums überhaupt erst bei den Germanen entstanden sei, behauptete er dort noch nicht. Schon diese These rief allerdings Widerspruch hervor, mit dem Haller sich in einem Nachwort zu seinem Aufsatz auseinandersetzte; vgl. Haller, Die Karolinger und das Papsttum 1944, S. 37–40. Zu Meineckes Reaktion auf Hallers Vortrag vgl. Johannes Haller an Friedrich Meinecke, 6.  Mai 1911: GStA, VI. HA, NL Meinecke, Nr.  14, 70 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 132. Vgl. dazu außerdem Schumann, Die deutschen Historikertage, S. 184 f. 129 Zur »Germanisierung des Christentums« vgl. Kapitel VII.2., dort auch weiterführende Literaturhinweise.

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liberalen Protestantismus glaubte  –, sondern sei im siebten und achten nachchristlichen Jahrhundert vonstatten gegangen und habe das Papsttum geschaffen. Für protestantische, liberale und völkische Ohren war dies ein Affront. Haller scheint das bewusst gewesen zu sein, denn am Ende seines ersten Bandes schrieb er, zwar in Bezug auf seinen historischen Gegenstand, aber durchaus g­ egenwartspolitisch interpretierbar: »Wer den Ausgangspunkt kennt, wer sich darüber klargeworden ist, wie aus der­ Bekehrung germanischer Völker, Angelsachsen, Franken, Langobarden, die Germanisierung des Christentums sich ergab, und wie diese Völker aus ihrer eigentümlichen Vorstellungswelt das Papsttum als Gegenstand religiösen Glaubens und frommer Hingebung erst geschaffen haben, der kann in die so verbreitete Klage über geistige Unterjochung der Germanenwelt durch Rom nicht einstimmen.«130

In den meisten Reaktionen auf den ersten Band wurde auf diese doch einigermaßen originelle These Hallers besonders verwiesen. Das betrifft vor allem die zahlreichen persönlichen Rückmeldungen, etwa von dem Kirchenrechtler Fritz Fleiner, von Otto Scheel, Joseph Vogt, Alfred Körte, Karl Straube, Paul Kehr und Johan Huizinga.131 Die beiden Letzgenannten wiesen in ihren Briefen jeweils auf ein Werk hin, das sich aufgrund seines Erscheinungstermins und seiner Anlage als Vergleichsarbeit besonders eignete: die 1930–33 publizierte zweibändige, insgesamt bis ins achte nachchristliche Jahrhundert reichende Geschichte des Papsttums aus der Feder des Historikers Erich Caspar.132 Kehr spottete über die aus seiner Sicht »ermüdende« Darstellung Caspars, die dieser Kehr gewidmet hatte  – für Haller Grund genug, sein eigenes Werk nicht wie ursprünglich geplant ebenfalls Kehr, sondern dem Musiker Karl Straube zu widmen.133 Huizinga wiederum stellte einige kritische Nachfragen an Hallers Darstellung, die vor allem dessen vornehmlich machtpolitischen Fokus sowie die aus Huizingas Sicht zu scharfe Trennung zwischen spätrömischer und germanischer Vorstellungswelt betrafen, zeigte sich von der Gesamtleistung Hallers aber außerordentlich beeindruckt und versagte sich einen Vergleich mit Caspar nur deshalb, weil er dessen Bücher nicht gelesen habe.134 Caspar selbst erhielt von Haller ein persönliches Exemplar und quittierte dies mit freundlichen Worten; eine inhaltliche Rückmeldung ist allerdings nicht überliefert und wird wohl auch nicht existieren, da Caspar im Januar 1935 verstarb.135 130 Haller, Das Papsttum I 1962, S. 341. 131 Diese und noch zahlreiche weitere Schreiben in: UAT 305/3d. 132 Caspar, Geschichte des Papsttums. Zu Caspar vgl. Erkens, Erich Caspar, bes. S.  296 f., der seiner Papsttumsgeschichte trotz mancher Einschränkung bleibende Bedeutung attestiert. 133 Paul Fridolin Kehr an Johannes Haller, 25. Juli 1934: UAT 305/3d; vgl. auch Johannes Haller an Paul Fridolin Kehr, 1. Juli 1934: GStA, VI. HA, Nl Paul Fridolin Kehr, A I Nr. 5 Haller bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 268. 134 Vgl. Johan Huizinga an Johannes Haller, 24. August 1934: UAT 305/3d. 135 Vgl. Erich Caspar an Johannes Haller, 25. Juli 1934: UAt 305/3d.

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Caspar war wie Haller Protestant, politisch konservativ und wollte eine­ Geschichte nicht der Päpste, sondern des Papsttums schreiben; wie Haller fühlte er sich dabei einem an Ranke orientierten Objektivitätsideal verpflichtet.136 Dennoch wurden und werden die Darstellungen Caspars und Hallers als Antipoden wahrgenommen. Grund dafür waren nicht nur Temperamentsunterschiede – Caspar pflegte einen nüchternen Stil, während Haller trotz der im Vorwort betonten Unparteilichkeit sein polemisches Talent nicht verbarg –, sondern auch solche des Inhalts: Caspar neigte auch wissenschaftlich eher zu konservativen Einschätzungen und arbeitete eng an den Quellen, während Haller relativ rigoros mit gewissen katholischen Legenden aufräumte und in der Quellenauswahl etwas souveräner, aber auch freier vorging.137 Der Hauptunterschied lag dann aber doch darin, dass Caspars Darstellung ganz als Fortführung und Ergänzung der bisherigen Forschung verstanden wurde, Hallers These vom germanischen Ursprung der religiösen Idee des Papsttums aber als geradezu revolutionär.138 Gerade die den »Deutschen Christen« nahestehenden Historiker und Theologen nahmen Hallers These von der ganz anderen »Germanisierung des Christentums« mit Irritation zur Kenntnis.139 Besonders intensiv, und zwar gleichermaßen kritisch wie angeregt, setzte sich der Historiker und ehemalige Tübinger Student Ulrich Gmelin mit Hallers These auseinander.140 Insofern ist wenigstens teilweise zu relativieren, was ein Rezensent der »Stuttgarter Nachrichten« 1965 anlässlich einer von Heinrich Dannenbauer besorgten Neuausgabe des Hallerschen »Papsttums« meinte, dass nämlich die Kernthese vom germanischen Ursprung der Wandlung des Papsttums aus einer Rechts- zu einer religiösen Idee in der Geschichtswissenschaft niemals ausdiskutiert worden sei.141 Tatsächlich aber litt die Wirkung des Buches, vor allem der weiteren Bände, unter den sich im Laufe der 1930er Jahre immer weiter zuspitzenden politischen Rahmenbedingungen. Nur der zweite Band, 1937 und damit noch in Friedenszeiten erschienen, erregte noch einige Aufmerksamkeit.142 Haller schilderte darin den »Aufbau« des Papsttums, der im 8. und 9. Jahrhundert n. Chr. noch dadurch verzögert worden sei, dass römische Kirchen- und germanische Papst136 Vgl. Holtzmann, Caspar. 137 Vgl. dazu Brandi, Rez. »Erich Caspar/Johannes Haller/Franz Xaver Seppelt«, S. 335 f. 138 So bes. Meyer, § 35. Geschichte des Papsttums im Mittelalter, S. 471–472. Meyer widersprach Hallers These, gab aber zu, dass sie zum Überdenken des ganzen Themenkom­ plexes Germanentum/Christentum anrege. 139 So etwa Seeberg, Wer war Petrus, bes. S. 578. 140 Gmelin, Die Entstehung, bes. S. 514 und S. 531. 141 Rezension zu »Johannes Haller: Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit«, in: Stuttgarter Nachrichten Nr. 274 vom 20. November 1965, S. 36 (ein Exemplar in: UAT 305/27). Allerdings äußerte Hallers Schüler Fritz Ernst 1949 eine ganz ähnliche Auffassung: »Katholische und teilweise auch protestantische Kritik haben an dem Bild der Entstehung des Papsttums Anstoß genommen, ohne daß man sagen könnte, daß Hallers Begründungen erschöpfend diskutiert worden wären.« (Ernst, Johannes Haller, S. 10.) 142 Haller, Papsttum II 1965; für das Folgende vgl. bes. S. 132 sowie S. 368–372.

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idee in einem widersprüchlichen Nebeneinander existiert hätten. Eine »Aufklärung« unter den Franken, hervorgerufen durch die Bildungsinitiative Karls des Großen, sowie die politischen Verwicklungen der Zeit hätten den poli­tischen Einfluss des Papstes zugunsten weltlicher Machthaber schwinden lassen. Die Einführung und Durchsetzung des Reichskirchensystems im 10.  Jahrhundert schließlich habe fast zur vollständigen Bedeutungslosigkeit des Papsttums geführt, und erst im Investiturstreit habe es erfolgreich einen Befreiungsschlag durchführen können. Haller hielt die Beilegung des Investiturstreits keinesfalls für einen Kom­ promiss auf Augenhöhe zwischen Papst und Kaiser, sondern für einen klaren Erfolg des Papstes. Allen kurzfristigen Beschränkungen der päpstlichen Machtfülle zum Trotz habe der Papst nämlich im Investiturstreit die Auffassung endgültig durchsetzen können, dass er allein in innerkirchlichen Angelegenheiten die Entscheidungsgewalt habe. Für den weltlichen Bereich besage das zwar noch nichts, aber Eingriffe des Kaisers in geistliche Angelegenheiten seien für die Z ­ ukunft wenn nicht ganz unmöglich gemacht, so doch erheblich erschwert worden, weil deren Legitimität fortan niemandem mehr einleuchtete. Aus dieser Auffassung resultiert letztlich auch Hallers Deutung von »Canossa« nicht als genialem politischen Schachzug Heinrichs IV., dessen Lohn die 1084 erfolgte Kaiserkrönung gewesen sei, sondern als diplomatische Niederlage des Kaisers und eindeutigem Sieg des Papstes; zwar nicht Gregors VII. persönlich und auch nicht kurzfristig, aber mittel- und langfristig eben doch, da die Überlegenheit des Papstes über den König bzw. Kaiser in Canossa für alle Zeiten sinnfällig zum Ausdruck gekommen sei.143 In dieser Frage, die schon jahrzehntelang ­zwischen Haller und einigen Kollegen heiß umstritten war, kam es 1940 noch einmal zu einem veritablen Gelehrtenstreit, dem letzten, an dem Haller aktiv teilnahm.144 Anlass war hier allerdings nicht der zweite Band von Hallers »Papsttum« selbst, sondern ein in seinem Gefolge entstandener Aufsatz über den »Weg nach Canossa«, der 1939 in der Historischen Zeitschrift erschien.145 Darin ging es um ein Ereignis im Rahmen der unmittelbaren Vorgeschichte von »Canossa«, nämlich den »Fürstentag« von Tribur und Oppenheim vom Oktober 1076, bei 143 Vgl. dazu Haller, Das Papsttum II 1962, S.  287–310. Hallers Schilderung des päpstlich-­ königlichen Versöhnungsmahls auf Canossa (ebd., S. 288) – bei dem Heinrich IV. »wortkarg« gewesen sei und »die Tischplatte mit dem Fingernagel« bearbeitet habe, wurde der Vorwurf fehlender Quellenabstützung gemacht; dieser Vorwurf wurde allerdings wieder zurückgenommen: vgl. Struve, Johannes Haller – ein Romancier?, sowie Struve, Johannes Haller und das Versöhnungsmahl auf Canossa. 144 Haller hatte sich bereits 1906 gegen die Deutung von Canossa als diplomatischem »Sieg« Heinrichs IV. gewandt und darauf bestanden, dass dieser höchstens ein »Pyrrhussieg«­ gewesen sei (Haller, Canossa, Zitat S. 143). 1928 war es in dieser Frage zudem zu einem brieflichen Austausch zwischen Haller und Brackmann gekommen: Johannes Haller an Albert Brackmann, 26. Februar 1928: GStA, VI. HA, Nl Brackmann, Nr. 11 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 219. 145 Haller, Der Weg nach Canossa 1939.

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dem Heinrich IV. aufgefordert worden war, sich in einer gewissen Zeitspanne vom päpstlichen Bann lösen zu lassen. Haller wandte sich darin ausdrücklich gegen die Deutungen Albert Brackmanns und Carl Erdmanns, die in unterschiedlicher Weise das Ergebnis von Tribur als »strategischen Erfolg« Heinrichs IV. gedeutet hatten.146 Erdmann war dabei auf Hallers Darstellung des Ereignisses im zweiten »Papsttum«-Band eingegangen und hatte diese als »unhaltbar« ab­ gelehnt.147 Haller verteidigte seine Darstellung, indem er einerseits auf innere Widersprüche vor allem der Deutung Brackmanns verwies und dessen Neigung kritisierte, den Quellen ständig einen verborgenen Sinn abzutrotzen, andererseits die eigene Sichtweise minutiös aus den Quellen plausibel machte.148 Erdmann wie Brackmann unterschätzten zudem die Tragweite des Geschehens, wenn sie es als bloßes politisches Spiel verstünden und nur nach seiner unmittelbaren Wirkung fragten: »Heinrich lieferte sich und sein Königsrecht dem Belieben Gregors VII. aus, als er sich dazu verstand, die Gnade des Papstes zu suchen, um der Absetzung durch die Fürsten zu entgehen. Daß er dabei ›in der Vertretung der Reichsrechte nicht zurückgewichen‹ sei, wird man kaum behaupten können. Sie waren ebenso aufs Spiel gesetzt wie seine persönliche Ehre, das Schicksal beider war gleich ungewiß.«149

Haller hatte damit einen Streit eröffnet, der noch über den Kreis der unmit­ telbar Angesprochenen hinausging. Friedrich Baethgen und vor allem Gerd Tellenbach meldeten sich mit eigenen Stellungnahmen in der Sache zur Wort, ohne sich deutlich auf die Seite einer der Streitparteien zu stellen und bemühten sich dabei vor allem um eine Entpolemisierung der Auseinandersetzung.150 Carl Erdmann veröffentlichte in der Historischen Zeitschrift eine Klarstellung seiner Position, die er von Haller teils missverstanden, teils böswillig verzerrt sah.151 Am schärfsten allerdings war die Gegenrede des von Haller hauptsächlich A ­ ngegriffenen, Albert Brackmann. Dieser setzte sich nicht nur gegen Hallers Vorwurf schlechter Quellenkritik zur Wehr und führte seine Deutung von Tribur noch einmal breit aus, sondern konterte auch mit einem heftigen Angriff gegen Hallers wissenschaftliches Vorgehen: »Wenn ich somit die Auffassung Hallers von den Ereignissen in Tribur ablehne, so kann ich zum Schluß doch nicht umhin, die Frage zu stellen, wie er zu solchen Fehlschlüssen und zu einer so irrtümlichen Auffassung der damaligen 146 Ebd., Zitat S. 230. Haller bezog sich auf Brackmann, Heinrich IV. und der Fürstentag von Tribur, bes. S. 192 f.; Brackmann, Heinrich IV. als Politiker beim Ausbruch des Investiturstreites, bes. S. 410; Erdmann, Tribur und Rom, bes. S. 384. 147 Erdmann, Tribur und Rom, S. 378, Anm. 2. Diese Bemerkung scheint Haller überhaupt erst veranlasst zu haben, in der Sache noch einmal das Wort zu ergreifen: vgl. Haller, Der Weg nach Canossa 1939, S. 231. 148 Zu den Vorwürfen gegen Brackmanns Umgang mit den Quellen vgl. ebd., S. 253 f. 149 Ebd., S. 264 f. 150 Baethgen, Zur Tribur-Frage; Tellenbach, Zwischen Worms und Canossa. 151 Erdmann, Zum Fürstentag von Tribur.

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politischen Lage kommen konnte. Die Schuld liegt m. E. nicht so sehr in der von ihm angewandten Methode noch auch in einer falschen Quellendeutung noch überhaupt in einzelnen Fehlschlüssen und Irrtümern, von denen wohl kaum ein Historiker verschont bleibt, sondern sie liegt tiefer, und zwar in der Eigenart Hallers selbst. Er wird in fast allen seinen Schriften von einer ganz bestimmten These beherrscht, die so stark zu sein pflegt, daß er die Ereignisse und Persönlichkeiten der behandelten Zeit nur von dieser Auffassung aus zu schildern vermag. […] Am Schluß der Einleitung seines ersten Buches über ›Papsttum und Kirchenreform‹ hat er im Jahre 1903 sehr eindringliche Worte über die Notwendigkeit einer ›voraussetzungslosen‹ Wissenschaft niedergeschrieben […]. Aber in Wahrheit ist kein anderer Historiker mit so starken ›Voraussetzungen‹ an die Untersuchungen von Institutionen, Persönlichkeiten und Entwicklungen herangegangen wie gerade Haller. Dadurch ist in seine Schriften eine Einseitigkeit hineingetragen, die ihn oft genug verhindert, zur wirklichen Erkenntnis der Dinge vorzudringen. […] Wir müssen es schon als eine Fügung des Schicksals hinnehmen, daß einer unserer geistvollsten und kenntnisreichsten Historiker Deutungen wichtigster Ereignisse der deutschen Geschichte gibt, die unhaltbar sind. Was wir aber noch mehr bedauern, ist, daß Haller in Verbindung mit diesen unhaltbaren Thesen Angriffe gegen anders urteilende Fachgenossen richtet, die über die Grenze dessen hinausgehen, was im literarischen Kampfe erlaubt ist. Das auszusprechen halte ich mich für verpflichtet.«152 Schon aufgrund der Tatsache, dass Brackmann sich nicht scheute, solche Worte öffentlich auszusprechen, aber auch in Anbetracht von Hallers lebenslanger Außenseiterposition innerhalb der geschichtswissenschaftlichen »Zunft« ist davon auszugehen, dass Brackmann mit seiner Auffassung über Hallers »Eigenart« nicht allein stand.153 Haller wiederum sah seinerseits die Grenzen des Erlaubten mit der Brackmannschen Invektive überschritten und entschloss sich daher zu einer erneuten Entgegnung, die 1940 als Privatdruck erschien und die Haller im Bekannten- und Kollegenkreis versendet hat.154 Die Sachfrage der historischen Beurteilung des politischen Handelns Heinrichs IV. 1076/77 war jetzt nur noch Nebenkriegsschauplatz; Haller verwies hier lediglich auf eine Quellenfehlübersetzung Brackmanns, mit der dieser sich endgültig 152 Brackmann, Tribur, S. 36 f. 153 Zu Hallers Außenseiterposition vgl. bes. Kapitel VII.4. 154 Johannes Haller: Zur Abwehr. Privatdruck, Oktober 1940 (ein Exemplar in: UAT 305/7), dort auch die folgenden Zitate. Zu Hallers Empörung über Brackmanns Aufsatz vgl. Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 20. Oktober 1940: BArch N 1035/29 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 319: »Wenn der Angriff von Brackmann mich nach dem 16. 10 erreicht hätte, so hätte ich wol Goethes Mahnung befolgt, an die Sie mich erinnern; hätte auch an die andere vom ›Wirbelwind und trocknen Kot‹ gedacht. Aber ich bereue doch nicht, ihm geantwortet zu haben, nicht um meinetwillen, sondern um einmal klarzustellen, wer dieser Nachfolger (amtliche!) Rankes und Sybels ist, der sich einbildet, mit dem Amt den Verstand geerbt zu haben, und sich herausnimmt, als Sprecher für die deutschen Historiker aufzutreten.«

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disqualifiziere. In der Hauptsache ging es Haller darum, Brackmanns Angriff auf sich selbst und seine »Eigenart« zurückzuweisen. Dazu verglich er die Haltung Brackmanns mit der eines Papstes, dem Haller als Luther gegenüberstehe, der sich nicht durch Exkommunikation, sondern nur durch »Schrift« und »Vernunft«, also Quellen und sachgerechte Deutung überwinden und auch weder durch die »offene Ablehnung«, die er von den einen, noch das »Tot­schweigen«, das er von den anderen Kollegen erfahre, beirren lasse: »Daß ich oft kritisiert und polemisiert habe, fällt mir nicht ein zu leugnen. Ich habe es mit Bewußtsein getan, mich auch, wo es die Sache erforderte, vor Schärfe nicht gescheut, weil ich mich dazu verpflichtet fühlte, den Verfall der historischen Studien, den ich vor Augen hatte, soweit es in meinen Kräften stand, aufzuhalten.«

In einem bereits 1941 erschienenen Nachdruck seines Aufsatzes strich Brackmann die gegen Hallers »Eigenart« gerichtete Passage, was dieser als Beleg dafür nahm, dass Brackmann deren »Ungehörigkeit stillschweigend eingestanden hat.«155 Diese Bemerkung Hallers erschien in einem Nachwort, das er seinerseits 1944 einem Nachdruck seines Aufsatzes über den »Weg nach Canossa« anfügte und das sein letztes Wort in der Streitsache war.156 Haller erwähnte darin auch die Stellungnahmen Tellenbachs und Baethgens, die er wie diejenige Brackmanns kurzerhand verwarf, und setzte sich nur mit der Position Erdmanns noch einmal eingehend auseinander. Von wegen der schwierigen Quellenlage vereinzelt möglichen Meinungsverschiedenheiten abgesehen, führte Haller auch Erdmanns Auffassung im Kern auf fehlerhafte Quellenkritik zurück. Alles Herumdeuteln ändere nichts daran, dass Heinrich IV. in Tribur kein souverän Handelnder, sondern ein Getriebener gewesen sei, der sich zwangsweise und »in tiefer Niedergeschlagenheit auf Gnade und Ungnade dem Papst ausgeliefert [habe], in der unbestimmten Hoffnung, durch Versöhnung mit ihm das Schlimmste zu verhüten.«157 Als eine Art Resümee stellte Haller abschließend fest: »Dies sei mein letztes Wort. Es war verdrießlich genug, sich mit Gegnern herumzu­ schlagen, die sich nicht scheuen, von der Höhe ihres Selbstgefühls andere hochmütig abzuqualifizieren, während ihre Zensorensprüche Mal auf Mal den Beweis liefern, daß sie selbst noch nicht einmal in der Interpretation und Exegese der Quellen sattelfest sind, nicht zu reden von höheren Anforderungen, die man an den wirklichen Historiker stellen muß; ein lebendiges Beispiel für das, was Goethe meinte, als er die schlimmste aller Anmaßungen nannte, wenn einer Ansprüche an Geist mache, ohne den Buchstaben zu beherrschen.«158 155 Haller, Der Weg nach Canossa 1944, S.  169. Vgl. Brackmann, Gesammelte Aufsätze, S. 303–338. 156 Der Nachdruck erschien mitsamt seinem »Canossa«-Aufsatz von 1906 und einigen weiteren in einem Sammelband der wichtigsten mediävistischen Aufsätze Hallers: Haller,­ Abhandlungen zur Geschichte des Mittelalters. 157 Haller, Der Weg nach Canossa 1944, S. 171. 158 Ebd., S. 174.

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Ein eindeutiger »Sieger« des Streits ist nicht auszumachen. Noch 1963 erschien ein Band, der die wichtigsten der hier verhandelten Aufsätze nebst weiteren zum Thema nachdruckte, um den Stand und vor allem die Probleme der Forschung zu verdeutlichen.159 Die angemessene Deutung von Canossa ist heute kaum weniger umstritten als zum Zeitpunkt der Haller-Brackmann-ErdmannKontroverse, zumal inzwischen auch noch ganz andere Interpretationen der historischen Ereignisse – nämlich nicht so sehr als konfrontative »Wende« des Verhältnisses zwischen Papst und Kaiser, sondern als gemeinsam ausgehandelter Kompromissversuch, der leider nicht Schule gemacht habe – vorgeschlagen wurden.160 Insofern ist es kein Zufall, dass gerade dieser Aspekt von Hallers Forschungen so intensiv diskutiert wurde, und ebenso wenig ist es Zufall, dass die Diskussion kein eindeutiges Ergebnis erzielte. Die beiden weiteren Bände von Hallers »Papsttum«, 1939 und 1945 erschienen, gingen in der öffentlichen Wahrnehmung nahezu unter. Schuld daran war aber wohl nicht so sehr das von Haller gescholtene »Totschweigen« seiner Forschungen durch einen Teil der Kollegen, sondern eher die Ablenkung der geistigen und materiellen Ressourcen auf den Zweiten Weltkrieg. Haller gelang es noch, die Darstellung bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts zu bringen. Seine Expertise in diesem Zeitraum war allgemein anerkannt, und hier hatte er auch keine Sensationen mitzuteilen wie im ersten oder für den nationalen Gefühlshaushalt der Deutschen heikle Dinge zu berühren wie im zweiten Band. Thema des dritten, zunächst formal als zweiter Teil des zweiten erschienenen Bandes war die »Vollendung« des Papsttums unter Innozenz III.161 Diesem, so Haller, sei es gelungen, den Führungsanspruch des Papstes zumindest innerhalb der Kirchenhierarchie unabänderlich festzurücken. Dazu habe er die virulenten Ketzerbewegungen seiner Zeit einerseits brutal bekämpft, andererseits aber ­deren inhaltliche Hauptanliegen – vor allem die Orientierung der ganzen­ Geistlichkeit an den Idealen des Mönchtums  – für die Kirche übernommen. Der allgemeine Machtzuwachs sei allerdings nicht problemlos vonstatten gegangen; vor allem von weltlicher Seite habe man diesen nicht durchgängig anerkannt und teilweise offen bekämpft. An den Kreuzzügen sowie dem päpstlichen Eingreifen in innerabendländische politische Konflikte sei die Spannung zwischen dem Richteranspruch des Papstes und der ganz weltlichen Machtpolitik des Kirchenstaates besonders deutlich geworden. 159 Kämpf, Canossa als Wende, bes. S. VII–X. 160 Vgl. dazu Fried, Canossa, bes. S. 153: »Doch wie immer, Heinrichs Gang nach Canossa,­ hinauf zur grandiosen Burg der Mathilde, signalisierte eine Vertragsbereitschaft, offenbarte eine Lern- und Kompromißbereitschaft, auf die hätte aufgebaut werden können. Es war alles andere als eine Demütigung. Papst und König steckten in Canossa gleichsam das Terrain für eine neue Kooperation ab, deren elaborierte Formen und genaueren Inhalte fürs erste freilich ganz der Zukunft überlassen bleiben mußten und tatsächlich zu keiner Wirkung gelangten.« Gegen diese These Stellung bezogen haben insbesondere Hasberg, Nach Canossa, und Weinfurter, Canossa als Chiffre. 161 Haller, Das Papsttum III 1965. Für das Folgende vgl. bes. S. 340–353.

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Im letzten Band (zunächst als erster Teil  des dritten Bandes erschienen) schließlich ging es zuerst um die »Krönung« des Papsttums infolge des Untergangs des Kaisertums im 13. Jahrhundert.162 Der entscheidende Vorteil im Kampf zwischen Papst und Kaiser sei der Glaube an die geistliche Macht des Papstes gewesen, mit dem man immer wieder neue Mittel habe akquirieren können. Die Ursache des Sieges des Papstes sei daher in der Überlegenheit der Idee des Papsttums über die Idee des Kaisertums zu sehen.163 Dabei sei die Idee des Kaisertums in ihrer Weise durchaus »groß« gewesen, aber die Vorstellung einer weltlichen Spitze der Christenheit habe doch gegen den letztlich umfassenderen Anspruch des Papsttums den Kürzeren gezogen. Dies sei aber wiederum nicht ohne ungünstige Folgen gewesen, was etwa an der Verbitterung der Deutschen erkennbar sei über die Vernichtung ihres hervorragendsten Herrscherhauses, der Staufer. Eine Spätfolge dieser Verbitterung sei die in Deutschland besonders verbreitete Kritik an der Kirchenhierarchie gewesen, auf der der Erfolg der Reformation beruhe. Und nach wie vor sei nicht zu leugnen, dass die päpstliche Machtentfaltung mit einer Verweltlichung einhergegangen sei, die zwar in Gestalt der Mönchsorden ein gewisses Korrektiv erhalten habe, damit zugleich aber einen latenten Oppositionsherd. Auch aus diesem Grund, so schloss Haller, sei es als verhängnisvoller Fehler zu werten, dass etwa Papst Gregor IX. nicht das Bündnis mit dem Kaiser gesucht habe. Ein solches Bündnis hätte zwar in weltlicher Hinsicht Machteinbußen zur Folge gehabt, zugleich aber eine optimale Basis für geistlichen Machtgewinn geboten und eine Behebung sämtlicher kirchlicher Probleme versprochen. Der zweite, wohl ursprünglich vom ersten Teil  separat gedruckte, wegen des Verlusts des ersten Teils infolge der alliierten Bombenangriffe aber in einem gemeinsamen Band publizierte und in der Nachkriegsausgabe schließlich wieder als eigenständiger Band veröffentlichte Teil164 befasste sich dann mit dem »Einsturz« des Papsttums zu Beginn des 14. Jahrhunderts unter Bonifaz VIII. und seinen unmittelbaren Nachfolgern.165 Das hatte Haller zufolge 162 Haller, Das Papsttum IV 1965. Für das Folgende vgl. bes. S. 263–275. 163 Vgl. dazu bes. ebd., S. 264: »In dem mehr als hundertjährigen Kampf gegen das um seine Wiederherstellung ringende Kaisertum hatte die Kirche gesiegt, die Wiederherstellung war mißlungen, und zweieinhalb Jahrhunderte sollten vergehen, ehe in Karl V. wieder, und auch nur für ein kurzes Menschenalter, ein Kaiser auftreten konnte, der des Namens würdig war.« 164 Die verwickelte Publikationsgeschichte ist nur zum Teil aus den erhaltenen Haller-­Briefen rekonstruierbar: vgl. insb. Johannes Haller an Roland Haller, 24.  Oktober 1943: UAT 305/62 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  366; Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 17. Oktober 1944: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 5016 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 378. 165 Haller, Das Papsttum V 1965. Für das Folgende vgl. bes. S.  214–227, und dort insb. S.  223: »Die Wahl Johannes’ XXII. eröffnet den Zeitabschnitt der Papstgeschichte, den man das Babylonische Exil der römischen Kirche nennt, sie schließt das Kapitel, das mit Innozenz III. begann. Innozenz hatte der Idee des Papsttums die Vollendung gege-

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nicht etwa mit persönlicher Unfähigkeit zu tun – hier wollte er das »Bild des Vielgeschmähten vom Schmutz der üblen Nachrede […] reinigen«166 –, sondern in erster Linie damit, dass die Idee des Papsttums keinen Glauben mehr gefunden habe. Es sei nämlich eine andere Idee auf den Plan getreten, der fortan die Zukunft gehört habe: der »weltliche Staat«167. Tragischerweise, so Haller, sei es dann nicht das Reich, sondern Frankreich gewesen, das die dauerhafte politische Kontrolle über das Papsttum erhalten habe. Damit nun sei das Papsttum als in den weltlichen Bereich ausgreifende Idee faktisch gestorben, und nur­ innerkirchlich – und auch dort nicht mehr unangefochten – habe sie sich noch behaupten können. Wenn diese letzten Bände in der öffentlichen Wahrnehmung mehr oder weniger verschwanden, so ist doch eine gewichtige Ausnahme in dieser Rezeptionslücke zu konstatieren, nämlich die Besprechungen von Karl Brandi, mit dem Haller in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sporadischen, aber freundlichen Kontakt gepflegt hatte.168 Brandi hatte schon 1939 in einer Sammel­ rezension über die ersten beiden Bände Hallers sowie die Papstgeschichten Erich Caspars und Franz Xaver Seppelts Hallers Darstellung nicht unkritisch, aber im Großen und Ganzen doch positiv und den beiden anderen Autoren in manchen Belangen überlegen gewürdigt.169 1941 legte er eine Besprechung des dritten Hallerschen Bandes nach, aus der vor allem die Bewunderung über die enorme Forschungsleistung Hallers spricht: »Aus der Fülle des Stoffs und seiner souveränen Meisterung strömt alles in lebendigem Fluß, bezwungen freilich immer mit einer gewissen rationalistischen Schärfe gegenüber Menschen und Dingen, ohne jede Romantik und jedes falsche Pathos, wohl auch ohne­ jeden Versuch, das Zeitkolorit antiquarisch zu erfassen.«170 Aufgrund des vor allem auf päpstliche Machtpolitik gerichteten Blicks müsse man Machiavelli als geistigen Ahnen Hallers bezeichnen, andererseits habe man aufgrund des Hallerschen Rationalismus zuweilen das Gefühl, »einen Autoren des 18. Jahrhunderts zu lesen.« In jedem Fall aber müsse man Haller dankbar sein angesichts seiner

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ben, indem er G ­ edanken, die vor ihm gedacht, ausgesprochen und aufgekommen waren, zu letzten Folgerungen entwickelte und zu geschlossenem Bau vereinigte. Der römische Bischof als Gottes irdischer Statthalter und unumschränkter Herrscher der Kirche zugleich höchster Regent der weltlichen Staaten, in seiner Unabhängigkeit geschützt durch den Besitz eines Landesstaates von beträchtlichem Umfang und, auf diesen gestützt, Italien beherrschend – das ist die Idee, die er seinen Nachfolgern hinterließ. Um ihre Verwirklichung haben sie sich ein Jahrhundert lang bemüht, auf verschiedenen Wegen und mit wechselndem Glück, zuletzt und am entschlossensten Bonifaz VIII., der dabei unterlag.« Haller, Das Papsttum V 1965, S. 255. Ebd., S. 224. Vgl. dazu die Briefe Hallers an Brandi in: SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Brandi 59. Brandi, Rez. »Erich Caspar/Johannes Haller/Franz Xaver Seppelt«. Brandi, Rez. »Johannes Haller: Das Papsttum II/2«, S. 576, dort auch das folgende Zitat.

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»energischen Durchleuchtung einer vielfach verfälschten und verkrusteten Überlieferung, und niemand wird behaupten können, daß die Urteile H.s, so einseitig sie oft in ihrer Antithese zum Hergebrachten und Nachgebeteten auch anmuten, ihrerseits nicht durchweg wohl überlegt und immer beachtenswert wären, ganz zu ­schweigen von der bewundernswerten äußeren und inneren Beherrschung der Quellen und der Literatur.«171

Dieses Urteil hat sich in der Forschung mehr oder weniger durchgesetzt. Hallers Thesen – vor allem die über den germanischen Ursprung des Papsttums als religiöse Idee  – werden zumeist abgelehnt, erfüllen aber bis in die Gegenwart einen Dienst als Gegenstand der Abarbeitung, und einige von Hallers kritischen Revisionen der älteren Forschung fanden durchaus Akzeptanz.172 Die als Kritik gemeinte Behauptung, Haller schreibe als Protestant die antipäpstliche lutherische Tradition fort, wurde vor allem, aber nicht nur von katholischer Seite erhoben, bedarf allerdings einer – von manchen auch schon angemahnten – Differenzierung:173 Zum einen ist Hallers Charakterisierung als Protestant formal zwar richtig, inhaltlich aber aufgrund von Hallers innerer Distanz zum Christentum höchst problematisch;174 zum anderen und damit zusammenhängend ist doch eher Brandis Charakterisierung treffend, dass Haller das Papsttum nicht vor den Richterstuhl der evangelischen Lehre, sondern der im weitesten Sinne aufklärerisch verstandenen Vernunft bzw. einfach der historischen Kritik stellte. Haller gelang es aus Gründen des Alters, vor allem aber aufgrund der Unmöglichkeit, in den 1940er Jahren die notwendigen Bibliotheks- oder sogar Archivrecherchen vorzunehmen, nicht mehr, sein Werk zu vollenden. Ursprünglich hatte er den Plan gefasst, die Geschichte des Papsttums bis in die Gegenwart fortzuführen und dabei die Zeit bis zum 16. Jahrhundert sehr breit, die späteren Jahrhunderte aufgrund der immer geringeren politischen Bedeutung des Papsttums knapper darzustellen.175 So aber blieb das Werk ein »Torso«, von dem Haller hoffte, dass er »wenigstens eine Weile seinen Platz behaupten« möge.176 Dass Hallers Wunsch in Erfüllung ging, wird man nicht bestreiten können: Bei allen Mängeln des Hallerschen Werkes verzichtet doch bis heute kaum ein Papsthistoriker auf seine Benutzung und versagt ihm zumeist auch nicht den Respekt, dessen Ursache Wilhelm Stapel schon 1934 wohl richtig benannt hat: »Eine Kritik steht nur dem zu, der den Stoff in gleicher Weise beherrscht.«177 171 Ebd., S. 577. 172 Zur Akzeptanz einiger Thesen Hallers vgl. Tüchle, Kirchengeschichte, S.  141. Zur Abarbeitung an Haller vgl. etwa Fuhrmann, Die Päpste, S. 289–293, dort auch die im folgenden Satz erwähnte Behauptung des protestantischen Historikers Fuhrmann, Haller setzte bestimmte Elemente der Tradition der protestantischen Papstgeschichtsschreibung fort. 173 Vgl. dazu vor allem Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 297, Anm. 66. 174 Zu Hallers Verhältnis zur Religion vgl. vor allem die Kapitel II.2., VII.1. und IX. 175 Vgl. dazu Dannenbauer, Nachwort, S. 298. 176 Haller, Das Papsttum III/1 1945, Vorwort. 177 Stapel, Das Papsttum, S.  716. Zur Nennung Hallers in neueren Papstgeschichten vgl. Schimmelpfennig, Das Papsttum, sowie Frenz, Das Papsttum.

Finis Germaniae

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4. Finis Germaniae Selbstverständlich ging Hallers Rückzug in die Wissenschaft nicht so weit, dass er sich mit dem politischen Geschehen um ihn herum nicht mehr beschäftigt hätte. Vor allem am Verlauf des Zweiten Weltkriegs nahm Haller innerlich sehr regen Anteil, ohne sich allerdings wie noch im Ersten Weltkrieg der Kriegs­ propaganda zur Verfügung zu stellen.178 Dennoch war er weiterhin brennend am Schicksal der deutschen Nation interessiert und war zudem vom Zweiten Weltkrieg noch stärker als vom Ersten auch existentiell betroffen, da seine beiden Söhne im Feld standen. Ihnen, aber auch seinen beiden Töchtern, schickte er zum Teil wöchentlich Briefe, die neben Persönlichem auch Reflexionen über die militärisch-politische Lage enthielten. Aus diesen Briefen geht hervor, dass Haller den Zweiten Weltkrieg zunächst ganz konventionell deutete, nämlich als Fortführung der europäischen Konfliktlinien, die schon zum Ersten Weltkrieg geführt hatten: »Im großen geschichtlichen Zusammenhang handelt es sich um eine einzige Frage: ob die Nationen, die von Engländern und Franzosen 200 Jahre lang zu dienendem Rang, zu Objekten der europäischen Politik herabgedrückt waren – Deutsche, Italiener und Spanier – die Zwangsherrschaft brechen und sich zu gleichberechtigten Partnern im Spiel emporkämpfen werden.«179

Vor allem aber verstand Haller den Krieg als Fortsetzung der Bemühungen Hitlers um eine vollständige Revision der Bestimmungen des Versailler Vertrags. Die militärischen Erfolge des ersten Kriegsjahres ließen Haller wie so viele an178 Vgl. dazu Kapitel VI.1. Als Ausnahmen können gelten Haller, Das Elsaß und das Reich, sowie Haller, Bismarck. 179 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 7.  Januar 1940: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr.  313. Genauso argumentierte Haller gegenüber dem Neffen seiner Frau, Eduard Fueter: »Ueber das große Geschehen unserer Tage spreche in gern einmal mit Dir, schreiben läßt sich darüber nicht. Nur das eine möchte ich bemerken, was Du als Historiker wirst gelten lassen. Seit 1659 haben Frankreich und England drei große abendländische Nationen, die deutsche, italienische und spanische, zu Objekten ihrer Politik herabgedrückt. Diese drei haben sich seit 1859 – merkwürdig dieses Intervall von genau 200 Jahren – eine nach der andern erhoben, um sich die Gleichstellung zu erkämpfen. (Man kann auch 1648 und 1848 sagen, es kommt aufs Gleiche he­ raus). Ob es ihnen gelingt, wird in diesem Krieg entschieden, und daß es gelinge, dünkt mich eine berechtigte Forderung. Die englische Hegemonie hat allerhand geleistet, aber ewig darf sie nicht dauern – auf Kosten der andern. Denn Entwicklung schlummernder Kräfte hat England nie betrieben, meist erstickt oder gehemmt. Gegenüber diesem Problem tritt in meinen Augen alles andere zurück. Könnte ich das näher ausführen, so würdest Du mir ohne Zweifel wenigstens die Folgerichtigkeit meines Gedankens zugestehen, vielleicht auch eine gewisse Berechtigung.« (Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 7.  Januar 1940: ETH-­Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr.  5006 bzw. Hasselhorn/Kleinert,­ Johannes Haller, Nr. 314.)

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dere auch glauben, dass die Hoffnungen, die man 1914 gehegt hatte, nun endlich erfüllt oder sogar übertroffen würden.180 Mit dem Sieg über Frankreich Ende Juni 1940 war für Haller außerdem die seit 1648 andauernde – 1871–1918 nur kurzfristig unterbrochene – Epoche französischen Übergewichts über Deutschland beendet, die er 1930 in den »Tausend Jahren deutsch-französischer Beziehungen«181 dargestellt und beklagt hatte: »›Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen‹  – daß ist nun keine allgem. R ­ edensart mehr, auch kein Wunsch oder Vorsatz, sondern Tatsache und Erfüllung. Frankreich ist geschlagen, und zwar für ein, zwei Menschenalter; vielleicht für immer? Das wird nun von den Deutschen abhängen. Wenn sie den Erfolg verdienen, sich in würdiger Weise entwickeln, weder auf den Lorbeeren einschlafen, noch sich in e­ itlem Siegerstolz aufblähen, so kann das Jahr 1940 in den Beziehungen zu Frankreich die Epoche von 1648 endgültig beschließen. Andernfalls stehe ich für nichts, denn daß die Franzosen eine moralische Wiedergeburt erstreben werden, ist sicher, und daß sie ihnen gelingt, sehr wahrscheinlich. Da müssen wir eben nicht nur materiell überlegen bleiben.«182

Haller war vom deutschen Sieg über Frankreich – den er in erster Linie »Hitlers genialer Strategie«183 zuschrieb – so begeistert, dass er sofort eine Neuauflage seiner »Epochen der deutschen Geschichte« plante, weil er nun auch mit einer raschen Unterwerfung zuerst Englands, dann Russlands rechnete.184 Auch wenn sich diese Pläne schon bald wieder zerschlugen, so erlebte das Buch in der Version von 1939 während der Kriegsjahre noch einmal einen Popularitätsschub  – obwohl es in der Partei auch solche gab, die es aufgrund seines mangelnden »völkischen« Gehalts ablehnten.185 Und auch darüber hinaus war 1940 für Haller ein Erfolgsjahr: Im Oktober feierte er seinen 75. Geburtstag, was ihm eine Festschrift, die »Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft« sowie zahlreiche persönliche und offizielle Glückwünsche und Würdi-

180 In der deutschen Historikerschaft ist das nachzuweisen beispielsweise bei Gerhard Ritter (Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 294–296), Percy Ernst Schramm, Siegfried A. Kaehler und Friedrich Meinecke (vgl. Grüttner, Die deutschen Hochschullehrer, S. 384 f.). 181 Vgl. dazu Kapitel VII.5. 182 Johannes Haller an Elisabeth Haller, 25. Juni 1940: UAT 305/38 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 317. 183 Ebd. 184 Vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 14. Juli 1940: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 318. Zu Hallers »Epochen der deutschen Geschichte« vgl. die Kapitel VII.2. und VIII.1. 185 Vgl. dazu Johannes Haller an Elisabeth Haller, 29.  November 1940: UAT 305/38 bzw. Hassel­horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 322. 1941 und 1942 erschienen jedenfalls noch einmal Sonderausgaben der »Epochen«; erstere in der »Ostland-Kompanie-Bücherei im Rahmen der Dr. Goebbels Bücherspende, gestiftet von Reichsminister Dr. Goebbels und Reichskommissar Gauleiter Lohse, herausgegeben von der Propaganda-Abteilung Ostland beim Wehrmachtbefehlshaber Ostland«.

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gungen ­einbrachte.186 Haller wurde darin durchweg als bedeutender Gelehrter an­erkannt und sogar zum »politischen Erzieher ersten Ranges«187 erklärt. Besonders warm war verständlicherweise die von Haller selbst ironisch als »Nekrolog« bezeichnete Würdigung von Heinrich Dannenbauer in der Zeitschrift »Forschungen und Fortschritte«.188 Trotz dieser öffentlichen Ehrungen und trotz Hallers Siegesbegeisterung blieb sein Verhältnis zum NS-Staat weiter gespalten. Neben schon erwähnten Auseinandersetzungen noch während der Kriegsjahre wird dies vor allem erkennbar an Hallers Beitrag für die Festschrift zum 70. Geburtstag seines Freundes, des Organisten und Leipziger Thomaskantors Karl Straube.189 Haller schrieb darin über den »nationalen Staat«, und zwar wie gewohnt sowohl in historischer als auch in politisch-aktualisierender Perspektive.190 Haller vertrat darin die Auffassung, dass der Siegeszug des Nationalstaates seit 1789 folgerichtig und unaufhaltsam sei. Dabei unterschied er zwischen einem französischen, auf die

186 Zur Verleihung der nicht tragbaren Goethe-Medaille an Haller vgl. Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 27.  Oktober 1940: BArch N1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert,­ Johannes Haller, Nr.  320; vgl. außerdem den Antrag des Dekans der Philosophischen­ Fakultät Tübingen an den Rektor, 8. Oktober 1940, den Antrag des Rektors an den württembergischen Kultminister, 8. Oktober 1940, sowie den Brief des Rektors der Universität Tübingen an Johannes Haller, 26. Oktober 1940 (alle in maschinenschriftlicher Abschrift in: UAT 126/241). Ursprünglich sollte Haller nicht die Goethe-Medaille, sondern den­ Adlerschild des Deutschen Reiches erhalten, was aber 1940 und 1941 jeweils wegen (angeblicher) Nichteinhaltung von Fristen scheiterte (maschinenschriftliche Abschriften der Anträge bzw. Bescheide vom 6. September 1941, 9. September 1941, 12. November 1941 und 28. November 1941 in: UAT 126/241). Zur Festschrift für Haller vgl. Dannenbauer/ Ernst, Das Reich; vgl. zudem Johannes Haller an Erich Weniger, 2. März 1941: SUB Göttingen, Cod. Ms. E. Weniger 1:288 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  327: »Mit der Festschrift ist es nicht so gegangen, wie es sollte. Das haben mir die Herausgeber verraten. Es gab Differenzen zwischen ihnen und dem Verlag, der eine Parade von großen Namen wünschte. Das wäre allerdings weniger nach meinem Sinn gewesen, die jetzige Gestalt ist mir lieber. Es ist auch eine Festschrift geworden, wie schon lange keine war, und ich freue mich, so oft ich sie ansehe, nicht so sehr wegen der prunkvollen Aus­ stattung – Goldtitel und Goldschnitt, für die Göring eigens um Erlaubnis gebeten werden mußte – wie wegen des mannichfachen und durchweg gediegenen Inhalts. Es lohnte sich schon, 75 Jahre alt zu werden, was sonst eigentlich keine reine Freude ist.« Eine Zusammenstellung von Glückwunschschreiben und -artikeln zum 75. Geburtstag Hallers befinden sich in: UAT 305/27 und UAT 305/29; dort befinden sich auch zahlreiche Glückwunschadressen zum 70. Geburtstag Hallers am 16. Oktober 1935. 187 Otto Riethmüller: Ein Leben im Dienst der Erneuerung Deutschlands. Zum 75. Geburtstag des deutschen Geschichtsschreibers (Herkunft unklar), in: UAT 305/29. 188 Dannenbauer, Johannes Haller zum 75. Geburtstag; Johannes Haller an Heinrich Dannenbauer, 20. Oktober 1940: BArch N 1035/29 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 319. 189 Karl Straube zu seinem 70. Geburtstag. Zu Hallers weiteren Auseinandersetzungen mit dem Regime vgl. Kapitel VIII.2. 190 Haller, Vom nationalen Staat.

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Rechtsgemeinschaft, und einem deutschen, auf die Abstammungsgemeinschaft bezogenen Nationsbegriff. Dies, so Haller weiter, seien aber keine starren Gegensätze, sondern nur historisch bedingt verschiedene Ausprägungen des­selben Phänomens, da nämlich jede Nation »aus dem Zusammenwirken von Natur und Kultur« entstanden sei und beides, kulturelle wie »biologische« Grundlage, einem permanenten Wandlungsprozess ausgesetzt sei.191 Haller wies darüber hinaus auf den strukturellen Zusammenhang zwischen Nation und Demokratie hin, denn: »der Staat, in dem das Volk in seiner Gesamtheit mitzureden hat, setzt eine national einheitliche Bevölkerung voraus, wenn er nicht selbst der­ Einheit, und das heißt so viel wie seines Bestehens verlustig gehen soll.«192 Haller verband dies mit einer Kritik des Nationalismus,193 beharrte aber darauf, dass dem nationalen Staat die Zukunft gehöre, und dass Hitler das Verdienst zukomme, den untrennbaren Zusammenhang zwischen nationalem und sozialem Gedanken erkannt zu haben: »Wenn nun Deutschland heute der Träger des nationalsozialen Staatsgedankens ist, so darf es sich bewußt sein, daß es mit seiner eigenen Zukunft zugleich für ein Stück Weltenschicksal kämpft. Darum bedarf es doppelten Mutes, aber auch doppelter­ Umsicht, höchstgespannter Kraft und kältester Nüchternheit, damit in seiner Hand die Fackel der Idee nicht schwelend erlösche oder das Haus in Brand stecke.«194

Diese Mahnung zur Besonnenheit musste zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als mindestens latente Regimekritik aufgefasst werden, und auch mit seiner These vom Zusammenhang von Nation und Demokratie sowie mit dem dyna­ mischen, keineswegs allein auf biologischen Faktoren beruhenden Nationsbegriff stand Haller in deutlichem Gegensatz zu nationalsozialistischen Kernvorstellungen.195 Es ist auch alles andere als ein Zufall, dass Haller Deutschland nicht als Träger eines »nationalsozialistischen«, sondern des »nationalsozialen« Staatsgedankens bezeichnete, womit er auf die national-sozialen Ideen Fried191 Ebd., S. 292–298, Zitat S. 296. 192 Ebd., S. 302. 193 Vgl. ebd., S.  304: »Das Leben war angenehmer, als der Nationalismus die Völker noch nicht ergriffen hatte, und liebenswürdiger ist keines unter seiner Herrschaft geworden.« Übrigens übte Haller auch im Ende 1938 verfassten Vorwort des 1939 erschienenen dritten »Papsttum«-Bandes implizite Regimekritik: »Viel später als gedacht bin ich imstande, den zweiten Halbband vorzulegen – aus einem Jahr sind zwei geworden! Was mich immer wieder aufhielt, war neben persönlichen Gründen in zunehmendem Maße die Schwierigkeit, der einschlägigen Literatur, zumal der ausländischen, habhaft zu werden, eine Schwierigkeit, die sich nicht immer überwinden ließ. Hierüber will ich nicht weiter klagen – sapienti sat […].« (Haller, Das Papsttum II/2 1939, Vorwort.) 194 Haller, Vom nationalen Staat, S. 309. 195 Vgl. dazu Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 472 f., sowie Schönwälder, Historiker und Politik, S. 377, Anm. 852. Volkmann, Von Johannes Haller, S. 28, kommt dagegen zu seinem Urteil, dass Haller sich hier auf den Boden der nationalsozialistischen Ideologie gestellt habe, nur dadurch, dass er einseitig ausschließlich diejenigen Stellen­ zitiert, in denen Haller den deutschen Nationsbegriff beschreibt.

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rich Naumanns anspielte, denen er selbst 1903 angehangen hatte.196 In einem Brief an Theodor Heuss erklärte Haller 1942 ausdrücklich, diese Ideen noch immer zu vertreten.197 An dem Aufsatz für die Straube-Festschrift wird daher vor allem die Fremdheit deutlich, mit der Haller dem Nationalsozialismus insgesamt gegenüberstand. Die tiefere Ursache dieses Befremdens hatte er seinem ältesten Sohn schon im Juni 1940 erklärt: »Ich für meine Person habe mich, aus einer altmodisch aristokratischen Welt stammend, schon im bürgerlichen Deutschland immer etwas fremd gefühlt, aber ich konnte doch in ihm leben. Ob mir das in einem sozialistischen, und sei es noch so national deutsch, noch gelingen wird, ist mir nicht sicher.«198

Aber trotz aller Skepsis, aller Auseinandersetzungen und Abgrenzungsbemühungen gilt für Haller dasselbe wie für einen Großteil seiner deutschen Zeitgenossen: Das Schicksal Deutschlands – und damit auch alle politischen Hoffnungen, die Haller seit 1918 hegte – war spätestens durch den Kriegsbeginn so untrennbar mit dem Nationalsozialismus verbunden, dass aus seiner Sicht keine realistische Alternative blieb, als das eine mit dem anderen zu bejahen.199 Schon in Friedenszeiten hatte Haller wie gezeigt die Auffassung zumindest erwogen, dass der Faschismus insgesamt das Schicksal Europas bestimmen könnte, weil von seinem Erfolg abhänge, ob das Abendland untergehen werde oder nicht.200 Hallers NS-Skepsis milderte sich zudem erheblich dadurch, dass er zwar den Nationalsozialismus und große Teile von dessen Führungspersonal für suspekt bis gefährlich hielt, in Hitler aber den größten Staatsmann bewunderte, den die Nation seit Bismarck besessen habe.201 Während des Krieges, so war Haller 196 Vgl. dazu Kapitel V.2. 197 Vgl. Johannes Haller an Theodor Heuss, 22. November 1942: BArch N 1221/81 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 350: »Mit welcher Teilnahme ich das Kapitel über die Wahlniederlage 1903 gelesen, werden Sie sich denken, wenn ich Ihnen sage, daß ich damals mit meiner Stimme für die Wahl v. Gerlachs einen bescheidenen Beitrag geleistet habe. Denn auch ich war damals vom national-sozialen Gedanken ergriffen und – bin es geblieben bis heute.« 198 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 9. Juni 1940: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 316. 199 Das erklärt auch das relativ späte Handeln des militärischen Widerstandes; vgl. dazu Hoffmann, Widerstand gegen Hitler, S. 55–69. Vgl. auch die »Deutschlandberichte« der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, hier bes. für den Februar 1940: »Jahre hindurch war die Angst vor dem Bolschewismus eine Art negativer Massengrundlage für das Regime, jetzt hat es den Anschein, als ob die Angst vor der Niederlage den Platz der Angst vor dem Bolschewismus einnehmen und dem Regime auch in Kreisen Gefolgschaft sichern würde, die sonst mit ihm keineswegs einverstanden sind.« (Deutschland-Berichte, S. 104.) 200 Vgl. dazu Kapitel VIII.1. 201 Vgl. dazu Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 7. Mai 1933: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 256: »Hoffen wir, daß es Hitler gelingt, auch dieses Problem zu lösen. Er hat so Großes schon geleistet, daß man ihm auch dies zutrauen kann, wächst überhaupt mehr und mehr zum großen Staatsmann heran.« Vgl. außerdem Kapitel VIII.1.

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überzeugt, offenbarte sich außerdem Hitlers großes Talent als Militär­stratege.202 An diesem Glauben hielt Haller auch dann noch fest, als sich Ende 1941 die ersten militärischen Misserfolge einstellten.203 Hier spielte allerdings auch die traumatische Erfahrung vom November 1918 und dessen nachträgliche Deutung als »Dolchstoß« eine Rolle.204 Haller beobachtete mit Verärgerung und mit zunehmender Sorge die sich verschlechternde Stimmung im Volk, die ihn in beunruhigender Weise an die »Novemberstimmung« erinnerte, welche aus seiner Sicht zumindest mit verantwortlich für die so verheerende Niederlage im Ersten Weltkrieg gewesen war.205 Haller selbst äußerte erst einige Wochen nach der Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad Zweifel an einem für Deutschland günstigen Ausgang des Krieges.206 Bis Mitte 1944 aber ließ er sich die vorsichtige Hoffnung nicht nehmen, dass Hitler doch noch eine erneute Wendung der Lage gelingen könnte.207 Seine Briefe aus dieser Zeit sind von Fehleinschätzungen der allgemeinen militärischen und poli202 Vgl. dazu Johannes Haller an Elisabeth Haller, 25.  Juni 1940: UAT 305/38 bzw. Hassel­ horn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  317; vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 27. April 1941: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 329; vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 22. Juni 1941: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 330: »Hitler ist wirklich viel klüger als seine Gegner und von einer­ sicheren Entschlossenheit, die kein anderer besitzt.« 203 Gemeint ist hier vor allem das Scheitern des »Blitzkrieges« gegen die Sowjetunion: vgl. dazu Hartmann/Hürter/Lieb/Pohl, Der deutsche Krieg im Osten. 204 Vgl. dazu Kapitel VI.3. 205 Schon 1940, als von Misserfolgen noch gar nicht die Rede sein konnte, kritisierte Haller die Volksstimmung; vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 7. Januar 1940: UAT 305/62 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 313: »Ein gewaltiges Problem – wie viele begreifen es? Unser bieder-törichtes Volk ganz gewiß nicht. Es nimmt ja, soweit es nicht in Uniform steckt, hauptsächlich durch Schimpfen am Kriege teil. In dieser Hinsicht stehen wir heute, im Anfang, etwa dort, wo wir 1918 am Ende standen. Zum Glück führen diesmal stärkere Hände die Zügel.« Vgl. weiterhin Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 12. April 1942: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 341: »In der Heimat ist es leider ganz anders, die Stimmung ist wie 1917/18: ein dummes Räsonnieren und gedankenloses Meckern herrscht in allen Kreisen.« 206 Johannes Haller an Roland Haller, 21.  Februar 1943: UAT 305/62 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr.  357: »Wir stehen auf allen Fronten in der Verteidigung, können nirgends zum Angriff übergehen, und die Gegner werden täglich stärker. Man sieht sich vor einem Abgrund, viel schlimmer als 1918. Einzige Hoffnung sind die Uboote und – Japan, eines so unsicher wie das andere. Erleben wir wirklich den Untergang des Abendlands? Das sind meine Gedanken, und ich bin unter meinen Bekannten noch am ehesten Optimist.« 207 Vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 4. August 1944: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 377: »Wenn die Wendung nicht sehr bald eintritt, ist unser Schicksal besiegelt, und woher soll sie kommen? Die vielgerühmten Geheimwaffen sind aller Wahrscheinlichkeit nach doch nur Mittel der Zerstörung, keine des Kampfes, und daß mit solchen der Gang der militär. Entwicklung nicht zu ändern ist, hat die Erfahrung mit V 1 bewiesen.« Vgl. dazu auch die weiteren Briefe aus den Jahren 1943 und 1944 ebd. sowie diejenigen an Roland Haller (UAT 305/62).

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tischen Lage durchzogen, die zu bestätigen scheinen, dass nichts »gutgläubiger [ist] als ein Professor außerhalb seines Fachwissens«208. Den »Untergang des Abendlandes« sah Haller mittlerweile aber unabhängig von der Frage des Kriegsausgangs als nicht mehr zu verhindern an: »Es kommt hinzu, daß der Zusammenbruch vor dem wir stehen, nicht das Ende einer Generationsperiode, auch nicht das eines Jahrhunderts, sondern eines Jahrtausends bedeutet und seine Analogie in dem Untergang der Antike hat, der sich vom 5. bis 10.  Jahrhundert, von Alarich bis zu den Epigonen Karls d. Gr. abspielte. Das ließe sich im Einzelnen nachweisen, würde aber ein Buch statt eines Briefes fordern. Gewiß wird auch aus diesem Untergang des Abendlands etwas Neues hervorgehen, es wird diesmal auch nicht so lang dauern, aber was es sein wird, wie viel vom Früheren dabei noch wird mitgenommen, erhalten und eingebaut werden können, vermag kein Sterblicher vorauszusagen. Mitunter habe ich fast eine visionäre Vorstellung davon, wie es kommen wird, wenn Amerika und Rußland sich in die Beherrschung der Erde geteilt haben. Aber damit will ich Dich verschonen und w[ende] mich zu näherliegenden und greifbaren Dingen.«209

Eine Ursache für diese Auffassung vom unabwendbaren Untergang der europäischen Kultur war sicher der Eindruck der seit 1942 immer massiver werdenden, schließlich direkt gegen die deutsche Zivilbevölkerung gerichteten alliier­ ten Bombenangriffe aus der Luft.210 Haller war davon auch ganz persönlich 208 Gustav Radbruch: Die Universitäten und der heutige Staat. Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft 44, Tübingen 1926, S. 33, zit. nach Töpner, Gelehrte Politiker, S. 22. Hallers jüngerer Kollege Theodor Schieder hoffte sogar im April 1945 noch auf eine wundersame Wendung zugunsten Deutschlands: vgl. Nonn, Theodor Schieder, S. 115. 209 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 4.  August 1944: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 377. Haller scheint Spengler ansonsten nicht besonders intensiv rezipiert zu haben. Wenn man den Erinnerungen von Theodor Eschenburg folgt, hat Haller Spenglers »Untergang des Abendlandes« gar nicht ernstgenommen: »Das Verhältnis [zwischen Haller und Adalbert Wahl] verschlimmerte sich noch, seit Spengler in seinem berühmten ›Untergang des Abendlandes‹ geschrieben hatte, es gäbe eigentlich nur eine brauchbare Geschichte der Französischen Revolution, nämlich die von Wahl. Nun goß Haller Hohn und Spott über Spengler und sein vielbesprochenes Buch aus, in dem er ein besonders drastisches Beispiel für Effekthascherei sah. Ob nun eine Zahnpastafabrik ihre Ware ›Nivea‹ nenne oder eine pharmazeutische Fabrik ihre Hühneraugenmittel ›Kukirol‹ oder ein Schriftsteller sein Buch ›Der Untergang des Abendlandes‹, so spottete er, es sei alles dasselbe, nämlich Reklame.« (Eschenburg, Also hören Sie mal zu, S. 160.) Von Spenglers 1933 erschienenem Werk »Jahre der Entscheidung« dagegen zeigte sich Haller nachhaltig beeindruckt: vgl. Johannes Haller an Eduard Fueter, 22. Oktober 1933: ETHBibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 4993 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 261. 210 Vgl. dazu Müller, Der Bombenkrieg, S. 91–232; vgl. auch Friedrich, Der Brand. Vgl. dazu außerdem Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 21. Juni 1942: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 343; Johannes Haller an Roland Haller, 29. November 1942: UAT 305/62 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 351; Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 18. Juli 1943: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 361.

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betroffen: Anfang Oktober 1943 wurde bei Luftangriffen auf Stuttgart auch der bereits gesetzte vierte Band von Hallers »Papsttum« zerstört, dessen Druck sich daraufhin um fast zwei Jahre verzögerte.211 Im Februar 1944 wurde bei einem weiteren Angriff das Wohnhaus Hallers teilweise beschädigt.212 Auf das Drängen seiner Frau hin floh Haller daraufhin mit ihr ins sicherere Elsass, wo sie bei Bekannten unterkamen.213 Im Herbst 1944 kehrten sie zurück, aber nicht nach Stuttgart, da das Haus noch unbewohnbar war, sondern nach Tübingen, begleitet von der jüngsten Tochter Elisabeth.214 In Tübingen erlebte Haller dann auch das Kriegsende: den Einmarsch französischer Truppen am 19.  April 1945, das Zusammenbrechen jeder Ordnung auf deutscher Seite, von ferne auch die vereinzelten Verteidigungskämpfe, die er mit großer Sorge registrierte: »Wenn von unserer Seite die fanatische und aufgehetzte Jugend auf eigene Faust Krieg zu spielen anfängt, können wir noch unangenehme Dinge erleben.«215 Als besonders abstoßend empfand Haller das Verhalten der marokkanischen Truppen auf französischer Seite; hier berichtete er von zahlreichen Vergewaltigungen, kritisierte aber auch das anbiedernde Verhalten deutscher Mädchen und hielt fest, dass die Franzosen sich »im allgemeinen korrekt« benähmen.216 In den Tagen vom 28. bis zum 30. April erreichte ihn die Nachricht vom – angeblich wegen einer Kampfverwundung – bevorstehenden Tod Hitlers, den er mit einer gewissen Genugtuung quittierte: »Er hat also das Ende gefunden, das ihm von Anfang an bestimmt war, und ehrenvoller, als er es verdiente. Denn ein so riesenhafter und frecher Volksbetrug, wie er ihn in den letzten Monaten geübt hat, ist noch nicht dagewesen. Mit Lug und Trug begonnen und ebenso geendet. Die Tragik, die ich in seiner Figur von jeher geahnt, ja gesehen habe, hat sich vollendet und ist zur Schicksalstragödie des deutschen Volkes geworden.«217 211 Vgl. Johannes Haller an Roland Haller, 24. Oktober 1943: UAT 305/62 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr.  366; vgl. dazu auch Haller, Das Papsttum III/1 1945, Vorwort. 212 Vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 21. Februar 1944: UAT 305/61. 213 Vgl. Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 10. Mai 1944: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 5014 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 372. 214 Vgl. Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 17.  Oktober 1944: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 5016 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 378. 215 Johannes Haller: Tagebucheintrag vom 19. April 1945: UAT 305/34, S. 6, bzw. Haller, Das Drama ist zu Ende, S. 36. Zum Kriegsende in Tübingen vgl. Schmid/Schäfer, Wiedergeburt des Geistes, S. 7–42. 216 Johannes Haller: Tagebucheintrag vom 21./22. April 1945: UAT 305/34, S. 11, bzw. Haller, Das Drama ist zu Ende, S. 37. Später hielt er das günstige Urteil über die französischen Truppen nicht mehr aufrecht und bezeichnete das Verhalten der US-Truppen als denen der Marokkaner ebenbürtig: vgl. Haller, Das Drama ist zu Ende, S. 37–39, bzw. Johannes Haller: Tagebucheintrag vom 3. Mai und vom 23. Mai 1945: UAT 305/34, S. 20 und S. 27. Zur französischen Besetzung Tübingens vgl. auch Munro, The French Occupation of Tübingen. 217 Johannes Haller: Tagebucheintrag vom 28.–30. April 1945: UAT 305/34, S. 18. Als er später von den wahren Umständen hörte, kommentierte er: »Jämmerliches Ende. Keine Spur von Heldentum.« (ebd., S 32.)

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Haller selbst kam in den Wochen zwischen April und August 1945 insgesamt sehr glimpflich davon. Zweimal musste er die Einquartierung französischer Soldaten bei sich zu Hause hinnehmen, die zwar Arbeit, aber keinen Ärger machten.218 Ansonsten erhielt er lediglich einmal, am 9. Juli, Besuch vom »United States Office of War Information«, das im Rahmen seiner Tätigkeit für die US-amerikanische Kriegspropaganda die öffentliche Meinung in Deutschland untersuchen sollte.219 Laut Hallers Tagebucheintrag machten seine Äußerungen Eindruck auf die Besucher: »Ich habe mich ganz offen geäußert, ihnen klar zu machen gesucht, daß wir 1933 auch mit dem Teufel gegangen wären, um vor dem kommunistischen Massenaufstand bewahrt zu bleiben, und daß Hitler erst später als wahnsinnig erkannt worden ist, zu spät: daß man übrigens nach dem gleichen Grundsatz gehandelt hat, den Churchill 1936 im Unterhaus geäußert hat: Wenn er Deutscher wäre, würde er alle innenpolitischen Bedenken bei Seite stellen und für Hitler sein, weil er nach außen Erfolg habe. Das machte Eindruck. Die Hauseinwohner haben den einen beim Fortgehen sagen hören: It was fascinating.«220

Ansonsten verbrachte Haller die Zeit des Untergangs des NS-Regimes offenbar vor allem mit der Sorge um den Verbleib seiner Kinder und mit allgemeinen Reflexionen über Gegenwart und Zukunft. Was das letzte betrifft, so zeigt sein nur in der Umbruchszeit 1945 geführtes Tagebuch, dass ihn in dem Moment nichts mehr an den Nationalsozialismus band, in dem das Schicksal Deutschlands­ besiegelt war.221 An der weiteren Zukunft war er im Grunde nur noch aus Neugier interessiert: »Das Drama ist zu Ende; wie wird die letzte Szene aus­fallen? Das allein möchte ich noch erfahren, dann aber – – – .«222 Haller hat schon sehr früh, vor 1933, zum Teil sogar vor 1918, den Eindruck gehabt, in einer Epoche des Niedergangs, zumindest aber der »Epigonen« zu leben.223 Nun hatte er das erlebt, was er für das Ende der deutschen Nation hielt. 218 Johannes Haller: Tagebucheintrag vom 17. Mai 1945: UAT 305/34, S. 25, bzw. Haller, Das Drama ist zu Ende, S. 37. 219 Zum US-amerikanischen »Office of War Information« vgl. Winkler, The Politics of Propaganda. 220 Johannes Haller: Tagebucheintrag vom 13. Juli 1945: UAT 305/34, S. 36, bzw. Haller, Das Drama ist zu Ende, S. 40. 221 Johannes Haller: Tagebucheintrag vom 21./22. April 1945: UAT 305/34, S. 12, bzw. Haller, Das Drama ist zu Ende, S. 37: »Erstaunlich, wie fremd und losgelöst man sich gegenüber dem fühlt, was sich noch Deutsches Reich und Regierung nennt. Man merkt erst, wie wenig man damit innerlich zusammengehangen hat. Nur das Schicksal der Angehörigen jenseits!« 222 Johannes Haller: Tagebucheintrag vom 20. April 1945: UAT 305/34, S. 8. 223 Vgl. bes. die Kapitel V.3. und VII.2. Vgl. dazu auch Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 18. August 1946: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 381: »So wie Deutschland heute ist, übt es keine magnetische Kraft mehr, und von der Zukunft ist ja auch nichts zu erwarten. Das deutsche Volk aber ist durch die Wilhelminische, die­ Weimarische und vollends die Hitlersche Aera so demoralisiert, daß Butter ihm mehr­ bedeutet als irgend ein politisches Ideal.«

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In seinen Anfang der 1930er Jahre begonnenen, im September 1946 abgeschlossenen Lebenserinnerungen versuchte er sich zum Schluss an einer ersten Reflexion über dieses »Finis Germaniae«224. Nicht alles darin entspricht den historischen Tatsachen; so ist vor allem Hallers Behauptung, spätestens seit 1934 kein Vertrauen in die Fähigkeiten Hitlers mehr gehabt zu haben, eindeutig falsifizierbar.225 Schlüssig aber ist seine subjektive Erklärung, wieso er keinen Widerstand geleistet habe, nämlich dass man angesichts der Untätigkeit der »hierzu Berufenen« keine Wahl gehabt habe, als zu hoffen, das das »Schicksal Erbarmen mit dem deutschen Volk haben und es durch ein Wunder retten werde.«226 Diese Hoffnung habe getrogen, die Geschichte das »Todesurteil« über Deutschland gesprochen. Diese Erklärung Hallers zeigt auch, dass die Verbrechen des NS-Regimes weder für seine anfängliche Zustimmung, noch für seine spätere Ablehnung des Nationalsozialismus irgend eine herausgehobene Rolle spielten. Von Hitler als »Verbrecher« sprach Haller überhaupt erstmals hier, im Schlussteil der Lebenserinnerungen. Als konkretes Beispiel nannte er weder die Rassengesetze noch die Konzentrations- und Vernichtungslager, sondern die Ermordungen im Zuge des sogenannten »Röhm-Putsches«. Seine Ablehnung des Nationalsozialismus war eben im Kern keine moralische, sondern eine politische. Der Gefahr einer 224 Zur Beurteilung des Kriegsendes 1945 als »Finis Germaniae« vgl. auch Kielmanngsegg, Nach der Katastrophe, S. 7–13. 225 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S.  186 f. bzw. unten S.  438 f.: »Zu denen um Hitler habe ich keine Beziehungen gehabt. So lebhaft ich sein öffentlich ver­ kündetes Ziel begrüßt hatte, so sehr ich auch später seine Erfolge anerkennen mußte, so fehlte mir doch, wie schon bemerkt, das feste Vertrauen zu seiner Persönlichkeit und die Zweifel wuchsen rasch. Schon bald glaubte ich zu bemerken, daß ihm die Kunst des Re­ gierens ­versagt war, die darin besteht, die eigenen Absichten durch andere ausführen zu lassen. Wie sehr ihm das Augenmaß, der Sinn für das Mögliche abging, verriet er mir schon in den ersten Wochen seiner Amtsführung durch den ersten schüchternen Ansatz zur J­ udenverfolgung (April 1933). Ich werde daran erinnert, damals geäußert zu haben, dies sei der erste kapitale Fehler, und daran werde er scheitern. Völlig irre bin ich an ihm geworden durch den 30. Juni 1934. Seitdem sah ich in ihm die tragische Gestalt nach der Art eines Cola di Rienzo und fragte mich, wie lange es dauern und ob er das Reich in den eigenen Untergang mitreißen werde oder ob es ihm beschieden sei, trotz allem ans Ziel zu gelangen und Deutschland zu befreien und aufzurichten. Und wenn ihm das glückte, müßte man ihn dann nicht hinnehmen, wie er war, und ihm seine Fehler verzeihen? Daß es Unzähligen ebenso gegangen ist wie mir, halte ich für gewiß. Wir waren dem Reisenden vergleichbar, der, selbst unbewaffnet, den Revolver in der Hand des Mitreisenden erblickt, bei dem er mit Schrecken die Zeichen des Irrsinns zu erkennen glaubt. War dieser ­Hitler ein inkommensurables Genie und darum unverständlich, oder war er geisteskrank? Mit der Zeit schwanden die Zweifel, und wir fragten uns nur noch, ob wir es mit einem Wahn­sinnigen oder mit einem Verbrecher zu tun hätten. Nach allem, was seitdem bekannt geworden ist, dürfte er beides gewesen sein.« Hallers Hinweis, dass ihm die Judenfeindschaft des Regimes nicht behagt habe, ist durchaus plausibel; vgl. dazu auch Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 467. 226 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 187 bzw. unten S. 439.

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moralischen Verwerfung der ganzen deutschen Nation wegen der NS-Verbrechen – von denen das Volk seiner Meinung nach die längste Zeit über nichts gewusst habe227 – war er sich aber trotzdem sehr deutlich bewusst. So ist auch der Vermächtnischarakter seiner zum Schluss der Lebenserinnerungen erhobenen Forderung zu erklären – zu der es übrigens Parallelen bei anderen Autoren der »Konservativen Revolution« gibt228  –, den Deutschen keine einseitig negative Bilanz auszustellen, sondern trotz des Untergangs die Leistungen der deutschen Nation nicht zu vergessen: »In der Geschichte wie in der Dichtung gründet sich das Urteil nicht auf die letzte Szene; von der Exposition anfangend, durch alle Akte hindurch zieht sich die tragische Schuld, die zuletzt den Untergang herbeiführt und als Notwendigkeit recht­ fertigt. Indem ich meine Erinnerungen an das Deutschland, das ich gesehen und erlebt hatte, noch einmal vorüberziehen lasse, bin ich betroffen von der Folgerichtigkeit der Entwicklung, deren Zeuge ich war. Wie der Held im Trauerspiel an der eigenen Hybris scheitert, so mußte Deutschland tragisch enden, weil es unternahm, was über seine Kräfte ging. Aber wenn die Deutsche Geschichte ein Trauerspiel war, in dem sich Schuld und Schicksal verketten, so war sie doch die Tragödie eines Helden. Der deutsche Admiral, der am 8. Mai 1945 den Feinden die Unterwerfung erklärte, hatte recht, als er 227 Vgl. ebd. 228 Vgl. dazu vor allem den 1943 entstandenen Text des Schriftstellers Rudolf Borchardt über den »Untergang der deutschen Nation«, in dem das »Ausscheiden der deutschen Nation aus der Weltgeschichte« mit dem Hinweis auf das trotz aller Schuld wertvoll­ bleibende Erbe der deutschen Geschichte verknüpft wurde: »Zu diesem überlieferten Erbe gehört ein in Jahrhunderten entstandenes und durch sie geheiligtes Verhältnis des Deutschen zu allen Mächten sittlicher und geistiger Natur, die Europa zum Erdteil, und diesen zum herrschenden gemacht haben […]. Ich verlange aber auch von unseren Richtern Gehör für den Rest von uns, dessen ewiger Wert den Untergang überlebt, weil ich diesen Rest, viel oder wenig wie er sei, an seiner Stelle im europäischen Zusammenhang für die Zukunft erhalte und anmelde. […] Nur daß die ewige Substanz eines großen Geschichtsvolkes von anderthalb Jahrtausenden der Wirkung nach allen Seiten durch nichts auf ewige Dauer vernichtet werden kann oder hat vernichtet werden können, was zehn Jahre haben anrichten können, davon verlangen diese Seiten außerhalb Deutschlands darum Anerkennung, weil sie davon selber wieder der erste Beweis sind.« (Borchardt, Der Untergang der deutschen Nation, S.  503–505.) Und auch der als Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten am 23.  April 1945 in Berlin ermordete Geograph Albrecht Haushofer notierte im Rahmen seiner »Moabiter Sonette« den »Untergang« des deutschen Volkes mit deutlicher Ambivalenz: »Wie hört man leicht von fremden Untergängen, / wie trägt man schwer des eignen Volkes Fall! / Vom Fremden ist’s ein ferner Widerhall / im Eignen ist ein lautes Todesdrängen. / Ein Todesdrängen, aus dem Haß geboren, / in Rachetrotz und Übermut gezeugt – / nun wird vertilgt, gebrochen und gebeugt, / und auch das Beste geht im Sturz verloren. / Daß dieses Volk die Siege nicht ertrug  –  /  die Mühlen Gottes haben schnell gemahlen.  /  Wie furchtbar muß es nun den Rausch bezahlen.  /  Es war so hart, als es die andern schlug,  /  so taub für seiner Opfer Todesklagen – / wie mag es nun das Opfer-Sein ertragen…« (Haushofer, Moabiter Sonette, S. 54.)

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sagte, niemals habe ein Volk mehr geleistet und mehr gelitten als das Deutsche. Und wenn wir heute gebrochenen Herzens an seinem Grabe stehen, so dürfen wir ihm doch ungescheut die Inschrift setzen: Dies Volk, was immer es gefehlt haben mag, ist unsterblich, denn es hat auf allen Gebieten menschlichen Schaffens Größtes vollbracht. Ohne Ruhmseligkeit und ohne Übertreibung kann es wie sein Ebenbild in der Dichtung sprechen: Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aeonen untergehn.«229

229 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 187 f. bzw. unten S. 439. Das Schlusszitat stammt aus Goethes »Faust« (Faust II, 5. Akt, Großer Vorhof des Palasts): G ­ oethe, Sämtliche Werke 18.1, S. 335. Im Original heißt es allerdings »Erdetagen« statt »Erdentagen«.

IX. Überlebt (1945–1947) Haller starb nur zweieinhalb Jahre nach Kriegsende, an Heiligabend 1947. Seine letzte Lebenszeit verbrachte er in Tübingen, zurückgezogen, von Alter und Krankheit zunehmend gezeichnet. Dennoch war er im April 1946 bereit, angesichts der kriegsbedingten Engpässe an der Universität Tübingen, die schon zum Wintersemester 1945/46 den Lehrbetrieb wieder aufgenommen hatte, mit einer Einführungsvorlesung in das »Studium der Quellen mittelalterlicher Geschichte« auszuhelfen.1 Die philosophische Fakultät begrüßte das Angebot ausdrücklich, »vorausgesetzt, daß keine politischen Bedenken dagegen erhoben werden.« Genau dies scheint aber der Fall gewesen zu sein, denn das Staatsekretariat lehnte den Vorschlag ab. Haller galt offenbar politisch als »belasteter«, als seine Spruchkammerakte erahnen lässt. Diese enthält nämlich neben dem berühmten »Frage­bogen«, den Haller im Februar 1946 ausfüllte und in dem er wahrheitsgemäß angab, seit 1930 keiner nationalsozialistischen Organisation und auch sonst keiner politischen Partei angehört zu haben, noch die Urteilssprüche des Land­k reises und des politischen Landesbeirats Tübingen.2 Beide Gremien entschieden, keinerlei Maßnahmen zu ergreifen, da Haller weder Parteigenosse gewesen war noch überhaupt irgendein Amt im NS-Staat bekleidet hatte. Dass Haller dennoch als politisch problematisch galt, hängt wohl in erster Linie mit seinem Bestseller, den »Epochen der deutschen Geschichte«, zusammen. Jedenfalls gibt es Anzeichen dafür, dass zumindest die britische Besatzungsmacht das Buch nach 1945 aus dem Verkehr ziehen wollte.3 Schon 1950 konnte aber eine neue, im Wesentlichen auf der Erstausgabe von 1923 beruhende Auflage erscheinen.4 Es deutet auch manches darauf hin, dass Haller mit der in den Lebenserinnerungen behaupteten »Folgerichtigkeit« des Untergangs Deutschlands zwar der deutschen Politik 1890–1945 ein vernichtendes Urteil ausstellte, die Berechti­ 1 Johannes Haller an den Rektor der Universität Tübingen, 15. April 1946: UAT 131/138 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 380, dort auch das folgende Zitat und der Vermerk über die Ablehnung des Vorschlags durch das Staatssekretariat vom 24. April 1946. 2 Entnazifizierungsakten der Spruchkammer Tübingen: Haller, Johannes, Prof: Staatsarchiv Sigmaringen Wü 13 T 2 Nr. 2091/192. Die Urteilssprüche datieren vom 13. Januar 1947 sowie vom 17. April 1947. 3 Vgl. dazu einen Erlass der Militärregierung für die Nord-Rheinprovinz für Sonderlehrgänge zur Erlangung der Hochschulreife vom 3. Dezember 1945, abgedruckt in: Frohn, Der Beginn des Geschichtsunterrichts, S. 166 f., hier bes. S. 166. Vgl. dazu auch Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 111, sowie Müller, Eine gewisse angewiderte Bewunderung, S. 448. 4 Haller, Epochen 1950.

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gung der politischen Ziele Deutschlands dieser Zeit aber – zuerst die Etablie­ rung als Nationalstaat unter Nationalstaaten und Großmacht unter Großmächten, dann der Wiederaufstieg von Deutschlands Macht und Ansehen, schließlich der »Anschluss« Österreichs und der Sieg über Frankreich – nicht infragestellte. Seinem ältesten Sohn erklärte er Ende 1946: »was für Chancen muß Hitler 1934 gehabt und später verscherzt haben! Ich glaube, wäre er nicht so stur für Gewaltpolitik, so militärisch ehrgeizig und eitel und so sadistisch veranlagt gewesen, er hätte Großes erreichen können.«5

Entsetzt war er nach der Lektüre der Erinnerungen von Hans Bernd Gisevius, einem Mitverschwörer des 20. Juli 1944, angesichts des darin beschriebenen Zustandes des NS-Regimes und der Militärführung.6 Den Attentats- und Putschversuch des Kreises um den Obersten Claus Schenk Graf von Stauffenberg hatte Haller im August 1944 als »unbegreifliche Torheit und darum als Verbrechen an der Nation« bezeichnet; das aber nicht etwa aus Sympathie mit dem Nationalsozialismus, sondern aus dem aus seiner Sicht ganz realpolitischen Grund, dass er damals fürchtete, der revolutionäre Flügel der Partei werde nun endgültig auch über die letzten Reste des vor allem durch die Armee repräsentierten konservativen Flügels triumphieren.7 Unter dem Eindruck der Gisevius-­ Lektüre scheint er seine Auffassung revidiert zu haben; dafür dürften auch die Gemeinsamkeiten der politischen Auffassungen Hallers mit den jungkonservativen Ideen der Hauptverschwörer eine Rolle gespielt haben.8

5 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 15. Dezember 1946: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 383. 6 Vgl. ebd. Vgl. Gisevius, Bis zum bitteren Ende. Gisevius war in der Anfangsphase des­ Regimes überzeugter Anhänger gewesen, unter dem Eindruck des 30. Juni 1934 aber – ganz ähnlich wie Haller – davon abgerückt; vgl. dazu Kroll, Nationalsozialisten im Widerstand, S. 100 f. 7 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 4.  August 1944: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 377: »Dazu kommt die innere Krise, die der 20. Juli entdeckt hat, und die viel größer ist, als amtlich zugegeben wird. Wenn ein Mann wie G. O. Beck und ein Gördeler beteiligt waren, müssen schon recht weite Kreise ergriffen sein. Himmler ist der Mann, etwa noch vorhandene Brandherde zu ersticken, aber damit wäre die Gefahr nur­ vertagt und zugleich nur vergrößert. Sie liegt letzten Endes im Gegensatz zwischen Armee und SS, in dem sich die innere Dissonanz der Partei selbst ausdrückt: konservativ oder revolutionär, zwischen diesen Polen ist die Entscheidung nicht gefallen und wird sie früher oder später fallen müssen. Das Attentat, das mir als unbegreifliche Torheit und darum als Verbrechen an der Nation erscheint, wird die Entscheidung nach links drängen, und am Ende wird der Bolschewismus bei uns freies Feld finden.« 8 Vgl. dazu vor allem den »Eid« der Verschwörer, faksimiliert in: Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, S.  396 f. Vgl. außerdem Gisevius, Bis zum bittern Ende 1, S.  7–10. Noch im Sommer 1945 allerdings war Haller erschüttert, als er hörte, dass Robert Bosch den 20. Juli mitfinanziert habe, und meinte, die Verschwörer hätten einen erträglichen Frieden erreichen wollen, was vollkommen aussichtslos gewesen sei; vgl. Johannes Haller: Tagebucheintrag vom 23. Mai 1945: UAT 305/34, S. 27.

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Im Grunde aber interessierte die Politik Haller nach 1945 nicht mehr. Zwar reflektierte er über die politischen Möglichkeiten der Ende Juni 1945 gegründeten CDU, versprach sich aber letztlich nichts von ihr.9 Schon 1942 hatte Haller es vermutlich wenigstens halbernst gemeint, als er den Rat an den Neffen seiner Frau, Eduard Fueter, sich ganz auf seine wissenschaftliche Karriere zu konzentrieren, mit der Bemerkung verbunden hatte, er selbst »bereue jede Minute, die ich andern als wissenschaftlichen (und künstlerischen) Zwecken und Aufgaben geopfert habe. Es kommt nichts dabei heraus!«10 Nach Kriegsende galt das noch verstärkt; seinem ältesten Sohn schrieb er: »Den Glauben an das deutsche Volk, der mich vor 56 Jahren zum Auswandern trieb, habe ich aufgegeben.«11 Auch wenn Haller schon sehr viel früher zu ähnlichen Äußerungen neigte – hier wirkte sein negativer Ersteindruck von Deutschland nach, den er bei seiner Einwanderung 1890 erhalten hatte12  –, darf man die Tragweite von Hallers politischem Glaubensverlust nicht unterschätzen. Denn die Wissenschaft als von ihm selbst empfohlener Zufluchtsort konnte dem an der Universität unerwünschten Emeritus keinen Ersatz mehr bieten, zumal ihm für eine Fortsetzung seines Alterswerks, des »Papsttums«, die Kraft fehlte. Er arbeitete daher nur noch an Kleinigkeiten, deren größte die allerdings erst posthum veröffentlichte Monographie über sein – neben Goethe – wohl größtes Vorbild, Dante, war.13 Vor allem aber bot ihm, dem Skeptiker, auch die Religion keinen Ersatz. 9 Vgl. Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 3. November 1946 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr.  382: »Von unseren Wahlen wirst Du gehört haben: großer Sieg der CDU[; n]ach meiner Ueberzeugung ohne alle Folgen. Es fehlt der Partei völlig an Persönlichkeiten. Nicht einmal eine Zeitung hat sie durchsetzen können! Ich könnte darüber viel berichten, was aber zu weit führen würde. Ueber die Zersplitterung, die Du beklagst, kann sich niemand wundern; sie gehört zum deutschen Wesen und ist nach allem Erlebten und nach dem ungeheuren Verlust an besten Menschen nur zu natürlich. Es fehlte von jeher der Trieb zum Zusammenschluß, daher ist die deutsche Geschichte so unerfreulich. Nun ist sie zu Ende«. 10 Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 12.  Juli 1942: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 5010 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 345. 11 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 18.  August 1946: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/­ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 381. 12 Vgl. Kapitel III. 13 Haller, Dante. Vgl. dazu auch die Sammlungen von Rezensionen in: UAT 305/25. Hallers lebenslange Goethe-Verehrung kann im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit nicht angemessen gewürdigt werden. Als einer unter vielen Belegen neben den zahllosen Goethezitaten in seinen Briefen und Publikationen sei an dieser Stelle aus einem Brief Hallers an seine Frau zitiert: »Doch nun die Hauptsache. Ich hatte wirklich Herzklopfen, als ich die Treppe des Hn v. Goethe emporstieg. Etwa so, als ginge ich zu Althoff. Man kommt sich doch nie so klein vor, wie bei solchen Anlässen. […] Alles in allem: unvergeßlich, aber doch mehr bedrückend als erhebend. Mir ist es schon oft so gegangen an Stellen, wo die Vergangenheit noch wirklich zu sein scheint: immer fühlte ich mich bedrückt, als wäre das, was zu sehen ist, kleiner und enger als meine Vorstellung von den Dingen. Am Ende ist das auch nur erklärlich. In unserer Vorstellung lebt, wenn nicht geradezu ein willkürliches Ideal, so

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Dabei blieb sein durch die Kirchenkampferfahrung in den 1930er Jahren gestiegenes Interesse an den Belangen der evangelischen Kirche auch nach 1945 bestehen. Die Entwicklungsrichtung der unmittelbar nach Kriegsende unter maßgeblicher Beteiligung des mit Haller befreundeten württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm gegründeten »Evangelischen Kirche in Deutschland« (EKiD, später EKD) beobachtete er mit Sorge. Das hing in erster Linie mit dem am 18. Oktober 1945 in Stuttgart vom Rat der EKiD abgegebenen »Schuldbekenntnis« im Namen des deutschen Volkes zusammen, das Haller für fatal hielt. Er störte sich insbesondere an der »Verwechslung der Begriffe von historischer und moralischer Schuld«, lobte die katholische Kirche für ihre Zurückhaltung in diesen Fragen und äußerte besonderes Unverständnis dafür, dass ein Ausländer wie »der eitle und ruhmsüchtige Schweizer Karl Barth« für Deutschland zu sprechen sich anmaßten. Wirkliche Schuld treffe ohnehin aus­ schließlich diejenigen, die aufgrund ihres politischen Einflusses die Machtübernahme Hitlers hätten verhindern können, die es aber stattdessen dahin kommen ließen, »daß ein so mangelhaft beglaubigter Prophet als gottgesandter Retter begrüßt werden konnte.«14 Diese Sätze aus Hallers Lebenserinnerungen werden ergänzt durch eine Denkschrift über die »Krisis der evangelischen Kirche« vom Herbst 1946, in der er seine Auffassung, dass das Stuttgarter Schuldbekenntnis ein Fehler gewesen sei, näher erläuterte:15 Von jeher, so Haller, sei die evangelische Kirche durch zwei Probleme bedroht gewesen: ihre mangelnde »innere Einheit« sowie ihre fehlende »Fühlung mit den breiten Massen des Volkes«. Beide Probleme seien während der nationalsozialistischen Herrschaft in besonderer Massivität zum Ausbruch gekommen. Das gelte besonders für die innere Uneinigkeit, denn die Kirche sei nicht nur in »Deutsche Christen« auf der einen und »Bekennende Kirche« auf der anderen Seite gespalten gewesen, sondern die­ »Bekennende Kirche« selbst habe wiederum keine wirkliche Einheit gebildet. Nach Kriegsende habe man die Gegensätze nicht überwunden, sondern bis zur offenen »Agonie« verschärft: »Seit dem Zusammenbruch waren es die Fehler und Unzulänglichkeiten der Personen, die die Führung an sich rissen und mit dem verhängnisvollen Schuldbekenntnis Streit entfesselten, der die Nation in zwei verschiedene Lager auseinander riß. Das konnte nur geschehen, wenn die Stelle, die im Namen aller Protestanten Deutschen [!] zu sprechen glaubte, der großen Masse derer, die sie zu vertreten beanspruchte, im Grunde fremd geworden war. Wie traurig erscheint dieses Bild, wenn doch das Beste, das Große, das Wesentliche der Vergangenheit. An den Erinnerungsstätten aber tritt uns das Vergängliche, Beschränkte, Kleine allein entgegen.« (Johannes Haller an Elisabeth (Fueter-)Haller, 24. März 1909: UAT 305/48 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 130.) 14 Johannes Haller: Im Strom der Zeit: UAT 305/1i, S. 183 f. bzw. unten S. 436 f. 15 Johannes Haller: Die Krisis der evangelischen Kirche, September/Oktober 1946: UAT 305/25, dort auch die folgenden Zitate.

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man es mit der Haltung der katholischen Kirche vergleicht! Kann sich das noch zum Guten wenden, kann die Krisis überwunden werden? Ich glaube nicht. […] Ein Prozeß, dessen Keim von Anfang an, seit der Entstehung der protestantischen Bekenntnisse vorhanden war, ist so weit entwickelt, daß er sich in raschem Zeitmaß seiner Vollendung nähert, der Auflösung durch Selbstverneinung.«16

Es ist auch hier wieder auffällig, dass Haller sich für die Kirche nicht aus reli­ giösen, sondern aus politischen Gründen interessierte. Seinen schon in Bezug auf seine deutschbaltische Heimatkirche vertretenen Grundsatz – »die Religion Privatsache, die Kirche die Sache aller«17 – hielt er bis zu seinem Lebensende aufrecht. Daher konnte er auch die kirchliche Gegenwartslage für sein Zuständigkeitsgebiet erklären und gleichzeitig für sich selbst eine kirchliche Bestattung ablehnen. Nur das beharrliche Zureden seiner Töchter, die ihm erklärten, wie viel ihnen und ihrer Mutter eine kirchliche Trauerfeier bedeute und die ihm anboten, dass bei der Zeremonie der von Haller geliebte Brahms gespielt werden könnte, verhinderten, dass der Plan Wirklichkeit und so auch in der Öffentlichkeit Hallers Distanz zum Christentum bekannt wurde.18 Auf anderem Wege bekundete Haller dann aber doch öffentlich, wie fremd ihm das Christentum war. In der Zeitschrift »Die Pforte« erschien 1947 ein Aufsatz Hallers unter dem Titel »Zum Verständnis der Weltgeschichte«. Den Text hatte er im Wesentlichen während des Krieges verfasst, und angesichts der mit diesem verbundenen Verheerungen stellte Haller nun die Sinnfrage: »Was hatte es für einen Sinn, ein Jahrtausend lang die besten Kräfte der Menschheit in angestrengte Bewegung zu versetzen, damit das, was sie mit Mühe geschaffen h ­ aben, im Laufe einiger Monate vernichtet, zerstört, ausgelöscht werde, wie wir dies in den Kriegsjahren an den Städten Deutschlands, Italiens, aber auch der Niederlande, Frankreichs und sogar Englands erlebt haben? Ist die Kraft, die schaffend­ hinter allem Werden steht, nicht fähig oder nicht gesonnen, für Erhaltung des Geschaffenen zu sorgen?«19 16 Ebd. Hallers Freund Wurm war zwar für die Verabschiedung des Schuldbekenntnisses mit verantwortlich; man darf aber trotzdem davon ausgehen, dass Haller und er in dieser Frage einer Meinung waren. Denn Wurm gehörte eigentlich zu den Gegnern der Erklärung, die überhaupt nur durch eine tatsächlich wesentlich von dem Schweizer Theologen Karl Barth in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Militärnachrichtendienst OSS und interessierten Kreisen des Ökumenischen Rates der Kirchen geführte Intrige zustandekam. Wurm wurde davon nicht nur geradezu überrumpelt, sondern in seinem Fall kam noch hinzu, dass man durch die Verhaftung seines Sohnes, den man aufgrund des anfänglichen Verschweigens von dessen NSDAP-Mitgliedschaft bis April 1947 in Haft hielt, ein hand­festes Druckmittel gegen ihn besaß. Jedenfalls hat Wurm im Nachhinein versucht, die Bedeutung der Stuttgarter Schulderklärung herunterzuspielen. Vgl. dazu Ziegert, Zivil­ religion, S. 187–206 und S. 217–228. 17 Haller, Lebenserinnerungen, S. 51. Vgl. dazu auch Kapitel II.2. 18 Vgl. das Manuskript von Hallers Tochter Adelheid »Einige Erinnerungen an Johannes Haller«: UAT 305/58, Abschnitt »Physis«. 19 Haller, Zum Verständnis der Weltgeschichte, S. 349.

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Haller war nicht der einzige Historiker, der sich angesichts der »deutschen Katastrophe«20 geschichtsphilosophischen Bewältigungsversuchen widmete. Eine Gruppe, zu der etwa Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter gehörten, neigte dabei zu einer moralischen Betrachtung, nach der die »Weltgeschichte« tatsächlich das »Weltgericht«21 war, das sein Urteil über das nationalsozialistische Deutschland gesprochen habe.22 Eine zweite Gruppe dagegen verstand die Deutschen nun tendenziell als das »von der Geschichte widerlegte Volk«, das weniger moralisch gefehlt als vielmehr im natürlichen Ausleseprozess menschlicher Geschichte versagt habe. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem Historiker, die in der einen oder anderen Weise mit dem NS-Regime zusammengearbeitet oder zumindest dessen Aufstieg begrüßt hatten, die aber relativ rasch ernüchtert waren; so etwa Otto Westphal und Rudolf Stadelmann.23 In diese zweite Gruppe ist auch Haller einzuordnen. Haller beantwortete die selbst gestellte Sinnfrage nämlich mit dem Hinweis auf die »Natur«, deren Lebensgesetze auch im Bereich der menschlichen Geschichte Geltung besäßen und deren erstes die »Zerstörung« sei, um Raum zu schaffen für den natürlichen »Wechsel von Werden und Vergehen«.24 Es beruhe auf einem schwerwiegenden Irrtum, in diesem Wechsel so etwas wie ein Fortschrittsgesetz erkennen und dabei sogar die Revolutionen positiv um­deuten zu wollen, die doch in Wahrheit zerstörerische »Katastrophen« seien – Haller nannte hier als Beispiele ausdrücklich die Französische Revolution sowie die Reformation, durch die nicht nur zahlreiche Kulturwerte, sondern auch der »Friede der Geister« verlorengegangen sei.25 Es sei auch verkehrt zu glauben, in der Welt wirkten ein gutes und ein böses Prinzip gegeneinander; stattdessen ging Haller ganz monistisch von der »Einheit alles Seins und Geschehens« aus und erklärte die gegenteilige Auffassung für eine Art optische Täuschung, die übersehe, dass das Zerstören – des Alten – und das Schaffen – des Neuen – sich gegenseitig bedingten und aus demselben Antrieb hervorgingen.26 Wie gründlich das Zerstörungwerk in der Geschichte funktioniere, sei am Untergang der griechischen und römischen Antike zu erkennen, deren Kunst und Kultur nur noch in spärlichen Resten vorhanden und deren Religion durch 20 Meinecke, Die deutsche Katastrophe. 21 Die Formulierung stammt aus dem Gedicht »Resignation« von Friedrich Schiller: Schiller, Resignation. 22 Meinecke, Die deutsche Katastrophe; Ritter, Die Dämonie der Macht; Ritter, Europa und die deutsche Frage; vgl. auch Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher­ Geschichtswissenschaft. Vgl. dazu außerdem Kraus, Über einige geistesgeschichtliche Voraussetzungen, S. 22 f. 23 Westphal, Weltgeschichte der Neuzeit; Stadelmann, Jacob Burckhardts weltgeschichtliche Betrachtungen, bes. S. 63–67. Zu Rudolf Stadelmann vgl. Heimpel, Rudolf Stadelmann. Zu Otto Westphal vgl. Hying, Das Geschichtsdenken. 24 Haller, Zum Verständnis der Weltgeschichte, Zitate S. 349 und S. 350. 25 Ebd., Zitate S. 352 und S. 354. 26 Ebd., S. 354 f., Zitat S. 354.

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den »unerbittliche[n] Zwang« des christlichen Glaubens vollständig vertilgt worden sei.27 Einen objektiven Maßstab, um alte mit neuen Epochen und Kulturen zu vergleichen, gebe es nicht; wohl aber könne man bewerten, welchen Grad der Naturbeherrschung durch Technik und Wissenschaft eine Kultur erreicht habe. Hier, in dem »Trieb des Menschen, sein Können zu steigern, sein Wissen zu erweitern und zu vertiefen«, machte Haller die Kontinuität menschlicher Geschichte aus, und hierauf gründete er seinen eigenen »Glauben«, der im Gegensatz zu den meisten positiven Religionen »auf dem Grunde einer Erfahrung« ruhe.28 Diese widerspreche nämlich dem naiven Glauben an einen »lieben­den Allvater«, der sich für das Einzelindividuum interessiere und ewige Seligkeit verspreche. Der Natur nämlich sei der Einzelne gleichgültig; nur auf die Gattung komme es an, und statt »Schuld« oder »Strafe« gebe es nur »unerbittliche Notwendigkeit«.29 Dies zu erkennen, könne aber doch auch Trost spenden, wenn man sich nämlich vor Augen führe, dass der Plan der Natur darin bestehe, in­ ihrem Zerstören Neues, dem alten Überlegenes zu schaffen. Die Aufgabe des wahrhaft religiösen Menschen sei es daher, »die Kräfte und Fähigkeiten, die in uns liegen, [zu] entwickeln und zur Wirkung [zu] bringen, nicht zum eigenen Nutzen, sondern zum Besten eines größeren und höheren Ganzen.«30 Dieser Glaube Hallers zeigt große Ähnlichkeiten mit gewissen Bestrebungen »monistischer« Autoren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, eine neue, auf den aktuellen Erkenntnissen der Biologie aufbauende und religiöse Aspekte mit umfassende Weltanschauung zu schaffen.31 Verbunden war dies bei Haller mit einem in manchem an Friedrich Nietzsche erinnernden »heroischen Realis­ mus«, was nicht zuletzt an der logischen Inkonsistenz von Hallers Argumentation deutlich wird, der einerseits das Vorhandensein geschichtlichen Fortschritts leugnete, andererseits seinen eigenen Glauben gerade auf ein solches Fortschreiten richtete.32 Haller selbst war allerdings – nicht zuletzt auch genera27 28 29 30 31

Ebd., S. 355–358, Zitat S. 356. Ebd., S. 358–363, Zitate S. 361 und S. 362. Ebd., S. 363–366, Zitate S. 363. Ebd., S. 367. Vgl. dazu Hasselhorn, Religion bei Wilhelm Bölsche, dort auch weiterführende Literaturhinweise. Braun, The Philosophical Testament, S. 203, verweist neben dem monistischen Vordenker Ernst Haeckel noch auf dessen kritischen Schüler Hans Driesch und dessen­ vitalistischer, zum Teil  auf den Positionen von Hallers Freund Jakob von Uexküll beruhender Lebensauffassung als Hallers Inspirationsquellen. Zu Hallers Weltanschauung vgl. außerdem Neander, Carl Schirren als Historiker, S.  199, die von einer auch bei anderen Deutschbalten nachweisbaren »Illusionslosigkeit« als Weltanschauung spricht. 32 Zu diesem Aspekt der Weltanschauung Friedrich Nietzsches und der deutschen Geistes­ geschichte des 19.  und 20.  Jahrhunderts insgesamt vgl. Hof, Der Weg zum heroischen­ Realismus. Der »heroische Realismus« war inbesondere für die Anhänger der »Konservativen Revolution« von Bedeutung: vgl. dazu Schwarz, Der konservative Anarchist, S.  289. Verbreitet wurde der Begriff durch Ernst Jünger und Werner Best, die damit auch und gerade die Wiedersprüchlichkeit ihrer »Haltung« betonten: vgl. Jünger, Krieg und Krieger, Vorwort (»denn es kommt nicht darauf an, daß eine Haltung widerspruchslos, sondern

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tionenbedingt – kein Nietzscheaner, nicht einmal Nietzsche-Lektüre ist bei ihm nachweisbar. Unmittelbar dürfte Hallers »tapferer Pessimismus« daher auch eher von Oswald Spengler inspiriert sein, mittelbar außerdem von Eduard von Hartmann, Schopenhauer und Hegel.33 In seinem zwischen Skepsis und Hoffnung changierenden Naturverständnis erscheint Haller zudem wie eine Art »Neo-Stoiker« oder wie ein ins Negative gewendeter Goethe.34 Tatsächlich handelte es sich bei Hallers »Naturreligion«35 um Glauben im Sinne eines Fürwahrhaltens ohne empirische Abstützung. In seinem Aufsatz »Zum Verständnis der Weltgeschichte« ist jedenfalls der Niederschlag von Hallers lebenslangem religiösen Ringen zu sehen. Er selbst bezeichnete den Text als sein »philosophisches Bekenntnis«.36 Seine darin geführten Spitzen gegen die »positiven Religionen« lassen dabei doch immer einen großen Respekt vor der Leistung der Religion als »Kontingenzbewältigung«37 erkennen. Es passt dazu, dass Haller sich auch privat keineswegs grundsätzlich gegen die Religion aussprach. Deren Niedergang jedenfalls bedauerte er ausdrücklich: »Der Trieb zum Individualismus  – eine verschönende Bezeichnung für Selbstsucht und Eitelkeit  – der den Deutschen innewohnt, ist leider allzulange durch falsche Erziehung genährt worden. Seit die Kirche ihren Einfluß verlor und die Religion durch Weltanschauung ersetzt werden sollte, hat eine allgemeine geistige und sittliche Auflösung, eine wahre Anarchie das Volk ergriffen, wo jeder sich einbildete, seine Lebensphilosophie nach eigenem Rezept in der Westentasche zu tragen. Das war das Ergebnis der ›humanistischen‹ Erziehung des [19.] Jahrhunderts, bei der die Familie und damit alle Ueberlieferung ersetzt wurde durch den Staat, vertreten durch den Schulmeister, der seiner Aufgabe nur selten gewachsen war. Das Ende war und ist die patentierte und sich selbst gefallende Halb- und Unbildung, die wir zur Zeit erleben.«38 daß sie fruchtbar ist«), sowie Best, Der Krieg und das Recht, S. 152: »Die Hoffnung auf Sieg darf nicht einmal bestimmend sein für den Kämpfenden. Kämpfen in der Erwartung, daß man selbst siegen oder daß die ›gute Sache‹ irgendwann doch einmal triumphieren werde, das können auch die anderen, denen der Glaube an ein letztes Ziel den gegenwärtigen Kampf erträglich macht. Dagegen ist die Bejahung des Kampfes auf verlorenem Posten für eine verlorene Sache das Kriterium der neuen Haltung: auf den guten Kampf kommt es an, nicht auf die ›gute Sache‹ und auf den Erfolg. So ersteht aus realistischer Bejahung der Wirklichkeit eine heroische Sittlichkeit; deshalb mag, als terminologische Parallele zu den Bezeichnungen ›utopisch-rationalistische‹ und ›moralisch-idealistische‹ Grundauffassung, die den Nationalismus tragende innere Haltung als heroisch-realistische gekennzeichnet werden.« 33 Braun, The Philosophical Testament, S. 202. Braun nennt Hallers Weltsicht »brave pessimism«. 34 So ebd., S. 200 f., Zitat S. 202. 35 Wittram, Erinnerung an Johannes Haller, S. 67 f. Vgl. dazu auch Wittram, Rez. »Johannes Haller: Zum Verständnis der Weltgeschichte«, S. 156 f. 36 Johannes Haller an Eduard Fueter d. J., 29.  Juni 1947: ETH-Bibliothek Zürich, Hs 1227, Nr. 5022 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 385. 37 Lübbe, Religion nach der Aufklärung, S. 160–178. 38 Johannes Haller an Hans Jakob Haller, 1. August 1943: UAT 305/61 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 362.

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Dass Haller schließlich selbst eine »individualistische« Lebensphilosophie veröffentlichte, darf man wohl als Hinweis darauf betrachten, dass aus seiner Sicht unter der Bedingung des faktischen Erfolgs des von ihm beklagten Prozesses der Entkirchlichung keine andere Wahl bleibe. Hallers durchaus religionsaffine Haltung war allerdings nicht nur negativ – mit dem Hinweis auf die nachteiligen Konsequenzen des Religionsverlustes – begründet: Schon 1895 hatte Haller gegenüber seinem Vater die Auffassung vertreten, es komme in der Religion auf die »Unterwerfung unter den göttlichen Willen« an – eine Formulierung, die er in seinem Aufsatz von 1947 wieder aufnahm.39 1894 war er gegenüber seiner Halbschwester Helene noch deutlicher geworden und hatte sich dazu bekannt, dass ihm unter den positiven Religionen der Islam am stärksten einleuchte.40 In derselben Linie steht die Prognose eines Aufstiegs des Islams, die er Anfang 1940 aufstellte: »die letzte Entscheidung über das, was werden soll, werde doch von religiösen Kräften und Bewegungen kommen müssen. Das meine auch ich, frage allerdings um so mehr, ob diese religiösen Kräfte unbedingt kirchliche, ja nur christliche (im dogmatischen Sinn) sein müßten? Ich könnte mir denken, daß z. B. aus dem Islam neue Bewegungen hervorgehen, denen gegenüber das Christentum ins Hintertreffen geriete. Es hat sich im Grunde doch auch nur durch Waffengewalt behauptet, als im 8. Jahrhundert Araber und Sarazenen in Ost und West erobernd vordrangen.«

Der von Haller favorisierte Islam war aber doch sehr deutlich einer nach ganz eigener Façon, nämlich im Sinne seines eigenen monistischen Glaubens. Im Grunde zog ihn am Islam ein mehr imaginierter als tatsächlicher Fatalismus an, der eigentlich weniger an die muslimische Religion als vielmehr an die schon von Friedrich Nietzsche geforderte, im Falle Hallers aber wohl eher von Oswald Spengler übernommene Schicksalsbejahung erinnert.41 Für Haller, der zeit39 Johannes Haller an Anton Haller, 2. November/21. Oktober 1895: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 46. Vgl. dazu auch Kapitel II.2. Vgl. Haller, Zum Verständnis der Weltgeschichte, S. 365: »Lehren denn nicht auch die sogenannten positiven Religionen als erstes und letztes die Pflicht des Entsagens, der demütigen Unterwerfung unter den Willen Gottes, ohne Rücksicht auf eigenes Wollen und Wünschen?« 40 Vgl. Johannes Haller an Helene Haller, 1. Mai/19. April 1894: UAT 305/52 bzw. Hasselhorn/ Kleinert, Johannes Haller, Nr. 25. 41 Nietzsche, Ecce Homo, S. 335: »Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati: daß man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen –, sondern es lieben…« Zumindest ähnlich klingen Aussagen schon des jungen Haller: »Ich habe es also schwer genug, glücklich zu sein. Und dennoch habe ich den Entschluß gefaßt es zu werden, soweit es möglich ist; ich bin Optimist aus Absicht, weil mir der Pessimismus, so wahr er sein mag, unfruchtbar erscheint, und weil ich es für Pflicht ansehe, dem Schicksal für das Gute zu danken, das uns zu Teil  wird und das Schlimme zu ertragen, ohne zu hadern.« (Johannes Haller an Anton Haller, 2. November/21. Oktober 1895: UAT 305/35 bzw. Hasselhorn/Kleinert, Johannes Haller, Nr. 46). Zum Begriff des »Amor fati« bei Friedrich Nietzsche vgl. auch Han-Pile, Nietzsche and Amor fati. Dass hier allerdings kein direkter Einfluss Nietzsches, sondern eher ein Einfluss Spenglers vorliegt, betont bereits Braun, The Philosophical Testament, S. 200.

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lebens mit seinem Schicksal gehadert hatte, das ihn mehrfach aus der ­»Heimat« vertrieben und ihm einen nicht uneingeschränkt geliebten Beruf beschert hatte, in dem er sich zwar einige Anerkennung und große Popularität erwarb, in dem er aber doch nie wirklich dazugehörte, war dieser Glaube wohl ebenso wichtig wie folgerichtig. Zugleich aber ist Haller auch ein Beispiel dafür, dass dieser Glaube nicht recht funktionierte – zumindest für jemanden, der wie Haller stets mehr für das »Alte« als für das »Neue« gekämpft hatte. Seine eigene Lebensbilanz, die er zwischen Ende 1944 und Anfang 1945 in Gedichtform festhielt, fiel jedenfalls negativ aus: »Der Besten Beifall willst Du Dir erwerben, Des zähen Irrtums Nebelschwaden dämpfen, Der Wahrheit neuen Geltungsraum erkämpfen, Um Deines Werkes froh dereinst zu sterben. Du irrtest. Die zu schlagen Du geglaubt, Sind mächtiger denn je. Der Irrtum siegt, Der Wahrheit wird die Lebensluft geraubt; Dein eigen Werk, ein Stückwerk nur, es liegt Verwaist, und ach, die Summe Deines Lebens, Gesteh Dir’s nur, sie heisst: es war vergebens.«42

42 Johannes Haller: Trilogie des Lebens: UAT 305/27 (eigenhändig und maschinenschriftlich).

X. Schlussbetrachtung Unmittelbar nach Hallers Tod konnte man den Eindruck gewinnen, als ob sein hoher Rang als Gelehrter allgemein anerkannt sei und man sich nun auf eine breite Nachwirkung vorzubereiten habe. Es erschien eine zwar bescheidene, angesichts der Zeitumstände aber doch bemerkenswerte Reihe von Nachrufen, zum großen Teil  verfasst von Hallers Schülern. Die Würdigungen legten sehr verschiedene Schwerpunkte; gemeinsam ist ihnen aber die Warnung, wenn man Haller als bloß »politischen Historiker«1 verstehe, reduziere man ihn unzulässiger Weise auf einen Teilbereich seines Schaffens. Haller sei vielmehr »universaler Historiker«2 gewesen und habe eine Bandbreite an Forschungs­ themen bearbeitet, die ihresgleichen suche; seine Papsttumsgeschichte sei nur angemessen als »Weltgeschichte des Mittelalters«3 zu beschreiben. Als auch für die Zukunft vorbildhaft wurde zudem Hallers ansteckende Leidenschaft für die »geistige Welt«4 gepriesen, mit der er jedes noch so abgelegene Thema mit Bedeutung gefüllt habe: »Jeder Leser seiner Werke kennt den Zauber, den seine Darstellung ausstrahlt, noch die speziellste Untersuchung, die kleinste Notiz gewinnt unter seinen Händen einen unnachahmlichen Reiz.«5 Ganz abgesehen von manchen überspitzten Thesen und politischen Einseitigkeiten habe Haller daher als »einer der großen Meister der Geschichtswissenschaft«6 zu gelten. Der ausführlichste Nachruf war der abgedruckte Gedenkvortrag von Fritz Ernst, dem noch eine erste Bibliographie der Publikationen Hallers beigefügt wurde.7 Dabei war die Publikationsliste Hallers noch gar nicht abgeschlossen: Seit 1950 erschienen Neuauflagen der Erstausgabe der »Epochen«, 1953 seine in den letzten Lebensjahren geschriebene »Dante«-Studie, 1950–1953, 1962 sowie 1965 Neuausgaben des »Papsttums«, diesmal inklusive aus dem Nach1 Dannenbauer, Johannes Haller. 16.  Oktober 1865 – 24.  Dezember 1947, S.  440. So auch­ Wittram, Erinnerung an Johannes Haller, S.  69, sowie Ernst, Johannes Haller, S.  11. Vgl. auch die weiteren Nachrufe, unter anderem von Erich Wittenburg und Eugen Neuscheler, in: UAT 305/31. Außerdem: Günter, Johannes Haller. Eine Auflistung der Nachrufe bietet zudem Gundel, Die Geschichtswissenschaft an der Universität Gießen, S. 250, Anm. 35. 2 Dannenbauer, Johannes Haller. 16. Oktober 1865 – 24. Dezember 1947, S. 441. 3 Ernst, Johannes Haller, S.  10. Die große Breite seines Forschungsgebietes betont auch der Nachruf von Erich Wittenburg (in: UAT 305/31). 4 Ernst, Johannes Haller, S. 13–14. 5 Dannenbauer, Johannes Haller. 16.  Oktober 1865 – 24.  Dezember 1947, S.  447. Vgl. dazu auch Wittram, Erinnerung an Johannes Haller, S. 68: »Was bedeutete es demgegenüber, daß­ manche seiner Thesen sich nicht halten ließen. Was er anrührte, gewann Rang.« 6 Dannenbauer, Johannes Haller. 16. Oktober 1865 – 24. Dezember 1947, S. 447. 7 Zu Fritz Ernst vgl. Dölker, Fritz Ernst.

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Schlussbetrachtung

lass entnommener, von Heinrich Dannenbauer vervollständigter Anmerkungen und Nachweise zum letzten, nun in zwei Bände aufgeteilten Band.8 1960 erschien außerdem eine von Reinhard Wittram besorgte Teilausgabe von Hallers Lebenserinnerungen.9 Alle diese Publikationen wurden öffentlich wahrgenommen und in Fachzeitschriften rezensiert.10 Der Althistoriker Hans Georg Gundel bemerkte 1957, Haller gehöre »zu den bedeutenden Historikern des 20. Jahrhunderts.«11 Es wäre aber doch ein Irrtum, wenn man daraus schlösse, dass Haller in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten durchgängig als Vertreter der Spitze der deutschen Historikerschaft anerkannt worden wäre. Schon gegen die Neuauflage der »Epochen« von 1950 erhob sich lautstarker Widerspruch in dem führenden geschichtswissenschaftlichen Fachorgan, der Historischen Zeitschrift. Der Rezensent, Ludwig Dehio, war regelrecht empört über das Vorgehen des Verlags, einfach kommentarlos zur Version der Erstauflage von 1923 zurückzukehren und dabei noch eigenmächtig das Jahr 1933 zu den von Haller genannten negativen »Marksteinen« deutscher Geschichte – 1648, 1815, 1918 – hinzuzufügen: »Hier wird, wie mir scheint, ein bedenkliches Spiel mit dem Andenken des Autors wie mit der Gutgläubigkeit des Lesers getrieben, und die Versicherung des Verlages, die neue Auflage enthielte kein Wort, das nicht von Joh. Haller selber stamme, ist ein­ naiver Trost. Während sich unsere Wissenschaft um die Erneuerung des Geschichtsbildes müht, wird hier ein retouchiertes altes als ›völlig modern‹ angeboten. Man glaubt, einem Gespenst zu begegnen.«12

Noch etwas früher, nämlich auf dem Münchener Historikertag im September 1949, hatte sich einer der Intimfeinde Hallers, Gerhard Ritter, zu Wort gemeldet. Sein im Eröffnungsvortrag gegen Haller erhobener Vorwurf des extremen Nationalismus war umso wirksamer, als Ritter selbst zu den Nationalkonservativen gezählt wurde und man ihm nur wenig später ganz ähnliche Vorwürfe machte.13 Auch hier war es wieder Hallers Bestseller, die »Epochen«, der den Unmut eines Vertreters der »Zunft« hervorrief: »Noch verhängnisvoller ist die Tatsache, daß bis heute nicht eine einzige Gesamt­ darstellung deutscher Geschichte existiert, deren Lektüre der Fachhistoriker mit gutem Gewissen empfehlen könnte: anziehend geschrieben, politisch vernünftig und wissenschaftlich einwandfrei. Wir haben nicht einmal ein wissenschaftliches Handbuch deutscher Geschichte, das einen Vergleich aushalten könnte mit den bekann8 Haller, Epochen 1950/1954/1959/1962; Haller, Dante; Haller, Das Papsttum 1950–1953/ 1962/1965. 9 Haller, Lebenserinnerungen. Zu Reinhard Wittram vgl. Laxy, Reinhard Wittram. 10 Vgl. die Sammlungen von Rezensionen in: UAT 305/25, UAT 305/27 und UAT 305/28. 11 Gundel, Die Geschichtswissenschaft an der Universität Gießen, S. 232. 12 Dehio, Rez. »Johannes Haller«, S. 325. Vgl. dazu auch Haller, Epochen 1923, S. 373. 13 Vgl. dazu Cornelißen, Gerhard Ritter, S. 633–642.

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ten Sammelwerken englischer und französischer Historiker. Statt dessen haben so angesehene, an gelehrten Einzelaufgaben wohlerprobte Fachhistoriker wie Dietrich Schäfer und Johannes Haller Vorlesungen über deutsche Geschichte veröffentlicht (und zwar mit allergrößtem Bucherfolg!), deren nationalistischer Grundton uns heute unerträglich dünkt. Die Erfahrung, daß soviel gelehrtes Können sich mit soviel politischer Primitivität verbinden kann, gibt ernstlich zu denken.«14

Man kann daher davon ausgehen, dass im Großen und Ganzen auch nach­ Hallers Tod zunächst dasjenige Haller-Bild herrschte, das auch schon seine­ Lebenszeit geprägt hatte: Haller als anerkannter, aber doch auch teilweise sehr kritisch und distanziert behandelter Forscher mit einer als problematisch wahrgenommenen Neigung zu eigenwilligen Thesen und zum Politisieren. Und auch der Spalt zwischen der Wahrnehmung des Publikums und derjenigen der Fachvertreter wirkte mehr oder weniger nach. Das ist nicht nur am weiteren Verkaufserfolg der »Epochen« zu erkennen, sondern auch und vor allem an der öffentlichen Rezeption der 1960 erschienenen Lebenserinnerungen Hallers. Diese wurden in der Presse mehrheitlich sehr positiv rezensiert – der Süddeutsche Rundfunk empfahl sie sogar als ideales Geschenk für den älteren Herrn oder die ältere Dame  –, während in den Fachzeitschriften eher solche Besprechungen erschienen, die Vorbehalte gegen den Tatsachengehalt einzelner Schilderungen Hallers anmeldeten oder Zweifel an der Authentizität des Textes äußerten.15 Die Zweifel gründeten sich darauf, dass der Herausgeber Wittram in einem Nachwort offen zugab, das Hallersche Manuskript um diejenigen Stellen gekürzt  zu haben, die »offenkundige gegenständliche Irrtümer« oder so zugespitzte Urteile enthielten, dass Haller sie »bei der Herrichtung des Manuskripts für den Druck schwerlich beibehalten haben würde.«16 Ein ganzer vierter Teil  schließlich wurde fortgelassen, »weil er nicht eigentlich Erinne­ rungen, sondern vornehmlich zeitgeschichtliche Betrachtungen enthält.« Witt­ rams Beteuerung, den Text nicht geändert, sondern nur einige Passagen gestrichen zu haben, trifft im Großen und Ganzen zu, aber auch dieses Vorgehen wurde zu recht als problematisch beurteilt, da auch Kürzungen den Sinn eines Textes ­ändern können.17 14 Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft, S. 6. 15 Vgl. das Manuskript zur Sendung des Süddeutschen Rundfunks vom 20. Dezember 1963, in: UAT 305/28, dort auch weitere, meist sehr positive Besprechungen. Zu den Reaktionen von geschichtswissenschaftlicher Seite vgl. Santifaller, Bemerkungen; vgl. Bock, Rez. »Johan­nes Haller«. Vgl. dazu auch Müller, Der bewunderte Erbfeind, S. 275, Anm. 15. 16 Wittram, Nachwort, S. 277, dort auch das folgende Zitat. 17 Vgl. dazu Bock, Rez. »Johannes Haller«, S. 185: »Mit der Art der Redaktion, für die R. W ­ ittram zeichnet, kann ich mich nicht einverstanden erklären. Ausgeschieden wurden ›gegenständliche Irrtümer‹; aber welche, wieviel und wie oft? ist nicht kenntlich gemacht; sie ›wiederzugeben‹ ist durchaus nicht ›sinnlos‹. Auch ›Urteile über Personen und Verhältnisse‹ wurden fortgelassen, ohne daß solche Auslassungen ersichtlich werden. Warum aber Fehlurteile

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In der Mitte zwischen Kritik und Würdigung stand die Besprechung eines Historikers, der ähnlich wie Haller als Außenseiter des akademischen Betriebes  gelten dürfte: Golo Mann.18 In der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« lobte er das Buch als »überaus fesselnde, wohltuende Lektüre«, die interessante Einblicke in die jüngste Vergangenheit gebe, und wies auf Hallers für einen »Deutschnationalen« erstaunlich differenzierte, ja »ambivalente« Einstellung gegenüber Deutschland hin: »er war ein Patriot, ein nicht im gehässigen, aber doch starken Sinn des Wortes Nationalist, wie man es natürlicher-, anständigerweise nur auf solchen bedrohten Außenposten des Deutschtums wie dem baltischen werden konnte.«19 Haller, »dieser leidenschaftliche Deutsche«, sei »ein Fremdling in der Zeit wie im Raum« gewesen, der mit dem Nationalismus aber zugleich ein wesentliches Element des Zeitgeistes übernommen habe. Aufgrund dieser Verschränkung von Zeitgemäßheit und Unzeitgemäßheit bei Haller bedauerte Mann es außerordentlich, dass der letzte Teil der Lebenserinnerungen nicht veröffentlicht worden war: »Wären es auch abwegige Betrachtungen gewesen: was aus der Feder eines so bedeutenden Schriftstellers kam und was dieser selbst dem Publikum geben wollte, das, meine ich, hätte ihm gegeben werden dürfen.« Mit der Publikation der Lebenserinnerungen war der Höhepunkt von Hallers Nachruhm erreicht. 1965, anlässlich seines 100. Geburtstages, erschien noch einmal eine Jubiläumsausgabe des »Papsttums«, die einige Wirkung entfaltete – der Südwestfunk brachte sogar eine Haller gewidmete Sonder­sendung –, doch danach brach die Rezeption geradezu schlagartig ab.20 Wesentliche Ursache dafür dürfte der fundamentale Wandel gewesen sein, der sich seit Mitte der 1960er Jahre sowohl in der politischen Kultur als auch in der Wissenschaft und Irrtümer verschweigen? Wir wollen doch keinen Personenkult treiben. Offenkundige Irrtümer lassen sich durch Anmerkungen berichtigen. Offenbar steht mit dieser Herstellung einer Auswahl in usum delphini ein anderer Mangel in Zusammenhang, das ­Fehlen von jeglichem Sachkommentar und von Anmerkungen.« Vgl. in diesem Sinne auch M ­ üller, Der bewunderte Erbfeind, S.  275, Anm.  15. Vgl. außerdem Wittram, Nachwort, S.  277: »Entweder kam der ganze Haller zu Wort, der rasch kritisierbare, reizbare und einseitige, der zu schneidendem Spott aufgelegte und doch so gern rückhaltlos bewundernde und­ anerkennende, der liebende und hassende, oder man ließ das Manuskript verschlossen.« Mehrere Manuskriptversionen der Lebenserinnerungen Hallers befinden sich im Tübinger Universitätsarchiv; siehe dazu Schäfer, Universitätsarchiv Tübingen: Provisorisches Bestandsrepertorium 305. 18 Grundlegend zu Golo Mann: Lahme, Golo Mann. 19 Golo Mann: Dieser leidenschaftliche Deutsche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. August 1960 (ein Exemplar in: UAT 305/27), dort auch die folgenden Zitate. Die Rezension ist abgedruckt in Mann, Geschichte und Geschichten, S. 512–516. 20 Dem Tübinger Historiker Johannes Haller zu seinem 100. Geburtstag am 16. Oktober 1965. Eine Würdigung von Georg Böse. Gesendet im Südwestfunk am 15. Oktober 1965. Manuskript in: UAT 305/27. Vgl. auch die Zusammenstellung von Presseartikeln in: UAT 305/29. Die »Epochen« wurden allerdings noch bis mindestens 1984 aufgelegt, und 1970 erschien ein Neudruck von Hallers Tübinger Universitätsgeschichte.

Schlussbetrachtung

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vollzog.21 Haller galt seitdem endgültig als politisch »verbrannt« und wissenschaftlich antiquiert, also als ein Historiker, mit dem zu beschäftigen sich nicht lohnte; es sei denn, man suchte nach Exponenten des angeblichen deutschen »Sonderwegs«, den man für die Etablierung des National­sozialismus in Deutschland verantwortlich machte.22 Die von Hallers Schülern befürchtete Reduzierung Hallers auf den »politischen Historiker« war damit vollzogen, und die politische Aufladung der Fragestellungen erschwerte gerade auf diesem Gebiet die notwendige Differenzierung. Erst in jüngerer Zeit wurden wieder Ansätze zu einer differenzierteren Beurteilung sowie einer Beschäftigung auch mit eher wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten in Bezug auf Haller bemerkbar.23 Beides: eine differenzierte Untersuchung von Hallers politischem Werdegang sowie eine Ausweitung der Fragestellung auf seine wissenschaftliche und – mit beidem verbunden – religiös-weltanschauliche Entwicklung waren die wesentlichen Ziele dieser Arbeit. In wissenschaftshistorischer Perspektive hat sich dabei gezeigt, dass Haller tatsächlich in vieler Hinsicht eine Art »Epigone« der »alten Schule« der durch den Historismus geprägten deutschen Geschichtswissenschaft gewesen ist. Sein Hauptvorbild war Leopold von Ranke, in gewisser Weise stand seine eigene Art geschichtswissenschaftlicher Arbeit aber doch eher in der Tradition Heinrich von Treitschkes. Denn Haller ging es nicht nur um methodisch saubere Arbeit, mit der er die Vergangenheit zeigen wollte, »wie sie eigentlich gewesen«, sondern er hatte auch den Anspruch, als kunstvoller Darsteller einerseits, als politischer Erzieher andererseits zu wirken. Das konnte schon zu seinen Lebzeiten gegenüber den »innovativen« Ansätzen der Geschichtswissenschaft etwas antiquiert wirken, war aber nach wie vor ein anerkannter Zugang zur Geschichte und wurde vor allem vom Publikum goutiert. Politisch bedeutsam wurde dieses wissenschaftliche Selbstverständnis Hallers zum einen während und nach dem Ersten Weltkrieg, als er seine Expertise zuerst der »geistigen Kriegführung«, dann der geistigen »Wiederauferstehung« der deutschen Nation zur Verfügung stellte. Zum anderen aber brachte es ihn nach 1933 in Widerspruch zu den Bestrebungen vonseiten des nationalsozialistischen Regimes, bis dahin weitgehend unbestrittene Grundregeln sauberer wissenschaftlicher Arbeit außer Kraft zu setzen. Was Haller als Wissenschaftspolitiker betrifft, so gibt schon die Tatsache, dass er keiner größeren Kommission oder Akademie angehörte, zu erkennen, dass er nicht zu den Gestaltern der Wissenschaftspolitik seiner Zeit zählte. Das mag auch seinem Charakter – und dieser wiederum seiner baltischen Sozialisation und seiner prekären Gesundheit – geschuldet sein. Sein Verhalten führte 21 Vgl. dazu Rödder, Wertewandel im geteilten und vereinten Deutschland; vgl. Rödder, Werte­wandel und Postmoderne; vgl. außerdem Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft. 22 Grundlegend zur Diskussion über den angeblichen deutschen »Sonderweg« ist nach wie vor: Blackbourn/Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. 23 Ausführlicher dazu: Kapitel I.

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jedenfalls oft zu Streit mit Kollegen, manchmal auch  – wie im Falle Rudolf Wacker­nagels in Basel – zum regelrechten Abbruch der Beziehungen. Auf diese Weise verbaute Haller sich selbst die Möglichkeit, eine Dauerstelle am Preußischen Historischen Institut in Rom unter dem Direktor Paul Kehr zu erhalten oder sogar in führender Position eine Zweigstelle des Instituts in Paris aufzubauen. Hallers römische Jahre zwischen 1892 und 1902 brachten ihm aber trotz seiner Außenseiterstellung wertvolle Einblicke in den wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Betrieb des wilhelminischen Kaiserreichs. Die Außenseiterstellung Hallers erstreckt sich zumindest teilweise auch auf seine wissenschaftlichen Werke selbst. Dabei ist der hohe Wert seiner Quellen­ editionen, aber auch der meisten seiner mediävistischen Aufsätze und natürlich seines wenn auch unvollständig gebliebenen »Papsttums« unbestritten. Aufgrund seines Hangs zur Polemik und seiner wesentlich stärker als bei den meisten seiner Kollegen ausgeprägten Neigung zum »Gelehrtenstreit« sowie zu mitunter sehr eigenwilligen Thesen hat Haller sich allerdings selbst um einen guten Teil seiner Wirkung gebracht. Andererseits aber wurden die wissenschaftlichen Publikationen Hallers von seinen Kollegen durchweg sehr ernstgenommen und mitunter auch und gerade wegen des Hangs zur Zu- oder gar Überspitzung als fruchtbare Diskussionsanstöße oder wenigstens als Material begrüßt, bei dem es lohne, sich daran abzuarbeiten. Die Entwicklung der weltanschaulichen und hier vor allem der religiösen Auffassungen Hallers  – des protestantischen Pfarrersohnes und Papsttum­ historikers  – ist in mindestens zweierlei Hinsicht aufschlussreich: erstens in Bezug auf Hallers Person selbst, der als »protestantischer« oder gar auf »konfessionellem« Standpunkt stehender Historiker falsch charakterisiert wäre. Haller löste schon als junger Erwachsener die Bindung an den konservativ-lutherischen Glauben seines Elternhauses, und auch die zeitweilige Affinität zum ­Harnackschen »Kulturprotestantismus« ist trotz langer Nachwirkungen am ehesten als Übergangsstation hin zu einer völligen Abkehr vom persönlichen Christentum zu bezeichnen. An der kulturellen und politischen Wichtigkeit der Kirchen hielt Haller allerdings zeitlebens fest, in den 1930er Jahren noch einmal verstärkt durch die Erfahrung des Kirchenkampfes. Er selbst neigte zu einem zwischen Hoffnung und Resignation changierenden Schicksalglauben, den er durch Naturwissenschaft und eigene Erfahrung für beglaubigt hielt. Diese Entwicklungslinie  – und damit ist der zweite Aufschluss angesprochen, den Hallers religiös-weltanschaulicher Werdegang bietet – lässt sich zudem in den allgemeinen Gang der deutschen Religionsgeschichte des späten 19.  und frühen 20.  Jahrhunderts einordnen: Zunächst spielte innerhalb des evangelischen Protestantismus der Gegensatz zwischen Konservativen und Libe­ralen eine große Rolle.24 Auf dem Boden gerade liberaler Religiosität ent24 Grundlegend zum Verständnis der im »Umbruch« befindlichen Religion von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg ist nach wie vor: Nipperdey, Religion im Umbruch.

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standen dann Ende des 19.  Jahrhunderts immer stärker von der Kirche los­ gelöste religiöse Impulse, die sich unter anderem in völkischen sowie in »monistischen«, auf die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung rekurrierenden Religionsentwürfen artikulierten. Während Haller nun völkischer Religiosität skeptisch bis feindlich gegenüberstand, entwickelte er für sich selbst einen »monistischen« Glauben, der in Verbindung mit Hallers pessimistischer Grundhaltung an den seit der Jahrhundertwende virulenten »heroischen Realismus« erinnert. Ohne selbst an die Wahrheit der christlichen Lehre zu glauben, hielt er aber doch den wahrnehmbaren Niedergang des Christentums für einen kulturellen, politischen und wohl auch religiösen Verlust. Es zeigt sich damit auch in Bezug auf die Person Hallers, dass die Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit dem Begriff »Säkularisierung« viel zu eindimensional gefasst wäre.25 Was für Hallers religiöse Entwicklung gilt, trifft ebenso auf seine politische zu: Ihre Untersuchung ist nicht nur für die Erhellung der Biographie Hallers relevant, sondern erlaubt auch allgemeinere Rückschlüsse. Schon der große Erfolg der eher politisch motivierten historischen Veröffentlichungen Hallers nach 1914 und vor allem nach 1918 legt die Vermutung nahe, dass man ihnen entnehmen kann, welche politischen Vorstellungen für einem großen Teil seiner Generation repräsentativ waren. In seiner Beurteilung der deutschen Geschichte aus nationaler, ja nationalistischer Perspektive, in seinen Stellungnahmen zu Kriegsursachen, Kriegsniederlage, »Versailles« und Weimarer Republik vertrat er Auffassungen, die mehr oder weniger Gemeinplätze des tonangebenden »natio­nalen« Bürgertums waren. Weil diese Gemeinplätze seit 1945 immer »fremder« geworden sind und weil zugleich Haller seine Auffassungen nicht platt, sondern differenziert, klug und rhetorisch brillant vortrug, bietet die politische Vorstellungswelt Johannes Hallers einen unverzichtbaren Zugang zum politischen Denken des rechten Lagers in der Weimarer Zeit. Aber auch für die Zeit vor 1914 und nach 1933 ist Hallers politische Ent­ wicklung in vieler Hinsicht typisch: vom eher »aristokratischen« wurde er nach der Auswanderung nach Deutschland zum eher »nationalsozialen« Liberalen; erst nach 1914 bzw. unter dem Eindruck von Niederlage und Zusammenbruch 1918 entwickelte er sich zum Deutschnationalen und schließlich zum nach wie vor »national-sozial« geprägten Volkskonservativen. Dabei behielt Haller zahlreiche politische Kernvorstellungen auf der gesamten Strecke seines Weges bei, was gewissermaßen die historische »Folgerichtigkeit« seiner Entwicklung untermauert. Und die enorme Bedeutung, welche die Erfahrung des Ersten Weltkriegs selbst für jemanden hatte, der wie Haller nicht aktiv daran teilnahm, 25 Einen Überblick über den Stand der äußerst umfangreichen Diskussion zum Themenkomplex der Säkularisierung bietet Lehmann, Säkularisierung, vor allem S. 314–325. Vgl. zur Säkularisierungsforschung außerdem Barth, Art.  »Säkularisierung«, sowie mit besonderem Blick auf das wilhelminische Kaiserreich Blaschke/Kuhlemann, Religion in Geschichte und Gesellschaft; Simon-Ritz, Kulturelle Modernisierung; Walkenhorst, Nationalismus.

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zeigt den Schlüsselcharakter dieses Krieges und seines Ausgangs für die politische Radikalisierung der deutschen Rechten. Die in dieser Arbeit vorgeschlagene Zuordnung Hallers zu den »Vernunftrepublikanern« im Umkreis des volkskonservativen Flügels der DNVP und damit zugleich auch zum erweiterten Umfeld der »Konservativen Revolution« ergibt sich dabei sowohl aus den inhaltlichen Auffassungen Hallers als auch aus seiner »liberalen« Herkunft und der Bedeutung des »Kriegserlebnisses«. Für dies alles ist auch Hallers deutschbaltische Herkunft relevant, ohne die seine aristokratisch-liberale Prägung ebensowenig zu erklären ist wie sein spezifischer Nationalismus, der ihn wie viele andere »Reichsbalten« nach 1918 politisch nach rechts führte. Hallers Verhältnis zum Nationalsozialismus schließlich lässt die Affinitäten, aber auch die deutlichen weltanschaulichen Differenzen zwischen konservativen bzw. »konservativ-revolutionären« Ideen und dem Nationalsozialismus erkennen: Haller lehnte die Eingriffe des NS-Staates in Wissenschaft und Kirche ebenso rigoros ab wie einige zentrale ideologische Elemente  – darunter mindestens tendenziell auch die »Rassenlehre«. Gleichzeitig begrüßte er die politischen »Erfolge« Hitlers nicht nur bis 1938, sondern bis 1940, solange er sie in den Rahmen einer umfassenden Revision der Bestimmungen des Versailler Vertrags einordnen konnte. Nähe und Distanz verschränkten sich spätestens nach Kriegsbeginn endgültig, weil nun das Schicksal der deutschen Nation, das­ Haller so am Herzen lag, unauflöslich mit dem des Nationalsozialismus ver­ bunden war. Als sich die Verschränkung im Mai 1945 wieder löste, bekundete Haller sofort seinen Abscheu gegenüber dem Nationalsozialismus, den er für den endgültigen Untergang Deutschlands verantwortlich machte. Haller, so wird man abschließend zu urteilen haben, war eine zutiefst widersprüchliche Person. Er war ohne Zweifel ein Gelehrter von Rang und ein begnadeter historischer und politischer Autor. In ihm verbinden sich Typik und Atypik, Anachronismus und Zeitgemäßheit; ja, gerade in seiner Unzeit­ gemäßheit erwies er sich nach 1918 als sehr zeitgemäß. Trotz der Konventionalität vieler seiner Auffassungen lässt er sich außerdem nicht auf einen einfachen Nenner bringen, denn umgekehrt lässt sich eben auch die Originalität vieler seiner Auffassungen nicht bestreiten. Hier spielten mehrere Faktoren eine Rolle: Zum einen kann gerade die anscheinende Inkonsistenz mancher Positionen, die Haller im Laufe seines wissenschaftlichen und politischen Schaffens eingenommen hat, als Ausdruck eines konsistenten Festhaltens an der Grundauffassung verstanden werden, dass man sich als Historiker immer wieder von den normativen Tendenzen seiner Zeit befreien müsse, da jede tragfähige historische Einsicht der kritischen Reflexion von Tatsachen und ihren Wertungen entspringe. Zum anderen ist das fehlende Maß, ja der fehlende Takt gerade in seinen Veröffentlichungen nicht zu erklären ohne den Hinweis auf Hallers besondere, wohl durch Anlage und Umwelt gleichermaßen mitgeprägte charakterliche Disposition in ihrer eigentümlichen Mischung aus Unsicherheit und Auftrumpfen. Bei wohlverstandener biographischer Forschung geht es nicht um Heldenverehrung oder um die »Dekonstruktion« eines »Schurken«, und es geht auch

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nicht um eine einseitige Entscheidung für Personen- und gegen Strukturgeschichte. Vielmehr geht es darum, am Beispiel einer konkreten Person Entwicklungslinien sichtbar zu machen, die personen- wie strukturgeschichtlich verwertbar sind und die bei von vorneherein generalisierend angelegten Studien übersehen werden würden. Das Leben und Werk Johannes Hallers einzu­ordnen in die deutsche Geschichte zwischen 1865 und 1947 war das Ziel dieser Arbeit. Weitere Untersuchungen über Haller selbst, aber vor allem auch über Politik, Religion und Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, können an die hier vorgetragenen Ergebnisse anknüpfen.

XI. Anhang: Johannes Haller: Lebenserinnerungen, Teil IV

Vorbemerkung des Bearbeiters Die von Hallers Schüler Reinhard Wittram 1960 besorgte Ausgabe der Lebenserinnerungen seines Lehrers enthält lediglich drei von ursprünglich vier Teilen; der vierte und letzte Teil  wurde von Wittram mit dem Hinweis auf die Zeitbedingtheit des darin Geäußerten fortgelassen.1 Dieser bislang nahezu2 ungedruckte, im maschinenschriftlichen Manuskript 188 Seiten umfassende und von Haller selbst »Im Strom der Zeit« betitelte Teil  wird im Folgenden abgedruckt.3 Gerade die Zeitbedingtheit des Textes erscheint inzwischen als r­ eizvoll, und das nicht nur, weil die Geschichte der Geschichtswissenschaft eine Konjunktur erlebt, sondern auch, weil die von Haller im letzten Teil seiner Lebenserinnerungen geschilderten historischen Ereignisse wieder verstärkte Aufmerksamkeit finden. Der Großteil des hier edierten Textes beschäftigt sich mit Ursachen und Verlauf des Ersten Weltkriegs. Wie bei so gut wie allen anderen Themen auch, ist Hallers Urteil darüber eigenwillig, aber auch sehr differenziert, verständlicherweise noch einmal deutlich differenzierter als das, was er während und unmittelbar nach dem Krieg publiziert hat.4 Neben der besonders ausführlichen Betrachtung des bis heute oft vernachlässigten Kriegs im Osten sind vor allem die Ausführungen Hallers zu den Ursachen für den Kriegsausbruch interessant, zumal sie in gewisser Weise als repräsentativ für eine deutsche Historikerschaft der Zwischenkriegszeit gelten dürften, die zwar den einseitigen Schuldvorwurf des Versailler Vertrags energisch zurückwies, aber doch auch keineswegs eine ebenso einseitige »Unschuldsthese«5 vertrat. 1 Ausführlicher dazu oben Kapitel X. 2 Lediglich der von Haller geschilderte Besuch im Großen Hauptquartier bei Hindenburg und Ludendorff 1917 wurde bereits im Rahmen eines Vorabdrucks aus den Lebenserinnerungen publiziert: Johannes Haller: Aus den Erinnerungen. II. Besuch bei Hindenburg und Ludendorff 1917, in: Die Welt als Geschichte 19 (1959), S. 122–128. In der kurzen Vorbemerkung wird die Nichtberücksichtigung des vierten Teils in der Gesamtausgabe der Lebenserinnerungen damit begründet, dass Haller diesen Teil nicht mehr habe »abschließend redigieren können.« (S. 122.) 3 Der hier edierte Text befindet sich in: UAT 305/1c, eigenhändig bzw. UAT 305/1i, 305/1k und 305/86,4, maschinenschriftlich. 4 Vgl. dazu oben Kapitel VI.1. und VII.1. 5 Alle diese Staaten waren Bösewichte. Gespräch mit dem Historiker Christopher Clark, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Juli 2014.

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Anhang: Johannes Haller

Die Jahre 1918–1933 werden von Haller dagegen fast gar nicht und die Jahre 1933–1945 nur sehr knapp abgehandelt. Umso interessanter sind diese von Haller an den Schluss seiner Lebenserinnerungen gesetzten Ausführungen, weil er hier eine Deutung nicht nur der letzten von ihm erlebten Phase der deutschen Geschichte gibt, sondern außerdem ein historisch-politisch-moralisches Gesamtresümee zieht: Die deutsche Geschichte im eigentlichen Sinne hielt Haller mit 1945 für beendet; er hoffte aber doch darauf, dass das abschließende Urteil nicht einseitig negativ ausfallen werde.6 Mit der Niederschrift des zweiten, die in Rom verbrachten Lebensjahre thematisierenden Teils der Lebenserinnerungen war Haller Mitte 1944 fertig; den hier edierten vierten Teil hat er Anfang September 1946 abgeschlossen.7 Daraus ergibt sich, dass Haller die letzten beiden Teile der Lebenserinnerungen zwischen Mitte 1944 und September 1946 verfasst hat. Vermutlich hat er den größten Teil des hier edierten Textes erst nach Kriegsende niedergeschrieben. Der Text wird hier entsprechend dem maschinenschriftlichen Exemplar geboten, allerdings wurden Tippfehler korrigiert und die Rechtschreibung wurde an diejenige des handschriftlichen Exemplars bzw. an die zum Zeitpunkt der Niederschrift geltenden deutschen Rechtschreibregeln angepasst. An einigen Stellen hat Haller Lücken gelassen, wenn ihm ein Datum oder ein Name gerade nicht geläufig war. Sofern möglich, wurden diese Lücken gefüllt. An den Stellen, wo Haller sich in der Datierung seiner eigenen Publikationen oder in der Schreibweise der Namen erwähnter Personen geirrt hat, wurde dies stillschweigend korrigiert. Der wissenschaftliche Kommentar beschränkt sich auf eine knappe Erläuterung der für das Verständnis des Textes unabdingbaren Sachverhalte, der nicht allgemein bekannten erwähnten Personen sowie auf die Nachweise der Zitate und Publikationen. Die Informationen zu den genannten Personen sind dabei in der Regel den biographischen Standardnachschlagewerken entnommen. Die Einzel­ nachweise der Nachschlagewerke werden in folgender Abkürzung gegeben: ABF ADB BaBA I BaBA II BAChr BBA BBL

Archives Biographiques Françaises Allgemeine Deutsche Biographie Baltisches Biographisches Archiv online, München 2007 Baltisches biographisches Archiv, Neue Folge online, München 2009 Biographisches Archiv des Christentums British Biographical Archive Baltisches Biographisches Lexikon

6 Vgl. dazu auch oben Kapitel IX. 7 Vgl. dazu Benjamin Hasselhorn (Bearb.)/Christian Kleinert (Vorarb.): Johannes Haller (1865–1947). Briefe eines Historikers (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 71), München 2014, Nr. 376, S. 616.

Vorbemerkung des Bearbeiters

BHdA BLG DBA HA JaBA JBA NDB ÖBL RBA & BASU SBA

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Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Historischer Dienst, Paderborn u. a. 2000 ff. Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871–1945, Kassel 2010 ff. Deutsches Biographisches Archiv Hessische Abgeordnete 1820–1933, Darmstadt 2008 Japanese Biographical Archive Jüdisches Biographisches Archiv Neue Deutsche Biographie Österreichisches Biographisches Lexikon. 1815–1950, hrsg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaft, Graz u. a. 1957 ff. Russisches Biographisches Archiv & Biographisches Archiv der Sowjetunion Scandinavian Biographical Archive

Johannes Haller Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes Teil IV: Im Strom der Zeit Wir haben Jahre zugebracht, Um eignen Gram uns zu versenken. Nun hat sich erst der Wunsch entfacht, Mit klarem Geiste das zu denken, Was dunkel nur die Zeit gedacht. Platen.1

Ob ein Zeitgenosse, der die Ereignisse 1914, sei es nur an der Hand der Zeitungen verfolgt hatte, durch den Ausbruch des Krieges 1914 überrascht worden ist, weiß ich nicht; ich selbst war es nicht im geringsten, ich hatte den Krieg erwartet, und nicht erst seit kurzem. Daß es einmal zum Zusammenstoß zwischen Deutschland und Rußland kommen werde, war von jeher meine Überzeugung gewesen, mochten meine Bekannten mich auch noch so überlegen wegen dieses »baltischen Vorurteils« auslächeln. Seit einiger Zeit schienen mir die Anzeichen, daß ich bald recht behalten würde, rasch zu wachsen. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich diesem Ereignis, das für mich wie eine finstere Gewitterwolke am Horizont der deutschen Zukunft hing, mit großer Zuversicht entgegenge­ sehen hätte, wußte ich doch, daß es ein Zweifrontenkrieg sein würde, vor dem Bismarck in den Gedanken und Erinnerungen ernstlich gewarnt hatte.2 Die Sorglosigkeit, die ich trotz aller Erfahrungen der letzten Jahre um mich her herrschen sah, konnte ich nicht teilen, bin vielmehr, seit ich in Deutschland war und die Deutschen kannte, und vollends seit ich dauernd auf deutschem Boden lebte, ein heimliches Unbehagen nie losgeworden, das sich zeitenweise zu quälender Besorgnis steigerte. Wer einmal überfahren worden ist, bewegt sich nie mehr mit der gleichen unbefangenen Sicherheit wie früher im belebten Straßenverkehr. Mir war das Gefühl politischer Gesichertheit, das Vertrauen auf die Festigkeit der bestehenden Staats- und Machtverhältnisse, durch das Erlebnis der Russifizierung verloren gegangen, das meine Heimat zerstört und mich zur Auswanderung veranlaßt hatte, und die nähere Bekanntschaft mit den deutschen Zuständen war je länger desto weniger dazu angetan, das Vertrauen wieder herzustellen.3 Während der Jahre, wo ich die Dinge nur aus der Ferne, vom Ausland her hatte verfolgen können, war mir ein Zug im neudeutschen Antlitz besonders bedenk1 August von Platen: Gesammelte Werke in einem Band, Stuttgart und Tübingen 1839, S. 28. 2 Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen, in: Gesammelte Werke, NFA IV: Gedanken und Erinnerungen, Paderborn u. a. 2012. 3 Zu der von Haller erlebten Russifizierung vgl. oben Kapitel II.3.

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lich erschienen: die Selbstgefälligkeit, mit der man sich der eigenen Vorzüge bewußt war, die Geringschätzung, mit der man andere beurteilte. Hörte man zumal die Jüngeren, so war an Deutschland alles zu loben, alles vortrefflich, mustergültig; den Nachbarn war es weit voraus, würde sie bald noch mehr überflügeln und in dreißig Jahren das erste Land der Welt sein. Wie solche Äußerungen auf Ausländer wirkten, konnte ich beobachten und machte die E ­ rfahrung, daß jeder Versuch, das Selbstlob auf ein sachlich berechtigtes Maß zurückzuführen und auch der Selbstkritik zum Wort zu verhelfen, für einen Mangel an patriotischer Gesinnung gehalten wurde. Ich stand damit nicht allein. Als wäre es gestern gewesen, klingen mir noch die Worte im Ohr, mit denen ein so fanatischer Deutscher wie Domaszewski4 ein Gespräch abschloß – es war im Sommer 1896 in Rom im Café Greco –, er arbeitete damals an der Abformung und Erklärung der Siegessäule Mark Aurels: »Diese Überheblichkeit wird noch einmal zu einem nationalen Désastre führen«. Nun, da ich in Deutschland lebte und den Kreis von innen sah, bedrängte mich von Jahr zu Jahr mehr die Frage, wie man solche Fehler – es war ja nicht der einzige  – im Verhältnis zu den so deutlich sichtbaren großen Leistungen einschätzen sollte. Was wog schwerer, Vorzüge oder Mängel? Wohin ging die Fahrt, vorwärts oder rückwärts? Die Antwort war schwer, und das Gefühl, für gewöhnlich im Unterbewußtsein schlummernd, mitunter jedoch aus irgend einem Anlaß um so stärker hervorbrechend, das dumpfe Gefühl der Unsicherheit, des Zweifels an der Zukunft, nahm mit den Jahren zu. Diesen Zweifel hatten Äußerungen zweier Männer, auf die zu hören ich allen Grund hatte, besondere Nahrung gegeben. Der eine war mein alter Lehrer Erdmannsdörffer, den ich im Sommer 1900 in Heidelberg besuchte.5 Es war das letzte Mal, daß ich ihn sah, im folgenden Winter ist er gestorben. Im Laufe des Gesprächs fragte er mich, wie mir die deutsche Jugend gefalle. Da ich wußte, wie sehr er sich damals an dem späten, aber wachsenden Erfolg seiner Lehrtätigkeit freute, so suchte ich mich möglichst vorsichtig auszudrücken, betonte die Frische und das rüstige Selbstvertrauen, das mir entgegengetreten war, und deutete, das Wort »Gedankenlosigkeit« vermeidend, die Kehrseite nur an, indem ich sagte, ich vermisse die Nachdenklichkeit. »Ja«, sagte Erdmannsdörffer, »darin haben Sie recht; am Nachdenken fehlt es.« Und dann nach einer Pause: »Überhaupt Deutschland!« Er vollendete den Satz nicht, aber im Ton war eine tiefe Besorgnis nicht zu überhören, und dieser Ton klang in mir nach: er hatte mir verraten, daß Erdmannsdörffer der Zukunft Deutschlands keineswegs sicher war. 4 Alfred von Domaszewski (1856–1927), deutscher Althistoriker, seit 1887 als Professor in Heidelberg, wo Haller ihn während seiner Promotionszeit 1890/91 kennenlernte. Vgl.­ Johannes Haller: Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960, S. 119 f. 5 Bernhard Erdmannsdörffer (1833–1901), deutscher Historiker, Doktorvater Johannes Hallers. Vgl. oben Kapitel III.2. Außerdem: Johannes Haller: Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960, S. 116 f.

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Anhang: Johannes Haller

Unverhohlener sprach sich Eckardt aus, als ich ihn bald darauf in Zürich sah, wohin er kürzlich übergesiedelt war.6 In einer wundervollen Augustnacht saßen wir auf der Veranda seines Hauses am Zürichberg und sprachen, wie er es gerne tat, von der Vergangenheit, die er das einzige Paradies nannte, aus dem man nicht vertrieben werden könne. Ich wunderte mich, daß für ihn die Erinnerungen der Jugend stärker seien als das so viel reichere Leben der späteren Jahre. »Das ist ja alles verlorene Mühe gewesen,« erwiderte er mit einem tiefen Seufzer. »Mein Leben betrachte ich als verfehlt, denn was ich erstrebte, habe ich nicht erreicht.« Daß er so dachte, war mir nicht neu, und ich wagte die Frage, ob es ihm denn keine Genugtuung sei, für die Zukunft Deutschlands, für die Größe des deutschen Reiches gearbeitet zu haben. Das wies er ab; auch nach dieser Seite wollte er sich pour le roi de Prusse bemüht haben, denn in den Händen, in denen sie liege, sei die deutsche Zukunft alles andere als gesichert. Er dachte dabei nicht etwa nur an den Kaiser, er meinte die gesamte regierende Schicht, Beamte und Gesellschaft. Mich erschütterte das Geständnis, das ich in dieser Offenheit noch nie von ihm vernommen hatte. Zur Begründung seines Urteils verwies er mich auf die kürzlich erschienene Schrift seines Freundes, des Reichsgerichtsrates Mittelstädt, »Vor der Flut«, worin der kommende Zusammenbruch mit erschreckender Bestimmtheit an die Wand gemalt war.7 Das Gespräch hinterließ mir einen um so tieferen Eindruck, da ich wußte, wie gut ­Eckardt die Kreise der Regierung kannte, und wie scharf sein Auge für Fehler und Vorzüge der Menschen war. Daß die größte Gefahr von außen her drohe und von dieser Seite einmal der vernichtende Schlag kommen werde, dieser Gedanke lag uns allen damals noch fern. Ich kann mich nicht entsinnen, ihn in den ersten Jahren nach 1900 jemals äußern gehört zu haben. Wenn von politischen Gefahren überhaupt die Rede war, was nur selten geschah und meist ziemlich rasch und obenhin bei Seite geschoben wurde, so dachte man an die innere Entwicklung der Nation, von der sich niemand ein klares Bild zu machen wußte. Daß das soziale Problem, vor dem Deutschland wie alle Staaten schon lange stand, mit den Jahren immer bedrohlicher anwuchs, war ebenso unverkennbar, wie die Ratlosigkeit und auch Gleichgültigkeit, mit der man ihm gegenüberstand. Bei der Regierung war ­weder Ziel noch Plan zu erkennen. Die Anläufe aus den Anfängen des Kaisers hatten wohl zum Erlaß einer Reihe von Gesetzen geführt, an der Gesamtlage jedoch nichts geändert. Die so lebhaft in Angriff genommene Sozialpolitik des Arbeiterschutzes drohte in bürokratisch-parlamentarischer Kleinarbeit zu ver6 Julius von Eckardt (1836–1908), Journalist und Diplomat deutschbaltischer Herkunft, mit Haller seit dessen Basler Zeit ab 1897 bekannt, wo Eckardt als Generalkonsul tätig war. Nach eigenem Bekunden wurde Haller in seinen politischen Anschauungen nachhaltig von­ Eckardt geprägt: vgl. oben Kapitel IV.5. Außerdem: Johannes Haller: Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960, S. 213–219. 7 Otto Mittelstädt: Vor der Fluth! Sechs Briefe zur Politik der deutschen Gegenwart, Leipzig 1897. Mittelstädt (1834–1899) war seit 1881 am Reichsgericht tätig, trat aber 1896 wegen eines Nervenleidens in den Ruhestand und nahm sich 1899 das Leben (NDB 17, S. 579 f.).

Im Strom der Zeit

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sanden, sodaß es schien, im Großen sei sie aufgegeben, während die Sozial­ demokratie, wie die Wahlen bewiesen, an Stärke unaufhaltsam zunahm. Bei der Regierung schien man sich darüber keine Sorgen zu machen, vom Kaiser würde sogar der Ausspruch erzählt, die Sozialdemokratie sei »eine vorübergehende Erscheinung, die sich austoben müsse«. Der Reichskanzler Bülow gefiel sich in rhetorischen Fechterkünsten, die ihm Beifall brachten, aber nichts änderten, in Volk und Volksvertretung herrschte völlige Unklarheit. Die arbeiterfreundliche Stimmung, die im Anfang der neunziger Jahre geherrscht hatte, war verflogen, aber Geneigtheit zur Rückkehr zu bismarckschen Methoden, reaktionären Maßregeln oder gar Unterdrückung war nicht zu bemerken. Weder oben noch unten wußte man, was man wollte und wollen sollte. Das bewies am deutlichsten der Versuch, den Friedrich Naumann mit der Gründung der Nationalsozialen Partei machte.8 Ihn lernte ich schon in meinen Anfängen in Marburg aus der Nähe kennen, denn Hessen war für die neue Partei das fruchtbarste Arbeitsfeld, in Marburg erschien ihr gelesenstes Blatt, die »Hessische Landeszeitung«, dort allein siegte bei der Reichstagswahl 1903 ihr Kandidat Hellmut von Gerlach. In Hessen hat die Bewegung auch fortgelebt, nachdem Naumann, entmutigt durch den Mißerfolg, auf selbstständige Vertretung seiner Gedanken verzichtet und sich der bürgerlichen Demokratie angeschlossen hatte. Ich war ihm im Winter 1901/02 in Rom bei Max Weber begegnet und hatte von seiner Persönlichkeit keinen angenehmen Eindruck erhalten. Mir mißfiel seine unverbindliche Art, sein – ich finde kein passendes deutsches Wort – suffi­ santes Auftreten; er machte mir den Eindruck eines Menschen, der sich von der eigenen Beredtsamkeit geblendet und durch Anbetung verwöhnt, mit souverän apodiktischen Urteilen auf Gebieten bewegte, von denen er nichts verstand. Als Produkt einer Kreuzung von Journalist und Pfaffe erschien er mir. Eine geringschätzige Bemerkung über die humanistische Bildung reizte mich zum Widerspruch, und wir gerieten in einen Disput, bei dem Naumann sich eine arge Blöße gab. Ich hatte auf einen Vorzug des Unterrichts in den alten Sprachen hingewiesen, der meist verkannt werde, daß nämlich durch ihn schon den Heranwachsenden Gelegenheit geboten sei, Schriftsteller ersten Ranges aus fremden Welten im Original kennen zu lernen und mit großen Geistern wie Cäsar in ihrer Sprache zu verkehren. Naumann erwiderte in verächtlichem Ton, statt Cäsar sollte man lieber Mommsens Römische Geschichte lesen lassen.9 Da konnte ich ihn nun zufällig aus meiner Erfahrung als Lehrer widerlegen, denn diesen Versuch hatte ich einmal gemacht und war bei meinen Schülern auf entschiedene Ablehnung gestoßen. Der unverdorbene Sinn der Sechzehnjährigen hatte die schwache Seite an Mommsens Darstellung, die versteckte politische und soziale Gehässigkeit und das bedenkliche Modernisieren der Vorzeit richtig herausgefühlt. Sie erklärten, das sei kein unparteiischer Geschichtsschreiber, er schelte 8 Zum Folgenden vgl. oben Kapitel V.2. 9 Theodor Mommsen: Römische Geschichte, 3 Bde., Leipzig 1854–1856.

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die römischen Vornehmen »Junker«. Naumann wußte darauf nichts zu erwi­ dern; er hatte mich wohl überhaupt nicht verstanden, und überzeugt hatte ich ihn gewiß ebenso wenig, wie er später in seinem Kampf für die sogenannte deutsche Letter für sachliche Belehrung zugänglich gewesen ist, vielmehr mit papaler Autorität seine Sprüche hinausschleuderte, die von gründlicher Unkenntnis ebenso wie von festem Glauben an die eigene Unfehlbarkeit zeugten. Dem Mangel an Selbstkritik und Bescheidenheit wird ein aufmerksamer Leser in seinen Schriften wohl öfter begegnen, am meisten in dem ganz unmöglichen »Mitteleuropa«, dessen Gedankengang von Anfang bis zu Ende verrät, daß dem Verfasser das Organ für auswärtige Politik ebenso wie die Kenntnis der elementaren historischen und ethnologischen Tatsachen abgeht.10 Ein frühes Beispiel für seine unbescheidene Art, über Dinge zu urteilen, die er nicht kannte, enthalten die Reisebriefe aus Palästina, wo er gegen Jesus den Vorwurf erhebt, nicht vor allem für guten Straßenbau gewirkt zu haben.11 Daß es schwerlich irgendwann und irgendwo in der Welt bessere Straßen gegeben hat als im römischen Reich jener Tage, brauchte er als Theologe und Politiker nicht zu wissen, aber – ganz abgesehen von dem grotesken Mißverstehen des Rabbi von Nazareth, dessen der ehemalige Geistliche sich hier schuldig macht – warum sprach er über Dinge, die ihm ferngelegen hatten, ohne sich vorher zu unterrichten? In diesen Entgleisungen kommt eine Eigenschaft zum Vorschein, die mich schon bei jener Begegnung in Rom unangenehm berührte, die auch jemand, der ihm politisch nahe stand wie Walther Schücking mit Bedauern feststellte: »Es ist schade«, sagte dieser mir einst, »er hat etwas Unfeines.«12 Mehr als das, er war ein Banause. In der Ewigen Stadt langweilte er sich, ihre Altertümer, ihre Kunstwerke sagten ihm nichts, Raffaels Stanzen machten ihm keinen Eindruck, dagegen sehnte er sich nach – Fabrikschornsteinen! Daß er auch als Politiker seinen Beruf verfehlt hatte, hat seine Laufbahn erwiesen, wenn jemand eine neue Partei mit hohen, weitgesteckten Zielen ins Leben rufen will und schon nach dem ersten nicht nach Wunsch verlaufenen Versuch zum bitteren Leidwesen seiner Gesinnungsgenossen die Flinte ins Korn wirft, so hat er zum politischen Führer nicht das Zeug. Und wenn er, der unter der Fahne der sozialen Monarchie ins Feld gerückt war, nach verlorener Schlacht nichts besseres zu tun wußte, als seine Person unter dem republikanischen Dach der Demokratie in Sicherheit zu bringen, so verriet er damit einen Mangel an Instinkt, der ihn als Politiker schlechthin unmöglich hätte machen sollen, es sei denn, daß die poli­tische Ar10 Friedrich Naumann: Mitteleuropa, Berlin 1915. 11 Friedrich Naumann: Asia: Athen, Konstantinopel, Baalbek, Damaskus, Nazaret, Jerusalem, Kairo, Neapel, Berlin 1899, S. 114 f.: »Jesus ging und ritt auf solchen Wegen, ohne etwas zu ihrer Besserung zu thun! […] Es fiel für mich etwas dahin, was mir sehr wert gewesen war: der irdische Helfer, der alle Arten menschlicher Nöte sieht.« 12 Walther Schücking (1875–1935), Völkerrechtler und Politiker, Professuren in Breslau (1900), Marburg (1902), Berlin (1921) und Kiel (1926), 1908 und 1911 Kandidat der Fortschrittlichen Volkspartei für das Abgeordnetenhaus, 1919–1928 Reichstagsabgeordneter für die DDP, 1930 erster ständiger Richter am Weltgerichtshof in Den Haag (NDB 23, S. 631–633).

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beit für ihn etwas anderes gewesen wäre als Befriedigung persönlichen Ehrgeizes oder, besser noch, persönlicher Eitelkeit, was ich ihm aber nicht zutrauen möchte. Zum Eintritt in die Reihen der Demokratie soll ihn Max Weber bestimmt haben. Wenn er zu einem solchen Schritt von außen bestimmt werden konnte, so war er kein wirklicher Führer; und wie wenig er in der neuen Gemeinschaft für seine bisherigen Gedanken wirken konnte, hätte er unter allen Umständen wissen müssen. Sein Ziel war doch auch, die Massen zur Kirche zurückzuführen, und welche Fraktion hätte der Kirche fremder, ja feindseliger gegenübergestanden als die sogenannte freisinnige? Einfluß hat er dort denn auch nicht gehabt, ja er ist nicht einmal ganz ernst genommen worden, wie mir Parteigenossen, die es wissen mußten, versichert haben. Man nannte ihn den Barden der Fraktion, gestattete ihm, bei passender Gelegenheit die lyrischen Kanzeltöne seiner Beredsamkeit spielen zu lassen, und benutzte ihn mit seinem Ruf, ein Freund der Arbeiter zu sein, als Lockvogel im Wahlkampf. Dem zuliebe wurde die soziale Reform wohl ins Programm der Partei aufgenommen, aber ernsthaft vertreten wurde sie nicht, und vom monarchischen Gedanken, für den Naumann ursprünglich hatte kämpfen wollen, war keine Rede. Das Gegenteil war und blieb das heimliche Ziel der Partei, und wenn man nach der Haltung urteilt, die ihr bedeutendstes Organ, die »Frankfurter Zeitung«, in der Schicksalsprobe seit dem Herbst 1918 einnahm, so steckte dahinter als letzte Absicht der Übergang zur Sozialdemokratie und zum Kommunismus. Indem er davon augenscheinlich nichts merkte, erwies Naumann einen befremdlichen Mangel an politischem Geruchssinn; daß er gar 1917 im Reichstag für die meuternden Matrosen der Kriegsflotte eine seiner rhetorischen Lanzen brechen konnte, hat ihn nicht nur in meinen Augen endgültig gerichtet, auch politische und persönliche Freunde von ihm sind über diese Verirrung fassungslos gewesen. In meinen Augen ist seine Gesamterscheinung der lebendige Beweis dafür, wie recht die Engländer haben, nie und nimmer einem Geistlichen eine Rolle in der praktischen Politik einzuräumen. Sympathie, wie man sieht, habe ich für Naumanns Persönlichkeit nicht gehabt, und doch seinem Kandidaten bei der Wahl 1903 meine Stimme gegeben. Damals war es noch erlaubt, sich an sein Programm, seine öffentlich bekannten Absichten zu halten; wie unfähig er zu ihrer Durchführung war, trat erst nachträglich hervor, die Absichten aber billigte ich durchaus. Schon zu jener Zeit war es mir klar, daß der Fortbestand des Reiches, ja der deutschen Kultur einmal davon abhängen werde, ob es gelinge, die Arbeitermassen für den nationalen Gedanken, womöglich für die Monarchie zu gewinnen. Dafür schien mir der Weg, den Naumann zeigte, der einzig gangbare, nachdem die sozialpolitische Gesetzgebung, worüber das Anschwellen der internationalen und republikanischen Sozialdemokratie keinen Zweifel ließ, ihren Zweck verfehlt hatte. Erst später habe ich erkannt, wo der Fehler steckte, der auch diesen Anlauf zum Scheitern verurteilte. Was den Arbeiter zum Gegner des Staates machte, war weniger seine rechtliche Stellung im Staat als die Lage, in der er sich gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft befand. Max Weber hat mir einmal gesagt, wenn man

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Amtsgerichte und Polizei für drei Jahre außer Tätigkeit setzen und die Hausfrauen dazu bringen könnte, ihre Dienstmädchen besser zu behandeln, so wäre die soziale Frage für Deutschland gelöst. Das ist natürlich eine paradoxe Übertreibung, enthält aber die Wahrheit, daß das Problem im letzten Grunde kein staatsrechtliches, sondern ein menschliches, eine Sache der Humanität war. Der Arbeiter mußte wissen und im täglichen Leben erfahren, daß er von seinem ­Arbeitgeber als Mensch geachtet wurde und bei ihm für seine Bedürfnisse Verständnis und tatkräftiges Entgegenkommen fand. Auf dem Wege der Gesetzgebung allein war das niemals zu erreichen, denn Gesinnung läßt sich nicht vorschreiben, Wohlwollen nicht erzwingen. Nicht den Arbeiter zu bekehren, galt es, sondern die Kreise der Arbeitgeber waren es, die darüber belehrt werden mußten, was ihnen ihr eigenes Interesse ebenso sehr wie die Pflicht gegen Staat und Nation gebot, nämlich den Arbeiter durch die Tat davon zu überzeugen, daß er zu seinem Arbeitgeber gehörte wie dieser zu ihm; wogegen der offizielle Begriff »Arbeiterschutz« das Gegenteil bewirkte, indem er voraussetzte, der ­Arbeitgeber sei der Feind, gegen den man den Arbeiter schützen müsse. Kurz gesagt: an die Stelle des Arbeitgebers mußte der Patron treten, der seinem Klienten zu Schutz und Hilfe verpflichtet und diese zu leisten zum eigenen Nutzen bereit ist. Die alten Begriffe, in denen der ethische Gedanke den rechtlichen ergänzt, mußten wieder zu Ehren gebracht und zum Gemeingut gemacht werden. Die Botschaft war in erster Linie an die Kreise der Arbeitgeber zu richten. Daß es bei ihnen für diese Aussaat in Deutschland, und gerade hier nicht an aufnahmebereitem Boden gefehlt hätte, das zu glauben bestimmt mich ein persönliches Erlebnis. Als ich im Jahre 1926 vor dem Verein der Eisenhütten in Düsseldorf einen Vortrag über Staat und Gesellschaft zu halten hatte, benutzte ich die Gelegenheit, um am Schluß den eben berührten Gedanken in einigen knappen Sätzen auszusprechen.13 Die nach Tausenden zählende Versammlung antwortete mir mit einem Beifallssturm, wie ich ihn nie früher oder später erlebt habe. Carl Duisberg drückte mir in sichtlicher Rührung lange die Hand, und der Vorsitzende, Albert Vögler, dankte mir namens der Zuhörer in öffentlicher Rede mit Worten, die mich beschämten.14 Damals freilich waren wir alle durch eine Revolution zum Nachdenken wachgerüttelt. Aber warum sollte es früher unmöglich gewesen sein, das, was die gewaltsame Erschütterung mit einem Schlage bewirkt hatte, durch geduldige Belehrung in Wort und Schrift allmählich zu erreichen, wenn die Organe des Staates es nicht an tatkräftiger 13 Johannes Haller: Gesellschaft und Staatsform. Vortrag gehalten auf der Hauptversammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute am 28.11.1926, in: Stahl und Eisen 47 (1926), S. 1–8. 14 Carl Duisberg (1861–1935), deutscher Chemiker und Industrieller, 1916 Gründer und 1925–1935 Aufsichtsratsvorsitzender der I. G. Farben (NDB 4, S. 181 f.); Albert Vögler (1877–1945), deutscher Industrieller, 1926–1936 Generaldirektor der Vereinigten Stahlwerke AG Düsseldorf, 1917–1936 Vorsitzender des Vereins deutscher Eisenhüttenleute, 1920–1924 Reichstagsabgeordneter für die DVP, 1933–1945 Mitglied der NSDAP-Fraktion des Reichstags (DBA II, 949, S. 269–289).

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Unterstützung fehlen ließen und der rechte Mann an die Spitze trat? Naumann war das nicht. Er hat die Aufgabe nicht verstanden und sie vorschnell im Stich gelassen. Seitdem hat die Geschichte andere Bahnen eingeschlagen, und heute ist es längst zu spät. Die soziale Frage war im Anfang des Jahrhunderts die einzige der inneren Angelegenheiten, die in der Öffentlichkeit dauernd einiges Interesse weckte. Was heute schon für jeden, der es wissen will, historisch feststeht, war damals nur Stimmung, aber verbreitete und stark empfundene Stimmung: daß die Innere Politik des Reiches, von den Landesstaaten nicht zu reden, auf dem toten Punkte stand, weder vorwärts noch rückwärts könnend und sich in geräuschvollem Leerlauf erschöpfend. Unerfreulicheres als die parlamentarischen Verhandlungen jener Jahre kann ich mir schwer vorstellen. Mir ist von ihnen eine Erinnerung geblieben, die mir noch jetzt, nach vierzig Jahren, ein Unbehagen, gemischt aus Langeweile und Ekel, erregt. Mit breiter Redseligkeit plätscherte man im flachen Gewässer alltäglicher Trivialität, niemals wurde ein origineller, ein fruchtbarer oder anregender Gedanke laut, nirgends eine das Mittelmaß überragende Persönlichkeit sichtbar. In voller Blüte stand der Weizen parlamentarischer Plusmacherei, und die reichste Ernte konnte die Partei in ihre Scheuern fahren, die in bewußtem und erklärtem Gegensatz zur Reichsgründung entstanden war, das Zentrum. Von der grundsätzlichen Opposition, in der es zu Bismarcks Zeiten gestanden hatte, war es unter Wilhelm II. zur Rolle erst der ausschlaggebenden, dann der führenden Partei übergegangen, ohne von seiner Natur und seinen praktischen Zielen etwas aufzugeben. Seine Führer, unbedeutende Köpfe, hatten nur unmittelbare Gewinne im Auge, wußten aber durch Stimmenzahl und Geschlossenheit ihres Anhangs ihren Einfluß beständig zu steigern. Als ihren Leitspruch hätte man hinstellen können, was Hertling im Kampf um das Historische Institut in Rom geäußert hatte: »Es kommt nur darauf an, möglichst viele Stellen mit unseren Leuten zu besetzen.«15 Und schon machte sich in der Partei, vielen ihrer Mitglieder wenig bequem, die dreiste Vielgeschäftigkeit eines Erzberger bemerkbar, der einst zu so trauriger Berühmtheit gelangen sollte. Diese Entwicklung vollzog sich unter der anfangs stillen, dann immer offeneren Gunst der Regierung. Schon 1903 war der Einfluß des Zentrums so stark, daß selbst Althoff Umwege machen mußte, wenn er erreichen wollte, was dem Zentrum nicht behagte. Das beweist ein Vorfall aus jenem Jahr, den mir ein Beteiligter berichtet hat. Über die Frage, ob und in welcher Form Preußen sich am Internationalen Historikerkongreß in Rom (1903) beteiligen sollte, hielt Althoff für nötig, die Meinung Hertlings einzuholen, der als Präsident der Görresgesellschaft die katholische Hälfte der deutschen Wissenschaft vertrat. Hertling hatte in der Beratung unter Althoffs Vorsitz die Stirn, der Beschickung zu wider­sprechen, da das Königreich Italien keiner solchen Rücksicht würdig 15 Vgl. Johannes Haller: Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960, S. 135.

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sei. Die Befolgung dieses Rates wäre natürlich in der ganzen Welt und am meisten von unserem italienischen Bundesgenossen als stummer Protest gegen die vor 33 Jahren erfolgte Einverleibung der ehemals päpstlichen Hauptstadt in das Königreich gedeutet worden, und so meinte es Hertling auch. Althoff hörte ihn aufmerksam an und erklärte sich nach einigem Nachdenken für überzeugt; die Beschickung solle unterbleiben. Als Hertling gegangen war, nahm er die Besprechung wieder auf und kam nun erst mit seiner wahren Meinung heraus. Das Ergebnis war eine besonders stattliche Beteiligung der deutschen Wissenschaft mit Harnack als Vertreter der preußischen Akademie und Gierke als ­Rektor der Berliner Universität an der Spitze, die dann auch in Rom ihren Eindruck nicht verfehlte.16 Ein Höhepunkt soll es gewesen sein, als Gierke, eine königliche ­Gestalt im Purpurmantel des Rektors, auf dem Forum Romanum eine Rede in lateinischer Sprache hielt. Der Vorfall bedarf keines Kommentars, aber wie hatte es so weit kommen können? Die Antwort lautet: der Reichskanzler hieß Bernhard von Bülow. Diesen Mann kennt die Welt seit fünfzehn Jahren aus seinen schandbaren »Denkwürdigkeiten«, in denen er nach dem Wort Wilhelms II. Selbstmord nach dem Tode begangen hat.17 Daß er vom ersten Tage an entschlossen war, sich auf das Zentrum als die stärkste der bürgerlichen Parteien zu stützen, hat er selbst bekannt. Wie kurzsichtig das war, ist ihm mit der Zeit wohl klar geworden, aber der Versuch, sich durch Auflösung des Reichstags (1907) von der Tyrannei der Partei freizumachen, schlug fehl; ungeschwächt kehrte das Zentrum wieder, der Kanzler aber hatte gegenüber der Feindschaft seiner ehemaligen Freunde nun keinen parlamentarischen Rückhalt mehr und stürzte, als er die Gunst des Kaisers verscherzt hatte. Die Verfehltheit des Experimentes habe ich damals, ohne nähere Kenntnis der Zusammenhänge, instinktiv gefühlt und mich bei der Wahl der Stimme enthalten. Die innere Politik des Reiches schien mir völlig verfahren und ausweglos in eine Sackgasse geraten  – das Ergebnis von B ­ ülows Regierungskunst. Mit meinem ablehnenden Urteil über diesen Kanzler stand ich damals in meiner Umgebung ziemlich allein, um mich her hörte man Lobeshymnen auf den »besten der Nachfolger Bismarcks«, und seine letzten, verzweifelten Be­ mühungen, sich durch Wiederbelebung des bismarckischen Kartells unter der Etikette konservativ-liberaler Paarung, die besonders in Hessen als Beginn einer neuen Ära förmliche Begeisterung weckten, eine tragfähige parlamentarische Basis zu schaffen, flößten mir wenig Vertrauen ein. Sie sind denn auch bald genug gescheitert. Ich ahnte damals nicht, daß ich es sei, der – was die Welt 16 Otto von Gierke (1841–1921), deutscher Rechtshistoriker (NDB 6, S. 374 f.). 17 Bernhard von Bülow: Denkwürdigkeiten, 4 Bde. Berlin 1930–1931. Die angebliche Äußerung Kaiser Wilhelms II. ist auch anderweitig überliefert, so etwa in Hans-Joachim S­ choeps:­ Ungeflügelte Worte. Was nicht im Büchmann stehen kann (Gesammelte Schriften 4/16), Bonn 1990, S. 125: »Bülow bietet das einzige Beispiel eines Menschen, der nach dem eigenen Tode Selbstmord begangen hat.«

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seitdem schon vergessen hat – einmal gegen dieses Götzenbild der öffentlichen Meinung zuerst (1917) in einem Aufsatz der »Süddeutschen Monatshefte«, dann (1922) in der Studie über die »Ära Bülow« die ersten Schläge führen sollte.18 Gestehen muß ich allerdings, daß auch ich sein erstes Auftreten als Staats­ sekretär 1897 mit Beifall begrüßt hatte. In der Stickluft, die unter dem senilen Hohenlohe und seinen mittelmäßigen Gehilfen über dem Reich lagerte, wirkte die erste Erklärung Bülows mit dem Schlagwort vom »Platz an der Sonne« in ihrer knappen Entschlossenheit, als wehte durch das endlich geöffnete Fen­ster ein frischer Zugwind in die Stube. Ich mußte mir deswegen von Eckardt, der den Mann bald durchschaut hatte, manche freundliche Neckerei gefallen lassen. Dann jedoch änderte sich mein Urteil. Die erste Rede, die Bülow als Reichskanzler im Reichstag hielt, hatte ich zu hören Gelegenheit. Es handelte sich darum, für den ohne Bewilligung der Mittel unternommenen Feldzug in China nachträglich die parlamentarische Indemnität zu erbitten. Die Aufgabe war nicht leicht, die Rede des Kanzlers lang und wohlgeformt, aber was er sagte, nichts als Schaumschlägerei. Auch das persönliche Auftreten, die betonte Eleganz in Anzug und Sprechweise ­haben mir Mißtrauen gegen die Echtheit der Figur eingeflößt. Daß der Zweck erreicht wurde und der Reichstag die stattgehabte Verletzung der Verfassung verzieh, wollte wenig bedeuten. Mit dieser Versammlung fertig zu werden, war nicht allzu schwer, auch wenn keine heimliche Verständigung mit den Parteien der Mehrheit, vor allem natürlich dem Zentrum vorausgegangen war, wie man wohl annehmen durfte. Immerhin, der neue Kanzler hatte sich im Sattel gehalten und in der Debatte sogar einen unleugbaren Triumph der Schlagfertigkeit erzielt, als er sich gegenüber Bebels Gezeter über die in China von deutschen Truppen angeblich verübten Greuel auf das Zeugnis des chinesischen Gesandten berief, »der doch ein geborener Chinese, kein freiwilliger wie der Herr Abgeordnete« sei.19 Erschüttert wurde meine zunächst immer noch auf bedingte Anerkennung gestimmte Meinung, als ich bald darauf an einem winterlichen Spätnachmittag in der Potsdamer Straße dem Reichskanzler begegnete, der sich unerkannt glaubte. Ich hatte ihn schon in Rom mehrfach sowohl auf der Straße wie in Gesellschaft aus nächster Nähe gesehen und dieselbe glatte Miene selbstzufrieden lächelnder Liebenswürdigkeit auch im Reichstag wiedererkannt. Was ich jetzt sah, war ein ganz anderer Mensch. Ein Zug von hämischer Bosheit und lauernder Verschlagenheit lag auf dem Gesicht, so daß man sich fragte, wessen dieser Mann nicht fähig wäre. Ich hätte nicht gewünscht, ihm allein zu begegnen – so müßte ein Verbrecher aussehen! Auf physiognomische Eindrücke habe ich im18 Johannes Haller: Die auswärtige Politik des Fürsten Bülow, in: Süddeutsche Monatshefte, Januar 1917, S. 403–428; Johannes Haller: Die Ära Bülow. Eine historisch-politische Studie, Stuttgart und Berlin 1922. 19 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstages, Bd. 179, Berlin 1901, S. 124.

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mer etwas gegeben, sie haben mich selten getäuscht, mitunter auf die richtige Spur geführt. Über Adolf Hitlers Natur ist mir der letzte Zweifel vergangen, als ich ihn 1934 im Festspielhaus in Bayreuth einige Zeit beobachten konnte: der Blutmensch, den man damals in ihm noch nicht sicher erkannt hatte – der 30.  Juni wurde ja von vielen weniger ihm als seinen Helfern zur Last gelegt, und die Reichstagsrede, in der er sich zu der scheußlichen Weisung bekannte, »das Geschwür auszubrennen bis auf das rohe Fleisch«, hatte er noch nicht gehalten  – der Blutmensch war ihm aufs Gesicht geprägt.20 Gegen Bülow hatte ich seit jener Begegnung ein unüberwindliches Vorurteil, das sich bald zu geklärtem Urteil festigte. Der Mann spielte der Welt etwas vor, er gab sich anders, als er war. »Ja, eure Reden, die so blinkend sind, in denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt«21 – mußte ich denken, so oft ich las, was er im Parlament, bei festlichen Anlässen oder vor Zeitungsleuten gesprochen hatte. Was hatte er denn eigentlich zu sagen? Nicht eine greifbare Tatsache, nicht ein klarer Gedanke, nicht ein glücklich geprägtes Wort  – jenes erste vom »Platz an der Sonne« blieb auch das letzte – nichts als rhetorisch verbrämte Gemeinplätze und Zitate, Zitate in Menge! Hätte sich der Reichstag nur zu einem nennenswerten Bruchteil aus wirklichen Politikern zusammengesetzt, er hätte sich diese Abspeisung mit Worten ohne Inhalt nicht gefallen lassen. An Widerspruch fehlte es zwar nach und nach nicht mehr, aber er wirkte nicht, weil die ihn laut werden ließen in der Menge der Jasager vereinzelt blieben und selbst so wenig Bescheid wußten, daß sie nicht zu fürchten waren. Der Ton, in dem Bülow zu den Ab­ geordneten sprach, erinnerte auffällig an die Art, wie man unruhige Kinder beschwichtigt, und er war offenbar angebracht. So konnte es lange dauern, bis wenigstens einem Teil der deutschen Öffentlichkeit ein Licht darüber aufging, mit wem man es zu tun hatte, und selbst da noch hielt sich Bülow bei der Menge der Zeitungsleser und sogar bei manchen, von denen man besseres erwarten durfte. Als meine »Ära Bülow« erschienen war, rief die »Kreuzzeitung« nach dem Strafrichter – daß die Konservativen Bülow gestürzt hatten, war der Redaktion wohl entfallen – und der Hamburger Senator von Berenberg-Goßler hat mir 1932 gestanden, als erster Botschafter der Deutschen Republik in Rom noch an Bülow geglaubt und öfters seinen Rat eingeholt zu haben.22 Erst seine Denkwürdigkeiten haben seinen Ruf endgültig zerstört; der englische Publizist und ehemalige 20 Mit dem »30. Juni« 1934 bezieht sich Haller auf den sogenannten »Röhm-Putsch«, bei dem die Führungsriege der SA sowie ein großer Teil  der konservativen Opposition aus dem Umfeld Franz von Papens ermordet wurden. Am 13. Juli 1934 sagte Hitler in einer Rede vor dem Reichstag: »Ich habe den Befehl gegeben, die Hauptschuldigen an diesem Verrat zu er­schießen, und ich gab weiter den Befehl, die Geschwüre unserer inneren Brunnen­ vergiftung […] auszubrennen bis auf das rohe Fleisch.« (Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen. Band I: Triumph, Erster Halbband 1932–1934, München 1965, S. 421.) 21 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, V. 554 f. 22 John von Berenberg-Goßler (1866–1943), deutscher Bankier und Diplomat, 1908–1920­ Mitglied des Senats der Stadt Hamburg (BHdA 2, S. 115).

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Diplomat Harold Nicolson hat ihn kurz und treffend als das gekennzeichnet, was er war: ein Lügner und ein Schuft (a Liar and a Cad).23 Ein Zug in den inneren Verhältnissen Deutschlands, der mich von jeher ­befremdet hatte und mir mit den Jahren immer bedenklicher vorkam, war die Rolle, die die Kirche spielte oder vielmehr nicht spielte. Ich meine natürlich die evangelische; von der katholischen zu sprechen habe ich keinen Anlaß, da ich von den Kämpfen, die damals in ihrem Innern ausgefochten wurden, aus der Nähe nichts habe beobachten können. Die Wellen der Erregung, die durch die Verfolgung des Modernismus aufgewühlt wurden, drangen nicht bis zu den Mauern der beiden hessischen Landesuniversitäten, in denen es keine katholisch-theologische Fakultät gab, und als ich nach Tübingen kam, war der Sturm vorüber, die Kirche Roms stand wieder in der imposanten äußeren Geschlossenheit da, die ihr unerreichter Vorzug ist. Wie anders sah es auf der evangelischen Seite aus! Sie bot das Bild völliger Zerrissenheit. Daß die Massen des Volkes der Kirche entfremdet waren, auch wenn sie den Austritt noch nicht vollzogen hatten, war eine Tatsache, die niemand übersehen konnte, und was von den Gebildeten noch zur Kirche hielt, war gespalten nicht nur in Lutheraner, Reformierte und Unierte, mehr noch durch den Gegensatz der theologischen Richtungen, der Positiven und Liberalen. Das hatte man in Hessen besonders deutlich vor Augen, denn dort waren sowohl alle drei Konfessionen wie beide Richtungen vorhanden. In der Marburger Fakultät waren die Positiven dank dem Eingreifen der Regierung vertreten, wenn auch nicht eben stark, in Gießen herrschten die Liberalen unumschränkt, während das Seminar in Friedberg, wo die künftigen Pfarrer nach beendetem Universitätsstudium ihre Ausbildung für das Amt erhielten, in mehr positivem Sinn geleitet wurde. Daß eine so offenkundig uneinige Kirche eigentlich keine Kirche mehr ist, versteht sich ebenso wie es ihre Einflußlosigkeit im Volksleben erklärt. Um manches, was früher die Gemüter erregt hatte, wurde damals nicht mehr gekämpft, seit die Positiven ihre ursprüngliche Hauptstellung, Inspiration und Irrtumslosigkeit der Bibel, gegen die fortschreitende wissenschaftliche Kritik nicht mehr verteidigten, sodaß ein Streit, wie ich ihn in der Heimat 1884 erlebt hatte, nicht mehr möglich war.24 Im wesentlichen und praktisch handelte es sich nur noch um eine Frage, allerdings die Kernfrage: die Verbindlichkeit des Glaubensbekenntnisses. Sie ist bis heute unentschieden und wird wohl noch lange, vielleicht für immer ein Hindernis der Einheit und damit jeder tiefer greifenden Wirkung des Protestantismus auf das Schicksal der Nation bleiben. Daß das Beispiel Württembergs und der Schweiz gezeigt hat, wie eine Landeskirche bestehen und wirken kann, ohne sich an den Wortlaut einer Glaubens­formel 23 Harold Nicolson (1886–1968), englischer Diplomat und Publizist, Kolumnist der Zeitung »The Spectator« (BBA 2, S. 246–249, BBA 3, S. 328–333). 24 Vgl. dazu Johannes Haller: Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960, S. 51.

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zu binden, scheint keinen Eindruck zu machen. Dabei ist es Tatsache, daß in beiden genannten Ländern ein bedeutend regeres religiöses Leben herrscht als im protestantischen Norddeutschland und namentlich in der an den Bekenntnisschriften so hartnäckig festhaltenden preußischen Landeskirche. Von ihr hatte ich längst den Eindruck weitgehender Erstarrung zu einem Teil  der Staatsordnung, und ihr Fortbestand, wenn jemals eine politische Umwälzung ihr den Rückhalt an der Staatsgewalt rauben würde, dünkte mich keineswegs gesichert. In diesem Zweifel, den die Beobachtung der allgemeinen Verhältnisse geweckt hatte, haben mich zwei Erlebnisse nicht wenig bestärkt. Das erste hatte ich in Rom im Frühling 1902. Der frühere preußische Gesandte beim Vatikan, Otto von Bülow, war gestorben und wurde auf dem protestantischen Friedhof bei der Cestiuspyramide beerdigt, ein trefflicher Ehrenmann – ich habe seiner oben gedacht – und ein kirchentreuer Protestant, dem eine würdige Grabrede zu halten nicht schwer war.25 Der Botschaftsprediger rühmte den Verstorbenen denn auch, wie er es verdiente als treuen Diener seines Königs. Aber mußte in jedem Satz »S. Majestät der Kaiser« genannt werden, während des lieben Gottes kaum Erwähnung geschah? Noch stärker war, was ich 1924 auf der Tagung des GustavAdolf-Vereins in Braunschweig zu hören bekam.26 Der Generalsuperintendent von Danzig benutzte die kirchliche Feier, um über das Mißgeschick seiner Stadt zu klagen; dem Schmerz über ihre Trennung vom preußischen Staat und deutschen Vaterland lieh er beredten Ausdruck, vom protestantischen ­Bekenntnis, überhaupt von evangelischem Christentum, dem die Tagung galt, war nicht die Rede. Es war, als spräche nicht ein Geistlicher auf einer religiösen Tagung, sondern ein Staatsbeamter oder Politiker in einer Volksversammlung. Als ich meinen neben mir sitzenden Bruder, Oberkirchenrat, dann Propst in Waldeck, mein Befremden mitteilte, erhielt ich zur Antwort: »So sind sie alle!«27 Wie oft habe ich in späteren Jahren von meinem als Domorganist in Kolberg wirkenden ältesten Sohn die bittere Beschwerde gehört, die Kirche in Pommern sei tot, sie habe jeden Einfluß, jede Fühlung mit der jüngeren Ge­neration verloren, die von Staatskirchentum und Glaubensformeln nichts mehr wissen wolle, dafür um so mehr nach Frömmigkeit und werktätigem Christentum verlange! In der Prüfungszeit des Hitlerschen Regiments ist dieser innere Schaden verhängnisvoll hervorgebrochen, als die erstrebte Einigung aller ernsthaften Pro25 Vgl. ebd., S. 143. 26 Vgl. Johannes Haller: Ansprache, gehalten an der Canossasäule bei Harzburg am 25. September 1924, in: Beihefte der Zeitschrift »Die evangelische Diaspora« Nr. 7: Von der Herrlichkeit, Kraft und Zukunft der evangelischen Kirche Deutschlands. Zwei Vorträge und eine Predigt. Gehalten auf der Hauptversammlung des Gustav Adolf-Vereins in Braunschweig 1924 von Bischof D. Dr. Friedrich Teutsch – Hermannstadt, Universitätsprofessor D. Dr. Haller – Tübingen, Pfarrer Niemöller – Elberfeld, Leipzig 1924, S. 5–9. 27 Gemeint ist Hallers Bruder Bernhard Haller (1874–1954), deutschbaltischer lutherischer Pfarrer, 1899–1905 Prinzenerzieher in Arolsen, 1906–1951 Hofprediger und Standort­ pfarrer in Arolsen (BBL, S. 292).

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testanten unter dem – leider recht unglücklich gewählten – Sammelnamen der »Bekenntniskirche«, »Bekennende Kirche« auf die größten Schwierigkeiten stieß und auch, als sie schließlich formell zustande kam, nie recht wirksam werden konnte, weil eine lutherische Gruppe (Bayern) so weit ging, sogar an den Bekenntnisschriften der lutherischen Theologie des 16.  Jahrhunderts festhalten zu wollen, wo doch schon die allgemein anerkannten Formeln, das sogenannte Apostolische wie das Nikänische Bekenntnis, deren keines Anspruch darauf hat, als Ausdruck des ursprünglichen Christenglaubens zu gelten, mit dem Weltbild des heutigen Menschen schlechthin unvereinbar sind. Für niemand, der sich um diese Fragen ernsthaft gekümmert hat, ist es zweifelhaft, daß das gewohnheitsmäßige Festhalten an den unechten und heute nicht einmal ganz verständlichen Formeln die Masse der Gebildeten der Kirche und dem Christentum im Innersten entfremdet hat, und die Zukunft des deutschen Protestantismus bedroht, ohne daß ihre Beibehaltung einem Lebensbedürfnis der Kirche entspräche. Es hat mich überrascht, aus den Lebenserinnerungen des Berliner Oberhofpredigers und Generalsuperintendenten Dryan­der zu erfahren, daß dieser gegen die Preisgabe des Glaubensbekenntnisses nichts einzuwenden hatte.28 Es gab eine Zeit, wo man glauben konnte, praktisch sei der dogmatische Standpunkt schon überwunden, damals als die philosophische und historische Aufklärung einerseits, der Pietismus andererseits bewirkt hatten, daß man, wie das Beispiel Herders und Jung Stillings zeigt, ein frommer Christ sein konnte, ohne sich an das Dogma zu halten, und als auch G ­ oethe, wie insbesondere seine letzten Äußerungen zu Eckermann lehren, sich zum Christentum bekannte. Damals wäre es Zeit und wäre es möglich gewesen, die überlieferten dogmatischen Formeln, die die ersten Jahrhunderte weniger als Richtschnur ihrer gläubigen Frömmigkeit denn als Ausdruck ihres metaphy­ sischen Gottesbegriffs, also mehr aus philosophischem als aus religiösem Bedürfnis geschaffen hatten, in aller Form fallen zu lassen, indem man es dem Einzelnen freistellte, an ihnen festzuhalten, sie aber nicht mehr für das unerläßliche Erkennungszeichen echten Christentums erklärte. Wäre damals ein Mann aufgestanden, der mit voller Einsicht in das Problem die Kraft einer begnadeten Persönlichkeit verband, er hätte den deutschen Protestantismus von der Fessel des Dogmas befreien und das Werk der Reformation vollenden können. Dieses religiöse Genie ist ausgeblieben, auch Schleiermacher, an den man am ehesten denken möchte, war es nicht.29 Statt dessen traten auf der Gegenseite Hengstenberg und Tholuck auf, die im Bunde mit der staatlichen Restauration die Rück28 Ernst von Dryander: Erinnerungen aus meinem Leben, Bielefeld und Leipzig 21922, S. 187–189. Von einer »Preisgabe« des gesamten Glaubensbekenntnisses spricht Dryander dort nicht, äußert aber seine Zustimmung zur Position Adolf Harnacks im Apostolikumstreit 1892, der den Satz über die Jungfrauengeburt als nicht fundamental für den christlichen Glauben bezeichnet hatte. 29 Haller bezieht sich hier vermutlich in erster Linie auf Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799.

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kehr zur Orthodoxie predigten und ihr, der schon totgeglaubten, zu neuem Leben verhalfen, indem sie sie mit dem Pietismus aussöhnten.30 Seitdem war es wohl zu spät, und der Versuch, das Dogma zu beseitigen, hatte wenig Aussichten mehr, als Adolf Harnack gegen Ende des Jahrhunderts ihn übernahm und damit scheiterte. Wer und was Harnack war, wissen heute die Jüngeren kaum mehr. Sie kennen seinen Namen besten Falles als den eines berühmten Kirchenhistorikers und vielseitig gebildeten Gelehrten und Schriftstellers; von dem Ansehen, das er in der ganzen Welt genoß, von seinen Verdiensten als Präsident des KaiserWilhelm-Instituts, wo er es hauptsächlich mit der Naturfor­schung zu tun hatte, spricht man nicht mehr. Damit das Andenken des Mannes nicht in Vergessenheit gerate, der ein Menschenalter und länger an der Spitze der deutschen Gelehrtenwelt gestanden hat, wäre zu wünschen, daß recht viele die Biographie läsen, in der seine Tochter, Frau von Zahn, sein Bild in mustergültiger Weise gezeichnet hat, ohne zu schmeicheln und zu beschönigen und doch pietätvoll.31 Ich habe Harnack persönlich gekannt und noch mehr über ihn von seinen Verwandten, mit denen ich nahe befreundet war, und von einigen seiner Dorpater Studienfreunde erfahren, sodaß ich mich wohl für befugt halten darf, zu sagen, wie ich ihn sehe. Nach dem, was ich weiß, tritt in der Biographie nicht deutlich genug hervor, wie weit der Abstand schon des werdenden Theologen vom Glauben der Kirche war. Seine Altersgenossen haben den Studenten für das gehalten, was man einen Freidenker nennt. Dadurch erklärt sich, daß er seine Kandidatenpredigt nicht, wie es Vorschrift war, in der Universitätskirche gehalten hat, nicht etwa, wie es in der Biographie heißt, weil seine Korpsbrüder einen »Ulk« geplant hätten – das war für Dorpater Studenten undenkbar – sondern weil die Freunde, die seine Anschauungen kannten, ihm erklärten, sie würden nicht dulden, daß er die Kanzel besteige. Er fügte sich und erwirkte die Erlaubnis, seine Predigt in den Ferien auf dem Lande zu halten. Schon damals also war er der Possibilist, der er zeitlebens geblieben ist, am meisten im Streit um das Apostolikum, der ihm außer heftigen öffentlichen Angriffenen einen ministeriellen Verweis eintrug.32 Die Episode ist in der Biographie nach den Akten dargestellt, er selbst hat sie anders erzählt. Mein Zeuge dafür ist Max Weber. Bekanntlich war der Anlaß, daß er seinen Zuhörern geraten hatte, das Apostolikum, dessen späte Entste30 Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869), deutscher lutherischer Theologe, 1827 Gründer der orthodoxen, d. h. lutherisch-konservativen »Evangelischen Kirchenzeitung« (NDB 8, S. 522 f.); August Tholuck (1799–1877), deutscher evangelischer Theologe der Erweckungsbewegung (ADB 38, S. 55–59). 31 Agnes von Zahn-Harnack: Adolf Harnack, Berlin 1936. 32 Der Possibilismus ist eine 1882 entstandene französisch-sozialistische Bewegung, die sich mit den erreichbaren politischen Zielen zufrieden geben wollte. Zu Harnacks Verhalten im Apostolikumstreit 1892 vgl. Benjamin Hasselhorn (Bearb.)/Christian Kleinert (Vorarb.): Johannes Haller (1865–1947). Briefe eines Historikers (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 71), München 2014, Nr. 75, S. 178, bes. Anm. 7.

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hung wissenschaftlich erwiesen ist, immerhin zu beschwören, aber mit dem Vorbehalt, für seine Abschaffung zu wirken. Dafür sollte er auf Verlangen des Kaisers zur Ordnung gerufen werden. Dem Ministerium war es darum zu tun, daß der Gerügte nicht zu Schritten genötigt werde, die öffentliches Aufsehen ­erregten. Darum verhandelte Althoff mit ihm über einen Wortlaut, der das ­vermied und zugleich dem kaiserlichen Befehl Genüge tat. Das glückte nach einigen vergeblichen Versuchen, indem Harnack selbst die geeignete Fassung fand. So, wie gesagt, hat er den Hergang erzählt. Daß das Ministerium die An­ gelegenheit in der Stille zu erledigen wünschte, begreift sich leichter, als daß Harnack darauf einging. Einem andern, der sich wie er die Beseitigung der Glaubensformel aus dem Amtseid der Geistlichen zum Ziel gesetzt hatte, wäre die Gelegenheit eher willkommen gewesen, die Frage – was bis dahin noch nicht geschehen war – in ihrer ganzen Breite und Tiefe vor der Öffentlichkeit aufzurollen, nötigen Falles durch Niederlegung der Professur. Harnacks Natur hätte das nicht entsprochen; er glaubte wohl, seinen Zweck ohne Geräusch erreichen zu können. Darin täuschte er sich und hat schließlich einsehen müssen und auch eingestanden, daß er seine Lebensaufgabe verfehlt habe. Er hat sie nicht lösen können, weil ihm, was die Biographie nicht ausspricht, eine Eigenschaft fehlte, die man beim Mann der Wissenschaft für einen Fehler zu halten pflegt, die aber zum kirchlichen Reformator notwendig gehört, wenn er Erfolg haben soll: die Leidenschaft. Harnack war leidenschaftslos. Darin lag seine Stärke. Die kühle Ruhe eines unerschütterlichen innern Gleichgewichts war es, die ihm eine so spürbare Überlegenheit im persönlichen Umgang verlieh und ihn in wissenschaftlicher Polemik als Sieger erscheinen ließe, auch wo er nicht recht hatte wie gegen Overbeck.33 Sie erlaubte ihm auch, die Anmut und Liebenswürdigkeit seiner Persönlichkeit wirken zu lassen, mit der er jeder­ mann, vom Kaiser bis zum jüngsten Studenten, zu gewinnen, ja zu bezaubern wußte. Ein Kämpfer war er nicht, viel eher ein Ireniker. Gegensätze auszu­ gleichen, zu versöhnen und die höhere Einheit zu finden, in der sich widersprechende Standpunkte vereinigen ließen, war sein Bestreben. Das mag er von seinem Dorpater Lehrer Alexander von Oettingen gelernt haben, dessen Leidenschaft es war, zwischen widerstreitenden Ansichten »den Consensus zu formulieren.«34 Treffend hat er sich selbst gekennzeichnet mit der gelegentlich hingeworfenen Bemerkung: »wo man gemeinhin ›entweder oder‹ sagt, kann man meist sagen ›sowohl als auch‹«. In seinem »Wesen des Christentums« hat er ­ausgesprochen, es sei ihm darum zu tun, zu zeigen, daß man sich für einen Christen halten dürfe, ohne etwas von moderner Geisteskultur preiszugeben.35 33 Vgl. dazu oben Kapitel V.5. 34 Alexander von Oettingen (1827–1905), deutschbaltischer evangelischer Theologe, 1856–1890 Professor für Systematische Theologie in Dorpat (BBL, S. 555 f.). 35 Adolf Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten, Leipzig 1900. Haller hat den Versuch Harnacks, christliche Lehre und Moderne miteinander zu

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Overbecks Entgegnung traf seine schwache Stelle: die alten Christen verlangten, für ihren Glauben zu sterben. Sich zu opfern lag Harnack fern, darum hat er auch die Rücksichten der Dankbarkeit, die ihn an den einstigen Kaiser banden, ohne Zögern bei Seite geschoben und die persönliche Fühlung mit den Machthabern der Republik aufgenommen, als es galt, den Einfluß bei der neuen Re­ gierung zu behalten, den er als Präsident des Kaiser-Wilhelm-Instituts zum Nutzen der Wissenschaft nicht entbehren zu können glaubte. Er hätte zurücktreten, die Aufgabe einem andern überlassen könnten, und man kann finden, das hätte er tun sollen. Aber wie er für seinen Glauben nicht gestorben wäre, so wollte er auch nicht aus Pietät darauf verzichten, zu leben und zu wirken. Indem ich mich bemühe, das Bild der letzten Jahre vor 1914 in der Erinnerung wieder aufleben zu lassen, kommt mir erst ganz zum Bewußtsein, wie zwiespältig es war. Äußerer Glanz, schnell wachsender Reichtum, weit aus­ greifende Unternehmungslust, feste Ordnung, kurz alle Zeichen des Gedeihens, und doch nicht die entsprechende Stimmung, die sich der Gegenwart freut und der Zukunft vertraut. Die sorglose Zuversicht der Anfangsjahre des Jahrhunderts war einer Unruhe, einer Unzufriedenheit gewichen, die sich mit der äußeren Kraftentfaltung nicht in Einklang bringen ließ. Dem Beobachter mußte das Emporschießen satirischer und selbstkritischer Tagesliteratur auffallen, immer ein sichers Zeichen inneren Unbehagens, gestörten Gleich­ gewichts. Der überall verbreitete Münchener »Simplizissimus«, künstlerisch und schrift­stellerisch glänzend bedient, in der Gesinnung nichtsnutzig, ließ mit seiner Selbstverspottung kein gutes Haar an Deutschland, wie es war; Hardens ­»Zukunft« in gut bürgerlichen Kreisen immer noch viel und mit naivem Beifall gelesen, sekundierte in der Maske des empörten Patrioten; bei beiden war die zersetzende Absicht unbestreitbar.36 Ungewollt wirkte in der gleichen Richtung die Tätigkeit des Alldeutschen Verbandes. Ich habe sie, seit ich sie kennen lernte, für höchst verderblich gehalten, ohne die zweifellos gute Gesinnung zu ver­kennen. In der rückhaltlos geübten Kritik vermißte ich Klarheit des Urteils ebenso wie des Wollens. Aus den immer aufs neue wiederholten Anklagen und Kassandra­rufen sprach eine Gleichgültigkeit gegen die Grenzen des Möglichen und zugleich eine Höhe der Ansprüche, die gar kein Maß zu kennen schien. Deutschland, so mußte man schließen, durfte alles fordern, hätte auch alles h ­ aben können, wenn seine Vertretung gewesen wäre, wie sie sein sollte. Was es zu wollen galt, wo die Lebensinteressen lagen und wie sie wahrzunehmen seien, erfuhr man nicht, erhielt auch darum keine Belehrung, keine Klärung des Urteils und hörte nur immer neue Angriffe auf die Regierung. Einen klassischen Vertreter dieser Spezies hatte ich in Gießen neben mir in dem vereinbaren, schon früher kritisiert: vgl. Benjamin Hasselhorn (Bearb.)/Christian Kleinert (Vorarb.): Johannes Haller (1865–1947). Briefe eines Historikers (Deutsche Geschichts­ quellen des 19. und 20. Jahrhunderts 71), München 2014, Nr. 105, S. 239 f. 36 Maximilian Harden (eigentlich: Felix Ernst Witkowski) (1861–1927), deutscher Publizist (NDB 7, S. 647–651).

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Chemiker Hans von Liebig, einem Enkel von Justus Liebig.37 Er hat während des ersten Weltkrieges einiges Aufsehen durch seine Pamphlete gegen Bethmann Hollweg gemacht und ist bald hernach ziemlich jung gestorben. Nie ist mir ein Mensch begegnet von größerer Eigenrichtigkeit und hartnäckigerer Unbelehrbarkeit, Eigenschaften, mit denen er sich die Wirkung verdarb, auch da, wo er recht hatte, wie gegenüber Bethmann. Wie verbreitet das Organ des Verbandes, die »Alldeutschen Blätter« waren, kann ich nicht sagen; die übrige Presse nahm – ich vermute auf Verabredung oder höhere Weisung – kaum von ihnen Notiz. Aber daß sie viel dazu beigetragen haben, die Köpfe zu verwirren und die vorhandene Neigung zur Selbstüberschätzung zu steigern, ist mir nicht zweifelhaft. Zweifel an der eigenen Kraft wurden überhaupt nicht laut, ich kann mich nicht entsinnen, sie je vernommen zu haben; fast klang es, als könnte man alles, was man wollte, und nur die Regierung wäre schuld, wenn nicht alles so stand, wie man wünschte. Mich ärgerte dabei besonders, daß sich diese Propaganda der Maßlosigkeit mit dem Schilde Bismarcks zu decken liebte, von dem man am wenigsten gelernt, den man am gründ­lichsten mißverstanden hatte. Darum habe ich schon 1905, als mir die Aufgabe zufiel, bei der Grundsteinlegung eines Bismarckturms bei Gießen die Rede zu halten, den großen Kanzler als Vorbild der Mäßigung geschildert, natürlich ohne Wirkung, vermutlich ohne überhaupt verstanden zu werden.38 Der durchschnittliche deutsche Patriot sah nun einmal in Bismarck nur den Mann der kühnen Tat, den Revolutionär des europäischen Staatensystems, der er von 1864 bis 1870 gewesen war, und übersah vollständig die viel längere und viel lehrreichere Zeit seiner späteren Amtsführung mit ihrer vorsichtigen Enthaltsamkeit gegenüber dem bloß Wünschbaren, aber nicht Notwendigen, mit ihrer aufmerksamen Beachtung von Zielen und Bedürfnissen anderer Mächte und ihrer abwartenden Zurückhaltung gegenüber der natürlichen Entwicklung der Dinge. So kam es dahin, daß der Meister des Augenmaßes in der Politik zum Schutzpatron einer Gilde erhoben wurde, die die Maßlosigkeit p ­ redigte, nicht wußte, was sie konnte, nicht einmal, was sie wollte, und in kleinbürgerlich philisterhafter Beschränktheit nichts weiter zu tun verstand, als auf die Regierung zu schelten. Gemeint war damit in erster Linie der Kaiser. Wilhelm II. hatte es sich selbst zuzuschreiben, wenn das Volk für alles, was geschah oder ausblieb, ihn vorzugsweise verantwortlich machte. Er hatte die Welt durch seine Reden zu sehr daran gewöhnt, in ihm die eigentliche Triebkraft aller Handlungen zu sehen und von ihm das Größte zu erwarten. Nur zu natürlich, wenn, je länger man warten mußte, ohne daß die kühnen Verheißungen sich erfüllten, die Kritik immer 37 Hans von Liebig (1874–1931), deutscher Chemiker und alldeutscher Publizist (NDB 14, S. 497). Haller bezieht sich hier auf: Hans von Liebig: Die Politik von Bethmann-Hollwegs. Eine Studie, 3 Bde., München 1919. 38 Johannes Haller: Rede gehalten bei der Grundsteinlegung des Bismarckturms der Gießener Studentenschaft am 29. Juli 1905, Gießen 1905. Vgl. dazu auch oben Kapitel V.3.

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­ nfreundlicher wurde. Der humorvolle Spott war allmählich zum Schweigen u gekommen, der in den neunziger Jahren manchen witzigen Ausdruck gefunden hatte, wie etwa in dem angeblichen Telegramm an die Kaiserin: ­»Soeben Kinder­ stube alarmiert, Kindermädchen umgestürzt, Amme zerschmettert, stille selbst«; oder in der Parodie der Goetheverse: Vom Vater fehlt mir die Statur, Die Kunst zu imponieren; Von Muttern hab ich die Natur, In jedem Dreck zu rühren –39

Bosheiten, die allenthalben wiederholt wurden, aber, wie ich zu meiner Verwunderung feststellen konnte, im engeren Kreise des Hofes gar nicht bekannt geworden sind. Zunächst war im niederen Mittelstand, bei Gevatter Schneider und Handschuhmacher, die entgegengesetzte Stimmung aufgekommen. Da bewunderte man den Herrscher, der die Phantasie so sehr beschäftigte und einem so viel zu sehen gab, und wenn zu gleicher Zeit das Brot so reichlich und billig war, so übten die Spiele, die in Gestalt von Paraden, Einzügen, Denkmalsfeiern und dergleichen geboten wurden, ihre Wirkung auf die Menge. Um 1900 hatte man in den Barbierstuben, wo oft die Zungen sich lösen, von »unserem glänzenden, unserem genialen Kaiser« können sprechen hören und wo immer er sich zeigte, war der Jubel groß gewesen. Ich glaube, das unterstreichen zu sollen, da es heute wohl gründlich vergessen ist, daß Wilhelm II. einmal volkstümlich, beliebt und bewundert war. Die gebildete Schicht der Nation hat das nicht mitgemacht, da überwog wenn nicht geradezu Verurteilung, so doch eine reichlich skeptische Einschätzung von Persönlichkeit und Fähigkeiten des Kaisers. Man spottete mit der Zeit nicht mehr, aber man schüttelte die Köpfe und schien darauf zu verzichten, diesen Herrscher zu verstehen, ihn sozusagen auf einen allgemein menschlichen Nenner zu bringen. Er war nun einmal besten Falls inkommensurabel, und wer ihn nicht schon ganz aufgegeben hatte, der fragte sich doch mit Besorgnis, was wohl von ihm noch zu erwarten wäre, worauf man sich nicht alles gefaßt machen müsse. Auch ich habe ähnlich empfunden, einmal sogar gegenüber einer klugen altpreußischen, aber keineswegs verblendeten Dame die Bemerkung gewagt, das Bild Wilhelms II. trage in meinen Augen die Züge des Herrschers, der seine Krone verliert. Dennoch, wenn ich meine Erinnerung prüfe, kann ich nicht finden, daß ich ihn damals anders beurteilt hätte als später, wo mir vieles über ihn bekannt geworden war, was ein Fernstehender nicht wissen konnte. Im Grunde habe ich über den Kaiser von jeher so gedacht, wie ich mich in der zwei39 Anspielung auf Johann Wolfgang von Goethe: Zahme Xenien, in: Johann Wolfgang G ­ oethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 13.1, München 1992, S. 228. Im Original heißt es: »Vom Vater hab ich die Statur / des Lebens ernstes Führen / Von Mütterchen die Frohnatur / Und Lust zu fabulieren.«

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ten Bearbeitung meiner »Epochen der deutschen Geschichte« ausgesprochen habe.40 Sein 75. Geburtstag gab mir 1934 Gelegenheit, meine Ansicht in einem Aufsatz niederzulegen, den das offiziöse Deutsche Nachrichtenbüro gewünscht hatte, der aber nicht zum Abdruck gelangte, weil unmittelbar vorher aus Doorn auf eine Begrüßung durch bayrische Offiziere eine Antwort ergangen war, die, wahrscheinlich von einem törichten Adjutanten verfaßt, wie ein Aufruf zu schleuniger Wiederherstellung der Monarchie gedeutet werden konnte.41 Vom Einfluß des Geschriebenen auf den Gang der Ereignisse halte ich nicht viel und bin noch weniger geneigt zu glauben, daß meinen Worten eine praktische Wirkung beschieden gewesen wäre. Aber zur Klärung des Urteils in den Köpfen nachdenkender Zeitgenossen hätten sie vielleicht doch beitragen können, wenn sie, wie es geplant war, vom Chor der Presse wiederholt wurden.42 Was ich damals schrieb, ist auch heute meine Meinung, in der mich alles, was inzwischen geschehen und bekannt geworden ist, nur hat bestärken können. Ich glaube sogar, die Welt wird dereinst nicht anders urteilen, je mehr der Abstand der Zeit die Flammen der Leidenschaft, die heute noch um Menschen und Dinge lodern, zum Erlöschen gebracht hat. Wilhelm II., so denke ich, ist am Zusammenbruch des Reiches gewiß nicht unschuldig, aber die größere Schuld trägt die Nation selbst, die es nicht verstanden hat, seine Fehler zu korrigieren und die seltenen Eigenschaften, die er unleugbar besaß, zum Nutzen des Ganzen zu verwerten, wie es ein politisch reifes Volk getan haben würde. Eine überraschende Bestätigung meiner Ansicht verdanke ich dem Gesandten Heinrich von Eckardt, dem ältesten Sohn meines väterlichen Freundes.43 Ich werde mich noch öfters auf ihn berufen können. Sein letzter Posten (1914–1918) war die Gesandtschaft in Mexiko, danach hat er kurze Zeit die deutsche Republik im Völkerbund vertreten. Er erzählte mir, er habe 1912 vom damaligen französischen Ministerialrat, späteren Botschafter in Berlin, de Margerie, im Gespräch über den Kaiser den Ausruf gehört: »Ah, ce que nous n’aurions pas 40 Johannes Haller: Die Epochen der deutschen Geschichte, erweiterte Auflage Stuttgart und Berlin 1939, S.  381: »Die Geschichte Wilhelms II. haben wir hier nicht zu erzählen, diese Tragödie nicht eines Menschen und Herrschers, sondern einer Nation. Man kann es nicht oft genug wiederholen: die Nation im ganzen hat tragische Schuld auf sich geladen, erstrebt zu haben, was über die Kräfte ging. Aber im Kaiser, der nur das Beste wollte und oft richtiger sah als andere, fanden die Fehler der Nation einen persönlichen Ausdruck, wie nur selten ein Zeitalter und eine Generation in einem Herrscher Gestalt angenommen haben. Daraus entstand das Trauerspiel vom Untergang des Deutschen Kaisertums, deutscher Macht und Freiheit.« Zu Hallers Beurteilung Wilhelms II. vgl. außerdem oben­ Kapitel VII.1. 41 Entwurf Johannes Hallers für einen Artikel über Wilhelm II. (1934): UAT 305/1c und UAT 305/7 (maschinenschriftlich). Vgl. oben Kapitel VII.1. 42 Hiernach folgt im maschinenschriftlichen Manuskript: »Man findet sie unten in der Anlage.« Haller hat also den Abdruck seines bis dahin unveröffentlichten Textes über Wilhelm II. als Anhang zu seinen Lebenserinnerungen geplant. 43 Heinrich von Eckardt (1861–1945), deutscher Diplomat, Sohn Julius von Eckardts (NDB 4, S. 282).

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fait de ce petit Guillaume!«44 Die deutsche Nation hat mit dem Kaiser nichts anzufangen gewußt, weil sie politisch noch in den Kinderschuhen steckte, und mehr noch, weil seine Fehler ihre eigenen waren: Selbstüberschätzung, Eitelkeit, mangelndes Augenmaß im Erfolg, Verzagtheit und Ratlosigkeit, wenn es schief ging. Diese Übereinstimmung war um so verhängnisvoller, weil dem Kaiser die Vorzüge fehlten, die niemand dem deutschen Volk absprechen kann: Fleiß und Ausdauer. Der Freund, der Wilhelm II. am besten von allen kannte, Fürst Eulenburg, hat mir oft versichert, das Unglück des Kaisers sei gewesen, daß er das Arbeiten nicht gelernt habe. Er habe garnicht gewußt, was arbeiten eigentlich sei. »Wenn er zum Frühstück erschien und, sich die Stirne reibend, seufzte, er habe ›entsetzlich geschuftet‹, so hatte er nur vierhundertmal seinen Namen geschrieben.« Weil er regieren wollte, ohne wirklich zu arbeiten, wurde er mit jedem Tag abhängiger von seiner Umgebung, seinen Beamten. Die veröffentlichten Akten zeigen, wie oft er mit seiner raschen Auffassung und seinem natürlichen Verstand die Lage richtiger beurteilt hat als Minister und Räte, wie wenig er sich jedoch durchzusetzen vermochte, weil er den Dingen nur mit glücklichen Einfällen, statt mit durchdachtem Urteil gegenüberstand. So konnte es kommen, daß ihm Fehler in die Schuhe geschoben wurden, gegen die er sich vergeblich gesträubt hatte, wie z. B. das unglückselige Telegramm an den Präsidenten Krüger (1896), zu dem ihn der Staatssekretär Marschall gedrängt hat.45 Ich halte diese vom Kaiser selbst vertretene Version für die ­richtige, unter anderem darum, weil Heinrich von Eckardt, der lange in Konstantinopel unter Marschall gearbeitet hatte, mir auf die Frage, wie er die Entstehung dieses Telegramms beurteile, kurzweg und mit stärkster Betonung antwortete: »Marschallsche Mache!« Weil er nicht mitarbeitete, so wurden dem Kaiser allmählich die wichtigsten Dinge vorenthalten und Entscheidungen von größter Tragweite vorweggenommen, indem man ihn vor vollendete Tatsachen stellte. Von den gescheiterten Bündnisverhandlungen mit England 1900/1901 hat er nachweislich nichts erfahren, und zum Kriege 1914 hat es nur kommen können, weil man ihn von den Verhandlungen, die dem Ausbruch vorausgingen, ferngehalten hatte. Wäre er nicht bewogen worden, trotz der kritischen Lage seine gewohnte Nordlandsfahrt anzutreten, vorgeblich um keine Unruhe zu verbreiten, in Wahrheit um die Bürokraten des Auswärtigen Amtes nicht zu stören, die Dinge hätten wohl eine andere Wendung genommen.

44 Ah, was wir nicht alles mit diesem kleinen Wilhelm gemacht hätten (französisch). Pierre de Margerie (1861–1942), französischer Diplomat, 1922–1931 Botschafter in Berlin (ABF II, 352, S. 374). 45 Adolf Marschall von Bieberstein (1842–1912), deutscher Diplomat, 1890–1897 Staats­ sekretär im Auswärtigen Amt, 1897–1912 Botschafter in Konstantinopel (NDB 16, S. 256 f.). In dem sogenannten »Krüger-Telegramm« vom 3.  Januar 1896 gratulierte Kaiser Wilhelm II. dem Präsidenten Transvaals, Paul Krüger, zur gelungenen Abwehr eines britischen Überfalls. Das Telegramm führte zu einer diplomatischen Krise zwischen Deutschland und Großbritannien.

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Man sage nicht, Wilhelm II. wäre zu eigenwillig und zu selbstbewußt gewesen, um sich auf die Dauer auch dem besten Rat zu fügen; er habe keinen Widerspruch vertragen, die Wahrheit nicht hören wollen, keine bedeutenden Männer um sich geduldet. Das ist nicht richtig. Zu den schon bekannten Zeugen hierfür, unter denen sogar der dem Kaiser keineswegs günstig gesinnte von Kiderlen-­Wächter zu finden ist, kann ich noch einige weitere anführen.46 Admiral ­Souchon hat mir eifrig zugestimmt, als ich meinte, dem Kaiser habe man alles sagen können, nur hätte es in der richtigen Form geschehen müssen, eine Bedingung, die wohl jeder von uns stellen würde.47 Von General von Einem hat mir dessen Sohn folgenden bezeichnenden Vorfall erzählt.48 Einem, soeben zum Kriegsminister ernannt, hält in Potsdam auf der Terrasse des Neuen Palais seinen ersten Vortrag in Gegenwart des Generals von Plessen, Kommandierenden des Hauptquartiers.49 Der Kaiser verwirft das Gehörte, Einem widerspricht. Der Kaiser zu Plessen: »Sagen Sie dem jungen Mann, daß hier nicht wider­sprochen werden darf.« Einem, sich erhebend: »Wenn E. M. auf mein Urteil keinen Wert legen, bin ich als Minister wohl überflüssig.« S. M.: »Na, na, doch nicht gleich so hitzig! Wie meinten Sie?« Einem wiederholt seine Äußerung, der Kaiser geht darauf ein und erklärt sich nach kurzem Disput einverstanden. Wie oft hat mir Fürst Eulenburg wiederholt, der Kaiser hätte es nur nicht vertragen, vor Zeugen durch Kritik oder Widerspruch in ungeeigneter Form bloßgestellt zu werden. Waldersees Sturz als Generalstabschef hatte keine andere ­Ursache.50 Es war bei den großen Manövern in Schlesien 1890, der Kaiser hatte den Sturm auf eine Höhe nach Überschreitung der Neiße befohlen; er mißlang und mußte aufgegeben werden. In der Kritik vor großem Kreise sagte Waldersee u. a.: »Ihre Maßnahmen, Majestät, waren voll­kommen verfehlt; im Ernstfall hätten Sie keinen Mann aus diesem Wurstkessel herausge­bracht.« Bei der nachfolgenden Tafel war der Kaiser die längste Zeit ernst und schweigsam, dann trank er Waldersee zu mit den Worten: »Heute haben sie mir’s aber ordentlich gegeben.« Worauf Waldersee: »Hoffentlich nützt es etwas.« So nach dem Bericht eines Anwesenden. Daß der Kaiser es übelnahm, ist wohlverzeihlich. Wer das zu vermeiden wußte, konnte ihm alles sagen. Und wie viel hat ihm Eulenburg nicht im Laufe der Jahre gesagt, ohne daß es ihm verübelt worden wäre! Wenn es nicht wirkte, so war der Grund, daß die Stimme des Ei­nen durch den Chor der Schmeichler und Streber jedesmal bald übertönt wurde. Wiederholt hat mir der Fürst auch versichert, der Führung eines einzelnen hätte sich der Kaiser niemals 46 Alfred von Kiderlen-Waechter (1852–1912), deutscher Diplomat, 1900–1910 Gesandter in Bukarest, 1910–1912 Staatssekretär im Auswärtigen Amt (NDB 11, S. 574 f.). 47 Wilhelm Souchon (1864–1946), deutscher Admiral (NDB 10, S. 332). 48 Karl von Einem (1853–1934), preußischer General, 1903–1909 Kriegsminister (NDB 4, S. 394 f.). 49 Hans von Plessen (1841–1929), preußischer Generaloberst, 1892–1918 Kommandant des kaiserlichen Hauptquartiers (NDB 13, S. 580). 50 Alfred Graf von Waldersee (1832–1904), preußischer General, 1888–1891 Chef des Generalstabs (DBA III, 960, S. 309–315).

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auf die Dauer unterworfen, wie er es schon gegenüber Bismarck nicht getan hatte, aber dem bestimmten Willen der Nation hätte er sich ohne Zögern gefügt. Denn im Geist und Sinn des Volkes zu regieren, sei sein Ehrgeiz gewesen (vielleicht weil es seiner beifallsbedürftigen Eitelkeit schmeichelte), und so habe er auch zu regieren geglaubt, bis er eines Tages aus diesem Traum aufgeschreckt wurde. Wilhelm II. mitschuldig am Untergang Deutschlands, aber weniger schuldig als die Nation selbst – ich glaube, so wird die Nachwelt urteilen, wenn einmal Zeit genug über die Folgen dieser unheilvollen Regierung hinweggegangen sein und die Empfindungen be­schwichtigt haben wird, mit denen wir, die Mit­lebenden und Mitleidenden, den Ereignissen noch gegenüberstehen. Das ist keine uneingeschränkte Verurteilung, aber ebenso wenig ein Freispruch, darum habe ich es auch abgelehnt, die literarische Verteidigung des Kaisers zu übernehmen, die mir in seinem Namen recht dringend nahegelegt wurde. Meine Rechtfer­tigung des Fürsten Eulenburg war es, die die Kaiserin Hermine veranlaßte, mich mit einer längeren persönlichen Unterredung und wiederholten brieflichen Mitteilungen zu beehren. Sie glaubte wohl, ich würde es verstehen, ihrem hohen Gemahl den gleichen Dienst zu erweisen, zu dem dann ein gewisser Nowak sich herangedrängt hat.51 Ich durfte das nicht, weil ich mir darüber klar war, daß in diesem Fall die Verteidigung nur auf mildernde Umstände, niemals auf Freisprechung antragen konnte. Darum bin ich der wiederholten Einladung nach Doorn ausgewichen, hätte ich sie angenommen, so wäre eine Ablehnung des Auftrags nicht mehr möglich gewesen. Ich bedaure das, denn ich bin dadurch der persönlichen Bekanntschaft des interessantesten meiner Zeitgenossen verlustig gegangen und habe den Zauber seiner menschlichen Liebenswürdigkeit nicht kennengelernt. Gesehen habe ich ihn öfters, zum ersten Mal im August 1890 in Reval, wo er auf der Fahrt zu den russischen Kaiser­ manövern an Land gestiegen war. Einen sympathischen Eindruck habe ich von seiner Erscheinung weder damals noch später erhalten. Mich befremdete die glattgestriegelte Eleganz; auch die Hast, mit der er sich aus dem Wagen springend in die Arme des ihn erwartenden Großfürsten Wladimir stürzte, schien mir mehr der Art eines jugendlichen Gardeoffiziers als dem Auftreten eines deutschen Kaisers angemessen.52 Das war natürlich nur eine Äußerlichkeit, aber das leise Unbehagen, das ich empfand, bin ich nie ganz losgeworden, so oft ich ihn sah. Immer war mir, als raunte mir eine innere Stimme ins Ohr: Das ist nicht der rechte Mann am rechten Platz, kann es nicht sein! Ich habe gesucht, sie zum Schweigen zu bringen, aber die Stimme hatte recht. So viel immer man am Kaiser als Regenten auszusetzen hatte, seine Lebensführung, sein Umgang galten als unangreifbar, bis im Herbst 1906 Maximilian Harden in seiner »Zukunft« mit dunklen Anspielungen auftrat, die erraten 51 Karl Nowak (1882–1932), österreichischer Journalist, erhielt von Kaiser Wilhelm II. im Doorner Exil Einsicht in Archivmaterial (ÖBL 7, S. 165 f.). Vgl. Karl Nowak: Das dritte deutsche Kaiserreich, 2 Bde., Berlin 1929. 52 Vladimir Alexandrovič (1847–1909), Großfürst von Russland (BaBA II, S. 295).

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ließen, daß zwei nächste Freunde des Herrschers, Graf Kuno Moltke und Fürst Philipp Eulenburg, zur Gattung der Perversen gehörten.53 Weitere Enthüllungen derselben Art folgten, und mit einem Mal erschien die Umgebung des Kaisers durchsetzt von moralisch anrüchigen und schon darum auch politisch ­gefährlichen Elementen. Man blickte in einen Abgrund, und nahezu drei Jahre lang wurde die Welt durch häßliche Sensationsprozesse in Atem gehalten, in ­denen der Ruf des preußischen Hofes Schiffbruch litt. Den Verlauf der Angelegenheit habe ich in der Biographie des Fürsten Eulen­ burg behandelt und brauche darauf nicht zurückzukommen, da ich nicht die Geschichte jener Tage zu schreiben, sondern nur zu berichten habe, wie ich sie erlebte. (Aus dem Leben des Fürsten Philipp zu Eulenburg-Hertefeld. Berlin 1926. 2. Auflage). Daß die Beschuldigung keinen Glauben verdiene, war mir niemals zweifelhaft; ich sah das Bild eines politischen Prozesses, und was von einem solchen zu halten sei, wußte ich aus manchen Beispielen der Vergangenheit, zumal wenn der Ankläger ein sensationshungriger, gewissenloser Literat von bedenklichem Rufe war, während die wahren Urheber im Dunklen blieben. Den Fürsten Eulenburg kannte ich nicht und ahnte nicht von ferne, daß ich einmal seine Rechtfertigung führen würde. Gehört hatte ich genug von ihm durch die edelste Frau, die mir im Leben begegnet ist, die Schwieger­mutter meines Freundes Uexküll, Gräfin Luise Schwerin geborene Nordeck zu Rabenau, die ich auf ihrem Schloß Friedelhausen bei Gießen oft besuchen durfte.54 Sie war mit dem Fürsten befreundet und hatte mit hoher Anerkennung von ihm gesprochen, auch von der Enttäuschung erzählt, die ihm Wilhelm II. als Herrscher bereitet hatte. Das genügte mir, um die sittliche Anschwärzung seiner Person für Verleumdung zu halten und dem Bilde des politischen Schädlings, der den Herrscher durch Schmeichelei verderbe und mit romantischer Phantastik auf Abwege locke, den Glauben zu versagen. Im übrigen empfand ich Teilnahme für ihn wie für jeden, den ich unschuldig leiden sah. Was mich empörte und erschütterte, war das Verhalten der deutschen Öffentlichkeit. Daß die Feinde der Monarchie, Sozialdemokraten, Demokraten und andere, sich mit unverhohlener Freude auf den »Fall« stürzten, konnte niemand ­befremden. Um so mehr hätte sich für alle, die sich zum monarchischen Staat bekannten – und das tat doch immer noch der größere Teil des Volkes – das Gegenteil von selbst verstehen müssen. Statt dessen, was geschah? Garde­ offiziere brachten den Skandal ins Rollen, der Kronprinz ließ sich vorschieben, der Kaiser selbst, immer hastig und unbesonnen, erweckte durch sein Eingreifen den Anschein, die Anschuldigungen ernst zu nehmen. Er hat es in Wirklichkeit nie getan. In seinen Erinnerungen begnügt er sich zwar mit der faden Wendung, über Schuld oder Unschuld des Angeklagten werde »die Geschichte 53 Vgl. dazu oben Kapitel VII.1. 54 Jakob von Uexküll (1864–1944), deutschbaltischer Biologe, 1924 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, 1925–1940 Leiter des Instituts für Umweltforschung in Hamburg, enger Freund und Briefpartner Johannes Hallers (BBL, S. 817).

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urteilen«.55 Ich habe aber den Brief gelesen, in dem er nach dem Tode des Fürsten beteuert, von der Unschuld des Freundes immer überzeugt gewesen zu sein. Dies auch öffentlich zu bekennen, solange es Zeit war, hat er den Mut leider nicht gefunden. Das Ärgste tat die Regierung. Sie versagte dem Angegriffenen den Rechtsschutz, den sie jedem Beamten schuldete. Der Staatsanwalt erhob keine Anklage, und das Disziplinarverfahren, das die Beschuldigten gegen sich selbst beantragten, wurde abgelehnt. Zwei der höchsten Staatsdiener, ein kommandierender General und ein Botschafter sahen sich in aller Form preisgegeben. Wer konnte sich wundern, wenn daraufhin die Presse fast einstimmig über sie herfiel? Seltene Ausnahmen waren es, daß Hans Delbrück in den »Preußischen Jahrbüchern« und die »Frankfurter Zeitung«, bei der man Harden aus eigener Erfahrung kannte, in den Chor nicht einstimmten.56 Das bürgerliche, das anständige Deutschland schwelgte in dem Schauspiel, daß zwei vornehme Herren und Freunde des Kaisers vor den Augen der ganzen Welt durch die Gosse geschleift wurden. Vom politischen Instinkt der Deutschen hatte ich schon früher nicht viel gehalten, dies aber war doch mehr, als ich erwartet hätte. Republiken können manchen Schmutz vertragen, die Monarchie braucht die weiße Weste. Wenn das nicht empfunden wurde, wie stark mußte die verhaltene Erbitterung gegen die regierende Gesellschaftsschicht, den Herrscher inbegriffen, schon angeschwollen sein! Und sie wehrte sich nicht einmal, im Gegenteil! Woher sonst als aus den hohen und höchsten Kreisen selbst, konnte Harden das Gift für seine Pfeile erhal­ten haben? Dort also, wo man gegenüber der andrängenden demokratischen Hochflut alle Ursache hatte zusammenzustehen, in vereinter Anspannung aller Kräfte die Dämme zu halten, dort sogar waren Neid und Eifersucht stärker als der schlichte Trieb der Selbsterhaltung, und fröhlich sägte man an dem Ast, auf dem man saß. Völlig unbegreiflich erschien das Verhalten der Regierung, es sah aus wie ein Maß von Ungeschick und Feigheit, das zu den schwersten Besorgnissen Anlaß geben konnte. Hatte sie nicht die Macht, das Ärgernis rasch zu ersticken, oder wollte sie es nicht? Mochten die Ansichten darüber geteilt sein, ob an Hardens Anklagen etwas Wahres sei, darüber waren wir doch alle einig, daß es Pflicht der Regierung war, darüber zu sorgen, daß das Ansehen der Krone, des Monarchen und seiner Umgebung nicht Schaden litt. Das Gegenteil geschah. Die Art, wie der Reichskanzler eine offenbar bestellte Anfrage im Reichstag befürwortete, ließ keine andere Deutung zu, als daß er die Gelegenheit benutzte, um sich vor der Übermacht einer Kamarilla von persönlich anrüchigen Höflingen in den Schutz der Öffentlichkeit zu flüchten. 55 Kaiser Wilhelm II.: Aus meinem Leben 1859–1888, Leipzig 1926, S.  228 f.: »Was an den Anklagen verschiedenster Art ist, die gegen ihn erhoben werden, darüber wird dereinst die Geschichte ihr Urteil fällen. Ich meinerseits werde ihm stets ein dankbares Andenken bewahren.« 56 Vgl. dazu Hans Delbrück: Politische Korrespondenz, in: Preußische Jahrbücher 132 (1908), S. 547–553.

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Nur zu deutlich erinnere ich mich des Eindrucks, den dieses Schauspiel machte; man hatte das Gefühl, als beginne der Boden zu wanken. Noch sehe ich mich im Gespräch mit meinem Kollegen und Freunde Arthur Schmidt auf der Rückfahrt von einem amtlichen Besuch in Darmstadt auf dem Frankfurter Bahnhof den Anschluß nach Gießen erwartend.57 Wir beklagten zunächst die unzarte Sachlichkeit, mit der gewisse Dinge, die man bisher aus Anstandsgefühl mit Stillschweigen zu übergehen gewohnt gewesen, nunmehr ohne Scheu öffent­lich beim Namen genannt und mit Behagen breit getreten wurden. Wir kamen dann auf die politische Seite der Vorgänge, die uns beiden gleich unbegreiflich, ja rätselhaft erschien, und endeten übereinstimmend mit der Frage, ob wir am Ende schon das Gegenstück zu dem berüchtigten Halsbandprozeß erlebten, der den Auftakt zur Französischen Revolution gebildet hatte?58 Viele Jahre später – meine Rechtfertigung Eulenburgs war inzwischen erschienen – ist mir die gewünschte Aufklärung über das Verhalten und die Beweggründe des Reichskanzlers zuteil geworden. Aus der nächsten persönlichen und amtlichen Umgebung des damaligen preußischen Justizministeriums sind mir Mitteilungen zugegangen, die keinen Zweifel lassen, daß und warum Fürst Bülow selbst bei der Verfolgung der Freunde des Kaisers die Hand im Spiele gehabt hat. Nach seinem Ohnmachtsanfall im Reichstag, der ja für einen Schlaganfall ausgegeben wurde, hatte er den Besuch Eulenburgs empfangen, der ihm in ehrlicher Teilnahme riet, wenn er sich nicht zu Grunde richten wolle, sein schweres Amt aufzugeben und sich auf den Statthalterposten in Straßburg zurückzuziehen. Bülow argwöhnte, Eulenburg wolle ihn verdrängen, und beschloß, den Freund unschädlich zu machen, indem er Harden freie Hand zum Vorgehen ließ, zu dem ihn Eulenburgs Feinde trieben.59 Über die vollendete Niedertracht dieses Verfahrens kann sich niemand aufregen, es paßt durchaus in das Selbstporträt, mit dem sich Bernhard Bülow dem Album des weltgeschichtlichen Verbrechertums eingereiht hat. Einen Ehrenplatz wird man ihm dort allerdings einräumen, wenn man weiß, daß er aus der Kaltstellung als Gesandter in Rumänien niemals in die Wilhelmstraße aufgestiegen wäre ohne die uneigennützige Hilfe des Freundes, den ans Messer zu liefern er sich nicht besann, als er seine Stellung – ohne jeden Grund  – bedroht glaubte. Daß er dabei zugleich den guten Namen des preußischen Hofes zerstörte und einen Pfeiler der Monarchie untergrub, ist ihm wohl kaum zu vollem Bewußtsein gekommen, denn für den Wert der Ehre im öffentlichen Leben haben Leute seines Schlages kein Gefühl. 57 Arthur Benno Schmidt (1861–1940), deutscher Jurist, Professuren in Gießen (1889) und­ Tübingen (1913) (HA, Nr. 775). 58 Die sogenannte »Halsbanddaffäre« war ein Betrugsskandal am französischen Hof 1785/86, dessen öffentliche gerichtliche Verhandlung das Ansehen der französischen Monarchie erschütterte. 59 Hallers Behauptung wird durch neuere Arbeiten bestätigt: Peter Winzen: Das Ende der Kaiserherrlichkeit. Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907–1909, Köln u. a. 2010, bes. S. 56–65.

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Von meinem Grundsatz, über meine eigenen Schriften und ihre Entstehung nicht zu sprechen, muß ich hier ausnahmsweise abgehen.60 Mir ist gelegentlich aus Kollegenkreisen die vorwurfsvolle Frage entgegengetreten, warum ich mich auf die Rechtfertigung des Fürsten Eulenburg eingelassen habe, und ein Oberstleutnant von Trotha hat sich nicht geschämt, mich öffentlich niedriger materieller Motive zu verdächtigen.61 Ich will also in aller Kürze feststellen, wie ich dazu gekommen bin, dieses Buch zu schreiben. Den Fürsten habe ich erst im Sommer 1915 kennen gelernt. Eine kleine Schrift von mir über die Entstehung des Weltkrieges hatte ihm so gefallen, daß er mir durch Uexküll sagen ließ, er würde darüber gern mit mir sprechen.62 In der Erwartung, nirgends mehr über die Geschichte der letzten Jahrzehnte lernen zu können, folgte ich seiner Einladung, ihn in Liebenberg zu besuchen, und wurde, wie man sich denken kann, nicht enttäuscht. Wir fanden außerhalb der Politik so viel Gemeinsames in unsern Interessen für Geschichte, Lite­ ratur und Musik, und ich lernte im Fürsten eine so seltene Vereinigung wertvollster Vorzüge des Geistes kennen, daß sich ein dauernder brieflicher und persönlicher Verkehr zwischen uns entwickelte. Bei meinen fast alljährlich wiederholten ­Besuchen nahm der Fürst Gelegenheit, mich die Papiere sehen zu lassen, von denen er seine politische Rechtfertigung vor der Nachwelt erwartete. Mein Eindruck war bald, daß er sich darin nicht täuschte, und als er mir den Wunsch aussprach, ich möchte die Veröffentlichung übernehmen, schien es mir ebenso sehr menschliche wie patriotische und wissenschaftliche Pflicht, mich dieser Aufgabe nicht zu entziehen. Mich störte zunächst die Zusammenarbeit mit Conrad Haußmann, dem württembergischen Parlamentarier, der die ju­ristische Rechtfertigung übernommen hatte.63 Von ihm trennte mich tiefe politische Gegnerschaft, die auch schon öffentlich zu scharfem Ausdruck gekommen war. Indessen für den Erfolg meines Vorhabens – das mußte ich mir sagen  – war allein der Name Haußmann so wertvoll, daß ich Unrecht getan hätte, um seinetwillen mich zu versagen. Doch kann ich nicht leugnen, daß ich mich erleichtert fühlte, als mich der Tod schon 1922 von der Mitarbeit des Juristen befreite, freilich nun auch die ganze Last auf mich allein wälzte. Die Ausführung stieß auf ein unvermutetes Hindernis, da sich die Verwandtschaft des Fürsten einer angeblich »verfrühten« Veröffentlichung zu widersetzen suchte. Zum Glück waren die letztwilligen Verfügungen des Fürsten so be60 Vgl. Johannes Haller: Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960, S. 9. 61 Möglicherweise bezieht Haller sich hier auf Friedrich von Trotha: Fritz von Holstein als Mensch und Politiker, Berlin 1931, S. 98–111. Dort wird Haller scharf kritisiert; der Verdacht »niedriger materieller Motive« fehlt allerdings. 62 Vgl. oben Kapitel VII.1. Bei der erwähnten Publikation handelt es sich um Johannes Haller: Der Ursprung des Weltkriegs, Tübingen 1915. 63 Conrad Haußmann (1857–1922), deutscher Politiker, seit 1889 Abgeordneter der Süd­ deutschen Volkspartei für den württembergischen Landtag, seit 1890 auch Reichstags­ abgeordneter (NDB 8, S. 130 f.).

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stimmt, daß ich alle Einwände zurückweisen konnte, und der Erfolg gab mir Recht. Hätte ich gezögert, so wäre das Buch zu spät gekommen und im ­Strudel der Tagesereignisse wenig beachtet worden. So war der Eindruck stärker als erwartet, in wenigen Wochen war die Auflage vergriffen, eine zweite gedruckt, und in der Presse schlug das Urteil mit einem Ruck zu Gunsten des Fürsten um. Privatim erfuhr ich, daß man sich an Stellen, die einst nicht genug gegen ihn hatten hetzen können, schämte, sich so schwer geirrt, und den einzigen Freund zu Grunde gerichtet zu haben, den man in der Nähe des Kaisers hatte. Nur zu bald aber kamen Rückschläge, die mir die Freude an dem Werk verdarben. Zunächst machte der Verleger Bankrott, nachdem er noch rasch hinter meinem Rücken eine französische und eine englische Ausgabe veranstaltet hatte.64 Die ganze zweite Auflage wurde verschleudert, das Buch verschwand vom Markt und geriet in Vergessenheit. Dann ließ sich die Familie des F ­ ürsten gegen meine wiederholten dringenden Vorstellungen von einem Berliner Asphalt­ literaten bereden, auch ihm den Nachlaß zum Zweck einer »volkstümlichen« Lebensbeschreibung zur Verfügung zu stellen, die ziemlich kitschig ausfiel, aber den Eindruck meines Buches verwischte.65 Noch schlimmer jedoch wirkte, daß die Witwe des Fürsten in übergroßem Eifer für das Andenken ihres Gemahls sich bewogen fühlte, einige mehr feuilletonistische Stücke aus seinem Nachlaß, die ihr persönlich vermacht waren, ohne meinen Rat in wenig ge­eigneter Gestalt h ­ erauszugeben, sodaß der Eindruck, den man aus meiner Darstellung von der Persönlichkeit des Fürsten hatte gewinnen können, abgeschwächt wurde.66 Und schon meldete sich als Kritiker der »Kollege«, der mich tadelnd belehrte, daß ich mich hätte täuschen lassen. Wie sollte er anders? Er hätte ja fürchten müssen, sein Gehalt nicht zu verdienen, wenn er, der den Fürsten nie gesehen hatte, ihn nicht besser zu kennen glaubte als ich nach jahrelangem Umgang. Das ist nun nicht mehr zu ändern, und ich muß mich über den teilweisen Mißerfolg mit dem Bewußtsein trösten, einer guten Sache so weit gedient zu haben, wie die Umstände und meine Kräfte es erlaubten. Verstanden hat mich ein hoher Staatsbeamter, der ehemalige Regierungspräsident Schneider von Schleswig, in den zwanziger Jahren in Tübingen lebend mein Nachbar, der, nachdem er mein Buch gelesen hatte, mich aufsuchte, um mir zu sagen: »Ich begreife, daß Sie das schreiben mußten, wenn Sie es wußten und ein anständiger Mensch bleiben wollten«. Eine Denkweise, die in Deutschland schon früher nicht häufig ­anzutreffen war. Noch war die Erregung, die der Fall Eulenburg gebracht hatte, nicht verebbt, der Prozeß noch in der Schwebe, da erlitt das Ansehen des Kaisers einen zwei64 Bei der englischen Ausgabe handelt es sich um: Johannes Haller: Philip Eulenburg. The Kaiser’s Friend, New York 1930. Eine französische Übersetzung konnte nicht nachgewiesen werden. 65 Reinhold Muschler: Philipp zu Eulenburg. Sein Leben und seine Zeit, Leipzig 1930. 66 Philipp zu Eulenburg-Hertefeld: Mit dem Kaiser als Staatsmann und Freund auf Nordlandreisen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Augusta Fürstin zu Eulenburg-Hertefeld, 2 Bde., Dresden 1931.

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ten schweren Schlag. Diesmal war es er selbst und war es der Staatsmann in ihm, der unmittelbar getroffen wurde. Von dem Entsetzen, das ganz Deutschland ergriff, kann sich heute kaum jemand der es nicht erlebt hat, eine Vorstellung machen, als im Herbst 1908 der Daily Telegraph über gewisse politische Gespräche berichtete, die Wilhelm II. als Gast in England mit seinen dortigen Freunden geführt hatte.67 An taktlose Äußerungen von ihm war man ja längst gewöhnt, aber daß er so gesprochen und daß er selbst die Veröffentlichung gebilligt haben könnte, hätte kaum jemand für möglich gehalten. Der Schrecken wuchs, als man erfuhr, daß es sich dabei um keine kaiserliche Eigenmächtigkeit handelte, denn der Aufsatz hatte vor dem Abdruck dem Reichskanzler vorgelegen und war im Auswärtigen Amt geprüft worden. Bülows Versuch, das Ganze auf eine Kette von unglücklichen Mißverständnissen zurückzuführen und einen Geheimen Legationsrat zum Sündenbock zu machen, litt an zu vielen Unwahrscheinlichkeiten und Widersprüchen, um auf die Dauer Glauben zu finden, und warf auf seine eigene Geschäftsführung ein so bedenkliches Licht, daß man sich fragte, wohin es mit der altberühmten Zuverlässigkeit des deutschen Beamten gekommen sein müsse, und worauf man sich noch gefaßt zu machen habe. Wie immer man es deuten mochte, es war eine schwere Bloßstellung des Kaisers und seiner Regierung vor Inland und Ausland, eine Niederlage, die schon an Bankrott streifte. Wie groß die Zahl derer war, die sich darüber klar waren, daß nur sehr große Erfolge der Monarchie die Stellung wiedergeben konnten, die Bismarck ihr erkämpft hatte, wer mag das sagen? Gefühlt haben wohl mehr oder weniger deutlich alle, die einen mit stiller Genugtuung, die andern mit Kummer und tiefer Besorgnis, daß wir der Gefahrenzone schwerster innerer Erschütterungen, vielleicht Umwälzungen bedenk­lich nahe gekommen waren. Ich bekenne, damals zu denen gehört zu haben, die sich ernsthaft fragten, ob der Augenblick nicht gekommen sei, wo es gelte, wie Burke es nach den Erfahrungen der englischen Geschichte ausgedrückt hat, »den Monarchen zu opfern, um die Monarchie zu retten«.68 Aus den Erinnerungen des Kronprinzen hat man erfahren, daß diese Frage an entscheidenden Stellen tatsächlich erwogen worden ist und der Kaiser selbst schon die vorbereitenden Schritte zu seiner Abdankung eingeleitet hat. Wie mir der württembergische Ministerpräsi67 Das hier von Haller gemeinte Interview erschien am 28.  Oktober 1908 im »London Daily Telegraph«. Kaiser Wilhelm II. behauptete darin, dass er während des Burenkrieges einen militärischen Plan zu deren Überwindung an England geschickt habe. Diese Aussage, vom Kaiser als Illustration seiner Englandfreundschaft gemeint, löste im mehrheitlich burenfreundlich gesinnten Deutschland die sogenannte »Daily-Telegraph-Affäre« aus. Vgl. Johannes Lepsius u. a. (Hg.): Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlungen der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. 24. Band: Deutschland und die Westmächte 1907–1908, Berlin 1925, Nr. 8251, Anlage. 68 Dieses Zitat hat Haller auch in seinen Veröffentlichungen verwendet, allerdings ohne Zitatnachweis: vgl. Johannes Haller: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart 21941, S. 406.

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dent Freiherr von Weizsäcker erzählt hat, ist damals von Bayern aus der Versuch unternommen worden, den Kaiser unter die dauernde Kontrolle der drei andern deutschen Könige zu stellen.69 Das ist am Widerspruch Württembergs gescheitert, dessen Herrscher sich weigerte, zu einer Herabdrückung Preußens die Hand zu bieten. Ob ein Regierungswechsel damals noch dem Deutschen Reich den Untergang erspart haben würde, auf diese Frage gibt es nach der Natur der Dinge keine Antwort. Wenn ich mir jetzt überlege, in welcher Art die Angelegenheit im Volk aufgenommen und in der Öffentlichkeit behandelt wurde, so fürchte ich, das Opfer wäre umsonst gewesen. Denn um die Lage einigermaßen wiederherzustellen hätte es eines außer­ gewöhnlichen, wahrhaft genialen und mit vielen seltensten Eigenschaften begabten Herrschers bedurft, und selbst ein solcher hätte Erfolg nur gehabt, wenn er geeignete Mitarbeiter und starke Unterstützung fand. Wo hätte er sie suchen sollen? Wie wenig Rückhalt die Nation ihm geboten hätte, lehrte das Verhalten ihrer Vertretung, des Reichstags. Er verriet ein Maß von politischer Unreife und Ungeschick, daß einem vor weiteren, noch ernsteren Krisen angst und bange werden konnte. Wäre es ihm darum zu tun gewesen, das Ansehen der Monarchie vollends zu zerstören, er hätte nicht anders verfahren können. Anstatt den verantwortlichen Reichskanzler, wie es die Verfassung vorschrieb, wirklich zur Verantwortung zu ziehen und in vertraulicher Untersuchung festzustellen, wie die verfänglichen privaten Äußerungen des Kaisers an die Öffentlichkeit gekommen waren, gaben die Parteien in noch nicht dagewesener Einigkeit sich mit der Darstellung zufrieden, die Bülow erfunden hatte, um sich das Verbleiben im Amte möglich zu machen, und stürzten sich mit scharfer Kritik auf den Kaiser, mit welchem Nutzen? Das bloße Versprechen, künftig zurückhaltender sein zu wollen, das ihm abgenommen wurde, demütigte ihn, ohne doch gegen weitere Entgleisungen Sicherheit zu bieten, und deckte den Zwiespalt zwischen Herrscher und Volk vor aller Welt auf. Menschlich zu begreifen war ja das Bedürfnis, dem Kaiser einmal klar zu machen, wie man über seine Art, sich im Reden gehen zu lassen, dachte. Aber gab es dafür keinen andern Weg als dieses Scherbengericht vor breitester Öffentlichkeit, das ihn im Grunde als regierungsunfähig erscheinen ließ, während der eigentliche Schuldige straflos ausging? Es nahm sich aus, als hätte man den Anspruch Burkes parodierend illustrieren wollen, den Monarchen opfern, um den Kanzler zu retten. Fürst Bülow hat auch bei dieser Gelegenheit nach seinem Charakter gehandelt. Die Art, wie er die allgemeine Entrüstung auf den Kaiser abzulenken verstand, weckt den Verdacht, den ich bis heute nicht los geworden bin, daß er den Zwischenfall absichtlich hat entstehen lassen, ohne vorauszusehen, welche Tragweite er annehmen würde. Er scheint geglaubt zu haben – eine Äußerung von ihm deutet es an  – durch öffentliche Bloßstellung des Kaisers seinen eigenen Einfluß stärken zu können. Wie falsch er gerechnet hatte, sollte er bald erfahren: 69 Karl Freiherr von Weizsäcker (1853–1926), 1906–1918 württembergischer Ministerpräsident (DBA III, 979, S. 139).

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er hatte sich selbst das Grab geschaufelt. Wilhelm II., der sich mit vollem Grund von seinem ersten Diener verraten fühlte, erwies sich ihm, dem Schlauesten der Schlauen, überlegen; ohne selbst handelnd hervorzutreten, nach streng parlamentarischem Rezept, nötigte er den Kanzler zum Rücktritt. Bülows Versuch, sich durch die sogenannte »konservativ-liberale Paarung« eine starke Mehrheit im Reichstag zu schaffen, scheiterte ebenso, wie sein Bemühen, den Kaiser zu versöhnen, erfolglos blieb, obgleich er darin weiterging, als sich für jeden andern mit der Selbstachtung vertragen hätte. Wie mir aus der Umgebung des Kaisers bekannt geworden ist, hat er sich so weit erniedrigt, unter Tränen und knie­f ällig um Verzeihung zu bitten. Der Kaiser, der den Heuchler durchschaute, verstand es, auf die Komödie soweit einzugehen, daß ihn Bülow versöhnt glaubte, ließ ihn jedoch sogleich fallen, als der Reichstag sich der Sanierung der Reichsfinanzen durch eine Erbschaftssteuer versagte. Bülow mußte gehen und niemals ist es ihm gelungen, die Drohung »bei Philippi sehen wir uns wieder«, mit der er vom Reichstag Abschied nahm, wahrzumachen.70 Die Ära Bülow war zu Ende; eine schillernde Seifenblase, die fast zwölf Jahre lang Deutschland geblendet hatte, war geplatzt. Deutschland, aber nicht die übrige Welt. Draußen in London, Paris und Petersburg wußte man längst, was von diesem glatten Faiseur zu denken sei, man zog ihm sogar den Kaiser vor. Ein englischer Prinz, Ludwig von Battenberg, Schwiegersohn der Königin, hat einem meiner Gießener Kollegen versichert, mit dem Kaiser könnte England sich verständigen, Bülow sei nicht vertrauenswürdig.71 Nur in Deutschland hielten weite Kreise in alter Harmlosigkeit auch nach seinem Abgang an ihm fest. Wer anders dachte und sich offen zu äußern wagte, konnte sich auf Unannehmlichkeiten gefaßt machen. Expertus loquor!72 Befremdlich genug, denn Erfolge hatte dieser »beste aller Nachfolger Bismarcks« nirgends aufzuweisen; unter seiner Amtsführung hatte sich die Lage des Reiches nach innen wie nach außen zusehends bedenklich verschlimmert. Wie kam das? Nach Bülows Tode hat Harold Nicolson, der einige Jahre der Berliner Botschaft angehört hatte, eine einleuchtende Erklärung gegeben. »Die Deutschen« – so schrieb er im Evening Standard vom 11.  März 1931 – »zwischen 1870 und 1914 waren sich der Tatsache schmerzlich bewußt, daß sie im Kreise älterer Nationen eine etwas provinzielle Figur darstellten; Bülow tröstete sie über diese gesellschaftliche Unzulänglichkeit. Schmückte er seine Reichstagsreden nicht mit französischen Zitaten, deren manche nicht einmal im Großen Larousse zu finden waren? Verwendete er nicht öfters das Lateinische, schickte er den Frauen der Abgeordneten nicht Blumen und redete er italienische Fürsten nicht beim Vornamen an? In ihm fühlte sich jeder Deutsche als Weltmann, und dafür war 70 Die Redensart, mit der eine noch zu begleichende Rechnung benannt wird, geht auf­ William Shakespeares »Julius Cäsar« (IV, 3) zurück und bezieht sich auf die Schlacht bei Philippi, wo durch den Tod des Brutus dessen Verrat gerächt wird. 71 Ludwig Prinz von Battenberg (1854–1921), britischer Großadmiral (NDB 15, S. 399). 72 Ich spreche aus Erfahrung (lateinisch).

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man ihm dankbar.« So war es; Bülows bestach die Deutschen durch seine französische Eleganz, die sie selbst so gern besessen hätten. Dem Streben nach Verfeinerung, das um 1900 auf allen Gebieten herrschte, entsprach ein Reichs­ kanzler, bei dem die äußere Form die innere Leere verdeckte. In dieser Kunst war Bülow Meister. Als junger Diplomat hat er, wie Fürst Eulenburg erzählte, einmal gewettet, er werde aus dem Stegreif eine französische Tischrede von zehn Minuten auf die Gabel halten, und hat die Wette gewonnen. Die Anekdote kenn­ zeichnet den Staatsmann wie den Menschen: glatte Politur täuschte darüber, daß das Holz morsch war. Sie täuschte nicht alle. Seine Beamten sahen den Kanzler richtig, als sie ihm bei der gemeinsamen Weihnachtsfeier einen Aal bescherten; sein wesentliches Talent war Gewandtheit. Auf die Dauer reichte das freilich nicht aus. Es konnte nicht fehlen, daß die Staatsmänner der deutschen Bundesstaaten mit der Zeit merkten, wie wenig der Reichskanzler die zur Verhandlung stehenden Fragen beherrschte, wenn er zum Beispiel, als es einmal einen Zusammenstoß mit dem Vatikan gab, den württembergischen Minister zu dessen Befremden mit der pathetischen Aufforderung entließ: »Nun fahren Sie nach Hause und ­eröffnen Sie, getreu dem alten Vorstreitsrecht der Schwaben, von Stuttgart aus den Kampf gegen Rom!« Sollte gerade Württemberg seinen beneidenswerten Vorzug, den konfessionellen Frieden, mutwillig preisgeben? Bekannt in Amtskreisen war Bülows Faulheit; man wußte, daß er Berichte nicht las, wenn sie länger als zwei Seiten waren. Mein hochverehrter Gönner, der württembergische Gesandte Baron Axel Varnbüler, ging noch weiter.73 »Bülows ganze Arbeit«, sagte er, »beschränkte sich auf die Vorbereitung und Abfassung der einen großen Rede, die er alljährlich bei der Eröffnung des Reichstags zu halten pflegte. War sie glücklich vom Stapel gelaufen, so gab er sich der Ruhe hin, seine Stellung war gesichert.« Welche Mittel er anwandte, um seine mangelnde Beherrschung der Materie nicht zu verraten, erfuhr der Württemberger Herr v. Weizsäcker, als er zur Besprechung einer Steuerfrage von dem auf hohem Katheder thronenden Kanzler empfangen wurde, nicht etwa um ihm die Oberhoheit des Reiches klarzumachen, sondern ihn nicht merken zu lassen – er merkte es doch – daß der scheinbar freie Vortrag, den er zu hören bekam, wörtlich abgelesen wurde. Denn von Finanzen hat Bülow nie etwas verstanden, auch nicht von seinen eigenen. Davon erzählte die alte Freundin seines Hauses, Malwida von Meysenbug in Rom, ein ergötzliches Beispiel.74 Als Bülow die römische Botschaft übernahm, konnte seine Gemahlin, die für gewöhnlich seine Kasse führte, ihn nicht sogleich begleiten.75 Sie schärfte ihm also ein, alle Ausgaben sorgfältig aufzu73 Axel Freiherr von Varnbüler von und zu Hemmingen (1851–1937), deutscher Diplomat, 1894–1918 württembergischer Gesandter in Berlin (NDB 24, S. 720). Zu Hallers Verhältnis zu Varnbüler vgl. Benjamin Hasselhorn (Bearb.)/Christian Kleinert (Vorarb.): Johannes Haller (1865–1947). Briefe eines Historikers (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 71), München 2014, Nr. 199–201, 204, 206, 208, 247, 263, 267, 284 f. 74 Malwida Freiin von Meysenbug (1816–1903), deutsche Schriftstellerin (NDB 17, S. 407–409). 75 Bernard von Bülow war 1894–1897 deutscher Botschafter in Rom (NDB 2, S. 729).

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schreiben, was er auch versprach. Als sie nach einigen Wochen eintraf, fand sie eine Gesamtausgabe von 15.000 Lire vor, im Kassenbuch aber nur den einen Posten »Cerini (Streichhölzer) 15 Centesimi.« Um die deutsche öffentliche Meinung an sich zu fesseln, reichten schön gedrechselte Reden mit fremdsprachlichen Zitaten, tadelloser Gehrock und geschmackvolle Krawatte nicht aus, das richtige Werkzeug dazu war die Presse. Auf sie wurde darum die größte Aufmerksamkeit verwandt. Sie zu gängeln war nicht allzu schwer, sie bot sich ja freiwillig zur Dienstbarkeit an. Von auswär­ tiger Politik, die damals noch mehr als sonst die leckerste Kost für die Masse der Zeitungsleser bildete, verstand der deutsche Journalist, wenige Ausnahmen abgerechnet, im allgemeinen nichts. Selbst größere Blätter waren auf die Mit­teilungen angewiesen, die das Auswärtige Amt ihnen zukommen ließ. Daß diese Quelle nicht versiege, waren sie darum alle aufs ängstlichste besorgt. So sah man denn täglich um 11 Uhr ihre Vertreter in der Wilhelmstraße erscheinen, »zur Fütterung der Raubtiere«, die der Geheime Legationsrat Hammann, ein mit allen Wassern gewaschener Intrigant, mit sparsamer Hand besorgte; in dem Maß, wie ein Blatt den Kanzler bewunderte und seine Politik pries, wurden ihm die Bissen zugeteilt.76 Ließ sich eines einfallen, Kritik zu üben, so konnte sein Vertreter andern Tages lange warten, daß sich ihm die Tür öffne. Darauf durfte man es natürlich nicht ankommen lassen, daß man leer ausging, währen die Konkurrenz gespeist wurde, also waren eigentlich alle Zeitungen, abgesehen von den grundsätzlich regierungsfeindlichen, den so­zialdemokratischen, offiziös. In besonderen Fällen griff auch wohl der Kanzler mit eigener Hand ein. Ein lehrreiches Beispiel erlebte einer unserer Diplomaten, dessen Bruder als Leiter eines großen nordeutschen Blattes gewagt hatte, Bülows innere Politik anzugreifen. Er wurde, bei erster Gelegenheit, als er eine persönliche Angelegenheit am Amt zu betreiben hatte, vom Kanzler mit Vorwürfen überschüttet und trotz seines Beteuerns, er habe auf seinen Bruder gar keinen Einfluß, der Undankbarkeit beschuldigt, so daß er schon seine Laufbahn als beendet ansah. Wie erstaunte er indes, als er noch für denselben Abend eine Einladung zu Bülows erhielt und dort seinem Bruder begegnete! Zuckerbrot und Peitsche, hier haben sie gewirkt: der unbotmäßige Schriftsteller war bald gezähmt und ist mit der Zeit Bülows Leibjournalist geworden. Auf andere, die nicht so leicht einzuschüchtern waren, wirkten die bestechende Liebens­w ürdigkeit, die Bülow nach Bedarf zu Gebote stand, und die Einladungen zu seinen Diners, die der aus Rom mitgebrachte Koch in berühmter Vorzüglichkeit lieferte. Dieser Koch führte den Spitznamen »Miseria«, weil er auf die Frage, ob er mit nach Berlin gehen wolle, wo es nicht mehr so viel glänzende Geselligkeit geben werde, die klassische Antwort erteilt hatte: »Se i miei padroni vanno alla miseria, io li accompagno.«77 Theodor Wolff vom Berliner Tagblatt, der als reicher Mann – Schwiegersohn 76 Otto Hammann (1852–1928), deutscher Journalist, 1893–1916 Leiter der Presseabteilung im Auswärtigen Amt (NDB 7, S. 589–591). 77 Wenn meine Herren ins Elend gehen, werde ich sie begleiten (italienisch).

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von Mosse – gegen Zaubertränke dieser Art immun war, hat ihre Wirkung witzig verspottet: so oft Miseria koche, bekomme die deutsche Presse Leibschmerzen.78 Daß sogar Leute, die nach Geist, Bildung und Lebensstellung darüber hätten erhaben sein sollen, gegen diese Künste der Beeinflussung nicht gefeit waren, konnte man an August Stein, dem Vertreter der Frankfurter Zeitung, beobachten.79 Ob auf ihn der Koch oder sein Herr die stärkere Wirkung übte, hat er vielleicht selbst nicht gewußt. Über Bülow als Charakter und als Staatsmann war er sich, wie er mir gegenüber einmal offen aussprach, völlig klar, und doch hat er ihm in seinem Blatt so sehr die Stange gehalten, daß er sich von der Schriftleitung wiederholt Vorwürfe zuzog. Erstaunlich genug, und ein trauriges Zeugnis für die Urteilslosigkeit der deutschen öffentlichen Meinung: Bülow behielt noch nach seinem Sturz in weiten Kreisen seinen Kredit, obgleich seine Politik schon seit Jahren bankrott war. Offenkundig war das geworden, als das deutsche Eingreifen in Marokko auf der Konferenz von Algeciras zu einer vollständigen Niederlage führte, der ersten ernsten Niederlage, die das Deutsche Reich hinnehmen mußte.80 Dank der Bülowschen Vertuschungstaktik wurde die Tatsache in Deutschland nicht recht begriffen; nicht einmal die Einkreisung zwischen Rußland, Frankreich und England, die sich im Anschluß daran bildete, hat allen die Augen darüber geöffnet, wie die auswärtige Politik des Reiches bis dahin geführt worden war. In jedem andern Lande mit eingelebten parlamentarischen Formen hätte sich ein Minister, der von einer europäischen Konferenz mit einem Ergebnis wie der Akte von Algeciras zurückkam, vor der Volksvertretung nicht mehr sehen lassen dürfen; der Deutsche Reichstag ließ es dabei bewenden, daß die Aussprache durch eine Ohnmacht des Reichskanzlers abgebrochen wurde, und Bülow blieb noch über drei Jahre im Amt. Im Ausland wußte man wohl, wer es war, der die Politik des Deutschen Reiches seit Bismarcks Sturz geleitet hatte, der Geheime Rat Fritz von Holstein, im Reichstag ist sein Name nur einmal genannt worden, und in der Öffentlichkeit wußten die wenigsten von der Existenz dieser düsteren Gestalt, da die Vertreter der großen Zeitungen, die zu den Eingeweihten gehörten, ihn niemals nannten, nicht nennen durften.81 Mir hatte Eckardt schon in Basel das Geheimnis 78 Theodor Wolff (1868–1943), deutscher Journalist, 1906–33 Chefredakteur des Berliner­ Tageblatts; Rudolf Mosse (1843–1920), deutscher Veleger (NDB 18, S. 213–216). 79 August Stein (1851–1920), deutscher Journalist, Vertreter der Frankfurter Zeitung in Berlin (DBA II, 1256, S. 79). 80 Seit 1904 bestanden diplomatische Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich­ wegen konkurrierender Einflussbestrebungen auf Marokko. Deutschland setzte sich mit dem Vorschlag durch, den Konflikt auf einer internationalen Konferenz (1906 in Algeciras) zu lösen, wo Deutschland allerdings aufgrund der Unterstützung Frankreichs durch Großbritannien eine diplomatische Niederlage erlitt. Vgl. Konrad Canis: Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914, Paderborn u. a. 2011, S. 169–189. 81 Friedrich von Holstein (1837–1909), preußischer Diplomat, 1876–1906 im Auswärtigen Amt des Deutschen Reiches (NDB 9, S. 550–552).

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verraten, aber wenn ich gelegentlich erwähnte, wer es sei, der in Wirklichkeit die Fäden der Reichspolitik in der Hand hielt, so antworte mir nur verwundertes oder zweifelndes Kopfschütteln. So gut war es Holstein gelungen, sich zu verbergen, daß einer meiner Gießener Kollegen, der selbst im Reichstag gesessen hatte, nicht einmal seinen Namen kannte. Seitdem ist oft genug von ihm die Rede gewesen, auch die Zwittergattung des historischen Romans hat sich seiner bemächtigt und ihn unter dem Titel der »grauen Eminenz« literarisch verewigt, ganz verfehlter Weise, weil Holstein genau das Gegenteil dessen gewesen ist und hat sein wollen, was der Kapuzinerpater Josef war.82 Dieser war nie etwas anderes als das Werkzeug des Kardinals Richelieu, Holstein dagegen erhob den Anspruch und erreichte es, selbst die Drähte zu ziehen, an denen Reichskanzler, Staatssekretäre und Minister ihre Tänze aufführten. Bis zu welchem Grade ihm das gelang, beweist das Auftreten in Marokko, zu dem er sogar den sich sträubenden Kaiser im März 1905 zu nötigen gewußt hat.83 Holstein verstand es, seine Vorgesetzten von sich abhängig zu machen. Gegenüber Caprivi und Marschall genügte ihm dazu seine Überlegenheit an ­Sachkenntnis und Scharfsinn, bei ihren Nachfolgern wandte er andere Mittel an. Hohenlohe hatte auf sexuellem Gebiet allerlei zu verbergen, Bülow war an die Kette gelegt, als Holstein sich durch Briefdiebstahl die Beweise für die Jugendliebe der Fürstin zu dem Pianisten Karl Tausig verschafft hatte.84 Die Tatsache, auf die ich seinerzeit hingewiesen habe, hat nicht überall Glauben gefunden, aber einer, der die Briefe gelesen hat, ehe sie nach Tausigs Tode an Frau von Bülow, damals noch Gräfin Dönhoff, zurückgegeben wurden, Robert Davidsohn, der angesehene Geschichtsschreiber, hat meine Angabe öffentlich bestätigt (in den Preußischen Jahrbüchern).85 Das Bekanntwerden dieser Briefe, sagt er, hätte dem Fürsten Bülow allerdings sehr unangenehm sein müssen. Bülow war dadurch in noch viel größerer Abhängigkeit von Holstein als seine Vorgänger und blieb es auch, nachdem es ihm gelungen war, die Entlassung des bösen Dämons zu erwirken, ohne daß dieser bemerkt hätte, wem er sie zuzuschreiben habe.86 Holstein ist von vielen, die dauernd mit ihm zu tun hatten, für geistig nicht normal gehalten worden, und manche, darunter Herbert Bismarck, erklärten 82 Père Joseph (1577–1638), französischer Kapuziner, Beichtvater und Ratgeber Kardinal­ Richelieus (ABF 1, S. 266–284). 83 Am 31. März 1905 besuchte Kaiser Wilhelm II. die marrokanische Stadt Tanger, um angesichts der diplomatischen Krise zwischen Frankreich und Deutschland Stärke zu demon­ strieren. Vgl. Konrad Canis: Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914, Paderborn u. a. 2011, S. 119–146. 84 Vgl. dazu Johannes Haller: Die Denkwürdigkeiten des Fürsten Bülow als Geschichtsquelle, in: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 601 und 606 vom 25. und 28. Dezember 1930, Nr. 7 vom 6. Januar 1931. 85 Robert Davidsohn: Kleine Erinnerungen an zwei Reichskanzler, in: Preußische Jahrbücher 227 (Januar bis März 1932), S. 193–205. Der Bearbeiter dankt Wolfram Knäbich für den freundlichen Hinweis auf diese Publikation Davidsohns. 86 Holstein wurde am 16. April 1906 aus dem Auswärtigen Amt verabschiedet, bleib aber weiterhin als Berater Bülows einflussreich (NDB 9, S. 551).

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ihn kurzweg für verrückt. Unbegreiflich, daß sie ihm trotzdem die wichtigsten Geschäfte anvertrauten und ihm – gerade von Herbert Bismarck gilt das, – immer größeren Einfluß einräumten. Dafür gibt es eine Erklärung: man fürchtete ihn. Er wußte um so viele Dinge, deren Bekanntwerden unerwünscht war, und man traute ihm zu, daß er von seinem Wissen rücksichtslosen Gebrauch machen werde, darum schonte man ihn und ließ ihn sich Dinge herausnehmen, die keinem andern ungestraft durchgegangen wären, eine Vorsicht, die sich schon zu Bismarcks Zeiten gerächt hat. Neuerdings sind aus dem österreichischen Archiv die Beweise dafür zum Vorschein gekommen, daß er im Geheimen in Wien gegen Bismarcks Politik gearbeitet hat. Indem er vorgab, die wahre Absicht des Kanzlers zu vertreten, die dieser selbst nicht laut werden lassen dürfe, trieb er zum Kriege gegen Rußland, den Bismarck vermeiden wollte. Es wird kaum der einzige Fall dieser Art gewesen sein, und manche sonst unverständlichen Vorgänge dürften ihre Erklärung finden, wenn man Holsteins Schlichen auf die Spur käme. Da ist zum Beispiel eine merkwürdige Episode in der Geschichte des Batten­ bergers, des gestürzten Fürsten Alexander von Bulgarien, den Bismarck im Widerspruch zu seiner offiziellen Politik insgeheim durch einen Arzt Dr. Langen­ buch aufgefordert haben soll, nach Bulgarien zurückzukehren.87 Auch der oft erörterte Zeitungsartikel »Krieg in Sicht« (1875), der zum Präventivkrieg gegen Frankreich riet, den Anstoß zur ersten deutsch-russischen Spannung gab und zum bekannten persönlichen Zusammenstoß zwischen Bismarck und Gortscha­ kow führte, dürfte von Holstein veranlaßt worden sein.88 Als Verfasser hat sich Constantin Rößler bekannt, der als offiziöser Publizist unter Bismarck diente, in diesem Fall jedoch ohne Auftrag gehandelt haben wollte. Daß ein gewissenhafter Mann, wie Rößler es war, aus eigenem Antrieb einen so gewagten Vorstoß gemacht haben sollte, ist ausgeschlossen; aber er war, wie mir eine Enkelin von ihm mitgeteilt hat, mit Holstein befreundet, und wenn dieser ihn in derselben Weise, wie er es später mit den Österreichern versuchte, aber mit besserem Erfolg bewogen hätte, auszusprechen, was Bismarck angeblich dachte, aber selbst nicht sagen konnte, so wäre auf einfache Art erklärt, sowohl daß Rößler den Aufsatz 87 Haller bezieht sich hier auf die sogenannte »Battenberg-Affäre«: Alexander von Battenberg, auf Betreiben des russischen Kaisers als Fürst von Bulgarien eingesetzt, wurde von diesem 1886 zur Abdankung gezwungen, weil er die Hoffnungen auf eine russlandfreundliche Politik nicht erfüllt hatte. Viktoria, Tochter des deutschen Kronprinzenehepaares, sollte mit Alexander von Battenberg verheiratet werden. Bismarck verhinderte diesen Plan­ jedoch, weil er davon ungünstige Auswirkungen auf die deutsch-russischen Beziehungen befürchtete. Vgl. Gerhard Taddey (Hg.): Lexikon der deutschen Geschichte. Ereignisse – Institutionen – Personen. Von den Anfängen bis zur Kapitulation 1945, Stuttgart 31998, S. 95. 88 Haller bezieht sich hier auf Constantin Rößler: Ist der Krieg in Sicht?, in: Die Post vom 8. April 1875. Der Artikel war eine vermutlich von Bismarck selbst lancierte Reaktion auf ein französisches Gesetz zur Heeresvermehrung und löste eine diplomatische Krise aus, deren Bewältigung durch die Vermittlung des russischen Außenministers A. M. Gortschakow gelang. Vgl. Gerhard Taddey (Hg.): Lexikon der deutschen Geschichte. Ereignisse – Institutionen – Personen. Von den Anfängen bis zur Kapitulation 1945, Stuttgart 31998, S. 709.

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schrieb wie daß ihm deswegen nichts geschah. Endlich die rätselhafte Geschichte des russischen Botschafters Saburow, der nach dem scharfen Zusammenprall von 1879 das gute Einvernehmen mit Deutschland wiederherstellte, dann aber unter deutscher Beihilfe abberufen wurde, weil er – angeblich – unter der Maske des Deutschenfreundes gegen Deutschland intrigiert haben sollte.89 Das letzte ist, wenn man von der Familie Saburow weiß, so unwahrscheinlich wie irgend etwas. Den Bruder des Botschafters kannten wir in Dorpat als Kurator der Universität sehr gut; deutscher als er und sein Haus konnte ein Russe nicht sein. Zwei Brüder seiner Frau, einer Gräfin Sollotrub, studierten in Dorpat, waren als Mitglieder der Estonia meine Korpsbrüder, und ihre Schwester stiftete für unsere Verbindung ein Stipendium. Es bedürfte schon sehr starker Beweise, um mich glauben zu machen, der Botschafter – der seinen Bruder in Dorpat besuchte – habe gegen Deutschland gearbeitet. Aus seinen 1915 englisch erschienenen Memoiren, die von der deutschen Geschichtsforschung, wie die meisten russischen Quellen, geflissentlich ignoriert werden, ergibt sich denn auch ein ganz anderes Bild.90 Da erfährt man, daß Saburow nichts geringeres erstrebt hat als ein festes deutschrussisches Bündnis mit Besitzgarantie für Deutschland. Er hat offenbar gehofft, mit diesem Erfolg den Minister Giers aus dem Sattel zu heben, um an seine Stelle zu treten, und ist deswegen von Giers abberufen worden.91 Wenn Bismarck dazu geholfen hat, weil er Saburow für einen falschen Freund hielt, so liegt es nahe, anzunehmen, daß ihm diese Vorstellung von Holstein beigebracht worden ist, der um jene Zeit – Mitte der achtziger Jahre – sich nicht genug tun konnte in Anschwärzung der russophilen Politik des Kanzlers. Ist die Vermutung richtig, so wäre Holsteins Name mit einer Tat von allergrößter Tragweite belastet. Man stelle sich vor, das deutsch-russische Bündnis wäre damals geschlossen worden, wie anders hätten sich die Schicksale beider Reiche gestaltet! Diese Sucht zu intrigieren, verrät zweifelhaft eine krankhafte Geistesart, die näher zu bestimmen Sache der Fachleute wäre. Mir hat eine Studie im Manuscript vorgelegen, deren Verfasser, ein erfahrener und erfolgreicher Psycho­ therapeut, nach gründlicher Untersuchung der gesamten, sehr reichlichen Zeugnisse zu dem Ergebnis kommt, Holstein habe an Paranoia, zu deutsch Wahnsinn in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes, gelitten, einer angeborenen und unheilbaren Geisteskrankheit, die darin besteht, daß der Mensch in zuneh­ mendem Maße unter die Herrschaft gewisser Wahnvorstellungen gerät, die er nicht abschütteln, von denen ihn auch niemand und nichts befreien kann, auch nicht die handgreiflichsten Erfahrungen. Paranoiker  – so bin ich von fach89 Petr Aleksandrovič Saburov (1835–1915), 1880–1884 russischer Botschafter in Berlin. 1879 war es zu einem diplomatischen Zusammenstoß zwischen Deutschland und Russland gekommen, weil der russische Kaiser sich über Bismarcks Verhalten während des Berliner Kongresses beschwert hatte (RBA & BASU, R, S. 203–208). 90 The Saburow Memoirs, or Bismarck and Russia. Being Fresh Light on the League of the Three Emperors, 1881, Cambridge 1929. Eine frühere Ausgabe ist nicht nachweisbar; wie Haller auf das Erscheinungsjahr 1915 kommt, ist daher unklar. 91 Nikolaj Karlovič Giers (1820–1895), 1882–1895 russischer Außenminister (DBA I, 390, S. 294).

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männnischer Seite belehrt worden  – können im übrigen von schärfstem Verstande sein, sie entwickeln eine außerordentliche Willenskraft, werden, wo sie auf Widerstand stoßen, gefährlich bis zum Verbrechen und üben dadurch einen oft rätselhaften Einfluß auf ihre Umgebung aus – lauter Züge, die bei Holstein deutlich zu Tage traten. Ob die Diagnose richtig ist, entzieht sich meinem Urteil, aber wenn sie es ist, und wenn zur echten Paranoia, wie in der vorhin erwähnten Studie vorausgesetzt wird, auch ein gewisses Mißtrauen gegen sich selbst, ein dunkles Empfinden der eigenen Krankhaftigkeit gehörten, so träfe auch dies in auffallender Weise bei Holstein zu. Es würde neben dem Bedürfnis, sich zu verbergen, eine Eigentümlichkeit erklären, durch die er mehr als einmal verhängnisvoll gewirkt hat; die Scheu vor der Verantwortung, das Versagen dort, wo es galt, aus dem angesponnenen Gewebe mit mutigem Entschluß die gebotene Folgerung zu ziehen. Wie hat er in den achtziger Jahren gegen Bismarck wegen zu großer Rücksichtnahme auf Rußland gelästert! In den Briefen an die Kusine Holtzendorff hat er sich zu Ausdrücken verstiegen, die der Herausgeber nicht abzudrucken wagte, wie oft und wie nachdrücklich hat er den Anschluß an England und die Front gegen den östlichen Nachbar, ja den Krieg gefordert!92 Aber als England um die Jahrhundertwende sich wiederholt näherte, da war es Holstein, der die Möglichkeit des Bündnisses, die damals n ­ äher rückte als irgend früher oder später, durch sein Verhalten zunichte machte, sodaß aus den Verhandlungen statt des Bündnisses die Gegnerschaft und die Einkreisung Deutschlands hervorging. Eine Parallele und Ergänzung zu diesen englisch-deutschen Verhandlungen spielte um dieselbe Zeit (1900) in den Beziehungen zu Japan. Dort stand an der Spitze der Regierung Aoki, ein überzeugter Deutschenfreund, ehedem Gesandter in Berlin, mit einer Deutschen verheiratet und das Deutsche sprechend wie seine Muttersprache.93 Er bemühte sich um ein förmliches Bündnis und ließ durch den Geschäftsträger – der Gesandte war abwesend – Grafen Botho Wedel, dem ich diese Kenntnis verdanke, bei Holstein deswegen anklopfen, ließ auch geltend machen, wie sehr dadurch der Anschluß Englands an das Deutsche Reich erleichtert werden würde.94 Holstein lehnte ab: das würde Rußland zu sehr verstimmen! War es nun wirklich Paranoia, oder verdient sein Geisteszustand eine andere technische Bezeichnung, krankhaft war auf alle Fälle die Politik, die unter seinem Einfluß gemacht wurde: die längste Zeit nach allen Seiten herausfordernd in Worten und Gesten, und wenn es hieß Farbe bekennen, vorsichtig ausweichend, 92 Gemeint ist der Briefwechsel zwischen Friedrich von Holstein und Ida von Holtzendorff: Helmuth Rogge (Hg.): Friedrich von Holstein. Lebensbekenntnis in Briefen an eine Frau, Berlin 1932. 93 Aoki Shūzō (1844–1914), japanischer Diplomat, mehrfach japanischer Gesandter in Berlin und japanischer Außenminister (JaBA 1, S. 95–101). 94 Botho Graf von Wedel (1862–1943), deutscher Diplomat, nach Verwendungen in Wien,­ Paris und Tokio 1901 Botschaftssekretär in Wien, 1904–1907 Generalkonsul in Budapest, 1916 Botschafter in Wien (DBA II, 1373, S. 293).

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die Freunde enttäuschend, die Feinde ermutigend. Es ist furchtbar zu denken, und ist doch nicht anders: in den Jahren, wo das Deutsche Reich an einem Scheide­weg stand, der über sein Schicksal entscheiden sollte, lag seine Zukunft in den Händen eines Kanzlers, der ein selbstsüchtiger und gewissenloser Schauspieler, ja ein ganz gemeiner Schuft war und sich von einem Wahnsinnigen durch geheime Bedrohung am Gängelband führen ließ. Kann man sich wundern, daß die Politik, die da gemacht wurde, schließlich mit Zusammenbruch und Untergang geendet hat? Die Nation hat das nicht geahnt; sie glich einem Blinden, der nicht weiß, von wem und wohin er geführt wird. Die wenigen Sehenden blickten um so klarer in die Zukunft. Vom greisen Feldmarschall von Loë ist mir aus den Tagen von Algeciras der verzweifelte Ausruf berichtet worden: »Ach, unser herrliches Deutsches Reich! Was ich jetzt kommen sehe, ist so gräßlich, daß ich alter Mann nur Gott bitten kann, es mich nicht mehr erleben zu lassen.«95 So der ähnlich mag noch mancher gedacht haben, aber keiner hatte die Kraft oder den Mut, dem Schicksal in die Speichen des Rades zu fallen, das ungehemmt seine Bahn weiter rollte, dem Abgrund zu. Es wäre lächerlich, wollte ich tun, als hätte ich nicht ebenso wie alle Welt ­damals zu der Schar der Blinden gehört, die nicht wußten, wie sie geführt wurden. Die auswärtige Politik war ja das Vorrecht eines engen Kreises, der sein Geheimnis ängstlich hütete. Man sah wohl ihre Ergebnisse, und wenn diese einem Sorge machten, so sagte man sich natürlich, die Geschäfte müßten schlecht geführt sein; aber welches die Ursachen seien, woran es fehlte, war nicht zu er­ raten. Die Presse, die einen hätte belehren können, wußte selbst nichts und bemühte sich, zu beschönigen, was sich nicht leugnen konnte; im Reichstag aber, dessen Pflicht es gewesen wäre, Aufklärung zu fordern, waren wohl unzufriedene und scheltende Stimmen zu hören, aber den Dingen auf den Grund zu gehen, hat niemand versucht. So lebten wir dahin in einem dumpfen Gefühl wachsender Besorgnis, über deren Ursachen wir uns keine klare Rechenschaft gaben, wie jemand, der sich nicht wohlfühlt, ohne sagen zu können, was ihm fehlt. Daran änderte sich nichts, als Bülow gegangen war.96 Die Gängelung der Presse dauerte aus langer Gewohnheit fort, und der Reichstag versäumte seine Pflicht nach wie vor. Ein vereinzelter Vorstoß wie der des konservativen Fraktionsführer von Heydebrand im Jahr 1911, als die Regierung eine unverblümte englische Drohung hingenommen hatte, ohne zu erwidern, nützte nichts, schadete nur durch plumpes Bramarbasieren in Worten, denen keine Taten folgten.97 Ich bin damals an der Führung der konservativen Partei gründlich irre geworden; sie schien mir unklug und ungeschickt im höchsten Grade. Was hatte es für einen Sinn, die Regierung in so brüsker Weise vor aller Welt bloßzustellen, wenn man 95 Walter Freiherr von Loë (1828–1908), preußischer Generalfeldmarschall (NDB 15, S. 14 f.). 96 Bülow reichte am 14. Juli 1909 seinen Rücktritt als Reichskanzler ein (NDB 2, S. 729–732). 97 Ernst von Heydebrand (1851–1924), deutscher konservativer Politiker, 1903–1918 Mitglied des Reichstags, 1906–1918 Fraktionsvorsitzender der Deutschkonservativen im preußischen Abgeordnetenhaus (NDB 9, S. 66 f.).

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nicht in der Lage war, eine bessere zu schaffen? Wie ich später erfahren habe, war der angerichtete Schaden im Geheimen noch größer. Die konservative Partei, die nach Programm und Überlieferung Stütze des Thrones sein wollte, auch durch ihre persönlichen Beziehungen zum Hof manche Gelegenheit hatte, außeramtlich an allerhöchster Stelle zu wirken, hat damals, indem sie sich in schroffster Form zur Opposition bekannte, die Fühlung nach oben dauernd verloren. Wilhelm II., das muß man wissen, bezog jeden Angriff auf die Regierung auf sich persönlich, hielt er doch an der Vorstellung fest, daß er selbst regiere und Reichskanzler und Minister nur seine Werkzeuge seien, wie ja auch Bismarck in seinen Augen nur der »Handlanger« seines Großvaters gewesen war.98 Er war durch den ungewöhnlich scharfen Tadel, den Heydebrand über den Kanzler aussprach, so tief verletzt, daß er seitdem nie mehr einen konservativen Politiker empfangen hat, während er im Laufe des Krieges mit Mitgliedern anderer Parteien, sogar Sozialdemokraten, nach Bedarf und Gelegenheit die Aussprache nicht scheute. Im Reichstag waren die Konservativen als Minderheit ohnehin machtlos, nun hatten sie sich durch die Unklugheit und das Ungeschick ihres Führers auch beim Herrscher um allen Einfluß gebracht. Heute wird schwerlich jemand noch der Meinung sein, daß die Wahl, die der Kaiser mit Bethmann Hollweg als Nachfolger Bülows traf, die richtige gewesen sei, wenn er die Absicht hatte, die so gründlich verfahrene auswärtige Politik in Ordnung zu bringen. Daß der neue Kanzler dazu nicht der Mann war, hat er in acht Amtsjahren ausgiebig bewiesen.99 Ihm fehlten für diese Aufgabe gerade die notwendigsten Eigenschaften. Wes Geistes Kind er war, verrät schon die Überschrift seiner Erinnerungen: über die gewaltigen Ereignisse, an denen er als leitender Staatsmann beteiligt gewesen war, weiß er sich nur in »Betrachtungen« zu ergehen!100 Die Lage forderte einen Mann, der mit kühnem Entschluß neue Bahnen einzuschlagen und Herrscher und Volk fortzureißen vermochte. Bethmann Hollweg hat das nicht gekonnt. Nicht daß es ihm an Einsicht gemangelt hätte; welche Fehler begangen waren, hat er wohl gewußt, aber sie gutzumachen war er nicht fähig. Ihm fehlte dazu das wichtigste, die Tatkraft. Wo ein Prome­ theus nottat, war er der ausgesprochenste Epimetheus.101 Ihm fehlte auch die 98 Am 27. Februar 1897 hielt Kaiser Wilhelm II. eine Rede beim Festmahl des Brandenbur­ gischen Provinziallandtags, in der er die 1871 erfolgte Reichsgründung allein dem Verdienst Wilhelms I. zusprach und Männer wie Bismarck – nach dem offiziellen Redetext – als dessen »Ratgeber« bezeichnete. Schnell kursierten aber alternative Lesarten, nach denen der Kaiser nicht Ratgeber, sondern »Handlanger« oder sogar »Handlanger und Pygmäen« gesagt habe. Die Rede löste daher öffentliche Empörung aus (Michael A. Obst (Hg.): Die politischen Reden Kaiser Wilhelms II. Eine Auswahl (Otto-von-Bismarck-Stiftung Wissenschaftliche Reihe 15), München u. a. 2011, Nr. 84, S. 154–156). 99 Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921) war 1909–1917 deutscher Reichskanzler (NDB 2, S. 188–193). 100 Theobald von Bethmann Hollweg: Betrachtungen zum Weltkriege, 2 Bde., Berlin 1919–1921. 101 Epimetheus ist in der griechischen Mythologie ein Bruder des Prometheus, der trotz dessen Warnung die ihm von den Göttern geschenkte Pandora heiratet, deren von den Göttern mit Plagen gefüllte Büchse das Übel über die Menschheit bringt.

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Vorbereitung auf sein Amt. In der innern Verwaltung aufgedient, vom Landrat zum Regierungspräsidenten und Oberpräsidenten in der vorgeschriebenen amtlichen Ochsentour emporgestiegen, kannte er die auswärtigen Geschäfte zunächst überhaupt nicht. Mit großem Fleiß suchte er sich einzuarbeiten; die ihm näherstanden, fürchteten, wenn sie in später Nacht noch Licht an seinem Fenster sahen, er werde sich rasch verbrauchen. Aber auch der größte Fleiß konnte den Mangel an diplomatischer Technik und Routine nicht ersetzen. Überdies war er von Natur unschlüssig, ein Zauderer, wo doch sein Amt ihn täglich in Lagen bringen konnte, die vor allem Schlagfertigkeit und raschen Entschluß forderten. Von seiner Unschlüssigkeit hat mir Warmbold, der seinerzeit weithin bekannte Landwirt und zeitweilige preußische Landwirtschaftsminister, eine köstliche Probe erzählt.102 Er war vom Kanzler, dessen Gut Hohen-­ Finow mit Verlust arbeitete, zu Hilfe gerufen und hatte einen Plan ausgearbeitet, der die Wirtschaft durch gründliche Umgestaltung gewinnbringend machen sollte. Bethmann ließ längere Zeit verstreichen, ohne sich zu äußern, die Jahresfrist stand vor der Tür, wo mit den Arbeiten begonnen werden mußte, wenn nicht ein weiteres Jahr verloren gehen sollte. Als ihm das vorgestellt und ein Bescheid dringend erbeten wurde, beklagte er sich über »Vergewaltigung«! Er brauche Zeit zur Überlegung. Aber schon nach wenigen Tagen gab er dem Plan seine Zustimmung, nur einige stilistische Verbesserungen hatte er angebracht; auch das ein beredter Zug in seinem Charakterbild. Seine Mängel muß er zu Anfang selbst gefühlt haben, denn er beantragte beim Kaiser die Ernennung des energischsten der damaligen Diplomaten, des Gesandten von Kiderlen-Wächter zum Staatssekretär. Dasselbe tat der bisherige Staatssekretär Herr von Schoen.103 Dieser ging in seiner Selbsterkenntnis so weit, dem Kaiser zu erklären, Bethmann sei dem Auswärtigen nicht gewachsen und – so hat er später selbst erzählt – »ich bin auch nur eine gekochte Semmel«. Die Maßregel durchzusetzen, war nicht leicht, denn Kiderlen, einst bevorzugter Günstling, war in tiefste Ungnade gefallen, als dem Kaiser gewisse Briefe vorgelegt wurden, in denen sein gepfefferter schwäbischer Witz auch die Majestät des Herrschers nicht schonte. Dazu kam als weiteres Hindernis seine anstößige Lebensführung, die ihn bei Hofe unmöglich machte. Davon bildete sein offenes Zusammenleben mit seiner Sekretärin nur einen Teil. Es hat seinen literarischen Herold Ernst Jäckh Anlaß zu einer rührenden Schilderung gegeben, der ich auf Grund besserer Information – sie stammt von einem Diplomaten, der mit Kiderlen jahrelang die Wohnung geteilt hat – entschieden widersprechen muß.104 Kiderlen, ein Schürzenjäger, vor dem kein weibliches Wesen 102 Hermann Warmbold (1876–1976), deutscher Staatswissenschaftler, 1921 preußischer Minister für Landwirtschaft, 1931–1932 Reichswirtschaftsminister (DBA III, 965, S. 243 f.). 103 Wilhelm Freiherr von Schoen (1851–1933), deutscher Diplomat, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes (NDB 9, S. 82). 104 Ernst Jäckh (1875–1959), deutscher politischer Publizist (NDB 10, S. 264–267). Haller bezieht sich hier auf Ernst Jäckh (Hg.): Kiderlen-Wächter, der Staatsmann und Mensch. Briefwechsel und Nachlaß, 2 Bde., Stuttgart 1924.

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sicher war, war von zarten Gefühlen ebenso weit entfernt wie von religiösen Bindungen. Die Stelle, wo er seiner Mätresse klagt, er habe nicht zum Abendmahl gehen können, weil von ihr keine Nachrichten eingetroffen waren – Jäckh hat sie ernst genommen und zur Charakterisierung seines Helden benutzt –, ist nichts als einer der frechen zynischen Scherze, wie Kiderlen sie liebte. Daß der ­Kaiser sich sträubte, einen Mann dieser Art dauernd in seine Umgebung zu ziehen, kann man ihm nicht verdenken, aber da der Kanzler mit seinem Rücktritt drohte, gab er nach und Kiderlen wurde Staatssekretär. Ob das ein Glück war? Als er schon nach wenig mehr als zwei Jahren plötzlich starb, gab es Leute, besonders in seiner schwäbischen Heimat, die in ihm den verloren gegangenen Retter des Reiches sehen wollten.105 Der württembergische Ministerpräsident von Weizsäcker, der mit ihm von Jugend auf befreundet war, hat mir versichert, daß es mindestens 1914 nicht zum Krieg gekommen wäre, wenn Kiderlen noch auf dem Posten gestanden hätte. Das mag sein. Dennoch ist seine Amtsführung mit zwei Tatsachen belastet, die man nur verhängnisvoll nennen kann. Die eine ist das mit Krieg drohende Ultimatum an Rußland in der Balkankrise 1909. Es erging noch unter der Kanzlerschaft Bülows, war aber das selbständige Werk Kiderlens, der damals den erkrankten Staatssekretär vertrat, und zerstörte durch seine plumpe Fassung die letzte Möglichkeit der Wieder­ annäherung an Rußland und Befreiung vom Leitseil der österreichischen Balkanpolitik. Wie die Note abgegangen ist, hat Kiderlen seinem Freunde Weizsäcker folgendermaßen geschildert. Es war in den Tagen, als Bülow den Kaiser durch seinen tränenreichen Kniefall versöhnt zu haben glaubte. Kiderlen betritt, das Konzept in der Hand, das Zimmer des Kanzlers, der ihn mit dem Ausruf empfängt: »Denken Sie sich, der Kaiser hat sich bei mir zum Essen angesagt! Wen kann ich wohl dazu einladen?« Nachdem dieses Problem in gründlicher Erörterung gelöst ist, will Kiderlen zur Besprechung der Note übergehen. Aber Bülow hört ihn kaum an, sagt nur »Geben Sie her, geben Sie her«, und unterzeichnet ungelesen. Er hätte allen Grund gehabt, jedes Wort des Entwurfs zu prüfen, denn Takt und Feinheit der Stilisierung waren das letzte, wodurch K ­ iderlen sich auszeichnete. Die zweite Tat, mit der er seinen Namen in die Annalen der Weltgeschichte eingetragen hat, ist die Entsendung des Kriegsschiffs »Panther« nach Agadir 1911, durch die Frankreich gezwungen werden sollte, über Marokko, wo es sich bereits festgesetzt hatte, mit Deutschland zu verhandeln. Der Zweck wurde erreicht, wir bekamen sogar als Preis für die Anerkennung des französischen Protektorates über Marokko ein Stück französischen Gebietes am Kongo, über dessen Wert die Kenner jedoch sehr skeptisch urteilten. Zu diesem zweifel­ haften Tauschgeschäft war Kiderlen bewogen worden durch Weizsäcker, dessen Rat er vorher eingeholt und der ihm erklärt hatte, die öffentliche Meinung Deutschlands würde die Duldung der Franzosen in Marokko nur hinnehmen, 105 Alfred von Kiderlen-Wächter war von 1910 bis zu seinem Tod 1912 Staatssekretär im Auswärtigen Amt (NDB 11, S. 574 f.).

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wenn ihr dafür irgend ein Ausgleich geboten würde. Das war wohl richtig, aber mochte man über den Wert des neuen Territoriums denken wie man wollte, die mittelbaren Folgen des Handels überwogen alle etwaigen Vorteile: Sturz des friedliebenden und verständigungsbereiten Caillaux, Erwachen des kriege­ rischen Geistes in Frankreich und offener Zusammenstoß mit England, das im Erscheinen eines deutschen Kriegsschiffs an der marokkanischen Küste ein Anzeichen erblickte, Deutschland wolle sich als Seemacht am Atlantischen Ozean festsetzen.106 Wenn man schon einen Zwang, eine Drohung gegen Frankreich für nötig hielt, wäre dann nicht eine andere Form und eine andere Stelle als ­gerade ein Kriegsschiff und ein Platz am Atlantik geeigneter gewesen, meinet­ wegen der Aufmarsch mobilisierter Armeekorps in den Vogesen? Den Engländern wäre dann wenigstens der volkstümliche Vorwand für ihre Einmischung entzogen worden. Und hätte man ihnen nicht wenigstens durch rechtzeitige Aufklärung den Grund zu Mißtrauen und Verdächtigung benehmen können, benehmen müssen? In Deutschland war der »Panthersprung« vielfach als Zeichen des Erwachens aus langem Schlaf angesehen worden, die Alldeutschen jubelten, eine neue Zeitschrift, die sich »Der Panther« nannte, begrüßte den ­Anfang einer neuen Ära der Tat. Um so größer war die Enttäuschung, als das Ergebnis langen Verhandelns nur in einigen Quadratmeilen von Kongosumpf bestand, nachdem die Regierung auf die brutale Bedrohung durch England die Antwort schuldig geblieben war. In Wahrheit hatte es sich nur um ein diplomatisches Manöver gehandelt, das, kurzsichtig geplant, schlecht vorbereitet und ungeschickt ausgeführt, den Brennstoff vermehrte, dessen Entzündung schon nach drei Jahren den Weltbrand entfesseln sollte. Das Vorspiel oder der Auftakt zum Weltkrieg heißt Agadir, und sein Urheber ist Kiderlen-Wächter. Für einen großen Staatsmann kann man ihn danach kaum ausgeben, und seine Ähnlichkeit mit Bismarck bestand lediglich in burschikosem Auftreten, das mir übrigens weder geistreich noch geschmackvoll scheinen wollte. Kennt man außerdem die Art, wie er die Geschäfte behandelte, die zynische Frivolität seines Briefwechsels mit der Madame Jonin, einer früheren Geliebten, Frau eines russischen Diplomaten, die ihm als Spionin bei der Londoner russischen Botschaft wertvolle Dienste leistete, ihn aber gleichzeitig an die Franzosen verriet, so wird das Urteil nahezu vernichtend lauten müssen. Die frische Initiative, die man an ihm rühmte, erscheint denn eher als ein verwegenes Glücksspiel. Ein merkwürdiges Geständnis von ihm kann das bestätigen. Ich verdanke es meinem Kollegen Karl Müller, dem Theologen, der mit Kiderlen von der Schule her befreundet war.107 Auf dessen vorwurfsvolle Frage, wie er das Abenteuer von Agadir mit seinem dürftigen Ertrag rechtfertigen wolle, hat Kiderlen zur Antwort gegeben: »Was willst Du machen, wenn Du alles auf den Krieg ange106 Joseph Caillaux (1863–1944), französischer Politiker, 1911–1912 Premierminister (ABF III, 83, S. 236–266). 107 Karl Müller (1852–1940), deutscher evangelischer Kirchenhistoriker, Professuren in Berlin (1882), Halle (1884), Gießen (1886), Breslau (1891) und Tübingen (1903) (NDB 18, S. 436 f.).

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legt hast, und die Hauptperson versagt im entscheidenden Augenblick!« Daß er wirklich damals den Krieg hat entfesseln wollen, glaube ich dennoch nicht. Er gedachte wohl nur die deutliche Kriegsdrohung als letzten Trumpf zu benutzen, um die Franzosen gefügig zu machen; aber auch dafür war wohl der K ­ aiser nicht zu haben. So lange er lebte, hat Kiderlen die auswärtige Politik gemacht, und nicht der Kanzler. Bethmann Hollweg ließ sich von seinem Staatssekretär führen und sorgte nur dafür, daß künftige Aktenforscher seinen Anteil für größer halten mußten, als er war, indem er darauf bestand, sich den Text der Noten, die Kider­ len entworfen hatte, in die Feder diktieren zu lassen, sodaß er dem Uneingeweihten als ihr Verfasser erscheint. Von der Kleinlichkeit, die sich darin ausspricht, habe ich selbst eine Probe erlebt. Während des Krieges war das Konsulat in Basel überlaufen von Personen, die das Visum für ihre Pässe brauchten. Die Räume waren eng, Sitzgelegen­ heiten fehlten, meine zweiundsechzigjährige Schwiegermutter mußte einmal volle drei Stunden stehend auf Abfertigung warten.108 Ich hielt diesen Zustand für ernst genug, das Auswärtige Amt darauf aufmerksam zu machen, und bekam auch schon nach zwei Wochen eine Antwort. Sie war bezeichnend. Zunächst wurde ich zurechtgewiesen, weil ich den Mißstand gemeldet hatte. Es folgte eine weitläufige Erklärung: der Konsul sei unheilbar krank, könne aus persönlichen Gründen weder verabschiedet noch versetzt werden, daher fehle es an Kräften zu rascher Bewältigung der gehäuften Arbeit. Übrigens werde für Beschaffung von Stühlen im Wartezimmer gesorgt werden. Dieses Muster­ beispiel des Berliner Amtsstils trug die Unterschrift des Reichskanzlers. Für solche Bagatellen hatte der Mann Zeit im zweiten Jahr des Weltkriegs! Später hat er mir die Ehre erwiesen, mich unter Briefzensur zu stellen, warum, habe ich nie erfahren. Es geschah bald, nachdem ich vom König von Württemberg einen ­Orden für Verdienste während des Kriegs erhalten hatte.109 Ich habe für Bethmann von Anfang an weder Sympathie noch Bewunderung aufbringen können. Seine Beredtsamkeit, mit der er im Reichstag als Staats­ sekretär des Inneren Eindruck gemacht hatte, weil er es verstand, den »Gebildeten« herauszukehren, sogar Nietzsche zu zitieren, konnte mir nicht imponie­ren. Man liebte, sie als professoral zu bezeichnen, mir erschien sie fade und langweilig, und ich kann mir nicht denken, daß er einen guten Professor abgegeben hätte. Die Art vollends, wie er als Kanzler zu auswärtigen Fragen sprach, hat mir vom ersten Tage an den Eindruck gemacht, als fehle für die große Politik das Organ. Über seinen Charakter urteilte der Regierungspräsident Schneider, dessen ich schon gedachte, im Gegensatz zur allgemeinen Meinung, die ihn für anständig hielt, sehr ungünstig. Schneider hatte unter ihm im Ministerium des 108 Adelheid Fueter-Gelzer (1853–1938), Schwiegermutter Johannes Hallers (NDB 7, S. 553). 109 1916 wurde Haller vom württembergischen König das Wilhelmskreuz für Verdienste während des Krieges verliehen. Vgl. die Verleihungsurkunde vom 25.  Februar 1916 in: UAT 305/22.

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Innern als Vortragender Rat gedient und dabei die schlechtesten Erfahrungen gemacht; er nannte ihn unzuverlässig, unentschlossen und voll geistigen Hochmuts. Die Kennzeichung scheint mit zu dem Bilde zu passen, das die Öffentlichkeit im Laufe der Jahre von diesem Kanzler erhalten hat: sie erklärt sein Wirken und seinen gänzlichen Mißerfolg. Die Alldeutschen hatten ausnahmsweise einmal recht, als sie ihn den Totengräber des Deutschen Reiches nannten und zu stürzen suchten, nur vergriffen sie sich in den Mitteln; ihre öffentlichen Angriffe befestigten seine Stellung beim Kaiser, der, nach gewissen Randbemerkungen zu schließen, zunächst bei Kriegsausbruch die Unzuläng­lichkeit des Kanzlers stark empfunden haben muß, aber mit seinem gänzlichen Mangel an Folgerichtigkeit nicht den Entschluß fand, sich von einem Berater zu trennen, dessen Politik so vollständigen Schiffbruch erlitten hatte, und das um so weniger, je schärfer die öffentlichen Angriffe waren. Diese Angriffe sind es nicht zum wenigsten gewesen, die es Bethmann erlaubten, sich in der Gunst des Kaisers ­w ieder zu befestigen. Erst dem vereinten Ansturm von Reichstagsparteien, oberster Heeres­ leitung, Kaiserin und Kronprinz ist er schließlich im Juli 1917 erlegen, viel zu spät nach dem Urteil aller Einsichtigen, und eine bereits hoffnungslos gewordene politische Lage hinterlassend. Daß er sich so lange hatte halten können, verdankte er teils der Eigenschaft, die beim Kaiser die Willensstärke vertrat, dem Eigensinn, der sich gegen alles sträubte, wozu er genötigt werden sollte, teils seiner eigenen Biegsamkeit, die es ihm erlaubte, auch solche Maßregeln zu vertreten, die er, wie den rücksichtslosen U-Bootkrieg, mißbilligte und mit allen erlaubten und gelegentlich auch unerlaubten Mitteln bekämpft hatte. Er verriet damit, daß er auch als Reichskanzler ein Verwaltungsbeamter gelieben war, der das Aufgeben seines Postens als ehrenrührig empfindet, während der Staatsmann für die Durchführung dessen, was er für richtig und notwendig hält, seine Ehre und äußersten Falles sein Leben zum Pfande setzt. Seit Kiderlens Tode hatte Bethmann Hollweg die auswärtige Politik persönlich geleitet; der neue Staatssekretär, Herr von Jagow, hätte dazu wohl den Verstand, auch die diplomatische Routine, nicht aber die Kraft besessen.110 Vollendeter als er konnte ein Beamter in hoher Stellung das Bild der Schwäche nicht darstellen. Ich werde mich noch näher mit ihm zu beschäftigen haben. Die Folge seiner Unzulänglichkeit war, daß unter ihm die Räte des Amtes einen ungebührlich großen Einfluß gewannen. Der Unterstaatssekretär Zimmermann – auch auf ihn komme ich noch zu sprechen –, der Ministerialdirektor von Stumm, auch Hammann durften sich ziemlich selbständig bewegen, Stumm sogar die Rolle Holsteins im Kleinen zu spielen versuchen.111 Von ihm 110 Gottlieb von Jagow (1863–1935), deutscher Diplomat, 1913–1916 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes (NDB 10, S. 299 f.). 111 Arthur Zimmermann (1864–1940), deutscher Diplomat, 1916–1917 Staatssekretär im Auswärtigen Amt (DBA III, 1022, S.  438); Wilhelm von Stumm (1869–1953), deutscher­ Diplomat, seit 1908 im Auswärtigen Amt, 1916–1918 als Unterstaatssekretär (DBA II, 1285, S. 175–177).

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entwarf Eulenburg, der ihn in Wien als Botschaftsrat genossen hatte, mit sarkastischem Humor ein lebendiges Bild: er mache seinem Namen alle Ehre, denn er sei in der Tat stumm; um seine Meinung befragt, antworte er nur mit viel­ deutigem Achselzucken und vermeide überhaupt nach Möglichkeit jede andere als pantomimische Äußerung. Ein merkwürdiger Diplomat, der die Sprache, die nun einmal das wichtigste Mittel zur Beeinflussung anderer sei, grundsätzlich verschmähe! Auf Herrn von Stumm fällt der größte Anteil der Verantwortung, die Deutschland für die Entstehung des Kriegs 1914 zu tragen hat, wie man in der aufschlußreichen Schrift von Theodor Wolff »Der Krieg des Pontius Pilatus«, lesen kann.112 Man muß es Bethmann Hollweg lassen, daß er den Punkt erkannte, wo der Hebel anzusetzen war, sollte der Ring gesprengt werden, der sich um Deutschland gelegt hatte: das Verhältnis zu England mußte den Charakter des feind­ seligen Wettbewerbs verlieren und wenigstens neutrale Farbe annehmen, wenn es schon nicht möglich war, die früheren freundschaftlichen Beziehungen wieder herzustellen. Das bedeutete nichts anderes, als daß die Vergrößerung der deutschen Kriegsflotte aufgegeben wurde. Es verdient Anerkennung, daß Bethmann dazu einem Anlauf genommen hat, aber indem er es tat, hat er auch die Probe seiner Unzulänglichkeit abgelegt. Nachdem der Flottenbau so weit ge­ diehen war, gehörte die ganze Kraft einer willensstarken und unerschütterlich entschlossenen Persönlichkeit dazu, dem Kaiser, der die Schöpfung der deutschen Seemacht für seine historische Aufgabe ansah, wie sein Großvater die deutsche Großmacht zu Lande geschaffen hatte – zum Verzicht auf die in der Ausführung begriffenen Pläne zu bewegen. Diese Persönlichkeit war Bethmann nicht, und das Unglück wollte, daß er auf einen Gegner stieß, der ihm zwar an politischer Einsicht nicht vergleichbar, aber an Willenskraft weit überlegen war. Und wie in allen Kämpfen des Lebens nicht der Verstand entscheidet, sondern der Wille, so siegte im Kampf um die Seele Wilhelms II. nicht Bethmann, sondern Tirpitz. »Da sitzt der Mann, der mir meine ganze Politik zerstört hat«, hat Bethmann einmal bei einem Diner, auf den ihm gegenübersitzenden Admiral deutend, zu Weizsäcker gesagt. Es kennzeichnet ihn, daß er im Amte blieb, als es ihm nicht gelungen war, den Kaiser für seine Politik zu gewinnen. Er hätte gehen müssen, als Tirpitz siegte; statt dessen bequemte er sich dazu, eine Politik fortzuführen, die er selbst als zerstört ansah. Tirpitz und der Flottenbau haben mir, ohne daß ich dem Problem näher nachgesonnen hätte, niemals Vertrauen eingeflößt. Das Wesen, das um die junge Seemacht getrieben wurde, hatte mir von Anfang an mißfallen. Bei der Erneuerung der preußischen Armee unter Wilhelm I. war es anders zugegangen, sie war im Kampf gegen öffentliche Meinung und Volksvertretung durchgesetzt worden, ihr Wert und ihre Bedeutung war zunächst nur Eingeweihten erkennbar, Königgrätz und Sedan waren Überraschungen gewesen. Hier dagegen wurde eine Agitation in breitester Öffentlichkeit entfesselt, die an demagogi112 Theodor Wolff: Der Krieg des Pontius Pilatus, Zürich 1934.

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schem Lärm mit der Sozialdemokratie wetteiferte und mich durch ihren marktschreierischen Ton und ihre Prahlerei abstieß. Das war das Gegenteil der guten alten preußischen Überlieferung. Dem Flottenverein bin ich denn auch nur widerwillig, lediglich meinem greisen Kollegen Wilhelm Oncken zuliebe beigetreten und habe nach dessen Tode schleunigst meinen Austritt erklärt.113 Mir, der ich meine politischen Anschauungen den Lehren und dem Beispiel Bismarcks verdankte, wollte die Notwendigkeit des Flottenbaus nicht ohne weiteres einleuchten. War man bisher ohne dieses Machtmittel ausgekommen, so sah ich zunächst nicht, warum das nicht auch weiterhin möglich sein sollte. Für die Kolonien hatte ich nie etwas übrig gehabt; sie schienen mir einem Trugschluß ihr Dasein zu verdanken. Angeblich um der Übervölkerung Deutschlands zu steuern, setzte man sich in Gegenden fest, die wohl eine Handvoll Kaufleute und Beamte, aber niemals einen stärkeren Auswandererstrom aufnehmen konnten und deren Besitz für absehbare Zeit mehr kostete als er abwarf. Daß ich aus meiner geringen Begeisterung für diese Seite der d ­ eutschen Außenpolitik kein Hehl machte, hätte mir einmal in Rom um ein Haar eine ­Pistolenforderung von einem Unbekannten eingetragen, der im Wirtshaus vom Nebentisch aus mein Gespräch mit den Kollegen angehört hatte und sich als der soeben aus Ostafrika zurückgekehrte Leutnant Bronsart von Schellen­ dorf entpuppte.114 Er hat in der deutschen Ostafrikapolitik zeitweilig eine Rolle gespielt, die aber eines Tages mit einem moralischen Fiasko endete. Vollends fatal war mir die scharfe Spitze gegen England, die von Anfang an in der deutschen Kolonialpolitik steckte. Da ich in Rußland den unvermeidlichen künftigen Feind sah, konnte ich nicht anders, als die Anlehnung an England für das G ­ egebene halten, an England, von dem ich eine Bedrohung deutscher Lebensinteressen nirgends zu entdecken vermochte. Mein Mißtrauen gegen das Streben nach dem Besitz von Kolonien wurde gestärkt durch die unverkennbare Kälte, mit der Bismarck die von ihm selbst geschaffenen schon sehr bald behandelt hatte. Heute wissen wir, daß sein anfänglicher Eifer aus geheimen Ursachen entsprungen war, die mit der Sache selbst nichts zu schaffen hatten. Er rechnete damals (1885) mit dem baldigen Ableben des alten K ­ aisers und fürchtete, Deutschland werde unter der Regierung seines Nachfolgers in allzu große Abhängigkeit von England geraten. Dagegen wollte er, da es an einem natürlichen Interessengesetz fehlte, eine künstliche Reibungsfläche als Sicherung einbauen. Wenn das unsere Alldeutschen und Kolonialenthusia­ sten geahnt hätten! Sie taten ja so, als hinge von den Kolonien die Zukunft des Reiches ab und sahen demzufolge denn auch in England den Feind schlechthin, während Bismarck dasselbe England einmal (1878) den alten, traditio­ nellen Verbündeten Deutschlands genannt hatte, mit dem wir keine streitigen 113 Wilhelm von Oncken (1838–1905), deutscher Historiker, seit 1870 Professor in Gießen (NDB 19, S. 536 f.). Vgl. dazu auch Johannes Haller: Wilhelm Oncken, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 10 (1907), S. 253–255. 114 Friedrich Bronsart von Schellendorf (1864–1942), preußischer General (NDB 2, S. 637).

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Interessen hätten.115 Die künstliche Reibungsfläche zu schaffen ist ihm nur zu gut gelungen. Schon zwei Jahre später, im September 1887, hat der englische Ministerpräsident Salisbury zum französischen Ministerialdirektor, dem Grafen Chaudordy, im Hinblick auf die beginnende deutsche Kolonialpolitik von dem notwendigen Zusammenschluß Englands mit Frankreich und Rußland gesprochen.116 Einen Bericht des russischen Botschafters in Paris, Baron Mohrenheim, über diese Unterredung findet man an einer Stelle, wo ihn niemand suchen würde, nämlich in einer Broschüre des russischen Historikers Adamov über die Politik des Vatikans gegenüber Rußland unter Leo XIII.117 Ironie des Schicksals: zwei Monate nach jenem Gespräch mit Chaudordy erhielt Salisbury von Bismarck den berühmten Privatbrief, zwischen dessen Zeilen man den Wunsch nach einem deutsch-englischen Bündnis lesen kann.118 Nirgends hat es sich in schmerzlicherer Weise gerächt, daß Bismarck keine Schule gemacht, keine Überlieferung deutscher Außenpolitik hinterlassen hat, als auf dem Gebiet der Beziehungen zu England. So konnte es geschehen, daß schon die nächste Generation sich über die wahre Natur des deutsch-englischen Verhältnisses nicht klar war. Mehr und mehr verbreitete sich in Deutschland die Überzeugung, daß England der schlimmste Feind sei, gegen den man sich zu wehren habe. Sogar von einer Äußerung Bismarcks – Fürst Bülow hat sie in seiner »Deutschen Politik« angeführt – erzählte man, die das bestätigt habe.119 Ich hege die stärksten Zweifel an der Echtheit dieser Worte; wenn sie doch ­gefallen sein sollten, so käme es darauf an, in welchem Zusammenhang. Gehandelt hat Bismarck jedenfalls nicht danach; seine immer wiederholten Bemühun115 Zu Hallers These, Bismarck habe eigentlich kein Bündnis mit Russland, sondern eines mit England angestrebt, vgl. Benjamin Hasselhorn (Bearb.)/Christian Kleinert (Vorarb.): Johannes Haller (1865–1947). Briefe eines Historikers (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 71), München 2014, Nr. 176, S. 342, bes. Anm. 1. 116 Robert Gascoyne-Cecil, 3. Marquess of Salisbury (1830–1903), britischer Politiker, 1885– 1892 und 1895–1902 britischer Premierminister (BBA III, 397, S. 131–135); Jean-Baptiste Alexandre Damaze de Chaudordy (1826–1899), französischer Diplomat (ABF II, 146, S. 125–128). 117 An dieser Stelle hat Haller im Manuskript angemerkt: »Das Büchlein wurde 1943 in deutscher Übersetzung gedruckt, aber aus mir unbekannten Gründen nicht ausgegeben. Ein Exemplar erhielt ich persönlich aus dem Verlag.« Tatsächlich ist das Buch nicht nachweisbar. Vgl. aber Evgenij Adamow: Die Diplomatie des Vatikans zur Zeit des Imperialismus, Berlin 1932 (ohne das von Haller erwähnte Dokument). 118 Otto von Bismarck an Lord Salisbury, 22. November 1887, in: Johannes Lepsius u. a. (Hg.): Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlungen der Diploma­ tischen Akten des Auswärtigen Amtes. 4. Band: Die Dreibundmächte und England, ­Berlin 1922, Nr. 930, S. 376–380, hier bes. S. 378. 119 Bernhard von Bülow: Deutsche Politik, Bd. 1, Berlin 1916, S. 30: »›England‹, äußerte 1893 in Friedrichsruh bei einem Gespräch mit Heinrich v. Sybel Fürst Bismarck, ›ist der ge­ fährlichste Gegner Deutschlands. Es hält sich für unbesiegbar und glaubt Deutschlands Hilfe nicht zu brauchen. England hält uns noch nicht für ebenbürtig und würde nur ein Bündnis schließen unter Bedingungen, die wir nie annehmen können. Bei einem Bündnis, welches wir schließen, müssen wir den stärkeren Teil bilden.‹«

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gen um das englische Bündnis würden schlecht dazu passen, es sei denn, man unterstellte ihm die Absicht, die vorhandene Gegnerschaft, richtiger wohl das Mißtrauen Englands durch bündnismäßige Verpflichtungen zu neutralisieren. Für solche Gedankengänge hatte die neue Zeit wenig Verständnis. Nach ­ihrer Meinung bestand ein unversöhnlicher Gegensatz lebenswichtiger Interessen zwischen den beiden Ländern. »Die englische Politik« – so sagte mir schon in Rom 1901 der frühere dortige Vertreter der Frankfurter Zeitung, der inzwischen nach London übergesiedelt war, – »die englische Politik ist der kompendiöse Ausdruck der englischen Handelsinteressen, die sich überall mit der Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft kreuzen. Der immer schärfere Wettbewerb in Industrie und Handel erzeugt mit Notwendigkeit den politischen Gegensatz.« Das erinnerte mich an ein Gespräch, das ich zwei Jahre früher in Basel mit dem deutschen Generalkonsul in Schanghai, Dr. Knappe, einem Schwiegersohn Eckardts, geführt hatte.120 Es war zu der Zeit, als die peinlichen englischen Mißerfolge im Burenkrieg alle Welt beschäftigten. Ich hatte gegenüber der Burenbegeisterung, der auch die Schweizer Presse fast ausnahmslos verfallen war, in meiner Zeitung energisch Front gemacht und, ohne geradezu für die Engländer Partei zu ergreifen, einer ruhigen Beurteilung, wie sie einem unbeteiligten und am meisten einem grundsätzlich neutralen Lande anstehe, das Wort geredet.121 Knappe war anderer Meinung. Er hatte zeitweilig in Südafrika gedient, hielt viel von den Buren und war erfüllt von einer Erbitterung gegen England, wie sie mir in solcher Schärfe noch nicht begegnet war. In England sah auch er den eigentlichen und unversöhnlichen Feind, der den Aufschwung des deutschen Welthandels als Bedrohung seiner eigenen Macht­stellung empfinde und nicht dulden wolle. Auf meinen Einwand, daß von ­systematischer Bekämpfung des deutschen Wettbewerbs in den englischen Dominions und Kolonien so wenig wie im Mutterland etwas zu bemerken sei, die vielmehr das beste Absatzgebiet für deutsche Erzeugnisse seien, wurde mir erwidert, das sei zwar vorläufig noch der Fall, weil der Engländer, von Natur schwerfällig und am Gewohnten klebend, sich nur langsam zum Aufgeben der ihm als unfehlbares Dogma eingeprägten Grundsätze des Freihandels entschließe, aber der Tag werde kommen, wo er das werde tun müssen, um nicht im eigenen Hause von der tüchtigeren und fleißigeren deutschen Arbeit vom Markt gedrängt zu werden. Dagegen gelte es, sich bei Zeiten zu schützen. Es war das Lied, das man in der deutschen Öffentlichkeit in allen Tonarten bis zum Überdruß zu hören bekam, seit Tirpitz an der Spitze der deutschen Kriegsmarine stand und unter seiner Führung der Flottenverein das Land mit Werbevorträgen überschwemmte. Englischer Neid, so wurde einem da ge­predigt, gönne den Deutschen nicht die blühende Entfaltung ihres Handels und suche ihnen die Früchte ihrer Arbeit zu verkümmern; England fürchte 120 Wilhelm Knappe (1855–1910), deutscher Diplomat, 1898–1906 Generalkonsul in Schanghai (DBA III, 491, S. 350). 121 Vgl. oben Kapitel IV.5.

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die deutsche Überlegenheit, wolle sich nicht zu gleichen Anstrengungen zwingen lassen und werde, um seinen fünfstündigen Arbeitstag und sein behagliches Weekend gegen die 48 Wochenstunden des deutschen Geschäftsmanns zu ­verteidigen, eines Tages den deutschen Außenhandel mit brutaler Gewalt vernichten. Um uns gegen diese drohende Gefahr zu schützen, müßten wir eine Kriegsflotte haben, die England so weit gewachsen sei, daß es das Wagnis, uns anzugreifen, scheue. Es war der Gedanke, der dem Tirpitzschen Bauplan zu Grunde lag und von der Nation angenommen war. Die »Risikoflotte« entstand. Wie das im einzelnen gemacht worden ist, wie es gelang, die Begeisterung für Seefahrt und Kriegsschiffe in Landschaften, wo die wenigsten Menschen jemals Seeluft gerochen hatten, zu wecken und so weit zu steigern, daß Bauernburschen aus dem Schwarzwald und den bayrischen Alpen sich zum Dienst in der Kriegsmaschine drängten und Pfarrerssöhne den Eltern davonliefen, um zur See zu gehen, das brauche ich hier nicht zu schildern. Das Schauspiel hatte etwas Befremdliches; man konnte sich fragen, ob es nicht gegen die Natur der Dinge verstoße und an die Schwärmerei unreifer Jugend für das Abenteuer in der Fremde gemahne, wenn ein so ausgesprochenes Binnenland mit so kurzer Küsten­strecke – für den Welthandel kam ja nur die Nordseeküste in Betracht –, wenn ein Volk von Landratten seinen Beruf plötzlich auf dem Weltmeer entdeckte. Aber der Erfolg ließ nichts zu wünschen übrig, Seefahrt und Seegeltung wurden zu nationalen Glaubenssätzen, die Marine erfreute sich der größten Beliebtheit, die Öffentlichkeit wurde gewonnen, der Widerspruch immer klein­ lauter, die Mittel wurden bewilligt, die Flotte wurde gebaut, die dereinst dem Deutschen Reich die gleichberechtigte Stellung an der Seite Englands, wenn nicht noch mehr, verschaffen sollte. Ich kann nicht leugnen, daß auch für mich, der ich in einer alten Hansestadt und mit hanseatischen Überlieferungen großgeworden war, der Gedanke einer deutschen Seemacht viel Verführerisches hatte.122 Ich hätte auch nichts dagegen gehabt, eines Tages den Engländern klarzumachen, daß ihre mitunter so hochmütig und brutal ausgeübte Beherrschung der Weltmeere nicht ihr für alle Zeiten von Gott verliehenes Vorrecht vor allen andern Völkern sei. Aber wie Deutschland dahin gelangen könne, ihnen zur See als gleichberechtigte Macht gegenüberzutreten, sah ich nicht. Nachhaltigen Eindruck hatte mir ein Gespräch (1900) mit zwei hamburgischen Großkaufleuten gemacht, die darauf hinwiesen, daß wir nicht imstande seien, England im Bau von Kriegsschiffen einzuholen, weil – ganz abgesehen von der Überlegenheit der englischen Geldmittel – für jedes Schiff, das auf unseren Werften entstand, auf den zahlreicheren und leistungsfähigeren englischen deren mindestens zwei auf Kiel gelegt werden könnten. So verstand ich nur zu gut, daß man in England die längste Zeit mit freundlicher Geringschätzung auf den deutschen Flottenbau herabsah, den man für ungefährlich halten durfte – »Willys Spielzeug« wie man drüben sagte. Die gründliche Änderung des Verhältnisses, die 1905 eintrat, als die 122 Haller lebte 1875–1883 in Reval (heute: Tallinn). Vgl. dazu oben Kapitel II.1.

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Engländer zum Bau von bedeutend größeren und stärkeren Schlachtschiffen, dem Typus Dreadnought, übergingen, die ihre ganze Kriegsflotte mit einem Schlage entwerteten und es Deutschland erlaubte durch Nachahmung ­ihres Beispiels den Wettlauf zu günstigeren Bedingungen aufzunehmen, war mir entgangen, da die Öffentlichkeit darüber begreiflicherweise nicht aufgeklärt wurde; wie ich auch nicht durchschaute, daß Deutschland vermöge seiner größeren Volkszahl für die Bemannung der Schiffe gegenüber England im Vorzug war. Es konnte der Fall eintreten, daß Englands Menschenvorrat erschöpft war, während Deutschland noch genügend Reserven besaß, um weitere Schiffe auszurüsten, mit denen es dann England überlegen gegenüberstand. Darum hielt ich – und so wird es wohl vielen Laien gegangen sein – unser Streben, es den Engländern zur See gleichzutun, von vorn herein für aussichtslos und würde es richtiger gefunden haben, wenn wir uns ein für alle Male mit einer zweiten Rolle begnügt hätten, die die Engländer nicht zu grundsätzlicher Gegnerschaft herausforderte. Denn das war mir schon klar, obwohl es bei uns von den meisten übersehen wurde, daß für England die Überlegenheit zur See gegenüber jeder anderen Macht und selbst gegenüber der vereinigten Macht mehrerer S­ taaten eine Frage von Sein oder Nichtsein bedeutete, weil die Insel ohne den Schutz ihrer Kriegsflotte jedem Eroberer in kurzer Zeit preisgegeben ist. Ich gestehe offen: welchen Grad von Spannung unser Verhältnis zu England seit Algeciras erreicht hatte, ahnte ich so wenig wie die allermeisten und begriff darum auch nicht die angstvolle Feindseligkeit, die in England nach allen Anzeichen herrschte. Wir waren dort buchstäblich zum Kinderschreck geworden. Einer meiner Freunde hörte im Sommer 1913 im Hyde Park zu einem ungebärdigen Kinde die Nurse sagen: »Wenn du nicht artig bist, rufe ich die deutsche Flotte!« Unsere Presse tat, offenbar einer höheren Weisung folgend, garnichts zur Aufklärung weder über den wahren Stand der Dinge noch über seine Ur­ sachen und schenkte namentlich den Rüstungen zu Lande, die drüben mit Hochdruck betrieben wurden, nicht die gebührende Beachtung. Daß man dort eifrig bemüht war, sich eine Armee zu schaffen, um bei Gelegenheit auf dem Festland eingreifen zu können, blieb bei uns den meisten unbekannt. Die Anstrengungen, die drüben in dieser Richtung im Gange waren, wurden mit leisem Hohn behandelt, als handelte es sich um dilettantische Versuche, uns ebenbürtig zu werden, die niemals gelingen könnten. Anstatt zu erkennen, daß wir es bei einem künftigen Kriege mit Frankreich auch mit England zu tun und eine englische Armee an der Seite der französischen zu bekämpfen haben würden, und daß dieser Fall schon in allernächster Zeit eintreten könne, hielten wir nach wie vor England als Landmacht für keinen ernsthaften Gegner. Die ganze ­Gefährlichkeit der Lage, in die wir durch den Anschluß Englands an unsere beiden festländischen Gegner geraten waren, ist mir darum wie wohl den allermeisten nicht klar geworden. Übrigens glaube ich nicht, daß ich, hätte ich sie gekannt, die Bemühungen um Verständigung gebilligt haben würde, die von englischen Liberalen betrieben, von unserer Seite durch Abordnung von Geistlichen und Gelehrten allzu

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eifrig erwidert wurden. Einen kleinen, aber bezeichnenden Zug hat mir einer der Teilnehmer am Empfang der deutschen Geistlichen durch Edward VII. erzählt.123 Als der Sprecher die Hoffnung auf gegenseitiges Verstehen und freundlichere Beziehungen äußerte, schloß der König demonstrativ die Augen! Mir wollte diese Beflissenheit durchaus nicht gefallen; sie schien mir nicht würdig und in jedem Fall ganz vergeblich. Daß in England die Politik in anderen Kreisen gemacht wurde, als zu denen unsere Akademiker und Intellektuellen Bezie­ hungen hatten, und daß die Art, wie unsere Abgesandten drüben empfangen wurden, darum gar keine politische Bedeutung hatte, konnte oder wollte man bei uns nicht begreifen. Hielt man es doch sogar für ein Zeichen gebes­serter Beziehungen, daß der englische Kriegsminister Haldane, unter dessen parla­ mentarischer Verantwortung General Ian Hamilton die expeditionary force, die Landungsarmee, schuf, als Goetheverehrer die Erinnerungsstätten in Weimar und Wetzlar besuchte.124 Dem ahnungslosen Laien ist diese Naivität zu verzeihen; weniger verständlich ist es, wenn zu gleicher Zeit die deutschen Staats­männer sich in der Illusion wiegten, sie könnten durch Verhandlungen über Austausch von Kolonialgebieten Englands Freundschaft wiedergewinnen, während ihnen gleichzeitig Madame Jonin die Beweise auslieferte, daß zwischen London und Petersburg die Verabredungen über gemeinsamen Krieg gegen Deutschland bis zur Ausarbeitung von Operationsplänen gediehen,­ wonach englische Schiffe in den russischen Häfen vor der Kriegserklärung bereit liegen sollten, um die Landung russischer Truppen in Pommern möglich zu machen. Die Dame leistete auch nach Kiderlens Tode gute Dienste.125 Durch sie wurde das Auswärtige Amt über den Schriftwechsel zwischen London, Petersburg und Paris ständig auf dem Laufenden gehalten. Man wußte also in der Wilhelmstraße genau, woran man war und worauf man sich gefaßt zu machen habe, aber man konnte sich nicht entschließen, die Folgerungen daraus zu z­ iehen, die sich aufdrängten. Der Reichskanzler hielt es nicht einmal für angezeigt, dem Kaiser von den einlaufenden Berichten Kenntnis zu geben. Theodor Schiemann, der sie zu übersetzen hatte – sie waren russisch geschrieben – drang vergeblich in den Kanzler, er dürfe sie dem Kaiser nicht vorenthalten.126 Bethmann weigerte sich; der Kaiser, meinte er, hält nicht dicht, und dann versiege die Quelle. – Was nützte ihm die Quelle, wenn er sie nicht praktisch verwertete? 123 Eduard VII. (1841–1910), seit 1901 König des Vereinten Königreichs Großbritannien und Irland und Kaiser von Indien (BBA III, 461, S. 85). 124 Richard Burdon 1st Viscount Haldane (1856–1928), britischer Politiker, Studium in Edinburgh, Göttingen und London, 1905–1912 Kriegsminister, scheiterte 1912 mit dem Plan, ein Flottenabkommen mit Deutschland zu erreichen (BBA III, 192, S. 33–84); Ian Hamilton (1853–1947), britischer General (BBA III, 194, S. 202 f.). 125 Alfred von Kiderlen-Wächter starb 1912 als Staatssekretär im Auswärtigen Amt (NDB 11, S. 574 f.). 126 Theodor Schiemann (1847–1921), deutschbaltischer Osteuropa-Historiker, seit 1892 Professor in Berlin (NDB 22, S. 741 f.).

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Für die damalige Art der Geschäftsführung an höchster Stelle ist kaum e­ twas bezeichnender als diese Verheimlichung der wichtigsten Nachrichten vor dem Herrscher, der dadurch über die Lage, in der er sich befand, vollkommen getäuscht wurde. Bezeichnend aber ist nicht weniger, daß der König von Württemberg, dem ich davon erzählte – Schiemann hatte es mir geklagt – das Verhalten des Kanzlers billigte: bei der eigentümlichen Art des Kaisers, so meinte er, müsse er schon die Verantwortung ganz auf sich nehmen. Kann man da noch sagen, Wilhelm II. habe wirklich regiert? Spätere Zeiten werden Mühe haben zu verstehen, daß die Tirpitzsche Begründung des Flottenbaus – eine Kriegsflotte, die England nicht bedrohte, aber es vom Angriff abschreckte – daß der Gedanke der Risikoflotte in Deutschland allgemein, von Reichstag und öffentlicher Meinung, ohne Prüfung und Kritik hingenommen worden ist. Schon heute, da wir durch die Erfahrung belehrt worden sind, was für einen Trugschluß diese scheinbar so bestechende Argumentation enthielt, fällt es schwer, sich in die Gedankenwelt von damals z­ urück zu versetzen. Was mich betrifft, so kann ich nur sagen, daß ich ein g­ ewisses Mißtrauen niemals losgeworden bin. Abgesehen davon, daß nicht jedermann davon zu überzeugen sein dürfte, eine Flotte, die so stark ist, daß der Angriff auf sie nicht rätlich erscheint, könnte nicht eines schönen Tages ihrerseits zum Angriff übergehen – welchen Schutz würde eine solche Flotte dem überseeischen Handel bieten? Setzen wir den Fall, die Engländer sperrten ihre Häfen den deutschen Schiffen und wiesen den deutschen Kaufmann aus ihren Kolonien aus oder zerstörten durch drakonische Maßnahmen irgend welcher Art das deutsche Geschäft, was nützte uns dann eine Flotte, die sie nicht anzugreifen wagten? Müßte nicht Deutschland in solchem Fall selbst zum Angriff schreiten? Daß wir übrigens mit einer Flotte, die den Gegner nicht zum Kampf herausforderte, besiegt werden konnten, auch ohne angegriffen zu werden, haben wir zwischen 1914 und 1918 nur zu handgreiflich erfahren. Es fällt wirklich schwer, zu glauben, diese Möglichkeit sei in unserem ­Admi­ralstab gar nicht ins Auge gefaßt worden, wenn sie auch öffentlich niemals erwähnt wurde. In den neunziger Jahren, als der Fall eines Krieges zwischen England und Frankreich noch nahe lag, wußten die Franzosen, daß der englische Plan dahin ging, ihre Kriegsschiffe in den Häfen einzusperren (to bottle up french fleet, die französische Flotte einzukorken). Man versteht darum, daß die Engländer die ganze Theorie von der Risikoflotte offenbar nicht ernst ­nahmen, da sie solche Besorgnis vor einem deutschen Angriff verrieten. Sie hielten sie für einen Vorwand, hinter dem sich geheime Angriffsabsichten verbargen. Hatten sie damit am Ende recht? Hatte Tirpitz seine Lehre nur aufgestellt, um dem Reichstag die Bewilligung der Mittel für den Bau einer Flotte zu erleichtern, die sich künftig der englischen überlegen erweisen sollte? Sein Verhalten bei Kriegsausbruch 1914, wie er selbst es nachträglich dargestellt hat, scheint den Argwohn zu bestätigen. Bekanntlich ist er nicht müde geworden, den Kaiser und seine Berater zu beschuldigen, sie hätten damals die besten Sieges­aussichten verscherzt, als sie die Schiffe vom sofortigen Angriff auf England, den er ­gefordert

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haben will, zurückhielten, also nur das taten, was er selbst immer als die Aufgabe der deutschen Kriegsflotte gepredigt hatte. Er würde also, wenn anders er sich wirklich so verhalten hat, wie er behauptet – von seinen Gegnern ist das, wie man weiß, bestritten worden – seine eigene Theorie in der Praxis verleugnet haben. Den Großadmiral habe ich selbst nie gesehen, aber von solchen, die ihn kannten, viel über ihn gehört. Daß er allgemein für wenig wahrheitsliebend galt, will ich nicht zur Grundlage des Urteils machen; im politischen Kampf ist das Abweichen von der Wahrheit mitunter unvermeidlich. Fürst Eulen­ burg schilderte ihn als höchst leidenschaftlich und leicht aufbrausend: wenn er beim Kaiser zum Vortrag erschien, habe er oft schon im Vorzimmer einen Zornesausbruch gehabt. Heftige Zusammenstöße mit dem Kaiser, wo dann sein Vorgänger, Admiral Hollmann, allemal vermitteln mußte, seien an der Tagesordnung gewesen, übrigens der vollgültigste Beweis dafür, daß Wilhelm II. unabhängige Naturen und ein offenes Wort sehr wohl vertrug.127 Auszusetzen hatte der Fürst an Tirpitz den Mangel »pupillarischer Sicherheit«, wie Bismarck es nannte; er sah dem Unterredner nicht ins Gesicht, sein Blick schweifte in die Ferne, an die »Kimm«, was kein Vertrauen weckte. Eine offene, gerade Natur war er nicht, den vollen Einsatz der eigenen Persönlichkeit in kritischen Augenblicken mied er. Als im Reichstag 1929 über den Youngplan entschieden werden sollte und die Deutschnationalen zwischen Annehmen und Ablehnen schwankten, blieb Tirpitz, ihr Vorsitzender, wie mir der württembergische Abgeordnete Bazille in bitteren Ausdrücken geklagt hat, sowohl der Fraktionssitzung wie der Abstimmung im Plenum fern.128 Auch sein Verhalten bei Kriegsausbruch macht nicht den Eindruck aufrichtiger Entschlossenheit. Wenn er damals, wie er später behauptet hat, den sofortigen Einsatz der Flotte für geboten und aussichtsreich hielt, mußte er seine Ansicht mit dem vollen Gewicht seiner Autorität und nötigenfalls mit rücksichtslosem Nachdruck zur Geltung bringen, wie es Bismarck 1866 gegenüber seinem zaudernden König getan hat. Stattdessen hat er sich in der Beratung so zweideutig geäußert, daß man ihm später auf Grund des Protokolls vorhalten konnte, er habe dem Beschluß, die Flotte zurückzuhalten, zugestimmt. Schließlich habe auch ich mit andern in der Vaterlands­ partei 1917/18, deren Vorsitzender Tirpitz war, die Erfahrung gemacht, daß der Großadmiral offenes Hervortreten nicht liebte.129 Wir empfanden es bei der Agitation im Lande äußerst hemmend, daß wir ohne Weisungen, ohne Richt127 Friedrich von Hollmann (1842–1913), deutscher Admiral, 1890–1897 Staatssekretär des Reichsmarineamts (DBA II, 610, S. 11 f.). 128 Der Young-Plan von 1929 enthielt eine Neuregelung der Deutschland durch den Versailler Vertrag aufgelegten Reparationszahlungen: Die Gesamtsumme wurde darin auf 112 Milliarden Reichsmark, die Laufzeit auf 1988 festgesetzt. DNVP, NSDAP und Stahlhelm­ initiierten daraufhin einen Volksentscheid gegen den Young-Plan, der aber scheiterte. Vgl. Gerhard Taddey (Hg.): Lexikon der deutschen Geschichte. Ereignisse  – Institutionen  – Personen. Von den Anfängen bis zur Kapitulation 1945, Stuttgart 31998, S.  1390 f. Zu Wilhelm Bazille und dessen Beziehung zu Haller vgl. oben Kapitel VII.3. 129 Zu Hallers Engagement in der 1917 gegründeten Vaterlandspartei vgl. oben Kapitel VI.1.

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linien, ohne alles Material gelassen wurden; aber unsere Anfragen und Bitten blieben vergeblich, Tirpitz war zu keiner Äußerung zu bewegen. Nach all dem kann ich es nicht für ausgeschlossen halten, daß er auch bei der Vertretung des Flottenplanes im Reichstag wie im Lande seine wahren Gedanken nicht ausgesprochen hat, daß ihm das Schlagwort der Risikoflotte dazu diente, Pläne ganz anderer Art zu verhüllen. Niemand kann sagen, ob Tirpitz die deutsche Flotte zum Siege geführt haben würde, wäre ihm im August 1914 der Oberbefehl, wie er es wünschte, übertragen worden. Gelegenheit, strategische Fähigkeiten zu beweisen, ist ihm nicht zuteil geworden, und man kann bezweifeln, daß er diese Eigenschaften besaß. Hinter dem Berge zu halten, wie er es liebte, ist nicht Feldherrnart. Aber als Schiffsbaumeister und Organisator steht er unerreicht da. Die Flotte, die u ­ nter seiner Leitung in erstaunlich kurzer Zeit geschaffen wurde, ist die beste gewesen, die es bis dahin gegeben hat; in der einzigen größeren Schlacht, die ihr zu liefern verstattet war, hat sie nach dem Urteil eines unparteiischen Fachmannes die Probe glänzend bestanden. Der spätere finnländische Groß­admiral ­Baron Schoultz Ascheraden, der den Tag von Skagerrak als russischer Verbindungsoffizier auf englischer Seite erlebte, bekennt in seinen Erinnerungen, ihm sei vom ersten Augenblick an die Überlegenheit der Deutschen in Material, Schießkunst, Manövrierfähigkeit und Ausbildung der Mannschaft klar gewesen.130 Mündlich ist er noch weiter gegangen; im Gespräch mit Georg Dehio hat er seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, Admiral Scheer habe damals den Sieg aus der Hand gegeben, der ihm winkte, wenn er im kritischen Augenblick entschlossen zum Angriff vorging, anstatt sich nur zu fragen, wie er am b ­ esten aus der Patsche herauskam.131 Hat es sich da etwa gestraft, daß die Offiziere der Kriegsmarine, wenigstens die älteren, dazu erzogen waren, die Aufgabe der Flotte vorzugsweise in der Defensive zu sehen? Wenn über Tirpitz’ letzten Gedanken der Schleier des Geheimnisses liegt, so ist einer von seinen Mitarbeitern offenherziger gewesen. Admiral von SendenBibran als Chef des kaiserlichen Marinekabinetts, einer der Meistbeteiligten am Aufbau der Flotte, hat aus dem, was er sich dachte, nicht immer ein Hehl gemacht.132 Darüber hat mir eine Aufzeichnung Eulenburgs vorgelegen, die ich in der Biographie aus naheliegenden Gründen nicht verwertet habe. Ich kann sie 130 Gustav von Schoultz: Mit der Grand Fleet im Weltkrieg. Erinnerungen eines Teilnehmers, Leipzig 1925, bes. S. 228–232. 131 Georg Dehio (1850–1932), deutschbaltischer Kunsthistoriker, Professuren in Königsberg (1883) und Straßburg (1892) (NDB 3, S. 563 f.); Reinhard Scheer (1863–1928), deutscher Admiral, 1916 deutscher Befehlshaber in der Schlacht vor dem Skagerrak gegen Groß­ britannien (NDB 22, S. 607). 132 Gustav von Senden-Bibran (1847–1909), deutscher Admiral, 1889–1906 Chef des kaiserlichen Marinekabinetts (DBA III, 848, S. 375). Die im Folgenden von Haller erwähnte Aufzeichnung Eulenburgs ist nicht abgedruckt in John C. G. Röhl (Hg.): Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 52), 3 Bde., Boppard am Rhein 1976–1983.

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jetzt, wo keine Rücksichten mehr hindern, die volle Wahrheit zu sagen, nicht im Wortlaut wiedergegeben, da mir der Nachlaß des Fürsten – ob er den Einbruch der Russen 1945 überstanden hat, weiß ich nicht einmal – nicht mehr zugänglich ist. Aber was den Inhalt betrifft, kann ich mich für die Treue meines Gedächtnisses verbürgen. Es war auf einer der kaiserlichen Nordlandfahrten zu Ende der 90er Jahre, daß der Admiral eines späten Abends auf dem Deck der »Hohenzollern« dem Fürsten die Baupläne des Marineamtes entwickelte: im nächsten Jahr dies, dann jenes und so weiter von Jahr zu Jahr fortschreitend; »und im Jahr 1917 ­schlagen wir die Engländer«! Von dieser Enthüllung und der naiven, um nicht zu sagen stupiden Denkweise, die sich darin aussprach, war der Fürst so erschüttert, daß er sich krank fühlte und eilte seine Koje aufzusuchen. Herr von Senden war, wie er auch bei dieser Gelegenheit bewies, kein großer, vollends kein feiner Geist; es wäre ihm zuzutrauen, daß er auch bei anderen Gelegenheiten ähnlich ge­ sprochen hat, und es wäre kein Wunder, wenn etwas davon den Engländern zu Ohren gekommen ist. Sie hätten darin die Bestätigung für das gefunden, was sie sich aus den Zahlen des Schritt für Schritt anwachsenden deutschen Ma­rine­ budgets ausrechnen konnten: daß die angebliche Risikoflotte in Wirklichkeit bestimmt war, eines Tages zum offenen Kampf mit der englischen Flotte und zwar zu einem Kampf ohne sonderliches Risiko stark genug zu sein. Tirpitz hat oft beteuert, und seine Anhänger haben es wiederholt, er habe nicht den Krieg gegen England sondern die Verständigung gewollt, zu der England sich jedoch erst herbeilassen würde, wenn Deutschland ihm zur See ebenbürtig geworden wäre. Man müßte sich wundern, wenn der Großadmiral wirklich so gedacht, wirklich geglaubt hat, England würde sich zur Verständigung zwingen lassen durch Drohung; denn darauf wäre es doch hinausgelaufen; und wie würde alsdann die Verständigung aussehen? Wem englische Art nicht ganz fremd war – auch Tirpitz muß sie bekannt gewesen sein –, dem konnte dieser Gedanke nur völlig absurd erscheinen. Vielmehr war als sicher anzunehmen, die Engländer würden alles in Bewegung setzen, um der Drohung zuvorzukommen, bevor sie ernstlich in Kraft trat. Sie brauchten dazu ja nicht zu plumpem Überfall nach dem Kopenhagener Beispiel von 1804 zu schreiten, wie Admiral John Fisher einmal dem König vorgeschlagen hat.133 Die Engländer hatten Mittel und Wege genug, Deutschland in eine Zwangslage zu versetzen, die ihm die Wahl stellte, auf weiteren Bau von Kriegsschiffen zu verzichten oder den Kampf auf Leben und Tod mit unfertiger, unterlegener Flotte, also mit bester Aussicht auf die Niederlage anzunehmen. Daß sie es so spät getan haben, ist ein 133 John Arbuthnot 1st Baron Fisher (1841–1920), britischer Admiral, 1904–1915 Erster­ Seelord (BBA III, 154, S. 231). Fishers Vorschlag von 1908, die deutsche Flotte in Kiel zu »kopenhagen«, bezog sich auf den 1801 erfolgten britischen Angriff auf Kopen­ hagen, bei dem die dänische Flotte vernichtet bzw. weggeschleppt wurde, nachdem das neutrale Däne­mark die Auslieferung verweigert hatte. Vgl. John Fisher: Memories, London 1919, S. 4.

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­ eweis, wie ungern sie sich zum Krieg entschlossen; auch dies kein Wunder: für B ein Land, dessen Lebenselement der Außenhandel ist, bedeutet der Krieg unter ­a llen Umständen zunächst empfindliche Verluste, während der spätere Gewinn ungewiß bleibt. Daß der Kaufmann den Krieg scheut und so lang wie möglich zu vermeiden sucht, ist also nur natürlich. Das ist bei uns immer verkannt worden, wenn man den englischen Handelsneid für die Kraft ansah, die zum Kriege trieb. In Wirklichkeit waren die britischen Handelskreise bis zuletzt gegen den Krieg, die wahren Kriegstreiber saßen ganz wo anders.134 Es bleibt noch die Frage zu erörtern, wie bei uns die Hauptperson über die Aufgabe der Flotte gedacht hat. Bestimmtes habe ich darüber nicht erfahren und würde wohl nach der Natur des Kaisers auch niemand haben sagen können. Wilhelm II. wird auch in dieser Frage wie in allen Dingen weder einheitlich noch folgerichtig gedacht haben. Daß er für englisches Wesen die stärk­ sten Sympathien hegte, ist bekannt, er hat daraus nie ein Hehl gemacht. Ebenso gewiß ist aber auch, daß er im Stillen von Neid und Eifersucht gegen dasselbe England erfüllt war; Empfindungen, die gelegentlich recht ungehemmt mündlich wie schriftlich hervorbrachen. Bei dem Familiendiner im Januar 1901, nach dem Tode der Königin Viktoria, hat er einen Trinkspruch auf das Zusammengehen der stärksten Landmacht mit der stärksten Seemacht zu vereinter Beherrschung der Welt ausgebracht, worüber die Londoner Presse auf Veran­lassung König Edwards nicht berichten durfte.135 Andererseits hat er bei seinen Fahrten nach England mehr als ein Mal seine Vertrauten auf die Punkte aufmerksam gemacht, an denen eine Landung möglich wäre. Welche Richtung er in letzter Linie einschlagen würde, hat er vermutlich selbst nicht gewußt. Gewagte Entschlüsse waren niemals seine Sache; so hat er denn in der entscheidenden Stunde 1914 der Flotte den verhängnisvollen Befehl erteilt, nur im Fall sicherer Erfolgsaussichten einen Angriff zu unternehmen, einen Befehl, der an sich widersinnig heißen muß; denn wie oft können im Kriege die Aussichten auf den Sieg für gewiß gehalten werden? Indem der Kaiser sich solchergestalt für den Risikogedanken im buchstäblichen Sinn entschied, ergab sich alles ­weitere mit Notwendigkeit: die Flotte blieb untätig, wich auch im Skagerrak, als sie dem Feinde unabsichtlich begegnete, der Entscheidung aus und lieferte schließlich den Brandherd für die Revolution, die Kaiser und Reich in Flammen aufgehen ließ. Da hat denn gar mancher, der früher den Stolz auf unsere Seemacht geteilt hatte, bei sich gedacht und mehr als einer es auch ausgesprochen: wir hätten besser getan, auf den Flottenbau zu verzichten, er war uns zum Verhängnis geworden. Wilhelm II. aber konnte das Prophetenwort auf sich beziehen: »Der Stab, darauf du dich stützest, wird dir die Hand durchbohren« (Jesaias).136 134 Diese These hat Haller bereits 1914 öffentlich vertreten. Vgl. dazu oben Kapitel VI.1. 135 Rede Wilhelms II. vom 5. Februar 1901, in: Wallscourt H.-H. Waters: »Secret and Con­ fidential«. The Experiences of a Military Attaché, London 1926, S. 254. 136 Vgl. Jesaja 36,6: »Verläßt du dich auf den zerbrochenen Rohrstab Ägypten, welcher, so­ jemand sich darauf lehnt, geht er ihm in die Hand und durchbohrt sie?«

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Die Flotte Deutschlands Schicksal, Deutschlands Verhängnis  – daran ist nicht zu zweifeln. Daß sie entstand, führte zum ersten Weltkrieg, der Deutschlands Großmacht, Wohlstand und Freiheit vernichtete. Die Unfähigkeit der ­republikanischen Regierung, das Volk aus diesem unerträglichen Zustand zu erlösen, bahnte den Weg zur Macht einem Diktator, der, wie wir zu spät erkannten, entweder Verbrecher oder wahnsinnig, vielleicht beides war. Ihn rechtzeitig zu beseitigen, gelang nicht, und so konnte er das deutsche Volk mit allen Mitteln der Täuschung und Gewalt, in dem Wahn, es auf den Gipfel der Weltherrschaft zu führen, nach vorübergehenden Erfolgen in den Abgrund stürzen, aus dem es sich nach menschlicher Voraussicht nicht mehr erheben wird. Wie nahe liegt es da, den Männern zu fluchen, die aus persönlichem Irrtum und falschem Ehrgeiz den Weg ins Verderben zuerst einschlugen! Aber sie sind nicht allein schuldig, sind am Ende nicht einmal die Hauptschuldigen. Nicht Wilhelm II. mit seiner Liebhaberei für das Seewesen, nicht der Ressorteifer eines Tirpitz und seiner Gehilfen, überhaupt kein Einzelner und keine Gruppe trägt die Schuld; schuldig ist die Nation in ihrer Gesamtheit, die es nicht nur hat geschehen lassen, die es gewollt und gebilligt hat, durch ihre gewählten Vertreter und durch die Stimme der öffentlichen Meinung. Gegen diese Wahrheit hilft kein Leugnen und keine Ausrede: es war der Wunsch der Deutschen, es den Engländern gleich zu tun, womöglich sie zu übertreffen. Ein Bedürfnis war es nicht. Gerade in den Jahren, wo der Wettlauf mit England in der Flottenrüstung aufgenommen wurde, erlebte Deutschland einen Aufschwung seiner Wirtschaft, entwickelte es seinen überseeischen Handel und seine Schiffahrt mit überraschender Schnelligkeit, stand es im Begriff, die Engländer in friedlichem Wettbewerb einzuholen. Wenn darob drüben von Zeit zu Zeit Stimmen des Mißvergnügens und der Besorgnis laut wurden, so standen ihnen die unanfechtbaren Zahlen der Statistik gegenüber, die bewiesen, daß die beiden Völker wirtschaftlich aufeinander angewiesen waren, Deutschland von allen auswärtigen Ländern der beste Abnehmer englischer Waren, England mit seinen überseeischen Besitzungen das ergiebigste Arbeitsfeld für deutschen Gewerbefleiß und Unternehmergeist. Es ist auch eine Tatsache, die niemand weg­leugnen kann, daß in den Jahren, wo der deutsch-englische Gegensatz die europäische Politik zu beherrschen anfing, die Klagen über den störenden deutschen Wettbewerb, die früher in England zeitweilig recht laut erklungen waren, mehr und mehr und schließlich ganz verstummten. Man hatte drüben erkannt, daß seit der Öffnung Chinas und dem Aufschwung des Verkehrs mit den gesamten ostasiatischen Gebieten die Welt auf lange Zeit weit genug war für zwei, und daß beide in friedlichem Wettbewerb auf ihre Kosten kommen konnten. Es war also keine Notwendigkeit, kein Zwang der Verhältnisse, was Deutschland getrieben hätte, der Rivale der englischen Seemacht zu werden, es war aber auch kein gesunder Ehrgeiz, der im Gefühl seiner Stärke fordert, was ihm von Rechtswegen zukommt. Es war  – ich kann das harte Wort nicht zurück­ halten – nationale Eitelkeit, die es nicht ertrug, zur See nur der zweite zu sein, da man zu Lande der Erste geworden war. Hat doch selbst Bismarck einmal ge-

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sagt: »Wir sind eine eitle Nation.«137 Ehrgeiz erstrebt, was er kann, Eitelkeit will für mehr gehalten werden, als man ist und sein kann. Sie ist bei den Deutschen nicht erst unter Wilhelm II., erwacht, sie spricht schon aus den Schriften der deutschen Humanisten zu Anfang des 16.  Jahrhunderts, die ihr Volk für das erste der Welt erklärten, allen andern, selbst den weltbeherrschenden Römern überlegen. Ihre Stimme klingt uns im 18.  Jahrhundert entgegen aus den patriotischen Oden eines Klopstock, und ungehemmt brach sie hervor in den Tagen der Revolution von 1848.138 Seinen Eindruck von dieser Bewegung hat ein in Berlin wirkender Schweizer, der sich indes ebenso sehr als Deutscher fühlte, der Historiker Heinrich Gelzer im Vorwort zum 2. Bande seiner Literaturgeschichte in die Worte gefaßt: »Wer im Frühling 1849 durch Deutschland reiste, erschrak über das Maß nationaler Eitelkeit, das einem damals allenthalben entgegentrat.«139 Von dieser Eitelkeit gibt es kein besseres Beispiel als die Schöpfung einer deutschen Kriegsflotte, die bekanntlich schon 1848 vom Frankfurter Parlament unternommen wurde, als es ein Deutsches Reich noch nicht gab. Praktischen Zweck und Nutzen hatte sie nicht und konnte sie nicht haben, aber in all ihrer bedeutungslosen Dürftigkeit schmeichelte sie dem Selbstgefühl der ­Nation, die sich einbildete, nun auch als Seemacht auftreten zu müssen. Ist es da noch verwunderlich, daß vierzig Jahre später, als Deutschland zu Lande wirklich Großmacht, vielleicht die erste Großmacht geworden war, als Wilhelm II. die Losung ausgab, es müsse nun auch zu Wasser Großmacht werden, dieser Ruf ein volles Echo weckte? Damit vergleiche man, wie vorsichtig Bismarck die Frage behandelt hatte. Auch ihm ist es von jeher klar gewesen, daß das Deutsche Reich eine Kriegsflotte nicht immer werde entbehren können. Der Erwerb von Kiel und Wilhelmshaven für Preußen, was hatte er sonst für einen Zweck? Vergebens jedoch sucht man nach Anzeichen dafür, daß die Schaffung dieser Seemacht dem Reichsgründer dringlich erschienen sei; eher könnte man von Vernachlässigung der Flotte sprechen. Was unter Bismarck geschah, ist nicht mehr gewesen als die Grundsteinlegung eines Baues, dessen Errichtung der Zukunft vorbehalten blieb. Für den Augenblick genügte es, daß der Keim da war, der sich entfalten konnte, sobald die günstige Jahreszeit gekommen war. Was Bismarck zu dieser Zurückhaltung bewog, ist nicht schwer zu erraten. Bismarck hat die englischen Interessen sorgsam geschont, so lange er an die Möglichkeit engerer Beziehungen zu England glaubte. Nur wenn daran nicht zu denken war, wie gegenüber dem Kabinett Gladstone, zog er andere Seiten 137 Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen, Bd. 1 [1898], in: Gesammelte Werke, NFA IV: Gedanken und Erinnerungen, Paderborn u. a. 2012, S. 102. 138 Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden, Hamburg 1771. 139 Heinrich Gelzer (1813–1889), schweizerischer Historiker und Diplomat, badischer Staatsrat und Vertrauter Friedrichs I. von Baden, Großvater von Hallers Ehefrau (NDB 6, S. 177 f.); Heinrich Gelzer: Die neuere deutsche National-Literatur nach ihren ethischen und religiösen Gesichtspunkten. Zur innern Geschichte des deutschen Protestantismus, 2 Bde., Leipzig 21847–1849.

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auf:140 da wurde die deutsche Kolonialpolitik ohne jede Rücksicht auf englische Pläne und Empfindungen aufgenomen und die deutsche Vertetung in Ägypten angewiesen, fortan nicht mehr für England, sondern für Frankreich und Rußland Partei zu nehmen. Kein Zweifel, daß es Bismarck darum zu tun war, Glad­stones Stellung zu erschüttern, womöglich zu seinem Sturz beizutragen. Als dies erreicht, die Konservativen unter Salisbury wieder an der Regierung waren, ­änderte Bismarck seine Haltung bis zu der berühmten Randbemerkung: »Lord ­Salisburys Freundschaft ist uns wichtiger als ganz Ostafrika.«141 Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, den Argwohn der Engländer durch Wett­rüsten zur See zu wecken, vollends nicht solange ein französisch-­russisches Bündnis ­bestand, das sich gegen Deutschland richtete. Dagegen wird die Geschichtschreibung der Zukunft es der Regierung Wilhelms II. immer als die größte aller Unbegreiflichkeiten vorwerfen, – um keinen schärferen Ausdruck zu brauchen – die dauernde Gegnerschaft Englands herausgefordert zu haben, ohne sich zu Lande durch ein festes und dauerhaftes Bündnis mit Rußland gedeckt zu haben. Wieder muß man Bethmann Hollweg die Gerechtigkeit erweisen, daß er diese Deckung gesucht hat, als ihm die Verständigung mit England nicht gelungen war. Ich habe seine Bemühungen um Rußland mit besonderem Interesse verfolgt, allerdings auch ohne besondere Hoffnung auf Erfolg. Durch meinen Bruder Gotthard, der als Pastor an der deutschen Kirche St. Annen in Petersburg wirkte und zahlreiche deutsch-baltische Mitglieder der Hofgesellschaft zu seiner Gemeinde zählte, war ich über die Lage der Dinge einigermaßen unterrichtet, in manchen Punkten vielleicht besser unterrichtet als die deutsche amtliche Vertretung. Zum Beispiel war ich gegen die übliche Unterschätzung der geistigen Fähigkeiten Nikolaus II. geschützt, da mein Bruder mir eine ­Äußerung des mit ihm befreundeten Präsidenten des evangelisch-lutherischen Generalkonsistoriums Baron Uexküll-Güldenband mitgeteilt hatte:142 der Zar sei zwar kein großer Geist, aber einer der schlauesten Menschen. Sein Unglück war überhaupt nicht Mangel an Verstand, sondern an Willensstärke; er war durch und durch schwach, freilich auch für seine Aufgabe zu wenig unterrichtet. »Da sieht man, was dabei herauskommt, wenn ein Herrscher zu wenig gelernt hat«, so hatte mit Bezug auf ihn schon 1905, während der ersten Revolution, der alte Großherzog von Baden zu mir bemerkt. Ich glaubte aber auch aus allem, was ich aus Petersburg erfuhr, schließen zu dürfen, daß unsere Versuche, dy­ 140 William Ewart Gladstone (1809–1898), britischer Politiker, 1864–1874, 1880–1885, 1886 und 1892–1894 Premierminister (BBA III, 175, S. 30–116). 141 Vgl. Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen, Bd.  3 [1919], in: Gesammelte Werke, NFA IV: Gedanken und Erinnerungen, Paderborn u. a. 2012, S.  489: »Der Satz, daß England für uns wichtiger sei als Afrika, den ich übereilten und übertriebenen Kolonialprojekten gegenüber gelegentlich ausgesprochen habe, kann unter Umständen ebenso zutreffend sein wie der, daß Deutschland für England wichtiger als Ostafrika sei, er war es aber nicht zu der Zeit, als der Helgoländer Vertrag abgeschlossen wurde.« 142 Julius Freiherr von Uexküll-Güldenband (1852–1918), deutschbaltischer Geheimrat, 1914– 1917 weltlicher Präsident des Evangelisch-Lutherischen General-Konsistoriums (BBL, S. 819).

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nastische Beziehungen auszunützen, durch den Zaren persönlich auf die russische Politik zu wirken – verlorene Liebesmüh waren, weil Nikolaus längst nicht mehr die entscheidende Stelle in der russischen Regierung war noch eigentlich auch sein wollte. War doch die Lieblingswendung, mit der dieser »Selbstherrscher« sich jedem Eingreifen in die Geschäfte zu entziehen suchte: »Dafür bin ich nicht zuständig« (ja ne pričom). Daß der Zar in Fragen der auswärtigen Politik wirklich nicht »zuständig« war, hätte man in Berlin besser als irgendwo sonst wissen können, seit er das Bündnis von Björkö, zu dem Wilhelm II. (1905) ihn fortgerissen hatte, auf den Widerspruch seiner Minister alsbald aufgegeben hatte. Seitdem hatte die Abwendung von Deutschland von Jahr zu Jahr zugenommen, und Bethmanns Bemühungen, die längst erkaltete, übrigens bei uns von jeher überschätzte historische Freundschaft der beiden Nachbarreiche wieder aufzuwärmen, hatten von vornherein wenig Aussicht. Seit Rußland und England sich über die vorhandenen Gegensätze in Asien geeinigt und die Begegnung Edwards VII. mit dem Zaren in Reval 1908 die Einigung vor aller Welt kundgemacht hatte, herrschte in der russischen Gesellschaft gegen Deutschland eine Kriegslust und Siegesgewißheit, die man sich zu verhüllen gar keine Mühe gab. Das erlebte der Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche Freifeld auf einem Staatsdiner bald nach den Tagen von Reval:143 die Unterhaltung drehte sich in der Hauptsache nur noch um den bevorstehenden russischen Siegeszug. Als Freifeld, der schweigend zugehört hatte, die Frage nach seiner Ansicht mit der Antwort, es stehe in Gottes Hand, auszuweichen suchte, rief der ihm gegenübersitzende Metropolit, sich auf die Brust schlagend: »S des’ Bog ne priĉom, my sami!« (Hier ist Gott nicht zuständig, wir selbst sind es). Es fehlte damals und später in Petersburg nicht an Leuten, die eine Verständigung mit Deutschland vorgezogen hätten; es hat sie sogar bis zuletzt gegeben. Vertrauliche Nachrichten wollten wissen, man wäre bereit, das Bündnis mit Frankreich aufzugeben, wenn Deutschland sich von Österreich lossagte. Lâchez donc l’Autriche! Ils vous lâcheront tout de suite la France – so lautete die Mitteilung eines Agenten, die mir Weizsäcker anvertraut hat. Etwas ähnliches habe ich in den ungedruckten Memoiren des Ministergehilfen (Unterstaatssekretärs) im Finanzministerium Berens gefunden.144 Er erzählt von einem Festessen, mit dem der Abschluß des deutsch-russischen Vertrags über den Schutz geistigen Eigentums im Jahre 1913 gefeiert wurde. Da habe die freundschaftlichste Stimmung geherrscht, sodaß Berens zu seinem Nachbar, dem deutschen Botschaftsrat von Lucius – er war in der Botschaft die Hauptperson, der Botschafter Graf Pourtalès galt allgemein als Null – sagen konnte:145 »So gut würden wir uns im143 Konrad Freifeld (1847–1923), deutschbaltischer evangelischer Geistlicher, 1896 Bischof des Petersburger Konsistorialbezirks (BBL, S. 223). 144 Eduard von Berens (1843–1916), deutschbaltischer Ministerialbeamter (BaBA I, 25, S. 362). 145 Hellmuth Freiherr Lucius von Stoedten (1869–1935), deutscher Diplomat (NDB 25, S. 645); Friedrich Pourtalès (1853–1928), deutscher Diplomat, 1907–1914 deutscher Botschafter in Petersburg (DBA III, 714, S. 382 f.).

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mer vertragen, wenn Deutschland sich entschließen wollte, Österreich fallen zu lassen.« Worauf Lucius bemerkt haben soll, das sei auch seine Meinung. Ob das noch ausführbar war, ob und wie lange eine offizielle russische Freundschaft die nötige Sicherheit geboten hätte, war allerdings eine schwer zu be­ antwortende Frage; aber so lange Deutschland am österreichischen Bündnis festhielt, konnte von Verständigung mit Rußland nicht die Rede sein, zumal wenn wir fortfuhren, der österreichischen Balkanpolitik zu sekundieren, wie wir 1909 mit dem plumpen Kiderlenschen Ultimatum getan hatten, und erst recht nicht, seit wir uns für die militärische Kräftigung der Türkei interessierten, wie es durch den Bau der Bagdadbahn und Reformierung der türkischen Armee geschah.146 Was sollten alle Versuche, den russischen Draht wieder­anzuknüpfen, nützen, wenn wir zur selben Zeit dem russischen Vordringen auf Konstantinopel entgegentraten, wovor Bismarck nicht dringend genug hatte warnen können? Nirgends trat der Mangel an Zielklarheit und einheitlicher Folgerichtigkeit, der unsere auswärtige Politik unter Wilhelm II. und am meisten unter Bethmann Hollweg beherrschte, greifbarer zu Tage. Konnte man überhaupt noch von Politik sprechen, wenn in Berlin versöhnlich sein sollende Noten ausgetauscht wurden, während ein deutscher General, Liman von Sanders, das Kommando der Truppen in Konstantinopel übernahm?147 Die Erhaltung des Friedens hing damals an der Person des russischen Mi­ nisterpräsidenten Stolypin.148 Wie man seitdem erfahren hat, ist er es gewesen, der sich bis zuletzt im Rate des Zaren dem Krieg widersetzt hat. Er würde ihn, wäre er noch am Leben gewesen, auch 1914 verhindert haben; nicht etwa aus grundsätzlicher Parteinahme für Deutschland, die ihm ebenso fern lag wie allen anderen russischen Staatsmännern, sondern weil ein Krieg sein innen­politisches Reformprogramm unmöglich gemacht hätte. Über dieses hat er sich gegenüber meinem Landsmann Paul Sokolowski bei dessen Ernennung zum Kurator des Charkower Lehrbezirks, der die südöstliche Ukraine umfaßte, ohne Rückhalt ausgesprochen.149 Sein Gedanke war folgender: Die Monarchie entbehrt in Rußland sowohl der festen Grundlage im Volk wie des bewaffneten Schutzes. Der Bauer, der anderswo das sichere konservative Element darstellt, ist in Rußland, 146 Die Annexion von Bosnien und Herzegowina durch Österreich-Ungarn löste eine diplomatische Krise aus; am 21. März 1909 machte Deutschland den als »Ultimatum« verstandenen Vorschlag einer Zustimmung aller an der Krise beteiligten Mächte zur Annexion. Vgl. Holger Afflerbach: Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Wien u. a. 2002, S. 656. 147 Otto Liman von Sanders (1855–1929), preußischer General, war Auslöser einer diploma­ tischen Krise, als er 1913 Chef der deutschen Militärmission in Konstantinopel und Kommandeur des 1. Armeekorps der von ihm zu reorganisierenden türkischen Armee wurde (NDB 14, S. 563–565). 148 Petr A. Stolypin (1862–1911), russischer Politiker (NDB 17, S. 288). 149 An dieser Stelle hat Haller im Manuskript angemerkt: »Sokolowski, livländischer Pfarrers­ sohn polnischer Abstammung, hatte in Dorpat studiert, war Professor der Rechte in Moskau und Königsberg gewesen und hat mir 1928 von seiner Unterredung mit Stolypin erzählt.«

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weil nicht Eigentümer des Bodens, der kommunistischen Propaganda zugänglich. Infolgedessen ist auch die Armee, die sich vermöge der allgemeinen Wehrpflicht aus Bauern und städtischen Arbeitern zusammensetzt, keine sichere Stütze des Thrones. Den Bauern durch Zuteilung von Grundeigentum zum Konservativen zu machen, war das Ziel der Agrarreform, die S­ tolypin betrieb; bis dieses Ziel erreicht wäre, und der Bauernstand eine zuverlässige Armee lieferte, mußten die Kosaken der Ukraine den Schutz des Monarchen übernehmen. Ich möchte nicht übertreiben, aber wenn ich mir die schlichte Großzügigkeit und Folgerichtigkeit dieses Gedankens überlege, so wüßte ich unter sämtlichen europäischen Staatsmännern nach Bismarck keinen, der Stolypin den ersten Platz steitig machen könnte, zumal dieser auch die Entschlossenheit und nachhaltige Energie besaß, die zur Ausführung erforderlich waren. Eigenschaften, die er wohl seiner deutsch-baltischen Mutter, einer Pilar von Pylchau, verdankte, wie er auch die politische und wirtschaftliche Bedeutung des bäuerlichen Grundeigentums als Gouverneur in Litauen an den Verhältnissen im benachbarten Livland erkannt hatte. Er erscheint mir wie ein Arzt, der, an das Bett eines für unheilbar gehaltenen Kranken gerufen, die richtige Diagnose stellt und die geeignete Behandlung anwendet. Daß Stolypin schon 1912, als seine Agrarreform erst in den Anfängen steckte, unter Bei­hilfe der Geheimpoli­ zei ermordet wurde, hat den Lauf der russischen Geschichte bestimmt. Ohne Zweifel wäre Rußland durch die begonnene Reform militärisch wie finanziell beträchtlich stärker, es wäre aber auch im selben Grad ein konservativeres und friedlicheres Element der europäischen Politik geworden, was es seit den 70er Jahren zu sein aufgehört hatte. Hinweggefallen wäre die ständige Bedrohung des Friedens, die von der russischen Eroberungssucht ausging, einer Folge seiner ungesunden Wirtschafts- und Finanzlage, die sich ihrerseits wiederum mit Naturnotwendigkeit aus dem bäuerlichen Agrarkommunismus ergab. Daß man in Rußland vor 1914 wirklich von einem Volk ohne Raum sprechen konnte, war eine mittelbare Folge des Agrarkommunismus. Weil nämlich der Anteil der bäuerlichen Familie an dem von ihr zu nutzenden Ackerland nach ihrer Kopfzahl bemessen wurde, hatte der Hausvater ein Interesse daran, daß seine Söhne möglichst früh heirateten. Daher das überraschend schnelle Anwachsen der Volkszahl, für die der Boden um so weniger ausreichte, als seine Bearbeitung – auch dies eine Wirkung des Agrarkommunismus – sehr viel zu wünschen übrig ließ. Denn was sollte den Bauern veranlassen, rationell und solide zu wirtschaften, wenn er nicht sicher war, daß die Steigerung der Bodenrente nach der nächsten Ackerverteilung noch ihm und nicht vielleicht seinem Nachfolger zu gute kam? Das Gesetz, wonach der Boden alle paar Jahre neu verteilt werden sollte, ist zwar mit der Zeit nicht mehr streng gehandhabt worden, aber so lange es bestand, hat das feste Verhältnis zwischen dem Bauern und seinem Hof sich nicht bilden können. Nun stelle man sich vor, was die Be­seiti­ gung dieser Faktoren bedeutet hätte – Rußland nicht mehr die Brutstätte der kommunistischen Revolution und des europäischen Eroberungs­k rieges – und man wird zugeben müssen, daß das Bild der europäischen Geschichte andere

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Züge getragen hätte, wäre nicht durch die Ermordung Stolypins das stärkste Bollwerk des Friedens, der Staatsmann, der ihn zur Vollendung seines Lebenswerkes am dringendsten brauchte, beseitigt worden. Wäre ihm ein längeres Leben und Wirken beschieden gewesen, so hätte es den Krieg 1914 nicht gegeben. Vielleicht war dies auch einer der Gründe für die wachsende Gegnerschaft, mit der er in seiner letzten Zeit zu kämpfen hatte. Übrigens sollen, wie mein Bruder mir erzählt hat, seine Tage schon gezählt gewesen sein, als die Kugel des Mörders sie abkürzte. Ein schweres Leberleiden, von dem er vergeblich durch langen Urlaub Befreiung gesucht hatte, hätte ihn unter allen Umständen binnen kurzem hinweggerafft, und ob sich dann ein Nachfolger ­gefunden hätte, der den Willen und die Kraft besaß, das Begonnene fortzusetzen und seine Störung durch außenpolitische Abenteuer zu verhindern? Der Mann, den der Zar mit der Aufgabe betraute, der Finanzminister Kokowzow, ein aufgedienter Tschinownik von der Art, von denen zwölf auf ein Dutzend gehen, mag den Willen vielleicht besessen haben, die Kraft hatte er nicht.150 Stolypin hatte die Lage im Innern wie nach außen beherrscht, bei Kokowzow war davon keine Rede. Immerhin, da sein Fach die Finanzen waren und Finanz­ minister im allgemeinen und in Rußland erst recht aus naheliegenden Gründen nicht kriegslustig sind, so konnte man erwarten, daß auch er den Kriegstreibern Widerstand leisten werde. Ich glaubte daher zu wissen, wie viel es geschlagen hatte, als zu Anfang 1914 die Nachricht kam, Kokowzow habe von einer italienischen Reise aus seinen Abschied genommen. Er war in absentia gestürzt worden. Um mich her fand ich niemand, der die Bedeutung des Ereignisses geahnt hätte; ein besonders eifriger Soldat unter meinen Kollegen hielt sogar den Augenblick für gekommen, als Reserveoffizier seinen Abschied zu nehmen. »Denn, so sagte er – wozu das Verhältnis fortsetzen? Krieg gibt es ja doch nicht!« Für mich stand es fest, daß wir in kurzem den Krieg haben würden. Es dachten nicht alle so optimistisch wie der erwähnte Kollege, Besorgnis vor einem Kriege war sogar recht verbreitet, aber sie war unbestimmt und unklar, sozusagen theoretischer Natur; wo und weswegen das Feuer ausbrechen würde, wußte man nicht zu sagen. Am wenigsten fürchtete man Rußland, obwohl dieses schon zweimal in den letzten Jahren (1909 und 1911) seine kriegerischen Absichten gegen Österreich deutlich verraten hatte. Man fürchtete es so wenig oder lebte so gedankenlos dahin, daß kriegswichtige Industrien Zweig­ niederlassungen auf russischem Boden anlegten, weil dort die Arbeitskraft billiger, also die Rente höher war, unbekümmert darum, daß im Kriegsfall nicht nur das Kapital verloren war, sondern die Anlagen dem Feinde zu gute kamen. Eine deutsch-russische Gesellschaft zur Ausdehnung des russischen Geschäftes wurde sogar noch 1913 gegründet. 150 Wladimir Nikolajewitsch Kokowzow (1853–1943), russischer Jurist, 1904–1905 und 1906–1914 russischer Finanziminister, 1911–1914 Ministerpräsident (Bernd Sösemann (Hg.): Theodor Wolff. Der Journalist. Berichte und Leitartikel, Düsseldorf 1993, S. 97). Ein Tschinownik ist ein russischer Beamter.

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Wesentlich schuld daran war die Reichsregierung; sie verbreitete geflissentlich die Meinung, es sei nichts zu befürchten. Als sogar die Kölnische Zeitung zu Anfang 1914, ganz gegen ihre Gewohnheit, Berichte ihres Petersburger Vertreters abdruckte, aus denen die russischen Kriegsabsichten schon für die nächste Zeit deutlich zu erkennen waren, geriet man in der Wilhelmstraße in entrüstete Aufregung über solche frevelhafte »Störung des Friedens«. Vollends gegenüber England gab man sich im Auswärtigen Amt einer unbegreiflichen Friedens­ seligkeit hin. Auf eine Anfrage im Reichstagsausschuß, die an sich schon von arger Verkennung der Gesamtlage zeugte, erwiderte der Staatssekretär von Jagow mit beruhigenden Phrasen über »das zarte Pflänzchen der englisch-­deutschen Freundschaft«, als ob da von Freundschaft überhaupt hätte die Rede sein können! Bethmann Hollweg scheint dennoch daran geglaubt zu haben, denn er ließ seinen Sohn in Cambridge studieren und bereitete dessen Auswanderung nach der Kapkolonie vor. Und das alles, obwohl Madame Jonin die Wilhelmstraße über die fortschreitenden englisch-russischen Kriegspläne auf dem laufenden hielt! War es da zu verwundern, daß die Öffentlichkeit sich über die Gefährlichkeit der Lage nicht klar wurde? Aber auch so war es wohl das stärkste, was sich der Reichstag in Verkennung seiner patriotischen Pflichten geleistet hat, daß er eben damals (Anfang 1914) einen lärmenden Angriff gegen die Regierung richtete aus Anlaß eines Zusammenpralls der bürgerlichen und militärischen Gewalt in Zabern.151 Besser hätte man es nicht anfangen können, um dem Ausland die Meinung beizubringen, in Deutschland habe die bewaffnete Macht keinen Rückhalt in der Nation. Es war, als tanzten wir mit verbundenen Augen an einem Abgrund entlang. Da fielen die Schüsse von Sarajewo. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie an dem strahlend schönen Sonntagnachmittag des 28. Juni 1914 meine Frau, aus der Stadt zurückkehrend, mir in atemloser Erregung zurief: »Der österreichische Thronfolger ist von einem Serben erschossen worden!« Ich konnte nur sofort erwidern: »Das ist der Krieg!« Zunächst war dies auch eine verbreitete Meinung. Aber als Woche um Woche verging, ohne daß etwas geschah, legte sich die Unruhe, und die wenigsten dachten noch an das, was kommen werde. Nicht nur in Deutschland. Mein Bruder aus Petersburg, der mich Mitte Juli auf einer Reise in die Schweiz besuchte, ging so weit, die Kriegsgefahr zu ­leugnen. Als ich ihm nahelegte, die Zeitungen sorgfältig zu verfolgen, um nicht von der Heimreise abgeschnitten zu werden, widersprach er mir auf das bestimmteste. Deutschland, meinte er, kann und wird es nicht zum Kriege kommen lassen, weil auch ein Sieg seine Lage nur verschlimmern könnte, da es dann zwei rachedürstende Nachbarn statt eines haben würde. Meine Entgegnung, daß alsdann wenigstens dem einen die Möglichkeit zur Rache genommen sein 151 Ende 1913 kam es im elsässischen Zabern zu einem Zusammenstoß zwischen dem deutschen Militär und der elsässischen Bevölkerung. Vgl. Gerhard Taddey (Hg.): Lexikon der deutschen Geschichte. Ereignisse – Institutionen – Personen. Von den Anfängen bis zur Kapitulation 1945, Stuttgart 31998, S. 1392.

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könnte, ließ er nicht gelten. Dazu sei Deutschland nicht stark genug. Er sprach damit natürlich nur aus, was in seinem Bekanntenkreis in Petersburg geglaubt wurde. Daß die eigentliche Gefahr von England her drohte, haben wir beide ­damals nicht geahnt, so sehr hatten die offiziellen und offiziösen Friedens­ schalmeien auch mich irre geführt. Ich bin buchstäblich aus den Wolken gefallen, als mich Herr von Weizsäcker, dem ich mich sogleich zur Verfügung gestellt hatte, am Abend des 1. August auf die Gefahr englischer Einmischung hinwies, die denn auch zwei Tage später Tatsache war. Ich bin nicht imstande, die Art zu schildern, wie die Schichten der Bevölkerung auf den Ausbruch des Krieges antworteten. Sie war außerordentlich verschieden. Ein junger Arbeiter, der an meinem Hause beschäftigt war, verbarg nicht seine Freude, als ich ihm die Nachricht mitteilte; er warf sein Werkzeug fort und streifte die Ärmel auf. Sein Nebenmann dagegen, älterer Familienvater, zeigte die Miene sorgenvoller Niedergeschlagenheit. Die langen Gesichter meiner Kollegen, denen ich in der Stadt begegnete, sehe ich noch; in ihrem Kreise herrschte weder Begeisterung noch Zuversicht, vielmehr das Gegenteil. Wenn die Zeitungen jener Tage das leuchtende Bild eines einmütig zu seiner Verteidigung aufstehenden Volkes zeichneten, so muß ich dem für den Kreis, den ich übersehen konnte, widersprechen. Ein kurzer Aufenthalt in Stuttgart am 3. August hat mir einen ganz anderen Eindruck verschafft: schwüle Stimmung, mühsam unterdrückte Besorgnis, von Kampfesfreudigkeit keine Spur, dagegen das widerliche Bild kopfloser Erregung, die schon an Hysterie grenzte. Überall herrschte eine lächerliche Spionenfurcht. Ich war Augenzeuge, wie ein Herr in einer Droschke von Vorübergehenden überfallen wurde, weil man ihn, ich weiß nicht warum, für einen Russen hielt. Ich selbst bin in Tübingen von einem ­freiwilligen Polizisten, der mich nicht kannte, nach meinem Ausweis gefragt worden. Es ist ja auch bekannt, daß der Übereifer der Bevölkerung an mehreren Orten Todesopfer gefordert hat.152 Wie schnell sich Gerüchte bildeten, was für Unsinn in den Köpfen entstand und geglaubt wurde, ist kaum zu sagen. Hier nur ein paar Beispiele. Während ich am Vormittag des 3. August bei Herrn von Weizsäcker war, wurde ihm ein Extrablatt gebracht mit der Nachricht, ein Unbekannter sei durch den Wachposten vom Dach der Hauptpost herabgeschossen worden, als er versuchte, die Leitungsdrähte zu durchschneiden. Ich erzählte das auf der Rückfahrt nach Tübingen einem jungen Juristen; er bestätigte die Tatsache, deren Augenzeuge er gewesen sein wollte. Wie sich später herausstellte, war kein Wort davon wahr. Auch die unfreiwillige Komik fehlte nicht. Eines späten Abends versam­melten sich die Leute auf der Neckarbrücke in Tübingen, um ein helles Licht zu beobachten, das sich anscheinend der Stadt näherte und für einen feindlichen Flieger erklärt wurde, bis ein zufällig vorbeikommender Professor sie belehrte, daß es der Jupiter sei. 152 Zu der in allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Staaten in der Anfangsphase des Krieges verbreiteten Spionenfurcht vgl. Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 145 f.

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Wer ein Gesamtbild des Deutschlands jener Tage geben wollte, müßte mit kontrastierenden Farben malen; die Stimmung war durchaus widerspruchsvoll, von einheitlicher Siegeszuversicht keine Rede. Wie viele mögen diese Spaltung in der eigenen Brust empfunden haben! Ich selbst habe den Kampf wider­ streitender Gefühle und Gedanken schon damals aufs stärkste erlebt, vollends, nachdem ich den erwähnten Besuch beim Ministerpräsidenten hinter mir hatte. Er hatte mich kommen lassen, um mich für eine freiwillige publizistische Tätigkeit mit Anweisungen zu versehen; ich sollte dafür sorgen, »daß die Stimmung erhalten bliebe«. Aber was er mir sagte, war eher geeignet, diese »Stimmung« herabzudrücken. Er empfing mich mit den Worten: »Jetzt ernten wir die Früchte der Ära Bülow«, ein Thema, das er dann in lebhaften Klagen über die verfehlte Politik des letzten Jahrzehntes variierte. Zu dem, was von Berlin aus in Umlauf gesetzt wurde, standen seine Äußerungen in unversöhnlichem Widerspruch. Nach der offiziellen Darstellung, die bald das Feld der Presse beherrschte, sollte Deutschland das hinterrücks überfallene Unschuldslamm sein, das nur durch sein Aufblühen, seine Tüchtigkeit und seine Erfolge den Neid und Haß der andern Völker auf sich gezogen hatte. Nach Weizsäckers Darstellung hatten wir selbst den Nachbarn reichlichen Grund gegeben, uns nicht zu lieben. Was den voraussichtlichen Verlauf des Krieges betraf, konnte ich aus seinen Worten auch keine Bestärkung im Glauben an einen deutschen Sieg heraushören. An Einzelheiten erinnere ich mich nicht mehr, aber die Worte, mit denen ich entlassen wurde, klingen mir noch im Ohr: »Nach diesem Kriege wird es bei uns niemand geben, der nicht alle seine Anschauungen einer gründlichen Revision unterziehen müßte.« Später, als der Krieg vorüber war, hat mir derselbe Herr von Weizsäcker gestanden, er habe schon beim Ausbruch seinen König gewarnt, der Krieg werde damit enden, daß unsere Soldaten ihre Gewehre umkehrten. Als guten Propheten hat er sich damit allerdings er­w iesen, nur habe ich in allen Gesprächen mit ihm jede, auch die kleinste Andeutung vermißt, daß er als deutscher Staatsmann und leitender Minister eines der ­größeren Bundesstaaten es als seine Aufgabe erkannt hätte, alles zu tun, damit das, was er kommen sah, nicht eintrete. Was mir sonst aus verschiedenen Teilen Deutschlands damals und später zu Ohren gekommen ist, hat mich in der Vermutung bestärkt, daß der Pessimismus des Württembergers keine vereinzelte Erscheinung war. Auch ich selbst bin ihm einen Augenblick vollständig erlegen. Als die eng­ lische Kriegserklärung bekannt wurde, habe ich das traurige Ende mit allen seinen Folgen wie in einer plötzlichen Vision vorauszusehen geglaubt: Deutschland geschlagen, das Kaisertum gestürzt, die deutsche Großmacht vernichtet. Aber ich hielt es für Pflicht, solche Gedanken nicht aufkommen zu lassen und trotz allem zu glauben, was die Vernunft für unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich erklärte. Wer die Lage nur mir kaltem Verstande ansah und sich nicht scheute aus dem, was er sah, die Folgerungen zu ziehen, der mußte allerdings schon damals zu der Einsicht kommen, daß auf einen wirklichen Sieg nicht zu hoffen sei. Wann hätte denn jemals eine verkehrte Politik zu einem sieg­

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reichen Kriege geführt? Der Krieg soll doch die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein; und wie kann das Ergebnis der Rechnung richtig sein, wenn schon der Ansatz falsch war? Der glänzende Sieg im Jahre 1870 ist ja nicht allein den Taten des Heeres zu verdanken gewesen; er war nicht möglich ohne die weitblickende Sorgfalt, mit der Bismarck ihn politisch vorbereitet hatte, indem er Frankreich isolierte und Deutschland den Rückhalt an Rußland verschaffte. 1914 war von Vorbereitung auf den Krieg, von dem seit mindestens sechs Jahren die Rede war, nichts vorhanden. Hatte man doch nicht einmal den Fall vorgesehen, daß die Ernährung des deutschen Volkes gefährdet würde, wenn gleichzeitig die Einfuhr aus Rußland ausblieb und England seine Beherrschung der Meere dazu mißbrauchte, alle überseeischen Bezugsquellen zu sperren. In den Jahren vor dem Kriege war wohl gelegentlich davon die Rede gewesen, daß man Getreidevorräte u. a. bei Zeiten anlegen sollte, aber der Gedanke wurde an maßgebender Stelle verworfen, um keine »Beunruhigung« zu schaffen und Deutschland nicht am Ende in den Verdacht kriegerischer Absichten zu bringen. Welche gedankenlose Blindheit gegenüber dieser Gefahr an amtlichen Stellen herrschte, kann ich mit einer Erfahrung meines schon erwähnten Nachbarn, des Regierungspräsidenten Schneider, belegen. Er hatte sich, damals vortragender Rat im preußischen Ministerium des Innern, aus freien Stücken um die Versorgung des Rheinlands bei Kriegsausbruch gekümmert und festgestellt, daß dieses Gebiet nur für drei Tage mit Lebensmitteln versehen war. Der De­ zernent für Rechtsfragen im Auswärtigen Amt, an den er mit seiner Besorgnis verwiesen wurde, Ministerialdirektor von Kriege – wir werden noch mehr von ihm hören  – glaubte ihn beruhigen zu können:153 das Reich habe schon mit einem Rotterdamer Getreidegroßhändler abgeschlossen, der die benötigten Weizenmengen liefern werde, auch dafür die ersten 2 Millionen Mark schon erhalten habe. Auf die zweifelnde Frage, ob die Engländer die Sendung durch­ lassen ­w ürden, erfolgte die entrüstete Antwort: »Aber das Gegenteil wäre ja gegen das Völkerrecht!« Natürlich ist von dem vorausbezahlten Weizen nicht ein Korn nach Deutschland gelangt. Wenn die mangelnde Vorsorge für die Volksnahrung schließlich zu einer der Ursachen des Zusammenbruchs wurde, so brachte die Unkenntnis der internationalen Rechtslage schon von der ersten Minute an das Reich in schweren Nachteil. Indem der Reichskanzler im Reichstag den Durchmarsch durch Belgien als Unrecht bezeichnete, das wieder gut gemacht werden solle, belud er Deutschland mit einer Schuld, die garnicht vorhanden war.154 Das Auswär153 Johannes Kriege (1859–1937), deutscher Diplomat, 1911–1918 als Ministerialdirektor Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts (DBA II, 759, S. 418). 154 Vgl. die Rede Theodor von Bethmann Hollwegs vor dem deutschen Reichstag am 4. August 1914, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstages, Bd. 306, Berlin 1916, S. 6 f.: »Meine Herren, wir sind jetzt in der Notwehr; […] und Not kennt kein Gebot! […] Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt, […] vielleicht schon belgisches Gebiet betreten. […] Das Unrecht – ich spreche offen –, das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gutzumachen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist.«

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tige Amt – und wieder war es Herr von Kriege, in dessen Dezernat die Frage gehörte – hatte nicht gewußt, daß das Deutsche Reich als Erbe Preußens kraft eines geheimen Vertrags von 1839 das verbriefte Recht besaß, schon bei bloßer Gefahr für den Frieden die belgischen Festungen an der Grenze gegen Frankreich zu besetzen. In welchem Umfang es 1914 befugt war, von diesem Rechte Gebrauch zu machen, war eine Frage der Auslegung; es wäre vorauszusehen ­gewesen, daß von Seiten der an dem Vertrage mitbeteiligten, nunmehr feindlichen Großmächte England und Rußland Widerspruch erfolgte. Aber selbst in diesem Fall hätte sich die Verletzung der belgischen Neutralität rechtfertigen lassen, denn diese war am gleichen Tage wie der Vertrag über die Festungen unterzeichnet und von ihm nicht zu trennen. Die Berufung auf ihn hätte also eine Streitfrage aufgeworfen, über die sich die Welt schwerlich je geeinigt haben würde, und Deutschland wäre der einstimmigen Verurteilung wegen Vertragsbruchs entgangen. Indem die Regierung sich dafür entschied, uns als grundlos mit Krieg überfallen hinzustellen, verzichtete sie darauf, dem Volk von Anfang an ein greifbares Ziel für seine Opfer und Anstrengungen zu zeigen. Das einzige, was der Reichskanzler und seine Presse vorzuweisen wußten, war die Rettung Österreichs. Man berief sich dabei auf Bismarck, der die Erhaltung der österreichischungarischen Großmacht für ein Bedürfnis des europäischen Gleich­gewichts erklärt hatte, um dessentwillen das Dasein des Deutschen Reiches aufs Spiel ­gesetzt werden dürfe. Gegen diese Begründung lag ein doppelter Einwand nur zu nahe. Einmal hatte sich die deutsche Politik der letzten Jahre, die zum Krieg geführt hatte, dadurch in Widerspruch zu Bismarcks Lehren und Beispiel gesetzt, daß sie die österreichische Balkanpolitik hineinzog. Vor nichts aber hatte Bismarck so eindringlich gewarnt wie vor der Gefahr, daß dem Deutschen Reich ein österreichisches Leitseil über den Kopf geworfen werde, stets hatte er es für einen Vorzug der Lage Deutschlands erklärt, daß es am Balkan und an den Meerengen nicht interessiert sei. Eingeweihte wußten außerdem, daß er sich vertraulich geäußert hatte, der Zweifrontenkrieg müsse unter allen Umständen vermieden werden, nötigenfalls indem man Österreich fallen lasse. Nun aber sah man das Deutsche Reich einen Krieg nicht nur auf zwei, sondern auf drei Fronten auf sich nehmen, für den eine Balkanfrage den Anlaß bot. Wie konnte man sich dafür auf Bismarck berufen? Noch näher lag ein zweiter Einwand. Konnte der Fortbestand der österreichischen Großmacht noch durch einen Krieg gerettet werden? Längst schon hatten die Ereignisse gezeigt, daß für diese Großmacht der Zerfall, die Auflösung von innen heraus immer näher rückte. In Deutschland mögen die meisten über die Tatsache mit dem Mangel an Überlegung hinweggesehen haben, mit dem man der Entwicklung der Dinge im verbündeten Nachbarstaat im allgemeinen zusah. Im Ausland wußte man es besser. Auf den Zerfall Österreich-Ungarns rechnete die französische Politik mit großer Sicherheit, und in Österreich selbst war schon 1913 die Stimmung, mit der man der Zukunft entgegensah, nahezu verzweifelt. Dies festzustellen hatte ich Gelegenheit gehabt, als ich im Sommer

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1913 meinen Schwager in Zürich besuchte, der in der »Neuen Zürcher Zeitung« das Auswärtige bearbeitete.155 Er erzählte mir, er habe kürzlich den Wiener Vertreter seines Blattes, einen geborenen Österreicher, empfangen, der die Lage seines Vaterlandes in düstersten Farben geschildert hatte: es sei schlechthin alles verloren und nichts mehr zu hoffen. Da konnte ich die vom Reichskanzler ausgegebene Losung der Rettung Österreichs nur mit starkem Zweifel aufnehmen, und ich bin gewiß nicht der einzige gewesen, dem es so ging. Überdies, was war damit eigentlich gesagt, daß man Österreich erhalten wollte? Es fragte sich doch, was zu diesem Zweck geschehen müsse, und darüber wußte die Regierung nichts zu sagen. So war denn das Kriegsziel von Anfang an eine Sache, über die man verschieden dachte und bald anfing sich zu streiten. Die Regierung aber, von der man Führung erwarten durfte, geriet in Verlegenheit, sie wußte keine Antwort und versteckte sich bald hinter einem Verbot, die Kriesgziele öffentlich zu erörtern. Damit konnte sie freilich nicht verhindern, daß die Erörterung in Privatkreisen um so leidenschaftlicher fortgesetzt wurde und zu einer tiefen Spaltung der Nation führte. Von Eingeweihten hörte man, Bethmann Hollweg habe anfangs das Ziel im Osten gesehen. Als im Jahr vorher im Ausschuß des Reichstags über die Vermehrung des Heeres beraten wurde, soll er geäußert haben: »Die Armeekorps, die sie jetzt bewilligen, werden einmal Konstantinopel in Galizien verteidigen.« Wie lange er an dieser Ansicht festgehalten hat, ist schwer zu sagen. Schon recht bald muß er denen nachgegeben haben, die den Krieg vor allem im Westen führten wollten, und im Volk, d. h. in den gebildeten Klassen hat man mit der Zeit den Krieg im Osten beinahe vergessen. Das habe ich persönlich zu erfahren gehabt, als ich zu Anfang 1917 in Karlsruhe einen Vortrag über die Kriegsziele hielt.156 Man hatte mir die Aufgabe gestellt, die Verhältnisse in den baltischen Provinzen zu schildern im Hinblick auf ihre mögliche Angliederung an das Deutsche Reich. Wie es die Regel war, folgte auf den öffentlichen Vortrag eine vertrauliche Besprechung in engerem Kreise, in der ich Gelegenheit erhalten sollte, nähere Auskünfte zu geben über Dinge, die sich öffentlich nicht behandeln ließen. Es dauerte keine Viertelstunde, so hatte die Besprechung das Thema gewechselt; von den baltischen Provinzen, überhaupt vom Osten war nicht mehr die Rede, man sprach und stritt nur noch über die Zukunft Belgiens und der flandrischen Küste. Zu der Gleichgültigkeit, mit der der Krieg gegen Rußland behandelt wurde, hat nicht wenig beigetragen, daß an höchster militärischer Stelle die Ansicht vertreten wurde, Rußland sei überhaupt nicht zu besiegen, darum müsse man den Schwerpunkt nach dem Westen verlegen und sich im Osten auf Verteidigung beschränken. Die Hoffnung auf einen Sonderfrieden mit dem östlichen 155 Gemeint ist Eduard Fueter (1876–1928), schweizerischer Historiker, 1905–1908 und 1912– 1921 politischer Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung, 1915–1921 Titularprofessor in Zürich (NDB 5, S. 706 f.). 156 Anscheinend wurde der Vortrag nicht gedruckt. Zu Hallers Position im Hinblick auf die baltische Frage 1917 vgl. oben Kapitel VI.1.

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Gegner ist dabei nicht ohne Einfluß geblieben. Am meisten war es General von Falkenhayn, der die fatalistische Ansicht von der Unbesiegbarkeit Rußlands noch in seinen Erinnerungen vertreten hat, nachdem Rußland zusammengebrochen war, ohne daß wir dazu ernsthafte Anstrengungen gemacht hatten.157 Auch Hindenburg muß von dieser Auffassung angesteckt worden sein, wie ich später berichten werde. Wir waren uns also keineswegs darüber einig, wo wir unser Ziel zu suchen hätten. Nun ist es in jeder Lebenslage vor allem nötig zu wissen, was man will; es nicht zu wissen, ist sicheres Unterpfand des Mißerfolgs. Deutschland aber hat 1914 den Krieg aufgenommen, ohne zu wissen, was es wollte. Wie unzulänglich die diplomatische Vorbereitung auf den Krieg gewesen war, zeigte sich sogleich in zwei Fällen. Von der Neutralitätserklärung Italiens wurde unser Generalstab vollständig überrascht; der Chef, Generaloberst von Moltke war es in dem Grade, daß er, wie mir zwei seiner Freunde versichert haben, einen Nervenchoc erlitt. Er hatte mit Bestimmtheit auf das Erscheinen von italienischen Armeekorps im Elsaß gerechnet. Ob dieser Irrtum in der Wilhelmstraße geteilt worden ist, weiß ich nicht. Dort hätte man, ganz abgesehen von dem seit Jahren bestehenden Verhältnis Italiens zu Frankreich, wissen müssen, daß die Italiener schon beim Abschluß des Bündnisses erklärt hatten, die Abmachungen hätten nur Geltung, solange England nicht auf der Gegenseite stehe, was Bismarck als ganz natürlich anerkannte.158 Noch mehr wurden wir überrascht durch die Kriegserklärung Japans.159 Hätte die Diplomatie uns darauf vorbereitet, so wäre der kopflose Erlaß an den Gouverneur von Tsingtau – »Japan hat uns den Krieg erklärt« – wohl unterblieben, der diesen Offizier ohne jede Anweisung ließ und die Besatzung dem sicheren Untergang preisgab. In diesen Unterlassungssünden wie namentlich in der belgischen Angelegenheit machte sich ein verhängnisvoller Mangel unserer Organisation fühlbar: es gab keine Stelle, an der sich militärische und politische Leitung begegnen und etwaige Gegensätze ihrer Auffassungen ausgleichen konnten. Frankreich hatte dafür einen Obersten Kriegsrat (Conseil supérieur de guerre), England einen Ausschuß für die Reichsverteidigung (Committee of Imperial defence), in Berlin fehlte etwas derartiges vollständig. Es scheint auch niemand Anstoß daran genommen zu haben, daß die Rechte nicht wußte, was die Linke tun würde. Hat doch Fürst Bülow mit der  – allerdings wahrheitswidrigen  – Behauptung auf­treten und zunächst auch keinen Widerspruch finden können, er habe von 157 Erich von Falkenhayn: Die Oberste Heeresleitung 1914–1916 in ihren wichtigsten Entschließungen, Berlin 1920, S. 48. Vgl. dazu Holger Afflerbach: Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich (Beiträge zur Militärgeschichte 42), München 1994, S. 199. 158 Haller warb schon 1914 um Verständnis für die neutrale Haltung Italiens. Vgl. dazu oben Kapitel VI.1. 159 Am 23. August 1914 erklärte Japan Deutschland und Österreich-Ungarn den Krieg. Der von Deutschland kontrollierte Hafen Tsingtau wurde daraufhin von britischen und japanischen Truppen belagert. Am 7. November kapitulierten die deutschen Truppen. Vgl. Wolf­dieter Bihl: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien u. a. 2010, S. 52.

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dem beabsichtigten Durchmarsch durch Belgien nichts gewußt, und Bethmann Hollweg scheint wirklich von dem Plan des Generalstabs erst in allerletzter Minute erfahren zu haben. Hätte es bei uns eine amtliche Stelle gegeben wie in Frankreich und England, so ist es vielleicht die Frage, ob der Feldzugsplan angenommen worden wäre, der den Marsch durch Belgien zur Grundlage hatte. Jedenfalls wäre es dann kaum denkbar, daß der Geheimvertrag über die Besetzung der belgischen Festungen im Auswärtigen Amt vollständig in Vergessenheit geriet. Von der kopflosen Verwirrung, die an den leitenden Stellen entstand, als man sich plötzlich vor dem Ausbruch des Krieges stehen sah, geben die bekannt gewordenen Akten Zeugnis, am deutlichsten spricht sie sich darin aus, daß Deutschland, das der Angegriffene, Überfallene zu sein behauptete, gleichwohl seinerseits nach Ost und West den Krieg erklärte. Von den deutschen Staatsmännern hat damals gewiß keiner den Krieg gewollt, am wenigsten einen Weltkrieg. Soweit die Akten erkennen lassen, scheint vielmehr in der Wilhelmstraße die Überzeugung geherrscht zu haben, es sei die letzte Gelegenheit, den seit Jahren drohenden, schon zweimal knapp vermiedenen Krieg im Osten auf Rußland und Österreich zu beschränken, vielleicht sogar die serbisch-österreichischen Beziehungen ohne Krieg zu regeln. Daß nicht nur Frankreich, sondern auch England sich beteiligte, bedeutete den Zusammenbruch von Bethmanns Politik. Den Staatsmännern der Wilhemstraße macht es keine Ehre, daß sie die Schuld auf den Londoner Botschafter Fürsten Lichnowsky zu schieben suchten, der sie falsch unterrichtet habe.160 Die veröffentlichten Akten beweisen das Gegenteil; der Fürst hat ganz zutreffend berichtet, im Kriegsfall werde auf Englands Neutralität nicht zu rechnen sein. Eine bankrotte Regierung war es also, die sich im August 1914 am öster­ reichischen Leitseil in den Krieg schleifen ließ. Konnte man von den Staatsmännern, die es so weit hatten kommen lassen, im Ernst erwarten, daß sie den Krieg mit einem politischen Erfolg beenden würden? Es war also nur zu begreiflich, daß in weiten Kreisen, am meisten unter den Alldeutschen, das Verlangen nach einem besseren Kanzler lebhaft war und mit der Zeit immer stürmischeren Ausdruck fand. Den Wunsch teilte auch ich, aber die öffentliche Agitation zum Sturz Bethmann Hollwegs habe ich trotzdem für sehr bedenklich gehalten. Solche Exekutionen macht man besser im Stillen ab und stellt sie nicht der ganzen Welt zur Schau, es sei denn durch formelles Mißtrauensvotum der Volksvertretung. Das war wohl auch beabsichtigt, bewies aber nur das geringe Augenmaß der Kritiker, denn vom Reichstag hatte Bethmann nichts zu fürchten; seine Mittelmäßigkeit paßte den Fraktionen der Mehrheit am besten. Den Kaiser aber zur Entlassung des Kanzlers zu drängen, war erst recht verkehrt, sein Eigensinn klammerte sich an den Angegriffenen, je heftiger die Angriffe wurden, die er, wie immer, auf sich persönlich bezog. Die Verteidiger Bethmanns freilich for160 Karl Max Fürst von Lichnowsky (1860–1926), deutscher Diplomat, 1912–1914 deutscher Botschafter in London (DBA III, 563, S. 137–140).

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derten die Kritik noch mehr heraus, wenn sie für seine Belassung im Amt mit Vorliebe anführten, er besitze das Vertrauen des Auslands. Heute, wo die Vorgeschichte des Weltkriegs durch Veröffentlichung der Akten von allen beteiligten Seiten so weit geklärt ist, wie es bei solchen Vorgängen überhaupt möglich ist, heute dürfte ein Verteidiger Bethmanns vor zuständigen Richtern kaum auf Freispruch zählen. Ich habe Bethmann Hollweg nicht gesehen und will darum von seiner Person hier nicht weiter reden: aber vom Staatssekretär von Jagow und vom Unterstaatssekretär Zimmermann habe ich in längeren persönlichen Unterredungen den unzweideutigen Eindruck behalten, daß ein Krieg, im dem solche Männer an leitender Stelle mitzusprechen hatten, nicht gewonnen werden konnte. Es war um den 1. September 1915, daß ich die Bekanntschaft beider Herren machte. Der Reichskanzler hatte mich durch den betriebsamen, aber charak­ terlosen Schriftsteller Ernst Jäckh auffordern lassen, in einer Broschüre die ­Friedensschlüsse von 1866 und 1870 zu behandeln. Ich hatte mich dazu bereit erklärt, wenn mir die Akten des Auswärtigen Amtes zugänglich gemacht würden, und deswegen zuerst bei Zimmermann angeklopft, auch eine zustimmende Antwort erhalten. Unter der Hand hatte ich gemerkt, daß man erwartete, ich würde Bismarcks Beispiel der Mäßigung den bereits recht lautgewordenen Ansprüchen der Alldeutschen entgegen halten; kurz gesagt, man wünschte eine ­verdeckte Verteidigung des Auswärtigen Amtes. Diesen Zweck dürfte meine Schrift über »Bismarcks Friedensschlüsse« kaum erfüllt haben; insofern kam ich mir ein ­wenig wie Bileam vor, der segnete, wo er hätte fluchen sollen, und ich gestehe, den Auftrag schon mit diesem Hintergedanken übernommen zu haben.161 Als ich nun Ende August 1915 in Berlin eintraf, war der Reichskanzler ab­ wesend, Zimmermann empfing mich in der ihm eigenen etwas burschikosen Verbindlichkeit mit den Worten: »Ich kann Ihnen eine Mitteilung machen, die Sie als Balten freuen wird. Auf Ihrem Platz hat soeben der Prinz Max von Baden gesessen, um sich die Anweisungen für eine Sendung nach Stockholm geben zu lassen (er war ein Vetter der Königin von Schweden).162 Wir hoffen, daß Schweden in den Krieg eingreifen wird.« Ich erklärte, mich freue diese Nachricht allerdings, da ich aus ihr glaube schließen zu dürfen, wir würden demnächst die Düna überschreiten und auf Petersburg rücken. Zimmermann wehrte lebhaft ab: das könnten wir erst, wenn Schweden angegriffen hätte. Ich meinte, das scheine mir unnatürlich; sollte der Schwache vorangehen? Daraus entspann sich ein Disput, dem ich entnahm, wie wenig man in der Wilhelmstraße die Ver­ hältnisse kannte. Zimmermann ließ durchblicken, daß man die Düna als künf161 Johannes Haller: Bismarcks Friedensschlüsse, Stuttgart und Berlin 1916. Vgl. dazu auch oben Kapitel VI.1. Bileam ist nach alttestamentlicher Überlieferung (Num 22–24) ein Prophet, der vom moabitischen König gebeten wird, Israels Vormarsch durch einen Fluch zu verhindern. Entgegen seinem Auftrag segnet Bileam Israel. 162 Max Prinz von Baden (1867–1929), 1918 deutscher Reichskanzler (NDB 16, S. 475–477).

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tige Grenze im Auge habe. Dem suchte ich zu widersprechen, indem ich darauf hinwies, daß die Düna zu wasserarm sei, um als militärische Grenze zu dienen, wovon Zimmermann sich überrascht zeigte; er hatte sie nach der Karte für einen breiten Strom gehalten, den zu überschreiten nicht leicht wäre, und war sichtlich enttäuscht, als ich ihn darüber aufklärte, daß man im heißen Sommer trockenen Fußes von einem Ufer zum andern gelangen könne, während im Winter der Strom zufriere. Auf meine Frage, ob man Riga nehmen wolle, antwortete er bejahend. Daß der Besitz dieser Stadt ohne Hinterland wenig wert sein würde, war ihm neu; er hatte nicht gewußt oder nicht bedacht, daß Riga ja nicht die Hauptstadt von Kurland, sondern von Livland war. Ebenso wenig war ihm klar, wie leicht die Ausfahrt und Einfahrt von und nach Riga von Oesel aus gesperrt werden könnte. Diese Einwände machten auf ihn wenig Eindruck, Erfolg hatte ich erst, als ich darauf hinwies, daß die Besitznahme von Kurland allein das lettische Volk, das ja auch den südlichen Teil  Livlands bewohnte, spalten und damit eine Irredenta für die deutsche Verwaltung in Kurland geschaffen würde. Kopfschüttelnd verließ ich den Herrn Unterstaatssekretär; ich hätte nicht gedacht, daß jemand in seiner Stellung sich so wenig gründlich über die einschlägigen Verhältnisse unterrichtet zeigen würde. Befremdet hatte mich auch, daß er sich für möglichstes Entgegenkommen gegen Polen aussprach mit Berufung auf den – Jesuitengeneral Ledóchovski!163 Daß aus dem Eintritt Schwedens in den Krieg nichts wurde, ist bekannt, weniger bekannt, daß der deutsche Gesandte in Stockholm es gewesen ist, der mit Erfolg dagegen gearbeitet hat. Die Tatsache habe ich aus einem Brief des ­schwedischen Politikers Steffens erfahren, der sich als überzeugter Deutschlandfreund bitter beklagte, der Gesandte habe sich ihm gegenüber gerühmt, Schweden bei seiner Neutralität festgehalten zu haben. Es war der uns schon bekannte russenfreundliche Herr von Lucius, der den von ihm erstrebten Sonderfrieden mit Rußland nicht durch Beteiligung Schwedens am Kriege erschwert zu sehen wünschte. Ob dieser Gedanke richtig oder falsch war, mag auf sich beruhen; eigentümlich war es auf jeden Fall, daß der Gesandte eigene Politik im Gegensatz gegen seine vorgesetzte Behörde treiben konnte. Hatte die Unterredung mit dem Unterstaatssekretär mir befremdliche Eindrücke hinterlassen, so steigerte sich diese Empfindung noch bedeutend, als ich zwei Tage später dem Staatssekretär von Jagow meine Aufwartung machte. Er benutzte die Gelegenheit, mich über die Verhältnisse in meiner Heimat auszuforschen. Zunächst behauptete er, der kurländische Adel sei im wesentlichen polnisch und katholisch, und war verwundert, als ich ihm erwiderte, ich hätte mit sehr vielen kurländischen Edelleuten zusammen studiert, aber weder einen Polen noch einen Katholiken unter ihnen getroffen. »Aber der estländische Adel, fragte er weiter, ist doch ganz russifiziert?« Ich fuhr ein wenig in die Höhe, die estländischen Edelleute seien zum großen Teil  meine Schul­ 163 Wladimir Graf Ledóchowski (1866–1942), österreichischer Jesuit, seit 1915 Ordensgeneral (NDB 14, S. 46 f.).

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kameraden und Dorpater Korpsbrüder, ich könnte dafür bürgen, daß sie nicht im mindesten russifiziert seien, wie denn der estländische Landtag im Kampf für die deutsche Schule sich intransigenter als der von Livland und Kurland, mitunter vielleicht allzu intransigent verhalten habe. »Aber«, meinte Herr von Jagow, »die Herren gehören doch meist zur griechisch-orthodoxen Kirche und leben in Petersburg.« Ich konnte ihm leicht die wenigen Familien aufzählen, die sich in Folge einer früheren Mischehe zum orthodoxen Glauben bekannten, von denen aber keine in Petersburg lebte, während die in der Hauptstadt angesiedelten, meist Hofbeamte, sämtlich Lutheraner waren – Jagow bemerkte sichtlich verblüfft: »Man hat uns immer so berichtet«; worauf ich nur antworten konnte: »Ich hoffe, daß Ihre andern Berichte besser sind, diese waren falsch.« Er ging nun auf die Landbevölkerung über mit der Frage, wie sich Letten und Litauer zu einander verhielten. »Ethnographisch und sprachlich«; war meine Antwort, »sind sie nahverwandt, können einander aber nicht leiden.« »Warum nicht?« »Nun, daß verwandte Nachbarvölker einander nicht lieben, ist doch die Regel, z. B. Deutsche und Dänen. Dazu kommt in diesem Fall, daß die Letten evangelisch, die Litauer katholisch sind.« »Ach so, die Litauer sind katholisch! Aber wie stehen Polen und Litauer zu einander?« Das wurde mir denn doch zu arg, und ich antwortete kurz und nicht gerade verbindlich: »Diese Frage kann man innerhalb der preußischen Monarchie studieren, denn da gibt es sowohl ­Litauer wie Polen.« Herr v. Jagow konnte seine Verlegenheit nicht verbergen; er­rötend gestand er, die östlichen Verhältnisse hätten ihm immer fern gelegen. Ich unterdrückte die Frage, wie er es dann verantworten könne, Staatssekretär des Äußern zu bleiben, da wir mit den »östlichen Verhältnissen« in Krieg geraten seien. Von der Unterredung war ich so erschüttert, daß ich mich beim Hinabsteigen auf der Treppe an der Sammetschnur festhalten mußte. Die Welt drehte sich um mich her, da ich den Minister des Auswärtigen so unwissend und gleichgültig gegenüber Dingen gefunden hatte, um die es sich in diesem Kriege mit in erster Linie handelte. Mir war zu Mute, als müßte ich alle Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang aufgeben. Daß Herr v. Jagow mit seiner Unkenntnis der Verhältnisse jenseits der deutschen Ostgrenze nicht allein stehen werde, konnte ich mir wohl sagen. Wenig später habe ich erfahren, daß die Sachkenntnis in den höchsten Kreisen der Marine nicht besser war. Der vortreffliche, nur etwas alldeutsch angehauchte Bankier Karl von der Heydt (Elberfeld) wußte von einem Vortrag zu berichten, den der Großadmiral von Köster, einer der Schöpfer der deutschen Flotte, kürzlich im Vorstand des Deutschen Flottenvereins über die Kriegsziele der Marine gehalten hatte.164 Für das wichtigste hatte er den Erwerb eines Stützpunktes am Gelben Meer erklärt. Auf die bescheidene Frage von der Heydts, ob es nicht auch näherliegende Ziele gäbe, z. B. in der Ostsee, hatte der Großadmiral ge­ antwortet: »Die Ostsee sei für die Marine von geringem Interesse, da sie weder 164 Karl von der Heydt (1858–1922), deutscher Bankier (DBA III, 392, S.  91–93); Hans von Köster (1844–1928), deutscher Großadmiral (NDB 12, S. 405 f.).

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Inseln noch Häfen habe. Riga komme nicht in Betracht, es liege nicht am Meer.« Ein Hinweis auf die Aalandsinseln entlockte dem Admiral die Erwiderung, die seien zu entfernt. Den Abend dieses Tages – es war der 3. September 1915 – an dem sich mir die Kluft gezeigt hatte, vor der wir dank der Unfähigkeit unserer führenden Persönlichkeiten standen, verbrachte ich beim württembergischen Gesandten Baron Axel Varnbüler. Es war das erste Mal, daß ich diesem ausgezeichneten, ebenso klugen wie gütigem Herrn begegnete. Ich bin ihm später freundschaftlich nahe getreten, als er noch viele Jahre in beneidenswerter Frische auf seinem Gute Hemmingen bei Stuttgart lebte, und ich verdanke ihm viel. Bei jenem ­ersten Zusammentreffen fragte er nach meinen Eindrücken im Auswärtigen Amt. Ich bemerkte, es schiene mir dort wenig Einheitlichkeit zu herrschen, Staatssekretär und Unterstaatssekretär verfolgten unverkennbar entgegengesetzte Richtungen, dieser die unternehmende, jener die zaghafte. Wenn man zwei Pferde vor dem Wagen habe, von denen das eine nach rechts, das andere nach links ziehe, täte man besser, das eine auszuspannen, man käme dann mit einem Pferde doch ­rascher vorwärts. »Das ist ja das Unglück«, erwiderte der Gesandte, »es sitzt gar kein Kutscher auf dem Bock, und die Zügel schleifen am Boden.« »Männer machen die Geschichte« ist ein oft angeführtes, nicht selten bestrittenes Wort.165 Es bedeutet, wenn man es im weitesten Sinne nimmt, daß der Lauf der Begebenheiten bestimmt wird durch die Eigenschaften, die Fähigkeiten wie die Mängel der handelnden Personen. Wer also diese genau kennte, müßte den Ausgang eines Krieges mit ziemlicher Sicherheit voraus sagen können. In dieser Richtung hatte ich einen Blick getan, und man wird mir glauben, daß ich die Rückfahrt nach Tübingen mit dem drückenden Gefühl antrat, ich wüßte nun, daß wir den Krieg verlieren würden. Einige Zeit später machte in der Presse eine Äußerung von Walter Rathenau die Runde: »Niemals wird Wilhelm II. als Sieger auf weißem Roß durch das Brandenburger Tor einziehen. An dem Tag, wo das geschähe, hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren.«166 Die Entrüstung, die diese Worte hervorriefen, habe ich nicht geteilt. Daß ein Herrscher wie Wilhelm II. und eine Regierung wie die, die ihn umgab, einen Krieg gegen drei europäische Großmächte, hinter denen Nordamerika stand, gewinnen könne an der 165 Klassisch bei Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahr­hundert, Bd.  1: Bis zum zweiten Pariser Frieden (Staatengeschichte der neuesten Zeit 24), Leipzig 1879, S. 28: »Dem Historiker ist nicht gestattet, nach der Weise der Naturforscher das­ Spätere aus dem Früheren einfach abzuleiten. Männer machen die Geschichte. Die Gunst der Weltlage wird im Völkerleben wirksam erst durch den bewußten Menschenwillen, der sie zu benutzen weiß.« 166 Walther Rathenau: Gesammelte Schriften, Bd. 6: Schriften aus Kriegs- und Nachkriegszeit, Berlin 1929, S. 305. Haller zitiert aus dem Gedächtnis; das Originalzitat lautet: »Nie wird der Augenblick kommen, wo der Kaiser, als Sieger der Welt, mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor zieht. An diesem Tage hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren! Nicht einer der Großen, die in diesen Krieg ziehen, wird diesen Krieg überdauern.«

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Seite von zwei Bundesgenossen, die mehr Hilfe brauchten, als sie bieten konnten, schien mir den Regeln normalen geschichtlichen Verlaufs zu widersprechen. Freilich hatte man damals schon Gelegenheit gehabt einzusehen, daß der Faktor, der berufen war, die Entscheidung herbeizuführen, auch nicht das leis­ tete, was man von ihm erwartet hatte. Als der Krieg begann, waren aller Augen auf das Heer gerichtet. Ihm glaubte man unbedingt vertrauen zu können, von ihm erhoffte man, daß es die Mängel anderer Stellen ausgleichen werde, und in dieser Überzeugung haben gewiß nicht wenige den Ausbruch des Kriegs mit erleichtertem Aufatmen begrüßt. Nun endlich konnten wir unsere stärkste Karte ausspielen! Was die Feder verdorben hatte, sollte das Schwert gutmachen. Das Vertrauen ist nicht getäuscht worden, so weit es auf die Soldaten ankam. Die Pünktlichkeit und Bereitwilligkeit, die das ganze Volk bei der Mobilmachung bewies, die Leistungen, die die Truppe während mehr als vier Jahren im Felde vollbrachte, haben mit vollem Recht daheim wie draußen höchste Bewunderung und Stolz hervorgerufen. Indessen der Soldat allein konnte den Sieg nicht erringen, auf die Führung kam ebenso viel an. Wie stand es damit? Ich kannte die in Tübingen lebende Schwester des späteren Generals Wal­ ther Reinhardt, der damals im Stabe des Württembergischen 13. Armeekorps als Ia (Chef der Operationsabteilung) diente.167 Als der Krieg vor der Tür stand, fragte ich Fräulein Reinhardt, wie es mit unserer Generalität bestellt sei; durch ihren Bruder werde sie wohl wissen, wie man im Offizierkorps die Fähig­ keiten der Armeeführer und Korpskommandanten beurteile. Ihre Antwort war: »Viele Tüchtige, aber kein Genie, ausgenommen allenfalls den Hannoveraner ­Bülow.«168 Das Urteil gab mir nicht wenig zu denken, obwohl ich damals nicht wissen konnte, daß gerade Bülow als Führer der 2. Armee zum Mißlingen des ersten Feldzugs im Westen das meiste beitragen würde. Bald genug sollten die Ereignisse dartun, wie es in Wirklichkeit um die höhere Führung bestellt war. Im Osten versagte sie so vollständig, daß sie schleunigst gewechselt werden mußte: an die Stelle von Prittwitz und Waldersee traten Hindenburg und Ludendorff.169 Im Westen war das Ergebnis des ersten Feldzugs der kopflose, unnötige Rückzug von der Marne. Nachträglich hat die Prüfung der Geschichte dieses ganzen Feldzugs nach dem Urteil berufener Kritiker gezeigt, daß von den sechs Armeeführern der Westfront nicht einer seine Aufgabe verstanden und erfüllt hat, sodaß die Schlappe an der Marne, die gleich­ 167 Walther Reinhardt (1872–1930), preußischer General, 1901–1918 im großen Generalstab, 1919 preußischer Kriegsminister, 1919–1920 Chef der Heeresleitung (NDB 21, S. 363). 168 Karl von Bülow (1846–1921), preußischer Generalfeldmarschall, 1914–1915 Oberbefehlshaber über die 1. und 2. Armee. 169 Max von Prittwitz (1848–1917), preußischer General (NDB 20, S. 732); Georg von Waldersee (1860–1932), preußischer Generalleutnant (DBA II, 1359, S. 425). Nach der Schlacht bei Gumbinnen im August 1914, die mit dem Rückzug der deutschen 8. Armee endete, wurden deren Befehlshaber Prittwitz und dessen Stabschef Waldersee von Hindenburg und Ludendorff abgelöst.

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bedeutend war mit dem Scheitern des Planes, auf den unsere Siegeszuversicht sich gründete, nur zu verschuldet war. Ich maße mir nicht an, meine persönlichen Bedenken gegen diesen viel­ bewunderten Plan zur Richtschnur eines Urteils zu machen. Aber aus der Lite­ ratur und noch mehr aus Gesprächen mit mehreren Generälen habe ich den Eindruck erhalten, daß dieser Plan, »das Siegesrezept des toten Schlieffen«, wie Tirpitz ihn genannt hat, weder der einzig mögliche noch unter den damaligen Verhältnissen der unbedingt beste heißen kann. Ich habe sogar von berufenster Seite starke Zweifel äußern hören, ob Graf Schlieffen selbst im Jahre 1914 noch an diesem Plan festgehalten hätte, den er neun Jahre früher aufgestellt hatte, als es noch keine britische Festlandsarmee gab und mit dem Eingreifen Rußlands so gut wie garnicht zu rechnen war. Bemerken möchte ich meinerseits nur, welch ein Widerspruch darin lag, die ganze Wucht des Angriffs nach W ­ esten zu richten und sich im Osten mit einer schwachen und unsicheren Verteidigung zu begnügen, wo doch das erklärte Ziel unserer Politik, deren Fortsetzung der Krieg sein sollte, im Osten lag und der Bundesgenosse, den es zu retten galt, im wesentlichen sich selbst und seinen unzulänglichen Kräften überlassen blieb. Eine Folge davon war, daß mit Österreich keine Übereinkunft getroffen war und die Österreicher sich bald über Nichterfüllung erhaltener Zusagen beklagten. Das Fehlen eines gemeinsamen Plans hatte allerdings einen sehr triftigen Grund: man fürchtete, er könnte von Wien an die Russen verraten werden. Der Fall des Obersten Redl, der kurz vor Kriegsausbruch als Verräter gefaßt wurde, rechtfertigte die Vorsicht.170 Ein unheilvoller Umstand war, daß man an maßgebender Stelle über einige der Armeeführer offenbar ungenügend unterrichtet gewesen war. Körperliche Gesundheit ist ein wesentliches Erfordernis für den Feldherrn, und wie sah es damit bei uns aus? Der vorhin erwähnte Bülow hatte schon einen Schlaganfall erlitten, aber zu verheimlichen gewußt, sein Stabschef Lauenstein litt schwer an der Basedowschen Krankheit, ist auch schon 1915 gestorben, und der Chef des Großen Generalstabs, Moltke, war so herzleidend, daß ein Arzt, der ihn im Sommer 1914 behandelte, von ihm sagen konnte, sein Herz tue keine drei ­regelmäßigen Schläge (private Mitteilung eines Offiziers, der mit Moltke die Behandlung desselben Arztes erfuhr). Man hat über Napoléon III. gespottet, der 1870 in gebrechlichem Zustand in den Krieg zog und den Oberbefehl übernahm. »Avec ces jambes-là vous allez faire la guerre?«171 hat seine Kusine, die Prinzessin Mathilde, zu ihm gesagt – aber stand es 1914 mit dem Oberbefehl über das deutsche Heer viel besser? Ein Übelstand lag ferner darin, daß der Chef des Großen Generalstabs, dem in Wirklichkeit die Führung des Heeres oblag, nicht an den Plan glaubte, den er von seinem Vorgänger übernommen hatte. Generaloberst von Moltke hat 170 Alfred Redl (1864–1913), österreichischer Oberst, beging nach seiner Enttarnung als­ russischer Geheimagent Selbstmord (NDB 21, S. 244 f.). 171 Mit diesen Beinen wollt ihr in den Krieg ziehen? (französisch).

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mir in einem Gespräch über die deutsche Grenze im Elsaß, wie Bismarck sie im Gegensatz zu Moltke durch Verzicht auf Belfort gestaltet hatte, deutlich zu ver­stehen gegeben, daß er einen Angriff über die Vogesen und obere Mosel für wirksamer gehalten hätte als den Durchmarsch durch Belgien, weil wir, wie er sich ausdrückte, im ersten Fall den Feind von seinen rückwärtigen Verbindungen abschneiden konnten, anstatt ihn auf sie zurückzudrängen. Daß er nicht daran gedacht hat, Schlieffens Plan durch einen eigenen zu ersetzen, kann man bei dem geringen Ansehen, das er nach seiner wesentlich höfischen Laufbahn im Generalstab genoß, wohl verstehen. Aber ein günstiger Umstand ist es gewiß nicht, wenn der Feldherr nach einem Plan glaubt verfahren zu müssen, von dem er selbst nicht voll überzeugt ist. Was die Entstehung des Schlieffenschen Plans anlangt, so ist bei uns noch nie erwähnt worden, daß sein leitender Gedanke aller Wahrscheinlichkeit nach aus England stammt. Im Jahr 1887, als ein Krieg mit Frankreich drohte, ver­ öffentlichte der damalige Oberst Sir George Clarke, später Lord Sydenham, Englands bedeutendster Militärschriftsteller, eine Studie in der Times, worin er zeigte, daß für den deutschen Angriff auf Frankreich der 1870 eingeschlagene Weg durch Lothringen und die Champagne auf Paris nicht mehr gangbar, weil durch die Kette der starken Festungen Verdun, Toul und Epinal gesperrt sei; daß also, wenn die Deutschen den Krieg angriffsweise führen wollten, ihnen nichts anderes übrig blieb als der Marsch durch Belgien.172 Daß der Aufsatz nur im Benehmen mit der englischen Regierung geschrieben und veröffentlicht worden sein kann, scheint mir keines Beweises zu bedürfen. England hätte damals wegen des drohenden russischen Übergewichts am Balkan einen euro­ päischen Krieg nicht ungern gesehen und Lord Salisbury, der gerade am Ruder war, soll sogar, wie Graf Monts in seinen Erinnerungen berichtet, zur Nicht­ beachtung der belgischen Neutralität vertraulich seine Zustimmung unter gewissen Bedingungen gegeben haben.173 Zum Kriege kam es nicht, und Moltke hätte nach allem, was man weiß, die Anregung nicht befolgt; er gedachte den Zweifrontenkrieg mit einer Offensive im Osten zu eröffnen. Aber daß im Generalstab der Aufsatz des Engländers beachtet und ad notam genommen worden ist, darf man wohl ohne besonderes Zeugnis annehmen.

172 George Sydenham Clarke (1848–1933), englischer Militär und Journalist, 1907–1913 Gover­nor von Bombay (BBA II, 1387, S. 164–168). 173 Anton Graf Monts: Erinnerungen und Gedanken des Botschafters Anton Graf Monts, hrsg. von Karl Friedrich Nowak und Friedrich Thimme, Berlin 1932. Möglicherweise bezieht sich Haller hier auf eine Stelle S. 264: »Unsere Ansichten begegneten sich, und namentlich stimmte Herr von Jagow mit mir darin überein, daß angesichts der Gereiztheit des englischen Löwen der belgische Einbruch unterbleiben müsse, im Gegensatz zu 1887, wo auch ein Kontinentalkrieg in bedrohliche Nähe gerückt war und die englische öffentliche Meinung nach längeren Zeitungserörterungen sich mit einem deutschen Einmarsch gegen Zusicherung der späteren Herausziehung der Truppen und Entschädigung Belgiens einverstanden erklärt hatte.«

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Wie man sich aus dem Abdruck in den Schriften Lord Sydenhams überzeugen kann, geht die Übereinstimmung zwischen dem Plan des Grafen Schlieffen und den Ausführungen des Engländers im Einzelnen so weit, daß an Zufall nicht mehr zu denken ist. Dieser schrieb 1887: »Die Versuchung würde sehr stark sein, die Hauptverteidigungslinie Frankreichs zu umgehen und von Norden her gerade auf Paris zu stoßen. Wenn man sich in Elsaß-Lothringen ganz auf Verteidigung beschränkte, im Notfall auch den Franzosen das linke Ufer des Oberrheins preisgäbe (!), könnte die Masse des deutschen Heeres unter freier Benutzung der belgischen Eisenbahnlinien an die Oise geworfen werden … Die Angriffslinie wäre in diesem Fall dieselbe wie 1815 … Solch ein Feldzugsplan hat viel Anziehendes … und vorausgesetzt daß Belgien für ein Abkommen gewonnen oder dazu genötigt werden (!) könnte, erscheinen die militärischen Schwierigkeiten bedeutend geringer als bei einem Vormarsch von der Mosel aus.« Welch bittere Ironie des Schicksals, wenn die Anregung zu einem Feldzugsplan, der England 1914 den Anlaß zur Kriegserklärung bieten sollte, ursprünglich von England ausgegangen wäre! Wie es kam, daß der Rückzug von der Marne angetreten wurde in dem Augenblick, wo die französische Front in der Mitte durchbrochen und ihr Angriff auf unsere rechte Flanke abgeschlagen war, wir also gute Aussichten auf einen entscheidenden Sieg hatten, ist zwar bekannt, im Einzelnen jedoch immer noch nicht aufgeklärt. Ich kann dazu einiges beisteuern, was dazu dient, einen Vorgang verständlich zu machen, der an sich etwas Rätselhaftes hat. ­Major Hentsch, von Moltke abgesandt, um sich über die Lage an der Front Klarheit zu verschaffen und etwa schon begonnene rückwärtige Bewegungen auf eine bestimmte einheitliche Linie zu lenken, gab unter dem Eindruck einer pessimistischen Schilderung, auf die er im Hauptquartier der 2. Armee stieß, den Befehl zum Rückzug auf der ganzen Front.174 Man fragt sich, wie es geschehen konnte, daß die Führer der benachbarten Armeen, die die Lage mit Recht für günstig hielten, sich zwar gesträubt, schließlich aber dem Befehl des Majors gehorcht haben, ohne ihn, wie es die Dienstordnung für solche Fälle vorschrieb, nach seiner schriftlichen Vollmacht zu fragen. Die Antwort ergibt sich aus der persönlichen Stellung, die Hentsch, obwohl nur Chef der Nachrichten­abteilung (Ic), bei Moltke einnahm. Er war, wie mir von einer mit den Verhältnissen vertrauten Seite versichert worden ist, allgemein bekannt als Moltkes rechte Hand in allen Dingen, aus seinem Munde glaubte man die Stimme des Chefs zu vernehmen. Wie sein Auftrag gelautet hat, ist in der später vorgenommenen Untersuchung nicht mehr sicher festzustellen gewesen; daß er ihn nach seinem Temperament und im Bewußtsein seiner Vertrauensstellung ausgelegt hat, ist nur natürlich. Wieder stößt man auf die verhängnisvolle Tatsache, daß es ein 174 Richard Hentsch (1869–1918), deutscher Oberst, seit 1914 Abteilungschef im Großen Generalstab, Major Hentsch berief sich angesichts von Vorwürfen wegen seiner Rückzugsanordnung darauf, dass Moltke ihn ausdrücklich zu dieser Entscheidung ermächtigt habe (NDB 8, S. 566 f.).

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kranker Mann war, in dessen Hände das Schicksal gelegt wurde. Hentsch litt schon länger an schweren Gallensteinkoliken, und wer die Natur dieses Übels kennt, wundert sich nicht, daß er der Lage nicht mit Heroismus entgegentreten konnte. Was aber Bülow betrifft, auf den man im Generalstab große Stücke hielt, obgleich er ein Gegner taktischer Anschauungen des Grafen Schlieffen war, so hatte er schon einmal, bei St. Quentin, durch grundlose Ängstlichkeit den greifbar nahen Erfolg verscherzt. Er hatte ferner schon am Abend des 9. September unter dem Eindruck von Hiobsposten, die sich bald als falsch herausstellten, dem General Emmich, der mit seinem Korps im Vordringen eine beherrschende Höhe genommen hatte, den Befehl zu deren Räumung gegeben, und Emmich hatte nicht gewagt, diesen völlig ungerechtfertigten Befehl zu überhören, weil ihm Bülow einmal in heftigem Zusammenstoß vor Zeugen den Vorwurf der Feigheit gemacht hatte.175 Am Morgen des verhängnisvollen 10. Sepember ist Bülow im Weinkrampf zusammengebrochen; den Kopf auf die Arme und die Arme auf den Tisch gestützt fand ihn eine zufällig eintretende Ordonnanz, ein Waldecker, der die Szene später meinem Bruder, Oberkirchenrat in Arolsen, geschildert hat. Zieht man die Summe der aufgezählten unglücklichen Umstände, so ist man vom Ergebnis nicht überrascht und findet es auch begreiflich, daß ein General der Infanterie mir einmal vom »Verbrecher Bülow« hat sprechen können. Daß auch in der Armee und ihrer höheren Führung mit Wasser gekocht wird, glaubt man ohne weiteres; es ist zu allen Zeiten, auch 1870, vorgekommen. Aber wenn es in einem Maße der Fall war wie hier, so fragt man, wo die Voraus­ setzungen für einen Sieg unter schwierigsten Verhältnissen zu finden sein sollten? Man fragt aber auch, wie es dahin kommen konnte, daß in der anerkannt besten Armee der Welt die Führerstellen so unzulänglich besetzt waren? Gab es wirklich keine fähigeren Generäle? Wie konnte, vor allem, an die Spitze als Chef des Großen Generalstabs einer gestellt sein, dem kaum jemand, auch nicht er selbst, zutraute, einen großen Krieg unter schwierigsten Verhältnissen erfolgreich zu leiten? »Dieser Krieg darf nicht kommen, denn ich bin nicht imstande ihn zu führen«, sind Moltkes eigene Worte zu einem seiner Freunde gewesen, vor dem er nicht nötig hatte, die Maske der Zuversicht zu tragen. Auf wem die Verantwortung für diese Ernennung in letzter Linie lastet, ist nicht zweifelhaft: der Kaiser persönlich hatte die Entscheidung, war an keine Rücksicht gebunden, brauchte sich weder um Minister und Räte noch um Volksvertreter oder öffentliche Meinung zu kümmern. Hier war er Herr, auf den das von ihm gelegentlich gebrauchte Zitat zutraf, εἷς κοίρανος ἔστω einer soll Herr sein.176 Hier hilft denn auch keine Ausrede, keine Entschuldigung: der Herrscher, der selbst vor allem Soldat sein wollte, der sich für einen Feldherrn hielt und es nicht ungern hörte, wenn man ihn mit Friedrich dem Großen verglich, – »Wenn Eure Majestät damals geführt hätten, so wäre das Unglück nicht geschehen«, schloß der Vortrag 175 Otto von Emmich (1848–1915), preußischer General (NDB 4, S. 484). 176 Homer: Ilias 2, 204.

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eines Generaladjutanten vor Wilhelm II. über die Schlacht bei Hochkirch, wie mir Theodor Schiemann als Zeuge erzählt hat – der Herrscher selbst trägt die historische Schuld dafür, daß das Deutsche Reich in den Kampf um sein Dasein eintrat unter einer militärischen Führung, die Ihrer Aufgabe nicht gewachsen war.177 Man erzählte sich, Moltke selbst habe Zweifel geäußert, ob er für den Kriegsfall der rechte Mann sein würde; da habe ihm der Kaiser erwidert: »Im Kriege bin ich mein eigener Generalstabschef.« Das ist eine Entstellung, wie mir ein Eingeweihter versichert hat. In Wirklichkeit ist es so gewesen, daß auf Moltkes Vorstellung, er fürchte gegenüber den Armeeführern im Kriege nicht das nötige Ansehen zu besitzen, der Kaiser geantwortet hat: »Da bin ich denn auch noch da!« Die vielfach gehegte Befürchtung, Wilhelm II. könnte durch persönliches Eingreifen in die Führung störend wirken, hat sich 1914–18 nicht erfüllt. Dagegen wäre es nicht zu entschuldigen, wenn es wahr wäre, daß bei der Wahl Moltkes beim Kaiser der Name eine Rolle gespielt hätte. Die Franzosen, so meinte er, würden in Erinnerung an 1870 den Krieg nicht wagen, wenn ihnen wieder ein Moltke gegenüberstände. Die leichtfertige Unsachlichkeit und die verhängnisvolle Neigung, den Schein für für das Wesen zu nehmen, die sich darin äußerte, sind so groß, daß man sich gern weigern würde, zu glauben, ein deutscher Kaiser könnte so gedacht und gesprochen haben, wären meine Gewährsmänner nicht zu ernsthaft, um ihnen den Glauben zu versagen. Was die Generäle betrifft, denen die Führung der Armeen anvertraut war, so hat beim Kaiser neben seinem notorischen Mangel an Menschenkenntnis die Tatsache mitgespielt, daß er seine Leute nicht genug kannte. Durch seine Größe war das höhere Offizierskorps unübersichtlich geworden und das Interesse des Kaisers ohnehin mehr der Marine zugewandt, die er für seine persönliche Schöpfung hielt und deren Führer er selbst auswählte; auch das, wie schon bemerkt, keineswegs mit Glück. Um so mehr kam auf die Beratung durch das Militärkabinett an, eine der wichtigsten Stellen im preußischen Staat. Die Erneuerung der Armee unter Wilhelm I. war nach dessen eigenem Zeugnis zum guten Teil  das Verdienst des späteren Feldmarschalls Edwin von Manteuffel, der als Flügeladjutant und Chef des Militärkabinetts seinem König die richtigen Männer, darunter Moltke und Roon, finden half.178 Wilhelm II. hat darin weniger Glück gehabt. Sein erster Kabinettschef Hahnke war ein gehorsames Werkzeug des allerhöchsten Willens, ohne eigene Meinung und ohne Weitblick, dessen Nachfolger Graf Hülsen-Häseler eine typische Berliner Figur mit scharfer Zunge, nicht frei von persönlicher Berechnung und auch nicht gerade 177 Die Schlacht bei Hochkirch im Oktober 1758 endete mit einem österreichischen Sieg über Preußen. Vgl. Marian Füssel: Die Kultur der Niederlage – Wahrnehmung und Repräsentation einer Schlacht des Siebenjährigen Krieges am Beispiel von Hochkirch 1758, in: Sven Externbrink (Hg.): Der Siebenjährige Krieg (1756–1763). Ein europäischer Weltkrieg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2011, S. 261–273. 178 Edwin Freiherr von Manteuffel (1809–1885), preußischer Generalfeldmarschall, seit 1879 Statthalter des Reichslandes Elsaß-Lothringen (NDB 16, S. 86–88).

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durch Selbständigkeit des Charakters ausgezeichnet.179 Als er 1908 unter peinlichen Umständen gestorben war – er erlitt einen Herzschlag, nachdem er die Hofgesellschaft in der Rolle einer Tänzerin amüsiert hatte – trat zuerst Freiherr von Lyncker, der keinen Schatten geworfen hat, dann General von Marschall an die Stelle.180 Ihm sagte man kein allzu großes Interesse an seinem Amte nach. »Eine gute Jagd ist ihm wichtiger als der Dienst«, habe ich einen General bemerken hören, und im November 1918, als um die Zukunft der Monarchie gekämpft wurde und man hätte erwarten sollen, daß »alle Mann an Bord« und jeder an seinem Platze sei, ging er auf Urlaub. Wie von diesen Männern von Fall zu Fall das Offizierskorps »gesiebt« und die Auswahl getroffen worden sein mag, braucht man nicht zu wissen, um sich nicht fast zu wundern, daß die Nieten unter den höheren Führern nicht noch zahlreicher und auffälliger waren. Man steht da vor einer ähnlichen Erscheinung in der militärischen Welt wie in der bürgerlichen: die ganze Generation ist schwächer, etwa wie der Wein eines Jahres weniger gut gerät. So weit wie von Bismarck zu Bethmann Hollweg ist der Abstand nicht, aber mit ihren Vorgängern von 1870, den Moltke, Blumenthal, Roon, Stosch, Albedyll, Alvensleben, Goeben, Manteuffel  e tutti quanti halten die Heerführer von 1914 den Vergleich nicht aus.181 Epigonentum ist das Kennzeichen der ganzen Zeit, auch die Armee macht keine Ausnahme. In alten Zeiten hätte man vielleicht vom Einfluß der Gestirne gesprochen, wir suchen eine bessere Erklärung, und ich glaube, sie läßt sich finden. Katharina II. hat dem Baron Grimm – oder war es Diderot? –, der ihr beim Tode Potemkins die Befürchtung ausgesprochen hatte, dieser große Minister werde schwer zu ersetzen sein, gelassen erwidert, das mache ihr keine Sorge: ein großes Volk bringe immer zu rechter Zeit die Männer hervor, deren es bedürfe.182 Ähnlich hat Stalin, als er acht Generäle auf einmal aus Argwohn beseitigt hatte, in einer Erklärung das Volk beruhigt, an tüchtigen Heerführern werde es darum noch nicht fehlen. Beide haben recht gehabt: für ihre Zwecke fand Katharina auch nach Potemkin Diener, wie sie sie brauchte und wünschte, 179 Wilhelm Hahnke (1833–1912), preußischer Generalleutnant, 1888–1901 Chef des Militärkabinetts (NDB 7, S.  514 f.); Dietrich von Hülsen-Häseler (1852–1908), preußischer General, 1901–1908 Chef des Militärkabinetts (NDB 9, S. 736). 180 Moritz Freiherr von Lyncker (1853–1932), preußischer Generaloberst, 1908–1918 Chef des Militärkabinetts (NDB 15, S. 587 f.); Ulrich Freiherr von Marschall (1863–1923), preußischer Generalmajor, 1918 Chef des Militärkabinetts (NDB 6, S. 650). 181 Leonhard von Blumenthal (1810–1900), preußischer Generalfeldmarschall (NDB 2, S. 331); Albrecht von Stosch (1818–1896), deutscher Admiral, 1872–1883 Chef der Admiralität (NDB 25, S. 454 f.); Emil von Albedyll (1824–1897), preußischer General (NDB 1, S. 122); Gustav von Alvensleben (1803–1881), preußischer General, Generaladjutant Wilhelms I. (NDB 1, S. 233); August von Goeben (1816–1880), preußischer General (NDB 6, S. 505 f.). 182 Melchior Freiherr von Grimm (1723–1807), deutscher Literat und Diplomat, seit 1776 Gesandter des Herzogs von Sachsen-Gotha am französischen Hof, von Katharina II. 1795 zum Staatsrat ernannt (NDB 7, S. 86–88); Denis Diderot (1713–1784), französischer Schriftsteller und Philosoph (DBA III, 173, S. 366); Gregor Alexandrowitsch Fürst Potemkin (1739– 1791), russischer Fürst, Minister und Feldmarschall unter Katharina II. (DBA I, 974, S. 237).

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und daß die russischen Generäle 1941/45 geleistet haben, was verlangt wurde, wissen wir nur zu gut. Warum weicht das Bild Deutschlands 1914 von der Regel ab? Waren unter den 60 Millionen, die sich mit Recht für die militärisch tüchtigste Nation hielten, gerade zu der Zeit, die ihrer am meisten bedurfte, die starken Begabungen nicht rechtzeitig geboren? Mit dem Geborenwerden allein ist es nicht getan, auch Talente und sogar das Genie wollen entwickelt, wollen gebildet und erzogen werden. An Schule und Erziehung hat es im deutschen Heer vor 1914 wahrhaftig nicht gefehlt, eher könnte man finden, es sei da des Guten zu viel geschehen. Gearbeitet wurde fieberhaft bis an die Grenze der Kraft und mitunter über sie hinaus. Eine ausgezeichnete Schule war im Großen Generalstab vorhanden, an seiner Spitze hatten 35 Jahre lang ein Moltke und ein Schlieffen gestanden, Lehrer, wie man sie besser nicht hätte finden können. Was sich lernen läßt, konnte man lernen und ist gelehrt und gelernt worden, und doch wurde die Prüfung so schlecht b ­ estanden! Wie kam das? Ein Gemeinplatz gibt die Antwort: ebenso wichtig wie Talent und Schule, ja wohl noch wichtiger sind für jede große Leistung Charakter und Persönlichkeit. Das gilt beim Soldaten fast noch mehr als in anderen Berufen. Charakter und Persönlichkeit aber werden nicht durch die Schule gebildet, sondern durch das Leben. Die preußischen Heerführer von 1866 und 1870 waren in einer Zeit groß geworden, die bei schlichten, oft engen Verhältnissen noch in der Erinnerung an die napoleonischen Kämpfe lebte und das große Ziel der deutschen Einheit als Aufgabe vor sich sah. Die Generäle Wilhelms II. wuchsen heran, als beati ­possiden­tes, Söhne eines täglich wohlhabender werdenden Volkes, dem kein großes Ziel mehr zu winken schien, das seinen Beruf zu erfüllen glauben konnte, wenn es nur das Errungene bewahrte und sich davor hütete, sich durch den Duft des Lorbeers, den die Väter errungen hatten, einschläfern zu lassen. Daß in diesem Klima die starken Persönlichkeiten nicht gediehen, kann niemand wundern; ihr Wert wurde allgemein verkannt, man glaubte wohl ohne sie auskommen zu können, wenn Schule und Organisation das Geforderte lei­ ste­ten; es war auch kein Geheimnis, daß sie in der obersten Region nicht sehr geschätzt wurden. Im Jahr 1914 habe ich von einem jungen Armenier, der in Deutschland erzogen war, ein Wort gehört, das mich nachdenklich machte. Er nannte als Merkmal der deutschen Bildung den hohen Durchschnitt, aber zugleich das Überwiegen der Mittelmäßigkeit, und ich glaube, er hatte recht. Auch für die Armee, nach den Generälen zu schließen, die im August 1914 das deutsche Heer im Schicksalskampf zu führen hatten, kann man kaum anders urteilen. Nicht nur daß unter ihnen kein Genie zu finden war; wenn schon in dem ersten Waffengang zwei von ihnen, Prittwitz und Bülow, den Kopf verloren und einer, Huene, seinen Mißerfolg durch falsche Berichterstattung zu verdecken suchte.183 Er führte das 14.  Armeekorps im Elsaß und hatte die Auf183 Ernst von Hoiningen, gen. Huene (1849–1924), deutscher General, 1907–1914 Kommandant des XIV. Armeekorps (DBA III, 411, S. 54–58).

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gabe, dem bis Mülhausen eingedrungenen Feind den Rückzug abzuschneiden. Das mißlang, die Franzosen gingen auf Belfort zurück, Huene aber berichtete, er habe sie auf die Schweizer Grenze zurückgedrängt. Wenn die oberste Führung sich in der Beurteilung der Lage so vollständig irrte, daß sie der Westfront, wo die Entscheidung fallen sollte, die Reserven entzog zugunsten der Ostfront, an der sie nicht gebraucht wurden; wenn man sich nach dieser Probe der Unfähigkeit veranlaßt sah, zwar den Chef des Großen Generalstabs zu wechseln, aber den Nachfolger volle zwei Jahre wirtschaften ließ, obgleich er von Anfang an und Tag für Tag den Beweis wiederholte, daß ihm nichts einfiel – dann muß es entweder an echten Feldherrnnaturen in der hohen Generalität gefehlt haben oder die entscheidenden Stellen hatten den Sinn für wahres Feldherrntum verloren. Ein Offizier, der sich die Schärfe der Selbstkritik bewahrt hatte, der zu früh verstorbene Oberst Hans von Mangoldt-Gaudlitz – er war Oberquartiermeister einer Armee gewesen, setzte sich 1919 auf die Kollegbank und hat 1924 bei mir mit einer ausgezeichneten Schrift über das fränkische Heer den Doktorgrad erworben – hat mir gegenüber einmal sein Urteil in die Worte gekleidet: »Als der Krieg begann, hatten wir alles vergessen, was wir 20 Jahre lang gelernt hatten.«184 Was ein Feldherr sei und wie er zu wirken habe, stand in den Schriften des Grafen Schlieffen zu lesen, nicht zu reden von Clausewitz. Dieser wurde alle Augenblicke zitiert, verstanden hatten ihn wohl die wenigsten, und Schlieffen war tot und schon seit neun Jahren durch den jüngeren Moltke ersetzt. Wie es dabei zugegangen war, hat die Öffentlichkeit nicht erfahren. Es hieß, Schlieffen sei alt geworden, nicht mehr felddienstfähig gewesen und habe infolge eines Beinbruchs (1905) nicht mehr reiten können. Das war nicht die Wahrheit. Der wahre Hergang, wie er mir von vertrauenswürdiger militärischer Seite mitgeteilt worden ist, war folgender: Der Kaiser wünschte, um Moltke, seinen gelieben »Julius«, stets um sich zu haben, diesem das Kommando des Hauptquartiers zu übertragen, in dem der Generaloberst von Plessen sich so behagte, daß er es ungern mit einem Posten in der Truppe vertauscht hätte. Um nun die Kandidatur Moltkes zu beseitigen, wurde dem Kaiser eingeredet, es sei Zeit, den alternden Schlieffen, der nach seinem eben erlittenen Unfall nicht mehr reiten könne, durch eine frische Kraft zu ersetzen. Der Kaiser, dem der strenge und wortkarge Schlieffen nicht angenehm war, der wohl auch dessen Schwerhörigkeit störend empfand, glaubte nur zu gern, was ihm gesagt wurde. In seinen Augen war ein General, der nicht mehr zu Pferde steigen konnte, pensionsreif. In Wirklichkeit hat der greise Schlieffen auch nach seinem Unfall noch durch Kühnheit und Sicherheit im Sattel, wie mein Gewährsmann als Augenzeuge mir versichert hat, die Jüngsten beschämt. So wurde denn Schlieffen verabschiedet und Moltke zum Nachfolger ernannt, nachdem er den ­Posten 184 Hans von Mangoldt-Gaudlitz (1869–1936), deutscher Militärhistoriker (NDB 16, S. 30). Bei seiner Dissertation handelt es sich um: Hans von Mangoldt-Gaudlitz: Die Reiterei in den germanischen und fränkischen Heeren bis zum Ausgang der deutschen Karolinger (Arbeiten zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte 4), Berlin 1922.

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zunächst einige Zeit vertretungsweise versehen hatte, wobei er sich angeblich gut bewährt haben sollte. Für den Ernstfall glaubte man sich gesichert, denn Schlieffen hinterließ ja einen vortrefflich geschulten Generalstab und einen Feldzugsplan, der den Sieg verbürgte! Daß zur Durchführung eines Schlieffenschen Planes ein Führer wie Schlieffen gehörte, wäre damals kaum verstanden worden. Das Ergebnis war der kopf- und mutlose Rückzug von der Marne, der den für unfehlbar gehaltenen Plan und mit ihm zugleich den Glauben an die Unbesiegbarkeit des deutschen Heeres begrub. Der Kaiser zog daraus die Folgerung, die sich aufdrängte, Moltke mußte gehen »wegen angegriffener Gesundheit« – aber die Wahl des Nachfolgers brachte kein Glück. Wodurch der Kriegsminister General von Falkenhayn sich so sehr empfohlen hatte, kann ich nicht sagen; sein »schneidiges« Auftreten gegenüber dem Reichstag hat dabei jedenfalls eine Rolle gespielt. In der Armee kannte man Falkenhayn als Spielernatur – wegen Spielschulden hatte er den Dienst quittieren und in China bei der Landesvermessung Unterschlupf suchen müssen. Dort hatte er das Glück gehabt, sich dem Prinzen Heinrich auf dessen Ostasienfahrt (1900) zu nähern, der beim Kaiser für ihn eintrat und seine Wiedereinstellung bewirkte.185 Bei seinen Kameraden war er nicht beliebt, er galt als intrigant und wenig vertrauenswürdig. Als Heerführer hat er einen beredten Verteidiger gefunden, dem ich als Laie nicht widersprechen darf. Ich beschränke mich darauf, die unbestreitbare Tatsache festzustellen, daß Falkenhayns Strategie die erhoffte Wendung trotz aller Einzelerfolge nicht gebracht hat. Weder der Sieg in Galizien noch die Eroberung der Festungen in Polen brachten die Entscheidung, und der Angriff auf Verdun führte zur Niederlage. Zwei Jahre ebenso ergebnisloser wie verlustreicher Kriegführung endeten mit der Verabschiedung des F ­ eldherrn, dem offenbar das Richtige nicht eingefallen war, der es in einem Fall sogar hartnäckig abgelehnt hatte. Indem er sich in seiner Phantasielosigkeit an den Gedanken Schlieffens klammerte, die feindliche Front im Westen durch Umfassung ihres linken Flügels aufzurollen, zu einer Zeit – Spätherbst 1914 – als für diesen Plan alle Voraussetzungen fehlten186 und indem er die Ausführung jungen Truppen aufbürdete, die sie nicht lösen konnte, während sie, im Osten eingesetzt, zur selben Zeit die russische Übermacht gebrochen haben würden, hat Falkenhayn die günstigste Gelegenheit, dem Kriege wieder eine glückliche Wendung zu geben, versäumt und unsere Kampfkraft empfindlich geschwächt. Ich möchte wohl wissen, ob der Stolz auf den Heldenmut, mit dem die Freiwilligen in Flandern in den Tod gingen, die nutzlose Hinschlachtung unserer wertvoll­sten Jugend wert war. In meinen Augen ist der Name Langemarck zwar eine leuchtende Ruhmesfackel vor dem Denkmal des deutschen Soldaten von 1914, aber für das deutsche Feldherrentum von damals das Gegenteil eines Ehrentitels. 185 Heinrich Prinz von Preußen (1862–1929), Bruder Kaiser Wilhelms II. und deutscher Großadmiral (NDB 1, S. 200). 186 An dieser Stelle hat Haller im Manuskript angemerkt: »Es war ihm von einem seiner Korpsführer, wie dieser mir selbst erzählt hat, eindringlich vorgestellt worden.«

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Taktische Lorbeeren und strategisches Mißlingen, das war die Signatur des Krieges geworden, und das blieb sie, auch als der Kaiser sich entschloß zu tun, was weite Kreise schon längst verlangten, Falkenhayn zu verabschieden und die Leitung des Krieges Hindenburg zu übertragen.187 Zu spät! So hieß es bald, als auch jetzt die entscheidenden Erfolge ausblieben und die militärische Lage sich immer ungünstiger gestaltete. Warum hatte man nicht früher den Feldherrn an die Spitze des Ganzen gestellt, an dessen Namen sich auf dem östlichen Schauplatz eine Kette glänzender Siege heftete, die nur darum  – so hieß es  – nicht zur vollen Entscheidung gereift waren, weil Eifersucht dem Sieger die gehörige Unterstützung verweigert hatte? Und es muß gesagt werden, so ungern man es glaubt: die persönliche Spannung zwischen den beiden Hauptquartieren, dem östlichen und dem westlichen, hat auf die Gesamtführung des Krieges un­ günstig gewirkt, um so ungünstiger, weil der Kaiser durch täglichen Verkehr mit Falkenhayn beeinflußt, unwillkürlich für diesen Partei nahm, sich mit ihm identifizierte, wie er es mit Bethmann Hollweg tat, die Kritik an seinem Generalstabschef auf sich persönlich bezog und gegenüber der rasch angewachsenen Volkstümlichkeit Hindenburgs seine Empfindlichkeit nicht verbergen konnte. Sie ging so weit, daß im kaiserlichen Hauptquartier von Wallenstein gesprochen wurde. Ohne das vermittelnde Eingreifen der Kaiserin – das wußte man – wäre es wohl zum offenen Bruch gekommen. Mit vollem Recht haben Sachkundige es von Anfang an getadelt, daß der Kaiser überhaupt an die Front gegangen war, anstatt von Berlin aus, wo er für die Regierung nötiger war, beiden Fronten gleich nahe zu bleiben. Da hat die Tradition, daß ein preußischer König selbst ins Feld ziehen müsse, schädlich gewirkt. Das erleichterte Aufatmen, mit dem die Ernennung Hindenburgs zum Chef des Großen Generalstabs, und das hieß so viel wie zum Oberbefehlshaber, überall begrüßt wurde, habe damals auch ich stark empfunden. So groß war das ­Vertrauen, das der Name des Russenbesiegers einflößte, daß auch mancher strategische Kritiker in ihm die Verheißung des Endsiegs erblickte, mochte dieser gerade damals infolge der Kriegserklärung Rumäniens ferner als je gerückt erscheinen.188 Ich war unmittelbar vorher auf Einladung Beselers in Warschau gewesen, um den Jahrestag der Einnahme der polnischen Hauptstadt durch einen öffentlichen Vortrag zu feiern, in dem ich die Stellung Deutschlands als Vormacht und Kultur­träger gegenüber den Ländern an der Ostsee skizzierte.189 Die 187 Am 29. August 1916 wurde Falkenhayn als Chef des Generalstabs abberufen und durch Hindenburg ersetzt (NDB 5, S. 14). 188 Am 27. August 1916 erklärte Rumänien Österreich-Ungarn den Krieg und trat damit auf der Seite der Entente in den Ersten Weltkrieg ein. Vgl. Wolfdieter Bihl: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien u. a. 2010, S. 145. 189 Hans von Beseler (1850–1921), preußischer General, 1915–1918 Generalgouverneur in Warschau (NDB 2, S. 176). Bei dem erwähnten Vortrag handelt es sich um: Johannes Haller: Deutsche Macht und Kultur an der Ostsee, in: Hans von Beseler/Wilhelm Paszkowski: Wissenschaftliche Vorträge, gehalten auf Veranlassung Seiner Exzellenz des Herrn Generalgouverneur Hans von Beseler in Warschau in den Kriegsjahren 1916/17, Berlin 1918, S. 107–111.

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Eindrücke, die ich in Warschau erhielt, waren nicht die besten gewesen. Beim Generalgouverneur und seinen Beratern war ich auf eine gefühlsmäßige Parteinahme für die Polen gestoßen, während der junge Leutnant, der mich bei Besichtigung der Stadt begleitete, ganz unverblümt vom bevorstehenden Volksaufstand gegen die deutsche Besatzung als von einer sicher zu erwartenden Tatsache sprach. Unerfreulich war auch das Bild, das die Truppe bot, die Unmenge von Offizieren und uniformierten Verwaltungsbeamten, die Straßen und Plätze füllte und einem die Frage aufdrängte, ob diese Leute nicht anderswo nötiger gewesen wären. Der Bemerkung, die mir einer der Offiziere gelegentlich zuflüsterte, daß die Luft der Garnison nicht angenehm sei, weil sich in ihr alles staute, was nicht an die Front wollte, – dieses ehrlichen Geständnisses hätte es nicht bedurft, um mich erkennen zu lassen, daß ich das schon damals und vollends später berüchtigte Bild der Etappe vor Augen hatte. Die Stimmung hatte ich ausgesprochen pessimistisch gefunden und mich der Ansteckung nicht erwehren können; die Lage war wirklich nichts weniger als ermutigend, und das Barometer sank bald noch tiefer, als die rumänische Kriegserklärung erfolgte. Da erschien die Betrauung Hindenburgs mit der obersten Führung wie ein entschlossenes Zusammenraffen der Kräfte, man fühlte sich zu neuem Vertrauen ge­stärkt; und man wurde auch nicht ganz enttäuscht. Mehr als ein Offizier der Front hat mir geschildert, wie mit dem Wechsel der Führung ein neuer Strom von Energie den gesamten Organismus des Heeres bis hinab in die Reihen der gemeinen Soldaten durchflutet habe. Es war also gewiß nicht nur die Wirkung des Namens, wenn von da an die Kriegführung als eine andere empfunden wurde, aber daß der Name dazu das seinige beitrug, wer wollte das leugnen? Hätte man auf eine kurze Formel bringen wollen, was dieser Name damals und später für die meisten Deutschen bedeutete, so wären es die Worte gewesen, mit denen sich der finnische Staatmann Svinhufvud bei seiner Verbannung nach Sibirien von seinen Freunden verabschiedete: »Ich glaube an Gott und Hindenburg!«190 So etwa habe auch ich damals empfunden, und die Ernennung Hindenburgs zum Reichskanzler mit diktatorischen Vollmachten – von nicht wenigen gewünscht und gefordert – wäre auch mir als der beste Weg zur Rettung des ­Reiches erschienen. Ich habe darüber mit der Zeit anders urteilen gelernt. Den ersten Stoß erhielt mein blindes Vertrauen, als mir der Vorzug zuteil wurde, den Feldmarschall persönlich kennen zu lernen.191 Es war zu Anfang Dezember 1917, unsere Truppen im Osten hatten nach der Einnahme von Riga im südlichen Livland Halt gemacht, in Brest-Litowsk wurde mit Rußland über Waffenstillstand verhandelt. Baltische Landsleute von mir, die fürchteten, daß Livland und Estland damals und wohl auch für später den Russen überlassen werden könnten, hatten die alte Großherzogin Luise von Baden dafür gewonnen, bei Hindenburg, mit dem sie seit der Zeit seines Divisions190 Pehr Evind Svinhufvud (1861–1944), finnischer Politiker, 1914 nach Sibirien deportiert, 1931 Staatspräsident (SBA II, 295, S. 404–417). 191 Für das Folgende vgl. oben Kapitel VI.1.

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kommandos in Karlsruhe befreundet war, dafür einzutreten, daß die Demarkationslinie an den Peipus und die Narwa verlegt würde. Zur Vertretung dieses Wunsches hatte die Großherzogin mich beim Feldmarschall angemeldet. Eine telegrafische Einladung von ihm berief mich ins Große Hauptquartier, das sich damals in Kreuznach befand und in nicht geringer Spannung eilte ich, der Einladung zu folgen. War es doch das erste Mal, das ich einem Gebietenden gegenüberzutreten hatte, um ihn zu bestimmten Entschlüssen zu bewegen. Die schlichte Güte, mit der ich empfangen wurde, beseitigte rasch alle Befangenheit. Der Feldmarschall, beim Kaiser festgehalten, ließ mich zum Abendessen mit seinem Stabe bitten, erschien pünktlich zur angegebenen Zeit und begrüßte mich schon beim Eintreten mit den Worten: »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen; mir brauchen Sie garnichts zu sagen, ich bin ganz Ihrer Ansicht: das baltische Land soll deutsch werden – das muß und wird kommen, aber es braucht seine Zeit.« Man ging sogleich zu Tisch, ich saß zwischen Hindenburg und Ludendorff, mir gegenüber die Offiziere des Stabes, lauter wenig militä­ rische Erscheinungen, überarbeitete, übernächtige Gesichter. Die Unterhaltung lief zwanglos; von Hindenburg mit großer Sicherheit geleitet, während das Essen – Suppe, ein Fleischgericht mit Nachtisch und einem Glas Weißwein – rasch aufgetragen wurde. Dann setzte man sich im Nebenzimmer zu einem Glase Bier. Ludendorff verhielt sich im Gegensatz zu allen übrigen fast durchaus schweigsam, zerstreut zuhörend und ersichtlich ganz mit eigenen Gedanken beschäftigt. Man sprach von allem Möglichen, Kriegsgeschichte und Militär­ geographie, strategischen Möglichkeiten, auch Versäumnissen. Hindenburg erkundigte sich nach der Art der Esten und Letten, von denen er durch Verwandte im Lande schlimme Dinge aus der Zeit der ersten Revolu­tion (1905) gehört hatte, und verhielt sich gegenüber meinem günstigen Urteil über die Esten ungläubig. Deutsche, meinte er, würden sich so treulos und roh nicht zeigen. Ob er später an diesem Glauben festgehalten hat, weiß ich nicht. Rundweg ablehnend äußerte er sich gegenüber dem Vorwurf – er sagte nicht, wessen – daß er nicht bei Zeiten auf Petersburg marschiert sei. Als ich erwähnte, im Auswärtigen Amt sei man von dem Auftreten der Flotte in der Ostsee enttäuscht – ich hatte das seinerzeit von Zimmermann selbst und später durch Schiemann gehört – erwiderte Hindenburg mit bitterem Unterton: »Die Flotte ist vom Amt noch viel enttäuschter.« Überrascht war ich, mit welcher Lebhaftigkeit er der allgemeinen Ansicht entgegentrat, die russische Armee sei zur Zeit kein ernsthafter Gegner mehr. »Wir haben doch Beweise vom Gegenteil an der Front.« Einen weiteren Vormarsch nach Norden erklärte er für untunlich: »Das Land ist groß, wir haben wenig Truppen, und der Krieg wird im Westen entschieden.« Widersprechen durfte ich natürlich nicht, aber daß Riga ohne einen Schuß geräumt worden war, machte wirklich nicht den Eindruck, als ob Rußland den Besitz von Livland überhaupt zu verteidigen gesonnen wäre. Was ich später an Einzelheiten aus dem andern Lager erfahren habe, hat mir gezeigt, daß ich recht hatte und die Entgegnung, die mir auf der Zunge lag, nicht zu verschlucken gebraucht hätte: der Feldmarschall möge nur bekannt machen, er verfüge sich nach Riga,

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und ich wollte ihm dafür bürgen, daß in wenig Tagen der letzte russische Soldat jenseits des Peipus und der Narva stehen würde. Darüber noch viele Worte zu verlieren, schien mir unnötig, da Hindenburg mir bereits versichert hatte, er habe die eben bezeichnete Linie als Grenze des Waffenstillstands gefordert, es hänge nur noch von der »Reichsleitung« ab – ich konnte mich eines stillen Befremdens über diesen Ausdruck nicht erwehren  – und er wolle mich beim Reichskanzler anmelden. Die Vorsicht, um nicht zu sagen Ängstlichkeit, die so wenig zu den Begrüßungsworten paßte, ließ mich stutzen. Ich fühlte, daß bei der Obersten Heeresleitung, seit sie sich im Westen befand, die Dinge im ­Osten in den Hintergrund traten. Also auch Hindenburg hatte die große Gelegenheit nicht erkannt, die sich mit der russischen Revolution zu einer wenn nicht völlig siegreichen, doch nicht unglücklichen und für die Zukunft verheißungs­vollen Beendigung des Krieges dargeboten hatte; auch er wie die Mehrzahl der höheren Offiziere suchte den »Sieg« im Westen, sah nicht die Möglichkeiten, die politischen Möglichkeiten, die sich im Osten eröffnet hatten, und neigte dazu, die Ostfront, die seinen Ruhm begründet hatte, sich selbst zu überlassen, um gegenüber dem Erbfeind im Westen nicht weniger rühmlich abzuschneiden als die Väter anno 1870! Im Gegensatz zur Vorsicht, mit der Hindenburg die derzeitige Lage an der Ostfront ansah, stand die Art, wie er sich über etwa mögliche Gefahren in frü­ heren Stadien des Krieges aussprach: er schien sie für keinen Zeitpunkt als ernsthaft anerkennen zu wollen und machte sich über die Leute lustig, die früher »solche Angst gehabt hätten!« Das führte ihn auf den Moment im Oktober 1914, als ihn die doppelte Umfassung seiner Front zum Rückzug vor Warschau genötigt hatte. Er gab die Schuld kurzweg den Österreichern, die »die Russen über die Weichsel gelassen« hätten. In dem Ton, mit dem er das sagte, war der Groll über dieses Versagen des Bundesbruders nicht zu überhören. Den russischen Plan erkannte er unumwunden an: »Die Ausführung, sagte er, war ungeschickt, aber der Gedanke war großzügig.« Auf meine Frage, wem er das Verdienst zuschreibe, ob dem Großfürsten Oberkommandierenden oder seinem Generalstabschef Alexejew, erwiderte er: »So darf man garnicht fragen. Der Großfürst hat die Verantwortung übernommen, folglich hat er auch das Verdienst.«192 Das gab mir das Stichwort, ihn um Aufklärung über einen Punkt zu bitten, der damals schon viel und in verschiedenem Sinne besprochen wurde, nämlich seinen Anteil am Siege bei Tannenberg. Es war bereits die Meinung verbreitet, die Urheberschaft des Sieges bei Tannenberg wie überhaupt der Strategie im Osten komme nicht Hindenburg zu, sondern Ludendorff, dessen Pläne Hindenburg unverändert gutzuheißen pflege. Ich fragte also, ob ich mir eine unbescheidene Frage erlaubten dürfe. »Bitte sehr«, lautete die Antwort; »wenn ich kann, werde ich gern Auskunft geben.« Ich bemerkte also, ich hatte kürzlich am 70. Geburtstag des Feldmarschalls in öffentlicher Feier über die Schlacht 192 Michail Alexejew (1857–1918), russischer General, 1914 Generalstabschef der Südwestfront unter dem Oberkommandierenden Nikolai Iwanow (1851–1919) (RBA & BASU, RS 1, S. 373 f.).

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bei Tannenberg sprechen müssen und dabei empfunden, wie wenig man bisher über den Hergang wisse. Insbesondere habe mich gestört, daß nicht erkennbar sei, wann der Befehl für die Rochade des 1. Armeekorps vom linken Flügel über Königsberg nach dem rechten bei Heilsberg ergangen sei, womit, wie ich für den Leser erklärend bemerke, sowohl der Entschluß wie die taktische Anlage zur Schlacht gegeben war. »Das kann Ihnen der General (Ludendorff) noch besser sagen als ich, denn er war schon beteiligt, ich war noch garnicht dabei«, erwiderte Hindenburg, und Ludendorff fiel sogleich ein: »Am 19. August um 1 Uhr Mittags.« Hindenburg mochte wohl erkannt haben, was ich sowohl aus seiner wie Ludendorffs Antwort schließen würde, nämlich daß die Schlacht eigentlich das Werk des zurücktretenden Oberkommandos der 8.  Armee (Prittwitz-­Waldersee) gewesen sei, denn er beeilte sich, hinzuzufügen, diese hätten nur an Verteidigung der Weichsel, unter Umständen an Rückgang hinter den Strom gedacht. »Wir«, sagte er, »gaben der Sache eine andere Wendung; hinter die Weichsel wären wir nicht zurückgegangen.« Meine Zweifel, ob das unter allen Umständen durchführbar gewesen wäre, wies er ab, und erklärte mit stärkster Betonung und verächtlichem Beiklang: »Nein, hinter die Weichsel wären wir nicht gegangen! Auch wenn es nicht gelang, den Feind einzukreisen, so gibt es doch immer eine schwache Stelle, in die man hinein stoßen kann.« Das Wort war von eindrucksvoller Geste begleitet. Natürlich hütete ich mich, zu verraten, wie wenig mich die letzte Behauptung überzeugte; was ich wissen wollte, hatte ich erfahren: daß der Plan zur Schlacht bei Tannenberg unter telefonischer Teilnahme Ludendorffs vom abtretenden Oberkammando der 8. Armee entworfen war und Hindenburgs »Verdienst« sich darauf beschränkt hatte, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Wer in Wirklichkeit der geis­ tige Urheber dieser Ruhmestat gewesen ist, habe ich erst nach Jahren aus einer Studie des französischen Majors Koelch (in der Revue de Paris) erfahren:193 der Plan der Schlacht entsprach dem ersten Kriegsspiel, das unter Moltkes Leitung 1905 durchgeführt worden war, stammte also wahrscheinlich noch von Schlieffen. Die Verantwortung hätte dieser freilich nicht mehr übernehmen können, folglich auch – nach Hindenburgs Auffassung – keinen Anspruch auf das Verdienst d. h. auf den Ruhm. Den Ruhm des Siegers von Tannenberg hat bekanntlich noch ein anderer für sich gefordert, nämlich Ludendorff, und mancher hat ihm darin Recht gegeben, indem er behauptete, alle Anordnungen seien von ihm ausgegangen, von Hindenburg lediglich unterzeichnet worden. Andere haben von einer kaum glaublichen geistigen Gemeinschaft der beiden Generäle gesprochen, kraft deren sie immer das gleiche gewollt und auf den gleichen Gedanken verfallen seien. Da­ rüber kann nur mitreden, wer dabei gewesen ist, und ich beschränke mich da­ rauf, einen Fall hervorzuheben, in dem der Feldmarschall und sein Chef keineswegs der gleichen Meinung gewesen sind. Es war in einer hochkritischen Stunde, nach der sogenannten Nebelschlacht des 8. August 1918, als die deut193 Person und Publikation konnten nicht ermittelt werden.

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sche 2. Armee durchbrochen und geschlagen war. Hindenburg forderte damals, daß der Befehl zum allgemeinen Rückzug sofort erteilt werde, Ludendorff wollte davon nichts hören, und der Rückzug unterblieb. So berichtet der damals anwesende General von Lossow in seinen Aufzeichnungen.194 Die Wahrheit dürfte also sein, daß Ludendorffs Meinung und Wille nicht nur bei dieser Gelegenheit entscheidend war, Hindenburg sich ihm fügte und Ludendorff also der tatsächliche Führer gewesen ist, wie es der alte Moltke unter Wilhelm I. war. Wer von den Verhältnissen der Truppenführung unter Wilhelm II. etwas gehört hat, weiß, daß dies keine Seltenheit, ja daß es die Regel geworden war. Der Oberkommandierende eines Korps oder einer Armee war normalerweise nur der Repräsentant der Führung, der für die Erhaltung der Disziplin, des guten Geistes und der Einheit unter den Offizieren sorgte und dem Stabschef die übrige Arbeit der Führung überließ. Man pflegte darum in Offizierskreisen meist nicht zu fragen, wer an einer bestimmten Stelle der Oberbefehlshaber, sondern wer der Chef sei, auf diesen kam es an. So war es schon in Friedenszeiten gewesen, und so blieb es während des Krieges.195 1870 war es Ausnahme gewesen, daß z. B. in der Schlacht an der Lisaine zwar General von Werder, ein ausgesprochener Hofgeneral, das Kommando führte, weil die nicht einfachen Verhältnisse bei den gemischten preußischen und süddeutschen Truppen eine geschickte und taktvolle Persönlichkeit erforderten, während der wirkliche Gewinner, wie jeder Eingeweihte wußte, der spätere General von Leszczynski als Stabschef war.196 Ähnlich Stosch in der zweiten Phase der Kämpfe bei Orleans unter dem Großherzog von Mecklenburg.197 Damals waren das Ausnahmen gewesen, unter Wilhelm II. war es mit der Zeit die Regel geworden, warum weiß ich nicht zu sagen. Von der Goltz im Irak, Eichhorn in Wolhynien und der Ukraine machten Ausnahmen, dagegen ist der zu Anfang des Krieges so oft genannte Kluck vor Paris tatsächlich so sehr hinter seinem Chef Kuhl zurückgetreten, daß dieser sogar den Befehl zum Rückzug von der Marne auf Verlangen von Hentsch anordnen konnte, ohne Kluck gehört zu haben.198 194 Otto von Lossow (1868–1938), deutscher General (NDB 15, S. 204 f.). 195 An dieser Stelle hat Haller im Manuskript angemerkt: »Ich habe das oft gehört, und der Sohn des Generals von Einem hat es mir bestätigt mit Berufung auf seinen Vater.« 196 August Graf von Werder (1808–1887), preußischer General, als Oberbefehlshaber mit dem Generalstabschef Paul von Leszczynski (1830–1918) im Januar 1871 Sieger in der Schlacht an der Lisaine (ADB 41, S. 762–766). 197 Albrecht von Stosch war Generalstabschef unter Friedrich Franz II. von Mecklenburg (1823–1883) bei der Einnahme von Orleans im Dezember 1870 (ADB 54, S. 576–607). 198 Colmar von der Goltz (1843–1916), preußischer Generalfeldmarschall, 1915–1916 Oberbefehlshaber über die 6. Osmanische Armee, besiegte die britischen Truppen in Kut-elamara (NDB 6, S. 629–632); Hermann von Eichhorn (1848–1918), preußischer Generalfeldmarschall, im August 1915 Einnahme von Kowno, 1918 militärische Sicherung der besetzen Gebiete in der Ukraine, in Südrussland und auf der Krim (NDB 4, S. 377); Alexander von Kluck (1846–1934), preußischer Generaloberst, Oberbefehlshaber des 1. Armee beim gescheiterten Angriff auf Paris im August und September 1914 (NDB 12, S. 131 f.); Hermann von Kuhl (1856–1958), preußischer General, Generalstabschef unter Kluck (NDB 13, S. 251 f.).

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Dem hat der Hergang bei Hindenburgs Ernennung entsprochen, wie es mir von einem Major des Großen Generalstabs erhält worden ist, der in den Verlauf Einblick gehabt hatte. Dringende Vorstellungen aus Ostpreußen hatten den ­Kaiser zur Abberufung des Oberkommandos der 8. Armee bewogen. Bei der Beratung über den zu ernennenden neuen Generalstabschef, bezeichnender Weise in Abwesenheit Moltkes, verfiel man auf Ludendorff, dessen Ernennung sofort – es eilte ja sehr – vollzogen wurde. Nun handelte es sich darum, einen Oberbefehlshaber zu finden, der es mit diesem als schwierige Persön­lichkeit bekannten Chef aushalten würde. Dazu wurde Hindenburg für geeignet erklärt, denn – so hieß es – »Hindenburg tue alles, was man ihm sagt.« Dieser Erwartung hat er auch entsprochen, als Führer des deutschen Heeres im Kriege wie als Präsident des Deutschen Reiches im Frieden: immer hat er getan, was »man ihm sagte«. Es versteht sich, daß in unserem Tischgespräch auch die Politik gestreift wurde, aber daß der Feldmarschall in ihr nicht zu Hause war, ließ sich nicht verkennen. Urteile, die er abgab, noch mehr die Art, wie er sie formulierte, ließen keinen Zweifel, daß man es mit einem gründlich unpolitischen Menschen zu tun hatte, einem Menschen, dem die Politik fremd war und der ihr fremd zu bleiben wünschte. Über die erste Rede, die Graf Hertling im Reichstag als Reichskanzler gehalten hatte, sprach er sich entzückt aus – »ausgezeichnet, vortrefflich« – und schien sein vollstes Vertrauen auf diesen neuen Kanzler zu setzen, in dem jeder Urteilsfähige eine Gefahr und das Eingeständnis unseres politischen Bankrotts sehen mußte: in der äußersten Krisis des Reiches an der Spitze der Geschäfte ein hinfälliger Greis, abhängig von einer Parlamentsmehrheit, in der der Spitzbube Erzberger die Führung an sich gerissen hatte!199 Was bedeutete es, daß Hertling von der Verteidigung von Bismarcks Werk schöne Worte zu machen verstand! Wie er in Wahrheit über dieses Werk gedacht, hat er in seinen Lebenserinnerungen einzugestehen sich nicht gescheut: mit völlig kaltem Herzen will er der Einigung Deutschlands zugesehen haben.200 Das konnte man damals noch nicht wissen, aber daß der Führer des Zentrums und bayrische Ministerpräsident ein warmer Vorkämpfer des preußisch-­ deutschen Kaisertums sein werde, konnte nur ein naives Gemüt erwarten. Näher lag wohl der Argwohn, dieser Kanzler werde, vielleicht ohne es zu wissen, 199 Georg von Hertling wurde 1917 Reichskanzler; Matthias Erzberger (1875–1921), deutscher Zentrumspolitiker, seit 1903 Reichstagsabgeordneter, im Ersten Weltkrieg für die Organisation der deutschen Propaganda im katholischen Ausland zuständig, Mitunterzeichner des Waffenstillstands am 11.  November 1918, 1921 von Freikorpsangehörigen­ ermordet (NDB 4, S. 638–640). 200 Georg von Hertling: Erinnerungen aus meinem Leben, Bd.  1, Kempten und München 1919, S.  227: »Selbstverständlich hatten auch mich die Großtaten unserer Truppen mit patriotischer Begeisterung erfüllt, aber dem, was der Friede brachte, dem Zusammenschlusse der sämtlichen deutschen Staaten zum neuen Deutschen Reiche und dem Übergange der Kaiserkrone an den König von Preußen, stand ich einstweilen noch ohne innere Teilnahme gegenüber.«

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als Werkzeug in der Hand anderer Mächte zur Zerstörung der führenden protes­ tantischen Großmacht das Seine beitragen. Nicht wenig geehrt fühlte ich mich, als der Feldmarschall meine Ansicht über das mutmaßliche Ende der Revolution in Rußland zu hören wünschte. »Wie lange kann das da denn noch dauern?« fragte er. »Beliebig lange, Ex­ zellenz«, war meine Antwort. Darauf Hindenburg: »Wie denn? Es muß doch mal wieder Ordnung geschafft werden!« Ich: »Verzeihung, das ist deutsch gedacht; der Deutsche braucht Ordnung, dem Russen ist die Unordnung viel lieber. Überdies: wer sollte die Ordnung herstellen?« Hindenburg: »Es braucht doch nur ein energischer Mann aufzutreten und die Sache in die Hand zu nehmen.« Ich: »Wollen Sie, Herr Feldmarschall, die Rolle übernehmen? In Rußland ist niemand dazu fähig. Ich fühle, daß der jetzige Zustand sich dauernd behaupten wird, weil niemand ihn zu beseitigen vermag, es sei denn eine überlegene Macht griffe von außen ein.« Während Ludendorff mir zustimmte – es könne mindestens noch sehr lange dauern – legte Hindenburg kopfschüttelnd und brummend seinen Unglauben an den Tag. Dennoch sind meine Worte nicht ohne Eindruck geblieben. Viele Jahre später hat Baron Friedrich von der Ropp, der an der Errichtung des litauischen Freistaats beteiligte Kurländer, mir erzählt, er sei einen Tag nach mir von Hindenburg empfangen worden, der ihm von meiner Äußerung berichtet und von ihm die gleiche Ansicht zu hören bekommen habe.201 Um sie zu gewinnen, bedurfte es keiner großen Prophetengabe, einige Kenntnis russischer Zustände und Volksart genügten durchaus, um vorauszusehen, wie die Dinge laufen würden. Aber wo gab es diese Kenntnis in deutschen leitenden Stellen! Mein Besuch bei Hindenburg hatte ein eigentümliches Nachspiel. Ich erwähnte schon, daß der Feldmarschall mich an den Reichskanzler verwiesen hatte, fuhr also am nächsten Tage nach Berlin, wurde dort auf den dritten Tag 11 Uhr Vormittags bestellt und fand zu dieser Stunde im großen Kongreßsaal des Kanzlerpalais den Grafen Hertling mit einigen Herren beschäftigt, einen Flügel aufzustellen. Die 20 Minuten, bis dieses wichtige politische Geschäft be­ endet war, verkürzte mir der Unterstaatssekretär von Radowitz durch liebenswürdige Unterhaltung, dann wurde ich empfangen.202 Zugegen war außer Radowitz der General von Winterfeldt.203 Ich trug mein Anliegen vor, wies besonders darauf hin, daß die Russen – was ich in Berlin erfahren hatte – schon begonnen hätten, in Livland und Estland das Vieh abzuschlachten, die Vorräte zu vernichten und Gutsgebäude zu zerstören, daß wir das Land doch würden besetzen müssen und daß es vernünftiger sei, dies alsbald zu tun, so lange 201 Friedrich von der Ropp (1879–1964), deutschbaltischer Bauingenieur und Evangelist, während des Ersten Weltkriegs Generalsekretär der Liga der Fremdvölker Rußlands (BBL, S. 640). 202 Otto von Radowitz (1880–1941), deutscher Diplomat (NDB 21, S. 100). 203 Detlof Sigismund von Winterfeldt (1867–1940), deutscher Generalmajor, 1917–1918 Vertreter der Obersten Heeresleitung in der Reichskanzlei (DBA II, 1415, S. 90–92).

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es noch etwas zu bieten habe. Schließlich berief ich mich auf Hindenburgs Mitteilung, daß die ­Räumung des Landes bereits gefordert sei. Hertling erwiderte seufzend etwas Unzusammenhängendes von »schwerer Verantwortung« und Abgeneigtheit des Reichstags. Das Gespräch verlief sich, und ich war entlassen. Beim Fortgehen folgte mir General von Winterfeldt, um mir zu sagen, die Räumung des Landes sei nicht conditio sine qua non, und mich zu bitten, ich möchte das, was Hindenburg mir gesagt hatte, nicht weitererzählen; »man wird uns sonst wieder angreifen, weil wir der Obersten Heeresleitung Hindernisse bereiten.« Ich mußte bedauern, die Bitte kam zu spät; ich hatte während der anderthalb Tage, die ich in Berlin zubrachte, keinen Grund gesehen, aus dem, was ich im Großen Hauptquartier gehört hatte, gegenüber meinen Freunden ein Geheimnis zu machen. Dabei blieb es. Besondere Hochachtung vor der sogenannten »Reichsleitung« konnte dieser Empfang mir nicht einflößen, ja, ehrlich gestanden, habe ich mit einem Gefühl der Verachtung gegen dieses schlaffe, träge und unfähige Wesen zu kämpfen ­gehabt, das mir da begegnet war in einem Augenblick, wo es sich um Tod und Leben des Reichs handelte. Aber schlimmer war etwas anderes: ich hatte feststellen können, daß an den obersten Stellen keine Einheit des Wollens bestand. Daß Militär und Zivil uneins waren, war längst kein Geheimnis, ich hatte aber mehr entdeckt. Wie konnte General von Winterfeldt, der in der Wilhelmstraße die Oberste Heeresleitung vertrat, bestreiten, daß eine Bedingung für den Waffenstillstand gestellt sei, die Hindenburg gefordert zu haben behauptete? Wer hatte da zu befehlen, der Feldmarschall als Führer des Heeres oder eine andere Stelle? Vom Kaiser war bezeichnender Weise überhaupt nicht die Rede. Aus ­späteren Veröffentlichungen hat man erfahren, daß der General Hoffmann, der die Verhandlung in Brest Litowsk führte, sich herausgenommen hat, eigene Politik zu machen, indem er in offenbarem Einverständnis mit den zivilen Stellen und im Widerspruch zu seinen militärischen Vorgesetzten eine Bedingung fallen ließ, die diese aufgestellt hatten.204 Ohne dies zu wissen, hatte ich doch genug von den Dingen bemerkt, um zu erraten, daß über der Verhandlung mit den Russen der schlimmste Unstern schwebte, die Unsicherheit, Unklarheit und Uneinigkeit der Beteiligten; und – was mich im Augenblick persönlich am nächsten anging – daß meine Sendung gescheitert, daß ich wahrscheinlich zu spät gekommen war und jedenfalls nichts erreicht hatte. So war es. Während ich in Kreuznach und Berlin Worte wechselte, waren in Brest Litowsk die Würfel gefallen. Livland und Estland, die die Russen schon abgeschrieben hatten  – sie hatten mit der Zerstörung des Revaler Kriegshafens bereits begonnen – waren preisgegeben, der sinnlose Gedanke, Livland zu­ teilen, den ich gegenüber Zimmermann schon 1915 bekämpft hatte, war zur Richtschnur genommen. Es ist dann doch anders gekommen, wenn auch nicht besser. Davon später. 204 Max Hoffmann (1869–1927), deutscher General, 1916–1918 Generalstabschef beim Oberbefehlshaber Ost (NDB 9, S. 401 f.).

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Wenn ich nun daran ging, die Eindrücke zu sammeln und zu sichern, die mir von dem Besuch im Großen Hauptquartier geblieben waren, so wurde das Bild je länger desto unerfreulicher. Ich hatte das drückende Gefühl, selbst nicht alles getan zu haben, was hätte getan werden sollen und können, nicht auf der Höhe der Aufgabe gestanden zu haben, gehemmt durch ein körperliches Gefühl, das mich lähmte, den Hunger. Wir waren damals alle mehr oder we­niger ausgehungert, und ich war es vielleicht mehr als andere, weil meinem erst ein Jahr vor Kriegsausbruch zugezogenen Haushalt in Tübingen die »Beziehungen« fehlten, die es andern erlaubten, für ihres Leibes Notdurft ausgiebiger zu sorgen. Mich tröstete die Überzeugung, daß so wie ich die Lage schon in Kreuznach und noch mehr in Berlin gefunden hatte, der Erfolg keinesfalls g­ rößer gewesen wäre, mochte ich auch mit Engelszungen geredet haben. Ob ich versagt hatte oder nicht, war also gleichgültig. Um so weniger konnte ich über den Anblick hinwegkommen, der mir geworden war, wie völlig die führende Hand in den wichtigsten Geschäften fehlte. Neu war die Tatsache mir nicht. »Es sitzt gar kein Kutscher auf dem Bock, und die Zügel schleifen am Boden«, hatte ­Varnbüler schon vor mehr als zwei Jahren gesagt, und in den Zeitungen konnte man ähnliches fast alle Tage zwischen und auch in den Zeilen lesen. Aber es war doch etwas anderes, ob man nur davon gehört oder es selbst gesehen und erlebt hatte. Was mich am meisten quälte, war die Erinnerung, die mir von Hindenburg geblieben war; ich konnte sie nur als tiefe Enttäuschung empfinden. Vergeblich war alle Anstrengung, sie mir nicht einzugestehen, weil mir das un­ ehrerbietig und undankbar vorkam; ich konnte den Eindruck nicht loswerden, er verstärkte sich nur, je weiter der Abstand wurde. Lange habe ich mit mir ­gekämpft, ob ich wagen dürfe niederzuschreiben, was sich mir schließlich aus der Verbindung des eigenen Erinnerns mit später erfahrenen, zum Teil  nur ­wenigen bekannten Tatsachen ergeben hat. Ich sehe voraus, daß man mir vorwerfen wird, denen, die meine Blätter lesen, ein lieb gewordenes Heldenbild zerstört zu haben, dessen sie zu bedürfen glauben, und der Ruhm des Bilderstürmers hat nichts verlockendes. Aber es fragt sich, ob Heldenverehrung nicht eine gefährliche Sache ist, wenn sie sich von der Legende, anstatt von geschichtlicher Wahrheit nährt; und da es nicht mehr von mir abhängen soll, ob und in welcher Weise diese Aufzeichnungen andern bekannt werden, so habe ich mich dafür entschieden, zu sagen, was ich weiß; mögen die, denen es zufällt, bestimmen, was damit zu geschehen hat. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich mich hütete, meine Eindrücke an die große Glocke zu hängen. Meine Bekannten, die natürlich hören wollten, was ich im Großen Hauptquartier erlebt hatte, werden sich gewundert haben, wie einsilbig ich Auskunft gab. Einige Zeit später bei einem Besuch in Liebenberg hatte ich keinen Grund, hinter dem Berge zu halten. Der Fürst empfing mich schon an der Tür mit der Frage: »Sie waren bei Hindenburg – welchen Eindruck haben Sie von ihm?« Ich erwiderte: »Menschlich den denkbar angenehmsten; über den Feldherrn zu urteilen bin ich nicht zuständig. Als Politiker ist er null und im übrigen ein recht bequemer alter Herr, der – ich fürchte – das Bequemste für seine

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Pflicht halten wird.« Erschüttert rief der Fürst aus: »Sie rauben mir meine letzte Hoffnung!« Ich konnte nur antworten: »Erwarten Sie politisch nichts vom Feldmarschall, er würde Sie nur enttäuschen.« Ich denke, die Tatsachen haben mir recht gegeben. Hat je ein Erwählter seine Wähler schwerer enttäuscht als der Reichspräsident von Hindenburg die Deutschnationalen, die ihn erhoben, um den Kräften, die das Reich zerstört hatten, entgegenzuwirken? Bei der Nachricht von der Aufstellung seiner Kandidatur bin ich nicht wenig erschrocken; mir war es nicht fraglich, daß er gewählt werden und was die Folge sein würde: Die Einbürgerung der Republik, die endgültige Verabschiedung der Monarchie. Der Häuptling der Alldeutschen Dr. Claß bewies ausnahmsweise einmal politischen Instinkt, als er versuchte, Hindenburg von der Annahme der Kandidatur abzuhalten, Hindenburg aber bewies die Unzuverlässigkeit, die vorher und nachher so viele an ihm kennengelernt haben, indem er dem Abgesandten von Claß mit vollem Nachdruck versicherte, nie im Leben könne und werde er der schwarzrotgoldenen Fahne schwören, um darauf die Wahl anzunehmen, den Obersten Feldmann, dessen Mühewaltung er sie verdankte und dem er die Stelle des Adjutanten zugesichert hatte, durch seinen eigenen Sohn zu ersetzen.205 Diesen hatten ihm seine bisherigen Gegner empfohlen, um durch seine Vermittlung den alten Herrn gängeln zu können; ein Schachzug, der sich nicht schlecht bewährt hat; denn Hindenburg tat auch in seinem neuen Amt, »was man ihm sagte«, seine lässige Un­ selbständigkeit war dieselbe, wie zu der Zeit, wo man am Karlsruher Hofe von ihm als Divisionskommandanten sagte: »Sehr gut, wenn er eine tüchtige Korsettstange hat.« Seine Verantwortung hat er am schlagendsten bewiesen, als er im Juni 1919 vom Reichspräsidenten Ebert telegrafisch aufgefordert wurde, zu erklären, ob ein bewaffneter Widerstand gegen das Diktat von Versailles noch möglich sei: er entfernte sich und überließ es General Groener, die Antwort zu geben, die auch von Groener unterzeichnet ist.206 Seine völlige Unzuverlässigkeit aber haben nacheinander Ludendorff, der Kaiser, Seeckt und Brüning zu erfahren gehabt: sie alle hat er im Stich gelassen, als die angegriffen wurden.207 »Ich kann doch Ihretwegen nicht die Kabinettsfrage stellen«  – das war alles, was er Seeckt zu sagen wußte, als die demokratische öffentliche Meinung seinen Rücktritt forderte, weil der Sohn des Kronprinzen an einer Manöverübung teilgenommen hatte. Man muß die leidenschaftliche Erregung gesehen haben, mit der Frau von Seeckt davon erzählte. Und welche politische Kurzsichtigkeit, 205 Heinrich Claß (1868–1953), deutscher Publizist, 1908–1939 Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes (NDB 3, S. 263); Otto Feldmann (1873–1845), deutscher Offizier und Politiker (DBA II 359, S. 188–191). 206 Wilhelm Groener (1867–1939), deutscher General, ab 29.  Oktober 1918 als Nachfolger­ Luden­dorffs Erster Generalquartiermeister, 1920–1923 Reichsverkehrsminister, 1928–1932 Reichswehrminister, 1931–1932 Reichsinnenminister (NDB 7, S. 111–114). 207 Hans von Seeckt (1866–1936), deutscher General, 1920–1926 Chef der Heeresleitung der Reichswehr (NDB 24, S.  139 f.); Heinrich Brüning (1885–1970), deutscher Politiker, 1930–1932 Reichskanzler (DBA III 122, S. 370–399).

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zu übersehen, daß der Sturz von Seeckt ein Eingriff des Reichstags oder der ­öffentlichen Meinung in die Rechte des Präsidenten als Oberbefehlshabers der Reichswehr war. Hindenburgs größtes Opfer war Wilhelm II. Auf das Drängen der K ­ aiserin, die für die persönliche Sicherheit des Gemahls bangte, hatte sich der Kaiser unter Hindenburgs Schutz ins Große Hauptquartier geflüchtet, ohne Wissen der Reichsminister, deren einer, Conrad Haußmann, auf die Kunde von der beabsichtigten Flucht ihm nacheilte, aber nur noch den kaiserlichen Extrazug die Halle des Bahnhofs verlassen sah. Den erhofften Schutz hat Hindenburg nicht geboten; ob er die Abreise nach Holland angeraten hat, ist nicht festzustellen gewesen, verhindert hat er sie nicht; aber am Zwang zur Abdankung hat er an seinem Teil mitgewirkt. Die Kenntnis des Hergangs verdanke ich einem General, der als Stabschef einer Armee zu den Offizieren gehört hat, die in der Frühe des 9. November ihr Gutachten darüber abgeben sollten, was vom Heer noch verlangt werden könne. »Den größten Schwindel der Weltgeschichte«, nannte mein Gewährsmann die Szene. »Wir waren« – so beschrieb er sie – »durch die Nacht in ungeheizten Wagen gefahren, wurden sofort versammelt und sollten, in dieser Verfassung, ohne die geringste Erfrischung erhalten zu haben, über Dinge entscheiden, von denen wir nichts wissen konnten. Ob das Heer noch Widerstand leisten könne, ob die Truppe einen geordneten Rückzug auszuführen fähig sei, darüber konnten wohl die Frontoffiziere aussagen, aber nicht Generalstäbler. Von der politischen Lage hatten wir keine Ahnung, wußten nichts vom Abfall Bulgariens, vom Zusammenbruch der Türkei, von der Gefangennahme der österreichischen Armee in Oberitalien. Von der Lage im Innern, dem Aufstand der Flotte in Kiel, der Revolution in München hatten uns nur Gerüchte erreicht. Über alles dies bekamen wir zuerst einen Vortrag von Groener zu hören, in düsterster Tonart gehalten, wozu Heye Ergänzungen lieferte.208 Dann erschien Hindenburg und gab uns in kurzen Zügen ein Bild der Lage in Deutschland, das den Eindruck noch verstärkte: um den Aufstand in Berlin zu unterdrücken, müßte das Heer sich den Weg dorthin in zehntägigem Marsch mit der Waffe in der Hand bahnen, mit dem Feind im Rücken bei unserer Verpflegung. Wie hätten wir nach solcher Belehrung noch zur Fortsetzung des Kampfes raten können? Es war klar, die Verantwortung für die Kapitulation sollte auf uns abgewälzt werden.« Mit dem Ergebnis der Besprechung ist Groener vor den Kaiser getreten und hat vor ihm, wie der Kronprinz berichtet, die Erklärung abgegeben, unter der Führung des Kaisers werde die Truppe einen geordneten Rückzug nicht mehr ausführen. Wilhelm II. ist also von der Armee, richtiger gesagt von der Obersten Heeres­leitung zur Abdankung gezwungen worden. Ob Hindenburg dazu seine ausdrückliche Zustimmung gegeben hat, bleibt unklar, es zu verhindern hat er keinen Versuch gemacht und die Flucht nach Holland geschehen lassen, ohne 208 Wilhelm Heye (1869–1947), deutscher Generaloberst, 1918 Leiter der Operationsabteilung in der Obersten Heeresleitung (NDB 9, S. 79).

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eine Hand zu rühren. Wie die Umgebung des Kaisers und vermutlich er selbst darüber dachte, habe ich Gelegenheit gehabt, aus bester Quelle zu erfahren. Als ich im Gespräch mit der Kaiserin Hermine bemerkte, mir als einem Zivilisten, der nie Uniform getragen, sei es unbegreiflich, daß kaiserliche Generäle, anstatt sich mit gezogenem Degen und der Losung »Nur über unsere Leichen« vor ihren Herrn zu stellen, ihm nach Holland zu reisen nahe legen konnten, sah mich die Kaiserin eine Weile mit ernstem Blick an und erwiderte dann: »Und das merkwürdigste ist: sie glauben noch alle, ihre Pflicht getan zu haben.«209 Hindenburg selbst hat sich mitschuldig gefühlt am Sturz des Kaisers, das geht aus seinem späteren Verhalten hervor. Durch das, was der Zentrums­politiker Stegerwald 1945 bekannt gegeben hat – er hat es natürlich von Brüning selbst – hat man erfahren, daß Brüning zum Rücktritt vom Reichskanzlerposten durch Hindenburg gezwungen worden ist, weil er zur Wiedereinsetzung des Kaisers nicht die Hand bieten wollte.210 Und noch mehr. Hindenburgs ­englischer Biograph Wheeler Bennett (»The wooden Titan« lautet der Titel des Buches) erzählt, und seine Quelle scheint ebenfalls Brüning zu sein, Hindenburg sei von Hitler durch das Versprechen gewonnen worden, den Kaiser wiedereinzusetzen.211 Ich habe allen Grund, dies für wahr zu halten, denn ich weiß, daß Hitler vor seiner »Machtergreifung« mit solchen Vorspiegelungen an den geeigneten Stellen zu wirken verstanden hat. Im Sommer 1932 hat er in Hamburg in vertraulicher Besprechung mit den Führern der Deutschnationalen als sein letztes Ziel die Wiederherstellung des Kaisertums bezeichnet, wie mir bald darauf einer der Beteiligten mitteilte. Er wird sich nicht gescheut haben, auch Hindenburg gegenüber diese falsche Karte auszuspielen; und daß Hindenburg ihm geglaubt hat, wen kann das wundern? War doch aller Wahrscheinlichkeit nach der Wunsch und die Hoffnung, Gelegenheit zur Sühne der Schuld vom 9. November 1918 zu erhalten, der entscheidende Grund für die Annahme der Reichspräsidentschaft gewesen. Der Versuch freilich, diese Absicht auszuführen, der im Sommer 1932 mit der Reichskanzlerschaft Papens gemacht wurde, zeigte 209 Mit »Kaiserin Hermine« ist gemeint: Hermine Prinzessin Reuß (1887–1947), seit 1907 Ehefrau des Prinzen Johann Georg von Schoenaich-Carolath, seit 1922 Ehefrau Kaiser Wilhelms II. (NDB 8, S. 386). 210 Adam Stegerwald (1874–1945), deutscher Gewerkschafter und Politiker, 1929–1930 Reichsverkehrsminister, 1930–1932 Reichsarbeitsminister (NDB 25, S. 114 f.). Haller bezieht sich hier vermutlich auf: Adam Stegerwald: Wohin gehen wir?, Würzburg 1946, S. 35: »Es war daher eine unpolitische Vorstellung, daran zu glauben, wie es von politischen Rechtskreisen geschehen ist, daß, nachdem Wilhelm II. nach dem ersten Weltkrieg nicht nach Deutschland zurückgekehrt war, die Hohenzollernmonarchie wieder Mittelpunkt des deutschen Wiederaufbaues werden könne. Insbesondere war es nicht möglich, mit den Figuren und Kreisen, die vor 1914 die intimsten Berater der Hohenzollern gewesen sind, wieder da anzufangen, wo 1914 aufgehört wurde. Aber gerade diese Kreise waren es, die wenige Monate vor der Machtergreifung Hitlers ihren Anhang im Lande besonders stark gegen Dr. Brüning als letzten Rettungsanker mobilisiert haben.« 211 John Wheeler Bennett: Der hölzerne Titan: Paul von Hindenburg, Tübingen 1969 [Original: London 1936], S. 440.

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wieder die gewöhnliche lässige Untätigkeit in diesem Fall doppelt verhängnisvoll, weil Papen, der die »Korsettstange« hätte sein sollen, nicht die erforder­ lichen Eigenschaften besaß. Es ist mir von gut unterrichteter Seite versichert worden, der sehr aussichtsreiche Restaurationsversuch des Innenministers von Gayl sei stecken geblieben, weil Papen die Geschäfte liegen ließ.212 Die aus­ giebigen, zum Teil sensationellen Mitteilungen, die Brüning 1947 im Märzheft der »Deutschen Rundschau« gemacht hat, lassen die Rolle Hindenburgs in jenen Tagen viel bedeutender erscheinen, als man geahnt hatte; bedeutender aber nicht rühmlicher.213 Von wirklicher Einsicht in die höchst verwirrenden Zu­ sammenhänge, sind wir noch sehr weit entfernt. Brünings Enthüllungen haben die R ­ ätsel vermehrt, statt sie zu lösen. Es wäre wohl vieles anders gekommen, hätte am 9. November 1918 an Hindenburgs Seite noch Ludendorff gestanden. Daß auch er der Held nicht war, für den wir ihn hielten, daß mindestens für die politische Führung seine Fähigkeiten und seine Bildung nicht ausreichten, hat er in den folgenden Jahren so schlagend bewiesen, daß darüber kein Wort zu verlieren ist. Aber die demütigende Art, wie das deutsche Kaisertum seinen Abgang von der Bühne der Weltgeschichte vollzog, wäre uns erspart geblieben, hätte Hindenburg einen andern Berater neben sich gehabt als den General Groener, von dem mir ein anderer württembergischer General der Infanterie, von früh auf sein Dienstkamerad, gesagt hat: »Groener hat sein ganzes Leben gelogen und betrogen.« Wie man auf ihn als Nachfolger Ludendorffs verfallen ist, verdiente aufgeklärt zu werden. Als Bearbeiter des Militäreisenbahnwesens verdankte er, wie die Ein­ geweihten wußten, den Ruhm, den ihm die Zeitungen freigebig spendeten, seinem Vorgänger, von dem er alles unverändert übernommen hatte. Seine Tätigkeit an der Spitze der Kriegsindustrie war ein einziges Versagen gewesen, hatte ihm aber Gelegenheit geboten, persönliche Beziehungen in politischen Kreisen anzuknüpfen; und in der Ukraine, wo er im Herbst 1918 als Befehlshaber stand, haben die ihm unterstellten Korpsführer, wie mir einer von ihnen berichtet hat, über seine Anordnungen gelacht. Warum man nicht den General von Lossow statt seiner herbeigerufen hat, den so glänzend bewährten »Abwehrbullen«, ist unverständlich. Es müssen wohl politische Einflüsse gewesen sein, die Groener in den Sattel hoben, und die Dienste, die man von ihm erwartete, waren vermutlich auch weniger militärischer als politischer Natur. Wilhelm II. hat über das, was er von Hindenburg dachte, mit großer Vornehmheit geschwiegen; das letzte Opfer der Unzuverlässigkeit des Feld­marschalls, General von Schleicher, hat wenigstens im Privatleben kein Blatt vor den Mund genommen.214 Im Juni 1934, wenige Wochen vor seiner Ermordung, hat er mit 212 Wilhelm Freiherr von Gayl (1879–1945), deutscher Politiker, 1932 Reichsinnenminister (DBA III, 283, S. 87–97). 213 Heinrich Brüning: Ein Brief, in: Deutsche Rundschau 70 (1947), H 7, S. 3–22. 214 Kurt von Schleicher (1882–1934), deutscher General, 1932–1933 Reichskanzler (NDB 23, S. 50–52).

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meinem verstorbenen Freunde Professor Hermann Wätjen in Münster ein Gespräch geführt, das dieser, ein Mann von lauterster Gesinnung und unbedingter Wahrheitsliebe, mir später berichtet hat.215 Gefragt, warum er das Kanzleramt übernommen habe, hat der General erwidert: »Nur auf ausdrücklichen Befehl des Feldmarschalls.« Wätjen: »Und warum haben Sie nicht gehandelt?« Schleicher: »Ich wollte handeln und hatte meinen Plan, aber ich mußte Vorbereitungen treffen, und dazu brauchte ich Zeit. Anfang Februar wollte ich zuschlagen, aber da fiel mir mein Freund Papen in den Rücken und im Hause Hindenburg ist ja die Treue ein unbekannter Begriff.« Hindenburgs Ruhm, so locker seine Wurzeln sein mochten, war in der Meinung weitester Kreise fest gewurzelt, so fest, daß er sogar die Niederlage überlebte. Nach seiner eigenen Auffassung hatte er ihn vollauf verdient, mochte sein persönlicher Anteil an den Begebenheiten auch gering sein; er hatte ja die Verantwortung übernommen! Folgerichtiger Weise hätte ihn dann freilich auch der Vorwurf treffen müssen, wo die Erfolge ausblieben. Das war nicht der Fall. Als sich herausstellte, daß der große Durchbruch durch die französisch-englische Front im Frühjahr 1918 mißlungen war; als der erneute Angriff im Mai nicht zum Ziel führte und als nach einem letzten, völlig fehlgeschlagenen Versuch im Juli das Blatt sich wandte, die deutschen Truppen Schlappe auf Schlappe ­erlitten und die Front weichen mußte: da war vor der Öffentlichkeit nicht Hindenburg der Schuldige, sondern Ludendorff. Ich erkläre mir das so, daß Hindenburg in der Vorstellung des Volkes der Repräsentant des deutschen Heeres war, und diesem wollte und durfte man die Schuld an der Niederlage nicht geben, denn es hatte nicht nur seine Pflicht getan, es hatte geleistet, was noch nie geleistet worden war, und hatte für das, was von einer Truppe gefordert werden kann, neue Maßstäbe aufgestellt. Träger und Verkörperung dieses einzigartigen Heeresruhms war Hindenburg und blieb es auch als Geschlagener. Dazu wirkte die Vorstellung mit, die von eifrigen militärischen Federn verbreitet wurde, das Heer sei keineswegs geschlagen aus dem Kriege hervorgegangen. »Zu Lande unbesiegt«, »Zu Wasser unbesiegt«, »In der Luft unbesiegt« waren die Überschriften, und wenn nicht die Überschriften, so die Losungen, unter denen die Rückblicke auf den Krieg dem Volk geboten wurden. Im Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit war der Krieg anfangs geführt worden, an den Namen Hindenburgs hatte sich das Vertrauen, wenn nicht auf den Sieg, so wenigstens auf eine rühmliche Beendigung des Krieges und auf die Unversehrtheit des Heimatbodens geklammert noch zu einer Zeit, als für den kritischen Blick von deutschem Waffensieg keine Rede mehr sein konnte und der Gedanke an eine völlige Niederlage sich Bahn zu brechen begann. Wann für mich dieser Moment eingetreten ist, vermag ich nicht mehr zu sagen. Den blinden Glauben an einen deutschen Triumph auf allen Fronten habe ich nie geteilt und mich nicht wenig geärgert, wenn er mir etwa in der Form entgegentrat, 215 Hermann Wätjen (1876–1944), deutscher Historiker, Professuren in Heidelberg (1914), Karlsruhe (1919) und Münster (1922) (DBA III, 966, S. 236–239).

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wie ich es September 1915 in Berlin nach den großen Erfolgen in Polen erlebte, als ich einen älteren Herrn, anscheinend höheren Richter oder Beamten, einem jungen ausländischen Verwandten auf die Frage »Ihr lebt hier wohl in einem Siegesrausch?« trocken erwidern hörte: »Ach nee, halten wir für selbstverständlich.« Wenn ich mich jener Jahre erinnere, wo der Heeresbericht unsere tägliche Nahrung war, so erwacht das quälende Gefühl des Hangens und Bangens, das sich immer erneute, so oft auf eine fast unglaubhafte Heldenleistung des Heeres die Enttäuschung folgte, daß die im Stillen erhoffte Entscheidung wieder nicht kam. Ziemlich früh schon – wenn ich mich recht entsinne, muß es im Sommer 1916 gewesen sein, als die Eroberung von Verdun für gescheitert gelten konnte, der österreichische Angriff in Südtirol stecken blieb und in Podolien der Rückschlag erfolgte – hat sich bei mir die heimliche Skepsis zu der Einsicht verdichtet, freilich immer wieder unterbrochen durch das Aufflackern der Hoffnung nach neuen Siegesmeldungen, daß auf eine Waffenentscheidung zu unsern Gunsten nicht mehr zu rechnen sei. Im Herbst 1916 war es jedenfalls, daß ich gewissen literarischen Plänen, die ein siegreiches Kriegsende zur Voraussetzung hatten, endgültig den Abschied gab. Seitdem muß in meiner Korrespondenz der pessimistische Ton vorgeherrscht haben. Mein alter Freund und Gönner, der Stuttgarter Gymnasialdirektor und verdiente Historiker Gottlob Egelhaaf, hat mir nach Jahren gestanden, er sei bei Durchsicht meiner Briefe verwundert gewesen, wie früh ich doch schon mit dem Ende, wie es nachher kam, gerechnet und wie richtig ich es denn auch im einzelnen vorausgesehen habe.216 Es kann wohl nicht allzu schwer gewesen sein; man mußte nur die Augen aufmachen, die patriotische Brille abnehmen und glauben, was man sah. Aber dazu gehörte ein Mut, den nicht jeder aufbrachte und der mir wieder und wieder versagte, wenn Ereignisse eintraten, die den Ausblick auf eine entscheidende Wendung zum Guten zu öffnen schien. Die große Gelegenheit, die dazu berechtigte, schien mir gegeben, als im März 1917 in Rußland die Revolution ausbrach. Ich habe zu denen gehört, die seit Beginn des Krieges mit Bestimmtheit auf dieses Ereignis warteten, wenn wir nur den Kampf entschlossen und lange genug fortführten. Am ersten hatte es gefehlt, gegen Rußland hatten wir immer kaum mit halber Kraft und wider­w illig gekämpft, weil Falkenhayn, wie früher berührt, in das Vorurteil verrannt war, diesen Gegner für unbesiegbar zu halten. Es hatte auch nicht an uns gelegen, wenn der Krieg im Osten fortgesetzt wurde; von Anfang an war für viele und einflussreiche Leute der Sonderfriede mit Rußland das heißersehnte und auf mancherlei Wegen erstrebte Ziel. Auch der Kaiser selbst war längere Zeit von diesem Wunsch geleitet gewesen, wie mir Zimmermann im September 1915 verriet. Ob er ihn damals für immer aufgegeben hatte, weiß ich nicht. In sei216 Gottlob Egelhaaf (1848–1934), deutscher Historiker (DBA III, 201, S. 89). Die erhaltenen Briefe Hallers aus den Jahren des Ersten Weltkriegs – die hier erwähnten Briefe an Gottlob Egelhaaf befinden sich nicht darunter – bestätigen diesen Eindruck höchstens zum Teil. Vgl. dazu oben Kapitel VI.1.

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ner Umgebung vertrat Theodor Schiemann die entgegengesetzte Ansicht, beging aber den Fehler, den Zusammenbruch des Zarenthrons für einen bestimmten Zeitpunkt – ich glaube, spätestens zwei Jahre – vorauszusagen, und verlor das Ohr der Majestät, als der Termin verstrich, ohne daß das Ereignis eingetreten wäre. Nun war es da, der Gegner im Osten war nicht mehr gefährlich und mußte früher oder später ausscheiden. Es sah aus, als wiederholte sich, was Friedrich dem Großen geschehen war: er hatte sich zu Anfang 1762 schon für verloren gehalten, als ihm der Tod der Zarin Elisabeth und die Thronbesteigung seines Verehrers Peters III. die Rettung brachte. Ebenso schien auch uns das Schicksal eine Möglichkeit zu bieten, die man nur zu ergreifen hatte, um den Krieg mit Ehren, vielleicht sogar mit Gewinn zu beenden. Man kann sich kaum vorstellen, wie ich gelitten habe, als ich das Gegenteil geschehen sah. Anstatt die Verwirrung, die nach dem Sturz des Zaren in der Kriegführung wie in der Verwaltung Rußlands ausbrach, ausbrechen mußte, mit einigen raschen und wuchtigen Schlägen auf die russische Front zu beantworten, die alsbald zu ihrer Auflösung geführt und den Frieden erzwungen hätten, glaubte man an oberster Stelle, billiger zum Sonder­frieden zu kommen, indem man eine stillschweigende Waffenruhe eintreten ließ und derweilen die deutschen Truppen mit dem Feinde fraternisieren ließ, in der Meinung, die neuen Machthaber dadurch für den Frieden  – natürlich einen, der sie nichts kostete – zu stimmen, und in der Befürchtung – man dachte an das französische Beispiel 1792  –, ein Angriff würde den russischen Patriotismus zum Aufflammen bringen und die Kriegslage noch erschweren. Als ob es diesen Patriotismus in Rußland gegeben hätte! Wäre er da gewesen, so hätte er sich längst in gesteigerten Anstrengungen äußern müssen, anstatt zu Revolution und Umsturz der Monarchie zu treiben. Daß diese gründliche Verkennung russischer Mentalität und Zustände sich nicht noch schwerer rächte, war nicht unser Verdienst, sondern das des Gegners. Da sie sich von Deutschland nicht angegriffen sahen, bildeten die neuen Machthaber in Petersburg sich ein, sie seien gefürchtet, und entschlossen sich leicht  – englisch-französischer Druck wirkte mit dazu – den Kampf fortzusetzen. Die deutsche Politik machte gleichzeitig einen taktischen Fehler, der für die ganze Folgezeit verhängnisvoll werden sollte, indem sie dem in der Schweiz weilenden Haupt der radikalen Sozialdemokraten, Lenin, die Rückkehr nach Rußland erleichterte. Damit erhielt die Erhebung des russischen Proletariats erst den richtigen Führer und das Land den künftigen Herrscher, den Begründer der bolschewistischen, d. h. kommunistischen Republik. Einen zweiten Führer von gleichen Fähigkeiten und gleichem Ansehen gab es damals dort noch nicht, es ist daher mehr als zweifelhaft, ob es ohne Lenins Anwesenheit dem radikalen Flügel gelungen wäre, sich der Herrschaft zu bemächtigen. Was das für die weitere Zukunft bedeutet hat, ließ sich damals nicht voraus­ sehen, die Größe des Fehlers wäre also entschuldbar. Nicht entschuldbar ist dagegen: daß man in Berlin durch den Ausbruch der Revolution überrascht wurde. Denn aus den russischen Zeitungen war ihr Herannahen von Monat zu

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Monat seit mindestens einem Vierteljahr deutlich zu erkennen. Wenn es mir in Tübingen, angewiesen auf die spärlichen Nachrichten der deutschen Presse, möglich war, schon vor Weihnachten den Ausbruch vorauszusagen – ich tat es in einem Aufsatz, der erst im April in der Zeitschrift »Panther« erschien – so mußte das Auswärtige Amt in Berlin, wenn es einigermaßen auf der Höhe seiner Aufgabe stand, über die kommenden Ereignisse klar genug sehen, um sich auf sie vorzubereiten.217 Das Gegenteil war der Fall: Die Warnungen, die von den amtlichen Berichterstattern über die russische Presse, Paul Rohrbach und Axel Schmidt, alle Halbmonate mit wachsender Dringlichkeit einliefen, wurden zuerst in den Wind geschlagen, dann unwillig zurückgewiesen, und schließlich wurde den Herren ihr Auftrag entzogen.218 Sie waren ja Balten und darum verdächtig, im Amt wußte man es besser! Da sah man im Minister des Innern Protopopow den starken Mann, der die revolutionäre Bewegung ersticken würde.219 So fest vertraute man auf ihn, daß man sich auf geheime Verhand­lungen mit ihm einließ, ohne zu wissen, was in Petersburg die Spatzen von den Dächern pfiffen, daß Protopopow sich bereits im Anfangsstadium der progressiven Para­lyse befand, an der er auch bald gestorben ist. Zugleich machte man, immer ahnungslos in bezug auf alles, was russisches Lenken und Fühlen betraf, den großen Taktfehler, als Unterhändler zur Begegnung mit Protopopow den B ­ ankier Warburg nach Stockholm zu schicken, was der konservativ und antisemitisch denkende Stockrusse als Geringschätzung auffaßte.220 »Ja ­podovdal poslà germanskavo gosudarstwa, i jawljajetsja jˇıd (ich erwartete einen Boten des Deutschen Reiches, und es erscheint ein Jude)«, hat er nach seiner Rückkehr ­gesagt. Das war im Januar; wenige Wochen später, und der angebliche Retter des Za­renthrons erschien, in verwahrlostem Zustand und schon halb verblödet, vor den neuen Regenten, ließ sich verhaften und verschwand in der Peter-Pauls-­ Festung. Das Kartenhaus der deutsch-russischen Friedensverhandlungen war umgefallen, nur einen Haufen Papier hinterlassend zur Irreführung der Forscher, die sich einbilden, in den Akten sei alle Wahrheit zu finden. Wieder einmal war die deutsche Diplomatie in den alten Fehler verfallen, Rußland nach dem Hof und der höchsten Beamtenschaft zu beurteilen, und das wahre Rußland, das Volk, die Masse und ihre Führer zu übersehen. Eine ­Illustration dieses Grundirrtums hatte ich 1916 in Warschau erlebt in der Unterhaltung mit dem diplomatischen Beirat des Statthalters, Herrn von Mutius, der nach dem Kriege Gesandter in Oslo und Bukarest geworden ist.221 Er hatte während des russisch-japanischen Krieges zur Botschaft in Petersburg gehört und 217 Johannes Haller: England und Rußland, in: Der Panther, April 1917, S. 291–306. 218 Axel Schmidt (1870–1940), deutscher Journalist (NDB 23, S. 176). 219 Alexander Protopopow (1866–1918), russischer Gutsbesitzer, 1916–1918 Innenminister (RBA & BASU, SU 265, S. 362–367). 220 Max Warburg (1867–1946), deutscher Bankier (DBA III, 965, S. 115–125). 221 Gerhard von Mutius (1872–1834), deutscher Diplomat, 1915–1917 Leiter der politischen Abteilung des Generalgouvernements in Warschau, 1918–1920 deutscher Gesandter in Norwegen, 1926–1931 in Bukarest (DBA III, 653, S. 10).

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schwelgte in den Erinnerungen an jene Zeit, wo die deutschen Diplomaten zum Ärger der Engländer am Hof die erste Rolle spielten, sogar zum Weihnachtsfest der Zarenfamilie eingeladen wurden. Was ist dabei herausgekommen? Unmittelbar nachher wurden die ersten Fäden der englisch-russichen Verständigung angeknüpft. Ein anderes Beispiel hat mir der Hauptmann Ullrich aus seinen Erlebnissen als Vertreter der Kölnischen Zeitung in Petersburg erzählt.222 Er hatte nicht lange vor dem Kriege einen Urlaub benutzt, um die Provinzen zu bereisen und die Provinzpresse auf ihre Haltung gegenüber Deutschland zu studieren. Das gesammelte Material ergab ein völlig einheitliches Bild des Deutschen­hasses, wurde aber von der Botschaft als unerheblich abgelehnt. Daß die russische Politik längst nicht mehr am Hof gemacht wurde, wie zur Zeit Nikolaus I., und Alexanders II., daß Nikolaus II. von allen fast den gerings­ ten Einfluß auf sie hatte, war weder in Berlin noch in der deutschen Vertretung in Petersburg begriffen worden. Hätte man zu Anfang des Jahres 1917 bei uns ­gewußt, wie es in Rußland wirklich aussah und was dort im Werden war, man hätte den Krieg schon damals anders führen müssen. Für eine Regierung, die wußte, wie die Dinge standen, konnte es damals keinen Zweifel geben, was sie zu tun hatte: den Umsturz in Rußland mit allen Mitteln benutzen, so bald wie möglich dem Zweifrontenkrieg militärisch ein Ende zu machen, gleichzeitig aber mit den westlichen Gegnern ernsthafte Verhandlungen aufzunehmen, um auch mit ihnen zum Frieden zu kommen, ­bevor in Nordamerika der Entschluß zum Eingreifen gereift war; wenn nötig unter Opfern im Westen, die durch den Gewinn im Osten auszugleichen waren. Anstatt dessen beging man den ungeheuren Fehler, den Feinden in dem Augenblick, wo sie durch den Ausfall Rußlands geschwächt wurden, den willkommensten Ersatz zuzuführen, indem man die Vereinigten Staaten zum Eintritt in den Krieg herausforderte. Auf welche Weise das geschah, ist bei uns garnicht so bekannt wie es verdient. Ob nämlich die Erklärung des uneingeschränkten Ubootkriegs allein die amerikanische Kriegserklärung zur Folge gehabt hätte, ist keineswegs ausgemacht: Zwei Monate hat es gebraucht, die Widerstände gegen Wilsons Absichten zu überwinden. Der Ubootkrieg begann am 2. Februar, die amerikanische Kriegserklärung erfolgte erst im April; was dazwischen geschehen war, hat erst die Entscheidung gebracht: es war der Versuch Deutschlands, Mexiko zum Krieg gegen die Vereinigten Staaten zu verführen.223 Die Geschichte dieses Narrenstücks habe ich aus dem Munde des Gesandten Heinrich von Eckardt erfahren, der seit dem August 1914 das Deutsche Reich in Mexiko vertrat. Sein Vorgänger von Kemnitz war auf den Gedanken verfallen, 222 Richard Ullrich (1870–1960), deutscher Offizier und Journalist, 1910–1914 Korrespondent der Kölnischen Zeitung in Petersburg. Vgl. das Online-Findbuch: Bundesarchiv: Nachlass Richard Ullrich N 1605 1910–1965, o. Dat., bearb. von Manuela Lange, Koblenz 2010, URL: http://startext.net-build.de:8080/barch/MidosaSEARCH/N1605-66677/ index.htm. 223 Vgl. Wolfdieter Bihl: Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Chronik – Daten – Fakten, Wien u. a. 2010, S. 191.

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gegenüber der drohenden Gegnerschaft Nordamerikas dem Deutschen Reich zum Siege zu verhelfen, indem man Mexiko zum Bundesgenossen gewann und ihm als Lohn einen Teil  der Südstaaten der Union in Aussicht stellte.224 Für diesen genialen Plan war Herr von Kemnitz nicht müde geworden, im Auswärtigen Amt zu werben, und es war ihm schließlich gelungen, Zimmermann – der soeben an Jagows Stelle Staatssekretär geworden war – dahin zu bringen, daß er eine entsprechende Weisung an den Gesandten in Mexiko unterzeichnete. Wie er das angefangen hat, weiß ich nicht, vermute aber, daß er es verstanden hat, den Kaiser durch dessen militärische Umgebung zu gewinnen. Daß das Auswärtige Amt, Reichskanzler und Staatssekretär, den Unsinn durchgehen ließen, belastet sie darum nicht weniger. Über Mexiko hatte Herr von Eckardt seit dem Antritt seines Postens nicht unterlassen zu berichten, das Land sei ein Kadaver, durch innere Kämpfe völlig erschöpft und zu keiner Anstrengung fähig. Zu seiner größten Überraschung erhielt er trotzdem Anfang 1917 auf dem Umweg über Argentinien den geheimen Auftrag, der mexikanischen Regierung das deutsche Bündnis gegen die Vereinigten Staaten und als Lohn einige von deren südlichen Territorien anzubieten. Er sah voraus, was geschehen würde, wenn davon etwas verlautete: das hohe Ansehen, das Deutschland bis dahin in Mexiko genoß, wäre verloren gegangen, wenn bekannt wurde, daß das Land in einen hoffnungslosen Krieg verwickelt werden sollte. So entschloß er sich ohne Zaudern, den Auftrag unausgeführt zu lassen. Da meldete eines Tages der Telegraph aus Washington, es stehe alles in den amerikanischen Zeitungen. In Berlin hatte man für nötig gehalten, den Auftrag über Washington zu wiederholen; dort war die Depesche abgefangen, entziffert und der Öffentlichkeit übergeben worden. In Mexiko erregte die Nachricht größte Aufregung, die deutschfreundliche Stimmung drohte ins Gegenteil umzuschlagen, es konnte zu einer Deutschenverfolgung kommen. Eckardt beeilte sich also, durch die Presse erklären zu lassen, er habe keinen solchen Auftrag erhalten. Darob ungeheurer Jubel, Ovationen für Deutschland auf den Straßen, für den Gesandten im Parlament, heiße Dankesbezeugungen des schleunigst von einer Wahlreise zurückkehrenden Ministerpräsidenten – »Sie haben mir das Leben gerettet!« Die Gefahr war beschworen, sie kehrte auch nicht wieder, als nach und nach die Wahrheit sich nicht mehr verleugnen ließ. Die Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an das Deutsche Reich aber war nun nicht mehr aufzuhalten. Der Zwischenfall ist wie nichts anderes geeignet, ein Bild davon zu geben, wie damals die auswärtigen Geschäfte bei uns geführt wurden. Wie oft und wie lebhaft wurde während des Krieges über die Unzulänglichkeit und das Ungeschick unserer Diplomatie geklagt! Und doch möchte ich bezweifeln, ob man in weiteren Kreisen eine solche Entgleisung für möglich gehalten hätte, wie sie hier sich ereignete. Wenn so etwas geschehen konnte, wo es sich buchstäblich 224 Hans Arthur von Kemnitz (1870–1955), deutscher Diplomat, 1916–1917 Leiter des Referats Ostasien, Süd- und Mittelamerika im Auswärtigen Amt (DBA II, 694, S. 455–457).

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um ein Geschäft handelte, von dem Sein oder Nichtsein des Reiches abhing, so wundert man sich nicht, daß bei den Verhandlungen nichts herausgekommen ist, die im Sommer des Jahres, nach dem Sturz Bethmann Hollwegs und der Übernahme der Geschäfts durch Michaelis und Kühlmann, unter Vermitt­ lung des Papstes eröffnet wurden.225 Von Michaelis habe ich einen Eindruck erhalten, als er, einige Zeit nach dem Kriege, in Tübingen einen Vortrag hielt. Wie er mir vorkam, kleide ich am besten in die Worte, mit denen der zufällig an­wesende frühere österreichische Handelsminister Freiherr von Wieser sich, sarkastisch lächelnd zu mir äußerte: »Mir ist manches klar geworden!«226 Die Erinnerungen, die Michaelis später veröffentlicht hat, bestätigen das Urteil, daß wohl kaum jemals ein weniger Berufener in schicksalsschwerer Zeit an die Spitze eines Staates gestellt worden ist.227 Ich weiß zudem, daß in der Umgebung des Kaisers die Nachricht von der Ernennung dieses Kanzlers zunächst garnicht geglaubt wurde, ja daß man dort zu wissen meinte, seine Kandidatur sei von einem der kaiserlichen Generaladjutanten – genannt wurde der Generaloberst von Kessel  – nur im Scherz aufgestellt und aus Mißverständnis für Ernst genommen worden. Wie er sie selbst aufgefaßt hat, erzählt er in seinen Erinnerungen. Unsicher, ob er annehmen soll, schlägt er das Herrn­huter Losungsbuch auf und stößt auf den Spruch: »Fürchte dich nicht« u.s.w. Wie sehr er sein Orakel mit dieser Erzählung bloßstellt, merkt er nicht einmal. War es nötig, daß das deutsche Kaisertum sich vor seinem Abtreten von der Szene noch lächerlich macht? Das Schicksal bewies eine seltene Geduld mit dem Deutschen Reich, da es ihm noch einmal mit größter Deutlichkeit den Ausweg aus der Not zeigte, den es zunächst nicht hatte bemerken wollen. Es ist eine Tatsache  – ich habe sie mehr als einmal bekannt gemacht, und nie einen Widerspruch erfahren – daß im Frühjahr 1918 nach dem Abschluß des Friedens von Brest-Litowsk die feindlichen Mächte einen Friedensfühler ausgestreckt, aber keine Erwiderung erhalten haben. Sie waren zu einem Frieden bereit, wie ich ihn oben skizziert habe; freie Hand für Deutschland im Osten gegen Zugeständnisse im Westen. Ob man sich geeinigt haben würde, ist natürlich eine offene Frage, immerhin bot sich eine Möglichkeit zu verhandeln. Es war also, wenn man nicht der eigenen militärischen Überlegenheit vollkommen sicher war  – und das war man gewiß nicht – ein Fehler, die Möglichkeit nicht zu benutzen. Warum er begangen wurde, ist leicht zu erraten, man glaubte am Vorabend der siegreichen militärischen Entscheidung zu stehen. Die Vorbereitungen zur großen Angriffsschlacht waren dem Abschluß nahe. Brachte sie den beabsichtigten Durchbruch durch 225 Am 14. Juli 1917 wurde Georg Michaelis zum Reichskanzler, am 7. August 1917 Richard von Kühlmann zum Außenminister ernannt (NDB 13, S. 190; NDB 17, S. 433). 226 Friedrich Freiherr von Wieser (1851–1926), österreichischer Nationalökonom, 1917–1918 Handelsminister (NDB 2, S. 385). 227 Georg Michaelis: Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschichte, Berlin 1922. Für das Folgende vgl. dort S. 321.

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die englisch-französische Front bis an die Kanalküste, so war für Verhandlungen auf günstigster Grundlage der Augenblick gekommen, und ein Friedensschluß ohne Opfer, vielleicht mit Gewinn stand in Aussicht. Es kam anders: die erwartete siegreiche Entscheidung blieb aus, und das Ende war ein verlustreicher und demütigender Friede. Heute, wo wir die ganze Tragweite der Vorgänge übersehen, wird es wohl keinen Menschen von gesundem Verstande geben, der die damals getroffene Wahl nicht beklagte. Daß der Soldat den Kampf vorzog, ist natürlich, der Staatsmann mußte anders denken, mußte sich sagen, daß der Ausfall jeder Schlacht ein Glücksspiel ist, das nicht gewagt werden darf, wenn es sich um die letzte Karte handelt und der Einsatz das Leben ist. Der Staatsmann hätte verhandelt und die Waffen erst angerufen, wenn auf gütlichem Wege kein erträglicher Friede zu erreichen war. Aber wo war damals der Staatsmann, der die Sache Deutschlands mit Weisheit und Geschick zu vertreten gewußt hätte? Einige Jahre nach dem Kriege besprach ich die damalige Lage mit meinem verehrten Gönner, dem Gesandten Grafen Pückler.228 Er stimmte mir zu, daß das richtige gewesen wäre, auf den geg­nerischen Fühler einzugehen und sich mit einem Frieden zu begnügen, wie er mir vorschwebte: Opfer im Westen gegen Entschädigung im Osten. »Aber, setzte er hinzu, wem hätten Sie diese Verhandlung überlassen?« »Das könnte ich eher Sie fragen«, war meine Antwort, »der Sie die Personen kennen.« »Ich weiß keinen«, erwiderte der Graf. Es gab auch keinen. Staatssekretär von Kühlmann, dessen Sache es gewesen wäre, hat bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk bewiesen, daß er der rechte Mann nicht war. Einer seiner Studiengenossen hat ihn mir bezeichnet als außerordentlich begabt, vielleicht den begabtesten Menschen seiner Bekanntschaft, aber als Charakter wenig lobenswert und bar jeglichen Patriotismus. Sein Emporsteigen verdankte er einem Zufall. Er hatte das Glück, im Jahr 1905 als junger Beamter des Konsulats in Marokko den ­Kaiser auf der »Hohenzollern« begrüßen zu dürfen. Wie er da in der Uniform der bayrischen Cheveauxlegers, mit wehendem Helmbusch bei hohem Seegang im kleinen Dampfer aufrecht stehend, Lohengrin gleich, angeschaukelt kam, gefiel er dem Kaiser, dem solche theatralischen Leistungen immer Eindruck machten.229 »Schneidiger Kerl, im Auge zu behalten«, hieß es; damit war seine rasche Karriere begründet. Seine Leistungen haben den Erwartungen nicht entsprochen. Weder vor dem Kriege als Botschaftsrat in London, noch später in Konstan­tinopel hat er sich besondere Verdienste erworben, sein Auftreten als Staatssekretär im Reichstag war ausgesprochen unglücklich, in Budapest widmete er sich nächtlichen Vergnügungen und vernachlässigte die Geschäfte, und in Brest-Litowsk gab er die Zügel der Verhandlung ganz aus der Hand, deren der Österreicher sich zu bemächtigen nicht säumte. Die deutschen Interessen blieben dem Ministerialdirektor von Kriege überlassen, der auch bei

228 Carl Graf von Pückler (1857–1943), deutscher Diplomat (NDB 9, S. 283). 229 Cheveauleger ist eine Gattung der Kavallerie.

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dieser Gelegenheit seine Unfähigkeit bewies, indem er die Abtretung von Narwa glaubte erkaufen zu müssen durch Verzicht auf das Gebiet von Rossitten, das sogenannte Polnisch-Livland. Damit gab er eine große Zahl von deutschen Gutsbesitzern und dazu die günstigste Verteidigungslinie den Russen preis, ohne zu wissen, daß das Tauschobjekt Narwa, auf das er so stolz war, von der Moskauer Regierung zu Estland geschlagen, also mit diesem zusammen schon abgetreten war – wirklich ein Mann, der alles verdarb, was er in die Hand bekam. Überschaut man von diesem Punkte aus den Verlauf des Krieges, so bietet sich ein merkwürdiges Bild. Deutschland sucht die militärische Entscheidung im Westen und vernachlässigt darüber den Osten; aber alle seine Anstrengungen, der Angriff auf Verdun, wie der Vorstoß nach Ägypten, der Ubootkrieg und der versuchte Durchbruch zum Kanal, sind vergeblich, sie mißlingen ebenso wie schon die ersten Feldzüge an der Marne und Yser gescheitert waren, während ihm im Osten die Erfolge ungesucht in den Schoß fallen. Muß daraus nicht geschlossen werden, daß man gut getan hätte, sich mit diesem Ergebnis zu begnügen, aus der militärischen Lage, wie sie sich ergeben hatte, die politische Konsequenz zu ziehen, im Westen zu verzichten und den Ausgleich im O ­ sten zu finden? Ja noch mehr: daß es richtig gewesen wäre, dem Kriege, den man ja ohne klares Ziel begonnen hatte, von Anfang an keine andere Bestimmung zu geben als diese, die offenbar der Natur der Dinge entsprach? Daß mir vom e­ rsten Tage an nichts anderes erstrebenswert erschienen war, habe ich früher bemerkt. Fragte man, welchen Gewinn etwa der Krieg bringen sollte – einen Ausgang ohne jeden Gewinn, wie ihn viele für genügend hielten, lehnte ich ab als gleichbedeutend mit Verlust – so lautete die Antwort, die ich schon in den ersten Wochen in einem öffentlichen Vortrag in Stuttgart ausgesprochen habe: Aufhören der ständigen Bedrohung auf zwei Fronten!230 In der fortwährenden Gefahr eines Zweifrontenkrieges kann auf die Länge kein Staat gedeihen, sie nötigt ihn zu unnatürlichen militärischen Anstrengungen und zu beständiger Ausschau nach Bündnissen, raubt ihm also die Unabhängigkeit, die doch das natürlichste aller Bedürfnisse für ein großes Volk, ja das eigentliche Kenn­zeichen der Großmacht ist. Ein Menschenalter lang hatte das Deutsche Reich diese Lage hinnehmen müssen und in wachsendem Maße ihre Nachteile zu erfahren gehabt. Daß es sich ihrer nicht so bewußt gewesen war und sich gegen sie nicht so zu schützen verstanden hatte, wie es nötig gewesen wäre, das war sein Unglück und seine Schuld. Jetzt war die Gelegenheit da, sich der Gefahr zu entledigen, sich die Freiheit zu erkämpfen, die Deutschland brauchte, wenn es seine Aufgabe fur Europa und die Welt erfüllen wollte, wie der Reichsgründer sie ihm in seinem Vermächtnis vorgezeichnet hatte: Hüter des Friedens, Mittler und Schiedsrichter zu sein in den Streitig­keiten der andern, an denen es selbst unbeteiligt war. So dachte ich es mir, wenn auch ich während des Krieges in einem Aufsatz an das oft gehörte Wort

230 Mehrteilig abgedruckt als: Kriegsvortrag von Professor Haller, in: Tübinger Chronik Nr. 203, 206, 208, 209 und 210 vom 30. August, 2., 4., 5. und 7. September 1914.

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Geibels von dem deutschen Wesen erinnerte, an dem einmal die Welt noch genesen werde.231 Bedingung, unerlässliche Voraussetzung für diese Rolle war die Besei­tigung der Gefahr, von zwei Seiten zugleich angegriffen zu werden. Hüter des allgemeinen Friedens kann nicht sein, wer täglich und stündlich für die eigene Sicherheit, den eigenen Frieden bangen muß. Also Schluß mit der Zweifronten­gefahr, sonst war der Krieg, mochte er enden, wie er wollte, umsonst geführt, und alle Opfer, die er gekostet hatte, waren umsonst gebracht. Nur darum konnte es sich handeln, wie dieses naturgegebene Ziel zu erreichen sei. Die vorherrschende Ansicht in Deutschland hielt einen Machtzuwachs im Westen für erstrebenswert; Annexion Belgiens, mindestens Erwerb von Stützpunkten an der flandrischen Küste waren die Forderung weitester Kreise; von denen, die noch weiter gehen und  – wie z. B. Graf Zeppelin  – Deutschlands Machtradius bis an die Küste des Atlantik und in die Bretagne er­strecken wollten, sehe ich ab, da ich sie so wenig wie Herrn Claß und seine Gefolgschaft, die den Erwerb der Franche-Comté forderten, als Politiker ernst nehmen konnte und kann. Die Ansprüche auf Belgien aber wurden so allgemein und mit ­solchem Ungestüm erhoben, daß es unmöglich war, sie zu überhören. Wer ihnen widersprach, machte sich zweifelhafter Gesinnung verdächtig. Wollte man überhaupt gehört werden, so mußte man sie mindestens schweigend hingehen lassen. Mir erschienen sie von Anfang an unerfüllbar, unnatürlich und keineswegs zweckdienstlich. Wer sich über die Ursachen des Krieges, insbesondere der Teilnahme Englands an ihm klar war, wußte auch, daß England niemals in einen Friedensschluß willigen würde, der Deutschland in irgendeiner Form, sei es Annexion, Protektorat oder wie immer, einen beherrschenden Einfluß auf oder in Belgien beließ. Wer so etwas anstrebte, mußte also zuvor England be­zwingen, und daß wir das nicht konnten, war auch denen, die es zunächst für möglich gehalten hatten, nach und nach klar geworden. Aber selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, Deutschland wäre durch Herrschaft über Belgien, sei es das ganze oder Teile davon, nicht gestärkt, sondern geschwächt worden; denn Zuwachs an Gebiet oder beherrschendem Einfluß an dieser Stelle ließ sich nur unter dauerndem Aufwand gewaltsamer Mittel behaupten. Wer also die Frage in großem Zusammenhang betrachtete, konnte in der Erweiterung der deutschen Grenze nach dieser Seite, selbst wenn sie uns angeboten wurde, nur ein Danaer­ geschenk sehen. Das galt überhaupt für jeden denkbaren Gebietszuwachs im Westen, mochte es sich um Belgien, die Niederlande, Luxemburg oder Lothringen handeln, nicht zu reden von der Franche-Comté. Überall hatte man es mit geprägten Staats­gebieten zu tun, deren Metall im Feuer einer langen Geschichte gehärtet war, mit einer Bevölkerung, die ein lebendiges Bewußtsein ihrer selbst und 231 Haller bezieht sich hier auf: Emanuel Geibel: Deutschlands Beruf [1861], in: Emanuel Geibels gesammelte Werke, Bd. 4: Spätherbstblätter, Heroldsrufe, Stuttgart 1883, S. 215: »und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen.«

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eine reiche Überlieferung, mit einem Wort eine nationale Kultur besaß und sich ­gegen Eingliederung in ein fremdes Staatswesen gesträubt, immer offen oder insgeheim nach Losreißung gestrebt hätte, und nur mit Gewalt im Zaum gehalten werden konnte – eine dauernde offene Wunde am Körper des Reiches. Das hatte die Erfahrung im Elaß gelehrt, wo man doch eine ursprünglich deutsche Bevölkerung vor sich hatte, deren Gewinnung, anfänglich für leicht ge­ halten, im Laufe von anderthalb Menschenaltern nicht hatte gelingen wollen. Dort hatte sich gezeigt, wie wenig Deutschland die Fähigkeit besaß, moralische Eroberungen zu machen. Mir war es schlechthin unbegreiflich, daß verständige Menschen aus dieser Erfahrung, wenn sie schon nicht durch eigenes Nach­ denken zur Einsicht gelangten, so wenig lernen wollten, daß sie nach der Einverleibung, wenn nicht ganz Belgiens, so wenigstens Flanderns verlangten. Ganz anders lagen die Dinge im Osten. Da standen einem Provinzen und Bevölkerungen gegenüber, die einer andern Nation unterworfen waren, ihre frühere Unabhängigkeit noch nicht ganz vergessen hatten, deren Lostrennung von dem bisherigen Staatsverband keine Schwierigkeiten machen, wohl auch als Befreiung und Wohltat empfunden werden konnte und sich dauernd behaupten ließ, ohne das Deutsche Reich mit fremden Bestandteilen zu belasten. Hier brauchte man, um Deutschlands Macht zu stärken, ihm nicht einen Fußbreit Landes und nicht einen Bewohner fremder Art einzuverleiben, es wurde schon stärker, wenn der Nachbar geschwächt wurde. Wenn es gelang, Rußland seine westlichen Provinzen zu entreißen, durch deren Unterwerfung es erst zur europäischen Großmacht aufgestiegen war, es auf seinen ursprünglichen Bestand, seinen nationalen Kern zu beschränken und die abgetretenen Gebiete, vor allem die Ukraine und Litauen, zu selbständigen Nationalstaaten zu entwickeln, die als solche um ihrer Selbsterhaltung willen auf Anlehnung an das Deutsche Reich angewiesen waren und somit bei richtiger Behandlung durch ihr Dasein schon eine Verstärkung des deutschen Machtgewichts und einen Schutz für die deutsche Ostgrenze bedeuteten, so war der Zweck erreicht, die Zweifronten­gefahr beseitigt. Es kam hinzu, daß Deutschland, wenn es sich dieses Ziel steckte, nur zu seinen ältesten Überlieferungen zurückkehrte. Es nahm die Politik wieder auf, der es in alten Zeiten seine größten Erfolge verdankt hatte, die Politik der Zivilisierung der östlichen Nachbarländer, die zur Kolonisation jenseits der Elbe, zur Ausdehnung des Reiches über Oder und Weichsel hinaus geführt und es für lange Zeit zur unbestrittenen Vormacht im gesamten Osten gemacht hatte. Für diesen Gedanken zu wirken, so weit meine schwachen Kräfte reichten, hatte ich mir von Anfang an vorgenommen. Er war in Regierungskreisen nicht ganz unbekannt, im Auswärtigen Amt hatte man von dem Plan, »Pufferstaaten« im Osten zu schaffen, sprechen gehört, Bethmann Hollweg und sogar Jagow ­sollen daran gedacht haben. Um so schwerer war es, die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen. Hier war es hauptsächlich Paul Rohrbach, der mit seiner gewandten Feder und unermüdlichen Rührigkeit in Tages-Zeitungen, Zeitschriften und Vorträgen aufklärend zu wirken suchte. Ich habe ihn, so viel ich

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konnte, zu ­unterstützen gesucht – es war das einzige, womit ich persönlich an dem deutschen Schicksalskampf teilzunehmen vermochte. Die Arbeit war mühsam, denn man stieß auf die Mächte, die zu überwinden immer am schwersten sind, Unwissenheit und Vorurteil. Schon von der Großtat der deutschen Kolonisation des Ostens hatten nur wenige eine klare Vorstellung; als ob dieses Kapitel der deutschen Geschichte im Schulunterricht gefehlt hätte. Auf welches Maß von Unkenntnis man selbst in den gebildetsten Kreisen stieß, sobald man in der Erörterung politischer Fragen die deutsche Ostgrenze überschritt, ist kaum zu glauben. Ich hatte den Eindruck, der Deutsche wisse im allgemeinen von China mehr als von Rußland. Als ich in den ersten Kriegswochen einmal in einem Kreise von Kollegen von den ­Ukrainern sprach, begegnete ich ironischer Heiterkeit; man nahm das Auftreten dieses Begriffs von der komischen Seite und fragte spöttisch, was das eigentlich für Leute seien. Niemand hatte eine Ahnung davon, daß es sich um ein Volk von 30 Millionen mit eigener Sprache und um die reichsten und wertvollsten Provinzen des euro­päischen Rußlands handelte, Provinzen, deren Verlust die russische Großmacht tödlich treffen mußte. Darüber aufzuklären fiel um so schwerer, da sich Russen und Polen seit langem darin die Hände gereicht hatten, das Dasein des ukrainischen Volkes zu leugnen, es für eine Spielart der russischen Nation – Kleinrussen! – und seine Sprache für eine bloße, provinzielle Mundart des Russischen zu erklären, seine Vergangenheit zu ignorieren und unter diesem Gesichtspunkt die gesamte russische Geschichte zu verfälschen. Es war Rohrbachs Verdienst, wobei ihn Axel Schmidt, weniger hervortretend, aber im stillen gründlicher und nachhaltiger arbeitend, unterstützte, wenn allmählich etwas klarere Begriffe sich verbreiteten. In ihrer ganzen Tragweite ist die ukrainische Frage damals bei uns nicht erfaßt worden, ja, ich be­ zweifle, ob sie es heute ist, wo die Ukraine einen besondern Staat im Verbande der russischen Ratsrepubliken bildet und als solcher von der ganzen Welt mit Sitz und Stimme im neuen Völkerbund anerkannt ist. Unsere publizistische Tätigkeit hatte schließlich einen Erfolg, den wir im Grunde den Russen verdankten. Sie selbst nötigten Deutschland dazu, indem sie auf mäßigere Bedingungen einzugehen sich hartnäckig weigerten, das Äußerste zu erzwingen. Der Friedensschluß von Brest-Litowsk brachte den Verzicht auf die westlichen Provinzen, deren politische Gestaltung Deutschland und Österreich überlassen blieb. Aber wehe, wenn man dieses Ergebnis genauer ansah! Da wurde offenbar, wie wenig die deutsche Staatskunst auf solche Aufgaben vorbereitet war; sie vergriff sich überall und in allem in den Formen wie in den Personen. In der Ukraine wurde eine Republik geschaffen, unter einem Regenten, der in Wiederbelebung alter, halb vergessener Erinnerungen den historischen Titel eines Hetmanns erhielt. Aber anstatt, wie es sich von selbst verstanden hätte und leicht zu machen gewesen wäre, das Land sich seine staatliche Form selbst geben und seine Herrscher wählen zu lassen, wurde ihm beides vorgeschrieben und damit der Opposition, an der es natürlich in der Bevölke­ rung nicht fehlte, von vornherein Wasser auf die Mühle getrieben. Zudem traf

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man bei der Einsetzung eine gänzlich verkehrte Wahl: Skoropadski, dem in Erinnerung an einen Vorfahren, der im 17. Jahrhundert das Amt getragen hatte, die Ehre zuteil wurde, Hetmann der neuerstandenen Ukraine zu heißen, war ein russischer Hofgeneral, ohne Anhang im Lande, dessen Sprache er erst erlernen sollte, und im Herzen russisch gesinnt.232 Hätte er sich behauptet und länger r­ egiert, so wäre die Ukraine in russisches Fahrwasser geraten und viel­ leicht wieder mit Rußland vereinigt worden. Wer für diese Fehlgriffe verantwortlich gemacht werden muß, ob die soge­ nannte »Reichsleitung«, d. h. die Zivilbehörden oder die Heeresleitung, d. h. Ludendorff und seine Leute, weiß ich nicht; in der Öffentlichkeit gab man die Schuld dem Militär, das als Besatzungsmacht die tatsächliche Herrschaft im Lande übte; aber ob die Bürokraten besseres geleistet haben würden, ist doch sehr die Frage. Wer kannte sich denn in diesen fremden Verhältnissen genügend aus, um sie zu beherrschen? Verstand man doch nicht einmal damit zu rechnen, daß nicht jeder, dessen Geburts- oder Heimatschein auf einen ukrainischen Ort lautete, ein National-Ukrainer war. Daß der Großgrundbesitz sich großen Teils in russischen oder polnischen Händen befand, das höhere Bürgertum in den Städten sehr starke russische Elemente enthielt und von den Ukrainern selbst viele mehr oder weniger russifiziert waren, wurde ganz übersehen. So wenig wurde von der deutschen Verwaltung auf die bunte Mischung des Volkes Rücksicht genommen, daß man alle aus der Ukraine stammenden Kriegsgefangenen ohne weiteres in das neugebildete ukrainische Heer einstellte, sie in eine, übrigens sehr kleidsame Uniform aus alten Beständen von blauem Militärtuch steckte – »das blaue Wunder« n ­ annte sie der Volksmund  – und damit zu wirklichen Ukrainern gemacht zu haben glaubte, die für den neuen Staat mit Begeisterung Blut und Leben opfern würden. Denselben Fehler hatte man gegenüber den Polen schon früher begangen, man hatte sie mit der Staatsform einer konstitutionellen Monarchie beschenkt ohne zu fragen, ob diese ihnen willkommen sei. Hier wurde – und ich glaube mit Recht – dem Kaiser, der für einen seiner Söhne an den künftigen polnischen Königsthron gedacht haben soll, die Schuld an dem schweren Mißgriff gegeben, der sich um so weniger entschuldigen ließ, weil in Preußen die polnischen Verhältnisse von Alters her bekannt, freilich auch niemals richtig verstanden waren. Aus den (ungedruckten) Erinnerungen des Offiziers, der unter Beseler die politischen Angelegenheiten in Polen bearbeitete, habe ich erfahren, daß die deutsche Verwaltung sich grundsätzlich auf die Elemente gestützt hat – Adel und höheres Bürgertum  – die man für konservativ hielt; Pilsudski, der die Massen für sich hatte und politische Begabung besaß, wurde als »Sozialdemokrat« bekämpft, ausgewiesen und schließlich gefangen gehalten.233 Mir will scheinen, 232 Pawlo Skoropadsky (1873–1945), ukrainischer Politiker, 1918 »Hetman«, also Kommandant in Litauen (RBA & BASU, RS 63, S. 117). 233 Józef Piłsudski (1867–1935), polnischer Politiker, 1917 Leiter der Abteilung Heereswesen im Provisorischen Staatsrat Polens, 1917–1918 in deutscher Gefangenschaft, 1918–1922 Staatspräsident Polens (BaBA II 205, S. 99–105).

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das um­gekehrte Verfahren wäre richtiger gewesen, denn Pilsudski, der den Feind Polens im Osten, in den Russen, sah, wäre für Deutschland zu gewinnen gewesen: hat er doch der Angliederung bisher deutscher Gebiete – Westpreußen, Oberschlesien und sogar Posen – widersprochen. Indem man ihn bekämpfte, stärkte man seine Gegner, die bürgerliche Demokratenpartei Dmowskis, die, mit panslavistischen Traditionen belastet, zu Rußland neigte, und vor allem gegen Deutschland gerichtet war.234 Auf die machtlosen »konservativen« Kreise war überhaupt nicht zu zählen. Das Ergebnis war dementsprechend. In Litauen glaubten wir, ähnlich wie in der Ukraine, an geschichtliche Erin­ nerungen anknüpfen zu können; ein württembergischer Prinz, der Herzog von Urach, war zum künftigen Großfürsten ausersehen unter dem Namen Mindaugas II.235 Wie man gerade auf ihn verfallen ist, mögen die Götter wissen. Daß er zufällig das Oberkommando über die deutschen Truppen im Lande führte, war doch wirklich kein ausreichender Grund. Er war in der Uniform eines Generalleutnants ein Gelehrter, der sich mit geographischen Studien abgab und nach dem Kriege in Tübingen den Doktortitel erwarb, wobei mir die Ehre z­ uteil wurde, ihn im Nebenfach zu prüfen. Als liebenswürdiger Herr von sehr bürgerlichem Wesen – die Uracher galten für arm – und herzlich schwachen Geschichtskenntnissen ist er mir erinnerlich geblieben. Zu den von Rußland abgetretenen Gebieten gehörten die Ostseeprovinzen, die drei ehemaligen Gouvernements Estland, Livland und Kurland. Hier war es für Deutschland wesentlich leichter, eine neue politische Ordnung zu schaffen, da wenigstens ein Teil der Oberschicht der Bevölkerung deutsch war und mit verschwindenden Ausnahmen nichts anderes wünschte, als, wenn nicht Einverleibung, so doch Angliederung in irgend einer Form an das Deutsche Reich. So lange der Krieg währte, durfte das nicht ausgesprochen werden; die Deutschen des Landes hatten schweigen, ihre Pflicht im Felde wie daheim tun und trotzdem mancherlei Drangsal, Sprachenzwang, Haft und Verbannung er­tragen müssen. In anderer Lage befanden sich die zahlreich in Deutschland lebenden Balten. Aus ihnen bildete sich alsbald ein Ausschuß in Berlin, der Baltische Vertrauensrat, offiziell und in erster Linie zur Unterstützung der vom Kriege in Deutschland überraschten und in Not geratenen Landsleute und zu deren Vertretung gegenüber den oft recht verständnislosen Behörden, die in den Balten mit russischer Staatsangehörigkeit einfach Russen sahen.236 Im Stillen arbeitete jedoch der Vertrauensrat auf das Ziel der Befreiung des Heimatlandes hin, zunächst durch Aufklärung weitester Kreise und Werbung um Teilnahme für das Los der einstigen deutschen Kolonie. An diesen Bemühungen habe auch ich mich beteiligt und mich schon bei Beginn des Krieges in diesem Sinn in den »Süddeutschen Monatsheften« ausge234 Roman Dmowski (1864–1939), polnischer Politiker, 1923 Außenminister (JBA II 118, S. 79 f.). 235 Wilhelm von Württemberg-Urach (1864–1928), im Juli 1918 zum König von Litauen gewählt; im November 1918 wurde die Wahl widerrufen (NDB 22, S. 285). 236 Vgl. dazu oben Kapitel VI.1.

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sprochen.237 Dort, im Nordosten, sah ich von Anfang an das gegebene, das natürlichste Ziel eines siegreich verlaufenen Krieges. Wenn ich dann im Laufe der Jahre in Vorträgen und Aufsätzen öfters darauf zurückgekommen bin, so werde ich mir wohl den heimlichen Vorwurf zugezogen haben – laut und offen ist er mir nicht begegnet – egoistische und persönliche Wünsche auf Kosten ­gemeindeutscher Interessen befriedigen zu wollen. Damit aber hätte man mir Unrecht getan. Daß ich an dem Schicksal meiner alten Heimat und ihrer Bewohner wärmstens Anteil nahm und ihnen die Befreiung vom russischen Joch von Herzen wünschte, konnte mir niemand verdenken; aber um ihretwillen Anforderungen an die Politik des Reiches zu stellen, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Ich dachte an Deutschland und sah in dem, wofür ich eintrat, die Erfüllung eines deutschen Bedürfnisses, eine deutsche Notwendigkeit. Durch die Eroberung der Ostseeprovinzen hatte Rußland, das bis dahin politisch wie geographisch allgemein zu Asien gerechnet worden war, seinen Eintritt in die abendländische Völkerwelt erzwungen, war es europäische Großmacht geworden und hatte als solche zweihundert Jahre und länger auf die abendländischen Verhältnisse, denen es innerlich fremd gegenüberstand, einen unheilvollen Einfluß geübt, am meisten aber auf Deutschland gedrückt, seine Entwicklung gehemmt – man denke an Olmütz, an den Wiener Kongreß. Von dieser Stellung aus bedrohte es Deutschlands Zukunft durch unmittelbare Nachbarschaft und eine Grenzlinie, wie sie für die deutsche Verteidigung ungünstiger nicht gezogen werden konnte. Einmal Ostseemacht geworden war es der Versuchung ausgesetzt, sich zum Beherrscher dieses Meeres aufzuwerfen, was nur auf Kosten Deutschlands geschehen konnte. Als asiatischen Erobererstaat und Erben des Mongolenreiches lag ihm nichts näher, als nach der ganzen Ostseeküste und ihrem Hinterland zu begehren, wo schon Peter der Große vorübergehend sich festzusetzen gedacht hatte. So lange Rußland an der Ostsee mächtig war, hatte Deutschland die Zwangslage der doppelten Front zu ertragen, war es vor dem Zweifrontenkrieg niemals sicher. Wer über den Augenblick hinaus dachte, konnte für die Gefahren, die von dorther drohten, unmöglich blind sein; daß ich sie nicht überschätzte, nicht aus persönlichen Beweggründen übertrieb, hat die Geschichte seitdem bewiesen: Heute (1946) erlebt Deutschland in der furchtbarsten Weise, wogegen es vor dreißig Jahren sich zu schützen vom Schicksal aufgefordert wurde. Für meine Auffassung besaß ich schon damals einen Beleg in einer Äußerung, die der General Poliwanow – er war der letzte Kriegsminister des Zaren – kurz vor dem Kriege zu einem meiner Petersburger Bekannten getan hatte.238 Rußland, so hatte er gesagt, leide unter Deutschlands Übergewicht, das durch Ausdehnung nach dem unzivilisierten Osten nicht ausgeglichen werden könne; es 237 Johannes Haller: Gedanken eines Balten, in: Süddeutsche Monatshefte, September 1914, S. 812–816. Vgl. dazu und für das Folgende oben Kapitel VI.1. 238 Alexei Andrejewitsch Poliwanow (1855–1920), russischer General (RBA & BASU, SU 357, S. 295–298).

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bedürfe, um des Gleichgewichts willen, eines Zuwachses an wirtschaftlich und kulturell hochentwickelten Provinzen, darum müsse es seine Westgrenze bis an die Oder vorschieben. Daß das heutige Rußland, obgleich in Wesen und Formen das ­Gegenteil des früheren, ausgeführt hat, was jenes im Geheimen ersehnte, kann niemand wundernehmen, der die Natur dieser Nation kennt, die in ihrer geistigen Bildung die Tochter des byzantinischen Ostens, in ihrem politischen Charakter aber die Erbin der Mongolen ist, die vor mehr als siebenhundert Jahren die blühende Kultur großer Teile von Vorderasien vernichteteten und schon damals einen Augenblick Mitteleuropa mit dem gleichen Schicksal bedrohten. Bei unserer Arbeit für weitreichende Aufklärung über das deutsch-baltische Problem stießen auch wir auf die gleichen Widerstände, die es überall erschwerten, von der wirklichen Lage der Dinge im Osten eine richtige Vorstellung zu wecken. Unkenntnis und Vorurteil herrschten auch hier. Zwar fehlte es nicht an bereitwilligem Entgegenkommen, ich war sogar überrascht, so oft ich über die baltische Frage zu sprechen hatte, auf bedeutend mehr Teilnahme zu stoßen, als ich geglaubt hatte, voraussetzen zu dürfen. Wo immer ich das Wort nahm, fand ich zahlreiche, aufmerksame Zuhörer und warme Anerkennung. Ein Vortrag im November 1914, der in einem Nebenraum des Reichstags angekündigt war, mußte in den großen Sitzungssaal verlegt werden, der die herbeigeströmte Menge kaum zu fassen vermochte.239 Die Wirkung meiner Worte dürfte allerdings darunter gelitten haben, daß am selben Abend – war es Vorbedeutung? – der Heeresbericht den deutschen Rückzug in Polen melden mußte. Noch größer war der Erfolg, als im nächsten Jahr, nach der Besetzung Kurlands, der Vertrauensrat sich entschloß, an den Reichskanzler ein Schriftstück zu richten, das in vorsichtig umschreibender Wendung – »daß die Zukunft des Landes in deutsche Hand zu liegen komme« – um Befreiung aller drei Provinzen bat. Es sollte unterstützt werden durch eine Eingabe aus dem Volk, deren Abfassung mir übertragen wurde. Sie erhielt in kurzer Zeit über 1000 Unterschriften aus allen Teilen des Reiches und hätte ohne Zweifel noch viel mehr erhalten, wären wir nicht genötigt gewesen, sie nur unter der Hand und vertraulich zu ver­breiten. Denn das Sammeln von Unterschriften war damals verboten, eine Maßregel, die Bethmann Hollwegs staatsmännische Weisheit in hellem Licht e­ rstrahlen ließ. Dabei hatte ich ein Erlebnis, das die Lage in humoristischer Weise beleuchtete. Irgend ein Zeitgenosse, mit der echt deutschen Polizistenseele, hatte Anzeige erstattet und die Reichsregierung hatte Beschlagnahme der Eingabe angeordnet. Wie man erfahren hat, daß ich der Verfasser war, weiß ich nicht, aber eines Tages kündigte mir die Polizei telefonisch ihren Besuch an, um sich der Blätter, die bei mir vermutet wurden, zu bemächtigen. Ich riet wohl nicht fehl, wenn ich in der vorherigen Anzeige eine Aufmerksamkeit des Herrn Oberbürgermei­sters sah, dessen Name – Ironie des Schicksals – an der Spitze 239 Johannes Haller: Die baltischen Ostseeprovinzen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 328 vom 27. November 1914. Vgl. dazu und für das Folgende oben Kapitel VI.1.

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der Tübinger Liste prangte, und benutzte die Zeit, den nicht ganz kleinen Vorrat von Exemplaren zum Nachbarn zu tragen.240 Nach einer Weile erschien ein Wachtmeister, der an der Türe stehen blieb und Haltung annehmend mich mit den Worten anredete: »Also, Herr Professor, d’Sach isch ausgezeichnet! S’isch mer blos leid, daß i net selber unterschreibe darf.« Auf keine noch so lobende Rezension bin ich im Leben stolzer gewesen als auf diese Anerkennung. Warum die Eingabe erst im Frühling 1917 dem Reichskanzler überreicht wurde, und warum man mit ihrer Überreichung zwei Herren betraute – Herrn von Siemens und Professsor Meinecke – die mit der Sache nicht das geringste zu tun hatten, weiß ich nicht.241 Sie haben sie dann auch keineswegs ernsthaft vertreten, vielmehr die Gelegenheit nur benutzt, sich mit dem Reichskanzler über die Reform des preußischen Wahlrechts zu unterhalten, die damals die Gemüter der Regierenden stärker beschäftigte als alle Fragen auswärtiger Politik. War die Teilnahme für das Schicksal der einstigen Kolonie größer als erwartet, so stieß man doch auch stellenweise auf ein Maß von Unkenntnis, das nicht weniger überraschte. Daß Livland einmal – ich brauche den Namen, wie es in alter Zeit üblich war, gemeinsam für alle drei Provinzen – daß Livland einmal staatsrechtlich einen Teil des deutschen Reiches gebildet hatte, war nicht allgemein bekannt, wurde gelegentlich sogar bestritten. So erhielt ich eines Tages auf einen Zeitungsartikel hin einen vorwurfsvollen Brief von einem württembergischen Gymnasialdirektor: wie ich behaupten könne, daß Livland jemals Reichsland gewesen sei? Er habe das Gegenteil immer im Unterricht gelehrt. Ich erwiderte mit dem Hinweis auf die Nummer im Verzeichnis der deutschen Kaiserurkunden, unter der Philipp von Schwaben die Bischöfe von Riga und Dorpat mit ihren Ländern als Marken des Reiches belehnt, und erinnerte an die Erhebung des livländischen Ordensmeisters Wolter von Plettenberg zum Reichsfürsten durch Kaiser Maximilian I.242 Darauf lief eine sehr kleinlaute und beschämte Entschuldigung ein, die nur leider das in vielen Jahren angerichtete Unheil nicht gut machen konnte. Eigentlich hätte mich diese Erfahrung nicht befremden dürfen, hatte ich es doch schon in den 90er Jahren erlebt, daß einer meiner Kollegen am römischen Institut, ein Historiker von Fach und übrigens ein kenntnisreicher und 240 Oberbürgermeister von Tübingen war zu diesem Zeitpunkt Hermann Haußer. Vgl. Wolfgang Fischer: Das Baustoffunternehmen Kemmler. Die Geschichte eines schwäbischen­ Familienunternehmens über fünf Generationen, Frankfurt a. M. 2010, S. 59 f. 241 Carl Friedrich von Siemens (1872–1941), deutscher Industrieller (NDB 24, S. 377–379). Vgl. für das hier Geschilderte oben Kapitel VI.1., außerdem Stefan Meineke: Friedrich Meinecke. Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 90), Berlin und New York 1995, S. 251 f. 242 Philipp von Schwaben (1177–1208), seit 1198 römisch-deutscher König (NDB 20, S. 370–372); Wolter von Plettenberg (ca. 1450–1535), Deutschordensmeister in Livland. Haller irrt sich hier insofern, als Wolter von Plettenberg die Reichsfürstenwürde nicht von Maximilian I., sondern (1526 bzw. 1530) von Karl V. verliehen bekam (NDB 20, S. 535–536); Maximilian I. (1459–1519), seit 1486 römisch-deutscher König, seit 1508 Kaiser (NDB 16, S. 458–471).

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gebil­deter Mann, die Zugehörigkeit Livlands zum Reich eine Legende nannte. Ich frage, ob dergleichen bei irgend einem Volk der Erde außer dem deutschen möglich wäre? Sonst sind die Nationen nur zu geneigt, ihre Verdienste und alten Rechtsansprüche zu übertreiben und durch Erfindungen zu vermehren; die Franzosen halten das Elsaß für ihren rechtmäßigen Besitz und ganz Südwestdeutschland für ursprünglich französisches Land, die Polen fordern Danzig und Preußen als ihnen von Rechtswegen gehörig, nicht zu reden von den Ma­ gyaren, für die alle großen Entdeckungen und Erfindungen von ihnen ausge­ gangen sind. Nur die Deutschen, die auf ihre Geistesbildung und insbesondere ihre Geschichtswissenschaft stolz sind, bringen es fertig, die großen Leistungen ihrer Vergangenheit zu vergessen und zu verleugnen. Wenn sogar Bismarck von den ehemaligen Rechten des Reiches auf Livland nichts hat hören wollen, so wird er – ich möchte es annehmen – diplomatisch-politische Gründe gehabt haben, sein besseres Wissen für sich zu behalten. Bei seinem Bestreben, die Russen von seiner uneigennützigen Freundnachbarschaft zu überzeugen, mochte ihm alles, was auf deutsche Ansprüche im Osten deuten konnte, unbequem sein. Bei den Russen hat er damit keinen Erfolg gehabt, sie haben nie geglaubt, daß Deutschland seine historischen Rechte im Osten für immer abgeschrieben habe, und Alexander III. hat als Thronfolger gegenüber dem deutschen Kronprinzen das, was er die baltische Frage nannte, als ein Hindernis für aufrichtige Freundschaft zwischen den beiden Reichen bezeichnet, sich auch durch den ­lebhaften Widerspruch des Kronprinzen nicht davon abbrin­gen lassen. Gewirkt hat Bismarck mit seiner Verleugnung der Geschichte nur bei einem Teil der Deutschen. Unter den preußischen Konservativen gab es nicht wenige, die für die baltischen Deutschen nur laue Teilnahme zeigten und von politischen Folgerungen aus dem Vorhandensein eines deutschen Volksteils jenseits der östlichen Reichsgrenze nicht gern hörten. Der Gründe waren mehr als einer. Bei vielen spielten alte Erinnerungen an die Zeiten Nikolaus I. und der Heiligen Allianz mit, bei andern die irrige Vorstellung, daß Bismarck »russisch« gewesen sei und man seinem Beispiel folge, wenn man in der Freundschaft mit Rußland den Eckstein der deutschen Politik sehe. Dieser Irrtum, an dem freilich Bismarck selbst nicht unschuldig genannt werden kann, da er sich öfters, besonders nach seinem Sturz, in ähnlichem Sinn geäußert hat, war überhaupt weit verbreitet. Als ich einmal, ich weiß nicht mehr wo, in einem Aufsatz ausgeführt hatte, Bismarck habe die russische Freundschaft nur so lange gepflegt und pflegen müssen, wie sich England ihm versagte, dessen Bündnis zu erlangen sein eigentliches Ziel gewesen sei, da bekam ich im »Hamburger Korrespondenten« eine entrüstete Entgegnung, wie wenn ich mich einer Verunglimpfung von Bismarcks Andenken schuldig gemacht hätte.243 243 Die These, dass Otto von Bismarck eigentlich kein Bündnis Deutschlands mit Russland, sondern eines mit England angestrebt habe und dass Dreibund wie Rückversicherungsvertrag nur Notlösungen infolge des Scheiterns des deutsch-englischen Bündnisplanes gewesen seien, hat Haller in mehreren Veröffentlichungen seit dem Ersten Weltkrieg vertreten.

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Die preußische konservative Partei war in diesem Punkte nicht einig. Ihr offizielles Organ, die »Kreuzzeitung«, vertrat die russische Richtung, allerdings in so vorsichtig verdeckter Weise, daß man merkte, wie wenig sie des ungeteilten Beifalls bei ihren eigenen Leuten sicher war. Immerhin war es Hoetzsch, dem geschworenen Russophilen, schon bei Kriegsausbruch gelungen, Theodor Schiemann, der die entgegengesetzte Haltung eingenommen hatte, aus seiner Stellung als wöchentlicher Berichterstatter über auswärtige Politik zu verdrängen, und wenn er sich auch hütete, das Visier zu lüften und gerade heraus den Sonderfrieden mit Rußland zu fordern, so war die Schonung, die er diesem Gegner gegenüber übte, doch unverkennbar.244 Sein Einfluß wurde von meinen Berliner Freunden, die sein Wirken aus der Nähe beobachten konnten, für so ­gefährlich angesehen, daß seine öffentliche Bekämpfung unumgänglich erschien. Ich wurde gebeten, sie zu übernehmen, und das Nähere, was ich darüber erfuhr, war von der Art, daß ich glaubte, mich nicht versagen zu dürfen. Ich sah das Bild einer seit längerer Zeit systematisch betriebenen Irreführung der deutschen öffentlichen Meinung über Rußland, seine Politik und insbesondere sein Verhältnis zu Deutschland, eine Wühlarbeit, die verhängnisvoll wirken konnte, wenn sie unwidersprochen blieb. In der Öffentlichkeit hatte sich Hoetzsch den Ruhm, der beste Kenner Rußlands zu sein, durch ein Buch über dieses Land erworben, das am Vorabend des Krieges (1913) erschienen war und sich als eine sachliche, wissenschaftlich begründete Darstellung der russischen Verhältnisse gab, in Wirklichkeit ein flüchtig gearbeitetes tendenziöses Machwerk war, das ein völlig schiefes, den Tatsachen widersprechendes Bild entwarf, indem es die Entwicklung der Dinge in Rußland als hoffnungsvoll und die Zukunft des Reiches vom Standpunkt der deutschen Interessen als vertrauenerweckend hinzustellen suchte.245 Um die Absicht des Verfassers zu durchschauen, mußte man sich erinnern, was ich oben erwähnte, was aber nicht jeder wissen konnte, daß zu gleicher Zeit (1913), eine deutsch-russische Gesellschaft gegründet war, die der Ausweitung der deutschen geschäftlichen Unternehmungen auf russischem Boden dienen sollte, und daß der Professor Hoetzsch ihr Geschäftsführer war. Sein Buch hatte also keinen andern Zweck, als für eine vermehrte Festsetzung des deutschen Industriekapitals in Rußland Propaganda zu machen, indem es weitere Kreise zu einer optimistischen Beurteilung der nächsten Zukunft verleitete. Konnte Vgl. dazu als systematisierende Zusammenfassung: Johannes Haller: Bismarcks letzte Gedanken, in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 266–294. Vgl. dazu auch oben Kapitel VI.1., außerdem Benjamin Hasselhorn (Bearb.)/ Christian Kleinert (Vorarb.): Johannes Haller (1865–1947). Briefe eines Historikers (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 71), München 2014, Nr. 176, S. 342. 244 Otto Hoetzsch (1876–1946), deutscher Historiker und Politiker, 1913 außerordentlicher Professor in Berlin, 1920 Reichstagsabgeordneter der DNVP (NDB 9, S. 371 f.). Vgl. für das Folgende oben Kapitel VI.1. 245 Otto Hoetzsch: Rußland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904 bis 1912, Berlin 1913.

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man das im Jahre 1913 noch als Ausfluß der in Deutschland üblichen politischen Blindheit verbunden mit der herrschenden Profitgier ansehen, so mußte, seit der Krieg mit Rußland ausgebrochen war, die Fortsetzung dieser versteckten russophilen Werbetätigkeit als ernstliche Gefahr beurteilt werden, der nach Kräften zu begegnen Pflicht war. Für mich kam als weiterer Beweggrund hinzu, daß Hoetzsch es verstanden hatte, seine Beziehungen zu einflußreichen konservativen Kreisen zu benutzen, um seine Ernennung zum ordentlichen Professor der osteuropäischen Geschichte in Berlin an Stelle des in den Ruhestand tretenden Schiemann zu erreichen und daß das Ministerium im Begriff stand, ihn der Fakultät gegen ihren ausdrücklichen Widerspruch aufzuzwingen. So entschloß ich mich, ihm vor aller Öffentlichkeit die Maske abzureißen. Es geschah, indem ich zu Anfang 1917 meine Schrift »Die russische Gefahr im deutschen Hause« herausgab.246 Die Schärfe des Tones, den ich darin anschlug, erklärt sich durch einiges, was ich wußte, aber nicht sagen durfte. Neben seiner publizistischen Tätigkeit in der Kreuzzeitung hatte Hoetzsch noch ein zweites Mittel, seine Zwecke zu fördern. Er hatte sich bei Kriegsbeginn als Reserveoffizier in den Stellvertretenden Generalstab versetzen lassen, um über die russische Presse zu berichten. Wie er dieses Amt versah, darüber erfuhr ich im Vertrauen durch den neben ihm im gleichen Auftrag arbeitenden Hauptmann Ullrich Dinge, die mich empörten. Um es kurz zu sagen, er gab seinen Vorgesetzten, die ihn wegen Unkenntnis des Russischen nicht kontrollieren konnten, ein bewußt gefälschtes Bild, indem er Meldungen teils unterschlug, teils nur in beschönigter Form weitergab. So hatte er, als die Nachricht von der Verbringung deutscher Kriegsgefangener in das mörderische Klima der Baumwollpflanzungen von Turkestan bei uns Erregung hervorrief, zu behaupten gewagt, das Klima sei dort keineswegs gefährlich, wie er an Ort und Stelle erfahren haben wollte. In Wirklichkeit hatte er in dem gedruckten Bericht über diese Reise gesagt, das Klima sei dort so schlimm, daß nicht einmal die Eingeborenen als voll akklimatisiert gelten könnten. Gegen einen solchen Schädling, schien mir, war eine Polemik, wie die Lessings in den Antigoezen nicht zu scharf.247 Die Wirkung ließ auch nicht zu wünschen übrig, das Ansehen von Hoetzsch erlitt eine merkliche Einbuße. Auf die Länge freilich ist doch er und nicht ich Sieger geblieben. Dazu hat ihm, dem Leitartikler der »Kreuzzeitung«, die Revolution verholfen; bei der Wahl 1919 zog er als Vertreter von Posen, wo er früher als Professor gewirkt hatte, in den Reichstag ein. In diesem hat er als Mitglied der deutsch-nationalen Fraktion einen beständig wachsenden Einfluß 246 Johannes Haller: Die russische Gefahr im deutschen Hause (Die russische Gefahr. Beiträge und Urkunden zur Zeitgeschichte 6), Stuttgart 1917. 247 Gotthold Ephraim Lessing: Anti-Goeze. D. i. Nothgedrungener Beiträge zu den frey­ willigen Beiträgen des Hrn. Past. Goeze, Braunschweig 1778. Die insgesamt elf »Anti-­ Goezen« erschienen im Zusammenhang mit dem sogenannten Fragmentenstreit über den Offenbarungscharakter der Bibel; Lessings Kontrahent war der lutherisch-orthodoxe­ Pastor Johann Melchior Goeze (1658–1727) (NDB 6, S. 597; NDB 14, S. 339–346).

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errungen, obwohl er alles vermied, was an seine konservative Vergangenheit erinnern konnte, für die Einsicht der Fraktionsführung kein günstiges Zeugnis. Aber was soll man dazu sagen, daß er sich trotz der Niederlage, die meine Schrift ihm gebracht hatte, – sie war so gründlich gewesen, daß Graf Westarp ihn öffentlich im Namen der konservativen Partei verleugnete – in kurzem wieder als Sachverständiger für russische Verhältnisse galt?248 Auf die Dauer hat es ihm auch nichts geschadet, daß er im Vorwort zur 2. Auflage seines RußlandBuches zu Anfang 1917 behauptet hatte, der Gang des Krieges habe sein Urteil über Rußland in allen Stücken bestätigt, worauf fast im selben Augenblick der Zusammenbruch des russischen Reiches die Antwort gab.249 Die das lasen, scheinen sich nichts dabei gedacht zu haben. Da soll man nun nicht den Mut verlieren, zu deutschen Zeitgenossen überhaupt von Politik zu sprechen! Die guten Diners, die Hoetzsch mit dem Gelde seiner Frau geben konnte, hätten schwerlich genügt, ihm seine Stellung zu schaffen; die russophile Richtung, die er während des Krieges vertrat, entsprach den Wünschen des konservativen Parteiführers, des Herrn von Heydebrand. Für diesen waren die Interessen des ostelbischen Großgrundbesitzers ausschlaggebend, darum konnte er eine Erweiterung des deutschen Machtgebietes nach Osten, wie es sie sich aus ihrer entschlossenen und erfolgreichen Bekämpfung Rußlands ergeben mußte, nicht gern sehen; denn sie hätte ein Sinken der ländlichen Bodenpreise im deutschen Nordosten zur Folge gehabt. Herr von Heydebrand verhielt sich darum auch gegenüber der Frage, was aus den baltischen Provinzen werden sollte, ausgesprochen kühl; als er 1918 mit andern Herren das Land besuchte, machte er kein Hehl daraus, daß er, anders als sein Kollege Westarp, dem Anschluß an das Reich ablehnend gegenüberstand. Er verriet dabei zugleich seine Unkenntnis, die bei dem Führer einer großen und einflußreichen Partei befremden mußte. In einer Unterredung mit Vertretern des baltischen Deutschtums, die ihn für ihre Wünsche zu gewinnen suchten, entschlüpfte ihm die Bemerkung, auf die Erbuntertänigkeit der Bauern würde man im Falle der Annexion wohl verzichten müssen. Als er darauf aufmerksam gemacht wurde, eine bäuerliche Hörigkeit gebe es im Lande nicht, erwiderte er: »Aber sie verkaufen doch be248 Kuno Graf Westarp (1864–1945), deutscher Politiker, 1908–1918 Reichstagsabgeordneter der Deutschkonservativen Partei, seit 1912 Fraktionsvorsitzender, 1920–1930 Reichstagsabgeordneter der DNVP, 1925–1929 Franktionsvorsitzender, 1926–1928 Parteivorsitzender (DBA III, 986, S. 59). Zu dem von Haller Geschilderten vgl. Gerd Voigt: Otto Hoetzsch 1876–1946. Wissenschaft und Politik im Leben eines deutschen Historikers (Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas XXI), [Ost-]Berlin 1978, S. 102. 249 Otto Hoetzsch: Rußland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte vom Japanischen bis zum Weltkrieg, 2. vollst. umgearb. Aufl. Berlin 1917, S. IV: »Gegen die erste Auflage ist von vielen Seiten der Einwand erhoben worden, daß die Darstellung allzu optimistisch sei und keine Vorstellung von der inneren Zersetzung und Gärung gebe, die durch Rußland gehe. Der Verlauf des Krieges hat bisher gezeigt, daß meine Auffassung sich gegenüber einer in Deutschland sonst weit verbreiteten und im Kriege immer wiederholten Betrachtungsweise russischer Dinge als richtig erwiesen hat.«

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ständig Gesinde?« Daß ihm der Sinn des Wortes nicht bekannt war, das im baltischen Deutsch den Pachthof bedeutet, ist verzeihlich, weniger verzeihlich, daß er sich über die baltischen Verhältnisse nicht so weit unterrichtet hatte, um zu wissen, daß in den drei Provinzen die Abschaffung der Leibeigenschaft schon 1807  – früher als in Preußen  – begonnen und 1819 durchgeführt war. Unbegreiflich aber, daß er die Aufhebung der Leibeigenschaft vergessen konnte, die im ganzen russischen Reich, wie jedermann weiß, im Jahr 1861 erfolgt war. Ich will nicht zu ausführlich werden, wo es sich um Dinge handelt, die, so hoffnungsreich sie zunächst erschienen, doch nur eine Episode ohne Bedeutung für die Folgezeit bilden. Sie sind auch schon in aller Ausführlichkeit und in bewundernswert sachlicher Weise dargestellt worden in den Lebenserinnerungen einer Hauptperson, des letzten Ritterschaftshauptmanns von Estland, Baron Eduard Dellingshausen (Im Dienste der Heimat, Stuttgart 1930). Was ich dazu sagen kann, sind einzelne Züge, die das Bild beleben können. Auch dabei muß ich mir Zurückhaltung auferlegen, wie denn dieses ganze Kapitel der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen, die Begeisterung und hochgeschwollenen Hoffnungen der befreiten Deutschen und der rasche Zusammenbruch Beachtung nur verdienen als eine Szene in dem großen Trauerspiel von Deutschlands Untergang, allerdings eine, die mit dem Ungeschick und der Unzulänglichkeit des deutschen Handelns den lehrreichsten Beitrag zur Erklärung dieses traurigen Endes darstellt. Trotz unverkennbaren Widerstrebens der amtlichen Berliner Stellen war es den Vertretern des Landes schließlich doch geglückt, einen Hilferuf an den Kaiser gelangen zu lassen, der Erhörung fand: die Besetzung des ganzen Landes wurde befohlen und Ende Februar 1918 ausgeführt. Es war eine halbe M ­ aßregel, die mit ihrer Halbheit nicht wenig geschadet, vielleicht alles verdorben hat. In Rußland erwartete man damals, die Deutschen würden bis Petersburg vor­ rücken, wo sie von allen nicht kommunistischen Kreisen als Befreier von der bolschewistischen Schreckensherrschaft, wenn auch nicht gerade mit Jubel, so doch dankbar begrüßt worden wären. Die Äußerungen bürgerlicher Zeitungen, selbst einer bis dahin so deutschfeindlichen wie der Nowoje Vremja, ließen darüber keinen Zweifel. Welche Stimmung in der russischen Hauptstadt herrschte, bezeugt folgender Vorfall. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, die Deutschen stünden schon bei Gatschina, ihr Einmarsch sei jeden Augenblick zu erwarten, und die Vorräte an Lebensmitteln wurden, um nicht in die Hände der Deutschen zu fallen, aus den Magazinen an die Geschäfte verteilt. Mein Bruder Gotthard hatte daran als Abgeordneter seines Stadtteils teilgenommen. Auf dem Heimweg begegneten ihm zwei höhere Offiziere seiner Bekanntschaft, die auf seine Frage, wie sie sich bei einem deutschen Einmarsch verhalten würden, ­lachend erwiderten: »Nun, was denn? Waffen abgeben!« Für die gute Gesellschaft, von der ein großer Teil schon geflüchtet war, der Rest sich möglichst still verhielt, war es eine Enttäuschung, als man erfuhr, die Deutschen seien bei Jamburg und Luga stehen geblieben. Vom deutschen Standpunkt gesehen war das ein schwerer Fehler. Das habe ich Ludendorff vorgehalten, als ich ihn 1921

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in München sah. Er bestritt es nicht und suchte sich nur zu entschuldigen mit dem Widerstreben des Reichstags und der Besorgnis, ob die Verpflegung der Bevölkerung des besetzten Petersburg möglich sein würde, zwei Dinge, die weder unter militärischem noch politischem Gesichtspunkt Beachtung verdient hätten gegenüber den Vorteilen, die die Einnahme der Hauptstadt gebracht haben würde. Denn wenn die Tatsache an sich vielleicht noch keinen tödlichen Schlag für die bolschewistische Regierung der Lenin, Trotzki und Genossen bedeutet hätte, so wäre deren Bekämpfung durch Opposition im Innern von ­Petersburg aus, wo man mit führenden Elementen der Nation in ständiger Führung war, wesentlich erleichtert worden, und die dauernde Geltendmachung des deutschen Einflußes hätte sich fast von selbst ergeben. Aber noch größer war der Fehler, der beim endlichen Friedensschluß be­ gangen wurde. Daß wir nicht die Auslieferung der schweren Waffen und vor allem der Kriegsschiffe forderten  – diese konnte garnicht verweigert werden und war äußersten Falles leicht zu erzwingen, wenn wir Petersburg in Händen hatten – kann man nur eine grobe Fahrlässigkeit nennen. Sie hatte zur nächs­ ten Folge, daß diese Schiffe – deren Besatzung die Kerntruppe der Revolution bildete – schon nach sechs Monaten unter Bruch des Friedens bei der Vertreibung der deutschen Truppen aus Estland mitwirkten, indem sie Narwa beschossen und Reval zu beschießen drohten, wovor die Stadt, nebenbei bemerkt, nur durch das Erscheinen eines britischen Geschwaders gerettet worden ist. Solche Fehler verraten am deutlichsten, welche Verwirrung in den deutschen Reichsgeschäften schon herrschte, wo von einheitlicher Leitung auch nicht die Spur mehr zu finden war, die verschiedenen Instanzen unabhängig voneinander und meist gegeneinander arbeiteten, untergeordnete Stellen sich Entscheidungen an­maßten, die ihnen nicht zustanden, und von einem leitenden Willen keine Rede mehr war. Nirgends hat dieser Zustand sich deutlicher offen­ bart, nirgends hat er schlimmere Folgen gehabt, als nach der Besetzung von ­Livland und Estland. Daß die Verwaltung zunächst ganz in den Händen des Militärs lag, war natürlich; aber ob es so bleiben mußte? Es wurden zwar mit der Zeit auch bürgerliche Beamte eingesetzt, aber sie hatten nicht den bestimmenden Einfluß, die Entscheidung lag bei den Offizieren, und diese, mit den Verhältnissen unbekannt, machten Fehler, besonders zu Anfang, die sich nicht mehr verbessern ließen. So war es schon in Kurland gewesen, wo die Truppe zunächst wie in Feindes­land aufgetreten war. Verordnungen, die selbst gegenüber einer feindseligen und widerspenstigen Bevölkerung wie in Belgien von fragwürdiger Zweckmäßigkeit waren, wirkten hier geradezu grotesk, wie zum Beispiel, daß jeder Offizier auf der Straße von allen gegrüßt werden mußte, so daß selbst ­ä ltere vornehme Damen vor jedem jüngsten Leutnant knixend den Bürgersteig zu räumen hatten; und sonst dergleichen. Das wurde mit der Zeit nicht aufrecht erhalten, aber die Hauptsache war geblieben: daß das Militär nach Gutdünken und Willkür Entscheidungen traf, die oft verkehrt ausfielen, weil man keinen Rat eingeholt oder nicht die richtige Stelle gehört hatte. Wie das auf die

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Deutschen in Kurland gewirkt hatte, war mir in erschütternder Weise entgegengetreten, als im Sommer 1916 der Kurländer Silvio Broedrich auf meine Frage, wie ihm die deutsche Herrschaft behage, die Antwort gab: »Jetzt haben wir Gelegenheit, zu beweisen, daß wir wirklich deutsch fühlen, denn sonst würden wir uns nach der russischen Verwaltung zurücksehnen.«250 Ähnliches hörte man oft und von verschiedenen Seiten; die Verwaltung von »Oberost« hatte keinen guten Ruf, sie arbeitete in verkehrter Richtung, behandelte die Deutschen mit unverdientem Mißtrauen, kam den Letten in ebenso unverdienter Weise entgegen und zeigte sich eigenrichtig und unbelehrbar. So war es in Kurland fast drei Jahre gegangen. Weil ich voraussah, daß es in Livland und Estland nicht anders gehen werde, lehnte ich dankend ab, als Hindenburg mir eine Stelle in der ­Verwaltung des Landes anbot; ich wußte zu gut, daß unter oder neben den befehlsgewohnten Offizieren ein Professor ohne militärischen Rang besten Falles ein fünftes Rad am Wagen sein würde. Ganz so schlimm wie in Kurland ist es in den Nachbarprovinzen doch nicht geworden; die einheimischen Deutschen wurden stärker herangezogen, die gesellschaftlichen Beziehungen gestalteten sich in der angenehmsten Weise, aber das konnte nicht hindern, daß von Anfang an schwere Fehler gemacht und die Gesamtlage gründlich verfahren wurde. Höchst unglücklich wirkte in Estland, daß zur Zeit des Einmarschs ein Teil  der deutschen Gesellschaft und darunter gerade die wichtigste Person, der Ritterschaftshauptmann Baron Dellings­ hausen, nicht zur Stelle waren: sie waren kurz vorher nach Petersburg und ­Sibirien verschleppt worden und kehrten erst nach mehreren Wochen zurück. Ihr Rat fehlte also in der entscheidenden ersten Zeit. An ihrer Stelle gewannen jüngere, unerfahrene und leidenschaftliche Elemente einen Einfluß, der nicht durchweg günstig wirkte. Da rächte sich nun, daß der Einmarsch von Anfang September (Einnahme von Riga)  bis Ende Februar verzögert worden war. In der Zwischenzeit hatte der in Petersburg siegreiche Bolschewismus auch auf Estland und Livland über­ gegriffen, die bisherige Verwaltung weggefegt und ein Schreckensregiment mit Mord und Raub eröffnet. Daß im Waffenstillstand (im Dezember) von deutscher Seite auf die Besetzung des ganzen Landes verzichtet war, hatte diesen Elementen freie Hand gelassen. Zu gleicher Zeit aber hatten auch die gemäßigten Esten und Letten die Möglichkeit gehabt, sich als Vertreter des Landes zu organisieren, eine Regierung war gebildet worden, die sogleich mit dem Anspruch auf Anerkennung auftrat und, als dies abgelehnt wurde, die Führung eines stillen, aber wirksamen Widerstands übernahm. War dadurch das Verhältnis zur estnischen Bevölkerung von vornherein erschwert, so kamen Fehler und Mißgriffe der Besatzung hinzu, die es gründlich verdarben. Von der überwiegenden Masse der Letten und Esten war der Einmarsch zunächst mit Genugtuung, wenn auch ohne lauten Jubel begrüßt worden. Die in der Hauptsache konservativ gesinnten Bauern hatten in den deutschen Trup250 Silvio Broedrich (1870–1952), deutschbaltischer Siedlungspolitiker (NDB 2, S. 628 f.).

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pen die Befreier von der beginnenden Schreckensherrschaft der russischen Revolutionäre gesehen, und auch in den Städten überwog die deutschfreund­ liche Stimmung. Es dauerte kaum drei Tage, so war sie verflogen und begann in das Gegenteil umzuschlagen. Verkehrte Maßregeln, unnötige Strenge, willkürliche Verhaftungen, wobei man die Falschen ergriff, Unschuldige leiden ließ, hatten böses Blut gemacht, heimliche Agitation der Politiker tat das ü ­ brige, ­Esten und Letten zu gemeinsamem Vorgehen mit den Deutschen zu gewinnen, wurde immer schwieriger. Die Deutschen hatten selbst unter manchen Maßregeln von zweifelhafter Zweckmäßigkeit zu leiden, der Reiseverkehr wurde ihnen erschwert  – »Die Eisenbahnvagabondage muß aufhören«, lautete einmal der Bescheid, als eine Vertretung der Deutschen Estlands mit den Liv­ländern wegen öffentlicher Angelegenheiten zusammenzutreffen wünschte. Lettische und estnische Wünsche dagegen wurden oft gar zu zuvorkommend erfüllt, galt es doch, die Massen zu »gewinnen«! »Ich habe eine Bitte: Versöhnen Sie die ­Letten!«, sagte der kommandierende General zum Oberbürgermeister von Riga. Die schlagfertige Antwort lautete: »Darf auch ich eine Bitte aussprechen? Ex­zellenz, verwöhnen Sie die Letten nicht!« Dennoch hätte der heimliche Widerstand nicht die Ausdehnung und Stärke anzunehmen gebraucht, die er im Lauf der Zeit erreichte, ohne zwei Maßregeln, die in ihrer Verkehrtheit allerdings geeignet waren, jede Sympathie für Deutschland bei dem nichtdeutschen Volksteil zu ersticken. Die eine war die Einführung der deutschen Unterrichtssprache in allen Schulen, auch denen der untersten Stufe. Wer für diese Torheit – das war sie – verantwortlich war, ob eine militärische Stelle im Lande, ob eine andere in Berlin, kann ich nicht sagen. Eine Torheit war die Verordnung schon darum, weil sie garnicht durchführbar war, denn woher wollte man auf einen Schlag Hunderte von Elementarlehrern nehmen, die des Deutschen und Estnischen oder Lettischen zugleich mächtig waren? Eine Torheit nicht weniger, weil sie un­ nötig war; die Beherrschung der deutschen Sprache war für die bildungshungrigen und gelehrigen Esten und Letten von so großem Vorteil, daß sie sich zu ihrer Erlernung ohne jeden Zwang aus freien Stücken gedrängt haben würden. Über die Schädlichkeit der Verfügung ist kein Wort zu verlieren; sie bedeutete eine noch nicht dagewesene Herausforderung des sehr lebendigen Nationalgefühls der großen Masse. So weit waren ja nicht einmal die Russen gegangen, die Volksschule von einem Tage zum andern russifizieren zu wollen. Aber der Fehler sollte bald noch übertroffen werden. Schon seit einigen Jahren waren in Livland und Kurland Bestrebungen unter den deutschen Gutsbesitzern im Gange, deutsche Bauern aus Rußland von der Wolga und aus Wolhynien auf ihren Gütern anzusiedeln. Von der russischen Regierung ungern gesehen, wären sie mit der Zeit sicher unterbunden worden. Jetzt eröffneten sich für eine deutsche Kolonisation großen Stiles die besten Aussichten. Land war im Überfluß vorhanden, wenn die Rittergutsbesitzer einen Bruchteil ihrer in Kurland und Livland oft viel zu großen Herrschaften hergaben. Aber die ­Sache mußte mit Bedacht und möglichst geräuschlos gemacht werden,

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wenn die nationalen Gefühle der einheimischen Bauern nicht aufs schwerste gereizt werden sollten. Statt dessen bemächtigte sich die Gesellschaft für Boden­ reform des Gedankens, Adolf Damaschke bereiste persönlich das Land und entfaltete mit seiner unwiderstehlichen Beredsamkeit in der Öffentlichkeit und an den maßgebenden Stellen eine lebhafte Werbetätigkeit.251 Eigentlich lag für ihn und die Bodenreform nicht der geringste Anlaß vor, sich für den Plan zu er­ hitzen, denn die Ostseeprovinzen waren eines der wenigen Länder Europas, wo es keine ­Spekulation in Grundstücken gab. Aber welch vortreffliche Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen und sichtbare Erfolge zu erringen war es, wenn man darauf hinwies, es gelte nachzuholen, was im Mittelalter versäumt war, dem Lande eine deutsche Bauernschaft zu geben und es auf diesem Wege in kurzer Zeit ganz zu germanisieren. Andere Vortragsredner und Schriftsteller sprachen laut von der »Eindeutschung« der undeutschen Bevölkerung als dem möglichst bald zu erreichenden Ziel. Den vereinten Bemühungen gelang es, die Oberste Heeres­leitung so weit dafür zu erwärmen, daß sie, wie einst die römischen Trium­v irn, die Hergabe eines bestimmten Bruchteils von jedem größeren Ort zur Ausstattung deutscher Soldaten nach dem Kriege kategorisch forderte. Ablehnen konnte man das nicht, entsprechende Beschlüsse wurden also gefaßt, aber wie die Maßregel nach allem, was vorher gesprochen und geschrieben war, auf ­Esten und Letten wirken mußte, kann man sich leicht denken. Das Befremdlichste dabei war, daß diese Beschlüsse und Verordnungen der Antwort auf die Frage vorgriffen, was aus dem Lande werden sollte. Sollte es Deutschland einverleibt, sollte es selbständig werden oder bei Rußland bleiben? Im Friedensvertrag von Brest-Litowsk (4. März) war  – horribile dictu  – diese Frage offen gelassen oder vielmehr in so zweideutiger Art behandelt, daß man sowohl die Lostrennung von Rußland wie die Fortdauer der russischen Staatsangehörigkeit herauslesen konnte. Beides ist wirklich geschehen. Ich irre mich schwerlich, wenn ich in dieser unerhörten Pfuscherei die Hand des Herrn von Kriege erkenne, dem Kühlmann nur zu gern die Arbeit überließ, die seine Sache gewesen wäre. Zunächst, so lautete die Bestimmung, hatte die deutsche Besatzung nur die Aufgabe der Polizei, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Es hat langer Verhandlungen bedurft, bis in einem Zusatzvertrag (27. August) der förm­ liche Verzicht Rußlands auf alle Rechte erreicht wurde. Aber auch dann war noch nicht über die künftige staatsrechtliche Stellung des Landes entschieden. Die Sprachenverordnung wie der Kolonisa­tions­ plan hatten nur dann Sinn und Berechtigung, wenn das Land in irgend einer Form dem deutschen Reich angegliedert und dieses die beherrschende Macht wurde; aber ob und in welcher Gestalt das geschehen sollte, darüber waren die An­sichten geteilt. Im Lande überwog bei den Deutschen der Wunsch nach möglichst engem Anschluß an das Reich, der auch in estnischen und let­ tischen Kreisen Anhänger hatte. Einfache Annexion kam nicht in Frage, weil 251 Adolf Damaschke (1865–1935), deutscher Sozialpolitiker und Volkspädagoge, 1898–1935 Vorsitzender des Bundes Deutscher Bodenreform (NDB 3, S. 497 f.).

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sie in Deutschland aus verschiedenen Gründen auf Widerspruch gestoßen wäre. Scheuten die einen, eingedenk der Schwierigkeiten mit Elsaß-Lothringern, Dänen und Polen, jede Belastung mit weiterer fremdsprachiger Bevölkerung, die sich nur widerwillig dem Reichsverband einfügen würde, so sträubten sich andere gegen Vermehrung des aristokratischen und konservativen Elements durch Aufnahme der baltischen Deutschen. In beiden Fällen waren die Besorgnisse übertrieben, sie beruhten auf falschen Vorstellungen von dem zahlenmäßigen Gewicht der in Betracht kommenden Gruppen, die man sich bedeutender dachte, als sie waren; aber sie waren da und fanden im Reichstag, in den Parteien der Linken eine Vertretung, mit der gerechnet werden mußte. Auch war der Reichstag gebunden durch seinen Beschluß vom Juli 1917 für einen Frieden ohne Annexionen. Aber auch im Lande selbst hatte man Grund, die einfache Einverleibung abzulehnen, weil die Übertragung reichsdeutscher Gesetze und Rechtsordnungen auf die so ganz anders gearteten örtlichen Verhältnisse kaum möglich war, und die Zuständigkeit des deutschen Reichstags mit seinen ungesunden Parteiverhältnissen alles eher als erwünscht erschien. Man war darum schon früh, im Herbst 1917, darauf verfallen, aus den drei Provinzen einen Staat zu bilden, der dem Deutschen Reich nur durch sein Oberhaupt verbunden wäre, als das man sich den deutschen Kaiser oder vielmehr den­ König von Preußen dachte. Der Plan fand auch bei Esten und Letten Anklang, die B ­ esatzungsmacht billigte ihn, und Ende April 1918 wurde eine Abordnung, an der auch estnische und lettische Vertreter teilnahmen, vom Kaiser empfangen, der sich die Antwort vorbehielt. Er hatte allerdings besondere Gründe zur Vorsicht. Es handelt sich da um Dinge, die im 20. Jahrhundert und innerhalb des seit nahezu fünfzig Jahren bestehenden, angeblich geeinten Deutschen Reiches unmöglich scheinen könnten und die doch Tatsache sind. Eine Vergrößerung der Macht des Königs von Preußen weckte bei andern Fürstenhäusern Eifersucht. Schon die dynastischen Absichten auf Polen – wo übrigens das Haus Österreich gleichfalls Ansprüche erhob – und noch früher die elsäßische Frage hatten die gleiche Wirkung gehabt. Daß es in Elsaß-Lothringen nicht bei dem bisherigen Zustand bleiben dürfe, hatte sich während des Krieges gezeigt. Die Fehler, die seit der Eroberung des Landes begangen waren, angefangen von der Schaffung eines Reichslands, das zum ersten Mal in der Geschichte das Elsaß zu einer politischen Einheit erhob, dadurch und vollends durch seine Verkoppelung mit dem französischen Lothringen die deutsch fühlende Bevölkerung des Unterelsaß der französisch orientierten Mehrheit auslieferte, dann die Mißgeburt einer Reichsverwaltung, die dem Lande den Charakter eines Staates, eine Volksvertretung und Organe der Selbstverwaltung verlieh, es aber gleichzeitig in dauernder Unmündigkeit erhielt, waren zu deutlich hervorgetreten, um übersehen zu werden. Pläne mannigfacher Art tauchten auf. Nur nebenbei, und um die Blindheit zu brand­marken, mit der die Bureaukratie dem Problem gegenüberstand, sei die Verleihung des Geheimratstitels an die zehn ältesten Professoren der Straßburger Universität erwähnt, durch die man die Elsäßer zu »gewinnen« glaubte.

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Man sprach von Aufteilung unter die benachbarten Staaten, auch von Einver­ leibung des Ganzen an Preußen. Das stieß auf Widerspruch bei Bayern, wo die Wünsche, die schon 1870 laut geworden waren, wieder auflebten: Bayern verlangte seinen Lohn für die im Kriege gebrachten Opfer, es gab ernsthafte bayerische Politiker, die ganz ElsaßLothringen zu fordern sich nicht scheuten. Der Reichsrat Franz von Buhl hat sich mir gegenüber in diesem Sinn geäußert, und Bethmann-Hollweg glaubte dem entgegenkommen zu müssen.252 Wie weit er zu gehen gedachte, habe ich nicht herausgebracht, aber daß es sich um Vergrößerung Bayerns mindestens durch Teile des Elsaß gehandelt hat, steht fest. Es war im Juli 1917, nicht lange vor seinem Sturz, daß er deswegen persönlich nach München fuhr und von dort kommend in Stuttgart erwartet wurde. Ich sah am Tage vorher den Ministerpräsidenten von Weizsäcker, der mir in ziemlicher Erregung davon sprach und mich um meine Ansicht befragte. Ich erwiderte ihm, man scheine sich um ein Jahrhundert zu irren: solche Fragen hatten ins Jahr 1814 und auf den Wiener Kongreß gepaßt, aber nicht ins Jahr 1917. Er sah mich befremdet an und polterte los: »Und ich erkläre, daß ich keine Stunde länger in diesem Zimmer bleibe, wenn es dazu kommt; denn ich kann es vor meinen Württembergern nicht ­verantworten, daß sie heimkehrend ihr Land als Kleinstaat wiederfinden.« So stark war selbst in diesem sonst so gescheiten Herrn der schwäbische Partikularismus! Von anderer Seite habe ich gehört, was ich aber nicht verbürgen kann, er habe bei der Verhandlung mit dem Reichskanzler für den Fall der Vergrößerung Bayerns für Württemberg Kompensationen gefordert, und zwar sprach man von Pforzheim und dem badischen Seekreis, was dann natürlich Entschädigungen für Baden nötig gemacht haben würde. Auch Sachsen soll  – wohl in Erinnerung daran, daß einmal sächsische Kurfürsten in Polen ­regiert hatten  – territoriale Kompensationen und sogar Hamburg die Einver­ leibung von Altona verlangt haben. Geschehen im Jahre des Herrn 1917. Was hätte es erst für Lärm gegeben, wenn der König von Preußen Herzog von Est-, Liv- und Kurland geworden wäre! Begreiflich genug, daß der Kaiser Bedenken trug, die dreifache Herzogskrone sich aufs Haupt zu setzen. Und übrigens war ja die Lostrennung des Landes von Rußland noch nicht einmal in unzweideutiger Form a­ usgesprochen. Während nun die Diplomaten daran arbeiteten, die Russen zum ausdrücklichen Verzicht zu bewegen, was ihnen erst am 27.  August endlich gelang  – die Verhandlung führte der uns schon bekannte Herr von Kriege –, und während die Besatzungsmacht im Lande ihre Fehler zu machen fortfuhr, benutzten estnische und let­ tische Politiker in aller Stille die Zeit, in ihrem Volk gegen Deutschland zu wühlen und die Bildung von zwei unabhängigen Republiken, einer estnischen und einer lettischen, vorzubereiten. Vom Ausland her waren sie gut unterrichtet, über die Kriegslage sahen sie klarer als weite Kreise in Deutschland selbst und 252 Franz von Buhl (1867–1921), deutscher Politiker, seit 1907 Mitglied des bayerischen Landtags, seit 1912 der Kammer der Reichsräte (DBA III, 128, S. 10).

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noch mehr unter den baltischen Deutschen. Diese schwelgten in der Aussicht auf Erfüllung ihrer heißesten Wünsche und glaubten einer frohen und sicheren Zukunft entgegen zu gehen, worin sie durch entsprechende Festreden deutscher Generäle und zahlreicher Besucher aus dem Reich bestärkt wurden. Am meisten wirkte dazu eine Maßregel wie die Wiedereröffnung der deutschen Universität Dorpat, die am 15. September auf Befehl des Kaisers erfolgte, zu einer Zeit, wo niemand, der Augen hatte, zu sehen, an dem unglücklichen Ausgang des Krieges mehr zweifeln konnte. Noch heute, wo wir doch so viel Schreckliches erlebt haben, womit, was 1918 geschah, sich kaum vergleichen läßt, erneut sich in in der Erinnerung die heimliche Qual, mit der ich den Vorgängen aus der Ferne folgte, wenn ich die Berichte las von der stürmischen Begeisterung, mit der die einziehenden deutschen Truppen empfangen wurden; wie der neunzigjährige Landrat Konrad von Anrep, in dessen Hause ich als Lehrer seines Sohnes eines der schönsten Jahre meines Lebens verbracht hatte, auf das Trittbrett des Wagens des Generals springend unter strömenden Tränen seiner Freude, das noch zu erleben, Ausdruck gegeben hatte, und die Einwohner der Stadt Dorpat, auf dem Marktplatz zusammengeströmt, die Soldaten umringt und den Choral »Nun danket alle Gott« angestimmt hatten.253 Wie gut verstand ich die Gefühle der Leute, wie gerne hätte ich sie ohne Vorbehalt geteilt, und mußte mir doch sagen, daß je größer die Freude, desto bitterer die Enttäuschung sein werde, die ich von Anfang an, zuerst unbestimmt ahnend, dann immer deutlicher kommen sah. Es waren schwere Wochen und Monate. Die Pflicht gebot, zu verschweigen, was man dachte, nicht auszusprechen, was man zu wissen glaubte: daß der Krieg ­bereits verloren, das Eingeständnis nur noch eine Frage der Zeit, vielleicht kurzer Zeit, der Zusammenbruch des Reiches die unausbleibliche Folge und damit auch das Schicksal der alten Heimat besiegelt sei. Die Befreiung des Landes war zu spät gekommen, und die kurze Zeit der deutschen Besetzung hatte nicht ausgenützt werden können, um für die Zukunft auch im ungünstigsten Fall Vorsorge zu treffen. Man muß in den schon erwähnten Erinnerungen Baron Dellingshausens die Kapitel selbst lesen, die von den langwierigen, mühsamen und schwierigen Verhandlungen um die künftige Verfassung des Landes handeln. Ich glaube, kein Unbefangener wird den leitenden Männern der deutsch-baltischen Gesellschaft das Zeugnis verweigern, daß sie mit ebenso viel Festigkeit und Mut wie Hingebung und Klugheit diese Probe auf ihre staatsmännischen Fähigkeiten bestanden haben. Sie war nicht leicht. Mannigfaltig waren ihre Pläne und Wünsche in den eigenen Reihen, die verschiedenen Köpfe schwer unter einen Hut zu bringen, noch größer die Uneinigkeit und das Ungeschick auf der Seite der deutschen Behörden. Zwischen diesen Klippen hindurchzulavieren, war keine geringe Leistung der Staatsklugheit und des diplomatischen Taktes. Daß das Ziel erreicht wurde, war wesentlich das Verdienst Dellingshausens, das in seiner eigenen Darstel253 Konrad von Anrep (1839–1924), deutschbaltischer Landespolitiker (BBL, S. 14).

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lung zwischen den Zeilen gesucht werden muß, weil er in der vornehmen Bescheidenheit, die wir schon als Dorpater Studenten an ihm kannten, die eigene Rolle hervortreten zu lassen vermeidet. Beschlossen wurde im Einvernehmen mit dem besonnenen Teil der Esten und Letten ein baltischer Einheitsstaat auf der Grundlage der Gleichberechtigung aller drei Nationalitäten, unter einem Herzog als konstitutionellem Fürsten, einer Würde, für die, nachdem der Kaiser abgelehnt hatte, in der Person des Herzogs Adolf Friedrich von Mecklenburg der geeignete Träger bereits gefunden war.254 Es kam zu spät. Kostbare Zeit war verloren gegangen durch die Schuld der deutschen Behörden, der zivilen wie der militärischen, die in wahrhaft babylo­ni­ scher Sprachverwirrung gegeneinander arbeiteten und die Entscheidung durch Wochen und Monate verzögerten. So groß war der Mangel an Einheit und Führung, daß sowohl in den Reichsministerien wie innerhalb der militärischen Stellen die Ansichten und Absichten einander widersprachen. Während das Reich für die baltische Unabhängigkeit arbeitete, vertrat sein Gesandter in Riga, der große Staatsmann von Kemnitz mexikanischen Andenkens, wie er selbst in seinen Erinnerungen bekennt, die Auffassung, daß Estland und ­Nordlivland den Russen zu überlassen seien.255 Sogar innerhalb des Generalkommandos in Riga waren die Meinungen geteilt. Dort hatte der Leiter der Operationsabteilung des Stabes (Ia), Major Günther Frantz, durch großen Arbeitseifer einen ­Einfluß erlangt, der ihm erlaubte, alle wichtigen Angelegenheiten an sich zu ziehen.256 Auch in der Frage der baltischen Verfassung hatte er verstanden, seine persönliche Ansicht gegen seine Vorgesetzten, den General und den Stabschef, zur Geltung zu bringen, zum Schaden des Landes. Auf sein Betreiben wurde die Ablehnung der Herzogswürde durch den Kaiser, die am 22.  September  – spät genug! – erfolgt war, bis zum 17. Oktober, also dreieinhalb Wochen, den nächst beteiligten Stellen im Lande verheimlicht und auch später nicht öffentlich bekannt gemacht, was die Arbeit für die Verfassung in empfindlichster Weise aufhielt. Dellingshausen hat hier in der gedruckten Fassung seiner Erinnerungen die Rolle des Majors verschleiert. Im Manuskript, das ich gelesen habe, war sie deutlich hervorgehoben. Aber noch schlimmer hat das Eingreifen dieses Offiziers in einer andern Frage gewirkt. Es lag auf der Hand, daß der unabhängige Staat auch eine eigene Wehrmacht haben mußte. Schon früh hatte man darum an die Schaffung einer Freiwilligentruppe zum augenblicklichen Schutz und als Kern des künftigen Landesheeres gedacht. Etwa 30.000 Mann glaubte man aus der deutschen Jugend und zuverlässigen estnischen und lettischen Bauernsöhnen aufstellen zu können, Waf254 Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg (1873–1969), deutscher Diplomat, 1912–1914 Gouverneur der deutschen Kolonie Togo, 1949–1951 Präsident des Nationalen Olym­ pischen Komitees für Deutschland (DBA III, 609, S. 436). 255 Nicht nachweisbar; offenbar sind die Erinnerungen ungedruckt geblieben. 256 Günther Frantz, Chef des Stabes der 8. Armee. Vgl. dazu und für das Folgende Eduard von Dellingshausen: Im Dienste der Heimat! Erinnerungen (Schriften des Deutschen Auslands-Instituts Stuttgart D 3), Stuttgart 1930, S. 265, 268, 271 und 286.

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fen und Offiziere sollte die deutsche Besatzung liefern. Major Frantz lehnte ab: »Was soll die Soldatenspielerei? Wir haben Truppen genug im Lande.« Seinem Einfluß war es zuzuschreiben, daß noch im letzten Augenblick, als die Gefahr eines bolschewistischen Einbruchs bereits dringend geworden war, den deutschen Soldaten verboten wurde, in das zu bildende baltische Freiwilligenkorps, die »Eiserne Division«, einzutreten. Mit Mühe nur wurde die Zurücknahme dieser unbegreiflichen Maßregel erwirkt – zu spät! Im selben Augenblick, wo am 9.  November im Ritterhaus zu Riga die Verfassung des Herzogtums Liv-, Est- und Kurland beschlossen wurde, brach in Deutschland die Revolution aus, die Besatzungstruppe, die 8. Armee, löste sich auf. Machtlos, wehrlos und schutzlos stand der neugeborene Staat den revolutionären Elementen, den emporschießenden nationalen Republiken Estland und Lettland einerseits, dem Ansturm der russischen Bolschewisten andererseits gegenüber. Die Folgen sind nur zu bekannt. Über einen großen Teil der baltischen Deutschen brach das Schicksal herein, ihres Eigentums beraubt, ihr Leben nur durch die Flucht aus dem Lande retten zu können, in dem ein dürftiger Rest der einst so blühenden deutschen Kolonie, der Willkür ihrer früheren Diener preis­ gegeben, eine blasse Erinnerung an die Vergangenheit lebendig zu erhalten sich bemühte, an Zeiten, in denen dieses Land dem Deutschtum gehört hatte. Daß es so nicht gekommen wäre, hätte es im entscheidenden Augenblick einen baltischen Staat mit eigener Wehrmacht gegeben, wird kaum zu bezweifeln sein. Auch die weitere Entwicklung der Dinge hätte dann zunächst ein anders Bild gezeigt, wäre die Gründung dieses Staates rechtzeitig erfolgt, und nicht erst, als es zu spät war; hätten die Bemühungen der örtlichen Kräfte bei den deutschen Reichsbehörden, bürgerlichen wie militärischen, anstatt verständnisvoller Unterstützung nicht immer neue Widerstände und Hemmungen gefunden. Dann wäre auch das Unglaubliche nicht geschehen, daß die Kommandierenden der deutschen 8. Armee Waffen und Vorräte an die revolutionären Regierungen von Estland und Lettland auslieferten, womit sie den Strick drehten, mit dem das baltische Deutschtum gehängt wurde. Die eine Tatsache würde genügen, das Urteil noch als zu milde erscheinen zu lassen, das Dellingshausen am Schluß seiner Erinnerungen ausspricht: »Jeder edeldenkende Deutsche empfand es lebhaft, daß die während der Okkupationszeit verfolgte Politik unser baltisches Deutschtum an den Rand des Grabes geführt hatte.«257 Ob der geplante unabhängige baltische Staat sich behauptet haben würde, wäre er nicht schon in der Geburt erstickt worden, wer will das sagen? Die Wahrscheinlichkeit ist ja nicht groß, das dem kleinen Lande mit seiner dünnen 257 Eduard von Dellingshausen: Im Dienste der Heimat! Erinnerungen (Schriften des Deutschen Auslands-Instituts Stuttgart D 3), Stuttgart 1930, S.  302. Haller zitiert aus dem­ Gedächtnis; der Originalsatz lautet: »Jeder edeldenkende Vertreter Deutschlands empfand es lebhaft, daß die während der Okkupationszeit verfolgte Politik unser baltisches Deutschtum an den Rand des Grabes geführt hatte; um so mehr erkannten diese Männer es an, daß wir unentwegt am Deutschtum festhielten.«

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und dreifach gemischten Bevölkerung ein langes Leben beschieden gewesen wäre inmitten der großen Mächte, die dem Lauf der Ereignisse die Richtung gaben, und an einer Stelle, wo ihre Gegensätze auf einander prallen mußten. Fraglich ist auch, ob die 700jährige Geschichte des Landes ein weniger katastrophales Ende gefunden haben würde, hätte das Schicksal es der Mühe wert gehalten, ihr noch ein letztes Kapitel anzuhängen, das vom Versuch zu selbständigem staatlich geeintem Leben erzählte. Statt dem unfruchtbaren Gedanken nachzuhängen, was wohl hätte geschehen können, will ich lieber an die Worte erinnern, mit denen der Chef der Zivilverwaltung, Herr von Goßler, von dem Lande Abschied nahm, das er in seiner nur zu kurzem amtlichen Tätigkeit kennen und lieben gelernt hatte.258 Er schreibt: »Kein Land, kein Volk hat wohl je in der Geschichte ein so prüfungsvolles Schicksal gehabt. Fast in jedem Jahrhundert blutige Kriege, verwüstete Fluren, ausgestorbene Familien. Ein Wunder an deutscher Kraft und Zähigkeit, daß das deutsche Reis nicht längst verdorrt war, sondern immer neue lebenskräftige Blüten trieb.« Von der damals lebenden baltischen Generation aber urteilt derselbe Herr von Goßler: »Wer die Balten kennen gelernt hat, der wird so manches Mal in diesen Tagen deutscher Erniedrigung heiße Sehnsucht haben nach jenen Männern und Frauen, die nicht nur deutsch waren bis ins Innerste ihres Herzens, sondern die auch jederzeit den Mut besessen haben, für ihr Deutschtum einzutreten mit Leib und Seele, mit Gut und Blut.« Ehre dem Lande, dem solche Worte in sein Grab nach­gerufen werden dürfen! Daß es für immer aus sei mit dem, was man baltisches Deutschtum nannte, haben damals nicht alle einsehen wollen. Sie glaubten an die Möglichkeit einer Auferstehung und bestrebten sich, die alten Überlieferungen lebendig zu erhalten bis zu dem Tage, wo ein wiedererstandenes Deutschland, anknüpfend an sie, der alten Kolonie eine neue Zukunft eröffnen würde. Ich habe diesen Traum niemals mitgeträumt. Mir war es schon damals klar, daß, wie immer die Dinge künftig laufen mochten, die Geschichte des baltischen Deutschtums zu Ende sei. Ich glaubte zu wissen, daß für eine soziale Bildung, wie sie das Baltentum darstellte, dieses letzte Stück der aristokratischen Welt des Ancien Régime, in der Zukunft, mochte sie aussehen, wie sie wollte, kein Platz mehr sein würde, und ich erwartete am wenigsten von Deutschland, daß es zur Restauration von Zuständen und Einrichtungen, die ihm selbst fremd geworden waren, die Hand bieten würde, selbst wenn es konnte. Seitdem hat die Geschichte in einer Kette von Ereignissen, wie die kühnste Phantasie sie nicht hätte ersinnen können, mir mehr als recht gegeben. Deutschland ist selbst untergegangen, nachdem es noch einmal für kurze Zeit seine Hand auf das baltische Land gelegt hatte, ohne an eine Wiederherstellung früherer Verhältnisse auch nur von ferne zu denken. Die 258 Alfred von Goßler (1867–1946), deutscher Politiker, 1908–1918 Mitglied des Abgeordne­ten­ hauses für die Deutschkonservative Partei, 1915–1918 Reichstagsabgeordneter, 1915–1918 Verwaltungschef für die baltischen Provinzen (NDB 6, S. 650). Goßlers ungedruckte Lebenserinnerungen befinden sich in seinem Nachlass im Bundesarchiv Freiburg.

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gründliche Auslöschung des historischen Baltentums durch Rückführung seiner Trümmer ins Deutsche Reich im Jahre 1939 habe ich denn auch zwar mit Wehmut, aber nicht mit dem gleichen brennenden Schmerz wie die meisten mitangesehen. J’en avait déjà fait mon deuil – für mich war die Heimat schon 1918 gestorben.259 Ich habe ihrem Sterben auf den vorausgegangenen Blättern soviel Beachtung geschenkt, weil es so lehrreich ist für den Zustand, in den das Reich geraten war, bevor es selbst zusammenbrach. Darum darf ein Zug in dem Bilde nicht übergangen werden, der besser als alles andere zeigte, wohin es mit dem, was man in Deutschland Regierung nannte, schon gekommen war, als es dem Namen nach noch einen deutschen Kaiser gab. In den Wochen, die dem Zusammenbruch ­vorausgingen, während die örtlichen Kräfte ihr Möglichstes für eine Ordnung der Dinge taten, die dem Deutschtum ein ferneres Leben und womöglich die Führung im Lande sicherten, erschien ein demokratischer Politiker aus dem Reich, um den Esten und Letten bei der Errichtung ihrer nationalen Republiken behilflich zu sein. Er hieß von Schultze-Gävernitz, war Professor der Nationalökonomie in Karlsruhe an der Technischen Hochschule und einer jener geistigen und politischen Gecken, denen man unter den Intellektuellen der deutschen Demokratie öfters begegnete.260 Ein Versuch der baltischen Vertreter, ihm durch Vermittlung von Reichskanzler und Auswärtigem Amt das Handwerk zu legen, was durch Entziehung des Reisepasses leicht zu erreichen gewesen wäre, brachte die überraschende Tatsache ans Licht, daß er vom Reichsjustizministerium beauftragt war. Ob der damalige Vorstand dieses Ministeriums darum gewußt, und ob er die Tragweite des Auftrags übersehen hat, kann ich nicht sagen. Es war der Zentrumspolitiker Justizrat Trimborn aus Köln, von dem in jenen Tagen ein aufschlußreiches geflügeltes Wort über die bevorstehende Revolution umging; es lautete in der heimischen Mundart seines Urhebers: »Kütt se, so kütt se, und wenn se kütt, so hemmer’s nich jedohn.«261 Wer damals so sprechen konnte, dem ist viel zuzutrauen. Ich schließe hiermit das Kapitel, das vom Ende meiner Heimat handelt. Es sollte nur eine Szene aus der Tragödie Deutschlands sein, die dieses traurige Schauspiel so scharf beleuchtet zeigt, daß man über seine Ursachen nicht im Zweifel sein kann. Ein Reich, in dem solche Dinge möglich waren, in dem sie an der Tagesordnung waren, konnte sich im harten Kampf ums Dasein nicht 259 Ich habe meine Trauer bereits verarbeitet (französisch). Vgl. zu diesem Zusammenhang Benjamin Hasselhorn (Bearb.)/Christian Kleinert (Vorarb.): Johannes Haller (1865–1947). Briefe eines Historikers (Deutsche Geschichtsquellen des 19.  und 20.  Jahrhunderts 71), München 2014, Nr. 310, S. 526 f. 260 Gerhard von Schultze-Gävernitz (1864–1943), deutscher Nationalökonom, 1893–1923 Professor in Freiburg i. Br., 1912–1918 Reichstagsabgeordneter der Fortschrittlichen Volks­ partei (NDB 23, S. 722 f.). 261 Karl Trimborn (1854–1921), deutscher Politiker, seit 1896 Reichstagsabgeordneter der Zentrumspartei, Staatssekretär im Kabinett des Reichskanzlers Max von Baden (DBA III, 929, S. 30).

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behaupten, sein Untergang war unabwendbar, und man könnte nicht sagen, er sei ehrenvoll gewesen. Der Kreis hat sich geschlossen, meine Erzählung ist, dem Gange der Ereignisse folgend, an den Ort zurückgekehrt, von dem sie ausging; ich könnte also füglich die Feder aus der Hand legen. Denn es ist nicht meine Absicht gewesen, von den Zeiten zu sprechen, die auf Deutschlands Zusammenbruch folgten. Was ich von ihnen sagen könnte, ist zu bruchstückhaft und von zu geringem Belang, um andere zu fesseln und die Pein aufzuwiegen, die für mich selbst mit dem Verweilen bei so unerfreulichen Erinnerungen verbunden wäre. Die faits et gestes dessen, was sich als demokratische deutsche Republik an die Stelle von Kaiser und Reich gesetzt hatte, sind für mich kein Gegenstand eingehender Beobachtung gewesen, ich folgte ihnen nur aus der Ferne, höchstens dann und wann, wenn Zorn und Ekel mir in die Kehle stiegen, meinen Empfindungen in einem Zeitungsaufsatz Luft machend. Wohin dieser verfehlte Versuch führen würde, glaubte ich vom ersten Tage an zu wissen, nur die Form, in die sich der unvermeidliche Bankrott kleiden würde, war ungewiß. Mit den Kreisen, die von der Niederlage profitierend, die Macht an sich rissen, und sich einbildeten, die deutsche Geschichte zu machen, hatte ich nichts gemein, und was ich von ihnen sah und hin und wieder erfuhr, war so wenig geeignet, regere Teilnahme zu wecken, daß ich mich nicht bequemen mochte, Fühlung mit ihnen zu suchen, was nicht schwer gewesen wäre. Den Versuchen ihrer Gegner, mich in ihre Reihen zu ziehen – sie gingen einmal bis zum Angebot eines Sitzes im Reichstag – habe ich leicht zu widerstehen vermocht, da ich mir nicht verhehlen konnte, daß auch von dieser Seite nichts Gutes zu erwarten war. So kann ich mir denn ebenso wenig ein Recht zubilligen wie ich Neigung empfinde über das, was da geschah und nicht geschah, zu reden. Nur über den Zusammenbruch selbst und wie ich ihn erlebte, seien mir noch ein paar Worte zu sagen erlaubt. Ich hatte ihn kommen sehen; seit dem Juli 1918, als der deutsche Angriff in der Champagne fehlgeschlagen war, zeichnete sich mir schon das Bild der nahenden Ereignisse, zunächst in verschwommenen Umrissen, aber nicht mehr verkennbar ab. Die Entscheidung war gefallen, der Krieg für Deutschland verloren. Der 8.  August, der die erste schwere Niederlage brachte, beseitigte jeden Zweifel. Er brachte aber noch etwas mehr: die Art, wie der Heeresbericht die Tatsache eingestand, zum ersten Mal ohne jede Beschönigung, mit ungeschminktem Lakonismus,  – »Der Feind ist in unsere Stellungen eingedrungen« –, verriet jedem, der sehen wollte, daß die Oberste Heeresleitung das Spiel verloren gab. Ludendorff hat ja später selbst eingestanden, daß dieser Tag ihm die letzte Hoffnung auf eine glückliche Beendigung des Krieges zerstört habe.262 Was das bedeutete, war für niemand, der die Entwicklung der Dinge in Deutschland seit mehr als einem Jahr beobachtet hatte, ein Geheimnis: auf die Niederlage im Felde mußte unweigerlich die Revolution in der Heimat folgen. 262 Vgl. Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1919, S.  547: »Der 8. August [1918] ist der schwarze Tag des deutschen Heeres in der Geschichte dieses Krieges.«

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Längst schon hatte sie sich angekündigt, die Vorbereitungen zu ihr nahmen ihren Fortgang, nicht im Verborgenen, nein, vor aller Augen, am hellichten Tage, in der Presse, in Versammlungen und Reden, von niemand gehindert noch gestört. Ungescheut, mit wachsender Dreistigkeit erhob alles, was Gegner der Schöpfung Bismarcks war, sein Haupt: Sozialdemokratie und Demokratie, Zentrum und Partikularismus, bemühten sich nicht mehr, zu verbergen, daß für sie mit dem Verlust des Krieges die große Gelegenheit gekommen sei. Der erste Schritt dazu sollte die Verdrängung des Kaisers sein. Sie wurde für Vorbedingung der Be­endigung des Kriegs ausgegeben. Inwiefern sie den Frieden erleichtern sollte, war zwar schwer einzusehen, denn daß Wilhelm II. tatsächlich von allen in Betracht kommenden Faktoren am wenigsten bedeutete, konnte man eigentlich wissen, nachdem er, wie immer seine Art gewesen, Schritt vor Schritt zurückgewichen war, nirgends Widerstand versuchend, jede angegriffene Position räumend. Es kann sich also nur um einen Vorwand gehandelt haben, und der eigentliche Zweck war die Beseitigung des preußischen Königtums. Mir scheint auch, daß eine geheime Verständigung mit den Feinden vorgelegen haben muß, da von ihnen sehr bald darauf das Verschwinden Wilhelms II. und des preußischen Königtums zur Vorbedingung der Friedensverhandlungen gemacht wurde. Von diesen Bestrebungen waren Andeutungen schon in die Öffentlichkeit gedrungen, als ich die Bestätigung durch einen Brief Max Webers erhielt, der mich aufforderte, daran Teil zu nehmen.263 Sein Zweck war wohl, in die konservativen und national gesinnten Kreise, auf die er mir einen Einfluß zuschrieb, den ich nicht besaß, Uneinigkeit und Verwirrung zu tragen. Ich bedaure, ihm da­ rauf nicht so geantwortet zu haben, wie er es verdiente. Achtung vor seiner wissenschaftlichen Bedeutung und Erinnerung an frühere persönliche Beziehungen bewogen mich zu ungerechtfertigter Nachsicht, sodaß meine Antwort allzu rücksichtsvoll ausfiel. Er erwiderte maß- und würdelos, wie es seine Art war, mit beleidigenden Anwürfen, worauf ich stillschweigend die Beziehungen abbrach. Daß dieser Mann, bisher außerhalb der Wissenschaft nur als sozialpolitischer Parteiredner bekannt, in der praktischen Politik eine Rolle zu spielen anfangen konnte, gehört zu den Zeichen der Zeit. Bei unleugbar hoher Begabung war er von jeher das Opfer eines allzu heißen Temperamentes (französische Abstammung?) gewesen, das sich durch übermäßigen Alkoholgenuß bis zu völliger Unbeherrschtheit gesteigert hatte. Seine Biographie, von der Witwe verfaßt, verschleiert vieles und läßt das Wichtigste ungesagt.264 Begreiflich genug; sie kann ja nicht gestehen, daß ihr Mann periodischem Alkoholismus, und infolge davon einer hochgradigen Zerrüttung des Nervensystems verfallen war. Also alles in allem eine der pathologischen Erscheinungen, wie sie bei jeder Revolution in vorderer Reihe auftreten. Als Gelehrter hat Weber durch ausgedehntes und vielseitiges Wissen und selbständige Gedanken mancherlei Anregung gegeben, 263 Zum Verhältnis zwischen Haller und Max Weber vgl. Johannes Haller: Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960, S. 82. 264 Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926.

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seine politischen Schriften brachten weder Neues noch Eigentümliches. Nachdem er sich vom Kreuzzeitungsmann bis in die nächste Nach­barschaft der Sozialdemokraten gewandelt hatte, bekannte er sich rücksichtslos zur parlamentarischen Staatsform, in der er auch für Deutschland das Heil ­sehen wollte, ohne ihre Unzulänglichkeit, das Mißverstehen des englischen Vorbildes zu durchschauen und ohne ihr handgreifliches Versagen in andern Ländern zu bemerken. So ist er zwar ein beredter Zeuge für eine zu seiner Zeit noch verbreitete Denkweise, aber auch wie diese gegenüber einer nach Neuem drängenden Zukunft, der sie nichts zu sagen hat, unfruchtbar. Sein Name, einst bei den ­Gesinnungsgenossen als Orakel gefeiert, ist heute schon nur noch den Älteren bekannt, bei der jungen Generation so gut wie vergessen, und das mit Recht. Daß die Revolution siegen werde, habe ich keinen Augenblick bezweifelt, nicht etwa weil ein unwiderstehliches Bedürfnis des Volkes sich in ihr Bahn zu brechen suchte, sondern weil es an jeder ernsthaften Abwehr fehlte. Ich war damals wie früher und bin auch heute mehr denn je der Überzeugung, daß eine Revolution in Deutschland nicht zu fürchten war, wenn die Regierung nur die ihr zur Verfügung stehenden Machtmittel entschlossen anzuwenden verstand. Aber daran fehlte es. Vielleicht ist dies eine Wahrheit, die für alle Zeiten und Länder gilt, vielleicht ist das Gelingen einer Revolution überhaupt niemals ihrer eigenen Stärke, immer der Schwäche der Verteidigung zuzuschreiben. In Deutschland 1918 war es jedenfalls so. Das konnte man längst wissen. Diese Behauptung zu begründen, bedarf es keiner weitgespannten Schilderung der Vorgänge im Reich, die den 9. November vorbereiteten, es genügt an einige hervorstechende Tatsachen zu erinnern, die allgemein bekannt sind. Dazu bildet das, was ich selbst in meiner nächsten Umgebung gesehen und erlebt habe, eine vortreffliche Illustration. Was in Württemberg geschah und nicht geschah, war nichts wesentlich anderes, als was sich in ganz Deutschland und in allen seinen Hauptstädten abspielte; in verschiedener Besetzung und auf verschiedenen Bühnen, von der größten bis zur kleinsten, wurde ein und dasselbe Stück gespielt: eine künstlich hervorgerufene Empörung, die auf keinen Widerstand stieß, weil der Wille dazu bei denen, die widerstehen sollten und konnten, fehlte. Die Burg fiel beim ersten Sturm, weil keine Hand sich zu ihrer Verteidigung regte, ja noch mehr, weil die Verteidiger selbst die Tore geöffnet und die Zugbrücke herabgelassen hatten. Die Anzeichen, daß es so kommen werde, waren längst zu beobachten gewesen. Wenn behauptet wird, die Regierungen hätten Gewalt nicht anzuwenden vermocht, weil die bewaffnete Macht ihnen nicht mehr gehorchte, so frage ich: vorausgesetzt dem sei wirklich so gewesen, warum hat man es so weit kommen lassen? Warum war nichts geschehen für rechtzeitige Aufklärung, für ­Bildung zuverlässiger Verbände, für die das Personal an verwundet heimgekehrten Offizieren und Soldaten in Menge vorhanden war? Warum wurde stattdessen die Zulassung der sozialdemokratischen, also revolutionären Presse bei der kämpfenden Truppe, bis in die Schützengräben, befohlen? War das nicht geradezu Selbstmord? Kein Wunder, daß sich allmählich Hunderttausende von

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Ur­laubern im Lande herumtrieben, die in Wirklichkeit Fahnenflüchtige waren, und die zu fassen von der stark zerrütteten Polizei nicht einmal versucht wurde. Warum taten die militärischen Befehlshaber in der Heimat nichts, die revolutionären Agitationen zu unterdrücken? Ich habe von keinem Fall gehört, wo das stellvertretende Korpskommando von seinen Befugnissen Gebrauch gemacht hätte, auch nachdem ihm die vollziehende Gewalt in aller Form übertragen war, und ich habe selbst als Rektor der Universität die Anzeige gegen einen Kollegen von der Zentrumspartei wegen systematischer Flaumacherei (durch anonyme Postkarten) unterlassen, weil ich mir von ihr bei der mir bekannten Gesinnung der militärischen Amtsstellen nur ernste Unannehmlichkeiten, aber keinen ­Erfolg versprach. Den Kampf gegen die defaitistische Gesinnung hatte die Regierung von Anfang an privaten Bemühungen überlassen. Alles, was Bethmann Hollweg dazu beigetragen hatte, den Kampfeswillen zu stärken, war das matte und lahme Schlagwort »wir halten durch«. Welch tiefe Psychologie! Als ob ein darbendes, hungerndes Volk durch eine so klägliche Losung für unbestimmte Zeit zu i­mmer neuen Opfern anzufeuern wäre! Wer mehr versuchte, sah sich bald durch Polizei und Zensur gehindert und eingeengt. Bethmanns Nachfolger ließen die Dinge erst recht laufen. Erst als alles verloren war, appellierte man an freiwillige Hilfe, die man bis dahin verschmäht oder zurückgewiesen hatte. Es war im Juli 1918, daß ein Beauftragter der Heeresleitung, ein Theologie­ professor in Offiziersuniform, in Tübingen erschien, um eine planmäßige Bearbeitung der Öffentlichkeit durch Versammlungen und Vorträge ins Leben zu rufen.265 Das konnte damals zu nichts mehr führen. Wir Universitätsprofessoren waren unter keinen Umständen die geeignetsten Werkzeuge für eine solche Aufgabe; dazu standen wir den Massen des Volkes nicht nahe genug, hatten zu wenig Fühlung mit ihrem Denken und sprachen nicht ihre Sprache. Die gegebenen Sprecher hätten die Volksschullehrer sein müssen, aber ich habe nie gehört, daß man versucht hätte, sie in größerer Zahl zur Mitarbeit heranzuziehen; und das wohl mit gutem Grund. Gewiß gab es unter ihnen Männer von trefflichs­ ter Gesinnung und Charakter; ich selbst habe manch einen kennen gelernt, an den ich mich gern und mit Hochachtung erinnere. Aber im allgemeinen stand der deutsche Volksschullehrer seinem Staat keineswegs freundlich gegenüber, und in den Jahren nach dem Kriege hat er die Probe schlecht genug bestanden. Ich stehe nicht an, die Schuld daran den Regierungen zuzuschreiben, die es versäumt hatten, diesem wichtigen Berufsstand die Beachtung zu schenken und die Stellung einzuräumen, die er fordern durfte, wenn er die Aufgabe, das Volk für den Staat zu erziehen, mit Eifer und Erfolg erfüllen sollte. Ein geflügeltes Wort behauptet, 1866 habe der deutsche Schulmeister den Krieg gewonnen; mit mehr Recht dürfte man sagen, 1914 habe er ihn verloren. Mindestens so viel ist sicher: wäre das Volk politisch richtig erzogen gewesen, so hätte das Ende nicht ein ­Zusammenbruch des Staates sein können. 265 Vgl. dazu oben Kapitel VI.3.

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Mittlerweile machten die sich überstürzenden Ereignisse es jedermann klar, daß militärisch die Sache Deutschlands schon verloren war. Nicht weniger zwecklos war eine Notabelnversammlung in Stuttgart zu Anfang September, auf der ein Bankdirektor aus Berlin zur Zeichnung einer neuen Kriegsanleihe aufforderte! An die Revolution, die schon so vernehmlich an die Türen pochte, dachte niemand. Auch nicht die Patrioten, die seit dem Herbst 1917 sich vereinigt hatten, das Volk zu äußersten Anstrengung aufzurufen. Die sogenannte Vaterlandspartei, die damals ins Leben trat, war von Anfang an eine verfehlte Sache, nicht nur wegen der Fehler, die bei ihrer Gründung begangen wurden und wegen ihrer schwachen und planlosen Führung, sondern vor allem, weil ihr das Ziel falsch gesteckt war.266 Sie wollte den Willen zur Fortsetzung des Krieges stärken und zu diesem Zweck die vaterländisch Gesinnten aus allen Parteien vereinigen, was sich sogleich als unmöglich erwies, da die Parteien der alten Opposition, Zentrum und Demokratie, sich grundsätzlich versagten, von den Sozialdemokraten nicht zu reden. Anstatt also, daß die Nation sich zu äußerster Kampf­ bereitschaft einte, wurde ihre Spaltung vertieft und erweitert. Mir war die Vergeblichkeit des Bemühens sogleich klar; dennoch glaubte ich mich nicht entziehen zu dürfen, als man mir die Leitung der Ortsgruppe Tübingen übertrug. Es war ein Fehler, den ich bald bereute. Meine Auffassung, daß es gelte, im Hinblick auf die von innen her drohende Gefahr die ganze Erbärmlichkeit und das verhängnisvolle Treiben der sogenannten Friedensfreunde an den Pranger zu stellen, wurde nicht verstanden und trug mir nur Angriffe und Gegnerschaften ein. Das war meine eigene Schuld: ich hätte wissen sollen und konnte wissen, daß dem deutschen Bürgertum der Instinkt fehlte, der den Feind schon aus der Ferne wittert und gegen ihn zu rechtzeitigem Zusammenschluß und entschlossenem Kampfe treibt. Was von der Regierung zu erwarten sei, hatte ich schon früh erfahren. Als ich in Stuttgart einen öffentlichen Vortrag über den Frieden von Brest-­Litowsk halten wollte, wurde ich von einem Trupp sozialdemokratischer Arbeiter nach wenigen Minuten unterbrochen und am Weiterreden gehindert, ohne daß die Polizei etwas anderes zu tun gewußt hätte, als die Versammlung schleunigst aufzulösen. Dagegen sprang die Staatsgewalt dem demokratischen Politiker Conrad Haußmann bei, als er von einem Gegner in der Presse allzu scharf angegriffen wurde: der Staatsanwalt erhob die Beleidigungsklage, weil Haußmann – Abgeordneter sei! Gewiß waren das nur Kleinigkeiten, aber sie ver­rieten mit der schwächlichen Liebedienerei, die besonders im zweiten Fall zu Tage trat, daß bei den Staatsbehörden die feige Ängstlichkeit den Instinkt der Selbsterhaltung erstickt hatte. Den Verlauf der Revolution habe ich als Rektor der Universität am eigenen Leibe erlebt. Man hatte mich dazu mit Überspringung eines älteren Kollegen gewählt, ich vermute, weil man von mir eine wirksame Begrüßung der – wie 266 Zur Vaterlandspartei und Hallers Engagement darin vgl. oben Kapitel VI.3.

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man annahm – siegreich heimkehrenden Studenten erwartete. Ich selbst hatte damals, im Spätherbst 1917, die Hoffnung, daß mir dazu Gelegenheit geboten sein würde, schon so ziemlich aufgegeben. In der Tat hatte die Rede, die ich am Ende meines Amtsjahres halten mußte, einen ganz anderen Charakter.267 Es war die schwerste Aufgabe dieser Art, die mir im Leben gestellt worden ist; vo­ rausgegangen waren vier Monate, die auch nicht zu den leichten gehörten. Nicht als ob ich durch die Ereignisse persönlich zu leiden gehabt hätte. Ich erfuhr zwar, daß ich als Geisel verhaftet und erschossen werden sollte, aber es blieb beim Beschluß, geschehen ist mir nichts. Insofern bestätigte sich meine Erwartung, daß der Verlauf der Umwälzung eher harmlos als gewalttätig sein werde. Die Schwierigkeiten, mit denen ich zu kämpfen hatte, kamen von der andern Seite. Einigen Kollegen, die es, die einen aus Ängstlichkeit, die andern aus Ehrgeiz, eilig hatten, »mitzumachen«, war ich als »Reaktionär« im Wege, sie suchten mich zu verdrängen und gaben mir durch ihr Verhalten Gelegenheit, meine Kenntnis der menschlichen Natur durch mannichfache Anschauung nicht unbeträchtlich zu erweitern. Aber die Mehrheit bewahrte mir ihr Vertrauen, sodaß ich die ­Genugtuung hatte, meine Universität ohne Einbuße an ihrer Ehre durch den ­roten Strudel hindurchzusteuern. Daß mir schon am ersten Tag mit Berufung auf das Beispiel des Stadtkommandanten von Stuttgart zugemutet wurde, die Universität dem Soldatenrat zu unterstellen, will ich nicht unerwähnt lassen. Im übrigen lohnt es nicht, von diesem Sturm im Wasserglas zu reden, wo so viel Größeres geschah. Bekanntlich hatte der Kaiser schon ein Jahr vorher durch Umbildung der Regierung im parlamentarischen Sinn vor der Linken kapituliert; den Platz des Reichskanzlers nahm der Zentrumsführer Graf Hertling ein, in die Ministerposten teilten sich Zentrum und Demokratie. Es war fast ein Wunder, daß sich in Württemberg trotzdem die alte Beamtenregierung noch über ein Jahr halten konnte. Aber als die Reichsregierung im Oktober 1918 mit der Ernennung des Prinzen Max von Baden weiter abglitt, als dieser durch das Gesuch um Waffenstillstand das Geständnis machte, der Krieg sei verloren, da gab es auch in Stuttgart kein Halten mehr. Die alten Minister traten zurück, der National­liberale Dr. Hieber bildete als Ministerpräsident ein gemischtes Kabinett mit einigen demokratischen Parlamentariern.268 Wie Prinz Max von Baden zu dem großen Ansehen bei den Politikern der Linken gekommen ist, wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Man hätte doch wissen können und sollen, daß die eine große Rede in der badischen Ersten Kammer, die ihn berühmt gemacht hatte, die Rede über 267 Johannes Haller: Von Tod und Auferstehung der deutschen Nation [Rede des Rektors der Universität Tübingen zur Begrüßung der heimkehrenden Studenten, gehalten am 16.2.1919], Tübingen 1919, wieder abgedruckt in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 328–343. 268 Johannes Hieber (1862–1951), deutscher evangelischer Theologe, 1898–1910 württembergischer Landtagsabgeordneter und Reichstagsabgeordneter für die Nationalliberalen, 1912–1932 württembergischer Landtagsabgeordneter für die Deutsche Partei bzw. die DDP, 1919 württembergischer Kultusminister (DBA III, 393, S. 283).

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das »Weltgewissen«, garnicht von ihm, sondern von seinem Sekretär Dr. Hahn verfaßt war.269 Das gleiche gilt von der andern großen Rede, mit der er als Reichskanzler den Lauf des Schicksals aufzuhalten hoffte, und die zu halten er zu seinem Schmerz keine Gelegenheit fand. Ihn selbst habe ich nie dem Tübinger Österberg, dem ehemaligen badischen Gesandten in Berlin, Dr. Nieser, gehört.270 Dieser hat mir unter anderem das Gespräch erzählt, das der Prinz mit ihm beim Antritt des Kanzleramtes geführt hatte. Es genügt allein, ihn zu ­charakterisieren und sein jämmerliches Versagen in der übernommenen Rolle zu erklären. Der Prinz hatte den Gesandten gefragt, auf welche Eigenschaften es in der damaligen Lage ankäme. »Vor allen Dingen rasche Entschlossenheit«, hat Nieser erwidert, worauf der Prinz in ehrlicher Selbsterkenntnis die Antwort gegeben hat: »Die habe ich nicht.« Er hat nicht gefühlt, daß er sich damit selbst das Todesurteil sprach. Reichskanzler ist er doch geworden und geblieben, bis ihn die Sozialdemokraten am 9. November in das Kuriositäten­kabinett der Deutschen Geschichte wegfegten, aus dem heraus er sich noch mit seinen ebenso langatmigen wie langweiligen Denkwürdigkeiten hat vernehmen lassen.271 Eine Figur, der gegenüber man nur zwischen Mitleid und Verachtung schwanken kann. Recht gut gekannt habe ich Herrn Hieber. Vom Theologen und Lehrer zum Abteilungsleiter im Kultministerium aufgestiegen  – die Volksschulen waren ihm unterstellt – war er der Führer der Deutschen Partei, wie sich in Württemberg die Nationalliberalen nannten, und ein klassischer Vertreter dieser Spezies, die immer zwischen rechts und links schwankte und im Grunde nur bestand, weil sie sich weder konservativ noch demokratisch zu sein entschließen konnte; wie man wohl von einem alten Hause sagt, es stehe nur noch, weil es nicht wisse, auf welche Seite fallen. Wodurch Hieber sich zum politischen Führer empfohlen hatte, weiß ich nicht, denn er hatte weder Gedanken noch Rednergabe und Charakter erst recht nicht. Die ihn länger kannten, klagten wohl, er könne gewalttätig werden, wo er sich sicher fühlte. Außerhalb Württembergs ist er nie hervorgetreten und hätte es als schwäbischer Spießbürger, der er war, auch nicht gekonnt, aber im Lande war sein Ansehen nicht gering. Seine Partei beherrschte er so sehr, daß er sie nach der Revolution zur Demokratie hi­nü­ ber­f ühren konnte. Dabei mußte er sich allerdings von Conrad Haußmann die Bosheit gefallen lassen, man könne ihn und die Seinen erst nach gründlicher »Entlausung« aufnehmen; aber das focht ihn nicht an, und so wurde er Minister und zeitweilig sogar republikanischer Staatspräsident. 269 Rede vom 14. Dezember 1917 bei Eröffnung der Ersten badischen Kammer, in: Prinz Max von Baden: Erinnerungen und Dokumente, neu hrsg. von Golo Mann und Andreas Burckhardt, Stuttgart 1968, S. 194–201, Zitat S. 201. Kurt Hahn (1886–1974), deutscher Pädagoge, seit Frühjahr 1917 in der Militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes tätig (NDB 16, S. 476). 270 Fritz Nieser (1861–1945), deutscher Jurist, 1915 badischer Gesandter in Preußen und Sachsen, 1919 badischer Gesandter in Berlin (DBA III, 666, S. 299–303). 271 Prinz Max von Baden: Erinnerungen und Dokumente, neu hrsg. von Golo Mann und­ Andreas Burckhardt, Stuttgart 1968.

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Der sollte nun am 9. November als königlicher Ministerpräsident die Regierung übernehmen. Aber dazu kam es nicht mehr. Eben als die neuen Minister zur Eidesleistung beim König versammelt waren, wälzte sich eine Volksmasse, Männer und Weiber geführt von Bewaffneten, auf das Wilhelmspalais heran. Der Leutnant der Reserve, der die Wache kommandierte, ein späterer Pfarrer, hatte Befehl, nicht zu schießen. Seine Bitte, angesichts der drohenden Gefahr diesen Befehl zurückzunehmen, wurde abgeschlagen. Er warf sich also mit gezogenem Säbel den Angreifern entgegen und erhielt einen Hieb über die Schulter, unter dem er zusammenbrach, worauf die Wache mißmutig ihre Gewehre fortwarf und sich entfernte und die Menge in das Palais eindrang. Schutzlos stand der König ihr gegenüber, von allen verlassen, da die neuen Minister die Flucht ergriffen hatten. Man verlangte von ihm, daß er die rote Fahne aufziehen lasse; er weigerte sich, wurde beschimpft und bedroht, und wer weiß, was noch geschehen wäre, hätte nicht ein zufällig mitgekommener Mechaniker aus eigenem Antrieb die Leitung übernommen, die Tobenden zur Ruhe gebracht, und dem König die Möglichkeit verschafft, sich zurückzuziehen und durch den rückwärtigen Ausgang zu seinem Wagen zu gelangen, der ihn und die Königin nach Beben­hausen brachte. Es muß ein schmähliches Schauspiel gewesen sein, das zu verhindern eine Kleinigkeit gewesen wäre. Verstärkung der Palastwache und Aufstellung von zwei Maschinengewehren hätten genügt. Was kommen werde, war bekannt, sogar angekündigt. Am Abend vorher hatten die Stuttgarter Zeitungen eine groß aufgemachte Anzeige des Oberbürgermeisters gebracht, es werde am nächsten Vormittag eine »wichtige staatspolitische Veränderung« stattfinden, die Bevölkerung sei aufgefordert, die Ruhe zu bewahren. Die Revolutionäre, Arbeiter aus den Fabriken von Daimler und Bosch, und die Garnisonhandwerker aus einer Kaserne waren ungefährlich und ohne Führung, da die Häupter der unabhängigen Sozialdemokraten, wie sich damals die Kommunisten nannten, einige Tage vorher verhaftet worden waren. Diese Maßregel, die einzige, die in diesen Tagen zum Schutz von Staat und Gesellschaft getroffen worden ist, hatte der Minister des Innern, Ludwig von Köhler, angeordnet.272 Ich habe ihn gut gekannt, denn er flüchtete sich nach der Revolution in eine juristische Professur nach Tübingen: ein kluger und liebenswürdiger Mann, von angenehmsten Formen, eher weich als kräftig, aber als geborener Preuße aus dem Rheinland immerhin von lebhafterem Staatsbewußtsein und Verantwortungsgefühl als die Ein­heimischen, die die Dinge einfach gehen ließen oder gar, wie der Minister­ präsident Weizsäcker mir gegenüber beim ersten Wiedersehen offen aussprach, froh waren, ihren Abschied rechtzeitig genommen zu haben. Wäre es auf Köhler angekommen, so hätte es in Württemberg keine Revolution gegeben. Anlaß zum Eingreifen hatte ihm geboten, daß eine Abordnung der »Unabhängigen« bei ihm erschien mit der Forderung, der König müsse ab­ 272 Ludwig von Köhler (1868–1956), deutscher Jurist, 1918 württembergischer Innenminister (BLG 1, S. 88 f.).

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danken. Auf die erstaunte Frage, warum, da doch bisher niemand gegen diesen Herrscher etwas einzuwenden gehabt und im Jahre vorher bei seinem 25. Jubiläum sogar die sozialdemokratische Presse versichert habe, wenn es gälte für Württemberg einen Präsidenten zu wählen, so wäre niemand dafür geeigneter als Wilhelm II. – lautete die Antwort, das sei schon richtig, aber »wegen dem Prinzip« sei die Abdankung nötig. Da der Minister weder von diesem Prinzip noch von der Notwendigkeit durchdrungen war, ließ er die Herren verhaften und zunächst auf die Festung Ulm bringen. Dort hatte der kommandierende General keine Lust, so gefährliche Gäste aufzunehmen. »I trau mi net« waren buchstäblich seine Worte, wie mir ein Ohrenzeuge, der Oberstaatsanwalt Dr. Ernst, berichtet hat.273 Der Auftritt wiederholte sich in mehreren anderen Garnisonen, zwei Tage lang wurden die Gefangenen im Lande herumgefahren, bis sie schließlich in der Nacht vom 8.  zum 9.  November im zivilen Untersuchungsgefängnis in Tübingen Unterkunft fanden. Hier gab es keine Arbeitermassen, die sie hätten befreien können; immerhin bewies der Direktor der Anstalt mehr Mut als die Herren Generäle, denn aus dem benachbarten Reutlingen wäre es nicht schwer gewesen, einige hundert tatbereite Umstürzler aufzubieten. Wenn nun also die Führer des Aufstands für den Augenblick unschädlich gemacht waren, so reichten doch, um Unruhen in der Hauptstadt zu verhindern, die Mittel der Polizei nicht aus, da mußte das Militär eingreifen. Köhler lud also noch in der Nacht die fünf Generäle, die sich in Stuttgart in die Befehls­gewalt teilten, zu sich und trug ihnen vor, was bis dahin geschehen war: »ich habe meine Schuldigkeit getan, tut ihr die eure!« Die Antwort war einstimmige Ablehnung, am eifrigsten von Seiten des stellvertretenden Korpskommandanten Generals von Scharpff, im Volksmund »Tapferle« geheißen.274 Der Spitzname enthielt keine Anspielung auf den Mut, »tapferle« bedeutet im Schwäbischen so viel wie »geschwind« und war ein Lieblingsausdruck des Generals. Der war erst vor zwei Tagen aus Berlin zurückgekehrt, angefüllt mit Eindrücken von der dort herrschenden Kopf- und Mutlosigkeit, die er nun auf seinen Machtbezirk übertrug. Seine vier Kameraden stimmten ihm bei, alle fünf schoben die Verantwortung dem Minister zu und behaupteteten, der Truppen nicht mehr sicher zu sein. Vergeblich war der Hinweis auf eine ergangene Verordnung, die im ganzen Reich die Befehlsgewalt auf das Militär übertrug. Drei volle Stunden hat das Ringen zwischen Zivil und Militär gedauert; um 2 Uhr Morgens endlich gab der Minister den vergeblichen Kampf auf. Also auch hier das gleiche Bild wie im Großen Hauptquartier in Spa: die Generäle versagen, liefern Staat und Monarchie der Revolution aus. Einer verdient dabei noch genannt zu werden, der Stadtkommandant General Ebbinghaus.275 Er hat sich dazu erniedrigt, am 9. November, geschmückt mit roter Armbinde, 273 Max Ernst (1869–1945), deutscher Jurist, seit 1913 Staatsanwalt in Ulm, seit 1923 Oberstaatsanwalt. Vgl. das Findbuch zum Nachlass Max Ernst, Stadtarchiv Ulm. 274 Oskar von Scharpff (1853–1920), württembergischer Generalleutnant (DBA II, 1132, S. 303). 275 Christof Ebbinghaus (1856–1927), deutscher General (DBA II, 303, S. 24).

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zwischen zwei Soldaten mit dem gleichen Abzeichen und aufgepflanztem Seitengewehr von einem Balkon aus die Volksmenge zum Gehorsam gegen den Soldatenrat aufzufordern. Und der Monarch selbst? Ob ein Versuch des Königs sich zur Geltung zu bringen, etwa gar zu befehlen, Erfolg gehabt hätte, ist nicht auszumachen: es wurde keiner unternommen. Das wiederholte Schießverbot ist sogar auf Befehl des Königs ergangen, der das Blutvergießen scheute. Und doch war die Revolution in Württemberg nicht nur zu verhindern gewesen, sie hätte sogar noch in den nächstfolgenden Tagen rückgängig gemacht werden können. In Cannstatt stand ein Artillerieregiment, das dreizehnte, bereit, den König sofort zu befreien und die sich erst bildende revolutionäre Regierung davonzujagen; das wurde abgelehnt. Von Ulm aus erbot sich Generalleutnant Freiherr von Brandt, mit einer Brigade, für deren unbedingte Zuverlässigkeit er sich verbürgte, nach Stuttgart zu marschieren und die Regierung des Königs wiederherzustellen; es wurde ihm verboten.276 Ungestört konnten die neuen Machthaber sich festsetzen. Wie es dabei zugegangen ist, habe ich durch einen Studenten erfahren, der mich zwei Tage später aufsuchte, um mir zu berichten, was er am Tage vorher (10. November) in Stuttgart gesehen und erlebt hatte. Er hatte sich  – wie, gestand er nicht  – einen Passepartout verschafft, und so an einer Beratung der neuen Regenten teilnehmen können. Dabei war er Zeuge geworden, wie in völliger Ratlosigkeit beschlossen wurde, bürgerliche Hilfskräfte heranzuziehen, da man allein mit den Geschäften nicht fertig zu werden wußte. Der Bericht­ erstatter versicherte mir, nach seinem Eindruck wäre eine Handvoll beherzter Männer immer noch imstande, die revolutionäre Regierung mühelos zu sprengen. Ich konnte ihm nur mein Bedauern aussprechen, daß ich von seinen interessanten Mitteilungen keinen Gebrauch machen könne; der Rektor der Universität in T ­ übingen sei dafür nicht die richtige Stelle. Daß er in der Beurteilung der Lage recht hatte, glaubte ich damals wie heute, wie ich auch glaube, die Handvoll beherzter Männer würde sich gefunden haben, wenn sich nur einer an die Spitze stellte. Dieser eine aber fand sich nicht. Aus eigenem Antrieb zu handeln entschließt der Deutsche sich nicht leicht; gewohnt zu gehorchen, wartet er auf Befehle und überläßt den Verantwortlichen den Vortritt. Das waren in diesem Fall, wenn die Generäle sich versagten, die höheren Beamten. Wie man in ihrem Kreise dachte, hat einer von ihnen verraten, der selbst zu den Besten gehörte. Der letzte königliche Finanzminister, Herr von Pistorius, begrüßt in seinen Erinnerungen das Schießverbot als ein Glück, ja als die Rettung.277 Hätte die Wache, meint er, gefeuert und wäre Blut geflossen, so würde die Menge in äußerste Wut geraten und nicht mehr zu bändigen gewesen sein. Nach dieser Auffassung dürfte keine Regierung sich 276 Person konnte nicht ermittelt werden. 277 Theodor von Pistorius (1861–1939), deutscher Staatswissenschaftler, 1914–1918 württember­ gischer Finanzminister (DBA III, 706, S. 262). Zu dem von Haller Geschilderten vgl. Theodor von Pistorius: Die letzten Tage des Königreichs Württemberg, Stuttgart 21936, S. 76–78.

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wehren, um nicht Öl ins Feuer zu gießen, es hätte also jeder Aufstand leichtes Spiel. Aber daß so die meisten dachten, ist mir nicht zweifelhaft; der Führer zum Widerstand fand sich nicht, dagegen hatte der Appell der Revolution an das bürgerliche Beamtentum Erfolg. Wenige Tage vergingen, da arbeiteten die Ministerien wieder wie bisher, in einigen führten sogar die früheren Minister im Stillen die Geschäfte für einen Sozialdemokraten, der vor der Öffentlichkeit die Ehren des Amtes genoß. Wir wollen die Württemberger, Generäle wie Zivilisten, nicht zu hart verurteilen. Sie waren alle gelähmt durch die Überzeugung, daß doch alles verloren sei, weil die Entscheidung in Berlin fallen müsse und Stuttgart an ihr nichts ändern könne; daß vereinzelter Widerstand also die Lage nur verschlimmern, vielleicht zu Bürgerkrieg und Zerfall des Reiches führen würde. Ich weiß nicht, ob das richtig war; nach meiner Ansicht, die mir durch die seither bekannt gewordenen Zeugnisse bestätigt zu sein scheint, wäre das Scheitern der Revolution in einem der größeren Länder nicht ohne Wirkung geblieben; das Beispiel Stuttgarts hätte in der Reichshauptstadt zünden, die wohlgesinnten Elemente, an denen es wahrlich nicht fehlte, zur Sammlung rufen und damit das Zeichen zum Umschwung im ganzen Reich geben können. Württemberg hätte also Gelegenheit gehabt, das alte Recht des schwäbischen Herzogtums auf den Vorstreit, auf das man sich in öffentlichen Reden so gern berief, einmal wirklich und mit Erfolg auszuüben. Darin mag ich mich irren; auf jeden Fall würde es der deutschen Nation nicht zur Schande gereichen, wenn wenigstens an einer Stelle Widerstand geleistet worden wäre, statt daß der Umsturz ohne Anstrengung und ohne Opfer auf der ganzen Linie siegte und alle Herrlichkeit von Kaiser und Reich wie ein Kartenhaus im Winde umfiel. Den Württembergern muß man übrigens zugute halten, daß der Entschluß zu Widerstand und Kampf sie in Verlegenheit gebracht haben würde, weil der, für den es zu kämpfen galt, den Kampf nicht wollte. König Wilhelm II. hat seine Krone nicht ungern niedergelegt. Die es wissen konnten, haben daraus nie ein Geheimnis gemacht, daß er sich erleichtert gefühlt hat, als ihm die Last der Verantwortung abgenommen war, sodaß er den kurzen Lebensrest, der ihm noch verblieb, als Privatmann  – »als Beamter a. D.«, wie er selbst sich einmal ausgedrückt hat  – in Ruhe und Behagen genießen konnte. Die Bestätigung, daß dem so war, habe ich selbst zu erfahren Gelegenheit gehabt. Ich war vom Senat der Universität beauftragt worden, dem König in seiner Einsamkeit in Bebenhausen das Bedauern und die aufrichtige Teilnahme der Kollegen auszusprechen.278 Bei meinem Empfang fand ich den König oder vielmehr, wie er sich nunmehr nennen ließ, Herzog, nachdem die anfängliche Befangenheit gewichen war, heiterer und aufgeschlossener als früher. Er dehnte die Unterhaltung nach Tisch länger als gewöhnlich aus und machte den Eindruck eines Mannes, der mit seinem Schicksal versöhnt ist. Anders die Königin, der man anmerkte, daß sie das Erlebte nicht überwunden hatte. Später hat mir der diensttuende 278 Vgl. dazu auch oben Kapitel VI.3.

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Kammer­herr, den ich gut kannte, gestanden, mein Besuch sei als Unterbrechung der gewohnten Gemütlichkeit zunächst nicht recht willkommen gewesen und nur aus Höflichkeit nicht abgelehnt worden. In der Erwiderung auf meine Ansprache machte der König übrigens kein Hehl daraus, daß er mit Sorge in Deutschlands Zukunft blicke; aber die Genugtuung, nichts mehr damit zu schaffen zu haben, überwog. So haben sie wohl alle gedacht, die deutschen Bundesfürsten; vom Sachsen erzählte man, er habe seinen Abschied mit den Worten erklärt: »Macht euern Dreck alleene!« Ludwig IIII. von Bayern hat, wie ich aus seiner Umgebung erfuhr, nur unter der Demütigung gelitten, daß er zu flüchten gezwungen worden war; daß er nicht mehr regieren durfte, hat er nicht beklagt. Eine Ausnahme hat allein der Kaiser gemacht; er hat sich gegen die Abdankung als Deutscher Kaiser gesträubt und wenigstens die preußische Königskrone festzuhalten gesucht, womit er freilich bewies, wie wenig er das wirkliche Deutschland und seine eigene Stellung in ihm begriffen hatte. Der Revolution entgegenzutreten, den Kampf aufzunehmen, hat auch er keinen Versuch gemacht. – Auch für ihn galt die Losung, mit der der Württemberger das Schießverbot begründete: »Um meinetwillen soll kein Blut fließen!« So würden sie alle gesprochen haben, die souveränen deutschen Herrscher, die sich so schnell und leicht von ihren angestammten Thronen herabstürzen ließen. Keiner von ihnen scheint sich bewußt gewesen zu ein, daß ihm seine Stellung an der Spitze des Volkes nicht zum Vergnügen übertragen, daß eine Würde ein Amt sei, das Pflichten mit sich bringe, nicht zuletzt die Pflicht, den Staat, den Frieden und die Ordnung im Lande, wo nötig auch mit dem Einsatz der eigenen Person zu verteidigen. Stattdessen dieses unkönigliche, unfürstliche Kapitulieren vor Gefahren, die nicht einmal vorhanden wären, wenn man ihnen entschlossen begegnete. Ohne ihnen Unrecht zu tun, darf man von ihnen allen, den Kaiser nicht ausgenommen, sagen: sie haben ihr Schicksal verdient. Denn wer für sein Recht nicht zu kämpfen bereit ist bis zum Letzten, der hat keines mehr. So endete in Deutschland die Monarchie. Es war kein rühmliches Ende; sie starb an der Unzulänglichkeit ihrer Vertretung. Könnte man nicht meinen, ­Goethe habe die Ereignisse des Novembers 1918 vor Augen gehabt, als er schrieb: Warum denn wie mit einem Besen wird so ein König hinausgekehrt? Wären’s Könige gewesen, Sie stünden alle noch unversehrt.279

Die Beseitigung der Monarchie in Reich und Landesstaaten habe ich von Anfang an für unwiderruflich gehalten. Als ich am Morgen des 10. November in der Zeitung die Nachricht von der Flucht des Kaisers las, war mein erster Ge279 Johann Wolfgang von Goethe: Zahme Xenien aus dem Nachlass, in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 18.1, München 1997, S. 82.

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danke: das ist ein Abschied auf Nimmerwiedersehen! An das Gelingen einer Restauration der Hohenzollern habe ich niemals recht glauben können; die Erfahrungen der neueren Geschichte widersprachen – sie kennt kein Beispiel, daß eine gestürzte Dynastie sich nach ihrer Wiedereinsetzung auf die Dauer behauptet hätte. Nirgends hat sich der geflickte Topf zum Kochen brauchbar erwiesen. Sollte Deutschland eine Ausnahme von der Regel bilden, die schon den Charakter eines politischen Naturgesetzes trägt? Gerade Deutschland, wo die Bedingungen dafür ungünstiger als irgend anderswo lagen? Um nur eines zu erwähnen: hätte es sich um Wiederherstellung des Kaisertums allein gehandelt, man hätte allenfalls daran denken können. Dann aber meldeten sich auch die anderen Fürstenhäuser, allen voran Bayern mit seinen weitgehenden An­ sprüchen; die wechselseitige Eifersucht mußte jedes erfolgreiche Vorgehen bis zur Unmöglichkeit erschweren. Es galt also schon, auf den Gedanken an Rückkehr zu den Formen einer glücklicheren Vergangenheit zu verzichten. Freilich bin ich auch keinen Augenblick darüber im Zweifel gewesen, daß von den Kräften – Parteien, Richtungen und deren Vertretern –, die durch die Revolution ans Ruder gelangt waren, nichts zu hoffen sei. Was da zunächst vorhanden war, kannte man ja: da gab es keine Gruppe, keinen Einzelnen, denen man hätte zutrauen können, daß sie es verstehen würden, Deutschland, das gefallene, entwurzelte, auf neuem Grunde wieder aufzurichen. Daß das Bürgertum in seinen verschiedenen Schattierungen die Kraft dazu nicht besaß, hatte es bewiesen, indem es eine Revolution zuließ, die zu verhindern nicht schwer war. Was sich Demokratie nannte, hatte wohl die straffste Organisation – ich glaube, wesentlich dank der Hilfe gewisser Freimaurerlogen –, aber seine ­Führer waren nicht mehr als gewandte parlamentarische Klopffechter und behandelten – das war mein Eindruck – die Politik, soweit sie ihnen nicht zur Wahrung persönlicher Interessen diente, nie mit dem nötigen Ernst – politische Blaustrümpfe. Von den zur Deutschen Volkspartei umgetauften Nationalliberalen war am wenigsten zu erwarten; auf dem Flugsandboden grundsätzlicher Charakter­ losig­keit konnte nichts wachsen. Die Konservativen, die sich Deutschnationale Volkspartei nannten, hatten wohl den besten Willen, auch am meisten Kenntnisse und Erfahrung; aber, gewöhnt, den Staat durch die Beamtenschaft zu ­regieren, bewiesen sie täglich mehr ihre Unfähigkeit zum politischen Kampf, seit sie den Apparat nicht mehr beherrschten. Den Sozialdemokraten, die sich für die Erben der Monarchie hielten, fehlte es an politischer Bildung, ihr Horizont reichte nicht über die Interessen der Arbeiterschaft hinaus, und ihre Führer waren in Gefahr, da sie sich zusehends verbürgerlichten, das Feld an die Kommunisten zu verlieren, von denen nie etwas anderes zu erwarten war als Zerstörung. Als der eigentliche Gewinner im Spiel erwies sich das Zentrum, das bei keiner parlamentarischen Kombination zu umgehen war  – »mir send das Klosett, uf das sie elle müsset« hat einer ihrer Wortführer in Stuttgart wenig ­geschmackvoll, aber treffend gesagt. In ihrer unerschütterlichen Stärke und Geschlossenheit wäre diese Partei am ehesten imstande gewesen, hätte auch die Köpfe dazu gehabt, die Führung zu übernehmen, aber in letzter Linie einer Idee

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jenseits von Reich, Volk und Vaterland verhaftet und darum mehr dem eigenen Nutzen als dem Wohl des Ganzen dienstbar, mußte auch sie versagen. Was sollte nun werden, und was sollte man tun? Mir schien nichts übrig zu bleiben, als sich mit der geschaffenen Lage so gut wie möglich abzufinden und die Zeit wirken zu lassen, inzwischen aber, jeder an seinem Platz, nach besten Kräften an der Erziehung des Volkes durch Verbreitung von Einsicht und Festi­ gung des Wollens zu arbeiten. Eine neue Generation heranzubilden, die entschlossen, fähig und gewillt wäre, die Möglichkeiten, die sich bieten würden, zu benutzen, um der Deutschen Nation die verlorene Stellung wieder zu erobern, die ihrer Größe und ihren Fähigkeiten entsprach – das erschien mir als die Aufgabe, die uns gestellt war. In diesem Sinn sprach ich mich in der Rede aus, mit der ich als Rektor die aus dem Felde zurückgekehrten Studierenden zu begrüßen hatte, im gleichen Sinn habe ich in den folgenden Jahren zu wirken mich bemüht, im Lehramt sowohl wie in breiterer Öffentlichkeit, getreu der Weisung Goethes, den Beruf in der Forderung des Augenblicks zu sehen.280 Daß ein Tag kommen werde, die Früchte dieser Wintersaat zu ernten, war meine Hoffnung, daß es lange währen könne, war ich mir bewußt; wie lange, ob ein Menschenalter oder zwei, vielleicht noch länger, schien mir nicht von Bedeutung. Ja, mich deuchte, je mehr Zeit wir hätten, uns vorzubereiten, desto besser, wenn nur das Ziel nicht aus dem Auge gelassen, die Richtung festgehalten würde. Galt es doch nichts Geringeres, als ein neues Deutschland zu schaffen, das sich die Tugenden der Vorfahren bewahrte, ihre Fehler abstreifte. Ich habe mich geirrt; es sollte ganz anders kommen, und die Besorgnis, durch manche augenfällige Erscheinung genährt, daß die Erneuerung miß­ lingen, das Urteil der Geschichte, mit dem der Prozeß von 1914 bis 1918 geendet hatte – gewogen und zu leicht befunden – sich als unwiderruflich herausstellen konnte, diese heimliche Angst, die man sich nicht einzugestehen wagte, die zu unterdrücken man als patriotische Pflicht empfand, sie hat recht behalten. 1918 hat nicht die Auferstehung Deutschlands eingeleitet, es war der Anfang vom Ende. Das Ende selbst sollte ein Menschenalter später eintreten nach einem ­Todes­kampf von 27 Jahren mit vorübergehendem Aufflackern der Lebenskräfte, wie sie dem Erlöschen eines Scheiterhaufens vorauszugehen pflegt. Den engen Zusammenhang der Ereignisse von 1933 bis 1945 mit denen von 1918 bis 1933 darf nicht übersehen, wer das Geschehen verstehen und gerecht beurteilen will. Wenn heute (1946) die Frage der »Schuld« mit so viel Leidenschaft und so wenig Klarheit umstritten wird, so stoße ich mich nicht nur an der Verwechslung der Begriffe von historischer und moralischer Schuld, die a­ ller­dings entstehen mußte, wo Geistliche der evangelischen Kirchen, die katholischen haben sich mit sicherem Takt davon ferngehalten, unter ihnen noch dazu als 280 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, in: Johann Wolfgang­ Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd.  17, München 1991, S. 801. Haller zitiert aus dem Gedächtnis; der Originalsatz lautet: »Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.«

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ers­ter ein Ausländer, (der eitle und ruhmsüchtige Schweizer Karl Barth), sich der Führung bemächtigten –, ich vermisse fast noch mehr die Einsicht, daß die erste und vornehmste Schuld im geschichtlichen Sinne – von der moralischen rede ich nicht; die soll ein jeder mit sich und seinem Gewissen abmachen, aber keiner dem andern vorwerfen – daß die einzige wirkliche Schuld auf die fällt, die das, was geschah, hätten verhindern können, in erster Linie also auf die, die sich zwischen 1918 und 1933 in der Regierung des Reiches ablösten und in ihrer Unfähigkeit es dahin kommen ließen, daß ein landfremder Abenteurer, das war Adolf Hitler, der Österreicher, der Deutschland nicht einmal kannte – von dem niemand recht wußte, wer und was er sei, mit einer Anhängerschar, in der sich die verschiedenartigsten Elemente, vom bürgerlich Konservativen bis zu kaum verhüllten Kommunisten in gärender Mischung verbanden, daß ein so mangelhaft beglaubigter Prophet als gottgesandter Retter begrüßt werden konnte.281 Zu denen, die auf ihn ihre letzte Hoffnung setzten, habe auch ich gehört; allerdings von Anfang an mit dem Gefühl, daß es sich um einen Sprung ins Dunkle handelte. Über die Natur von Hitlers nächster Umgebung durfte man sich keiner Täuschung hingeben; nach dem Sprichwort »sage mir, mit wem du umgehst« u.s.w. konnte man sich nur abgeschreckt fühlen. Ich kam darüber hinweg in Erinnerung an das Gleichnis von dem Mann, der das Gesindel von den Hecken und Zäunen zum Gastmahl rief, da die Geladenen ihn im Stich ­ließen (Lukas 14); auch in der Hoffnung, daß die Ausübung der Macht im Staat ihn nötigen würde, das Bestehende zu achten und seinen Neubau auf dem ­Boden des Gewordenen zu errichten, mit andern Worten: aus dem Revolutionär ein Konservativer zu werden, wie es jeder werden muß, der regieren will. Es war vielleicht sein Kardinalfehler, daß er das nicht tat, nach seiner Natur nicht tun konnte. So hat Mussolini über ihn geurteilt: gli manca l’elemento conservatore (1933/34 gegenüber einem englischen Diplomaten, der es meinem Freunde, dem Grafen Pückler, erzählt hat).282 Freilich  – warum soll ich es nicht gestehen? – wir waren irregeführt durch die Vorspiegelungen, mit denen der Mann so viele über seine wahre Natur und seine Absichten zu täuschen wußte; wir ließen uns irreführen, glaubten ihm, weil wir glauben wollten und wünschten, er möge so sein, wie er sprach. Wie groß die Täuschung war, daß der Turm dieses Großdeutschen Reiches auf Lug und Trug gegründet war und mit Lügen und Betrügereien gestützt wurde, das haben wir alle erst später mit Schaudern erfahren. Künftige Zeiten werden Mühe haben zu begreifen wie das möglich war, ja heute schon, wo wir, wie aus einem schrecklichen Traum erwachend, auf das Erlebte zurückschauen, heute kommt es uns vor, als wären wir einem bösen Zauber erlegen, so widernatürlich erscheint es uns. Heute, da so vieles über uns dahingegangen ist, vermögen wir kaum mehr, unsere damalige Lage und Stimmung in der Erinnerung voll aufleben zu lassen: der deutsche Name miß­achtet 281 Vgl. dazu oben Kapitel IX. 282 Ihm fehlt das konservative Element (italienisch).

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und verfemt, das Reich machtlos und ehrlos der Willkür fremder Sieger ausge­ liefert, seelisch zu Boden getreten, wirtschaftlich zu Grunde gerichtet, alle natürlichen Auswege versperrt, alle gewöhnlichen Mittel erschöpft, vor uns die Aussicht auf Massenaufstand und Bürgerkrieg, vor denen uns zu bewahren von den bisherigen Machthabern keiner sich die Kraft zutraute, keiner den Entschluß fand – ist es zu verwundern, daß wir uns dem in die Arme warfen, der uns Befreiung und Aufrichtung versprach und, vom Glück in außerordent­licher Weise begünstigt, von Erfolg zu Erfolg schreitend dem ersehnten Ziel sich zu nähern schien? Von dem allen will ich nicht mehr reden. Ich brächte es nicht über mich, diese ganze Zeit von 1918 bis 1945, die ich nur als Einheit sehen kann, diese Jahre mit ihrem beständigen Schwanken zwischen Hoffnung und Entmutigung, mit all ihrem Leiden und Entbehren, ihrem Wechsel von Augenblicken trügerischen Glanzes und finsteren Stunden, wo man schon das Signal des Untergangs aus der Ferne zu vernehmen glaubte, mit ihren Täuschungen und Enttäuschungen bis zum fürchterlichen Ende noch einmal zu durchleben. Und wenn ich es könnte, so wüßte ich doch aus eigener Wahrnehmung zu dem, was jedermann weiß, zu wenig nur hinzuzufügen, was das Gesamtbild ergänzen und schärfer beleuchten könnte. Zu denen um Hitler habe ich keine Beziehungen gehabt. So lebhaft ich sein öffentlich verkündetes Ziel begrüßt hatte, so sehr ich auch später seine Erfolge anerkennen mußte, so fehlte mir doch, wie schon bemerkt, das feste Vertrauen zu seiner Persönlichkeit und die Zweifel wuchsen rasch. Schon bald glaubte ich zu bemerken, daß ihm die Kunst des Regierens versagt war, die darin besteht, die eigenen Absichten durch andere ausführen zu lassen. Wie sehr ihm das Augenmaß, der Sinn für das Mögliche abging, verriet er mir schon in den ersten Wochen seiner Amtsführung durch den ersten schüchternen Ansatz zur Judenverfolgung (April 1933). Ich werde daran erinnert, damals geäußert zu haben, dies sei der erste kapitale Fehler, und daran werde er scheitern.283 Völlig irre bin ich an ihm geworden durch den 30. Juni 1934. Seitdem sah ich in ihm die tragische Gestalt nach der Art eines Cola di Rienzo und fragte mich, wie lange es dauern und ob er das Reich in den eigenen Untergang mitreißen werde oder ob es ihm beschieden sei, trotz allem ans Ziel zu gelangen und Deutschland zu befreien und aufzurichten.284 Und wenn ihm das glückte, müßte man ihn dann nicht hinnehmen, wie er war, und ihm seine Fehler verzeihen? Daß es Unzähligen ebenso gegangen ist wie mir, halte ich für ­gewiß. Wir waren dem Reisenden vergleichbar, der, selbst unbewaffnet, den Revolver in der Hand des Mitreisenden erblickt, bei dem er mit Schrecken die Zeichen des Irrsinns zu erkennen glaubt. War dieser Hitler ein inkommensurables Genie und darum unverständlich, oder war er geisteskrank? Mit der Zeit schwanden die Zweifel, und wir fragten uns nur noch, ob wir es mit einem 283 Aus den erhaltenen Briefen ist diese Behauptung nicht nachweisbar. Zu Hallers Verhältnis zum Nationalsozialismus vgl. oben Kapitel VIII.1. 284 Cola di Rienzo (1313/14–1354), römischer Volkstribun (BAChr 80, S. 202–206).

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Wahnsinnigen oder mit einem Verbrecher zu tun hätten. Nach allem, was seitdem bekannt geworden ist, dürfte er beides gewesen sein. Was war da zu tun? Handeln, sich durch die Tat zu retten suchen oder gar sich zu wehren, wäre sinnlos gewesen, da die hierzu Berufenen untätig blieben. Es gab nur eines: sich still verhalten und die Hoffnung nicht ganz zu ver­ lieren, daß das Schicksal Erbarmen mit dem deutschen Volk haben und es durch ein Wunder retten werde. Die Hoffnung hat getrogen, das Schicksal hat keine Gnade walten lassen, und über Deutschland ist das Todesurteil gesprochen worden, dessen Vollstreckung wir erleben. Das Urteil war verdient. Nicht in dem Sinne, wie es heute eine parteiisch befangene oder gedankenlos oberflächliche Tagesmeinung versteht, als ob das Volk für die Untaten seiner Beherrscher gestraft werden müsse, von denen es die längste Zeit nicht einmal gewußt hat. Nein! In der Geschichte wie in der Dichtung gründet sich das Urteil nicht auf die letzte Szene; von der Exposition anfangend, durch alle Akte hindurch zieht sich die tragische Schuld, die zuletzt den Untergang herbeiführt und als Notwendigkeit rechtfertigt. Indem ich meine Erinnerungen an das Deutschland, das ich gesehen und erlebt hatte, noch einmal vorüberziehen lasse, bin ich betroffen von der Folgerichtigkeit der Entwicklung, deren Zeuge ich war. Wie der Held im Trauerspiel an der eigenen ­Hybris scheitert, so mußte Deutschland tragisch enden, weil es unternahm, was über seine Kräfte ging. Aber wenn die Deutsche Geschichte ein Trauerspiel war, in dem sich Schuld und Schicksal verketten, so war sie doch die Tragödie eines Helden. Der deutsche Admiral, der am 8. Mai 1945 den Feinden die Unterwerfung erklärte, hatte recht, als er sagte, niemals habe ein Volk mehr geleistet und mehr gelitten als das Deutsche.285 Und wenn wir heute gebrochenen Herzens an seinem Grabe stehen, so dürfen wir ihm doch ungescheut die Inschrift setzen: Dies Volk, was immer es gefehlt haben mag, ist unsterblich, denn es hat auf allen Gebieten menschlichen Schaffens Größtes vollbracht. Ohne Ruhmseligkeit und ohne Übertreibung kann es wie sein Ebenbild in der Dichtung sprechen: Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn.286

2. September 1946.

285 Karl Dönitz (1891–1980), deutscher Großadmiral, 1945 Reichspräsident (DBA III, 184, S. 221 f.). Vermutlich bezieht sich Haller hier auf Dönitz’ Ansprache an das deutsche Volk am 1. Mai 1945, in der er erklärte: »Was das deutsche Volk in dem Ringen dieses Krieges kämpfend vollbrachte und in der Heimat ertragen hat, ist geschichtlich einmalig.« (Walter Lüdde-Neurath: Regierung Dönitz. Die letzten Tage des Dritten Reiches, Göttingen u. a. 3 1964, Anlage 7a, S. 132.) 286 Johann Wolfgang von Goethe: Faust II, 5. Akt, V. 11583 f.

Literaturverzeichnis 1. Ungedruckte Quellen Basel, Universitätsbibliothek (UB Basel) Overbeckiana: Nachlass Franz Overbeck

Basel, Staatsarchiv Basel-Stadt PA 88a J 10: Historische und Antiquarische Gesellschaft zu Basel, Akten betr. »Concilium Basiliense« PA 82a L 1.5 112: Nachlass Rudolf Wackernagel, Korrespondenz mit Johannes Haller

Berlin, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Archiv der BBAW) NL E. Meyer: Nachlass Eduard Meyer

Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA) VI. HA, NL Meinecke: Nachlass Friedrich Meinecke VI. HA, NL Althoff: Nachlass Friedrich Althoff VI. HA, NL Brackmann: Nachlass Albert Brackmann VI. HA, NL Kehr: Nachlass Paul Fridolin Kehr

Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin NL Bresslau: Nachlass Harry Bresslau NL Max Lenz: Nachlass Max Lenz NL Adolf von Harnack: Nachlass Adolf von Harnack NL Delbrück: Nachlass Hans Delbrück Slg. Darmst.: Standortkonvolut Ludwig Darmstaedter/2 Philosophische Wissenschaften/2f Geschichte

Bonn, Universitäts- und Landesbibliothek S 2761: Nachlass Aloys Schulte, Korrespondenz mit Johannes Haller

Den Haag, Letterkundig Museum H 08961: Korrespondenz zwischen Johannes Haller und Johan Huizinga

Freiburg, Universitätsbibliothek (UB Freiburg) NL 12: Nachlass Ludwig Schemann

Gießen, Universitätsarchiv (UAG) Theol 9: Johannes Haller an die Theologische Fakultät Gießen

Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek (SUB Göttingen) Cod. Ms. R. Smend: Nachlass Rudolf Smend Cod. Ms. K. Brandi: Nachlass Karl Brandi Cod. Ms. A. O. Meyer: Nachlass Arnold Oskar Meyer

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Literaturverzeichnis

Heidelberg, Universitätsbibliothek Heid. Hs. 4067: Nachlass Karl Hampe

Koblenz, Bundesarchiv (BArch) N 1221: Teilnachlass Theodor Heuss N 1035: Teilnachlass Johannes Haller

Marbach, Deutsches Literaturarchiv (DLA Marbach) Cotta Br.: Cotta-Archiv, Briefe von Johannes Haller

Marburg, Hessisches Staatsarchiv 340 Stengel: Nachlass Edmund Stengel

München, Archiv der Monumenta Germaniae Historica (MGH-Archiv) NL Bock 182: Nachlass Friedrich Bock, Materialien zur Edition der Briefe P. F. Kehrs

München, Bayerische Staatsbibliothek (BSB) Schwartziana: Nachlass Eduard Schwartz

Rom, Archiv des Deutschen Historischen Instituts Rom (DHI – Archiv, Ältere Registratur) 32: Korrespondenz betr. Repertorium Germanicum, 1898–1915 81: Anfragen an das Institut und wissenschaftliche Korrespondenz

Sigmaringen, Staatsarchiv Wü 13 T 2 Nr.  2091/192: Entnazifizierungsakten der Spruchkammer Tübingen: Haller,­ Johannes, Prof.

Stuttgart, Hauptstaatsarchiv E 135 b: Landesausschuss der Soldatenräte Württembergs E 156: Ministerium des Innern: Adelssachen P 10: Archiv der Freiherren Varnbüler von und zu Hemmingen

Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek (WLB) Cod. autogr.: Korrespondenz zwischen Johannes Haller und Hermine Prinzessin Reuss

Tübingen, Universitätsarchiv (UAT) 47: Sitzungsprotokolle des Großen Senats der Universität Tübingen 117: Akademisches Rektoramt, Hauptregistratur 119: Kanzler (II): 1806–1952 126: Akademisches Rektoramt, Personalakten des Lehrkörpers (Personalakte Johannes Haller) 131: Philosophische Fakultät (IV): 1868–1976 305: Teilnachlass Johannes Haller

Zürich, Zentralbibliothek Nachlass E. Fueter

Zürich, ETH-Bibliothek Hs 1227: Fueter, Eduard. Unterlagen zur Person

Gedruckte Quellen

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2. Gedruckte Quellen a) Publikationen Hallers – Die Thronbesteigung Kaiserin Katharinas I., in: Russische Revue 30 (1890), S. 210–226 und S. 265–279. – Die Deutsche Publizistik in den Jahren 1668–1674. Ein Beitrag zur Geschichte der Raubkriege Ludwigs XIV., Heidelberg 1892. – Franz von Lisola. Ein österreichischer Staatsmann des 17. Jahrhunderts, in: Preußische Jahrbücher 69 (1892), S. 516–546. – Die Verhandlungen von Mouzon (1119). Zur Vorgeschichte des Wormser Konkordats, in: Neue Heidelberger Jahrbücher II (1892), S. 147–164 (wieder abgedruckt in: ders.: Abhandlungen zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1944, S. 175–195). – Rez. »Joseph Reinach: Recueil des instructions donées aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traités de Westphalie jusqu’à la Revolution française, X: Naples et Parme, avec une introduction et des notes, Paris 1893«, in: HZ 73 (1894), S. 114–117. – Rez. »Theodor Lindner: Deutsche Geschichte unter den Habsburgern und Luxemburgern (1273–1437), Bd.  2: Von Karl IV. bis zu Sigmund. Die allgemeinen Zustände, Stuttgart 1893«, in: HZ 74 (1895), S. 292–295. – Die Protokolle des Konzils von Basel, in: HZ 74 (1895), S. 385–406. – Rez. »Alfred Francis Pribram: Franz Paul Freiherr von Lisola (1613–1674) und die Politik seiner Zeit, Leipzig 1894«, in: HZ 75 (1895), S. 301–303. – (Hg.): Concilium Basiliense. Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel, Bd. 1: Studien und Dokumente zur Geschichte der Jahre 1431–1437, Basel 1896. – (Hg.): Concilium Basiliense. Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel, Bd. 2: Die Protokolle des Concils 1431–1433. Aus dem Manuale des Notars Bruneti und einer römischen Handschrift, Basel 1897. – Bismarck, in: Sonntagsbeilage der Allgemeinen Schweizer Zeitung Nr. 34 vom 21. August 1898, S. 133–136 [anonym]. – Zionismus und Antisemitismus, in: Sonntagsbeilage der Allgemeinen Schweizer Zeitung Nr. 36 vom 4. September 1898 [anonym]. – Aus Bismarcks Memoiren, in: Allgemeine Schweizer Zeitung Nr. 288 vom 8. Dezember 1898, Nr. 291 vom 11. Dezember 1898 und Nr. 301 vom 23. Dezember 1898 [anonym]. – Aufzeichnungen über den päpstlichen Haushalt aus avignonesischer Zeit. Zwei Aufzeichnungen über die Beamten der Kurie im 13. und 14. Jahrhundert, in: QFIAB 1 (1898), S. 1–38. – Die Verteilung der Servitia Minuta und die Obligation der Prälaten im 13. und 14. Jahrhundert, in: QFIAB 1 (1898), S. 281–295. – Die Ausfertigung der Provisionen. Ein Beitrag zur Diplomatik der Papsturkunden des 14. und 15. Jahrhunderts, in: QFIAB 2 (1899), S. 1–40. – (Bearb.): Urkundenbuch der Stadt Basel, Bd. 7, hrsg. von der Historischen und Antiqua­ rischen Gesellschaft zu Basel, Basel 1899. – Die Ausweisungen in Schleswig, in: Allgemeine Schweizer Zeitung Nr. 28 vom 2. Februar 1899 [anonym]. – Die Folgen des südafrikanischen Krieges, in: Allgemeine Schweizer Zeitung Nr. 304 vom 27. Dezember 1899 [anonym]. – 1900, in: Allgemeine Schweizer Zeitung Nr. 2 vom 3. Januar 1900 [anonym]. – Rußland und Deutschland in Kleinasien, in: Allgemeine Schweizer Zeitung Nr. 144 vom 28. März 1900 [anonym].

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Literaturverzeichnis

– (Hg.): Concilium Basiliense. Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel, Bd.  3: Die Protokolle des Concils von 1434 und 1435. Aus dem Manuale des Notars­ Bruneti und einer römischen Handschrift, Basel 1900. – Eine Rede des Enea Silvio auf dem Concil zu Basel, in: QFIAB 3 (1900), S. 82–102. – Die Belehnung Renés von Anjou mit dem Königreich Neapel (1436), in: QFIAB 4 (1901), S. 184–207 (wieder abgedruckt in: ders.: Abhandlungen zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1944, S. 369–392). – Beiträge zur Geschichte des Konzils von Basel, in: ZGORh 55/NF 16 (1901), S. 9–27 und S. 207–245. – Der Ursprung der gallikanischen Freiheiten, in: HZ 91 (1903), S. 193–214. – Papsttum und Kirchenreform. Vier Kapitel zur Geschichte des ausgehenden Mittelalters, Bd. 1, Berlin 1903. – (Hg.): Concilium Basiliense. Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel, Bd. 4: Die Protokolle des Concils von 1436. Aus dem Manuale des Notars Bruneti und einer zweiten Pariser Handschrift, Basel 1903. – Rede gehalten bei der Grundsteinlegung des Bismarckturms der Gießener Studentenschaft am 29. Juli 1905, Gießen 1905. – Rez. »Friedrich von Thudichum: Papsttum und Reformation im Mittelalter«, in: DLZ 26 (1905), Sp. 1058–1066. – Die Lage der Deutschen in den russischen Ostseeprovinzen, in: Gießener Familienblätter Nr. 3 vom 6. Januar 1906, S. 11. – Die Hilfsaktion für die Deutschen in Rußland, in: Gießener Anzeiger Nr. 39 vom 15. Februar 1906 und Nr. 40 vom 16. Februar 1906. – England und Rom unter Martin V., in: QFIAB 8 (1906), S. 249–304. – Canossa, in: NJKA 17 (1906), S. 102–147 (wieder abgedruckt in: ders.: Abhandlungen zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1944, S. 41–104). – Die Quellen zur Geschichte der Entstehung des Kirchenstaates (Quellensammlung zur deutschen Geschichte 1), Leipzig und Berlin 1907. – Das Papsttum und Byzanz, in: HZ 99 (1907), S. 1–34. – Die Pragmatische Sanktion von Bourges, in: HZ 103 (1909), S. 1–51. – Das Reich Karls des Großen, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1909, S. 11–30. – Die Verschwörung von Segewold, in: Mitteilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 20 (1910), S. 125–168. – Die Kirchenreform auf dem Konzil von Basel, in: KBGV 58 (1910), Sp. 9–26. – Die neue Sammlung der älteren Papsturkunden [Rez. zu »Paul Kehr: Regesta pontificium Romanorum. Italia pontificia, Berlin 1906–1909«], in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 4 (1910), Sp. 1627–1650 und Sp. 1659–1678. – Der Sturz Heinrichs des Löwen, in: AUF 3 (1911), S. 295–450. – Die Marbacher Annalen. Eine quellenkritische Untersuchung zur Geschichtsschreibung der Stauferzeit, Berlin 1912. – Auswärtige Politik und Krieg, in: Julius von Pflugk-Harttung (Hg.): Im Morgenrot der­ Reformation, Hersfeld 1912, S. 53–118. – Die Karolinger und das Papsttum. Vortrag, gehalten auf dem Deutschen Historikertag in Braunschweig im April 1911, in: HZ 108 (1912), S. 38–76 (wieder abgedruckt und um ein Nachwort ergänzt in: ders.: Abhandlungen zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1944, S. 1–40). – Zur Zusammenkunft von Chiavenna 1176, in: MIÖG 33 (1912), S. 681–685. – Pius II., ein Papst der Renaissance, in: Deutsche Rundschau, November 1912, S. 194–220 (wieder abgedruckt in: ders.: Abhandlungen zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1944, S. 67–99).

Gedruckte Quellen

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– Kaiser Heinrich VI., in: HZ 113 (1914), S. 473–504 (wieder abgedruckt in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 47–66). – Heinrich VI. und die römische Kirche, in: MIÖG 35 (1914), S. 385–454 und S. 545–669. – Die Haltung Italiens, in: Tübinger Chronik Nr. 183 vom 8. August 1914. – Der wahre Urheber des Weltkrieges, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 224 vom 15. August 1914. – Der Krieg. Englands auswärtige Politik und ihr Leiter, in: Schwäbischer Merkur Nr. 376 vom 15. August 1914. – 2. Kriegsvortrag von Professor Haller. Die Interessen unserer Gegner. 1. Frankreich, in: Tübinger Chronik Nr. 203 vom 30. August 1914. – 3. Kriegsvortrag von Professor Haller. Die Interessen unserer Gegner. 2.  Rußland, in:­ Tübinger Chronik Nr. 206 vom 2. September 1914. – 4. Kriegsvortrag von Professor Haller. Die Interessen unserer Gegner. 2.  Rußland, in:­ Tübinger Chronik Nr. 208 vom 4. September 1914. – 5. Kriegsvortrag von Professor Haller. Die Interessen unserer Gegner. 3. [!] Rußland, in: Tübinger Chronik Nr. 209 vom 5. September 1914. – 5. [!] Kriegsvortrag von Professor Haller. Die Interessen unserer Gegner. 3. England, in: Tübinger Chronik Nr. 210 vom 7. September 1914. – Britannia delenda, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 256 vom 16. September 1914. – Hindenburg, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 263 vom 23. September 1914. – Hindenburg und Hannibal. Das Cannae der Russen, in: Frankfurter Zeitung vom 26. September 1914. – Gedanken eines Balten, in: Süddeutsche Monatshefte, September 1914, S. 812–816. – Warum und wofür wir kämpfen (Durch Kampf zum Frieden. Tübinger Kriegsschriften 1), Tübingen 1914. – Die baltischen Ostseeprovinzen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 328 vom 27. November 1914. – Zu den Marbacher Annalen, in: HV 17 (1914/15), S. 343–360. – Die historische Grenze zwischen Deutschland und Frankreich – eine moderne Legende, in: Schwäbische Kronik vom 5. Juni 1915. – Wie wir daheim den Krieg erlebten, in: Kriegszeitung der Universität Tübingen. Den­ Studenten im Felde gewidmet, Tübingen 1915 [unpaginiert]. – Der Ursprung des Weltkriegs, Tübingen 1915. – Die baltischen Provinzen, in: Axel Ripke (Hg.): Der Koloß auf tönernen Füßen. Gesammelte Aufsätze über Rußland, München 1916, S. 100–120. – Rez. »Archivo Muratoriano, Heft 14«, in: HZ 116 (1916), S. 343 f. – Die russischen Kriegsziele im Lichte der Geschichte, in: Stimmen aus dem Osten. Aufsätze und Informationen für Tageszeitungen über finnländische, baltische und russische Fragen Nr. 14 vom 1. März 1916. – Was bedeutet die Herrschaft auf der Ostsee?, in: Stimmen aus dem Osten. Aufsätze und Informationen für Tageszeitungen über finnländische, baltische und russische Fragen Nr. 25 vom 24. Mai 1916. bzw. in: Württemberger Zeitung vom 26. Mai 1916. – Deutsch-russische Verständigung?, in: Stimmen aus dem Osten. Aufsätze und Informationen für Tageszeitungen über finnländische, baltische und russische Fragen Nr. 33 vom 19. Juli 1916. – Probleme des Ostens, in: Stimmen aus dem Osten. Aufsätze und Informationen für Tageszeitungen über finnländische, baltische und russische Fragen Nr. 1 vom 29. November 1916. – Bismarcks Friedensschlüsse (Weltkultur und Weltpolitik. Deutsche Folge 10), München 1916. – Die auswärtige Politik des Fürsten Bülow, in: Süddeutsche Monatshefte, Januar 1917, S. 403–428. – Russland und das Nationalitätsprinzip, in: Stimmen aus dem Osten. Aufsätze und Informationen für Tageszeitungen über finnländische, baltische und russische Fragen Nr. 11 vom 7. Februar 1917.

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Literaturverzeichnis

– Die Wege der russischen Revolution, in: März. Eine Wochenschrift, 9. Juni 1917, S. 523–534. – Die russische Gefahr im deutschen Hause (Die russische Gefahr. Beiträge und Urkunden zur Zeitgeschichte 6), Stuttgart 1917. – Deutschland und Frankreich, in: Velhagen & Klasings Monatshefte 31, August 1917 (Bd. 3, Heft 4), S. 493–497. – Die Ursachen der Reformation, Tübingen 1917 [Vortrag gehalten im Württembergischen Goethebund in Stuttgart am 7.11.1917] (wieder abgedruckt in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 129–150). – Der bildende Wert der neueren Weltgeschichte (Geschichtliche Abende im Zentral­institut für Erziehung und Unterricht 8), Berlin 1918 (wieder abgedruckt in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 181–200). – Deutschlands Stellung an der Ostsee (Schützengraben-Bücher für das deutsche Volk 108), Berlin 1918. – Von Tod und Auferstehung der deutschen Nation [Rede des Rektors der Universität Tübingen zur Begrüßung der heimkehrenden Studenten, gehalten am 16.2.1919], Tübingen 1919 (wieder abgedruckt in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 328–343). – Innozenz III. und das Kaisertum Heinrichs VI., in: HV 20 (1920/21), S. 23–36. – Die Ära Bülow. Eine historisch-politische Studie, Stuttgart und Berlin 1922. – Humanismus und Reformation, in: ZKG 42 (1923), S. 328–331. – Aus 50 Jahren. Erinnerungen, Tagebücher und Briefe aus dem Nachlaß des Fürsten­ Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, Berlin 1923. – Die Epochen der deutschen Geschichte, Stuttgart und Berlin 1923; weitere Auflagen: Stuttgart und Berlin 1927 (verbessert), Stuttgart und Berlin 1934 (erweitert), Stuttgart und Berlin 1939 (erweitert), Stuttgart und Berlin 1940, Stuttgart 1941, Stuttgart und Berlin 1942, Stuttgart und Urach 1950, Stuttgart 1954, Stuttgart 1959, München 1962. – Aus dem Leben des Fürsten Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, Berlin 1924. – Warnungszeichen im höheren Schulwesen, in: Schwäbische Kronik Nr. 235 vom 23. Mai 1925. – Der Geschichtsunterricht an höheren Schulen, in: Schwäbische Kronik Nr.  502 vom 27. Oktober 1926 und Nr. 503 vom 28. Oktober 1926. – Gesellschaft und Staatsform. Vortrag gehalten auf der Hauptversammlung des Vereins deutscher Eisenhüttenleute am 28.11.1926, in: Stahl und Eisen 47 (1926), S. 1–8. – Nochmals der Geschichtsunterricht, in: Schwäbische Kronik vom 23. und 24. November 1926. – Der Geschichtsunterricht an den höheren württ. Schulen [Leserbrief], in: Reutlinger­ Generalanzeiger Nr. 299 vom 22. Dezember 1926. – Das altdeutsche Kaisertum, Stuttgart u. a. 1926. – Die Anfänge der Universität Tübingen 1477–1537, 2 Bde., Stuttgart 1927–1929. – Die Befreiungsfeier der Universität, in: Tübinger Chronik Nr. 151 vom 2. Juli 1930. – England und Deutschland um die Jahrhundertwende (Schriftenreihe der weltwirtschaftlichen Gesellschaft zu Münster 22), Leipzig 1929. – Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen, Stuttgart und Berlin 1930. – Verständigung?, in: Berliner Börsen-Zeitung Nr. 361 vom 6. August 1931. – France and Germany. The History of one thousand years, London 1932. – Karl der Große und Widukind, in: Sport-Rundschau. Tägliche Beilage der Süddeutschen Zeitung Nr. 170 vom 25. Juni 1934. – Wendepunkte der deutschen Geschichte, Köln 1934. – Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934. – Der Eintritt der Germanen in die Geschichte, in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 1–46.

Gedruckte Quellen

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– Rheinlands Befreiung, in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 344–355. – Die Monarchie im Wandel der Geschichte, in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 356–375. – Zum 1. April 1933, in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart und Berlin 1934, S. 376–381. – Von den Karolingern zu den Staufern. Die altdeutsche Kaiserzeit (900–1250) (Sammlung Göschen 1065), Berlin und Leipzig 1934. – Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, Bd. 1: Die Grundlagen, Stuttgart und Berlin 1934. – Von den Staufern zu den Habsburgern. Auflösung des Reichs und Emporkommen der Landesstaaten (1250–1519) (Sammlung Göschen 1077), Berlin und Leipzig 1935. – Die Entstehung der germanisch-romanischen Welt, in: Karl Alexander von Müller/Peter Richard Rohden (Hg.): Knaurs Weltgeschichte von der Urzeit bis zur Gegenwart, Berlin und Leipzig 1935, S. 283–335. – Über die Aufgaben des Historikers (Philosophie und Geschichte 53), Tübingen 1935 [Vortrag gehalten im Historischen Verein zu Münster i. W. am 15. November 1934] (wieder­ abgedruckt in: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik 21942, S. 220–241). – Biologie und Geschichte. Ein Vergleich, in: Schweizerische Hochschulzeitung, Juni 1936, S. 40–48. – Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, Bd. 2/1: Der Aufbau, Stuttgart und Berlin 1937. – Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, Bd. 2/2: Die Vollendung, Stuttgart und Berlin 1939. – Der Eintritt der Germanen in die Geschichte (Sammlung Göschen 1117), Berlin und Leipzig 1939, Berlin 21944, Berlin 31957. – Zur Geschichte der deutschen Universitäten, in: HZ 159 (1939), S. 88–102. – (Bearb.): Piero da Monte. Ein Gelehrter und päpstlicher Beamter des 15. Jahrhunderts. Seine Briefsammlung (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 19), Rom 1941. – Der Weg nach Canossa, in: HZ 160 (1939), S. 229–285 (wieder abgedruckt in: ders: Abhandlungen zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1944, S. 105–174. – Erinnerungen an das baltische Pfarrhaus, in: Siegbert Stehmann (Hg.): Der Pfarrerspiegel, Berlin 1940, S. 349–365. – Das Elsaß und das Reich, in: Jahrbücher der Stadt Freiburg i. Br. 4 (1940), S. 20–32. – Bismarck, in: Der Deutsche im Osten, 1940, S. 9–14. – Eine Wende im deutschen Schicksal. Bismarcks Entlassung, in: Stuttgarter Neues Tagblatt vom 24. Dezember 1942. – Vom nationalen Staat. Nachklänge eines politischen Gesprächs mit Karl Straube, in: Karl Straube zu seinem 70. Geburtstag. Gaben der Freunde, Leipzig 1943, S. 278–309. – Abhandlungen zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1944. – Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, Bd. 3/1: Krönung und Einsturz, Stuttgart 1945. – Zum Verständnis der Weltgeschichte, in: Die Pforte 1 (1947), S. 349–367. – Dante. Dichter und Mensch, Basel 1954. – Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit. Verbesserte und ergänzte Ausgabe, 5 Bde., Stuttgart 1950–1953, Darmstadt 1962, Reinbek bei Hamburg 1965. – Lebenserinnerungen. Gesehenes – Gehörtes – Gedachtes, Stuttgart 1960. – Das Drama ist zu Ende. Aus Johannes Hallers unveröffentlichtem Tagebuch, in: Manfred Schmid/Volker Schäfer (Bearb.): Wiedergeburt des Geistes. Die Universität Tübingen im Jahre 1945 (Werkschriften des Universitätsarchivs Tübingen, Reihe 2, Heft 13), Tübingen 1985. S. 34–40.

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Literatur

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Personenregister

Adamow, Evgenij  337 Adenauer, Konrad  222 Adolf Friedrich Herzog von Mecklenburg  419 Alarich I., König der Westgoten  261 Albedyll, Emil von  372 Alexander III., russischer Kaiser  31, 325, 407 Alexander II., russischer Kaiser  394 Alexandrovič, Vladimir  36, 312 Alexejew, Michail  379 Althaus, Paul  10 Althoff, Friedrich  17, 48, 78, 80 f., 87, 90, 92 f., 100, 104, 269, 297 f., 305 Alvensleben, Gustav von  372 Anjou, René von  66, 98 f. Anrep, Egbert von  418 Anrep, Konrad von  418 Aoki Shūzō  327 Arnold, Robert  50 f., 54, 84, 86 Aubin, Hermann  215 Augusta, Königin von Preußen und Deutsche Kaiserin  240 Auguste Viktoria, Königin von Preußen und Deutsche Kaiserin  308, 334, 376, 387 Baden, Max von  362, 422, 428 f. Baethgen, Friedrich  215, 248, 250 Bälz, Rudolf Karl Friedrich  191 f. Barth, Karl  121, 146, 270 f., 437 Bassewitz, Henning Friedrich von  34 Battenberg, Alexander von  325 Battenberg, Ludwig Prinz von  320 Bauer, Albert  197 Bauer, württembergischer Ministerialrat  196 Baumgartner, Adolph  66 Bazille, Wilhelm  187 f., 343 Bebel, August  299 Beck, Ludwig  268 Below, Georg von  10, 75, 144, 215 Benedetti, Vincent Graf  240 Berenberg-Goßler, John von  300 Berens, Eduard von  350

Bernoulli, Johannes  58 Beseler, Dora von  212 Beseler, Hans von  376 Bess, Bernhard  87, 98 Best, Werner  273 Bethmann Hollweg, Theobald von  307, 329–331, 333–335, 341, 349–351, 354, 357–359, 361 f., 372, 376, 396, 400, 405 f., 417, 426 Bismarck, Herbert von  324 f. Bismarck, Otto von  19, 33, 41 f., 44, 57, 67, 69 f., 107 f., 115, 121 f., 125, 131, 148, 151, 154, 178 f., 207–209, 212, 214, 221, 227, 229, 239 f., 255, 259, 290, 297 f., 307, 312, 318, 320, 323, 325–327, 329, 332, 336 f., 343, 347–349, 351 f., 357 f., 360, 362, 368, 372, 382, 407 f., 424 Bloch, Marc  210 Blumenthal, Leonhard von  372 Blume, Wilhelm von  192, 195 Bodelschwingh, Friedrich von  238 Boehmer, Heinrich  133 Boehm, Max Hildebert  23, 32, 38, 42, 107, 138, 197 Bölsche, Wilhelm  273 Bonifaz VIII., römischer Papst  252 f. Bonus, Arthur  174 Boos, Heinrich  66 Borchardt, Rudolf  265 Bosch, Robert  17, 222, 237 f., 268, 430 Böse, Georg  280 Bosse, Heinrich  197 Bourdieu, Pierre  12 Brackmann, Albert  110, 137 f., 182, 235, 247–251 Brandi, Karl  75, 78, 101 f., 253 f. Braun, Martin  20, 274 Bresslau, Harry  110 Breuer, Stefan  222 Broedrich, Silvio  413 Brown, Dan  47 Brückner, Alexander  34 f. Brunet, Pierre  58 Brüning, Heinrich  386, 388 f. Brutus, Marcus Junius  320

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Personenregister

Buek, Otto  116 Buhl, Franz von  417 Bülow, Bernhard von  69, 77, 86, 95, 125, 131, 151–153, 163–166, 179, 201, 293, 298–300, 314 f., 318–324, 328 f., 331, 337, 356, 360 Bülow, Karl von  366 f., 370, 373 Bülow, Maria Anna Zoë Rosalia von  324 Bülow, Otto von  302 Bultmann, Rudolf  10, 12 Bunsen, Robert  68 Burckhardt, Jacob  135, 199 Burke, Edmund  318 f. Caillaux, Joseph  332 Camprédon, Jacques de  34 Caprivi, Leo Graf von  69, 324 Cartellieri, Alexander  126, 171 Cäsar, Gaius Julius  293, 320 Caspar, Erich  243, 245 f., 253 Charlotte, Königin von Württemberg  430, 433 Chaudordy, Jean-Baptiste Alexandre Damaze de  337 Churchill, Winston  263 Cicero, Marcus Tullius  234 Clark, Christopher  287 Clarke, George Sydenham  368 f. Claß, Heinrich  169, 386, 399 Clausewitz, Carl von  374 Crispi, Francesco  66 Curtius, Friedrich  159 Daimler, Gottlieb  430 Damaschke, Adolf  415 Dannenbauer, Heinrich  18, 182, 197, 214–216, 229–235, 241 f., 244, 246, 249, 257, 278 Dante Alighieri  269, 277 f. Darré, Walther  233 Davidsohn, Robert  324 Dehio, Georg  344 Dehio, Ludwig  278 Delbrück, Hans  120 f., 125 f., 137, 151 f., 314 Dellingshausen, Eduard Freiherr von  411, 413, 418–420 Dickens, E. W.  211 Diderot, Denis  372 Dilthey, Wilhelm  13, 177, 199 Dmowski, Roman  403 Domaszewski, Alfred von  91, 291

Dönitz, Karl  265, 439 Driesch, Hans  273 Droysen, Johann Gustav  10, 44, 199 Dryander, Ernst von  303 Duisberg, Carl  296 Ebbinghaus, Christoph  431 Ebert, Friedrich  160, 386 Eckardt, Heinrich von  309 f., 394 f. Eckardt, Julius von  69, 292, 299, 309, 323, 338 Eckermann, Johann Peter  9, 303 Eduard VII., englischer König  341, 346, 350 Egelhaaf, Gottlob  391 Ehrhardt, Hermann  223 Eichhorn, Hermann von  381 Einem, Karl von  311, 381 Einstein, Albert  116 Eitel, Anton  236 Elisabeth, russische Kaiserin  392 Elster, Ludwig  87, 93 Emmich, Otto von  370 Erasmus Desiderus  134 Erdmann, Carl  215, 248, 250 f. Erdmannsdörffer, Bernhard  44–46, 50, ­52–54, 57 f., 291 Ernst, Fritz  10, 165, 246, 277 Ernst, Max  431 Erzberger, Matthias  297, 382 Eschenburg, Theodor  261 Eugen IV., römischer Papst  60 Eulenburg, Augusta zu  156, 165, 317 Eulenburg-Hertefeld, Friedrich Wend zu  165 Eulenburg-Hertefeld, Philipp zu  18, 39, 69 f., 124, 129 f., 137, 139, 144, 147, ­151–166, 176, 178, 181, 191, 197, 201, 211, 221, 310–317, 321, 335, 343–345, 385 f. Falkenhayn, Erich von  360, 375 f., 391 Feldmann, Otto  386 Féronce, Albert Dufour von  212 Fichte, Johann Gottlieb  218 Ficker, Julius  170 Finke, Heinrich  236 Fischer, Fritz  119 Fisher, John Arbuthnot 1st Baron  345 Fleiner, Fritz  245 Förster, Wilhelm  116 Frank, Walter  235

Personenregister Frantz, Günther  419 f. Franz, Günther  218 Frauendienst, Werner  212 Freifeld, Konrad  350 Friedensburg, Walter  49 f., 75 f. Friedrich August III., König von Sachsen  434 Friedrich Franz II. von Mecklenburg  381 Friedrich I. Barbarossa, römisch-deutscher Kaiser  170 Friedrich I., Großherzog von Baden  348 f. Friedrich III., römisch-deutscher Kaiser  180 Friedrich II., preußischer König  56, 176, 179, 218, 238, 370, 392 Friedrich II., römisch-deutscher Kaiser  170 f. Friedrich Wilhelm IV., preußischer König  163, 178 Fueter, Eduard  17, 72, 100 f., 115, 138, 197, 199, 225 f., 237, 241, 252, 255, 261 f., 269 f., 274, 359 Fueter, Eduard d. J.  17 Fueter-Gelzer, Adelheid  100–103, 333 Fuhrmann, Horst  254 Gascoyne-Cecil, Robert, 3. Marquess of Salisbury  337, 349, 368 Gayl, Wilhelm Freiherr von  389 Geibel, Emanuel  399 Gelzer, Heinrich  348 Gelzer, Matthias  72 George, Stefan  171 Gerlach, Hellmut von  94 f., 259, 293, 295 Gert von Pistohlkors, Gert von  33 Gierke, Otto von  298 Giers, Nikolaj Karlovič  326 Gisevius, Hans Bernd  268 Gisi, Martin  59 Gladstone, William Ewart  348 f. Gmelin, Ulrich  246 Goebbels, Joseph  225, 238, 256 Goeben, August von  372 Goethe, Johann Wolfgang von  9, 199, 249 f., 256 f., 266, 269, 274, 300, 303, 308, 341, 434, 436, 439 Goetz, Walter  109 Goeze, Johann Melchior  409 Goltz, Colmar von der  381 Gördeler, Carl  268 Göring, Helmut  197, 218, 233

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Göring, Hermann  257 Gortschakow, Alexander Michailowitsch  325 Goßler, Alfred von  421 Gregor IX., römischer Papst  252 Gregor VII., römischer Papst  247 f., 250 f. Grimm, Melchior Freiherr von  372 Groener, Wilhelm  386 f., 389 Gundel, Hans Georg  278 Gustav II. Adolf, schwedischer König  174, 302 Haar, John  20 Haber, Fritz  10 Habermaas, Hermann von  185 Haeckel, Ernst  273 Haendle, Otto  240 Hahnke, Wilhelm  371 f. Hahn, Kurt  429 Haldane, Richard Burdon 1st Viscount  341 Haller, Agnes  28 Haller, Amalie (Marie), geb. Sacken  24, 28, 101 Haller, Anton (Hermann)  17 f., 24, 26–31, 34–37, 41, 55, 57–59, 61, 66, 69, 71 f., 74, 76–78, 80 f., 86, 90–94, 96 f., 99–101, 106, 108, 125, 152, 275 Haller, Antonie  29 f., 100 Haller, Bernhard  302, 370 Haller, Elisabeth  256, 260, 262 Haller, Elisabeth, geb. Fueter  66, 72, 100 f., 103, 196, 198, 255, 262, 269, 271, 348, 354 Haller, Gotthard  349, 354, 411 Haller, Hans Jakob  24, 100, 138, 182, 190, 216, 218, 221, 223, 225 f., 228 f., 233, 239 f., 255 f., 259–263, 268 f., 274, 302 Haller, Helene  25 f., 28–31, 35, 38–40, 43, 58, 61 f., 64, 67, 72–74, 100, 113, 157, 275 Haller, Natalie, geb. Ignatius  28 Haller, Roland  226, 252, 260–262 Hamilton, Ian  341 Hammann, Otto  322, 334 Hampe, Karl  78, 92, 101 f., 105, 126, 128, 215 Hannibal, karthagischer Feldherr  120 Harden, Maximilian  306, 312–315 Harnack, Adolf (von)  42, 53, 70 f., 77, 81 f., 86 f., 96, 107, 127, 149, 202, 222, 239, 298, 303–306 Harnack, Otto  53 Hartmann, Eduard von  274

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Personenregister

Hartung, Fritz  182 Hauck, Albert  181 f. Haushofer, Albrecht  265 Hausmann, Richard  34 Haußer, Hermann  405 f. Haußmann, Conrad  152, 316, 387, 427, 429 f. Heck, Philipp Nicolai von  111 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  177, 181, 274 Hegel, Karl  10 Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern  102 f., 105 Heinrich IV., römisch-deutscher Kaiser  247–249, 251 Heinrich VI., römisch-deutscher Kaiser  111, 131 Heinrich von Preußen  375 Heller, Hermann  181 Hengstenberg, Ernst Wilhelm  303 f. Hentsch, Richard  369 f., 381 Herder, Johann Gottfried  303 Hermine Prinzessin Reuß  17, 164, 312, 388 Hertling, Georg von  128, 297 f., 379, ­382–384, 428 Herzl, Theodor  68 Heuss, Theodor  17, 95, 259 Heydebrand, Ernst von  328 f., 410 Heydt, Karl von der  364 Heye, Wilhelm  387 Hieber, Johannes  428 f. Himmler, Heinrich  268 Hindenburg, Oskar von  386 Hindenburg, Paul von  17, 119 f., 128–130, 219, 287, 360, 366, 376–390, 413 Hintze, Otto  200 Hitler, Adolf  107, 150, 219, 221 f., 225, ­227–229, 232, 239, 255 f., 258–260, ­262–264, 268, 270, 284, 300, 302, 347, 388, 437–439 Hoetzsch, Otto  125 f., 137, 408–410 Hofer, Andreas  232 Hoffmann, Max  384 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu  299, 324 Hoiningen, Ernst von, gen. Huene  373 f. Holl, Karl  48 f., 133 Hollmann, Friedrich von  343 Holstein, Friedrich von  316, 323–328, 334 Holtzendorff, Ida von  327 Holtzmann, Robert  109 f. Horkheimer, Max  236

Hugo, Victor  207 Huizinga, Johan  9, 17, 21, 196, 199, 212, 217, 229, 236, 245 Hülsen-Häseler, Dietrich von  371 f. Ignatius, Adelheid, geb. Haller  17, 24, 28 f., 101, 111, 143, 156, 192, 195 f., 237–239, 271 Innozenz III., römischer Papst  131, 251 f. Iwanow, Nikolai  379 Jäckh, Ernst  330 f., 362 Jagow, Gottlieb von  334, 354, 362–365, 368, 395, 400 Jesus von Nazareth  27, 243 Johannes XXII., römischer Papst  99, 252 Johann Georg I., Kurfürst von Sachsen  180 Johann Georg von Schoenaich-Carolath  388 Johann Sigismund, Markgraf von Brandenburg  180 Jonin, Madame  332, 341, 354 Jülicher, Adolf  91 Jung, Edgar Julius  225 Jünger, Ernst  273 Jung-Stilling, Johann Heinrich  303 Kaehler, Siegfried A.  256 Kantorowicz, Ernst  171 Kapp, Wolfgang  123, 162 Karl der Große  103, 205, 230–234, 247, 261 Karl V., römisch-deutscher Kaiser  173, 252, 406 Katharina II., russische Kaiserin  372 Katharina I., russische Kaiserin  34 f., 42 Kaudelka, Steffen  20, 210 Kehr, Paul Fridolin  17 f., 75–81, 83 f., ­86–93, 95 f., 98, 101–103, 138 f., 154, 183, 191, 199, 211, 217, 241, 245, 282 Kemnitz, Hans Arthur von  394 f., 419 Kern, Fritz  210 Kessel, Gustav von  396 Kiderlen-Wächter, Alfred von  311, ­330–334, 341, 351 Kirn, Paul  215 Klopstock, Friedrich Gottlieb  348 Kluck, Alexander von  381 Kluckhohn, Paul  201 Knappe, Wilhelm  338 Knies, Karl  45 Köhler, Ludwig von  430 f. Kokowzow, Wladimir Nikolajewitsch  353

Personenregister Kondylis, Panajotis  224 Konrad II., römisch-deutscher Kaiser  170 Konrad I., ostfränkischer König  169 Körte, Alfred  116, 121, 212, 228, 236, 245 Koser, Reinhold  42, 44, 55 f., 79–81 Köster, Hans von  364 f. Köster, Roland  212 Kotowski, Mathias  21 Kraus, Hans-Christof  15, 20 Kriege, Johannes  357 f., 397, 415, 417 Kroeger, Gerd  197 Kröner, Robert  240 Krüger, Paul  310 Kuhl, Hermann von  381 Kühlmann, Richard von  128, 396 f., 415 Lammers, Hans Heinrich  238 Lamprecht, Karl  10, 200, 215 Langenbuch, Carl  325 Langewiesche, Dieter  113 Laqueur, Richard  195 f., 214 Lauenstein, Otto von  367 Ledóchovski, Wladimir Graf  363 Lehmann, Max  55 f. Lenin, Wladimir Iljitsch  392, 412 Lenz, Max  44, 60, 74, 79 f., 200 Lenz, Wilhelm  197 Leo XIII., römischer Papst  47, 96, 337 Lessing, Gotthold Ephraim  134, 177, 409 Leszczynski, Paul von  381 Lichnowsky, Karl Max Fürst von  361 Liebeneiner, Wolfgang  239 f. Liebig, Hans von  307 Liebig, Justus  307 Lietzmann, Hans  218 Liman von Sanders, Otto  351 Lindner, Theodor  55 Lisola, Franz Paul Freiherr von  54 Loë, Walter Freiherr von  328 Löffler, württembergischer Oberregierungs­ rat  191 f. Lohse, Hinrich  256 Losch, Hermann  18, 44, 149, 224, 237 Lossow, Otto von  381, 389 Lucius von Stoedten, Hellmuth Freiherr  350 f., 363 Ludendorff, Erich  287, 366, 378–383, 386, 389 f., 402, 411, 423 Ludwig IIII., König von Bayern  434 Ludwig XIV., französischer König  44, 46, 175, 205, 208

477

Luetgebrune, Walther  223 Luise, Großherzogin von Baden  128, 377 f. Luther, Hans  222 Luther, Martin  62, 131–135, 173 f., 250 Lyncker, Moritz Freiherr von  372 Machiavelli, Niccolò  253 Mangoldt-Gaudlitz, Hans von  374 Mann, Golo  10, 280, 429 Manteuffel, Edwin Freiherr von  371 f. Marcks, Erich  56, 175, 200, 204 Marcus Aurelius  291 Margerie, Pierre de  309 f. Marschall, Ulrich Freiherr von  372 Marschall von Bieberstein, Adolf  310, 324 Mathilde Bonaparte  367 Mathilde von Tuszien  251 Maximilian I., römisch-deutscher Kaiser  173, 406 Meinecke, Friedrich  10, 17, 55, 101, 106, 126 f., 134, 137 f., 149, 163, 169, 177, ­198–200, 222, 244, 256, 272, 406 Mergenthaler, Christian  230, 233 Meyer, Arnold Oskar  145, 212 Meyer, Eduard  125, 246 Meysenbug, Mathilda Freiin von  321 Michaelis, Georg  123, 396 Mises, Ludwig von  226 Mittelstädt, Otto  292 Mohl, Ottmar von  129 Mohrenheim, Arthur von  337 Moltke, Helmuth Graf von (1800–1891)  120, 371–374, 381 Moltke, Helmuth Graf von (1848–1916)  240, 360, 367–371, 374 f., 380, 382 Moltke, Kuno Graf von  313 Mommsen, Theodor  10, 293 Mommsen, Wilhelm  212 Monts, Anton Graf  368 Mosse, Rudolf  323 Müller, Heribert  20, 99 Müller, Karl  332 Müller, Karl Alexander von  239 Muschler, Reinhold  165, 317 Mussolini, Benito  226, 437 Mutius, Gerhard von  393 Napoléon Bonaparte  177, 373 Napoléon III., französischer Kaiser  207, 240, 367 Naudé, Albert  44, 55 f.

478

Personenregister

Naumann, Friedrich  95, 107 f., 228, 259, 293–295, 297 Neurath, Konstantin von  238 Neuscheler, Eugen  9, 277 Nicolai, Georg Friedrich  111, 116 Nicolson, Harold  301, 320 Niemöller, Martin  302 Nieser, Fritz  429 Nietzsche, Friedrich  70, 273–275, 333 Nikolaus II., russischer Kaiser  32, 155, 162, 349–351, 394, 404 Nikolaus I., russischer Kaiser  394, 407 Nohl, Herman  177 Noske, Gustav  160, 222 Nostradame, Michel de  157 Nowak, Karl  164, 312, 368 Ockham, Wilhelm von  202 Oettingen, Alexander von  305 Oncken, Hermann  152, 198, 200, 235, 336 Oncken, Wilhelm  336 Otto IV., römisch-deutscher Kaiser  170 Overbeck, Franz  31, 70–72, 181 f., 244, 305 f. Papen, Franz von  219 f., 300, 388–390 Pappenheim, Karl Rabe von  94 Paris, Gaston  97 Père Joseph  324 Perraud, Albert  207 Peter III., russischer Kaiser  392 Peter I., russischer Kaiser  34, 404 Petrus  243 f., 246 Philipp von Schwaben  406 Piłsudski, Józef  402 f. Pistorius, Theodor von  432 Pius II., römischer Papst  103 Platen, August von  290 Plessen, Hans von  311, 374 Pleyer, Kleo  223 Pöhlmann, Otto  139 Poliwanow, Alexei Andrejewitsch  404 Potemkin, Gregor Alexandrowitsch Fürst  372 Pourtalès, Friedrich  350 Pribram, Alfred Francis  45, 55 Prittwitz, Max von  366, 373, 380 Protopopow, Alexander  393 Pückler, Carl Graf von  397, 437 Quidde, Ludwig  48–50, 54, 57, 75

Radowitz, Otto von  383 Raffael  294 Ranke, Leopold von  13 f., 60 f., 136 f., 199 f., 234, 241, 243 f., 246, 249, 281 Rathenau, Walther  194, 365 Rauch, Christian  108 Rauch, Georg von  197 Redl, Alfred  367 Reinach, Joseph  55 Reinhardt, Walther  366 Richelieu  205, 208, 324 Rienzo, Cola di  264, 438 Rießler, Paul  140 Ringer, Fritz  103 f., 183 Ritter, Gerhard  10–12, 14, 134 f., 201–203, 256, 272, 278 Ritter, Konstantin  184 Roggenbach, Franz von  69 Röhm, Ernst  225, 264, 300 Rohrbach, Paul  125 f., 393, 400 f. Roon, Albrecht von  371 f. Ropp, Friedrich von der  383 Ropp, Goswin Freiherr von der  75 f., 92 Rörig, Fritz  215 Rosenberg, Alfred  190, 218, 220 f., 225, 231–233, 239 Rößler, Constantin  325 Rothfels, Hans  10, 33 Rümelin, Max von  185, 191 f. Saburov, Andrei Aleksandrovič  326 Saburov, Petr Aleksandrovič  326 Schachleiter, Alban  238 Schäfer, Dietrich  279 Scharpff, Oskar von  431 Scheel, Otto  196, 212, 237, 245 Scheer, Reinhard  344 Scheffer-Boichorst, Paul  43, 215 Scheidemann, Philipp  160 Schellendorf, Friedrich Bronsart von  336 Schemann, Ludwig  155, 224 Schieder, Theodor  10, 20, 168, 261 Schiemann, Theodor  341 f., 371, 378, 392, 408 f. Schiller, Friedrich  272 Schirren, Carl  32, 273 Schlageter, Albert Leo  204 Schleicher, Kurt von  389 f. Schleiermacher, Friedrich  174, 177, 303 Schlieffen, Alfred von  120, 367–370, ­373–375, 380

Personenregister Schlözer, Kurd von  50 Schmeidler, Bernhard  215 Schmidt, Alexander  34 Schmidt, Arthur Benno  111, 140, 315 Schmidt, Axel  393, 401 Schmid, Wilhelm  184 Schmoller, Gustav  43, 56, 200 Schneider, Gustav  317, 333, 357 Schoen, Wilhelm Freiherr von  330 Schoeps, Hans-Joachim  298 Schopenhauer, Arthur  274 Schottmüller, Konrad  48 Schoultz, Gustav von  344 Schramm, Percy Ernst  10, 229, 256 Schücking, Walther  294 Schulte, Aloys  21, 75–82, 84, 86 f., 90, 95, 210 Schultze-Gävernitz, Gerhard von  422 Schwartz, Eduard  139, 182, 196 f. Schwerin, Luise Gräfin von  313 Seeberg, Reinhold  144, 174 Seeckt, Dorothee von  386 Seeckt, Hans von  224, 386 f. Seeliger, Gerhard  92 Senden-Bibran, Gustav von  344 f. Seppelt, Franz Xaver  243, 246, 253 Shakespeare, William  320 Siemens, Carl Friedrich von  127, 406 Sigismund, römisch-deutscher Kaiser  173 Simonsfeld, Henry  55 Skoropadski, Pawlo  402 Smend, Rudolf  17, 196, 223 Sokolowski, Paul  351 Sombart, Werner  10, 224 Souchon, Wilhelm  311 Spahn, Martin  17, 76 Speer, Helmut  197 Spengler, Oswald  214, 225 f., 261, 274 f. Srbik, Heinrich Ritter von  200 f. Stackelberg-Sutlem, Eduard von  32 Stadelmann, Rudolf  272 Stalin, Josef  372 Stapel, Wilhelm  254 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von  268 Stegerwald, Adam  388 Stein, August  323 Stein, Karl Freiherr vom und zum  218 Stengel, Edmund  182 Stock, Wolfgang  193 f. Stolypin, Petr A.  351–353 Stosch, Albrecht von  372, 381 Strasser, Gregor  221

479

Strasser, Otto  221 Straube, Karl  228, 245, 257, 259 Strauch, Philipp  29 Strobel, Hans  232 f. Stumm, Wilhelm von  334 f. Svinhufvud, Pehr Evind  377 Sybel, Heinrich von  48 f., 170, 249, 337 Tausig, Karl  324 Tellenbach, Gerd  215, 248, 250 Teutsch, Friedrich  302 Thimme, Annelise  121 Tholuck, August  303 f. Thudichum, Friedrich von  55 Tirpitz, Alfred von  123, 335, 338 f., ­342–345, 347, 367 Tocqeville, Alexis de  207 Treitschke, Heinrich von  40–42, 44, 104, 136 f., 167, 181, 199 f., 281, 365 Trimborn, Karl  422 Troeltsch, Ernst  138, 198 f., 203 Trotha, Friedrich von  316 Trotzki, Leo  412 Uexküll-Güldenband, Julius Freiherr von  349 Uexküll, Jakob von  130, 153, 218 f., 223 f., 236, 273, 313, 316 Ullrich, Richard  394, 409 Valois, Noël  98, 105 f. Varnbüler von und zu Hemmingen, Axel Freiherr von  164 f., 220, 321, 365, 385 Varrentrapp, Konrad  92 Vergennes, Charles Gravier, Comte de  208 Victoria, englische Königin  320, 346 Victoria, Königin von Preußen und Deutsche Kaiserin  69 f., 155 Viktoria von Preußen, Tochter Kaiser Friedrichs III.  325 Vögler, Albert  296 Vogt, Joseph  245 Volbach, Fritz  197 Volkmann, Hans-Erich  20 Wackernagel-Burckhardt, Elisabeth  63, 73 Wackernagel, Rudolf  17, 26, 40, 51–53, ­57–60, 62–66, 73 f., 90, 100, 211, 282 Wagner, Adolf  42 Wagner, Ferdinand  18, 53, 56, 65–68, 76 f., 106, 166, 186, 192, 214, 221, 223 f.

480

Personenregister

Wahl, Adalbert  111, 192, 214, 218, 261 Waldersee, Alfred Graf von  311 Waldersee, Georg von  366 Wallenstein, Albrecht von  376 Warburg, Max  393 Warmbold, Hermann  330 Wätjen, Hermann  234, 390 Weber, Marianne  424 Weber, Max  10, 14, 40, 138, 159, 199, 226, 293, 295, 304, 424 Wedel, Botho Graf von  327 Weiß, Helmuth  197 Weizsäcker, Karl Freiherr von  319, 321, 331, 335, 350, 355 f., 417, 430 Weniger, Erich  257 Werder, August Graf von  381 Werminghoff, Albert  109 Werner, Karl Ferdinand  180 Westarp, Kuno Graf  410 Westphal, Otto  169, 227, 272 Wheeler Bennett, John  388 Widukind  231 f. Wieser, Friedrich Freiherr von  396 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von  121, 144 Wilbrandt, Robert  111, 192–195 Wilhelm II., König von Preußen und Deutscher Kaiser  41 f., 48, 50, 68– 70, 76, 90, 94, 103, 114 f., 118, 121, 128, 141, ­152–155, 158, 162–165, 174, 177,

292, 297 f., 302, 305–315, 317–320, 324, ­329–331, 333–335, 341–343, 346–351, 361, 365, 370 f., 373–376, 378, 381 f., 384, 386–389, 391 f., 395–397, 402, 411, ­416–419, 424, 428, 434 Wilhelm II., König von Württemberg  139, 141 f., 319, 333, 342, 430–434 Wilhelm I., König von Preußen und Deutscher Kaiser  148, 329, 335 f., 371 f., 381 Wilhelm von Preußen, Kronprinz Preußens und Deutschlands  164, 313, 318, 334, 386 f., 407 Wilhelm von Württemberg-Urach  403 Wilson, Woodrow  394 Winkelmann, Eduard  45 Winterfeldt, Detlof Sigismund von  383 f. Wippermann, Wolfgang  33 Wirth, Herman  231 Wittenburg, Erich  9, 277 Wittram, Reinhard  19 f., 23, 27, 165, 197, 278 f., 287 Wolff, Theodor  165, 322 f., 335, 353 Wolter von Plettenberg  406 Wurm, Theophil  17, 237 f., 270 f. Zahn-Harnack, Agnes von  304 Zeppelin, Ferdinand von  399 Zimmermann, Arthur  122, 334, 362 f., 365, 378, 384, 391, 395