Jenseits des Staates?: Über das Zusammenwirken von staatlichem und nicht-staatlichem Recht [1 ed.] 9783737013673, 9783847113676


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Jenseits des Staates?: Über das Zusammenwirken von staatlichem und nicht-staatlichem Recht [1 ed.]
 9783737013673, 9783847113676

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Beiträge zu Grundfragen des Rechts

Band 39

Herausgegeben von Stephan Meder

Susanne Beck / Stephan Meder (Hg.)

Jenseits des Staates? Über das Zusammenwirken von staatlichem und nicht-staatlichem Recht

Mit 7 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5405 ISBN 978-3-7370-1367-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dirk Baecker Normen der Agilität in Parsons’ AGIL-Schema . . . . . . . . . . . . . . .

9

Susanne Beck / Maximilian Nussbaum Neue Formen regulativer Kooperation: Zum Verhältnis technischer Normen und Gemeinschaftsstandards sozialer Netzwerke zu staatlichem Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Petra Buck-Heeb Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Selbstregulierung in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Alexander Djazayeri Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Stephan Meder / Claudia Kurkin Ius non scriptum extraterritoriale als regulierte Selbstregulierung: Die Vermutung gegen Extraterritorialität zwischen ius strictum und aequitas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Roland Schwarze Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Christoph Sorge Recht »macht sich auch von selbst, wie die Sprache« – Gustav Hugos Rechtsquellenlehre im Kontext der ›Franzosenzeit‹ . . . . . . . . . . . . . 149

6

Inhalt

Georgia Stefanopoulou Strafvollstreckung und Strafvollzug jenseits des Staates – Direkte Sanktionsverwirklichung durch den Internationalen Strafgerichtshof ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Klaus Vieweg Zusammenwirken von staatlichem Recht und privater Regelung im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Malte Wilke Compliance Monitorships – ein System staatlich regulierter Selbstregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Autorenverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Vorwort

Ob wir mit der aktuellen Debatte über ›Governance‹ oder mit Gottfried Wilhelm Leibniz vor gut 300 Jahren von ›Selbstorganisation‹ sprechen: Normenregime jenseits des Staates sind für die Rechtswissenschaften ein wichtiges Thema. Außerstaaliche Normen ergänzen die staatliche Regulierung in verschiedenen Lebensbereichen und wirken auf komplexe Weise mit ihnen zusammen. Diese Verflechtung kann Freiräume schaffen, den sich selbst Regulierenden Auftrieb geben, funktional sein – aber auch zu Konflikten mit staatlichen Werten führen, Betroffene ausschließen, Machtungleichgewichte verstärken. Seit einiger Zeit werden außerstaatliche Normenregime in den Rechtswissenschaften und anderen Disziplinen analysiert und kritisch begleitet. Doch ist die Geschichte nicht-staatlicher Ordnungen noch lange nicht auserzählt. Die gesellschaftliche Bedeutung eigenständiger Regelungssysteme und damit die Schwierigkeiten staatlichen Rechts, sie angemessen zu integrieren, nehmen zu. Mit Globalisierung und Digitalisierung verlieren nationale Rechtssysteme faktische Durchsetzungsmöglichkeiten und gesellschaftliche Akzeptanz. Internationale Transaktionen und digitales Verhalten lassen sich kaum in nationalen Normenregimen erfassen. Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen nimmt ab. Selbstregulierung und die damit befasste rechtswissenschaftliche Debatte sind so bedeutungsvoll wie eh und je. Beispiele für die Entkoppelung bestimmter normativer Ordnungen von staatlicher Organisation gibt es in allen Rechtsgebieten. Gleichwohl soll staatliche Gewalt auch in außerstaatlichen Normenregimen grundlegende Werte und Rechte sichern. Da aber die Eigenlogiken dieser Ordnungen dem staatlichen Rechtssystem nicht zwangsläufig entsprechen, entstehen Konfliktherde. Der vorliegende Band bringt die Ergebnisse einer Ringvorlesung, die in den Jahren 2018 und 2019 an der Leibniz Universität Hannover stattfand, einschließlich einiger weiterer Beiträge, die sich mit diesem wichtigen Thema befassen. Wir hoffen, durch diesen Band zu verdeutlichen, dass der zu allen Zeiten schwelende Konflikt zwischen den Eigenlogiken bestimmter normativer Ordnungen und staatlichen Rechtssystemen mit vorgefertigten Mustern oder

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Vorwort

Schablonen nicht zu bewältigen ist. Stattdessen bedarf es einer Suche nach neuen Wegen und Denkweisen, zu denen die Beiträge dieses Bandes inspirieren sollen. Susanne Beck Stephan Meder

Hannover, im Juni 2021

Dirk Baecker

Normen der Agilität in Parsons’ AGIL-Schema

Philosophien eines agilen Managements sind der jüngste Ausdruck einer seit Jahrzehnten laufenden Umstellung der Organisationslandschaft von der SiloOrganisation auf die Netzwerkorganisation. Der Beitrag fragt nach den Normen agilen Managements und greift auf das AGIL-Schema von Talcott Parsons zurück, um sie im Kontext weiterer funktionaler Anforderungen an ein agiles Unternehmen zu beschreiben. Im Einzelnen stellt sich heraus, dass tätige Neugier (A), Kundenorientierung (G), Teamfähigkeit (I) und Flexibilität (L) die funktional entscheidenden Normen agilen Managements sind. Das klingt vertraut. Der Beitrag legt ebenso viel Wert auf die inhaltliche Ableitung der Normen wie auf die Vorstellung des analytischen Instruments. Die Normen werden weder juristisch noch moralisch, sondern als Leitbilder verstanden, die latent wirken und bei Bedarf aufgerufen werden, um ein Handeln eines bestimmten Typs rechtfertigen und entsprechende Konflikte regulieren zu können.

I. Im Jahr 2001 erschien online ein Manifest für Agile Softwareentwicklung, das seither als Bezugspunkt für Agilitätsphilosophien im Management Prominenz gewonnen und behalten hat, obwohl ähnliche Ideen spätestens seit den 1970erJahren unter den Titel einer »Science of Design«, einer »reflexiven Praxis« oder eines »Design Thinking« bekannt waren.1 Bereits damals ging es darum, akademische Formen der Komplexitätsbewältigung mit beruflichen zu vergleichen und voneinander lernen zu lassen. Zu diesem Zweck wurde die offene Heuristik der einen mit der zielführenden Pragmatik der anderen kombiniert. Die Aufgabe 1 Siehe das Manifest von Beck et al., Manifesto for Agile Software Development, 2001 (abrufbar unter: http://agilemanifesto.org, letzter Zugriff: 2. 9. 2020); vgl. Simon, The Science of Design – Creating the Artificial, in: ders., The Sciences of the Artificial (1969), 2. Aufl. 1981, S. 128–159; Schön, The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action (1983), 18. Aufl. 1996, und Rowe, Design Thinking, 1987.

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Dirk Baecker

von »Reflexion« war es, die Differenz der Ansätze im Blick zu behalten, während sie für jeden einzelnen Schritt der Arbeit an einer komplexen Aufgabe aufgehoben wurde. Propagiert wurde dies vor allem für die Berufe des Architekten, Designers, Therapeuten, Richters, Rechtsanwalts und Beraters.2 Und bedauert wurde schon damals, dass sich die berufliche Praxis als lernfähiger erwies denn die akademische.3 Die Autoren des Manifests für Agile Softwareentwicklung scheinen daraus bereits die Konsequenz gezogen zu haben. Referenzen auf Formen akademischen Arbeitens tauchen nicht mehr auf.4 Typisch für Managementphilosophien tritt das Manifest mit einem normativen Anspruch auf, der allerdings nicht, wie im Rechtssystem der Gesellschaft, zu regulierende Konflikte vorwegnimmt,5 sondern ein besseres Management von Projekten der Softwareentwicklung verspricht. Man hatte mit der zuvor herrschenden »Wasserfallmethode« hinreichend schlechte Erfahrungen sammeln müssen, um nach einer ganz neuen Methode suchen zu müssen. Diese Wasserfallmethode beruhte auf dem Einwerben eines Kundenauftrags, der nach allen Regeln professioneller Ingenieursarbeit in ein Produkt übersetzt wurde, das dem Kunden, sobald es fertig war, wasserfallartig ausgeliefert wurde, um anschließend festzustellen, welche Spezifikationen der Kunde anders verstand, als im Auftrag möglicherweise festgehalten waren, und welche gefundenen Lösungen sich im Betrieb nicht bewähren, weil die Prozesse vom Entwickler anders verstanden werden als vom Mitarbeiter vor Ort. Man begann, Listen gescheiterter IT-Projekte zu führen6 und suchte in der Praxis nach einer Methode, den Kunden in die

2 Hier und im Folgenden wird das generische Maskulinum verwendet. 3 Simon, The Science of Design – Creating the Artificial, in: ders., The Sciences of the Artificial (1969), 2. Aufl. 1981, S. 128–159, wies darauf hin, dass damit die Chance vertan wurde, aus der Praxis des Umgangs mit Komplexität etwas für deren Begriff zu lernen. Tatsächlich werden mögliche Lerneffekte auf Seiten der Wissenschaft durch Objektivitätsvorstellungen blockiert, denn für die berufliche Praxis kann die Beobachtung eines komplexen Gegenstands von seiner Herstellung durch die Beobachter nicht getrennt werden. Simon schlug vor, dieses Problem dadurch zu lösen, dass man die gängige Aussagenlogik durch eine Logik der Optimierung ergänzt, die es erlaubt, Arbeitsergebnisse an Kriterien zu messen, die nicht nach Belieben durch die Akteure variiert werden können. 4 Das ist schon deswegen bedauerlich, weil die Form der losen Kopplung und damit variablen Verschränkung von innen und außen als Arbeitsform der Universität, ihrer Lehrstühle, Curricula und Fakultäten schon früh entdeckt worden ist. Siehe Weick, Educational Organizations as Loosely Coupled Systems , in: Administrative Science Quarterly 21, 1976, S. 1–19; vgl. Baecker, Agilität in der Hochschule, in: die hochschule: journal für wissenschaft und bildung 26, 1, S. 19–28. 5 Siehe Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993. 6 Nach Liebhardt, Das Märchen von den gescheiterten IT-Projekten, in netzwoche 6, 2009, S. 41, scheitern gut 10 % aller IT-Projekte bei ihrer Umsetzung. Die Dunkelziffer dürfte jedoch hoch sein, da Unternehmen kaum ein Interesse daran haben, ihre Fehlausgaben in diesem Bereich an die große Glocke zu hängen.

Normen der Agilität in Parsons’ AGIL-Schema

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Entwicklung des Projekts einzubeziehen und jeden Entwicklungsschritt ebenso iterativ wie rekursiv mit ihm abzustimmen.7 Uns interessieren im Folgenden die Normen dieser Philosophie agilen Managements. Wie ebenfalls nicht untypisch für Managementphilosophien sind diese Normen ebenso als Idealvorstellungen technisch effektiveren und ökonomisch effizienteren Managements zu verstehen wie als Beschreibungen von Erwartungen, Konventionen oder Regeln, die in der Praxis vieler Betriebe bereits befolgt werden.8 Mit der an Universitäten gelehrten Betriebswirtschaftslehre teilen Managementphilosophien die Auffassung, dass es normative Rationalitätsvorstellungen gibt, die Sollvorschriften formulieren, von denen die Istzustände im Betrieb mehr oder minder abweichen. Normative Philosophien sind daher zugleich Steuerungsideologien, die darauf beruhen, zu verringernde Unterschiede zu formulieren.9 Managementphilosophien zeichnen sich dadurch aus, dass sie betrieblich bereits vorgefundene Tendenzen aufgreifen und rhetorisch amplifizieren. Vielfach geschieht dies in Formen von Moden, die kommen und wieder gehen,10 doch das ändert nichts an einem gleichsam doppelten Kontakt mit der Praxis der Betriebe, die zum einen hinter die entsprechenden Rationalitätsvorstellungen zurückfallen, weil gleichzeitig Organisationsanforderungen zu bedienen sind, die in dieser Rhetorik nicht abgebildet werden, zum anderen jedoch nicht zufällig Ideen verfolgen, die von dieser Rhetorik aufgegriffen und verstärkt werden.11 Managementphilosophien sind daher soziologisch interessant. Ihre Beschreibungen der betrieblichen Praxis schließen eine 7 Der aktuelle Stand agiler Managementphilosophien wird unter dem Titel »DevOps« (für Development und Operations) propagiert und beruht zusätzlich auf einer Automatisierung der rechnergestützten Überprüfung jeden Entwicklungsschritts einer betrieblich eingesetzten Software. Siehe Debois, Opening Statement, in: DevOps, A Software Revolution in the Making?, Cutter IT Journal 24, 8, 2011, S. 3–5, und Kim et al., Das DevOps Handbuch: Teams, Tolls und Infrastrukturen erfolgreich umgestalten, 2017. 8 Das war u. a. das Thema meiner gesammelten Glossen zu verschiedenen Managementphilosophien, Baecker, Postheroisches Management: Ein Vademecum, 1994. 9 Vgl. die Steuerungstheorie von Luhmann, Grenzen der Steuerung, in: ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 324–349. 10 Siehe Kieser, Moden & Mythen des Organisierens, in: Die Betriebswirtschaft 56, 1996, S. 21– 39. 11 Nach meinem Eindruck kann man alle Managementphilosophien spätestens seit den 1960erJahren, wenn nicht seit den 1930er-Jahren, auf den Nenner eines immer wieder neu versuchten Wechsels von »mechanischen« zu »organischen« Systemen des Managements bringen, wie sie von Burns/Stalker, The Management of Innovation (1961), rev. Aufl. 1994, bereits in allen erforderlichen Details beschrieben worden sind. Siehe auch Barnard, The Functions of the Executive, Harvard University Press (1938), Ausgabe zum dreißigjährigen Erscheinen, 1968, mit seiner Unterscheidung formeller und informeller Anforderungen an die Organisation. Und im Kontext der aktuellen Organisationstheorie Baecker, Agilität, Hierarchie und Management: Eine Verallgemeinerung, 2017 (abrufbar unter: https://catjec ts.wordpress.com/2017/03/19/agilitat-hierarchie-und-management-eine-verallgemeinerng/).

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organisationale Wirklichkeit ein, die ihre Normen ausschließen, während diese Normen auf eine Wirklichkeit verweisen, die erst noch durchgesetzt werden soll. So fordert das genannte Manifest »Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge«, »funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation«, »Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung« und »Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans« zu berücksichtigen und zu bewerten. Und das Manifest ergänzt, dass die jeweils vorstehenden Werte höher geschätzt werden, obwohl die nachstehenden Werte nicht unwichtig sind.12 Im Anschluss an diese Forderungen listet die Website zum Manifest zwölf Prinzipien auf, die Hinweise geben, wie die Forderungen umgesetzt werden können, aber auch Maximen formulieren, die den Sinn einer Umstellung auf diese Forderungen unterstreichen. So formuliert die zehnte Maxime ebenfalls in der deutschen Übersetzung: »Einfachheit – die Kunst, die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren – ist essenziell.«13 Organisationen neigen dazu, sich ihre Beschäftigung selber zu suchen. Und sie orientieren sich weniger am Versuch, Probleme zu lösen, als daran, den Nachschub an genau den Problemen sicherzustellen, die man lösen kann.14 Die Maxime der Einfachheit greift diese beiden Gewohnheiten an. Lieber nichts zu tun, als im Leerlauf zu wiederholen, was man immer tut, ist die Devise. Einfachheit soll heißen, mit dem Blick auf den Kunden und die eigenen Ressourcen nur das zu tun, was der Moment erfordert. Nur so kann jene Rekursivität im Kontakt mit dem Kunden sichergestellt werden, die den Namen eines agilen Managements verdient.

II. Die Normen der Agilität haben keinen juristischen Status. Sie können nicht eingeklagt werden. Sie haben auch nicht unbedingt einen moralischen Status. Es ist in der betrieblichen Praxis durchaus offen, ob man eher durch ihre Befolgung im Sinne einer neuen und viele faszinierenden Managementmethode oder eher durch ihre Verweigerung zugunsten der Betonung tradierter und bewährter Managementmethoden an Achtung gewinnt.15 Sie haben den praktischen Status von Regeln, die auf eine Pragmatik betrieblicher Praxis verweisen, die innerhalb 12 Siehe http://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html. 13 Siehe http://agilemanifesto.org/iso/de/principles.html. 14 So Perrow, Demystifying Organizations, in: Saari/Hasenfeld (Hrsg.), The Management of Human Services, 1978, S. 105–120. 15 Siehe einen an Gewinn und Verlust von Achtung gebundenen Moralbegriff Luhmann, Paradigm Lost: Die ethische Reflexion der Moral, 1988, und mit dem Hegelschen Begriff der Anerkennung Honneth, Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 1992.

Normen der Agilität in Parsons’ AGIL-Schema

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von Unternehmen und anderen Organisationen nicht konkurrenzfrei befolgt werden und zunehmend befolgt werden sollen.16 Um die Normen der Agilität zu verstehen, müssen wir uns daher mit der Praxis der Betriebe beschäftigen, für die sie empfohlen werden. Zwecks Rekonstruktion der Praxis agiler Unternehmen greife ich auf ein Modell zurück, das Talcott Parsons im Namen einer Systemtheorie der Handlung und des Handelns entwickelt hat und das Normen sowie drei weiteren funktionalen Aspekten der Handlung einen spezifischen Status zuweist. Dieses Modell wird unter dem Titel AGIL-Schema diskutiert und hat bereits zu dem Missverständnis geführt, es sei die eigentliche Grundlage der Philosophie agilen Managements.17 Das AGIL-Schema hat jedoch nichts mit Agilität zu tun, sondern geht auf das Akronym AGIL zurück, das sich aus den vier Buchstaben A, G, I und L zusammensetzt. Die Namensgleichheit ist Zufall. Auch dachte Parsons nicht daran, dass die von ihm untersuchten Handlungen in jenem besonderen Sinn »agil« seien, wie man ihn wachen, wendigen, reaktionsschnellen Hunden zuschreibt.18 Da im AGIL-Schema jedoch jede beliebige Handlung analysiert werden kann, kann es auch zur Analyse agilen Managements genutzt werden.19 Darin liegen sein Anspruch und seine Leistung. Es ist eine der ersten kognitionswissenschaftlichen Handlungstheorien der Soziologie, die Aspekte der natürlichen Umwelt, körperliche und psychologische Aspekte, soziale und kulturelle Aspekte

16 Seit dem Erscheinen des Manifests haben Ideen eines agilen Managements eine rasante Rezeption erfahren, die wie viele der bisherigen und auch der kommenden Moden des Managements häufig darauf verzichten, die Bedingungen zu überprüfen, unter denen bestimmte Ideen sinnvoll sind. So sind die Ideen von Betrieben und Konzernen übernommen worden, die dank ihrer standardisierten Produkte weit davon entfernt sind, kundenorientiert arbeiten zu müssen, aber dennoch aufgefordert wurden, ab jetzt »agil« zu arbeiten. Dadurch ist viel Frustration entstanden, die dazu beitrug, den rhetorischen Schwung dieser Ideen zu bremsen und das Immunsystem vieler Organisationen zur Abwehr neuer Ideen zu stärken. Siehe dazu auch Gebauer/Simon, Gleichzeitig agil und hierarchisch arbeiten?, in: Wirtschaft und Weiterbildung 2, 2020, S. 22–27. 17 Siehe dazu Klein, Die Konfiguration von Unternehmungsnetzwerken – ein Parsons’scher Bezugsrahmen, in: Bühner (Hrsg.), Die Dimensionierung des Unternehmens, 1995, S. 323– 357; ders., Heuristiken zum Verständnis und Management von Unternehmungsnetzwerken, in: ders./Burkert (Hrsg.), Interdisziplinäre Managementforschung und -lehre: Herausforderungen und Chancen. Norbert Szyperski zum 70. Geburtstag, 2001, S. 276ff.; Förster/ Wendler, Theorien und Konzepte zur Agilität in Organisationen, in: Dresdner Beiträge zur Wirtschaftsinformatik 63/12, 2012; Prange, Agilität im Management: Den Handlungsspielraum erweitern, in: Zeitschrift für Organisation 86, 3, 2017, S. 184–189; ablehnend Kühl, Wie Praktiker das Wort ›agil‹ missverstehen: Die überraschende Renaissance eines verstaubten soziologischen Konzepts, in: Zeitschrift für Organisation 89, 2, 2020, S. 93–95. 18 Siehe zu »Agility« als Hundesportart https://de.wikipedia.org/wiki/Agility (letzter Zugriff: 8. 9. 2020). 19 Siehe auch Baecker, Wie agil ist das AGIL-Schema?, Soziopolis, 18. Februar 2019 (abrufbar unter: https://www.soziopolis.de/wie-agil-ist-das-agil-schema.html).

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im Zusammenhang betrachtet, und es ist eine Handlungstheorie, die mit diesem Anspruch bis heute nicht wieder eingeholt worden ist.20 Für Parsons ist das System menschlicher Handlungen, einschließlich Erleben, Teil eines Zusammenhangs, in dem neben den Handlungen selber deren Anpassung an die natürliche und technische Umwelt, die Ziele verfolgende Orientierung des menschlichen Organismus und höhere Werte oder letzte Zwecke eine Rolle spielen.21 Parsons spricht zu diesem Zweck von der Human Condition, in die jede Handlung eingebunden ist (Abb. 1).22 Das Schema selber ist das Ergebnis einer Kreuztabellierung zweier Achsen, deren erste die Innenseite der Handlung von ihrer Außenseite und deren zweite die jeweilige Gegenwart einer Handlung von ihrer Zukunft unterscheidet. Parsons’ theoretische Spekulation besteht darin, dass er dieses Muster der Ausdifferenzierung in der Sache und Reproduktion in der Zeit nicht nur der Handlung, sondern auch ihrem Kontext zuspricht. Er entwirft ein Schema, das sich auch zur Analyse der natürlichen und technischen Umwelt, des menschlichen Organismus und der höheren Werte und letzten Zwecke eignet. Das Schema wird nach oben (die Human Condition definiert die oberste Ebene) und nach unten (in beliebiger Tiefenschärfe) verlängert und selbstähnlich immer wieder auf sich selber angewendet. Die Handlung ist immer eine Handlung im Kontext.23 Sie definiert die Innenseite der Ausdifferenzierung und den Gegenwartsaspekt ihrer Reproduktion. Wenn sie nicht jeweils vollzogen wird, gibt es auch keine Handlung, und wenn sie sich nicht »sinnhaft« auf sich bezieht, ist sie keine Handlung (sondern 20 Siehe vor allem Parsons, Some Problems of General Theory in Sociology, in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, 1977, S. 229–269; ders., A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, 1978; vgl. Loh, AGILDimensionen im Spätwerk von T. Parsons und Kombinatorik, in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32, 1980, S. 130–143; Brownstein, Talcott Parsons’ General Action Scheme: An Investigation of Fundamental Principles, 1982; Luhmann, Talcott Parsons – Zur Zukunft eines Theorieprogramms, in: Zeitschrift für Soziologie 9, 1, 1980, S. 5–17; ders., Warum AGIL?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 40, 1, 1988, S. 127– 139; ders., Einführung in die Systemtheorie, 2002, S. 18ff.); Münch, Parsonian Theory Today: In Search of a New Synthesis, in: Giddens/Turner (Hrsg.), Social Theory Today, 1987, S. 116– 155, und Opielka, Gemeinschaft in Gesellschaft: Soziologie nach Hegel und Parsons, 2. überarb. Aufl. 2006. 21 Ich referiere die Theoriearchitektur in aller Kürze (siehe ausführlich Parsons, A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, 1978, S. 352–433), weil sie Entscheidungen enthält, die man ausgehend von der Wahl einer Kreuztabelle und der Benennung ihrer Achsen auch anders treffen kann. Eben das wäre dann Arbeit an der Theorie. 22 Parsons, A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, 1978, S. 361, ergänzt um den Aspekt der Technik. 23 Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 2002, S. 18, bündelt das in der Formulierung »action is system«.

Normen der Agilität in Parsons’ AGIL-Schema

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Abb. 1: Parsons’ Allgemeines Paradigma der Human Condition

bloßes Verhalten).24 Die anderen drei Felder definieren die Umwelten dieser Handlung, nämlich einen menschlichen Organismus, der eine äußere, aber immer noch gegenwärtige Bedingung der Handlung erfüllt, eine physischchemische oder »natürliche« Umwelt, die sowohl äußerlich als auch instrumentell jeweils zu bearbeiten ist, und, signature Parsons, ein telisches System, in dem auf der Innenseite der Ausdifferenzierung und der Zukunftsseite der Reproduktion so etwas wie der höhere Sinn der Handlung verwaltet wird. Einmal definiert, kann man den vier Feldern auch einen Namen geben, der ihre Funktion im Handlungsschema benennt: An die äußere Umwelt muss sich die Handlung anpassen (A, für adaptation), den menschlichen Organismus muss sie über erreichbare Ziele binden (G, für goal-attainment), die höheren Ziele dienen der zunächst latent bereitgehaltenen, dann aber auch zur Konfliktregulierung eingesetzten Rechtfertigung (L, für latent-pattern maintenance and conflict regulation), und die Handlung selber muss diese funktionalen Aspekte

24 Man denke an den Handlungsbegriff von Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1920/21, 3 Bde., ND 1988, S. 6: »Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens […].«

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integrieren, indem sie ihre Differenz respektiert und aufrechterhält (I, für integration). Gegen den Uhrzeigersinn von unten nach oben gelesen ergibt sich das AGILSchema, im Uhrzeigersinn von oben nach unten gelesen das LIGA-Schema. Beide zusammen definieren für Parsons die sogenannte kybernetische Hierarchie, in der Information von oben nach unten und Energie von unten nach oben fließt.25 Im Anschluss an diese erste Verortung der Handlung wird jedes der vier Felder seinerseits und nach demselben Schema in vier Felder unterteilt, sodass man es mit einer nach unten prinzipiell offenen, selbstähnlichen beziehungsweise fraktalen Theoriearchitektur zu tun bekommt, die nach Belieben beziehungsweise nach empirischem Geschick weiter vertieft werden kann.26 Startet man umgekehrt, wie im Falle dieses Aufsatzes, mit einem empirischen Phänomen, besteht die erste analytische Aufgabe darin, eine Systemreferenz zu 25 Parsons, A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, 1978, S. 375; vgl. auch Baum/Lechner, Zum Begriff der Hierarchie: Von Luhmann zu Parsons, in: Baecker et al. (Hrsg.), Theorie als Passion: Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, 1987, S. 298–332. 26 Aus der selbstähnlichen Wiederholbarkeit der vier funktionalen Aspekte ergibt sich auch die Notation für jedes weitere Feld. Der erste Buchstabe notiert das jeweilige Feld der obersten Ebene der Human Condition, der zweite Buchstabe die Differenzierung eines der vier Felder, der dritte Buchstabe die Differenzierung der sich daraus ergebenden 16 Felder usw. Siehe Parsons/Smelser, Economy and Society: A Study in the Integration of Economic and Social Theory (1956), ND 1984, für Beispiele die Wirtschaftstheorie als Auslegung des adaptiven Aspekts der integrativen Funktion, I–A, die Beschreibung der Amerikanischen Universität, deren kognitive Funktion kognitive Aspekte des kulturellen Systems des Handlungssystems, I-L-A, und kulturerhaltende Aspekte des Sozialsystems im Handlungssystems, I-I-L, assoziiert und, wie Parsons zu spät gemerkt hat, Aspekte der konstitutiven, I-L-L, moralischwertenden, I-L-I, und expressiven Symbolisierung, I-L-G vernachlässigt, Parsons/Platt, Die amerikanische Universität: Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis, 1990, S. 57, und die Rekonstruktion der Freudschen Psychoanalyse für den Persönlichkeitsaspekt innerhalb der Integrationsfunktion, I-G-L+I+G+A (Parsons, A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, 1978, S. 414–433). Aber nichts spricht dagegen, sich auch die vier Aspekte des physikalisch-chemischen Systems, A, anzuschauen und entsprechende Forschungsergebnisse interdisziplinär auszuwerten; und Selbiges für das telische System, L, in dem es immerhin um Fragen des letzten Grundes, L-L, der höchsten Ordnung, L-I, der letzten Erfüllung, L-G, und eines höchsten Gottes (agency), L-A, geht; siehe Parsons, A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, 1978, S. 382ff. Einige seiner Kollegen an der Harvard University fanden sich mit ihren Fachdisziplinen in einem der in diesem Schema differenzierten Kästchen wieder. Siehe vor allem die Tabelle bei Parsons, A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, 1978, S. 382. Vermutlich waren nicht alle amüsiert. Parsons ging es darum, einen Nachfolger für die von ihm so wahrgenommene Vorkriegsrolle von Heidelberg mit Max Weber als Zentrum einer globalen Wissenschaft zu finden. Harvard war für ihn für die Nachkriegszeit der passende Kandidat. – Die Rezeption dieses Schemas und seiner analytischen Möglichkeiten lief in der amerikanischen Soziologie unter dem Titel eines »Parsons-Schocks« und hat die Arbeit an einer theoretischen Soziologie für Jahrzehnte in Diskredit gebracht. Siehe etwa Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology, 1971.

Normen der Agilität in Parsons’ AGIL-Schema

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suchen, die der Analyse des Phänomens zugrunde gelegt werden kann. Das ist die einzige Direktive, mit der die Systemtheorie seit Parsons arbeitet:27 Bestimme, anhand welcher Systemreferenz ein bestimmtes Phänomen entweder als Element oder Struktur des Systems oder als Phänomen in der Umwelt des Systems zu untersuchen ist. Im Anschluss an die Unternehmenstheorie von Parsons wechseln wir zu diesem Zweck in das Integrationssystem »Unternehmen«, I-I-A-I, des Anpassungssystems »Wirtschaft«, I-I-A, des Integrationssystems »Sozialsystem«, I-I, des Integrationssystem »Handlung«, I, im Paradigma der Human Condition (Abb. 2).28

Abb. 2: Wirtschaft und Unternehmen im Paradigma der Human Condition

Die oberste Ebene des Schemas definiert, wie gesagt, die Human Condition insgesamt. Das Handlungssystem, I, das in die Kompetenz der Soziologie, Psychologie, Ethologie sowie Kulturwissenschaften fällt, ist die integrative Funktion der Human Condition und wird in die vier funktionalen Aspekte L (kulturelles System, I-L), I (Sozialsystem, I-I), G (Persönlichkeit, I-G) und A (Verhaltens27 Parsons, The Social System, 1951, S. 4. 28 Parsons/Smelser, Economy and Society: A Study in the Integration of Economic and Social Theory (1956), ND 1984, S. 78f.

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system, I-A) differenziert. Das Sozialsystem ist der eigentliche Arbeitsbereich des Soziologen, der hier wiederum ein »treuhänderisches« System der Verwaltung kultureller Werte, I-I-L, etwa die Kirche oder auch bestimmte Bereiche der Philosophie, ein eigenes integratives Subsystem, I-I-I, etwa bestimmte Bemühungen um Sozialintegration in den Schulen, am Arbeitsplatz usw., die Politik als System der kollektiv verbindlichen Entscheidung über verfolgenswerte Ziele, I-I-G, und das Wirtschaftssystem, I-I-A, mit den weiteren Subfunktionen Bindungsbereitschaft (commitments), I-I-A-L, Unternehmen als System der Integration aller Produktionsfaktoren, I-I-A-I, die Produktionsziele, I-I-A-G, und das verfügbare und steigerbare Kapital im Sinne der Sach- und Geldressourcen, an die Anpassungsleistungen zu erbringen sind, I-I-A-A, unterscheidet. Wenn wir uns im Folgenden auf das Feld des Unternehmens, I-I-A-I, konzentrieren, um es seinerseits anhand der bewährten vier Funktionen zu analysieren und nach den Normen agilen Managements zu fragen, brauchen wir nicht zu befürchten, dass wir alle anderen Systemreferenzen aus den Augen verlieren. Getreu der Devise der Integration und Differenzierung der vier funktionalen Aspekte jeder Handlung und ihrer selbstähnlichen Binnendifferenzierung steht über alle Ebenen des Schemas hinweg jeder Aspekt mit jedem anderen in Austauschbeziehungen.29 Parsons hat die Trennlinien seines Schemas als Linien der Unterscheidung und Verbindung gedacht, die aus einer analytischen Perspektive von einem Beobachter gezogen werden. In der neueren Theorie geschlossen selbstreferenzieller Systeme, die mit einem nicht nur analytischen, sondern empirischen Begriff des Systems arbeitet,30 würde man zusätzlich innerhalb des Schemas nach Beobachtern suchen, die den Gegenstand mithilfe ihrer Bezeichnungen und Unterscheidungen als solchen konstituieren und reproduzieren. Aber das geht über Parsons hinaus und könnte in unserem Fall nur aus der Perspektive des Unternehmens geschehen, wobei dieses Unternehmen seinerseits, dabei bleibt es natürlich, aus der Perspektive der Soziologie beobachtet wird. Die empirische Aufgabe wäre dementsprechend, die Trennungslinien aus der Sicht des Unternehmens zu ziehen und zu überprüfen, mit welchen Bildern seiner Umweltsysteme das Unternehmenssystem sich jeweils ausdifferenziert und reproduziert. Die dafür erforderliche Mathematik liefert der Indikationenkalkül von George Spencer-Brown.31 29 Siehe Parsons, Some Problems of General Theory in Sociology, in: ders., Social Systems and the Evolution of Action Theory, 1977, S. 262ff., und ders., A Paradigm oft he Human condition, in: ders., Action Theory and the Human Condition, 1978, S. 405ff. 30 So vor allem seit Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984. 31 Siehe Spencer-Brown, Laws of Form (1969), 5., intern. Ausg. 2008, und für eine Übersetzung des AGIL-Schemas in diesen Kalkül Baecker, Kulturelle Orientierung, in: Burkart/Runkel (Hrsg.), Luhmann und die Kulturtheorie, 2004, S. 58–90.

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III. Im Folgenden betrachte ich ausschließlich das Unternehmen im Feld I-I-A-I der allgemeinen Human Condition. Mit einem Begriff von Spencer-Brown kann man sagen, dass alle Unterscheidungen des gesamten Schemas der Human Condition den gesamten Raum des Schemas durchdringen (pervasive space),32 sodass eine Rücksicht auf die Differenzierung aller Felder jedes einzelne Feld informiert. Diese Rücksicht bleibt schon deswegen latent, weil jede manifeste Berücksichtigung die Funktionen, Subfunktionen, Subsubfunktionen, Subsubsubfunktionen und Subsubsubsubfunktionen mit Komplexität überlasten würde, aber das ändert nichts daran, dass das normale Funktionieren aller Felder vorausgesetzt wird und aus jedem der Felder jederzeit eine Störung resultieren kann, die von allen Variablen aufgefangen werden muss (und sei es in der arbeitsteiligen Form der Überweisung an eine bestimmte Unterfunktion).33 In jeder der Funktionen und Unterfunktionen werden laufend Anpassungsleistungen an alle anderen Funktionen erbracht. Das Schema ist dynamisch zu verstehen, zumal nichts seine evolutionäre Veränderung ausschließt, obwohl die Kritik an Parsons’ Modell ihm vielfach die Statik seines Modells vorgeworfen hat.34 Zoomen wir in das Feld I-I-A der Human Condition, sehen wir das Wirtschaftssystem nach Auffassung von Parsons und Smelser (Abb. 3).35 Es liegt auf der Hand, dass diese Darstellung im Vierfelderschema nur dann eine gewisse Plausibilität hat, wenn man den Kapitalbegriff entsprechend weitgehend interpretiert und bei Bedarf unter den verschiedenen Aspekten von Sach(A), Geld- (G), Sozial- (I) und Symbolkapital (L) differenziert.36 Mit der Variable »Produktion« bezieht sich das Wirtschaftssystem in seiner Zielfunktion, G, auf alles, was im gesamten Sozialsystem, Handlungssystem und in der Human Condition an Produkten und Leistungen einschließlich einer allgemeinen Disponibilität von Ressourcen zur Bereitstellung von Produkten hergestellt wird. Über »commitments« vergewissert sich das Wirtschaftssystem der Bereitschaft 32 Spencer-Brown, Laws of Form (1969), 5., intern. Ausg. 2008, S. 6. 33 Mit einem weiteren Begriff von Spencer-Brown, An Introduction to Reductors, unveröffentlichtes Manuskript, 1992, S. 9, könnte man sagen, dass dann, wenn die Gesamtfunktion in den Raum der Funktion wieder eintritt (was hier, gegeben selbstreferenzielle Systeme, der Fall ist), jede einzelne Subfunktion als eine Drohung (»threat«) fungiert, die im Regelfall stillhält, aber in kritischen Fällen der Variation anderer Subfunktionen wirkmächtig wird. 34 Etwa Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology, 1971. 35 Siehe Parsons/Smelser, Economy and Society: A Study in the Integration of Economic and Social Theory (1956), ND 1984, S. 78f. 36 Siehe die Differenzierung des Kapitalbegriffs bei Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheit. Soziale Welt, 1983, Sonderband 2, S. 183–199, der nicht auf Parsons Bezug nimmt; ders., The Forms of Capital, in: Richardson (Hrsg.), Handbook of Theory of Research for the Sociology of Education, 1986, S. 241–258.

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Abb. 3: Das Wirtschaftssystem im AGIL-Schema

der Akteure, sich im Normal- und im Zweifelsfall an bestimmte, allgemein akzeptierte kulturelle Werte zu halten, die von Besitzgier37 über Gewinnorientierung, Leistungs- und Innovationsbereitschaft bis zu ethischen Rücksichten reichen.38 Im Folgenden geht es jedoch nur um das Feld I-I-A-I: das Unternehmen im Wirtschaftssystem des Sozialsystems des Handlungssystems der Human Condition. Im Gegensatz zu den Kapitalmärkten der Wirtschaft, die für die notwendige Liquidität zur Reallokation der Ressourcen im Umgang mit Veränderungen der Umwelt sorgen, verfolgt das Unternehmen längerfristig Ziele. Im Anschluss an John Maynard Keynes definiert Parsons das Unternehmen wie folgt: »Enterprise is defined as ›the activity of forecasting the prospective yield of assets over their whole life‹ as opposed to speculative trading.«39 Das dazugehörende Schema skizzieren Parsons und Smelser wie folgt (Abb. 4).40 37 Von einem »deep desire to possess« bereits für die Indigenen der Trobriand-Inseln spricht Malinowski, Argonauts of the Western Pacific: An Account of Native Enterprise and Adventure in the Archipelagoes of Melanesian New Guinea (1922), ND 1984, S. 510. 38 Die Bändigung und damit Freisetzung des Erwerbstriebs war mit viel Anschlussforschung das Thema der religionssoziologischen Untersuchungen von Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1920/21, 3 Bde., ND 1988. 39 Parsons/Smelser, Economy and Society: A Study in the Integration of Economic and Social Theory (1956), ND 1984, S. 202, im Anschluss an Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money (1936), Reprint 1973, S. 158. 40 Ebd., S. 203.

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Abb. 4: Das Unternehmen im AGIL-Schema

Man sieht, worauf es ankommt. Die Anpassung an die soziale, menschliche, natürliche und technische Umwelt erfolgt über die Finanzierung von Innovation. Die im Rahmen der Wirtschaft des Sozialsystems zu verfolgenden Produktionsziele werden über neue Kombinationen von Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeit, Boden, Organisation, Information) im Unternehmen erprobt. Das Unternehmen integriert sich und seine Funktion innerhalb der Wirtschaft der Gesellschaft, indem es Gelegenheiten zur Innovation verfolgt, die sich als solche von allem unterscheiden, was im Sozialsystem im Übrigen auf Interesse stößt, in genau diesem Unterschied jedoch akzeptiert und unterstützt wird. Und legitimiert wird das Unternehmen im Normalfall latent und im Zweifelsfall manifest, indem es auf das Interesse der Wirtschaft des Sozialsystems des Handlungssystems der Human Condition verweist, Produktionsfaktoren in der Auseinandersetzung mit der sozialen, menschlichen, natürlichen und technischen Umwelt flexibel, mobil und austauschbar zu halten.

IV. Lässt sich dieses Schema für agile Unternehmen bestätigen? Und kann es dabei behilflich sein, die Normen der Agilität zu bestimmen? Lassen wir zunächst die Fragen der Normen beiseite, so können wir feststellen, dass agile Unternehmen mit der Einführung digitaler Medien und der durch sie

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ermöglichten horizontalen Vernetzung von Unternehmen in tendenziell weltweiten Wertschöpfungsketten die Integrationsfunktion der Produktionsfaktoren, I-I-A-I-I, auf eine neuartige Weise erfüllen. Man spricht von postbürokratischen Unternehmen, doch vermutlich wäre es treffender, davon zu reden, dass die traditionelle Funktion einer hierarchischen Bürokratie von einer neuartigen, nämlich agilen Bürokratie übernommen wird.41 In formalisierten, zeitlich eng getakteten Abläufen vernetzen agile Managementmethoden wie Scrum, Design Thinking oder DevOps nicht mehr in erster Linie die hierarchischen Ebenen einer Organisation, sondern Teams mit Lieferanten und Kunden außerhalb der Organisation und erst in zweiter Linie mit Ressourcen an Personal und Kapital innerhalb der Organisation.42 Mit der Zurücknahme der hierarchischen Bürokratie ist nur scheinbar ein Abbau der Bürokratie verbunden. Tatsächlich entsteht eine Netzwerkorganisation, die sich, mit Herbert A. Simon formuliert, auf eine neue Architektur der Komplexität einlässt:43 Sie stellt ihre Hierarchie um von der Priorität der Oben/ Unten- auf eine Priorität der Innen/Außen-Relation. Da diese Innen/AußenRelation ebenfalls eine Rangordnung enthält, nämlich die normative Erwartung, dass man sich innen an Aufträgen orientiert, die außen erteilt werden, spricht

41 Siehe zur Diskussion von Netzwerkorganisationen Powell, Neither Market nor Hierarchy: Network Forms of Organization, in: Research in Organizational Behavior 12, 1990, S. 184–189; Nohria/Eccles (Hrsg.), Networks and Organizations: Structure, Form, and Action, 1992; Grabher, The Embedded Firm: On the Socio-Economics of Industrial Networks, 1993; Heckscher/Donnellon (Hrsg.), The Post-Bureaucratic Organization: New Perspectives on Organizational Change, 1994; DiMaggio (Hrsg.), The Twenty-First Century Firm: Changin Economic Organization in International Perspective, 2001; vgl. zur Funktion von Bürokratie Baecker, Kapitalismus und Bürokratie, in: ders., Wozu Soziologie?, 2004, S. 150–18, und Olsen, Maybe it is Time to Rediscover Bureaucracy?, in: Journal of Public Administration Reserach and Theory 16, 1, 2006, S. 1–24. 42 Vgl. etwa Gloger, Scrum: Produkte zuverlässig und schnell entwickeln, 4., überarb. Aufl. 2013; ders., Selbstorganisation braucht Führung: Die einfachen Geheimnisse agilen Managements, 2014; Brandes et al., Management Y: Agile Scrum, Design-Thinking & Co.: So gelingt der Wandel zur attraktiven und zukunftsfähigen Organisation, 2014; Laloux, Reinventing Organizations: A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness, 2014; B.J. Robertson, Holacracy: The New Management System for a Rapidly Changing World, 2015; Moran, Managing Agile: Strategy, Implementation, Organization and People, 2015; Plattner/Meinel/Leifer (Hrsg.), Design Thinking Research: Taking Breakthrough Innovation Home, 2016; Kim et al., Das DevOps Handbuch: Teams, Tolls und Infrastrukturen erfolgreich umgestalten, 2017; Meißner, Techniken des Sozialen: Gestaltung und Organisation des Zusammenarbeitens in Unternehmen, 2017; Seitz, Design Thinking und der Neue Geist des Kapitalismus: Soziologische Betrachtungen einer Innovationskultur, 2017. 43 Siehe Simon, The Architecture of Complexity, in: ders., The Siences of the Artificial, 2. Aufl. 1969, und vgl. Baecker, Agilität, Hierarchie und Management: Eine Verallgemeinerung, 2017 (abrufbar unter: https://catjects.wordpress.com/2017/03/19/agilitat-hierarchie-und-manage ment-eine-verallgemeinerng/).

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Simon auch in diesem Fall von einer »Hierarchie«, verallgemeinert den Begriff jedoch zugunsten der Beschreibung von System-in-System-Beziehungen.44 Diese Netzwerkorganisation verfolgt neuartige Ziele, I-I-A-I-G, der Kombination von Produktionsfaktoren, indem sie lokal, wenn auch vernetzt arbeitende Teams mit einer globalen Nachfrage in einem globalen Wettbewerb verknüpft. Man kann von einer »glokalen« Produktion sprechen,45 wenn darunter nicht nur die Bereitstellung lokaler Ressourcen für globale Zwecke, sondern zugleich auch umgekehrt eine Reformatierung lokaler Produktionsbedingungen durch globale Gelegenheiten in der Entwicklung von Märkten, Technologien, politischen Räumen und rechtlichen Strukturen verstanden wird. Die neuartigen Ziele des agilen Unternehmens bestimmen sich oszillierend zwischen globalen und lokalen Chancen. Das agile Unternehmen zwingt zu einem strategischen Blick sowohl auf den globalen Wettbewerb als auch auf neuartige Produktionsfaktoren im Bereich der Kompetenzentwicklung unter Mitarbeitern und im Management. Eine wichtige Rolle spielen dabei interdisziplinär zusammengesetzte Teams, deren Kompetenzen nicht nur fachlich, sondern auch systemisch bestimmt sind, wenn der Begriff des »Systemischen« hier auf die Fähigkeit zu einem Blick auf ganze Wertschöpfungsketten und deren Engpässe, Sollbruchstellen, fragilen Glieder und Innovationschancen verweist.46 Die Anpassungsfunktion, I-I-A-I-A, erfüllen diese glokal arbeitenden Netzwerkorganisationen, indem sie einen engen Kontakt mit einem Risikokapital halten, das Wetten auf neue Produkte, neue Kooperationsformen und neue Organisationsstrukturen abschließt. Dieses Risikokapital gewinnt seine eigenen Beobachtungen aus der Entwicklung von Technologien, Industrien und Bran44 Auch die klassische Oben/Unten-Hierarchie lässt sich als System-in-Systemen-Beziehung beschreiben, wenn man, wie Parsons, Some Ingredients of a General Theory of Formal Organization, in: ders., Structure and Process in Modern Societies, 1960, S. 59–96, gezeigt hat, die Trennung zwischen den Ebenen der Hierarchie als eine konditionierte Autonomisierung der Ebenen versteht, die dank dieser Trennung dichte, aber bewegliche Kontakte innerhalb der Ebene von seltenen, aber folgenreichen Kontakten zwischen den Ebenen unterscheiden können. Siehe auch Baecker, Die Form des Unternehmens, 1993, S. 86ff.; ders., Mit der Hierarchie gegen die Hierarchie, in: ders., Organisation als System, 1999, S. 122ff. 45 Siehe zum Begriff der Glokalisierung R. Robertson, Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, 1998, S. 192– 220. Siehe zu Netzwerken im AGIL-Schema auch Klein, Die Konfiguration von Unternehmungsnetzwerken – ein Parsons’scher Bezugsrahmen, in: Bühner (Hrsg.), Die Dimensionierung des Unternehmens, 1995, S. 323–357; ders., Heuristiken zum Verständnis und Management von Unternehmungsnetzwerken, in: ders./Burkert (Hrsg.), Interdisziplinäre Managementforschung und -lehre: Herausforderungen und Chancen. Norbert Szyperski zum 70. Geburtstag, 2001, S. 276ff. 46 Siehe etwa Arbeitskreis Organisation der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., Implikationen der Digitalisierung für die Organisation, in: Krause/Pellens (Hrsg.), Betriebswirtschaftliche Implikationen der digitalen Transformation, Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, Sonderheft 72/17 2018, S. 3–27.

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chen und stellt diese Beobachtungen agilen Unternehmen im Modus einer wechselseitigen Beobachtung zweiter Ordnung zur Verfügung. Auch das Unternehmen schließt Wetten darauf ab, mit welchem Kapitalgeber, der über welche Information (einschließlich der Einschätzung erforderlicher GovernanceStrukturen und Kompetenzentwicklungen) verfügt, es sich geeigneterweise auf eine Kooperation einlässt.47 Wenn wir noch ohne weitere Prüfung annehmen, dass die Normen der Agilität zu diesem Typ einer mit Risikokapital finanzierten und an glokalen Kombinationen von Produktionsfaktoren orientierten Netzwerkorganisation passen, erhalten wir folgendes AGIL-Schema (Abb. 5).

Abb. 5: Das agile Unternehmen im AGIL-Schema

In einem letzten Schritt differenzieren wir auch das Feld der agilen Normen, I-IA-I-L, seinerseits in die vier bekannten Funktionen (Abb. 6), und fragen, wie sich die vier Funktionen genauer bestimmen lassen. Wieder bekommen wir es mit dem durchdringenden Raum der Bestimmung jedes einzelnen Feldes durch das gesamte Schema zu tun. Die Differenzierung eines Feldes trifft harte und sich in der Sache bewährende Unterscheidungen. Aber jede dieser Unterscheidungen hat eine Zwei-Seiten-Form, die sie in die restlichen Feldes des Schemas wiedereinbettet. Das agile Unternehmen kann seine Normen nicht aus sich heraus bestimmen, sondern es muss sie in der Auseinandersetzung mit dem Sozial47 Siehe dazu das Modell zur Entwicklung innovativer Unternehmen bei Bhidé, The Origin in Evolution of New Businesses, 2000.

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Abb. 6: Die Frage nach den Normen im AGIL-Schema des Unternehmens

system, dem Handlungssystem und der Human Condition insgesamt als Normen festlegen, die die Typik eines agilen Unternehmens in einer spezifischen Gesellschaft zum Zeitpunkt einer bestimmten Formatierung von Mensch, Natur und Technik latent bestätigen und manifest bei Bedarf zu rechtfertigen vermögen. In jeder seiner Handlungen zitiert das agile Unternehmen alle Aspekte des gesamten Schemas, so sehr diese auch im Hintergrund sein mögen. Das gilt auch und gerade dann, wenn das agile Unternehmen disruptiv aufgestellt ist. Auch die Disruption muss als Form der Integration, der Zielerreichung und der latenten Mustererhaltung und manifesten Konfliktbereitschaft mit Gesellschaft, Mensch, Natur und Technik abgestimmt sein, denn andernfalls wäre die Anpassungsfunktion verletzt. Diese Anpassungsfunktion verlangt je nach Zuständen aller anderen Systeme nicht nur die Konformität aller fraglichen Handlungen, sondern unter Umständen die Abweichung, den Widerspruch und den radikalen Wechsel. Welche Normen genügen diesen Ansprüchen? Welche Normen unterfüttern sie latent? Und auf welche Normen kann sich ein agiles Unternehmen im Zweifel berufen? Spätestens hier, wenn nicht bereits im vorherigen Schritt unserer an Parsons orientierten soziologischen Analyse wäre es sinnvoll, unsererseits in einen agilen Modus zu wechseln und den Gegenstand in die Suche nach seiner Beschreibung einzubeziehen. Das geschieht typischerweise in der Form eines systemischen Workshops, in dem mit Mitarbeitern und Geschäftsführung eines agil arbei-

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tenden Unternehmens nach der einen oder anderen einleitenden Erläuterung der pervasive Raum erkundet wird, in dem die vier Funktionen der Ausdifferenzierung und Reproduktion des Unternehmens und die dazu passenden vier Normen des L-Aspekts des Unternehmens in der Moderation des Soziologen, unter Umständen begleitet von einem Berater, erarbeitet werden. Ein solcher Workshop hätte allerdings nicht nur die Zielsetzung der Erkenntnis und Beschreibung, so als könnten die Normen, nachdem sie erkannt und von allen Teilnehmern besprochen worden sind, nur umso besser befolgt werden. Sondern wie immer ändert die Beschreibung den Gegenstand zugunsten jetzt möglicher Entscheidungen über einen anderen Umgang mit den Normen, eine andere Fassung der Normen oder gar den Wechsel in einen anderen Unternehmenstyp, um es mit anderen Normen zu tun zu bekommen. Ein Workshop ist schon deswegen interessant – unter Umständen auch genau deswegen zu vermeiden –, weil er eine Unruhe in das Verhältnis manifester und latenter Normen bringt. Manifeste Normen können kritisch reflektiert werden. Latente Normen werden nicht etwa in dem Sinne manifest, dass ihr Befolgen mit größerer Sicherheit zu erwarten wäre, sondern sie werden erkannt und riskieren das Mobilisieren von Widerstand. Es gehört jedoch zu einer Soziologie im AGILSchema, dass der diskretionäre Umgang der Akteure mit erkannten und beschriebenen Normen nicht überschätzt wird. Im Gegenteil, man würde erwarten, dass jede einzelne Norm dank ihrer Einbettung in den pervasiven Raum der Human Condition so präzise gerahmt ist, dass sie allenfalls durch eine Variante ihrer selbst ersetzt werden kann.48 Bei allem Respekt vor einer strategischen Selbstbeschreibung eines Unternehmens in einem systemisch konzipierten Workshop kann ich daher im Folgenden zumindest eine Hypothese formulieren, welche Normen das agile Unternehmen prägen. Ich berufe mich dabei auch auf die einschlägige Literatur, die man, je näher sie an der Unternehmenspraxis orientiert ist, als Stellvertreter für die empirische Arbeit heranziehen kann.49 Schauen wir uns das Schema der Normen im AGIL-Schema des Unternehmens an, liegt es nahe zu vermuten, dass die adaptive Seite der Normen, I-I-A-I-LA, etwas mit dem Bedarf an Risikokapital und über das Risikokapital etwas mit Innovation, mit neuem, unter Umständen disruptivem Verhalten und mit naturwissenschaftlich und technisch erschlossenen Umwelten zu tun hat. Geraten Handeln und Erleben in einem agilen Unternehmen unter einen Rechtfertigungsdruck, darf man daher damit rechnen, dass unter Anpassungsgesichts48 Das gehört mit zum Phänomen der Mode unter den Managementphilosophien. Letztlich werden die bereits von Burns/Stalker, The Management of Innovation (1961), rev. Aufl. 1994, beschriebenen Themen unter wechselnden Namen immer wieder neu aufgegriffen, siehe auch oben, Fn. 10. 49 Siehe oben, Fn. 41.

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punkten nicht Tradition, Moral und Ethik, sondern die Neugier aufgerufen wird – und zwar eine Neugier, die sich ebenso auf eine Welt beruft, in der es etwas zu entdecken gibt, wie auf die Fähigkeit, entsprechende Entdeckungen auch zu machen und umzusetzen. Es geht nicht nur um die staunende, sondern vor allem um die tätige Neugier. Das Abenteuer ist nicht umsonst eine der historisch frühesten Formen des Unternehmertums.50 Freilich genügt das nicht. Agile Unternehmen sind nicht einfach abenteuerlich und weit davon entfernt, sich ausschließlich unter Berufung auf die Neugier legitimieren und auftretende Konflikte mit Auftraggebern, internen Widerständen oder der kritischen Öffentlichkeit regulieren zu können. Sie benötigen ein zweites Set an Normen, die sie mit den Anforderungen der glokalen Produktion vernetzen, I-I-A-I-L-G. Hier greift die Norm, die in allen Manifesten und Handbüchern des agilen Managements immer wieder an erster Stelle steht, nämlich die Kundenorientierung. Wir arbeiten nur im Auftrag, lautet das Mantra des agilen Managements, und diesen Auftrag können wir uns nicht selber geben, sondern er muss von außen kommen, und sei es eine andere Abteilung im selben Unternehmen. Selbstbedienung gilt nicht. Aber man täusche sich nicht. Es geht nicht darum, sich den Kundenwünschen zu unterwerfen, es auf nichts anderes abzusehen als den rundum zufrieden gestellten Kunden. Damit wäre das agile Unternehmen rasch dem Untergang geweiht, denn die Wünsche des Kunden im Hinblick auf Preis und Qualität sind unerfüllbar. Kundenorientierung heißt, sich auf die Norm zu berufen, die Kundenwünsche und die eigenen unternehmerischen Möglichkeiten miteinander abzugleichen und zu vereinbaren. Dabei hilft es, dass die Norm der Kundenorientierung die G-Funktion erfüllen soll. Denn das heißt, dass die Rechtfertigung des Handelns und Erlebens sowie die Regulierung möglicher Konflikte eben nicht über die bloße Anpassung an interne und externe Forderungen läuft, sondern über die Abstimmung der Zielsetzung des Kunden ebenso wie der Zielsetzung des agilen Unternehmens. An Zielsetzungen jedoch lässt sich arbeiten. Man kann sie interpretieren, man kann sie entwickeln, man kann sie ändern, man kann sie bei Bedarf auch einklammern, um statt ihrer andere Ziele zu verfolgen. So schlägt die Kundenpflege mit Blick auf weitere Aufträge unter Umständen die Preis- und Gewinnorientierung. Und auch andere Rücksichten sind nicht ausgeschlossen. Aber entscheidend ist, dass sich in der Kundenorientierung nicht primär die Ziele des Kunden durchsetzen, sondern dass Kundenorientierung ein Ziel, und zwar ein legitimes Ziel des agilen Unternehmens ist. Sich am Ziel der Kundenorientierung zu orientieren, bedeutet, viele andere Ziele von der optimalen Qualität über den höchsten Preis bis zur Technikentwicklung um ihrer selbst 50 Siehe Baecker, Die Form des Unternehmens, 1993, S. 68ff.

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willen intern wie extern abwerten zu können. Das Abenteuer der tätigen Neugier wird hier zugleich zum Abenteuer einer neuen Zielfindung im Kontext der glokalen, an globalen Möglichkeiten wie lokalen Ressourcen gleichermaßen orientierten Produktion. Die Antwort auf die Frage, welche Normen ein agiles Unternehmen integrieren können, I-I-A-I-L-I, fällt nicht schwer. Die Literatur betont immer wieder nur einen einzigen Wert, die Teamfähigkeit. Doch was ist darunter zu verstehen? Es geht sicherlich nicht um den häufig propagierten Abbau von Hierarchie zugunsten kollegialer, interdisziplinärer und kreativer Arbeitsformen. Sondern es geht um die Einbettung dieser Arbeitsformen in eine neu interpretierte und auch neu formatierte Hierarchie, die endgültig nicht mehr als Struktur einer Befehlskette, sondern als Struktur der wechselseitigen Unterstützung mit Blick auf verschiedene Arten von Ressourcen (Kapital, Personal, Kompetenzen) und verschiedene Arten des Durchgriffs verstanden wird. Die Hierarchie wird nicht abgeschafft, sondern heterarchisch konditioniert.51 Das nimmt der Rangordnung von oben und unten nichts von ihrer Schärfe, konditioniert sie jedoch im Kontext einer Rangordnung von innen und außen.52 Das ist der entscheidende Punkt der Teamfähigkeit. Teams sind mit der doppelten Anforderung von Hierarchie und Heterarchie konfrontiert.53 Sie müssen Anforderungen des Projekts, der Hierarchie und der jeweils situativ ambivalenten Orientierung, die aus der doppelten Einbindung für jedes Team resultieren, miteinander integrieren, wobei »Integration« hier wie immer darin besteht, Differenzen nicht etwa zu verwischen, sondern zu vermitteln. Denn die Aufgabe der Integration stellt sich stündlich und täglich neu. Sie ist nur zu erfüllen, wenn man ein Gefühl dafür hat, welche Unterschiede miteinander zu vereinbaren sind. Auf diese differenzielle Integration zielt die Integration durch Teamfähigkeit. Sie ist eine gleichermaßen sachlich wie sozial und zeitlich formulierte Norm. Sie wirkt latent im Hintergrund und wird immer dann aufgerufen und 51 Siehe zur Heterarchie als Form der zirkulären Ausübung von (rotierender) Führung im Gegensatz zur Hierarchie als Form der linearen Ausübung von Führung (von oben, aber, als Unterwachung, auch von unten) v. Foerster, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, in: ders., Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke, 1993, S. 233–268; Stark, Heterarchy: Distributing Authority and Organizing Diversity, in: Clippinger III (Hrsg.), The Biology of Business: Decoding the Natural Laws of Enterprise, 1999, S. 153–179; Windeler, Unternehmungsnetzwerke: Konstitution und Strukturation, 2003. 52 Siehe erneut Simon, The Architecture of Complexity, in: The Sciences of the Aritficial (1969), 2. Aufl. 1981, S. 192–229, und Baecker, Mit der Hierarchie gegen die Hierarchie, in: ders., Organisation als System, 1999, S. 198–236; ders., Agilität, Hierarchie und Management: Eine Verallgemeinerung, 2017 (abrufbar unter: https://catjects.wordpress.com/2017/03/19/agilita t-hierarchie-und-management-eine-verallgemeinerng/). 53 Siehe Heintel/Krainz, Projektmanagement: Eine Antwort auf die Hierarchiekrise?, 1988; für den Fall agiler Kriegsführung vgl. McChrystal, Team of Teams: New Rules of Engagement for a Complex World, 2014.

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manifest, wenn sich eine der Anforderungen vor alle anderen stellt und entsprechende Konflikte hervorruft. Als zentrale Norm des Unternehmens im Wirtschafts-, Handlungs- und Sozialsystem der Human Condition bündelt sie alle Konflikte, die auch auf der »menschlichen« Ebene der Integration von Körper, Psyche und sozialen Kompetenzen aufbrechen und mit Rücksicht auf Betrieb, Wirtschaft und Gesellschaft reguliert werden müssen. Die Gruppendynamik gibt seit Jahrzehnten darüber Auskunft, dass die wichtigste Norm, die mit Blick auf Teamfähigkeit von dieser erfüllt werden muss, die Norm der Aufrechterhaltung von Spannung ist.54 Das impliziert nicht zuletzt Integration durch Konfliktbereitschaft im Kontext der jeweils praktizierten Konfliktregulierungsroutinen. Diese drei Normen der tätigen Neugier, Kundenorientierung und Teamfähigkeit liefern bereits eine Menge an latenten Normen und manifesten Formen der Konfliktregulierung. Offen ist noch die Frage nach der Norm dieser Normen. Auf welchen Wert kann man sich berufen, wenn die Orientierung an diesen Normen ihrerseits angezweifelt wird und gerechtfertigt werden muss, I-I-A-I-L-L? Frederic Laloux empfiehlt die Umstellung der Organisation auf ein neues Bewusstsein des Menschen, ein »teal consciousness«,55 und versteht unter einem »blaugrünen« Bewusstsein eines, das sich auf die permanente Möglichkeit der Evolution eingelassen hat. Laufend kann sich alles ändern, aber wie es sich ändert, gehorcht zwar zum einen dem Zufall, der »blinden« Variation, jedoch zum anderen beschreibbaren Mechanismen der Selektion und Retention.56 Welche Norm verteidigt ein Verhalten, ein Handeln und Erleben, das sich in diesem Sinne auf die, wie Luhmann formuliert hat,57 vorübergehende Reaktion auf vorübergehende Lagen eingestellt hat? Es ist trivialerweise die Norm der Flexibilität. »Sei flexibel«, ist die Norm, die alle anderen Normen unterstützt, auch und gerade wenn diese untereinander in einen Konflikt geraten. Flexibilität deckt damit jenen Aspekt der Agilität ab, der es zugleich erlaubt, mit den eigenen Ansprüchen an ein agiles Handeln und Erleben moderat umzugehen. Die Übersetzung, die das Manifest für agile Softwareentwicklung dafür gefunden hat, ist die Norm der »simplicity«: »to maximize the amount of 54 Siehe nur Lewin, Resolving Social Conflicts: Selected Papers on Group Dynamics, 1948; Smith/Berg, A Paradoxical Conception of Group Dynamics, in: Human Relations 40, 1987, S. 633–658; dies., Paradoxes of Group Life: Unterstanding Conflict, Paralysis, and Movement in Group Dynamics, 1987; Hackman, Groups That Work (and Those That Don’t): Creating Conditions for Effective Teamwork, 1990. 55 Siehe Laloux, Reinventing Organizations: A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness, 2014, S. 43ff. u. ö. 56 Siehe Campbell, Blind Variation and Selective Retention in Creative Thought as in Other Knowledge Processes, in: Psychological Review 67, 1960. 57 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 124, 206 u. ö.

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work not done«. Das heißt eben umgekehrt, dass auf eine Situation, die im Sinne eines Auftrags von außen Arbeit erfordert, genauso flexibel zu reagieren ist wie auf eine Situation, in der mangels eines Auftrags nichts zu tun ist. Womit aber beschäftigt man sich dann? Ich vermute, dass man sich mit seinen Ressourcen beschäftigt. Man mustert seine Truppen, sortiert sein Material, reflektiert die erworbenen Erfahrungen, hält mögliche Lernfortschritte (»lessons learned«) fest. Flexibel ist man nicht dann, wenn man auf jede Situation gleichgültig reagiert. Sondern flexibel ist man dann, wenn man die eigene Ausgangssituation mit Blick auf die anderen drei Normen, tätige Neugier, Kundenorientierung und Teamfähigkeit, neu in den Blick nimmt und auf denkbare Aufträge projiziert, die man zugleich in der spezifischen Form einer angespannten Ruhe abwartet. In einer weiteren Formulierung könnte man sagen, dass in der Norm der Flexibilität die Form der Agilität zum Medium der Agilität umgeformt wird.58 Im Medium der Agilität zu handeln und zu erleben, ist eine unüberbietbare Rechtfertigung agilen Handelns und Erlebens. Es geht dann nicht um einen bestimmten Auftrag, bestimmte Ressourcen und bestimmte Timelines, sondern um die Möglichkeit von Aufträgen, die Sichtung alter und neuer Ressourcen und das Überdenken der zeitlichen Taktung der Arbeit. Die Pointe besteht darin, dass diese Norm nicht nur greift, wenn man nichts tut und wartet, sondern auch dann, wenn man mitten in einem agilen Projekt steckt. Auch und gerade dann können Konflikte auftreten, die nur bewältigt werden können, indem man einen Schritt zurücktritt und sich des Sinns und Unsinns des Ganzen vergewissert. Flexibilität heißt dann, im Medium der Agilität agil mit Formen der Agilität umzugehen. Wer das nicht aushält, geht zum Coach. Unser AGIL-Schema können wir dementsprechend wie folgt ausfüllen (Abb. 7).

58 Im Sinne des auf lose Kopplung der Elemente abstellenden Medienbegriffs von Heider, Ding und Medium, 2005.

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Abb. 7: Normen der Agilität im AGIL-Schema

V. Eine Übung wie die vorstehende verfolgt verschiedene Ziele. Zum einen geht es um einen Beitrag zur Sache. Formen des agilen Managements implizieren eine radikale Umstellung von Organisationsstrukturen von der Silo- auf die Netzwerkorganisation, sodass es arbeitspolitisch ebenso wie betriebswirtschaftlich, industrie- und arbeitssoziologisch und möglicherweise auch juristisch interessant ist, herauszufinden, mit welchen Umstellungen im Werte- und Normenhaushalt in diesem Zusammenhang zu rechnen ist. Ich habe zwar in diesem Beitrag keinen Wert darauf gelegt, auch die Normen der Silo-Organisation zu beschreiben, aber zumindest dürfte eine soziologische Methodologie deutlich geworden sein, mit deren Hilfe auch dieses Forschungsinteresse verfolgt werden kann. Denn zum anderen geht es um die beispielhafte Diskussion einer soziologischen Methodologie, die es meines Erachtens in einzigartiger Weise ermöglicht, konkrete soziale Phänomene in einem anspruchsvollen Schema der Differenzierung und Integration von Handeln und Erleben zu untersuchen. Insbesondere das Konzept des pervasiven Raums erlaubt es, die Abhängigkeit beliebiger sozialer Phänomene von tendenziell allen anderen sozialen Phänomen zu untersuchen, ohne Unterscheidungen, die den sozialen Raum strukturieren, aus dem

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Blick zu verlieren. Es sind im Gegenteil ausgerechnet diese Unterscheidungen, die Abhängigkeit und Verbindung ebenso strukturieren wie Unabhängigkeit und Trennung. Die übergreifende systemtheoretische Fragestellung nach der sachlichen Ausdifferenzierung und zeitlichen Reproduktion von Handeln und Erleben wiederholt sich selbstähnlich auf jeder beliebigen Ebene der Untersuchung konkreter Phänomene. Wenn man so will, liegt in dieser selbstähnlichen Wiederholung ein überzeugendender Beweis für die Existenz der Gesellschaft selber. Drittens jedoch geht es um ein Gesprächsangebot der Soziologie an die Rechtswissenschaften. Dieses Gesprächsangebot zielt darauf, sich des sowohl differenzierten wie integrierenden Stellenwerts von Werten und Normen in der Gesellschaft zu vergewissern. Selbst wenn dieser Beitrag es offen ließ, in welchem Verhältnis moralische Normen und juristische Normen zueinander stehen, dürfte doch deutlich geworden sein, dass Normen sich nur im Zusammenhang anderer funktionaler Anforderungen an Handeln und Erleben bewähren. Normen dienen der Rechtfertigung und Konfliktregulierung. Bevor es dazu kommt, müssen jedoch Anpassungsanforderungen an eine natürliche und technische Umwelt, Bindungsanforderungen an zielsuchende Organismen und Persönlichkeiten sowie Integrationsanforderungen spezifischer Formen von Handeln und Erleben mit anderen Formen erfüllt worden sein. Dass das so ist, wird auch Juristen nicht wundern. Doch wie es sich sortieren lässt, wissen vor allem Soziologen. Parsons’ Vorstellung einer kybernetischen Hierarchie zwischen den vier funktionalen Anforderungen an Handeln und Erleben lässt es bezeichnenderweise offen, ob man von den Werten und Normen her liest, L-I-G-A, die alle anderen funktionalen Aspekte über den eventuell erforderlichen Umgang mit Konflikten »informieren«, oder ob man von den Anpassungsanforderungen her liest, A-G-I-L, die alle anderen Aspekte mit einer spannungsreichen »Energie« versorgen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer genaueren Untersuchung der Funktion von Hierarchie darf man vermuten, dass weder die Normen noch die Anpassungsanforderungen im Schema durchregieren können. Die Möglichkeit einer doppelten Lesart unterstreicht nur, was auch die einfache Hierarchie bereits leistet, nämlich die Trennung der Teile im Ganzen, die hinfort ebenso sehr damit beschäftigt sind, sich als Teile des Ganzen zu erweisen wie ihren Status als Teile, die sich vom Ganzen unterscheiden, aufrechtzuerhalten.59 Das gilt für alle vier Funktionen. Sie im Schema gebündelt zu betrachten und, gebunden durch das Schema, nur diese vier zu betrachten, bedeutet nicht, sie nicht auch in ihrer hierarchisch gesicherten Unabhängigkeit betrachten zu können. 59 Siehe mit der Denkfigur der hierarchischen Opposition (der Teile gegenüber dem Ganzen) und der Umfassung des Gegenteils (durch das Ganze) Dumont, Essais sur l’individualisme: Une perspective anthropologique sur l’idéologie moderne. 1983, dt. Übers. 1990, S. 244ff.

Normen der Agilität in Parsons’ AGIL-Schema

33

Überlegungen dieser Art erübrigen es nicht, immer wieder die Grundsatzfrage aufzuwerfen, ob man mit dem Schema von Parsons arbeiten soll oder nicht. Sicherlich kann man immer auch anders anfangen.60 Aber einzuholen wäre der kognitionswissenschaftliche Zugriff von Parsons auf eine Mehrzahl von Systemreferenzen, Natur und Technik ebenso wie Organismus, Persönlichkeit, Gesellschaft und Kultur. Diesen kognitionswissenschaftlichen Aspekt habe ich in diesem Aufsatz nicht übermäßig betont. Immerhin sind die Fragen nach den Normen der Agilität im Unternehmenssystem des Wirtschaftssystems des Sozialsystems des Handlungssystems der Human Condition einigermaßen gegenüber der natürlichen, technischen, organischen und psychischen Umwelt abgepuffert. Dass diese Fragen jedoch jederzeit durchschlagen können, sollte deutlich geworden sein und kann in der Forschung, so sich diese auf das AGIL-Schema und seine verschiedenen Ebenen einlässt, gut aufgegriffen werden.

60 Siehe nur Luhmann, Talcott Parsons – Zur Zukunft eines Theorieprogramms, in: Zeitschrift für Soziologie 9, 1, 1980, S. 14, mit der Überlegung die beiden internal/external- und consummatory/instrumental-Achsen in Parsons’ Schema durch die beiden Operationen von indication und distinction im Formkalkül von Spencer-Brown, Laws of Form (1969), 5., intern. Ausg. 2008, zu ersetzen und so einerseits die Bedeutung der System/Umwelt-Differenz (»indication« von etwas im Unterschied zu etwas anderem) und der Zeitlichkeit (»distinction« als in der Zeit vorzunehmende Operation) beizubehalten, andererseits jedoch eine größere Freiheit im Zugriff auf das semantische und strukturelle Material zu erhalten.

Susanne Beck / Maximilian Nussbaum

Neue Formen regulativer Kooperation: Zum Verhältnis technischer Normen und Gemeinschaftsstandards sozialer Netzwerke zu staatlichem Strafrecht

I.

Einleitung

Die besonders enge Verbindung von Staat und Strafrecht scheint nicht nur durch eine fortschreitende Europäisierung und Internationalisierung unter Spannungen zu geraten. Auch dort, wo private Akteure informationelle Macht anhäufen, die für ein funktionierendes Strafrecht und seine Pflege von Relevanz sind, stellt sich die Frage, ob kooperative Modelle denkbar sind und wie diese ausgestaltet werden können.1 Dabei verdient, neben Formen der Delegation der Rechtsdurchsetzung auf private Akteure,2 der Bereich nichtstaatlicher Normsetzung Aufmerksamkeit. Ein aktuell lebendig diskutiertes Beispiel ist die Criminal Compliance. Das Bestreben, das Strafrecht in dem Subsystem unternehmerischer Organisation zu internalisieren, die Organisation also criminal compliant zu machen, fördert einige Vorschriften, die z. T. strafbewehrte oder bußgeldbelegte Pflichten einführen, den eigenen Organisationsbereich frei von strafrechtlich relevanten Verstößen zu halten.3 Erste Untersuchungen widmen sich der Frage, inwiefern diese Form der Selbstregulierung in Wechselwirkung zu strafrechtlichen Normen steht. Bemüht sich ein Unternehmen, ein möglichst sensibles Compliance-System einzurichten, könnte dies auf verschiedenen Wegen zu einer Anspannung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Akteure führen. Zum einen könnte sich das Risiko untergelagerter Hierarchie-Stufen erhöhen, sich der Korruption strafbar zu machen, da das Geschäftsherrenmodell des § 299 I Nr. 2, II Nr. 2 StGB an den

1 Vgl. auch Bung, ZIS 2016, 340 (343). 2 Zur Privatisierung strafrechtlicher Ermittlungsmaßnahmen Rotsch, ZStW 125 (2013), 481 (488); Brunhöber, GA 2010, 571; Wastl, ZRP 2011, 57; Kubiciel, ZIS 2018, 60 (62). 3 Eine Aufzählung dieser Vorschriften findet sich bei Michalke, ZIS 2018, 334 (334f.); systematisierend Kölbel, ZStW 125 (2014), 499 (509f.); vgl. auch die grundlegende Betrachtung von Kubiciel, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 1, 2019, 1083 (1090).

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Verstoß gegen unternehmensinterne Vorschriften anknüpfen kann.4 Zum anderen ist es denkbar, dass ein Unterschreiten der so gesetzten best practice als eine Sorgfaltspflichtverletzung angesehen wird; nicht nur innerhalb des normsetzenden Unternehmens, sondern auch bei vergleichbaren Organisationsstrukturen.5 Dieser Beitrag will sich zwei weiteren aktuellen Anschauungsbeispielen widmen und der Frage nachgehen, wie sich der Einfluss privater Normen auf das Strafrecht gestaltet. Zum einen soll dargestellt werden, wie die von privaten Normungsverbänden erlassenen technischen Normen durch das Strafrecht rezipiert werden. Zum anderen soll in ersten Ansätzen das Verhältnis der von sozialen Netzwerken erlassenen Gemeinschaftsstandards und der im Rahmen des NetzDG anzuwendenden Strafnormen untersucht werden. Im Anschluss wird insbesondere mit Blick auf die Normsetzungsinteressen der Akteure analysiert, inwiefern die privaten Normen von den Maßstäben des materiellen Strafrechts abweichen. So lassen sich Spannungen zwischen den privaten Regelsystemen und dem Strafrecht identifizieren. Abschließend soll ein vergleichender Blick auf das »Kooperations-Design« und seine Kontrollierbarkeit durch den Staat geworfen werden. Hier sollen erste Ansätze skizziert werden, um einem rechtsstaatlich bedenklichem Kontrolldefizit entgegenzuwirken.

II.

Verhältnis von privaten Normen und Strafrecht

1.

Technische Normen

a)

Gegenstand

Technische Normen, die von privaten Normungsinstitutionen erlassen und in technischen Regelwerken gebündelt werden, codieren technische Erfahrungssätze und Empfehlungen. Und obwohl ihnen mangels Rechtssetzungsbefugnis der privaten Ausschüsse und Verbände (Art. 70ff., 80 Abs. 1 S. 1 GG) keine Rechtsqualität zukommt,6 ist ihre praktische Bedeutung kaum zu überschätzen. Mit über 34.000 Regeln – zu denen stetig neue hinzutreten – zählen die vom DIN4 Dazu Michalke, ZIS 2018, 334 (338); Wolfram/Peukert, NZWiSt 2017, 308ff.; Schneider, NZG 2019, 1369 (1377); vgl. zum Verantwortungstransfer »top-down« auch Theile, JuS 2017, 913 (915f.). 5 Von einem Aufschaukelungsprozess spricht Theile, JuS 2017, 913 (916); vgl. auch im Zusammenhang der §§ 299a, 299b StGB: Schröder, ZIS 2019, 71 (87). 6 Vgl. Lenckner, in: Bockelmann/Kaufmann/Klug (Hrsg.), FS Engisch, 1969, 490 (494); Nussbaum, ZIS 2021, 33 (34); die Begründung von Gewohnheitsrecht dürfte schon mangels andauernder, gleichmäßiger Übung ausgeschlossen sein (Marburger, Regeln der Technik, 1979, S. 337f.).

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Institut erlassenen technischen Normen wohl zu den bekanntesten ihrer Gattung. Daneben sind in nationaler Hinsicht die VDE-Bestimmungen, VDIRichtlinien, DVGW-Arbeitsblätter und auf europäischer bzw. internationaler Ebene die EN-Standards und ISO-Normen zu beachten.7 Der Zweck der privaten technischen Normung lässt sich nicht einheitlich bestimmen: Als Prüf- und Qualitätsnormen können sie der Gewährleistung einer bestimmten Produktqualität oder der Rationalisierung dienen. Dann versprechen sie wirtschaftliche Vorteile, sowohl durch die Vereinfachung und Vereinheitlichung technischer Arbeitsprozesse als auch durch die Erleichterung des Handelsverkehrs.8 In diesem Zusammenhang stellen sie ein »strategisches Instrument im Wettbewerb«9 dar. Als Sicherheitsnormen dienen sie der Verhütung von Gefahren für Leib, Leben, Sachgüter und Umwelt, die durch die Technik entstehen.10 Auf die verschiedenen Funktionen technischer Normen wird zurückzukommen sein.11 b)

Rezeption

Nicht nur die praktische Bedeutung technischer Normen und die Einhaltung fester Verfahrensstandards12 bei ihrer Setzung sind Grund für die Attraktivität, die ihnen für die Konturierung des strafrechtlich erlaubten Risikos zukommt. Hinzu tritt, dass der (Straf-)Gesetzgeber in der Regel nicht den gleichen technischen Sachverstand wie die pluralistisch aus der Praxis besetzten Normungsinstitute aufweisen kann.13 Zudem bremst die parlamentarische Struktur eine dem dynamischen technischen Fortschritt Rechnung tragende Gesetzgebung.14 Daher ist von besonderem Interesse, wie diesen Standards eine normative Bedeutung zukommen kann, ohne dass der Staat die Konturierung (straf-)rechtlich erlaubter Risiken vollständig privaten Kräften überlässt und sich so dem Vorwurf 7 Zum Verhältnis von nationalen und internationalen technischen Normen vgl. Lenckner, in: Bockelmann/Kaufmann/Klug (Hrsg.), FS Engisch, 1969, S. 490 (492); zum Verhältnis von ENStandards und nationalen Standards vgl. Motzke, BauR 2020, 169 (181). 8 Zhou, Systemverzahnung, 2002, S. 88: »koordinative Normen«. 9 Schleifer, Holztechnologie 2008, 56 (56f.) mit dem Hinweis darauf, dass die aktive Beteiligung an der Normungsarbeit einen Informationsvorsprung im Hinblick auf zukünftige technische Normen vermitteln kann und die Normung letztlich zu Gunsten eigener technischer Innovation beeinflussen kann. 10 Zhou, Systemverzahnung, 2002, S. 88: »regulative Normen«; vgl. exemplarisch DIN 820 Teil 1 Abschnitt 4; Veit, Technische Normen, 1989, S. 12. 11 Vgl. unter V. 12 Vgl. hierzu DIN 820 (Normungsarbeit). 13 Beck, ZStW 131 (2019), 967 (975); Denga/Pohle/Hölzel, RW 2020, 420 (421): »sachnaher Regulierer«. 14 Zur Notwendigkeit von »Flexibilität« im Bereich der Technikregulierung Denga/Pohle/Hölzel, RW 2020, 420 (426); Zhou, Systemverzahnung, 2002, S. 83.

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aussetzt, seiner Schutzverpflichtung für hochrangige Rechtsgüter im Bereich der Technikregulierung nicht nachzukommen.15 aa) Direkte Rezeption Strafrechtliche Normen können die privaten Standards durch eine direkte Verweisung integrieren. Das ist als statische oder dynamische Verweisung möglich. Während der statische Verweis die technische Norm in einer bestimmten Fassung implementiert, bezieht sich die dynamische Verweisung auf die technische Norm in der aktuellen Fassung.16 Die statische Verweisung ist in verfassungsrechtlicher Hinsicht, insbesondere mit Blick auf das Demokratieprinzip und den Bestimmtheitsgrundsatz gem. Art. 103 II GG weitestgehend unbedenklich, da der Strafgesetzgeber sich des Verweises lediglich zum Zwecke der Verkürzung des Gesetzestextes bemüht und die technischen Spezifika der Straftat in seinen Willen mit aufnimmt.17 Schwäche dieser Verweisungstechnik ist es, dass sie dem Problem der Dynamik der technischen Entwicklung naturgemäß nur teilweise begegnen kann und das Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und erforderlicher Flexibilität kaum auflöst.18 Eine dynamische Verweisung wäre zwar flexibler, schließlich werden die technischen Normen von Experten in vergleichsweise schnellen Verfahren erarbeitet. Sie wirft jedoch erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken auf:19 Der Inhalt der Strafnorm wird durch Abänderung der technischen Norm nämlich von demokratisch nicht legitimierten privaten Institutionen bestimmt. Das kann als Verstoß gegen das Demokratieprinzip angesehen werden. Solche Änderungen sind weder für den Gesetzgeber noch für den Rechtsunterworfenen vorhersehbar, weshalb auch ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz gem. Art. 103 II GG angenommen werden kann.20

15 Zur Wesentlichkeitstheorie als Grenze der Delegation BVerfGE 77, 1 (40f.); s. auch Di Fabio, Risikoentscheidungen, 1994 passim; allgemein zu der hier nicht behandelten Rezeption durch Einführung Zhou, Systemverzahnung, 2002, S. 210; zu dem ähnlichen Feld der Implementation medizinischer Leitlinien Damm, ZFRS 2009, 3. 16 Zum gesamten Ernst, Blankettstrafgesetze, 2017, S. 9ff.; s. auch BVerfG NJW 1982, 2859 (2860) m. w. N. 17 Vgl. Marburger, in: Sonnenberger/Köhler/Marburger (Hrsg.), Rechtsfragen der technischen Normung,1985, 16 (20). 18 Nussbaum, ZIS 2021, 33 (35f.). 19 Zu der Frage, ob die private kostenpflichtige Veröffentlichung der technischen Normen gegen das Publikationsgebot des Art. 82 I GG verstößt vgl. Backherms, ZRP 1978, 261ff.; Ossenbühl, DVBl. 1967, 401 (406); Veit, Technische Normen, 1989, S. 81f. 20 Ausführlich Nussbaum, ZIS 2021, 33 (35f.); vgl. auch Thiele, DS 2020, 308 (309).

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bb) Indirekte Rezeption Eine elegante Lösung verspricht die indirekte Rezeption durch den Rechtsanwender bei der Auslegung normativer Tatbestandsmerkmale, namentlich dem technischen Standard der »allgemein anerkannten Regeln der Technik« (vgl. z. B. § 319 StGB),21 sowie des Fahrlässigkeitsmaßstabs etwa der §§ 222, 229 StGB. Gerade die poröse Struktur des Fahrlässigkeitsvorwurfs, der weitgehend frei von materiellen Tatbestandsmerkmalen ist, bietet fruchtbaren Boden, wenn man den technischen Normen zu normativer Verbindlichkeit verhelfen möchte.22 Die technischen Normen werden auch durch den weit überwiegenden Teil der Praktiker eingehalten. Sie können also einen Sorgfaltsmaßstab relativ gut abbilden.23 Daher könnte es auf den ersten Blick naheliegen, dass ein Verstoß gegen eine technische Norm auch eine (strafrechtsrelevante) Sorgfaltswidrigkeit begründet und die Einhaltung technischer Normen eine solche ausschließt.24 Nach der h.L.25 und der Rechtspraxis26 kommt den technischen Normen jedenfalls eine Indizwirkung für die Bildung des Sorgfaltsmaßstabes zu. Diese indirekte Rezeption kann die bei der dynamischen Verweisung geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken entkräften, tritt doch der Rechtsanwender zwischen die technische Norm und ihre rechtliche Geltung.27

2.

Gemeinschaftsstandards sozialer Netzwerke

a)

Gegenstand

Registriert sich ein Nutzer bei einem sozialen Netzwerk, so schließt er mit dem Betreiber einen Plattformnutzungsvertrag.28 Der Betreiber führt als Teil der oder neben den Nutzungsbedingungen die durch das Netzwerk erstellten Gemein-

21 Vgl. zu der Regelungstechnik der technischen Standards Hoyer, ZStW 121 (2009), 860 (864ff.); Nussbaum, ZIS 2021, 33 (36f.); Denga/Pohle/Hölzel, RW 2020, 420 (427f.); zur Rezeption technischer Normen durch diese unbestimmten Rechtsbegriffe Zhou, Systemverzahnung, 2002, S. 84f., 212f. 22 Vgl. Momsen, ZStW 131 (2019), 1009 (1032). 23 Grundlegend zur Erstarkung nichtstaatlicher Normen durch Befolgung Engert, RW 2014, 301 (316f.). 24 Zur Inkongruenz im Einzelnen unter III. 1. 25 Esser/Keuten, NStZ 2011, 314 (317f.); Jescheck/Weigend, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 54 I. 3.; Kaspar, JuS 2012, 16 (20). 26 Zur praktischen Bedeutung in der Rechtspraxis vgl. Wilrich, Rechtsprechung zu technischen Normen und normenähnlichen Dokumenten hinsichtlich ihrer Bedeutung für Sicherheit und Gesundheit, 2016, S. 58. 27 Ausführlich Nussbaum, ZIS 2021, 33 (39); krit. aber Schröder, ZIS 2019, 71 (87). 28 Zur Typisierung dieses Vertrags als gemischten Vertrag Spindler, CR 2019, 238 (239) m. w. N.

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schaftsstandards29 (auch Richtlinien30 oder Regeln31 genannt) als AGB in den Vertrag ein.32 Die Gemeinschaftsstandards formulieren eine Erwartung an die Kommunikation des Nutzers auf der Plattform. Sie beinhalten spezifische Geund vor allem Verbote wie das Verbot von Gewaltdarstellungen, Hassrede oder der Darstellung von Nacktheit und sexuellen Handlungen.33 Dadurch werden zwei Funktionen erfüllt: Zum einen sichern diese Standards den Nutzern, Werbepartner und staatlichen Regulatoren die Achtung der Redefreiheit auf der Plattform sowie den Schutz der Nutzer vor missbräuchlichen Inhalten zu. Insofern handelt es sich um ein Selbstbekenntnis und eine Verpflichtung zur Inhaltsmoderation.34 Zum anderen dienen sie der Legitimation für die Löschung von Inhalten und die Sperrung von Nutzern. Zwar können die internen Richtlinien, die einer Moderation zugrunde liegen, in Details von den Gemeinschaftsstandards abweichen, jedoch dürften sie diese in großen Teilen eher konkretisieren.35 Im Folgenden wird deshalb auf die Gemeinschaftsstandards direkt abgestellt.36 b)

Keine Rezeption

Möchte man nun eine Beziehung dieser Gemeinschaftsstandards zu strafrechtlichen Normen erfassen, so könnte auch hier eine Rezeption in Betracht kommen. Zwar lässt sich nicht auf die »Rezeptionsdurchlässigkeit« der Fahrlässigkeit abstellen, sind die auf sozialen Netzwerken begangenen Äußerungs- und Verbreitungsdelikte doch Vorsatztaten. Nimmt man jedoch exemplarisch den § 185 StGB in den Blick, so liegt mit der Beleidigung bzw. der Kundgabe der Miss- oder Nichtachtung ebenfalls ein offener Rechtsbegriff vor. So wird etwa in der Straf-

29 Facebook: https://de-de.facebook.com/communitystandards/ (zuletzt abgerufen am 30. 3. 2021). 30 YouTube-Richtlinien: https://support.google.com/YouTubeYouTube/topic/2803176?hl=de& ref_topic=6151248 (zuletzt abgerufen am 30. 3. 2021). 31 Twitter-Regeln: https://help.twitter.com/de/rules-and-policies/twitter-rules (zuletzt abgerufen am 30. 3. 2021). 32 Elsaß/Labusga/Tichy, CR 2017, 234 (237); Wandtke/Ostendorff, ZUM 2021, 26 (30f.); Friehe, NJW 2020, 1697; aus der Rspr. OLG München NJW 2018, 3119 (3121); OLG München NJW 2018, 3115 (3116); OLG Dresden NJW 2018, 3111 (3112). 33 Facebook: https://de-de.facebook.com/communitystandards/ (zuletzt abgerufen am 30. 3. 2021). 34 Zu der Ambivalenz dieses Versprechens ausführlich Gillespie, Custodians of the Internet, 2018, S. 47ff. 35 Klonick, Harv. Law Review 131 (2018), 1598 (1639); Wielsch, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.) Netzwerkrecht, 61 (70). 36 Auch die junge obergerichtliche Rechtsprechung stellt auf die Gemeinschaftsstandards ab, stellvertretend: OLG München NJW 2018, 3119 (3120).

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rechtswissenschaft vorgeschlagen, bei der Auslegung der Aussage zu berücksichtigen, dass das Internet »kein Ort für den Austausch von Höflichkeiten« sei.37 Eine indirekte Rezeption der Gemeinschaftsstandards durch den Strafrechtsanwender ist zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht ersichtlich. Vergleichend mit der Rezeption technischer Normen dürfte das zunächst daran liegen, dass Gemeinschaftsstandards nicht Ausdruck eines besonderen (technischen) Sachverstandes sind, dessen sich der Strafrichter bemühen müsste – eine dynamische Anpassung der Umgrenzung der Meinungsfreiheit zugunsten des Ehrschutzes ist zwar im Einzelfall, aber nicht als flächendeckender Standard notwendig oder möglich. So kommt es bei der Ehrverletzung gerade nicht zentral darauf an, einen Sorgfaltsmaßstab zu bilden, der sich an einem typischen Verhalten orientiert, sondern vielmehr Ehrschutz und Meinungsfreiheit in Ausgleich zu bringen. Im Rahmen dieser Abwägung kann die »Kommunikationssitte« zwar Berücksichtigung finden, jedoch dürften die Gemeinschaftsstandards, wie noch zu zeigen sein wird, davon kein passendes Abbild bieten.38 c)

Umgehen der ins NetzDG aufgenommenen strafrechtlichen Maßstäbe

Das 2017 in Kraft getretene NetzDG verpflichtet soziale Netzwerke im Kern zur zügigen Löschung rechtwidriger und von Nutzern gemeldeter Inhalte, § 3 NetzDG. Rechtswidrig in diesem Sinne sind gem. § 1 Abs. 3 NetzDG solche Inhalte, die (mindestens) einen der enumerierten Straftatbestände erfüllen.39 Daneben belegt § 2 NetzDG die Netzwerke mit Berichtspflichten. Systematische Verstöße gegen diese Verpflichtungen sind gem. § 4 NetzDG bußgeldbewehrt. Mit der Konzeption des NetzDG entschied sich der Gesetzgeber also für eine Form der regulierten Selbstregulierung (Compliance-Modell40) von Plattformen. Grund für diese regulative Kooperation sind die mangelnden staatlichen Möglichkeiten einer effektiven Kontrolle des durch die sozialen Netzwerke eröffneten digitalen Kommunikationsraumes und die Zunahme vor allem strafrechtlich relevanter Inhalte.41 Entscheidend für unsere Betrachtungen soll sein, dass die

37 Kett-Straub, ZStW 120 (2008), 758 (761); Regge/Pegel, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. 2017, § 185 Rn. 10; Beck, MMR 2009, 736 (736); Krischker, JA 2013, 488 (489); ferner Hilgendorf, ZIS 2010, 208 (212); krit. Ceffinato, JuS 2020, 495 (497). 38 Eine Kongruenz der Facebook-Gemeinschaftsstandards im Bereich »Hate Speech« mit dem Maßstab des § 130 Abs. 2 StGB jedoch andeutend OLG München NJW 2018, 3119 (3121). 39 §§ 86, 86a, 89a, 91, 100a, 111, 126, 129–129b, 130, 131, 140, 166, 184b, 185–187, 201a, 241, 269 StGB. Dieser Katalog soll mit dem Rechtsextremismusgesetz um § 189 StGB erweitert werden (BT-Drucks. 19/17741, S. 3, 39). 40 Roßnagel, ZUM 2017, 615 (622); krit. Kalbhenn/Hemmert-Halswick, MMR 2020, 518 (518). 41 Vom »Flaschenhals« der Kommunikation spricht Eifert, NJW 2017, 1450 (1450); vgl. auch Eifert, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 9 (12); Kubiciel, jurisPR 7/2017,

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staatlich incentivierte Sperrung von Inhalten sich eben nur auf (ausgewählte) Strafnormen bezieht. Erste Analysen des NetzDG in der Praxis weisen auf eine bevorzugte Anwendung der Gemeinschaftsstandards hin: Zum einen zeigt sich, dass die sozialen Netzwerke Meldewege für eine Beanstandung von Inhalten auf Grundlage der Gemeinschaftsstandards und des NetzDG parallel einrichten. Dabei werden die Meldewege z. T. nicht gleichrangig platziert und Nutzer durch die Oberfläche der Plattform in Richtung einer Meldung auf Grundlage der Gemeinschaftsstandards gelenkt.42 Das Risiko einer Ordnungswidrigkeit wegen unterbliebener Sperrung als Reaktion auf die NetzDG-Meldung wird so künstlich kleingehalten.43 Zum anderen hat sich eine zweistufige Prüfung der nach dem NetzDG gemeldeten Inhalte durchgesetzt: In einem ersten Schritt wird die Konformität mit den plattforminternen Gemeinschaftsstandards untersucht. Liegt ein Verstoß gegen diese Standards vor, so wird der Inhalt weltweit gelöscht. Entspricht der Inhalt den Standards, wird in einem zweiten Schritt die spezifische NetzDGPrüfung anhand der in § 1 Abs. 3 NetzDG aufgeführten Strafnormen vorgenommen. Liegt ein Verstoß gegen diese vor, so wird der Beitrag in Deutschland gesperrt, während er in anderen Ländern sichtbar bleibt.44 Auf den ersten Blick scheint es also, als ob es sich bei den nichtstaatlichen Gemeinschaftsstandards und den in § 1 Abs. 3 NetzDG genannten Strafnormen um zwei völlig unabhängige Regime handelt. Der Gesetzgeber hat mit dem NetzDG lediglich einen Mindeststandard der Inhaltsprüfung eingeführt, dem Netzwerk steht es aber frei, im Rahmen seiner AGB davon abweichende Standards zum Vertragsbestandteil zu machen und auf dieser Grundlage Löschungen vorzunehmen. Soziale Netzwerke sind gerade nicht darauf beschränkt, nur strafbare Inhalte zu löschen.45 Ebenso scheint es prima vista für den betroffenen Nutzer keinen Unterschied zu machen, ob der von ihm verfasste Inhalt auf Grundlage der Gemeinschaftsstandards gelöscht oder dem NetzDG entsprechend gesperrt wird. Diese Einwände sehen sich jedoch bei näherer Betrachtung einigen Zweifeln ausgesetzt:

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Anm. 1; Ladeur, K&R 2020, 248; grundsätzlicher zur Haftung des Intermediärs nach dem »cheapest-cost-avoider«-Prinzip Leistner, ZUM 2012, 722 (723). Eifert/von Landenberg-Roberg/Theß/Wienfort, Bewährung, 2020, S. 54f. Löber/Roßnagel, MMR 2019, 71 (72). In Kombination mit der unterbliebenen Darstellung der Löschungen auf Grundlage der Gemeinschaftsstandards in den Transparenzberichten veranlasste dieses Vorgehen das Bf J zur Verhängung eines Bußgeldes gegen die Facebook Ireland Ltd. (Kalbhenn/Hemmert-Halswick, MMR 2020, 518 (519)). BT-Drucks. 19/18792, S. 27; Löber/Roßnagel, MMR 2019, 71 (71f.); Friehe, NJW 2020, 1697 (1698); Schwartmann/Mühlenbeck, ZRP 2020, 170 (170). Vgl. OLG Karlsruhe, MMR 2020, 52 (53); OLG Dresden NJW 2018, 3111 (3114).

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aa) Grundrechtsbindung sozialer Netzwerke Erstens befindet sich die Freiheit der Netzwerke, Gemeinschaftsstandards nach eigenem Belieben zu setzen und auf dieser Grundlage die Inhalte zu moderieren, aktuell in einer starken Diskussion. Zwar ist es richtig, dass dem NetzDG nicht insofern eine privatrechtsgestaltende Wirkung zukommt, als es die Löschung von Inhalten verbietet, die unterhalb der Strafbarkeitsschwelle gem. § 1 Abs. 3 NetzDG bleiben.46 Gleichzeitig wird Facebook mit über 2 Mrd. Nutzern weltweit und 32 Millionen deutschen Nutzern als ein »möglicherweise sogar marktbeherrschender«47 »öffentlicher Marktplatz für Informationen und Meinungsaustausch«48 bzw. »öffentlicher Kommunikationsraum«49 beschrieben.50 Aus diesem Grund wird über die Intensität der mittelbaren Grundrechtsbindung wirkmächtiger sozialer Netzwerke und damit über die Grenzen privater Gemeinschaftsstandards gestritten.51 Das BVerfG erklärte eine mittelbare Grundrechtsbindung privater Gatekeeper in der Vergangenheit mehrfach für möglich, bezieht sie aber noch nicht auf das Verhältnis sozialer Netzwerke und der Meinungsfreiheit: In der »Fraport«-Entscheidung wird (als Obiter Dictum) eine der Grundrechtsbindung des Staates »nahe- oder gleichkommende« Bindung Privater erwogen, wenn diese »Rahmenbedingungen einer öffentlichen Kommunikation« schaffen. Es wird ausdrücklich offengelassen, ob Gleiches gilt, wenn sie »Orte der allgemeinen Kommunikation [erst] schaffen«.52 In der später ergangenen »Stadionverbots«-Entscheidung nimmt das BVerfG eine (un)mittelbare Drittwirkung von Art. 3 Abs. 1 GG bei der Ausübung des Hausrechts Privater an, wenn sie eine Veranstaltung dem breiten Publikumsverkehr eröffnen.53 Hier ist jedoch zu beachten, dass es in der Sache um eine gleichheitsrechtliche Bindung, nicht aber um eine Bindung an Art. 5 Abs. 1 GG geht. Eine weitgehende Bindung an die Meinungsfreiheit dürfte für Private, insbesondere soziale Netzwerke stärkere Einschnitte bedeuten als eine gleichheitsrechtliche Bindung.54 46 Mit Hinweis darauf, dass aber dann etwas anderes gelte, wenn sich das soziale Netzwerk einer anerkannten Stelle der regulierten Selbstregulierung unterwirft und diese entscheidet, dass der Inhalt rechtmäßig sei Friehe, NJW 2020, 1697 (1698); OLG Karlsruhe MMR 2020, 52 (54); OLG Dresden NJW 2018, 3111 (3113). 47 LG Frankfurt/M. MMR 2018, 770 (772). 48 OLG München NJW 2018, 3119 (3120); OLG München MMR 2021, 79 (81); OLG Frankfurt/M. MMR 2018, 474 (475); LG Frankfurt/M. MMR 2018, 770 (772). 49 OLG Dresden NJW 2018, 3111 (3114); s. auch Spiegel/Heymann, K&R 2020, 344 (349) m. w. N. 50 Vgl. auch LG Bamberg MMR 2019, 56 (58): »Quasi-Monopolstellung«; Smets, NVwZ 2019, 34 (36): »nicht nur markt-, sondern teils gar gesellschaftsbeherrschende Stellung«. 51 Friehe, NJW 2020, 1697 (1700) m. w. N.; Eifert/von Landenberg-Roberg/Theß/Wienfort, Bewährung, 2020, S. 39ff. 52 BVerfG NJW 2011, 1201 (1204); vgl. dazu auch BVerfG NJW 2015, 2485 (2486). 53 BVerfG NJW 2018, 1667 (1669); dazu ausführlich Michl, JZ 2018, 910ff. 54 Vgl. auch Holznagel, CR 2019, 518 (520).

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In der Entscheidung »Der III. Weg« lag dem BVerfG ein repräsentativer Sachverhalt vor: Hier sperrte Facebook die Fanpage einer rechtsextremen Partei während des Europawahlkampfes 2019. Das BVerfG gewährt der Partei zwar im Rahmen einer Folgenabwägung einstweiligen Rechtsschutz, nimmt zu der Reichweite der Ausstrahlungswirkung von Art. 5 Abs. 1 GG jedoch keine Stellung, sondern erklärt die »verfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen [für] ungeklärt«.55 Gleichwohl wird in der Entscheidung eine differenzierende Lösung angedeutet, wenn auf den Grad der marktbeherrschenden Stellung, der Angewiesenheit auf die Plattform und die betroffenen Interessen der Plattformbetreiber abgestellt wird.56 Dabei dürfte ein Deplatforming nicht nur in solchen Konstellationen schwer wiegen, in denen Parteien oder politische Amtsträger betroffen sind. Auch in weniger prominenten Fällen kann die Reaktion auf ein den Gemeinschaftsstandards widersprechendes Verhalten von den Nutzern als strafähnliches Übel empfunden werden.57 Gerade mitunter stark ausgeprägte Netzwerkeffekte und der Verlust einzelner sozialer Kontakte sowie der gespeicherten Kommunikationshistorie halten Nutzer von einem simplen Wechsel der Plattform ab und formen eine Abhängigkeit von einzelnen Anbietern.58 bb) Verzahnung mit der Strafverfolgung durch den geplanten § 3a NetzDG-E59 Zweitens soll es in Zukunft durch den Entwurf des als Artikelgesetz ausgestalteten »Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität« zu einer stärkeren Verzahnung der internen Inhaltsprüfung und der Strafverfolgung kommen. Dieses sieht in § 3a NetzDG-E die Einführung einer Meldepflicht der sozialen Netzwerke vor.60 Grund dafür ist, dass die meisten massiv in den öffentlichen Diskurs eingreifenden Taten, erst recht nachdem die Inhalte gelöscht oder gesperrt wurden, nicht zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen.61 Das Netzwerk soll deshalb verpflichtet werden, dem Bundeskriminalamt Inhalte und Nutzerdaten (einschließlich IP-Adresse und 55 BVerfG NJW 2019, 1935 (1936). 56 BVerfG NJW 2019, 1935 (1936); vgl. auch BVerfG MMR 2020, 99 – Recht auf Vergessen I; in diese Richtung auch Eifert, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 9 (30); ausführlich Holznagel, CR 2019, 518 (520ff.) m. w. N.; vgl. auch Spiegel/Heymann, K&R 2020, 344 (348f.). 57 Vgl. Kubiciel, ZIS 2018, 60 (63). 58 Elsaß/Labusga/Tichy, CR 2017, 234 (235); Schulz/Dreyer/Hagemeier, Machtverschiebung, 2011, S. 16; Dankert, KritV 2015, 49 (54). 59 Das Manuskript wurde im März 2020 fertiggestellt. Der § 3a NetzDG durch Gesetz vom 30. 03. 2021 tritt am 01. 02. 2022 in Kraft. Der § 3b NetzDG mit Gesetz vom 03. 06. 2021 trat am 28. 06. 2021 in Kraft. Inhaltliche Änderungen haben sich seit der Fertigstellung des Manuskripts nicht ergeben. 60 BT-Drucks. 19/17741, S. 2, 17, 43. 61 BT-Drucks. 19/17741, S. 1f., 14; beachte aber die Sicherungspflichten aus § 3 Abs. 2 Nr. 4 NetzDG.

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Portnummer, § 3a Abs. 4 NetzDG-E) zu übermitteln, und zwar in den Fällen, in denen einer der aufgezählten Straftatbestände62 erfüllt wird.63 Dabei soll es nicht darauf ankommen, ob Grundlage der Löschung bzw. Sperrung die im NetzDG aufgeführten Strafnormen oder die Gemeinschaftsstandards sind.64 cc) Mögliche Gegenwehr betroffener Nutzer durch den geplanten § 3b NetzDG-E Drittens ist der Blick auf eine weitere geplante Reform des NetzDG zu werfen. Diese sieht die Möglichkeit vor, dass betroffene Nutzer ein sog. Gegenvorstellungsverfahren (§ 3b NetzDG-E) anstrengen und so die Moderationsentscheidung durch das Netzwerk überprüfen lassen können.65 Durch § 3b NetzDG-E soll einer durch das NetzDG incentivierten überschießenden Löschpraxis (sog. Overblocking)66 entgegengewirkt werden.67 Zwar könnte sich der Nutzer gegen die Löschung oder Sperrung ohnehin stets vor staatlichen Gerichten wehren. Da das individuelle Interesse am Fortbestand eines bestimmten Inhalts im Verhältnis zu den Rechtsdurchsetzungskosten jedoch zumeist gering ausfällt, kommt der Entscheidung der Plattform zurzeit regelmäßig die Qualität einer Letztentscheidung zu.68 Der Reformentwurf eröffnet für den Urheber gesperrter Beiträge mit dem Gegenvorstellungsverfahren eine Art Verfahrensrecht, dessen Ausübung sich als besonders niedrigschwellig darstellt.69 Dieses prozedurale Waffengleichheit versprechende Instrument ist in seiner Anwendung jedoch auf solche Sperrungen beschränkt, die auf das NetzDG gestützt werden, nicht aber die, die sich auf Gemeinschaftsstandards beziehen.70 Daher erweist sich die Annahme, das 62 §§ 86, 86a, 89a, 91, 126, 129–129b, 130, 131, 140, 184b, 184d, 241 StGB. 63 BT-Drucks. 19/17741, S. 43; zu der Kritik, das Vorhaben führe zu einer privatisierten Rechtsdurchsetzung Fechner, ZRP 2018, 63 (64); Heckmann/Wimmers, CR 2017, 310 (314); Kalscheuer/Hornung, NVwZ 2017, 1721 (1723); anders Sahl/Bielzer, ZRP 2020, 2 (3f.); Eifert, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 9 (40ff.); insgesamt krit. zur Meldepflicht Ladeur, K&R 2020, 248 (251); Ceffinato, ZStW 132 (2020), 544 (562f.). 64 BT-Drucks. 19/17741, S. 42, 44. 65 BT-Drucks. 19/18792, S. 46; ausführlich Niggemann, CR 2020, 326 (328f.); zu Friktionen im Verhältnis zu der geplanten Meldepflicht gem. § 3a NetzDG-E Liesching, Stellungnahme zum NetzDG v. 15. 6. 2020, S. 7, 9; krit. auch Spiegel/Heymann, K&R 2020, 344 (346ff.). 66 Statt aller Papier, NJW 2017, 3025 (3030); Guggenberger, ZRP 2017, 98 (100); Roßnagel, ZUM 2017, 615 (623); Liesching, MMR 2018, 26 (27f.); krit. Schwartmann/Mühlenbeck, ZRP 2020, 170. 67 Kalbhenn/Hemmert-Halswick, MMR 2020, 518 (520); BT-Drucks. 19/18792, S. 17. 68 Lüdemann, in: Eifert/Gostomzyk, Netzwerkrecht, 2018, 153 (165); Eifert, NJW 2017, 1450 (1451); mit dem Hinweis darauf, dass es sich um ein breiteres Problem des Zugangs zum Rechtsschutz bei relativ kleinen Streitigkeiten handelt Eifert, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 9 (42f.). 69 Vgl. BT-Drucks. 19/18792, S. 48. 70 BT-Drucks. 19/18792, S. 46; Schwartmann/Mühlenbeck, ZRP 2020, 170 (171f.); Liesching, Stellungnahme zum NetzDG v. 15. 6. 2020, S. 5.

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NetzDG stelle lediglich einen Mindeststandard der Durchsetzung von Strafrecht innerhalb der Plattform dar, bei näherer Betrachtung als verkürzt. Wird eine Überprüfung anhand der in § 1 Abs. 3 NetzDG aufgezählten Strafnormen vorgenommen, sollen damit in Zukunft auch Rechte des Verfassers des überprüften Inhalts verknüpft sein. Die Verantwortlichen sozialer Netzwerke könnten sich sogar dazu veranlasst sehen, extensiver auf Grundlage der Gemeinschaftsstandards zu löschen, um der Notwendigkeit eines Gegenvorstellungsverfahrens aus dem Weg zu gehen.71 Die Umsetzung organisatorischer und verfahrensrechtlicher Vorgaben, die an die Sperrung i. S. d. NetzDG anknüpfen, würden teilweise ins Belieben der Betreiber gestellt.72 Maßgebende Stellschraube der Netzwerkanbieter ist dabei die Löschpraxis auf Grundlage ihrer Gemeinschaftsstandards.

III.

Distanz zu strafrechtlichen Maßstäben

Es wurde gezeigt, dass in beiden Bereichen private Normen von Relevanz für das Strafrecht sind; technische Normen durch ihre indirekte Rezeption und Gemeinschaftsstandards durch eine praktische Umgehung strafrechtlicher Normen im Rahmen des NetzDG. Kritisches Potenzial dürfte sich jedoch insbesondere dort ergeben, wo die privaten Normen von strafrechtlichen Maßstäben abweichen. Daher seien im Folgenden mögliche Inkongruenzen und Gründe für ihr Entstehen näher beleuchtet. Auf die Normsetzungsinteressen der privaten Akteure als ein wesentlicher Grund wird dabei gesondert eingegangen (IV.).

1.

Technische Normen

Zwei Konstellationen fehlender Deckungsgleichheit von technischen Normen und strafrechtlichen Maßstäben lassen sich identifizieren: der Fall, dass die technischen Normen hinter den strafrechtlichen Sorgfaltsanforderungen zurückbleiben (a) und das Szenario, in dem die technische Norm höhere Anforderungen als eine strafrechtlich zu bestimmende Sorgfalt stellt (b). a)

Technische Norm bleibt hinter strafrechtlichem Maßstab zurück

Im ersten Fall kommt eine strafbare Sorgfaltspflichtverletzung trotz Einhaltung der technischen Norm in Betracht. Es liegt in der Natur von technischen Normen, das erlaubte Risiko (wenn überhaupt) nur für einen bestimmten Moment dar71 Liesching, Stellungnahme zum NetzDG v. 15. 6. 2020, S. 9. 72 Vgl. auch Eifert/von Landenberg-Roberg/Theß/Wienfort, Bewährung, 2020, S. 48f.

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stellen zu können. Im Vergleich zu einer normativen Maßstabsfigur kann die technische Norm veralten, wenn neue, breit praktizierte Gefahrverhütungsmaßnahmen genutzt werden.73 In einem solchen Fall ist jedoch fraglich, ob den Handelnden ein subjektiver Fahrlässigkeitsvorwurf trifft, wenn er auf die Aktualität der technischen Norm vertraut.74 Ebenso ist es denkbar, dass ein Vorgehen entlang der technischen Norm in einer atypischen Gefahrenlage nicht ausreichend ist.75 Hier lässt sich ein Auseinanderfallen von technischen Normen und strafrechtlichen Sorgfaltsnormen dadurch erklären, dass erstere gerade den Normalfall betreffen, letztere hingegen auf den konkreten Einzelfall blicken.76 b)

Technische Norm geht über strafrechtlichen Maßstab hinaus

Im zweiten Fall muss ein Verstoß gegen die technische Norm ohne strafrechtliche Konsequenzen bleiben. Sicher ist denkbar, dass eine technische Norm »die Zukunft der Praxis« weisen soll und daher Maßstäbe ansetzt, an denen sich das Realsystem noch nicht ausrichtet.77 Mit Blick hierauf ist aber hervorzuheben, dass ein Überschreiten einer technischen Norm erst dann einen strafrechtlichen (Fahrlässigkeits-)Vorwurf nach sich ziehen kann, wenn die Norm tatsächlich die äußerste Grenze des strafrechtlich erlaubten Risikos demarkiert. Hier ist insbesondere das Ultima-Ratio-Prinzip zu beachten.78 Erst recht muss ein strafrechtlicher Vorwurf ausscheiden, wenn die erforderliche Sorgfalt auf anderem als durch die technische Norm vorgeschriebenen Weg eingehalten wurde. Insbesondere bei technischen Sachverhalten werden nämlich häufig auf unterschiedlichen Wegen ähnliche Sicherheitsniveaus erreicht.79

73 Seibel, NJW 2013, 3000 (3001); wenn auch im Zusammenhang deliktsrechtlicher Verkehrssicherungspflichten Denga/Pohle/Hölzel, RW 2020, 420 (427) mit Verweis auf BGH NJW 1998, 2814 (2815); BGH NJW 1994, 3349 (3350); LG Berlin MDR 1997, 246 (247); vgl. auch Duttge, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. 2020, § 15 Rn. 139; einer Überholung technischer Normen soll durch feste Überprüfungszyklen z. T. entgegengewirkt werden, DIN 820 Teil 4 Abschnitt 7 (dazu auch Beck, ZStW 131 (2019), 967 (978f.). 74 Lenckner, in: Bockelmann/Kaufmann/Klug (Hrsg.), FS Engisch, 1969, 490 (503); Beck, in: Oppermann/Stender-Vorwachs (Hrsg.) Autonomes Fahren, 2. Aufl. 2020, Kap. 3.7 Rn. 22. 75 Dieses Problem ergibt sich ebenso bei staatlichen Normen (am Beispiel von § 3 Abs. 1 S. 1 StVO Mitsch, JuS 2018, 1161 (1165)); exemplarisch auch BGH, NStZ 1991, 31: »Unter besonderen Umständen des Einzelfalls, insbesondere bei außergewöhnlichen Gefährdungssachverhalten, können an die zur Vermeidung von Leibes- und Lebensgefahr zu erfüllende Sorgfaltspflicht höhere Anforderungen gestellt werden, als es sonst in Vorschriften und Regeln vorgesehen ist […]«; dazu auch Denga/Pohle/Hölzel, RW 2020, 420 (427). 76 Vgl. Veit, Technische Normen, 1989, S. 191, 198; Nussbaum, ZIS 2021, 33 (41); Alexander, Verkehrssicherungspflichten im Unternehmen, 2005, S. 92; Bohnert, JR 1982, 6 (9f.). 77 Vgl. Klingmüller, in: Keller (Hrsg.), FS Oftinger, 1969, 121 (126). 78 Dazu Lenckner, in: Bockelmann/Kaufmann/Klug (Hrsg.), FS Engisch, 1969, 490 (502). 79 Esser/Keuten, NStZ 2011, 314 (318); Kuhlen, Produkthaftung, 1999, S. 121.

48 2.

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Gemeinschaftsstandards

Das oben beschriebene zweistufige Vorgehen bei der Inhaltsprüfung auf Plattformen weist darauf hin, dass die Gemeinschaftsstandards strengere Maßstäbe anlegen als das Strafrecht. Auch in der Literatur ist häufig von besonders weitgehenden Gemeinschaftsstandards die Rede.80 Im Folgenden soll näher betrachtet werden, inwiefern Gemeinschaftsstandards inhaltlich, aber auch in ihrer Ausgestaltung und Anwendung von Strafnormen abweichen. a)

Form der Gemeinschaftsstandards und ihrer Anwendung

Betrachtet man die Form von Gemeinschaftsstandards, fällt deren besonders konkrete Ausgestaltung ins Auge.81 Während der § 185 StGB die strafbare Handlung einzig mit dem Wort »Beleidigung« umschreibt, enthält der Text zu Hate Speech bei Facebook 944 Wörter.82 Die Tendenz zu einem besonders ausführlichen Regelwerk für die Inhaltsmoderation ist erst mit dem Aufstieg sozialer Netzwerke entstanden. In den frühen 2000er-Jahren war die Arbeit der Moderatoren stärker von der »Feel bad? Take it down«-Regel geprägt – ein Inhalt, der für ein »schlechtes Bauchgefühl« sorgte, sollte im Zweifel gelöscht werden.83 Diese Linie zeigte sich jedoch als kaum geeignet, eine gleichmäßige Bewertung des Inhalts herbeizuführen. Das galt insbesondere, da die Zahl der zu kontrollierenden Inhalte exponentiell gestiegen ist und dies die Netzwerke an die Grenzen ihrer personellen Ressourcen gebracht hat. Zunehmend wurde die Inhaltsmoderation ausgelagert und die Gruppe der Moderatoren kulturell diversifiziert, sodass offene Maßstäbe im Sinne einer »Bauchgefühl«-Regel kaum einheitliche Bewertungen fördern konnten.84 Außerdem sorgte sie für eine besondere Kontextfeindlichkeit der Bewertung, wie eine Beispiel aus dem Jahr 2007 für die Videoplattform YouTube zeigt: Zunächst gelöscht wurde ein Video eines ägyptischen Demonstranten, der auf schwere Weise körperlich misshandelt wurde. Als den Betreibern bewusst wurde, dass es sich um die Dokumentation einer schweren Menschenrechtsverletzung handelte, stellten sie den Inhalt wieder her und begannen, Ausnahmen von der Regel zu formulieren, dass keine 80 Von vielen Spiegel/Heymann, K&R 2020, 344 (348). 81 Eine sprachliche Analyse von Gemeinschaftsstandards findet sich bei Gillespie, Custodians of the Internet, 2018, S. 48, 50. 82 Facebook: https://de-de.facebook.com/communitystandards/hate_speech (zuletzt abgerufen am 30. 3. 2021). Auffällig ist insbesondere die Verwendung zahlreicher Beispiele, was letztlich darauf hindeutet, dass die Moderatoren sich im Wesentlichen der Bildung von Analogien bedienen, um eine Bewertung vorzunehmen (zu dieser Methode auch Klonick, Harv. Law Review 131 (2018), 1598 (1645ff.). 83 Für Facebook und YouTube Klonick, Harv. Law Review 131 (2018), 1598 (1631). 84 Klonick, Harv. Law Review 131 (2018), 1598 (1633, 1642).

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Gewalt gezeigt werden dürfe.85 Dass Kontextsensibilität ein wesentlicher Aspekt gerade auch bei der Anwendung von Strafnormen auf Internetinhalte ist, zeigt sich nicht nur für die Abgrenzung von strafbarer Gewaltdarstellung und tatbestandsloser Berichterstattung (§ 131 StGB),86 sondern (wie die jüngere Rechtsprechung eindrücklich belegt) für das Spannungsfeld des Ehrschutzes und der Meinungs- und Kunstfreiheit.87 Ein ähnliches, aber in der Regel wohl leichter aufzulösendes Spannungsfeld besteht bei der Abgrenzung von pornographischen Inhalten und Kunst.88 b)

Inhaltliche Reichweite der Gemeinschaftsstandards

Dass die Gemeinschaftsstandards inhaltlich insgesamt weitergehender sind als die strafrechtlichen Maßstäbe, deutet sich bereits in der oben beschriebenen Praxis an, auf erster Stufe die Konformität mit den Standards zu prüfen. Wertet man die ersten von § 2 NetzDG geforderten Transparenzberichte aus, so lassen sich nur partiell Aussagen darüber treffen, ob die Gemeinschaftsstandards tatsächlich strenger sind. Das ist dem Umstand geschuldet, dass lediglich der Transparenzbericht von YouTube Angaben dazu enthält, ob der Inhalt auf Grundlage von Gemeinschaftsstandards oder dem NetzDG gelöscht wurde.89 Während YouTube in der ersten Jahreshälfte 2018 40.964 Inhalte auf erster Prüfungsstufe löschte und 16.176 Inhalte nach NetzDG-Vorgaben sperrte, wurden in der zweiten Jahreshälfte von 2020 71.612 Inhalte im ersten Prüfungsschritt gelöscht und nur 1.865 im zweiten Schritt gesperrt.90 Daraus lässt sich zumindest schließen, dass die Gemeinschaftsstandards schon 2018 relativ selten hinter den strafrechtlichen Anforderungen zurückblieben und seitdem weiter aufgeholt haben. Selbst die Berichte von YouTube halten jedoch keine Aussage darüber 85 Klonick, Harv. Law Review 131 (2018), 1598 (1631). 86 Statt aller Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 131 Rn. 10. 87 Vgl. zur Notwendigkeit der Berücksichtigung des Kontextes Lüdemann, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 153 (162f.); Roßnagel, ZUM 2017, 615 (622); Papier, NJW 2017, 3025 (3030); Beater, JZ 2006, 432 (435) aus der st. Rspr. BGH NJW 2017, 482 (483); BGH NJW 2017, 1617 (1618); dass seit der Einführung des NetzDG der Kontext eines gemeldeten Beitrags vermehrt berücksichtigt werde, berichten Vertreter von Twitter, NetzDG auf dem Prüfstand, hib 781/2018, https://www.bundestag.de/presse/hib/574524-574524 (zuletzt abgerufen am 30. 3. 2021); Klonick, Harv. Law Review 131 (2018), 1598 (1626f.). 88 M. w. N. Hörnle, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. 2017, § 184 Rn. 27ff. 89 Z. T. wird aber angenommen, dass nicht nur die Zahlen von YouTube, sondern auch von Twitter und Facebook nahelegen, dass ca. 80–90 % der Inhalte auf Grundlage von Gemeinschaftsstandards gelöscht werden; Liesching, Stellungnahme um NetzDG v. 15. 6. 2020, S. 6. 90 Dabei handelt es sich keineswegs um Ausreißer. Vielmehr lässt sich eine Verlagerung auf die Löschung auf erster Prüfungsstufe von 2018 bis 2020 verstärkt abbilden, https://transparencyre port.google.com/netzdg/YouTubeYouTube?hl=de&community_guidelines_enforcement=peri od:Y2018H2&lu=community_guidelines_enforcement (zuletzt abgerufen am 30. 3. 2021).

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bereit, ob die auf Grundlage von Gemeinschaftsstandards gelöschten Inhalte auch gegen die im NetzDG aufgeführten Strafnormen verstoßen. Dass die Gemeinschaftsstandards insgesamt weitreichender sind, liegt also nahe, lässt sich mit Blick auf diese Zahlen aber nicht mit Bestimmtheit sagen. Denn es wäre auch denkbar (wenngleich unwahrscheinlich), dass der Maßstab der Gemeinschaftsstandards Löschungen auf erster Stufe kongruent mit dem der Strafnormen ist; abschließend ließe sich das Verhältnis empirisch nur beurteilen, wenn die Prüfung nicht schrittweise, sondern parallel stattfinden würde. Von Interesse könnten insofern Erhebungen aus dem Bereich des § 3a NetzDG-E sein, da hier auch eine Prüfung am Maßstab der Strafnormen stattfindet, wenn auf erster Stufe gelöscht wird.91 Aufschlussreich ist die differenzierte Darstellung in den Transparenzberichten von YouTube nach Art des Verstoßes. So lässt sich anhand der ersten Jahreshälfte 2018 erkennen, dass es auf der zweiten Stufe nur vereinzelt zu Sperrungen pornographischer Inhalte kam (1,5 % aller Löschungen/Sperrungen). In den Bereichen Persönlichkeitsrechtsverletzungen und Beleidigungen (19 %), terroristischen oder verfassungswidrigen Inhalten (65,2 %) und Hassrede und politischer Extremismus (37,1 %) wurde hingegen relativ häufig erst auf der zweiten Stufe gesperrt. Eine dadurch angedeutete Unempfindlichkeit der Gemeinschaftsstandards im Bereich der §§ 86f., 130f. StGB lässt sich mit der kulturellen Prägung und nationalen Anbindung dieser Strafnormen erklären.92 Für die verhältnismäßig häufigen Sperrungen auf zweiter Stufe im Bereich des Ehrschutzes seien zwei Erklärungsansätze genannt: Zum einen weist auch hier das deutsche Rechtssystem im Vergleich insbesondere mit der US-amerikanischen Rechtsordnung einen eher starken Ehrschutz auf, sodass die §§ 185ff. StGB in diesem Bereich sensibler sein könnten als die Gemeinschaftsstandards.93 Zum anderen könnte eine relative Unempfindlichkeit in diesem Bereich dem grundsätzlich rohen Umgangston auf sozialen Netzwerken geschuldet sein, an der sich die Gemeinschaftsstandards und die Praxis der Inhaltsprüfung ausrichten.94 Ein Vergleich mit den Zahlen aus 2020 zeigt gleichwohl auch in diesen Bereichen eine stärkere Verlagerung auf die Gemeinschaftsstandards, obwohl die Bereiche der Persönlichkeitsrechtsverletzung und Beleidigung und Hassrede und politischer Extremismus weiterhin im Vergleich zu anderen Bereichen häufig auf zweiter 91 Zu beachten ist jedoch, dass es sich nur um einen Ausschnitt (s. Anm. 61) der in § 1 Abs. 3 NetzDG aufgezählten Strafnormen handelt. 92 Vgl. Eifert, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 9 (27); Löber/Roßnagel, MMR 2019, 71 (73); ferner Paal/Hennemann, analysen&argumente Nr. 326 2018, S. 7. 93 Wagner, GRUR 2020, 329 (330, 332); vgl. auch die Gegenüberstellung bei Saunders, Free Expression and Democracy, 2017; zur kulturellen Prägung der Gemeinschaftsstandards Dankert, KritV 2015, 49 (57). 94 BT-Drs. 19/17741, S. 1; s. oben unter II. 2. b).

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Stufe gesperrt werden. Es deutet sich also eine Sensibilisierung der Gemeinschaftsstandards (und ihrer Anwendung), zumindest auch in diesen Bereichen, an.95

IV.

Normsetzungsinteressen

1.

Technische Normung

Wie gezeigt kann der Maßstab technischer Normen aus verschiedenen Gründen von der strafrechtlichen Sorgfaltsnorm abweichen. Eine entscheidende Ursache kann in der Diskrepanz zwischen den Interessen privater und staatlicher Normgeber gesehen werden. Während das Strafrecht (primär) den Rechtsgüterschutz bezweckt und bei der Frage, ob ein Verhalten strafwürdig ist, nach einer möglichst breiten Legitimationsbasis strebt,96 gilt Gleiches nicht notwendigerweise für private Normgeber. Auch wenn eine Risikoverhütung im technischen Bereich für Private an Bedeutung gewinnt (Compliance)97 und technische Normen auch Sicherheitszwecke verfolgen können, so dürften daneben die Qualitätssicherung und Förderung des Handels häufig zentrale Bestrebungen der privaten Akteure sein.98 Dass die indirekte Rezeption an ökonomischen Maßstäben orientierter technischer Normen problematisch ist, zeigt sich besonders deutlich dort, wo sie einen sehr geringen Sicherheitsstandard setzen, etwa weil weitergehende Gefahrverhütungsmaßnahmen kostspielig sind. Wird anhand dieser Standards nun das rechtlich erlaubte Risiko gebildet, droht man, wie Schünemann scharf anmahnt, den »Bock zum Gärtner zu machen und dem Inhaber des Gefahrenpotenzials die Entscheidungsmacht über das erlaubte Maß der von ihm gesetzten Risiken zuzuerkennen.«99 Gleichwohl können die Interessen der normsetzenden Akteure auch einen besonders strengen Maßstab der technischen Norm befördern. So kann es zweckmäßig sein, einen »Sicherheitsabstand« zu der strafrechtlichen Sorgfaltspflichtverletzung in die technische Norm zu integrieren, um die Akteure vor 95 Vgl. auch Löber/Roßnagel, MMR 2019, 71 (74); Beispiele bei Tschorr, MMR 2021, 204 (205). 96 Vgl. Beck, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Band 2, 2019, § 36 Rn. 111; eingehend Beck, ZStW 131 (2019), 967 (974f.); gleichwohl zu »Immunisierungsund Machtinteressen unterschiedlicher gesellschaftlicher Lobbygruppen [, die] eine entscheidende Rolle« in der Strafgesetzgebung spielen Burkatzki, ZIS 2011, 160 (162). 97 Hilgendorf, in: Rotsch (Hrsg.), Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, 2013, 19. 98 Vgl. dazu auch Lepsius, in: Möllers/Vosskuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht 2007, 345 (348); Burkatzki, ZIS 2011, 160 (163); vgl. auch schon Marburger, Regeln der Technik, 1979, S. 138f. 99 Schünemann: in: Küper (Hrsg.), FS Lackner, 1987, 367 (377f.); vgl. auch Schröder, ZIS 2019, 71 (89f.).

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einer Haftung zu schützen. Dieser Abstand kann eine »Sicherheitsreserve im Unbestimmtheitsbereich«100 darstellen, um einer mangelnden Antizipierbarkeit strafrechtlicher Verantwortlichkeit Rechnung zu tragen.101 Ebenso kann er sich daraus ergeben, dass die technische Norm nicht erst eine strafrechtliche, sondern bereits eine zivilrechtliche Haftung zu vermeiden versucht.102 Schließlich könnte es sinnvoll sein, den Sicherheitsabstand zusätzlich zu vergrößern, weil technische Entwicklungen für möglich gehalten werden, die bei einer Anpassung der technischen Norm zu Transaktionskosten führen würde.103 Sollte nun ein solcher von besonderer Vorsicht zeugender Sicherheitsstandard dazu genutzt werden, die untere Grenze der strafrechtlichen Sorgfalt zu markieren, droht ein »sich selbst validierender Zirkel«,104 wie er bereits im Bereich der Criminal Compliance beschrieben wird. So könnte der Versuch einer Einhegung von Strafbarkeitsrisiken letztlich zu einer Anspannung des strafrechtlichen Sorgfaltsmaßstabs führen. Dieser Maßstab dürfte dabei auch solche Akteure betreffen, die nicht selbst an der Normung beteiligt waren.105 Die Ausstrahlungswirkung dieser Standardisierung könnte im Vergleich zur Criminal Compliance schon deshalb besonders hoch sein, weil es sich um einen von unterschiedlichen Vertretern ausgehandelten Maßstab handelt, der nicht nur innerhalb des eigenen unternehmerischen Organisationskreises106, sondern innerhalb des gesamten Subsystems Wirkung entfalten soll. Es zeigt sich also, dass die Normsetzung durch private Akteure ihrerseits Ergebnis einer Abwägung von Sicherheitsstandards und Effektivitätsinteressen ist, die strafrechtliche Maßstäbe sowohl unter- als auch überschreiten kann.107

100 Kuhlen, in: Maschmann (Hrsg.), Corporate Compliance und Arbeitsrecht, 2009, 11 (24). 101 Vgl. auch Schneider, NZG 2019, 1369 (1376). 102 Vgl. Beck, ZStW 131 (2019), 967 (974); diesen Effekt schon im Hinblick auf mögliche Reputationsschäden durch Ermittlungsmaßnahmen betrachtend Schröder, ZIS 2019, 71 (85f.). 103 Vgl. in diesem Zusammenhang zur Theorie der Netzeffekte in Bezug auf nichtstaatliche Regelungen Engert, RW 2014, 301 (311f.). 104 Kuhlen, in: Maschmann (Hrsg.), Corporate Compliance und Arbeitsrecht, 2009, 11, (22ff.). 105 Vgl. zu diesem Übergang von Soft-Law zu Hard-Law am Beispiel der Haftung für Menschenrechtsverletzungen in der Wertschöpfungskette Momsen, ZStW 131 (2019), 1009 (1024f.). 106 Dazu Momsen, ZStW 131 (2019), 1009 (1027). 107 Vgl. Schröder, ZIS 2019, 71 (90).

Neue Formen regulativer Kooperation

2.

53

Gemeinschaftsstandards

Die Normsetzungsinteressen der sozialen Netzwerke lassen sich mit einem Blick auf ihr ökonomisches Modell klären.108 Netzwerke, die primär durch Werbung finanziert werden, richten ihre Plattformarchitektur und damit die selbst geschöpften Verhaltensnormen darauf aus, ihre Nutzeranzahl, sowie die Verweildauer auf der Plattform zu maximieren. Damit verschaffen sie der präsentierten Werbung möglichst viel Aufmerksamkeit und erhalten den Fluss aus Nutzerdaten aufrecht, der der Verbesserung der Targeting-Mechanismen dient.109 Insgesamt steht ein positives Image und eine einladende Architektur im Zentrum der Interessen sozialer Netzwerke. Ziel ist es daher, mit der Normsetzung und Löschpraxis ein »Wohlfühlklima« zu schaffen, das den Erwartungen der Nutzer entspricht, ohne sich damit dem Vorwurf auszusetzen, Meinungen zu unterdrücken.110 Wie bereits dargestellt, gestaltet sich die rechtliche Verteidigung gegen rechtswidrige Löschungen (zurzeit) für einen einzelnen Nutzer als praktisch unattraktiv. Entscheidend dürfte aus Sicht der Netzwerkbetreiber also sein, dass eine Löschung rechtmäßiger Inhalte zumeist keine negative Aufmerksamkeit auf sich lenkt, vollzieht sie sich und mündet doch gerade im Unsichtbaren.111 Geraten aber Inhalte in das Licht der medialen Öffentlichkeit, die einem »Wohlfühlklima« abträglich sind, dürfte der mittelbar ökonomische Schaden für das soziale Netzwerk recht hoch sein.112 Das gilt auch dann, wenn die Inhalte eigentlich nur »anstößig« sind. Deshalb sind in Bereichen des sittlichen Anstands und insbesondere der Sexualmoral die Anforderungen der Gemeinschaftsstandards zumeist strenger als in der deutschen Strafrechtsordnung.113 Es besteht also ein tatsächlicher, nicht erst durch das NetzDG vermittelter rechtlicher, Anreiz für strengere Gemeinschaftsstandards.114 Dies belegt ein vergleichender Blick auf die drei großen sozialen Netzwerke Facebook, YouTube und Twitter: Während die ersten beiden Netzwerke schon verhältnismäßig früh begannen, ihren Kom108 Vgl. auch Wagner, GRUR 2020, 329 (332). 109 Dolata, Kommerzielle Plattformen im Internet, 2018, S. 12; Wielsch, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.) Netzwerkrecht, 61 (67); LG Heidelberg ZUM-RD 2019, 72, 74; ferner Drexl NJW 2017, 529 (533). 110 Löber/Roßnagel, MMR 2019, 71 (72); Geminn, VerwArch 2016, 601 (622). 111 Ein prominentes Gegenbeispiel sind die Proteste gegen die Löschung von Bildern stillender Mütter, auf die Facebook mit einer Änderung der Gemeinschaftsstandards reagiert, https:// www.welt.de/vermischtes/article133816821/Facebook-loescht-Brust-Foto-und-sagt-danach-s orry.html (zuletzt abgerufen am 30. 3. 2021). 112 Eifert, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 9 (34); Eifert, NJW 2017, 1450 (1452). 113 Zu der Bedeutung der stark ausgeprägten Meinungsfreiheit in der US-amerikanischen Rechtsordnung für die Architektur der Inhaltsmoderation Klonick, Harv. Law Review 131 (2018), 1598 (1618ff.). 114 Vgl. auch Liesching, MMR 2018, 26 (27).

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munikationsraum frei von Hasskriminalität zu halten, hielt Twitter im besonderen Maße eine Doktrin der freien Meinungsäußerung aufrecht.115 Dies führte zu einer wahrnehmbaren Nutzerwanderung zu den anderen Netzwerken. Twitter reagierte darauf 2016 mit dem Versprechen strengerer Kontrollen.116

V.

»Kooperations-Design«

Die beiden Beispiele zeigen, dass private Standards für den Inhalt bzw. die Anwendung strafrechtlicher Normen Bedeutung gewinnen können. Der Staat tritt hier in ein regulatives Kooperationsverhältnis mit privaten Akteuren. In beiden Fällen ist es nicht zuletzt der ursprüngliche Grund für die Kooperation, der die staatliche Kontrolle bedroht: Technische Normen können aufgrund des Sachverstands der privaten Akteure und ihrer Reaktionsfähigkeit der dynamischen Technikentwicklung Rechnung tragen. Gleichzeitig birgt das Vertrauen in die »Richtigkeit« der verbandlichen Normung kritisches Potenzial. Im Falle der indirekten Rezeption technischer Normen könnte es nämlich zu einem Kontrollverlust kommen, wenn der (Straf-)Richter der technischen Norm zwar lediglich einen Indizwert zuspricht, jenen aber nicht hinreichend kritisch überprüft. Dem Vorwurf einer blinden »DIN-Gläubigkeit«117 muss durch eine »beherrschte indirekte Rezeption«118 begegnet werden. Diese sollten insbesondere die erörterten Inkongruenzen und (potenziell) abweichenden Normsetzungsinteressen in den Blick nehmen.119 Dabei sollte den technischen Normen keineswegs pauschal eine normative Verlässlichkeit abgesprochen werden, nur weil sie von privaten Akteuren erlassen wurden. Vielmehr sollte der Rechtsanwender nach Möglichkeit im Einzelfall nachvollziehen, wie sich der Normungsprozess gestaltet hat und welche Zwecke mit einer Normung verfolgt wurden.120 Dazu gehört etwa die Frage, ob neben Interessenvertretern der Unternehmen auch Verbraucherschutzverbände oder Zusammenschlüsse aus der Zivilgesellschaft beteiligt waren und ob etwa eine Vereinheitlichung von Produktmerkmalen oder Produktionsumständen oder Steigerung einer Produktsicherheit bezweckt wurde. Dabei gilt es stets zu berücksichtigen, dass die technische Normung bereits Ergebnis einer Abwägung aus Sicherheits- und Effizienzinteressen ist – das 115 116 117 118 119

Klonick, Harv. Law Review 131 (2018), 1598 (1651). Klonick, Harv. Law Review 131 (2018), 1598 (1629). Seibel, NJW 2013, 3000 (3001). Nussbaum, ZIS 2021, 33 (43f.); vgl. auch Beck, ZStW 131 (2019), 967 (983). Bereits eine Auslegung des konkreten Einzelfalls vornehmend Kuhlen, Produkthaftung, 1989, S. 121. 120 Eine an der Auslegung von Rechtsnormen orientierte Prüfung schon bei Beck, ZStW 131 (2019), 967 (982f.); vgl. weiter Beck, in: Zabel (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 2018, 45 (47ff.).

Neue Formen regulativer Kooperation

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Abwägungsergebnis steht jedoch nicht zwingend auf Grundlage des strafrechtlichen Selbstverständnisses.121 Durch eine »beherrschte indirekte Rezeption« könnte der (Straf-)Rechtsanwender das Kooperations-Design stärker kontrollieren und so nicht nur verhindern, sich mit seiner Entscheidung von (straf-) rechtlichen Maßstäben zu entfernen, sondern der technischen Normung durch eine standardisierte Überprüfung zusätzliche Verbindlichkeit zusprechen.122 Bei der Bekämpfung rechtswidriger Inhalte in sozialen Netzwerken ist der Ausgangspunkt ein anderer. Hier wird ein Kontrolldefizit nicht erst durch die Kooperation geschaffen; es ist faktischen Umständen geschuldet, namentlich der Interaktivität, Schnelllebigkeit und teilweisen Anonymität von Datenströmen.123 Aus diesem Grund verstärkt der Gesetzgeber unter dem Druck des NetzDG die Selbstregulierung der sozialen Netzwerke, die den strafrechtlich relevanten Inhalten durch die Bereitstellung der Infrastruktur und der damit einhergehenden Informationsmacht in gewisser Weise näher stehen. Gleichwohl zeigt sich in der Praxis, dass dieser Ansatz zu Ausweichtendenzen auf Seiten der Netzwerke führt.124 Diese könnten sich dort verstärken, wo weitere organisatorische und verfahrenstechnische Vorgaben eingeführt werden.125 Ausgehend von einer Orientierung an Effizienzkriterien zeichnet sich nämlich ein Interesse der sozialen Netzwerke ab, möglichst frei von solchen Designvorgaben zu sein, mit denen der Staat einen der Grundrechtssensibilität der Situation gerecht werdenden Interessenausgleich schaffen will. Betroffene mit Verfahrensrechten i. w. S. auszustatten (Gegenvorstellungsverfahren und Begründungspflichten), dürfte eine unmittelbare wirtschaftliche Belastung nach sich ziehen. Eine Transparenz über die getroffenen Löschentscheidungen liegt dabei zwar im Interesse des Rechtsstaats, wohl aber nicht in dem der Netzwerkbetreiber. Wesentliches Instrument der Anbieter zur Umgehung regulatorischer Vorgaben stellt die Architektur ihrer Plattform und das Design der Löschpraxis dar.126 Beides wird auf einen Vorrang der Gemeinschaftsstandards ausgerichtet. Insofern ergibt sich auch in diesem Anschauungsbeispiel, dass die erschwerte staatliche Kontrolle des Kooperations-Designs gerade in dem Grund für den Ansatz der regulierten Selbstregulierung liegt, nämlich in dem erleichterten und automatisierbaren Zugang zu Nutzerinformationen durch die Netzwerke. Gerade

121 122 123 124 125

Vgl. Schröder, ZIS 2019, 71, 90. Beck, ZStW 131 (2019), 967 (981). Vgl. auch Balking, Harv. Law Review 127 (2014), 2296 (2998). S. oben IV. 2. Grundlegend zu dieser Dynamik Eifert/von Landenberg-Roberg/Theß/Wienfort, Bewährung, 2020, S. 49. 126 S. oben II. 2. b).

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deshalb wird von einigen Stimmen eine gesetzliche Klarstellung des Vorrangs einer NetzDG-Prüfung anhand der strafrechtlichen Normen gefordert.127 Interessant erscheint vor diesem Hintergrund vor allem die geplante Ausgestaltung der Meldepflicht in § 3a NetzDG-E, der eine Prüfung des Inhalts am Maßstab ausgewählter Strafnormen vorsieht, und zwar unabhängig davon, ob eine NetzDG-Sperrung oder eine Gemeinschaftsstandards-Löschung vorausgegangen ist. Diese Design-Vorgabe128 würde die Attraktivität einer zweistufigen Löschpraxis verringern – wenngleich etwa die die Möglichkeit eines Gegenvorstellungsverfahrens einzig an die NetzDG-Sperrung geknüpft bleibt. Die geplante Meldepflicht nimmt zudem in den Blick, dass eine effektive Rechtsdurchsetzung durch die Netzwerke einer Perpetuierung von Rechtsverletzungen und Normalisierungsprozessen129 zwar entgegenwirken kann, jedoch der Verhängung strafrechtlicher Sanktionen zumindest nicht förderlich ist. Gerade die durch das Strafrecht betriebene Kommunikation der Verhaltenserwartung und Entfaltung einer abschreckenden Wirkung bei Enttäuschung dieser dürfte durch die »stille Verwaltung« des rechtswidrigen Inhaltes nicht gelingen.130 Diese Praxis kann nicht hinreichend dazu beitragen, in einem transparenten gesellschaftlichen Prozess soziale Regeln im Netz herauszubilden.131 Das sich andeutende Ringen um die Kontrolle über das »Kooperations-Design« könnte mit der Verbreitung automatisierter Inhaltsprüfungen noch intensiviert werden.132 Die Einrichtung zumeist selbstlernender Filter zur Identifizierung rechtswidriger Inhalte stellt sich für die Netzwerke als besonders attraktiv dar, weil sie kosteneffizient sind und schon vor dem Upload von Inhalten wirken. Sie können das oben beschriebene »Wohlfühlklima« recht effizient schützen und dabei sogar noch geringeres Aufsehen als eine nachträgliche Säuberung des Kommunikationsraums erregen. Aus einer rechtsstaatlichen Warte könnte es aber zu einem weiteren staatlichen Kontrollverlust führen, wenn auf 127 Schwartmann/Mühlenbeck, ZRP 2020, 170ff.; Schwartmann, Stellungnahme zum NetzDG v. 17. 6. 2020, S. 5f.; Schwartmann/Mühlenbeck, GRUR-Prax 2020, 286 (286). 128 Zum Begriff Kalbhenn/Hemmert-Halswick, MMR 2020, 518ff. 129 Eifert, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 9 (33). 130 Lüdemann, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 153 (167); dazu auch Ceffinato, ZStW 132 (2020), 544 (561). 131 Daneben bezweifelnd, dass eine »schnelle Beseitigung« eine hinreichende soziale Genugtuung nach sich zieht Ladeur, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.), Netzwerkrecht, 2018, 169 (173); das Instrument des Strafrechts sieht er erst in gravierenden Fällen für notwendig an Ladeur, K&R 2020, 248 (252). 132 Exemplarisch der von YouTube verfolgte »Mensch+Maschine«-Ansatz, https://transparency report.google.com/YouTubeYouTube-policy/removals?hl=de (zuletzt abgerufen am 30. 3. 2021); vgl. zu einer Erweiterung der Transparenzpflichten bzgl. der Verwendung künstlicher Intelligenz § 2 Abs. 2 Nr. 2 NetzDG-E; zu der Auswirkung einer automatisierten Inhaltsprüfung durch soziale Netzwerke auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit Nussbaum, Dissertation (im Entstehen).

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diese Weise Verhaltensnormen Eingang in die Architektur der Plattformen finden. Normsetzung und Vollzug werden fusioniert.133 Von einer solch normativen Architektur des digitalen Raums (»Code«)134 ginge ein hohes Maß an Verhaltenssteuerung aus. Gleichwohl ist diese der staatlichen Strafrechtsdurchsetzung wesensverschieden. Es wird nicht mehr eine normative Erwartung formuliert und auf Enttäuschungen reagiert, sondern bereits das tatsächliche »Können« der Netzwerknutzer limitiert.135 Burchard kontrastiert in diesem Zusammenhang die »technologische Faktizität« und das »kontrafaktische Garantien« aussprechende Strafrecht.136 Diese Tendenzen werfen nicht nur drängende Fragen nach dem Selbstverständnis des Strafrechts auf (»liberales Freiheitsschutz- vs. wohlfahrtsstaatliches Sicherheitsrecht«),137 sondern stärken mitunter die Macht privater Akteure. Die staatliche Beherrschung des »Kooperations-Designs« dürfte nämlich durch eine voranschreitende Verlagerung der Selbstregulierung in den »Code« mangels Zugangs und »Auslesbarkeit« zusätzlich erschwert sein.138

VI.

Fazit

Die Untersuchung hat gezeigt, dass private Standards in unterschiedlich gearteten Wechselwirkungen mit strafrechtlichen Normen stehen. Während technische Standards vornehmlich in strafrechtliche Normen aufgenommen, also indirekt rezipiert werden, dienen Gemeinschaftsstandards den sozialen Netzwerken als Ausgangspunkt, um eine Anwendung strafrechtlicher Normen über das NetzDG zu vermeiden. Bei beiden Beispielen ist die Abweichung der privaten Standards von strafrechtlichen Maßstäben kritisch in den Blick zu nehmen. Zum Teil lässt sich diese Inkongruenz mit den äußeren Umständen der Normsetzung erklären, zum Teil mit den von strafrechtlichen Maßstäben abweichenden Interessen der normsetzenden Akteure. Letzteres gilt besonders dort, wo die Regelsetzung im Lichte ökonomischer Interessen stattfindet. Diese Abweichungen und ihre Einflüsse auf eine staatliche Regulierung zu identifizieren, ist eine erste Voraussetzung, um einem Kontrolldefizit des Staates entgegenzuwirken. Eine solche Analyse ermöglicht eine Anpassung des Kooperations-Designs, etwa 133 Vgl. auch Wielsch, in: Eifert/Gostomzyk (Hrsg.) Netzwerkrecht, 61, (69f.); dazu auch Rademacher, JZ 2019, 702 passim; ferner Nahon, in: Bruns et al. (Hrsg.), The Routledge Companion to Social Media and Politics, 2015, S. 53ff. 134 S. Lessig, Code Version 2.0, 2006; Hildebrandt, Smart Technologies and the end(s) of Law, 2016. 135 Dankert, KritV 2015, 49 (53). 136 Burchard, Normative Orders Working Paper 02/2019, S. 5. 137 Burchard, Normative Orders Working Paper 02/2019, S. 24ff. 138 Vgl. Hoffmann-Riem, in: Eifert (Hrsg.), Digitale Disruption und Recht, 2020, 143 (171); vgl. auch Beck, ZStW 131 (2019), 967 (980).

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Susanne Beck / Maximilian Nussbaum

durch eine kritische Prüfung technischer Normen auf ihre Rezeptionstauglichkeit oder im Falle des Netzwerkrechts stärkere Design-Vorgaben, die eine staatliche Anwendung der NetzDG-Regelungen absichern.

Petra Buck-Heeb

Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Selbstregulierung in der Kritik

I.

Einleitung

Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) ist ein prominentes Beispiel für eine »Rechtsgeltung ohne staatliche Rechtssetzung«.1 Obwohl er bereits seit dem Jahr 2002 existiert und kontinuierlich – zuletzt im Jahr 2020 – überarbeitet wurde, reißt die Kritik an dem Kodex nicht ab. Sie bezieht sich nicht nur auf dort enthaltene Detailregeln, sondern es werden auch verfassungsrechtliche und strukturelle Bedenken geäußert. Manche sehen in ihm einzig eine Instrumentalisierung zur Durchsetzung politscher Forderungen und stellen den Wert des Kodex als Selbstregulierungselement infrage. In dieser Debatte geht es damit um mehr als nur gesellschaftsrechtliche Aspekte. Es steht das Selbstverständnis und die Wirksamkeit der Selbstregulierung auf dem Spiel.

II.

Der DCGK als Akt der Selbstregulierung

1.

Entstehung und Struktur des DCGK

In einigen Ländern gibt es schon seit längerem Kodexregeln bzgl. der Corporate Governance von börsennotierten Unternehmen.2 Um die Jahrtausendwende wurde daher vom Bundesministerium der Justiz eine »Regierungskommission Corporate Governance« eingesetzt (sog. Baums-Kommission), die Defizite im Rahmen der Unternehmensleitung und -kontrolle durch einen Corporate Governance Kodex identifizieren und durch die Ausarbeitung von Regeln be1 Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4; zur »Kodex-Bewegung« im Zusammenhang mit der Corporate Governance siehe Weiss, Hybride Regulierungsinstrumente, 2011, S. 9ff.; siehe auch v. Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl., 2021, Teil 2. Einleitung, Rn. 3. 2 Siehe Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1205, 1211f.

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Petra Buck-Heeb

heben sollte.3 Zusammengesetzt war die Regierungskommission, ebenso wie nunmehr die Kodexkommission, die den DCGK regelmäßig überprüft und ändert, aus Vertretern der Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.4 Im Schrifttum wird zutreffend angemerkt, die jeweilige Fassung des DCGK entstehe nicht durch ein parlamentarisches Verfahren, sondern durch eine Regierungskommission.5 Damit wird eine Kommission tätig, wobei sich die Frage stellt, ob diese noch den Begriff der »Selbstregulierung« im Zusammenhang mit dem Kodex rechtfertigt.6 Daher bemängeln manche, dass anstelle des DCGK und des Comply-or-explain-Mechanismus des § 161 AktG ein einfacherer Weg der Selbstregulierung hätte beschritten werden können.7 Inhaltlich setzt sich der DCGK aus Anregungen und Empfehlungen zusammen, wobei seit der Kodexfassung von 2020 noch »Grundsätze« aufgenommen wurden.8 Letztere fassen die essenziellen rechtlichen Vorgaben sowie die elementaren Standards verantwortungsvoller Unternehmensführung zusammen9 und dienen der Information der Anleger sowie der anderen Stakeholder (Präambel Abs. 4 Satz 1 DCGK).

2.

Rechtsnatur des DCGK

Der DCGK wird in der Literatur als »neuartige Form der Rechtsquelle« bezeichnet.10 Basierend auf der Feststellung, dass die in den Empfehlungen des DCGK enthaltenen Verhaltensregeln von einem rein privaten Gremium gesetzt werden, sind sie nach ganz h. M. zwar als Normen im faktischen Sinn,11 nicht aber als Rechtsnormen i. S. d. Art. 2 EGBGB einzuordnen.12 Derzeit enthält der Kodex 3 Siehe Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 98; von der Linden, in: Drinhausen/Eckstein, Beck’sches Handbuch der AG, 3. Aufl., 2018, § 25 Rn. 10ff. 4 Zur Zusammensetzung auch Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 279. 5 Hölters, in: Hölters, Aktiengesetz, 3. Aufl., 2017, § 161 AktG Rn. 3; von der Linden, in: Drinhausen/Eckstein, Beck’sches Handbuch der AG, 3. Aufl., 2018, § 25 Rn. 9. 6 Näher unten bei II.3. 7 So dezidiert Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1205, 1212; näher unten bei V. 8 Vetter, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2021, § 161 AktG Rn. 3; siehe auch die Präambel des DCGK (2020). 9 Handelsrechtsausschuss und Ausschuss Corporate Social Responsibility und Compliance des Deutschen Anwaltvereins, NZG 2019, 252, Rn. 7. 10 Vetter, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2021, § 161 AktG Rn. 4. 11 OLG München, WM 2009, 658ff. Rn. 37 nach juris; Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 3; von der Linden, in: Drinhausen/Eckstein, Beck’sches Handbuch der AG, 3. Aufl., 2018, § 25 Rn. 16. 12 Statt vieler siehe Grigoleit/Grigoleit/Zellner, 2. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4; Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1203, 1214 m.w.N.; zur Diskussion auch ausführlich Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 99f.; siehe auch Bachmann, in: Kremer/ Bachmann/

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insgesamt 121 solcher Empfehlungen.13 Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass es schon an einer vertraglichen Regelung zwischen der Kodexkommission und dem Staat fehle, wie dies beim DIN für industrielle Normungen der Fall sei; auch mangele es – im Gegensatz zu den Rechnungslegungsstandards – an einer gesetzlich geregelten Akzeptanz.14 Insofern wird zu Recht darauf verwiesen, dass die Prüfung und Veröffentlichung durch das Bundesministerium der Justiz sich nur auf formale Aspekte und nicht auf die inhaltliche Ausgestaltung der Kodexregeln bezieht.15 Zudem geht eine ganz überwiegende Ansicht davon aus, dass es sich bei den DCGK-Empfehlungen auch nicht um Handelsbräuche i. S. d. § 346 HGB handelt.16 Umstritten ist allerdings, ob solche aus dem Kodex künftig entstehen könnten. Teilweise wird das mit dem Argument verneint, dass im Einzelfall zwar das Erfordernis einer gleichmäßigen, längerfristigen und freiwilligen Übung bzgl. konkreter Empfehlungen erfüllt sein könne, es allerdings aufgrund des Comply-or-explain-Mechanismus an einer hinreichenden Freiwilligkeit fehle.17 Auch die Möglichkeit eines Abweichens von den Kodexregeln18 spreche gegen die Annahme eines Handelsbrauchs.19 Andere wiederum sehen den Aspekt der Freiwilligkeit als gegeben an.20 Hierfür spricht, dass in der gesetzlich zwingend vorgesehenen Entsprechenserklärung nur dargelegt werden muss, ob dem Kodex entsprochen wird und im negativen Fall diese Entscheidung begründet werden muss. Damit ist das Unternehmen nach wie vor frei, den Empfehlungen zu folgen oder nicht. Da derzeit keine Empfehlungen ersichtlich sind, bei denen der Aspekt der längerfristigen Übung zu bejahen sein könnte, braucht diese Streitfrage derzeit nicht entschieden werden.

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Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl., 2021, Teil 2. Einleitung, Rn. 94; Meder, in: Calliess, Transnationales Recht, 2014, S. 257, 266. Koch, in: in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 8. Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1203, 1214f. Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1203, 1215; Hölters, in: Hölters, Aktiengesetz, 3. Aufl., 2017, § 161 AktG Rn. 3; von der Linden, in: Drinhausen/Eckstein, Beck’sches Handbuch der AG, 3. Aufl., 2018, § 25 Rn. 17 m.w.N. auch zur a. A. OLG Zweibrücken, DB 2011, 754, 756; OLG Schleswig, BB 2004, 1187, 1189; MünchKommAktG/Goette, 4. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 24; Kort, FS K. Schmidt, 2009, 945, 956ff.; GroßkommAktG/Leyens, 5. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 105; a. A. Peltzer, NZG 2002, 10, 11; vgl. auch Meder, in: Calliess, Transnationales Recht, 2014, S. 257, 267. Bayer/Scholz, in: BeckOGK-AktG, Stand: 19. 10. 2020, § 161 AktG Rn. 18; Hölters, in: Hölters, Aktiengesetz, 3. Aufl., 2017, § 161 AktG Rn. 4. Siehe die ausdrückliche Erwähnung in Abs. 4 der Präambel des DCGK (2020). Bayer/Scholz, in: BeckOGK-AktG, Stand: 19. 10. 2020, § 161 AktG Rn. 18; MünchKommAktG/ Goette, 4. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 24. So wohl Grigoleit/Grigoleit/Zellner, 2. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4, der die Möglichkeit, dass sich der Inhalt einer Empfehlung als einheitliche und freiwillige Übung verdichten kann, erwähnt.

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Petra Buck-Heeb

Obwohl die Empfehlungen weder Rechtsnormen noch Handelsbräuche sind, soll es sich nach Ansicht eines Teils des Schrifttums um einen »Geltungsanspruch mit Ausstiegsklausel«21 handeln. Manche bezeichnen die Empfehlungen auch als »soft law«.22 Da dieser Begriff jedoch rechtlich konturlos ist, sollte auf ihn verzichtet werden. Aus den gleichen Gründen ist im Zusammenhang mit dem DCGK auch allgemein die Bezeichnung als »ius non scriptum«23 wenig hilfreich. Andere verwenden im Zusammenhang mit dem DCGK die Begrifflichkeit der mittelbaren Rechtsquelle.24 Letztlich würden durch den Kodex Verhaltensregeln von gesetzesähnlicher Wirkung aufgestellt,25 was auf eine Rechtsgeltung ohne staatliche Rechtsetzung hinauslaufe.26 Für die Klassifizierung als mittelbare Rechtsquelle soll sprechen, dass das Bundesministerium der Justiz vor dem Einstellen in den Bundesanzeiger eine Art »Rechtskontrolle« vornehme.27 Versucht wird damit, eine »begriffliche Erfassung jenseits der Kategorien Gesetz und Satzung«28 vorzunehmen. Vereinzelt wird aber auch eine mittelbare Rechtswirkung verneint,29 was wohl auch der BGH inzwischen so vertritt.30 Abgesehen davon, dass, wie soeben festgestellt, eine inhaltliche Rechtskontrolle im eigentlichen Sinne durch das Ministerium nicht erfolgt, ist mit der o.g. Bezeichnung für die Rechtspraxis nicht viel gewonnen.31 Zutreffend wird daher im Schrifttum festgestellt, dass eine

21 Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 3; GroßkommAktG/Leyens, 5. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 101. 22 Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 3; Vetter, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2021, § 161 AktG Rn. 4 a.E.; Bayer/Scholz, in: BeckOGK-AktG, Stand: 19. 10. 2020, § 161 AktG Rn. 1; Weitnauer, Der Deutsche Corporate Governance Kodex, Rechtsnatur, Geltung und gerichtliche Anwendung, 2018, S. 260ff.; kritisch auch Weiss, Hybride Regulierungsinstrumente, 2011, S. 36f.; Meder, in: Calliess, Transnationales Recht, 2014, S. 257, 268. 23 Weitnauer, Der Deutsche Corporate Governance Kodex, Rechtnatur, Geltung und gerichtliche Anwendung, 2018, S. 218ff., insbesondere S. 231ff.; vgl. dazu präziser Meder, in: Calliess, Transnationales Recht, 2014, S. 257, 266f. 24 Ulmer, ZHR 166 (2002), 150, 160; Möllers/Fekonja, ZGR 2012, 777, 784; Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4; Bayer/Scholz, in BeckOGK, Stand: 19. 10. 2020, § 161 AktG Rn. 19; siehe auch Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173, 1174; Meder, in: Calliess, Transnationales Recht, 2014, S. 257, 269. 25 Vgl. Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4; siehe auch Hoffmann-Becking, ZIP 2011, 1173, 1174. 26 Vgl. Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4. 27 So Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 3; siehe BT-Drucks. 14/9079, S. 18; dazu Bachmann, FS Hoffmann-Becking, 2012, S. 75, 85f. 28 Bayer/Scholz, in: BeckOGK, Stand: 19. 10. 2020, § 161 AktG Rn. 19. 29 Bachmann, in: Kremer/ Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl., 2021, Teil 2. Einleitung, Rn. 96. 30 BGH NJW 2019, 669, 673. 31 Siehe auch Meder, in: Calliess, Transnationales Recht, 2014, S. 257, 269.

Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Selbstregulierung in der Kritik

63

solche Begrifflichkeit weder die anzuwendende Auslegungsmethodik32 noch die verfassungsrechtliche Bewertung präjudiziert.33

3.

DCGK als autonome oder regulierte Selbstregulierung?

Diejenigen, die den Kodex als ein staatliches Regelwerk einordnen, weil das Bundesministerium der Justiz diesen nach dessen Schaffung und weiter auch die jeweiligen Änderungen prüft und veröffentlicht,34 sind der Überlegungen um eine Klassifizierung des Selbstregulierungsakts schon per se enthoben. Wer jedoch dem DCGK keine Gesetzeskraft zukommen lassen will und damit eine staatliche Rechtsetzung verneint,35 da dieser »lediglich« von einer Regierungskommission festgelegt wird, hat sich der systematischen Einordnung des Kodex zu stellen. Über das Ergebnis einer solchen Einordnung gibt es unterschiedliche Auffassungen. Dabei ist die entsprechende Debatte dahingehend zu präzisieren, dass die im Kodex enthaltenen Anregungen und Grundsätze keinen Akt der Selbstregulierung darstellen können.36 Das gilt jedenfalls, soweit sie lediglich den ohnehin rechtlich einzuhaltenden Rechtsstand wiedergeben. Diskutieren lässt sich das aber bzgl. der Empfehlungen des Kodex, die i. d. R. Verhaltensregeln umfassen. Wenn man mit der ganz h. M. den DCGK als Akt der Selbstregulierung ansieht, stellt sich die weitergehende Frage nach deren Klassifizierung im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen. Dabei ist festzustellen, dass in Deutschland zwar schon lange in unterschiedlichen Zusammenhängen über das Thema »Selbstregulierung« diskutiert wird und praktisch auch in zahlreichen Bereichen eine solche erfolgt,37 aber dennoch bis heute keine hinreichende Systematisierung der Selbstregulierung existiert.38 32 Dazu, dass diese Regeln nicht i. S. d. §§ 133, 157 BGB wie Willenserklärungen, sondern objektiv auszulegen sind sowie zu den Besonderheiten Bayer/Scholz, in: BeckOGK, Stand: 19. 10. 2020, § 161 AktG Rn. 20ff.; GroßkommAktG/Leyens, 5. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 108ff. 33 So Bayer/Scholz, in: BeckOGK, Stand: 19. 10. 2020, § 161 AktG Rn. 19. 34 Vgl. Seidel, ZIP 2004, 285, 289; siehe auch die Hinweise bei Keßler, Strafrechtliche Aspekte von Corporate Governance, 2012, S. 98ff. m. w. N. 35 OLG München, WM 2009, 658ff. Rn. 37 nach juris; Bayer/Scholz, in: BeckOK, § 161 AktG Rn. 18; MünchKommAktG/Goette, 8. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 22; Grigoleit/Grigoleit/ Zellner, 2. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4; Wegmann, FS Schmidt-Preuß, 2018, S. 477; Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 3. 36 Siehe v. Werder, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl., 2021, 0 Präambel Rn. 36. 37 Grundlegend Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010. 38 Näher Buck-Heeb, in: Baum/Bälz/Dernauer, Self-regulation in Private Law in Japan and Germany, 2018, S. 27, 34, 44ff.; angemahnt schon bei Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 6f., zur Systematisierung ausführlich S. 212ff.

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Das zeigt sich bereits an den verschiedenen Begriffen, die für das Phänomen der »Selbstregulierung« verwendet werden. Die Rede ist von Co-Regulierung, delegierter Regulierung, kontrollierter Selbstregulierung, regulierter Selbstregulierung, staatlich gesteuerter Selbstregulierung, kontrollierter Selbstregulierung, autonomer Selbstregulierung, genuiner Selbstregulierung, freiwilliger Selbstregulierung etc.39 Zutreffend wird daher konstatiert, dass die Diskussion um den Begriff der Selbstregulierung noch im Fluss ist.40 Die Aufteilung in verschiedene Stufen der Selbstregulierung, insbesondere diejenige der autonomen und der regulierten Selbstregulierung, erfolgt überwiegend im öffentlich-rechtlichen Schrifttum.41 Ähnlich erfolgt teilweise auf EUEbene eine Aufteilung in private, in durch Rechtsvorschriften, Bräuche oder Rechtsprechung induzierte sowie in transnationale private Selbstregulierung. Separat wird der Begriff der Ko-Regulierung verwendet, bei welcher eine Förderung, Lenkung, Steuerung oder Kontrolle durch eine externe Einrichtung erfolgt.42 Das Zivilrecht übernimmt die Begrifflichkeiten zumeist, ohne sie zu hinterfragen. Was aber genau unter den o.g. Bezeichnungen verstanden wird und wie eine Aufteilung in diese verschiedenen Bereiche konkret erfolgen soll, wird uneinheitlich gesehen. Dass die genannten Versuche einer Systematisierung der Selbstregulierung zumindest aus zivilrechtlicher Sicht nicht weiterführen, zeigt anschaulich das Beispiel des DCGK. Hier bestehen unterschiedliche Ansichten darüber, in welche der genannten Kategorien der Kodex einzuordnen ist. Manche Stimmen sehen diesen als klassisches Beispiel für eine Co-Regulierung.43 Andere wiederum ordnen ihn als eine Form der regulierten Selbstregulierung ein.44 Eine weitere Ansicht sieht den

39 Vgl. Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 33ff. 40 GroßkommAktG/Leyens, 5. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 36. 41 Wohl erstmals verwendet von Hoffmann-Riem, RuF 1995, 125ff.; ders., in: Fehling/Schliesky, Neue Macht- und Verantwortungsstrukturen in der digitalen Welt, 2016, S. 27ff.; Voßkuhle, in: Berg/Fisch/Schmitt Glaeser/Schoch/Schulze-Fielitz, Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, DV Beiheft 4, 2001, S. 197ff. 42 Siehe etwa die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema »Selbst- und Ko-Regulierung im EU-Rechtsrahmen«, 2015/C 291/05), ABl. EU Nr. C 291 vom 4. 9. 2015, S. 29, 33, Rn. 3.3. 43 Vgl. Talaulicar, Normierungseffekte der Co-Regulierung von Standards guter Corporate Governance/Normative effects of co-regulatory regimes of corporate governance, ORDO, Vol. 62 (2011), S. 269ff., insbesondere S. 274ff.; siehe auch Hafeez, Corporate Governance and Institutional Investment, 2015, S. 61; zur Frage, ob der DCGK ein Akt der Selbstregulierung ist, siehe Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 99f. 44 Grünberger, RW 2012, 1ff. anlässlich des 69. DJT, Recht und Politik 2012, S. 129ff.; Binder, in: Baum/Bälz/Dernauer, Self-regulation in Private Law in Japan and Germany, 2018, S. 127, 139ff., 143 (»state-induced self-regulation«).

Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Selbstregulierung in der Kritik

65

DCGK als freiwillige bzw. genuine Selbstregulierung45 und verneint dezidiert eine Co-Regulierung, weil der Kodex nicht »von Verbänden initiiert oder zwischen Verbänden oder Konzernen und der Regierung ausgehandelt«,46 sondern von einer Regierungskommission erarbeitet worden sei. Auch wenn der Comply-orexplain-Mechanismus bestehe, sei der Kodex gleichwohl nicht-bindender Natur.47 Es bestehe schließlich keine Durchsetzungsmöglichkeit der Regeln, sondern lediglich eine Möglichkeit der Durchsetzung dieses Erklärungsmechanismus. Ohne diesen Punkt hier weiter vertiefen zu können, zeigt sich, dass die Ordnungskategorien des öffentlichen Rechts im Zivilrecht Schwierigkeiten bereiten und daher nach geeigneteren Systematisierungsansätzen zu forschen ist.48 Das wiederum setzt voraus, dass eine Kategorisierung bzw. Bestimmung der Selbstregulierungs-»Qualität« Auswirkungen auf den Umgang mit dem Selbstregulierungsakt haben kann. Andernfalls wäre eine solche generell hinfällig. Auch zu diesem Punkt gibt es bislang kaum Untersuchungen.

4.

Rechtsfolgen der Nichtbeachtung des Kodex

Besonders sensibel ist im Zusammenhang mit einer Selbstregulierung die Frage nach den Konsequenzen einer Nichtbeachtung der aufgestellten Regeln. Anders gewendet geht es um die Durchsetzung des selbst geschaffenen »Rechts«.49 Eine solche reicht von direkten Sanktionsmechanismen bis hin zu praktischen Nachteilen einer Nichtbeachtung, wie sie etwa den internationalen Rechnungslegungsregeln (IAS, IFRS) zu eigen ist. Der DCGK sieht keine Sanktionen bei Nichteinhaltung der Empfehlungen vor. Das ist insofern konsequent, als es sich schon dem Wortlaut nach allein um »Empfehlungen« handelt, d. h. ein Abweichen von diesen schon grds. als möglich angesehen wird.50 Die Vorstellung hinter diesem Selbstregulierungsakt ist, dass auf eine Nichteinhaltung der Empfehlungen durch den Kapitalmarkt mittels Kursauf- oder -abschlägen usw. reagiert wird.51 Nicht vertieft werden kann an 45 Möslein, in: Baum/Bälz/Dernauer, Self-regulation in Private Law in Japan and Germany, 2018, S. 83, 102, sieht den DCGK als genuine Selbstregulierung an; siehe auch Töller, der moderne staat, 2009, 293, 294. 46 Töller, der moderne staat, 2009, 293, 294. 47 Töller, der moderne staat, 2009, 293, 294. 48 Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 6f., 212ff.; Buck-Heeb, in: Baum/Bälz/Dernauer, Self-regulation in Private Law in Japan and Germany, 2018, S. 27, 34, 44ff. 49 Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 290ff. 50 Siehe Abs. 4 der Präambel des DCGK (2020). 51 Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 295f. m. w. N.

66

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dieser Stelle, ob sich diese Erwartungen auch tatsächlich erfüllt haben. Allerdings deuten empirische Untersuchungen darauf hin, dass dies zu bezweifeln ist und der Kapitalmarkt nicht signifikant auf eine Kodexeinhaltung zu reagieren scheint.52 Auch wenn die Nichtbeachtung der DCGK-Empfehlungen keine unmittelbaren Sanktionen auslöst, sondern allein die unterlassene Erklärung bzgl. der (Nicht-)Befolgung des Kodex gemäß § 161 AktG zu direkten Sanktionen führen vermag,53 wird in der Literatur ein erheblicher faktischer Befolgungsdruck bzw. -zwang hervorgehoben54 bzw. auf die »Zwänge des Marktes« verwiesen.55 Ob dieser wirklich besteht, erscheint angesichts der ausdrücklichen Freiwilligkeit der Regeln fraglich.56 Ein gewisser Druck kann allenfalls durch die Erklärungspflicht des § 161 AktG und damit die Offenlegung der Nichtbeachtung entstehen. Manche erwägen, die Empfehlungen des DCGK als eine Quelle von Sorgfaltsstandards und insofern als haftungsrelevant zu sehen. Diskutiert wird daher, ob die Nichtbeachtung von DCGK-Empfehlungen zu einer Pflichtverletzung i. S. d. § 93 Abs. 2 AktG führen kann. Dabei verneint die h. M. aber zu Recht einen haftungsbestimmenden Charakter aufgrund der grds. bestehenden Unverbindlichkeit des Kodex.57

52 Böcking/Böhme/Gros, AG 2012, 615ff.; Grigoleit/Grigoleit/Zellner, 2. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 3; Theisen, DB 2014, 2057; siehe auch schon Nowak/Rott/Mahr, ZGR 2005, 252, 273ff. 53 Zur strafrechtlichen Relevanz Keßler, Strafrechtliche Aspekte von Corporate Governance, 2012, S. 143ff. 54 Krieger, ZGR 2012, 202, 215f.; Grigoleit/Grigoleit/Zellner, 2. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 5; vgl. auch den Hinweis bei Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 42; Meder, in: Calliess, Transnationales Recht, 2014, S. 257, 271. 55 Vgl. Thümmel, CCZ 2008, 141ff. 56 Siehe bei III.1. 57 Siehe nur etwa Vetter, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2021, § 161 AktG Rn. 5; GroßkommAktG/Leyens, 5. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 106; Bachmann, in: Kremer/ Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl., 2021, Teil 2. Einleitung, Rn. 96 (der deshalb auch dezidiert die Bezeichnung »mittelbare Rechtswirkung« im Hinblick auf den DCGK ablehnt); Berg/Stücker, WM 2002, 1569, 1575ff.; Ettinger/Grützediek, AG 2003, 353, 354f.

Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Selbstregulierung in der Kritik

III.

Die Verknüpfung mit der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG

1.

Die Erklärung nach § 161 AktG

67

Nach § 161 Abs. 1 AktG müssen v. a. der Vorstand und der Aufsichtsrat von börsennotierten Unternehmen jährlich erklären, dass die Gesellschaft dem DCGK entsprochen hat und entsprechen wird.58 Das stellt eine »freiwillige Selbstbindung der Organe zum Stichtag auf jederzeitigen Widerruf« dar.59 Die Pflicht zur Erklärung erstreckt sich lediglich auf die Kodexempfehlungen (durch das Wort »soll« gekennzeichnet), nicht jedoch auf die im Kodex enthaltenen Grundsätze (Principles).60 Der DCGK steht durch die Regelung der Entsprechenserklärung in § 161 AktG in enger Verknüpfung mit dem Aktiengesetz (»Transmissionsriemen«61), sodass manche von einem »sanften Zwang« sprechen.62 Systematisch handelt es sich um eine »Schnittstelle zwischen den unverbindlichen Empfehlungen des Kodex und dem zwingenden Gesetzesrecht«63 und damit um ein Beispiel für das »Zusammenwirken staatlicher Stellen und privater Akteure bei der Regeldurchsetzung«.64 Angegeben werden muss in der Erklärung auch, welche Empfehlungen nicht angewendet wurden oder werden. Gleichzeitig muss dargelegt werden, warum das nicht der Fall ist (§ 161 Abs. 1 S. 1 AktG). Insofern ist eine Abweichung von DCGK ohne Weiteres möglich, sofern der Erklärungspflicht aus § 161 AktG genüge getan wird.65 Im Gegenteil findet sich teilweise sogar eine Ermutigung zu einer »Abweichungskultur«.66 Die Entsprechenserklärung ist sodann im amtli58 Nach § 161 Abs. 1 Satz 2 AktG trifft diese Pflicht auch die Organe von Gesellschaften, die den regulierten Kapitalmarkt auf andere Weise in Anspruch nehmen. 59 Vetter, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2021, § 161 AktG Rn. 12. 60 Vetter, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2021, § 161 AktG Rn. 10; zum Vorschlag, diese zum Gegenstand sogar eines »Apply or Explain«-Mechanismus, bei dem die Art und Weise der Umsetzung erklärt werden müsste, zu machen (vgl. Handelsrechtsausschuss und Ausschuss Corporate Social Responsibility und Compliance des Deutschen Anwaltvereins, NZG 2019, 252, Rn. 7ff.; VGR, AG 2019, 123, 124f.; siehe auch Grigoleit/Grigoleit/Zellner, 2. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 8. 61 Ederle, NZG 2010, 655, 656. 62 Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1205, 1213. 63 So von der Linden, in: Drinhausen/Eckstein, Beck’sches Handbuch der AG, 3. Aufl., 2018, § 25 Rn. 9. 64 Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 297. 65 Vetter, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl., 2021, § 161 AktG Rn. 7. 66 Bachmann, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl., 2021, Teil 2. Einleitung, Rn. 55, Rn. 102; siehe auch den Beschluss Nr. 9 der Wirtschaftsrechtlichen Abteilung des 69. DJT 2012; Bachmann, AG 2011, 181, 192.

68

Petra Buck-Heeb

chen Teil des Bundesanzeigers bekanntzumachen (§ 161 Abs. 1 Satz 1 AktG) und hat auf der Internetseite der Gesellschaft dauerhaft öffentlich zugänglich zu sein (§ 161 Abs. 2 AktG).

2.

Vorwurf der Verrechtlichung

Die Verknüpfung des DCGK mit dem AktG durch den § 161 AktG wird teilweise als »Verrechtlichung« kritisiert.67 Richtig daran ist, dass die durch das BilMoG 2009 in den § 161 AktG eingefügte Begründungspflicht bei einem Abweichen vom Kodex zu einer Intensivierung des Geltungsanspruchs der Kodexregeln führt.68 Insbesondere die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Anfechtung von Beschlüssen wegen der Nichteinhaltung von Kodexempfehlungen bzw. des § 161 AktG hat zu dem »Vorwurf« der Verrechtlichung geführt.69 Eine solche wird insbesondere aufgrund des »schwachen verfassungsrechtlichen Fundaments«70 als bedenklich angesehen. Zutreffend wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass die Kodexkommission diese Bedenken z. T. selbst verstärkt. Das soll v. a. der Fall sein, wenn sie – wie namentlich bei der Diskussion um Investorengespräche des Aufsichtsrats – höchst streitige Rechtsfragen als Quasi-Gesetzgeber durch Kodex-Anregungen (vgl. A.3 DCGK) entscheiden will, wie das etwa bei der Debatte um die Möglichkeit von Investorengesprächen des Aufsichtsrats erfolgt sei. Dabei würde in Kauf genommen, dass der Praxis ein rechtswidriges Verhalten angeraten werde.71 Allerdings hat der BGH in einer späteren Entscheidung insofern der zunehmenden Verrechtlichung entgegengewirkt, als er im Hinblick auf die Auswirkungen einer unrichtigen Entsprechenserklärung auf den Wahlvorschlagsbeschluss des Aufsichtsrats und die nachfolgende Wahl in der Hauptversammlung eine Anfechtungsmöglichkeit verneint hatte.72 Zudem hat der II. Zivilsenat in dieser Entscheidung deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ein Kodexverstoß

67 Arbeitskreis Externe und Interne Überwachung der Unternehmung (AKEIÜ) der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V., DB 2016, 395ff.; siehe auch Theisen, DB 2014, 2057ff.; Pofalla, WPg 2013, Sonderheft, S. 2f. 68 So Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 3; siehe auch Meder, in: Calliess, Transnationales Recht, 2014, S. 257, 271. 69 BGHZ 180, 9 Rn. 19 (»Kirch/Deutsche Bank«); BGHZ 182, 272 Rn. 16; BGH NZG 2013, 783f.; vgl. kritisch MünchKommAktG/Goette, 8. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 2 und Rn. 19ff. 70 Siehe bei III.3. 71 Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 5a; ders., AG 2017, 129ff., 140; ders., BB 2015, Heft 50, Die erste Seite; kritisch auch DAV-Handelsrechtsausschuss, NZG 2017, 57, 59; VGR, AG 2017, 1, 4f. 72 BGHZ 222, 36ff. Rn. 28ff.

Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Selbstregulierung in der Kritik

69

allein keinen Anfechtungsgrund i. S. d. AktG darstellen kann, da dieser »weder ein Gesetz noch ein Bestandteil der Satzung ist«.73

3.

Verfassungsrechtliche Bedenken

Vor allem bei der Schaffung des § 161 AktG wurde die verfassungsrechtliche Tragfähigkeit dieser Regelung und gleichzeitig des DCGK überwiegend kritisch diskutiert.74 Diesbezüglich ergibt sich inzwischen ein divergierendes Bild: Während die einen konstatieren, die angeführten Bedenken seien nicht tragend75 bzw. die Kritik an der Besetzung und dem Verfahren der Kodexkommission sei nicht verfassungsrechtlich bedenklich,76 sehen andere die verfassungsrechtlichen Bedenken als »keineswegs geklärt«.77 Teilweise wird jedoch – eher resigniert – festgehalten, das neuere Schrifttum habe sich mit der geltenden Rechtslage »weitgehend abgefunden«.78 Korrekter dürfte es sein zu erwähnen, dass bislang »keiner der von § 161 AktG Betroffenen den Gang zum Bundesverfassungsgericht gewagt hat«.79 Jedenfalls sehen sich die Kodex-Empfehlungen dem Einwand ausgesetzt, gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), die Berufsfreiheit der vom Kodex adressierten Unternehmen sowie den Gesetzesvorbehalt (Art. 20 73 BGHZ 222, 36ff. Rn. 25; siehe dazu auch Weitnauer, GWR 2018, 301ff. 74 Eine Verfassungsmäßigkeit verneinend oder bezweifelnd etwa MünchKommAktG/Goette, 8. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 26ff.; Hoffmann-Becking, FS Hüffer, 2010, 337, 341f.; Mülbert/ Wilhelm, ZHR 176 (2012), 286, 312ff. Die Verfassungsmäßigkeit bejahend etwa Bayer/Scholz, in: BeckOGK-AktG, Stand: 19. 10. 2020, § 161 AktG Rn. 27ff.; Bachmann, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl., 2021, Teil 2. Einleitung, Rn. 97ff.; Habersack, Gutachten Teil E: Staatliche und halbstaatliche Eingriffe in die Unternehmensführung, Verhandlungen zum 69. DJT 2012, Bd. I, E 53f.; Hopt, FS Hoffmann-Becking, 2013, 563, 569ff.; Wegmann, in: FS Schmidt-Preuß, 2018, 477, 507ff.; siehe zur Diskussion auch Weitnauer, Der Deutsche Corporate Governance Kodex, Rechtsnatur, Geltung und gerichtliche Anwendung, 2018, S. 345ff., insbesondere S. 348ff.; Keßler, Strafrechtliche Aspekte von Corporate Governance, 2012, S. 124ff.; GroßkommAktG/Leyens, 5. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 54. 75 Hoffmann-Becking, FS Hüffer, 2010, S. 337, 341f.; Mülbert/Wilhelm, ZHR 176 (2012), 286, 312ff.; Grigoleit/Grigoleit/Zellner, 2. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 7; Seidel, NZG 2004, 1095f. 76 Vgl. nur etwa Hopt, in: FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 563, 569ff.; Bachmann, AG 2011, 181, 191; Kort, in: FS K. Schmidt, 2009, S. 945, 953; Habersack, Gutachten Teil E: Staatliche und halbstaatliche Eingriffe in die Unternehmensführung, Verhandlungen zum 69. DJT 2012, Bd. I, E 53f. 77 Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1203, 1214. 78 Koch, in: Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4; siehe auch Hopt/Leyens, ZGR 2019, 929ff.; Hopt, FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 563, 569ff.; Wegmann, FS Schmidt-Preuß, 2018, S. 477, 507ff. 79 Darauf weist zu Recht Bachmann, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl., 2021, Teil 2. Einleitung, Rn. 97, hin.

70

Petra Buck-Heeb

Abs. 3 GG) zu verstoßen.80 Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes umfasst dabei, dass es keine Rechtsgeltung von Normen in grundlegenden Bereichen geben können soll, bei welchen der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen nicht selbst getroffen hat (Wesentlichkeitstheorie). Er kann sie damit nicht stattdessen »untergesetzlichen oder außerstaatlichen Normsetzungsinstanzen überlassen«.81 Zutreffend wird von denjenigen, die verfassungsrechtliche Bedenken äußern, betont, dass diese nicht durch einen Verweis auf die grds. vergleichbaren Rechnungslegungsstandards gemäß § 342 Abs. 1 Nr. 1 HGB und das Deutsche Rechnungslegungs Standards Committee (DRSC) als privatrechtlich organisierte Einrichtung »erledigen« lassen. Zwar ist auch hier die verfassungsrechtliche Legitimation umstritten,82 es mangelt der Kodex-Kommission zudem auch an einer vergleichbaren vertraglichen Anerkennung83 durch das Bundesministerium der Justiz. Hinzu kommt, dass die Besetzung des Gremiums schon grds. umstritten ist.84 An dieser Stelle kann nicht näher auf die Berechtigung der verfassungsrechtlichen Bedenken eingegangen werden. Zu konstatieren ist jedoch, dass es »in der Sache hoch problematisch (ist), dass eine demokratisch nicht legitimierte Kodex-Kommission über den Hebel des § 161 AktG in einem solchen Ausmaß Prägewirkung auf die deutsche Unternehmenswirklichkeit ausüben kann«.85 Insofern wird zu Recht kritisiert, dass noch nicht einmal gesetzliche Vorgaben zur Besetzung und zum Verfahren der Kommission existieren.86

80 Vgl. nur etwa von der Linden, in: Drinhausen/Eckstein, Beck’sches Handbuch der AG, 3. Aufl., 2018, § 25 Rn. 17 m.w.N. 81 BVerfGE 22, 125, 158; BVerfGE 49, 89, 126; BVerfGE 64, 208, 214f. 82 Dazu ausführlich Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 125ff.; verneinend etwa Hellermann, NZG 2000, 1097, 1100ff.; bejahend Heintzen, BB 1999, 1050, 1053f.; kritisch MünchKommHGB/Paal, 4. Aufl., 2020, § 342 HGB Rn. 5. 83 Siehe Kleindiek, in: BeckOGK-HGB, Stand: 1. 10. 2020, § 342 HGB Rn. 36ff. 84 So Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4; zur Kritik an der Zusammensetzung siehe oben bei II. 1. Fn. 5. 85 Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 4. 86 Siehe nur etwa Spindler, NZG 2011, 1007, 1008f.; Hoffmann-Becking, in: FS Hüffer, 2010, S. 337, 341f.; ders., ZIP 2011, 1173, 1174; Mülbert/Wilhelm, ZHR 176 (2012), 286, 314ff.; Krieger, ZGR 2012, 202, 217.

Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Selbstregulierung in der Kritik

IV.

71

Entwicklung von der Kodexregel zur Gesetzesnorm

In der Diskussion um eine Selbstregulierung durch einen Kodex spielt auch der Kritikpunkt eine Rolle, dieser sei lediglich eine Art »Vorfluter« für eine gesetzliche Fixierung bestimmter sozialpolitischer Vorstellungen87 bzw. er diene als »Vorspiel« des Gesetzgebers, der damit prüfe, »ob und wann politisch gewünschte Ziele kodifiziert werden müssen«.88 Zudem wird der Vorwurf erhoben, der DCGK werde instrumentalisiert, um »sozialpolitischen Desiderata […] zur Durchsetzung zu verhelfen«.89 Insofern steht die Erkenntnis des Schrifttums im Raum: »Für privates Recht ist kein nennenswerter Raum mehr«.90 Damit scheint sich diese in der Folge der Finanzkrise von 2008 getätigte Aussage auch am Beispiel des DCGK zu bewahrheiten.

1.

Beispiel: Diversität

Im Jahr 2010 wurde in den DCGK eine Regel bzgl. Diversität im Aufsichtsrat börsennotierter Unternehmen aufgenommen (damals: Kap. 5.4.1 DCGK). Vor allem sollten mehr Frauen Mitglieder im Aufsichtsratsgremium vertreten sein.91 Parallel dazu kam es im März 2011 zu einer Selbstverpflichtung der Industrie, wonach eine gezielte Steuerung der Diversität durch ein »Diversity Management« erfolgen sollte.92 Das Resultat war jedoch ernüchternd, da die Anzahl von Frauen in Aufsichtsräten keineswegs signifikant stieg.

87 Spindler, NZG 2011, 1007, 1012; generell hierzu Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 243f. 88 Spindler, in: FS Hopt, 2020, 1205, 1213f.; siehe auch Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 5a, der zu Recht anmahnt, der Kodex dürfe nicht als bloßes Durchgangsstadium zur raschen gesetzlichen Fixierung eingesetzt werden. 89 Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 5; Mülbert/Wilhelm, ZHR 176 (2012), 286, 321ff. 90 Veil, Autonomie privaten Rechts und dessen Einbindung in die staatliche Rechtsordnung, in: Bumke/Röthel, Privates Recht, 2012, S. 269, 272; siehe auch Köndgen, Transnationale Regelund Standardbildung auf Finanzmärkten – vor und nach der Krise, in: Calliess, Transnationales Recht, Tübingen 2014, S. 277ff.; Omarova, Rethinking the Future of Self-Regulation in the Financial Industry, Brook. J. Int’l L., Vol. 35:3, 2010, S. 697, 706; kritisch auch Weiß, Selbstregulierung der Wirtschaft – noch sinnvoll nach der Finanzkrise?, Der Staat 2015, 555ff. 91 Jung, BB 2013, 387, 388; J. Basedow, Komplexität der Wirtschaft, Allokation des Wissens und privates Privatrecht, in: Calliess, Transnationales Recht, 2014, S. 141, 150ff. 92 Siehe »Charta der Vielfalt«, www.charta-der-vielfalt.de/fileadmin/user_upload/beispieldatei en/Downloads/Faktenblatt_CdV_2016-4.pdf (zuletzt abgerufen am 12. 2. 2021).

72

Petra Buck-Heeb

Als Folge davon stellte der Gesetzgeber fest, dass die Selbstregulierung in diesem Bereich nicht funktioniert.93 Daher schuf er mit Gesetz vom 24. 4. 201594 eine entsprechende gesetzliche Regelung und integrierte diese in das Aktiengesetz. Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 AktG müssen nun bei bestimmten börsennotierten Gesellschaften mindestens 30 % der Aufsichtsratsmitglieder Frauen und mindestens 30 % Männer sein. Diese Regelung ist zwingend i. S. d. § 23 Abs. 5 AktG. Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 96 Abs. 1 AktG sind drastisch. Eine Nichtbefolgung führt nach § 96 Abs. 2 Satz 6 AktG grds. zur Nichtigkeit der Aufsichtsratswahl.95

2.

Beispiel: Vergütung von Vorstandsmitgliedern

Ein weiteres Beispiel für die Fortentwicklung der Kodexregeln hin zu Gesetzesregelungen stellt die Vergütung von Vorstandsmitgliedern dar.96 Ursprünglich hatte hier der DCGK eine Empfehlung vorgesehen, die von der Praxis mit großer Zurückhaltung aufgenommen wurde.97 Das führte schließlich zu gesetzlichen Änderungen des § 87 Abs. 1 AktG.98 Nunmehr muss der Aufsichtsrat dafür sorgen, dass die Vorstandsbezüge »in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung nicht ohne besondere Gründe übersteigen« (§ 87 Abs. 1 Satz 1 AktG).

V.

Zur Diskussion um die Streichung des § 161 AktG

Inzwischen ist die Forderung nach einer Streichung der Entsprechenserklärung des § 161 AktG erhoben worden.99 Diese Diskussion ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass die Sinnhaftigkeit des Konzepts einer Kombination von Selbst-

93 Siehe »Entwurf eines Gesetzes für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst«, BT-Drucks. 18/3784 vom 20. 1. 2015, unter A., S. 1 und 40. 94 BGBl. 2015 I 642. 95 Näher dazu Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 96 AktG Rn. 23ff. 96 Näher Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010, S. 248f. 97 Fleischer, BB 2010, 67ff. 98 »Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung (VorstAG)« vom 31. 7. 2009, BGBl. I, S. 2509ff.; siehe auch das »Gesetz über die Offenlegung der Vorstandsvergütungen (Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz – VorstOG)« vom 3. 8. 2005, BGBl. I, S. 2267ff. 99 Timm, ZIP 2010, 2125, 2128; siehe auch Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1203ff.

Der Deutsche Corporate Governance Kodex: Selbstregulierung in der Kritik

73

regulierung und staatlicher »Kontrolle« schon bei der Schaffung des DCGK und des § 161 AktG teilweise sehr skeptisch gesehen oder gar abgelehnt wurde.100 Gegen die Beibehaltung des § 161 AktG wird an einer Stelle markant angeführt: »Warum ein Privatrechtssubjekt sich rechtfertigen muss, dass es Normen, die nicht von einem staatlichen, sondern einem privatrechtlichen Gremium gesetzt werden, befolgt oder nicht, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich«.101 Dabei wird auch der Aspekt aufgeworfen, dass eine »dynamische Verweisung« auf privat gesetzte Normen dem Grundgesetz, namentlich dem Demokratieprinzip, widerspreche.102 Als Alternative wird eine Lockerung der in § 23 Abs. 5 AktG enthaltenen Satzungsstrenge genannt.103 Da der Vorteil dieser Lösung auch darin gesehen wird, dass sie keinen verfassungsrechtlichen Bedenken104 ausgesetzt ist, wird – auch unter Bezug auf den Charakter einer Grundlagenentscheidung – für eine Entscheidungsbefugnis der Aktionäre plädiert.105 Andere sehen eine Streichung des § 161 AktG sehr kritisch bzw. lehnen eine solche ab.106 Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob diese berechtigt ist, sondern auch, welche Bedeutung ein solches Vorgehen für das Prinzip der Selbstregulierung haben kann. Immerhin ist diese Regelung für die »Durchsetzung« des DCGK erheblich.107 Insofern unterscheidet sich der DCGK auch von anderen Kodizes.108 Die entsprechende Diskussion um die Aufrechterhaltung des § 161 AktG hat erst vor kurzer Zeit begonnen, derzeit wird jedoch schon rein faktisch einer Streichung des Comply-or-explain-Prinzips die rechtspolitische Erfolgsaussicht abgesprochen.109 Das erscheint insofern überzeugend, als auch auf europäischer Ebene Mechanismen, wie sie § 161 AktG enthält, eher noch verstärkt zu werden scheinen.

100 Zur Zusammenfassung der Diskussion siehe Habersack, Gutachten Teil E: Staatliche und halbstaatliche Eingriffe in die Unternehmensführung, Verhandlungen zum 69. DJT 2012, Bd. I, E 12 Fn. 16, 23–25; siehe auch MünchKommAktG/Goette, 4. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 19ff. 101 Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1203, 1216. 102 Vgl. Wegmann, in: FS Schmidt-Preuß, 2018, S. 477, 511; Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1203, 1216. 103 Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1205, 1212; ders., AG 1998, 53, 54ff. 104 Siehe dazu unten bei III.3. 105 Spindler, in: FS Hopt, 2020, S. 1205, 1213 und 1218. 106 Theisen, DB 2014, 2057ff.; Koch, in: Hüffer/Koch, 14. Aufl., 2020, § 161 AktG Rn. 5a. 107 Zur Durchsetzung Weitnauer, Der Deutsche Corporate Governance Kodex, Rechtsnatur, Geltung und gerichtliche Anwendung, 2018, S. 457ff. 108 Lutter, in: Kremer/Bachmann/Lutter/v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl., 2021, Teil 4. Die Umsetzung des Kodex in der Praxis, Rn. 1. 109 Siehe das deutliche Votum des 69. DJT, Wirtschaftsrechtliche Abteilung, Beschluss Nr. 6, 2012.

74

VI.

Petra Buck-Heeb

Fazit

Die Diskussion bzgl. eines selbst geschaffenen »Rechts« der Wirtschaft110 jenseits des Staates spiegelt sich in der Debatte um eine Reform der Entsprechenserklärung i. S. d. § 161 AktG. Zugleich lassen sich am Beispiel des DCGK exemplarisch die Schwierigkeiten aufzeigen, die mit dem Phänomen »Selbstregulierung« verbunden sein können. Das beginnt mit der Frage, ob es sich beim DCGK überhaupt um einen Akt der Selbstregulierung handelt, setzt sich fort in der Überlegung, welche Form von Selbstregulierung hier vorliegt und erstreckt sich auf die Debatte um die Verfassungsmäßigkeit. Auch wenn all dies in der praktischen Anwendung der Regeln unwesentlich und akademisch erscheint, kommt dem doch mehr Bedeutung zu als gemeinhin angenommen. Das zeigt nicht nur der Aspekt der Auslegung der Regeln sowie der Anfechtungs- oder Haftungswirkung, sondern auch der wissenschaftliche Disput um die mögliche Streichung des Comply-or-explain-Mechanismus (§ 161 AktG). Es wird hierbei nicht nur die Frage nach dem Akteur der Selbstregulierung aufgeworfen, sondern auch danach, was einem Selbstregulierungsakt zu einer »Durchschlagkraft« verhelfen kann.

110 Siehe nur etwa GroßkommAktG/Leyens, 5. Aufl., 2018, § 161 AktG Rn. 36.

Alexander Djazayeri

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

I.

Einleitung

Selbstregulierung als Alternative zum staatlich gesetzten Recht ist in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft weit verbreitet. Selbstregulierungsmechanismen haben in der Versicherungsbranche eine lange Tradition. Die Reichweite und Bedeutung dieser Selbstregulierung haben in den vergangenen Jahren jedoch nochmals stetig zugenommen. Die Autonomie von der staatlichen Gesetzgebung ist weitgehend im Interesse der Versicherungswirtschaft, um staatliche Regelung zu vermeiden und damit Teilbereiche »selbst« zu regeln. Teilweise ist sie auch durch Druck des Gesetzgebers motiviert, da dieser sich nicht in sämtliche Rechtsbeziehungen einmischen möchte. Die selbstregulierten Bereiche sind dabei vielfältig. Als ältestes Beispiel sind zunächst die Wettbewerbsregelungen der Versicherungswirtschaft zu nennen. Aber auch in Bezug auf den Vertrieb von Versicherungsprodukten und Datenschutz finden sich autonome Regelungen. Mit dem Versicherungsombudsmann gibt es eine eigene Streitschlichtungsinstitution. Im Bereich der Rückversicherung ist Selbstregulierung sogar noch weiter ausgeprägt, da das materielle Recht vielfach durch selbst geschaffenes Gewohnheitsrecht geprägt ist. Auch Streitigkeiten von Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen werden hauptsächlich unabhängig von staatlichen Gerichten vor institutionellen oder ad-hocSchiedsverfahren ausgetragen.

II.

Verbandliche Selbstregulierung

In der Versicherungswirtschaft kam es schon früh zur Bildung von Verbänden und Selbsthilfeorganisationen. 1852 erschien in Magdeburg eine Broschüre mit dem Titel »Der Versicherungs-Verein. Ein Wort zur Beherzigung für alle deut-

76

Alexander Djazayeri

schen Versicherungs-Gesellschaften« eines anonymen Verfassers.1 Dieser plädiert hierin dafür, unlauteren Wettbewerb innerhalb der Branche zu bekämpfen und zu diesem Zweck einen Verband zu bilden. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass Versicherungsunternehmen einen erbitterten Vernichtungswettbewerb führten und es somit notwendig sei, gegen ein solches unlauteres Gebaren entschlossen vorzugehen.2 Daraufhin kam es im selben Jahr zu einer Konstituierung deutscher FeuerVersicherungsgesellschaften. Deren Ziel war es u. a., allgemeine Versicherungsbedingungen zu entwickeln und Wettbewerbsregeln aufzustellen. 1857 hat sich die Vereinigung jedoch wieder aufgelöst.3 1871 wurde der Verband deutscher Privat-Feuer-Versicherungsgesellschaften gegründet, welcher ebenfalls das Ziel hatte, unlauteren Wettbewerb zu verhindern und standardisierte Versicherungsbedingungen zu entwickeln. In der Folgezeit bildeten sich weitere Fachverbände, so der Verband Deutscher Lebensversicherungsgesellschaften (1896) und der Reichsverband der Privatversicherung (1919).4 Nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierten sich die Verbände neu. Es entstand der Verband der Lebensversicherungs-Unternehmen e.V. mit Sitz in Bonn, der Verband der Haftpflichtversicherer, Unfallversicherer und Rechtsschutzversicherer e.V. (HUK-Verband) mit Sitz in Hamburg, der Verband der Sachversicherer e.V. mit Sitz in Köln und der Deutsche Transport-VersicherungsVerband e.V. mit Sitz in Hamburg.5 1948 wurde in Köln der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) als Branchenvertretung für spartenübergreifende Fragestellungen gegründet. Heutiger Sitz ist Berlin. Dem Verband gehören rund 460 Versicherungsunternehmen an.6 Aufgabe des Verbandes ist die Vertretung der Versicherungsunternehmen gegenüber politischen und gesellschaftlichen Institutionen. Zudem ist der GDV auch als Dienstleister für seine Mitglieder tätig. Er entwickelt und aktualisiert Musterbedingungen für diverse Versicherungssparten und empfiehlt diese unverbindlich seinen Mitgliedsunternehmen.

1 Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 71. 2 Anonym, Auf sicheren Pfeilern, Der Versicherungs-Verein, abgedruckt bei Arps, 1965, 553f. 3 Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 72; Fischer, Organisation und Verbandsbildung der Feuerversicherung, 1911, 115. 4 Manes, Versicherungswesen, 1922, 92. 5 Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 73. 6 GDV, https://www.gdv.de/de/ueber-uns/wer-wir-sind/der-gdv-23856, abgerufen am 1. 3. 2021.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

III.

77

Statuierung von Regelungen durch Versicherungsverbände und Unternehmen

Das deutsche Versicherungsrecht verfügt über eine Vielzahl von Beispielen der Selbstregulierung. Im Folgenden sollen die Wesentlichen dargestellt und näher betrachtet werden.

1.

Wettbewerbsabkommen

a)

Historischer Überblick

Wie bereits oben im Zuge der Gründung von Versicherungsverbänden dargestellt, spielten Wettbewerbsaspekte bereits frühzeitig eine große Rolle. Das erste Wettbewerbsabkommen wurde bereits 1900 im Lebensversicherungsbereich abgeschlossen, in welchen sich die beteiligten Gegenseitigkeitsanstalten zur gemeinsamen Bekämpfung von Wettbewerbsmissständen verpflichteten.7 Eine wesentliche Regelung dieses Abkommens und weiterer Abkommen innerhalb der Lebensversicherung betraf Beitragsnachlässe und Begünstigungsverträge. In einem Abkommen von 1919 erklärten sich die großen Lebensversicherer bereit, Beitragsnachlässe und Begünstigungsverträge nicht mehr zu ermöglichen und bestehende Begünstigungsverträge zu kündigen, und erließen entsprechende Richtlinien.8 Im Jahr 1927 folgte ein Abkommen der Privatversicherungen und der Verbände öffentlich-rechtlicher Versicherungsanstalten über die gütliche Einigung bei Streitigkeiten, sowie ferner 1938 das »Jenaer Abkommen für die Hagelversicherung«, welches bestimmte Kündigungsregelungen für Hagelversicherungsverträge vorsah.9 Die »Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft« als die bis heute wichtigste Wettbewerbsregelung im Versicherungsbereich ist 1967 in Kraft getreten. Diese Richtlinien betreffen alle Sparten und wurden vom GDV zusammen mit dem ihm angeschlossenen Fachverbänden sowie dem Versicherungsaußendienst erarbeitet.

7 Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 243; Samwer, Geschichte des Verbandes deutscher Lebensversicherungsgesellschaften von 1896 bis 1932, 1933, 8. 8 Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 243; Samwer, Geschichte des Verbandes deutscher Lebensversicherungsgesellschaften von 1896 bis 1932, 1933, 17. 9 Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 244.

78 b)

Alexander Djazayeri

Die Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft

Die Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft beruhen gemäß ihrer Präambel auf den Anschauungen der beteiligten Wirtschaftskreise und geben darüber Auskunft, was im Vorsorge- und Versicherungsbereich als gute Sitten gilt. Sie konkretisieren somit das allgemeine Wettbewerbsrecht für Versicherungsunternehmen und Versicherungsvermittler. Die Richtlinien sind systematisch aufgebaut und regeln in einem Allgemeinen Teil die Grundsätze des Wettbewerbs, insbesondere den fairen Leistungswettbewerb, das Verbot der Verunglimpfung und die Verantwortlichkeit der Vorstände. Der Allgemeine Teil enthält ferner Konkretisierungen durch die »Grundsätze für den Abschluss von Versicherungsverträgen« und die »Grundsätze für das Verhalten im Wettbewerb«. Im Besonderen Teil werden nähere Vorgaben für die unterschiedlichen Versicherungssparten gemacht. Nicht geregelt sind in den Wettbewerbsrichtlinien Provisionsabgabeverbote. Insofern werden die Wettbewerbsrichtlinien durch das Abkommen der »Wiesbadener Vereinigung« ergänzt.10 Dieses enthält u. a. Tätigkeitsmerkmale des firmenverbundenen Versicherungsvermittlers, bei deren Vorliegen Provisionszahlungen für das firmeneigene Versicherungsgeschäft zulässig sind. Die Tätigkeitsmerkmale rechtliche Selbständigkeit der firmenverbundenen Versicherungsvermittler, klare Firmierung mit dem Hinweis auf die Versicherungsvermittlung, Handelsregistereintragung, hauptberufliche Tätigkeit, ausreichendes Fachpersonal etc. werden von einer Prüfungskommission geprüft. Mitglieder der Kommission sind Vertreter der Versicherungsunternehmen und der Verbände. c)

Rechtsnatur und Grenzen

Am Beispiel der Wettbewerbsrichtlinien lassen sich die Rechtsnatur von Verbandsregelungen und ihre Grenzen erläutern. Den Verbänden der Versicherungswirtschaft steht keine Rechtsetzungsbefugnis zu. Die Regelungen sind somit keine Gesetze im materiellen Sinn.11 Auch sind sie kein Gewohnheits10 Von 1971 in der Fassung von 1985. Die Wiesbadener Vereinigung hat auf ihrer außerordentlichen Mitgliederversammlung am 14. März 2019 einstimmig die Auflösung zum Ende des Geschäftsjahres am 30. Juni 2019 beschlossen. Im Zuge der Neuregelung des Provisionsabgabeverbots in § 48 b VAG ändert sich die Ausgangslage zwar nicht. Allerdings werden die Versicherungsvermittler zukünftig auch gemäß § 34d Abs. 1 GewO verpflichtet, das Provisionsabgabeverbot aus § 48b VAG einzuhalten. Demnach ist nun die örtliche Industrieund Handelskammer (IHK) für die Überprüfung der nicht gebundenen Vermittler sind jetzt die Industrie- und Handelskammern zuständig. Die Wiesbadener Vereinigung hat auf diesem Gebiet keine Kompetenz mehr. 11 Schnorbus, Die Bedeutung und Grenzen der wettbewerblichen Selbstregulierung durch Verbände in der Versicherungswirtschaft, VersR 1999, 934.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

79

recht.12 Unternehmen, die dem entsprechenden Verband nicht angehören, sind an die Regelungen nicht gebunden. Die rechtliche Wirkung kann daher nur auf vertraglicher oder mitgliedschaftlicher Natur basieren.13 Im Rahmen der vertraglichen Verpflichtung ist insbesondere Art. 16 der Wettbewerbsrichtlinien zu beachten, welcher Versicherungsunternehmen verpflichtet, auch Versicherungsvertreter hinsichtlich der Verbindlichkeiten der Richtlinien vertraglich zu verpflichten. Die Satzungs- bzw. mitgliedschaftliche Verbindlichkeit wird von der Rechtsprechung anerkannt. So gab es Entscheidungen, die die Richtlinien als Verbandsrecht einstufen.14 Zusammenhängend damit lassen sich Fragen wie Satzungszwang oder Inhaltskontrolle nur nach Maßgabe kartellrechtlicher Überlegungen klären, da die Richtlinien weitreichende Beschränkungen der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit von Versicherern und Vermittlern enthalten. Das Verhältnis der Wettbewerbsrichtlinien zum Kartellrecht ist damit von entscheidender Bedeutung.15 Insbesondere ist ein möglicher Konflikt mit § 1 GWB und Art. 101 AEUV zu untersuchen.16 Vom Kartellrecht ausgenommen sind grundsätzlich nur Wettbewerbsregelungen, die das Recht konkretisieren, nicht aber verschärfen. Gemäß § 1 GWB sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, verboten. Unter der Prämisse der Unzulässigkeit der Verschärfungen wird vertreten, dass zahlreiche Regelungen, so z. B. die Artikel 8, 32, 33 37, 38 und 56 der Wettbewerbsrichtlinien kartellrechtswidrig sind.17 Nach dieser Auffassung sind diese Regelungen demnach nichtig und ordnungsgeldbewehrt verboten. Verpflichtungen gegenüber den Mitgliedern aus Vertrag oder sonstiger Rechtsbeziehung könnten somit in Bezug auf die kartellrechtswidrigen Regelungen nicht entstehen.18 Zur Begründung wird im Wesentlichen angeführt, 12 Ramming, Das Verbandsrecht der Versicherungswirtschaft, VersR 1992, 413. 13 Schnorbus, Die Bedeutung und Grenzen der wettbewerblichen Selbstregulierung durch Verbände in der Versicherungswirtschaft, VersR 1999, 934; Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 253. 14 Vgl. etwa OLG Celle, GRUR 1966, 155. 15 Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 264; Paschke, Die kartell- und wettbewerbsrechtliche Bedeutung der Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft, Liber amicorum für Gerrit Winter, 2007, 112. 16 Lange Zeit spielte das kartellrechtliche Problem in der Praxis keine große Rolle, da die Wettbewerbsrichtlinien dem BAV und BKartA zur Prüfung vorgelegt und nach § 102 GWB a. F. angemeldet und mit diesem in Einklang befunden wurde, vgl. Ramming, VersR 1992, 418. 17 Schnorbus, Die Bedeutung und Grenzen der wettbewerblichen Selbstregulierung durch Verbände in der Versicherungswirtschaft, VersR 1999, 937. 18 Schnorbus, Die Bedeutung und Grenzen der wettbewerblichen Selbstregulierung durch Verbände in der Versicherungswirtschaft, VersR 1999, 943.

80

Alexander Djazayeri

dass die Möglichkeiten der wettbewerblichen Selbstregulierung durch Verbände über das Schutzniveau des geltenden Wettbewerbsrechts gering seien, da die deutsche und europäische Kartellrechtsordnung den Rahmen und die Grenzen des Wettbewerbsrechts vorgeben. Demnach solle der Staat, also keine privaten Verbände, Wettbewerbsregelungen vorgeben.19 In diese Richtung geht auch die Rechtsprechung des BGH, welcher die Ansicht vertritt, dass »verbandliche Wettbewerbsregelungen allenfalls eine indizielle Bedeutung für die Frage der Unlauterkeit«20 haben. Verbandswettbewerbsregelungen fehle demnach normative Verbindlichkeit und sie hätten daher auch keinen Rechtsnormencharakter. Eine derart limitierte Bedeutung von Wettbewerbsregelungen steht jedoch im Widerspruch zu der vom Gesetzgeber des Kartellrechts ausdrücklich gewollten Befugnis zur verbandlichen Regelsetzung, welche in den §§ 24ff. GWB zum Ausdruck kommt.21 Nach der Wertung der §§ 24, 26 GWB entfalten kartellbehördlich anerkannte Wettbewerbsregelungen rechtliche Wirkung. So wurden auch die Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft in ihrer Version von 2006 vom BKartA geprüft und am 17. 7. 2006 anerkannt. Mit Veröffentlichung im Bundesanzeiger am 20. 7. 2006 sind sie in Kraft getreten. Das BKartA hat die Wettbewerbsrichtlinien in ihrer Fassung von 2006 anerkannt, da sie im Rahmen der §§ 24ff. GWB eingeräumten Rechtsmacht normkonkretisierend sind. Sie belegen somit, dass verbandliche Wettbewerbsregelungen durchaus geeignet sind, einen Beitrag zur Konkretisierung staatlich gesetzten Wettbewerbsrechts zu leisten.22

2.

Der Verhaltenskodex des GDV für den Vertrieb von Versicherungsprodukten

a)

Allgemeines

Als Beispiel für Selbstregulierung im Bereich des Versicherungsvertriebsrechts kann der Verhaltenskodex des GDV für den Vertrieb von Versicherungsprodukten genannt werden. Der Verhaltenskodex für den Versicherungsvertrieb ist eine freiwillige Selbstverpflichtung der Versicherungswirtschaft, die eine hohe

19 Schnorbus, Die Bedeutung und Grenzen der wettbewerblichen Selbstregulierung durch Verbände in der Versicherungswirtschaft, VersR 1999, 943. 20 BGH v. 7. 2. 2006, GRUR 2006, 775. 21 Paschke, Die kartell- und wettbewerbsrechtliche Bedeutung der Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft, Liber amicorum für Gerrit Winter, 2007, 115. 22 Paschke, Die kartell- und wettbewerbsrechtliche Bedeutung der Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft, Liber amicorum für Gerrit Winter, 2007, 127.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

81

Qualität der Kundenberatung sicherstellen soll. Entwickelt wurde der GDVVerhaltenskodex im Jahr 2013. Bereits im Jahr 2010 wurde ein erster Verhaltenskodex verabschiedet, in dem die Versicherungswirtschaft durch einen selbstverpflichtenden Kodex Verhaltensmaßstäbe für den Vertrieb von Versicherungsprodukten festlegte. Er hat jedoch in der Öffentlichkeit kaum Beachtung gefunden. Aufgrund kritischer Berichterstattung der Presse, z. B. in Bezug auf die »Budapest-Affäre« und des schlechten Rufs der Versicherungsvertriebswirtschaft sah sich der GDV veranlasst, die Fassung von 2010 zu modifizieren und zu verschärfen.23 Ein weiterer Kritikpunkt waren die fehlenden Sanktionen für das Versicherungsunternehmen bei Nichteinhaltung der Regelungen. Er wurde somit ab 2013 insbesondere dahingehend verschärft, als die unternehmensinterne Umsetzung durch einen unabhängigen Wirtschaftsprüfer geprüft und bestätigt werden musste.24 Die jüngste Version des Kodex trat am 25. 9. 2018 in Kraft.25 Der Kodex stellt Verhaltensmaßstäbe für den Vertrieb von Versicherungspro transparent dar. Er gilt für alle Formen des Versicherungsvertriebs gegenüber Verbrauchern und beschreibt einen Rahmen von gemeinsamen Normen und Werten, den die Versicherungsunternehmen, die dem Kodex beitreten, im Interesse ihrer Kunden teilen. Die beigetretenen Versicherungsunternehmen verpflichten sich, die Regeln dieses Kodex in ihren Grundsätzen zu verankern. Sie konkretisieren deren Ausgestaltung und passen sie an ihr Geschäftsmodell an. Die Ableitung und Entwicklung unternehmensindividueller Maßnahmen obliegt den einzelnen Versicherungsunternehmen.26 Auf der Homepage des GDV sind die dem Kodex beigetretenen Versicherungsunternehmen veröffentlicht, aktuell sind es 201 Versicherungsunternehmen. Beitreten können alle in Deutschland ansässigen Versicherungsunternehmen, d. h. AGs, Versicherungsvereine, öffentlich-rechtliche Versicherer, aber auch die deutschen Niederlassungen ausländischer Versicherer.27 Anwendbar ist der Kodex nur für diese beigetretenen Versicherungsunternehmen. Diese sollen die Ausgestaltung der Regeln konkretisieren und sie an ihr Geschäftsmodell anpassen.

23 Reusch, Der Verhaltenskodex für den Vertrieb von Versicherungsprodukten, VersR 2015, 1197. 24 Reusch, Der Verhaltenskodex für den Vertrieb von Versicherungsprodukten, VersR 2015, 1197. 25 Die Neufassung war notwendig geworden, weil mit der Umsetzung der europäischen Vertriebsrichtlinie (IDD) ein neuer Rechtsrahmen in Kraft getreten ist. Ziel, Anspruch und grundsätzlicher Inhalt des Kodex sind unverändert. 26 GDV, Selbstverständnis, https://www.gdv.de/de/themen/news/verhaltenskodex-fuer-den-ver trieb-11518, abgerufen am 15. 3. 2021. 27 Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, 2020, Rn. 258.

82 b)

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Überblick über den Kodex

Der Kodex soll schwerpunktmäßig dem Verbraucherschutz dienen. Der Anwendungsbereich umfasst daher nur das Privatkundengeschäft. Industrie- und Firmenkundenbereiche sind ausgenommen.28 Der Kodex beinhaltet elf Vorgaben. Vorangestellt ist ihm ein allgemeiner Teil. Hierin wird betont, dass Versicherungsschutz ein wichtiger Bestandteil der Risikoabsicherung und Vorsorge im Alltag ist und Versicherungsunternehmen demnach eine Verantwortung gegenüber Verbrauchern und der Gesellschaft haben. Dieser Verantwortung werden sie gerecht, indem sie eine Vielfalt von Produkten entwickeln und anbieten, die auf die Bedürfnisse der Kunden zugeschnitten sind. Dem Versicherungsvertrieb kommt als Bindeglied zwischen Kunden und Versicherungsunternehmen eine besondere Bedeutung zu. Maßgeblich ist zudem die Qualität der Beratung, da Versicherungsprodukte in hohem Maß erklärungsbedürftig sind und die Beratung von einem Vertrauensverhältnis geprägt ist. Die Beratung soll die Kenntnisse, den individuellen Bedarf nach Risikoschutz, die langfristigen Vorsorgeziele sowie die finanziellen Verhältnisse und die Risikotragfähigkeit der Kunden berücksichtigen. Der Kodex ist entwickelt worden, um das Vertrauensverhältnis bei Versicherungen zu sichern und zu stärken.29 Nr. 1 des Kodex legt fest, dass die Bedürfnisse des Kunden immer im Mittelpunkt stehen. Diesem Bekenntnis folgt insbesondere, dass die Beachtung der berechtigten Interessen und Wünsche der Kunden Vorrang vor dem Provisionsinteresse der Vertriebe haben. Nr. 2 des Kodex sieht vor, dass der Vermittler dem Kunden seinen Status erklären muss. Dieses setzt Transparenz voraus, da der Vermittler unaufgefordert klar und offen über Art und Quelle seiner Vergütung berichten muss. Wer Versicherungen vertreibt, muss die Ziele, Wünsche und Bedürfnisse der Kunden zum Versicherungsschutz dem Anlass entsprechend ermitteln, analysieren und bewerten. Entsprechend muss dies jede Empfehlung gem. Nr. 3 des Kodex berücksichtigen. Die Versicherungsunternehmen sollen die Beratung dabei bestmöglich unterstützen, indem sie die dafür erforderlichen, sachgerechten Informationen zur Verfügung stellen. Jede Empfehlung zu einem Vertragsschluss soll zudem dokumentiert werden (Nr. 4 des Kodex).

28 Reusch, Der Verhaltenskodex für den Vertrieb von Versicherungsprodukten, VersR 2015, 1201. 29 Verhaltenskodex des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft für den Vertrieb von Versicherungsprodukten, https://www.gdv.de/resource/blob/10302/551f3e8 1d903 f48d890800037 fd22251/verhaltenskodex-fuer-den-vertrieb-vom-25-09-2018-data.p df, abgerufen am 15. 3. 2021.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

83

Den Versicherungsunternehmen wird in Nr. 5 des Kodex aufgegeben, Versicherungsprodukte bedarfsgerecht zu entwickeln und zu vertreiben. Nicht bedarfsgerecht sind beispielsweise Produkte, die erkennbar nicht zu den Lebensumständen der Kunden passen. Versicherungsunternehmen und Vermittler sind ferner verpflichtet, die Kunden auch nach Vertragsschluss weiter zu beraten und betreuen, insbesondere im Schaden- und Leistungsfall (Nr. 6 des Kodex). Nr. 7 des Kodex legt Anforderungen an die Auswahl von Mitarbeitern und Vertriebspartnern bei Versicherungsunternehmen fest, da die Integrität und die Bindung an die Grundsätze eines ehrbaren Kaufmanns neben einer guten Qualifikation als Basis einer guten Geschäftsbeziehung angesehen werden. Versicherungsunternehmen sollen daher nur mit gut qualifizierten und redlichen Vermittlern zusammenarbeiten, welches u. a. durch Weiterbildungsnachweise sichergestellt werden soll. Art. 8 des Kodex hebt hervor, dass die Unabhängigkeit von Vermittlern gewahrt sein muss, was von den Versicherungsunternehmen überwacht werden muss. Kunden-Feedback, insbesondere in Form von Beschwerden, ist eine hilfreiche Quelle für Verbesserungen. Entsprechend müssen die Versicherungsunternehmen über ein systematisches Beschwerdemanagement und ein Ombudsmannsystem verfügen. Nach Nr. 10 des Kodex müssen Versicherungsunternehmen für sich und ihre Mitarbeiter Compliance-Vorschriften vorhalten. Damit wollen sie Missstände im Vertrieb erkennen, um darauf reagieren zu können. Insbesondere sollen die Themen Korruptionsbekämpfung, Bestechung und Bestechlichkeit, klarer Umgang mit Geschenken und Einladungen und sonstigen Zuwendungen, klare Regelungen in Bezug auf Werbemaßnahmen und Unternehmensveranstaltungen sowie Vorschriften zur Vermeidung von Kollisionen von privaten und geschäftlichen Interessen Inhalt der Compliance-Vorschriften sein. Auch Datenschutz ist schwerpunktmäßig Gegenstand dieser Regelung. Die Versicherungswirtschaft hat in ihren Verhaltensregeln zum Datenschutz (Code of Conduct) klare Regeln zum Umgang mit persönlichen und vertraulichen Daten und zur Einhaltung der datenschutzrechtlichen Vorschriften getroffen.30 Die Versicherungsunternehmen verpflichten daher ihre Vermittler dazu, dem Schutz der personenbezogenen Daten der Kunden höchste Aufmerksamkeit widmen und allen Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit gerecht zu werden. Die Aufzählung der relevanten Compliance-Themen ist nicht als abschließend zu werten, sodass es Aufgabe des jeweiligen Versicherungsunternehmens ist, zu prüfen, welche weiteren Bereiche hiervon umfasst sind und ob hier Vorschriften 30 Siehe hierzu ausführlich unter III.3.

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zu verfassen sind.31 Unklar war zunächst, wie diese Compliance-Vorschriften verbindlich in die Vereinbarungen mit Versicherungsmaklern aufgenommen werden können. Hier hat sich jedoch durchgesetzt, dass es ausreichend ist, wenn Vermittler selbst über eigene Compliance-Regeln verfügen, die den Anforderungen des Kodex entsprechen. Wenn ein Makler Mitglied in einem Vermittlerverband ist, so kann er dessen aufgestellte Compliance-Regeln anerkennen, um so den Kodexanforderungen gerecht zu werden.32 Nr. 11 des Kodex schließlich regelt, dass der Kodex verbindlich ist. In diesem Zusammenhang ist vorgesehen, dass die beigetretenen Versicherungsunternehmen die Umsetzung der Regelungen des Kodex regelmäßig, mindestens alle drei Jahre von unabhängigen Stellen prüfen lassen.

3.

Der Code of Conduct des GDV

a)

Allgemeines

Im Bereich des Datenschutzes hat der GDV einen Datenschutzkodex (Code of Conduct) erarbeitet. Damit übernehmen die beitretenden Unternehmen im Rahmen ihrer Datenschutz-Compliance eine Selbstverpflichtung, die im Code of Conduct beschriebenen Inhalte zum Datenschutz und zur Datensicherheit einzuhalten. Der Code of Conduct ist ein Beispiel dafür, wie die Wirtschaft bestehende Gesetze und Regelungen im Rahmen einer Selbstregulierung konkretisiert und ergänzt. Durch den Code of Conduct werden die Regelungen der DS-GVO und weiterer Datenschutzvorschriften somit nicht verdrängt. Diese sind weiterhin anwendbar. Aufgrund der Selbstverpflichtung bindet der Code of Conduct jedoch die Unternehmen.33 In der Einleitung zu den Verhaltensregeln34 wird hervorgehoben, dass die Versicherungswirtschaft darauf angewiesen ist, in großem Umfang personenbezogene Daten der Versicherten zu verwenden. Diese werden zur Antrags-, Vertrags- und Leistungsabwicklung erhoben, verarbeitet und genutzt, um Versicherte zu beraten und zu betreuen sowie das zu versichernde Risiko einzuschätzen. Versicherungen können dabei heute ihre Aufgaben nur noch mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung erfüllen. Die Wahrung der informatio31 Reusch, Der Verhaltenskodex für den Vertrieb von Versicherungsprodukten, VersR 2015, 1201. 32 Reusch, Der Verhaltenskodex für den Vertrieb von Versicherungsprodukten, VersR 2015, 1201; Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, 2020, Rn. 267. 33 Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, 2020, Rn. 36. 34 GDV, Verhaltensregeln für den Umgang mit personenbezogenen Daten durch die deutsche Versicherungswirtschaft, https://www.gdv.de/resource/blob/23938/c391b1dd04b41448fdb99 918ce6d03bf/download-code-of-conduct-data.pdf, abgerufen am 16. 3. 2021.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

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nellen Selbstbestimmung und der Schutz der Privatsphäre sowie die Sicherheit der Datenverarbeitung sind für die Versicherungswirtschaft ein Kernanliegen, um das Vertrauen der Versicherten zu gewährleisten. Der Code of Conduct findet primär Anwendung auf das Erstversicherungsgeschäft. Beitrittsberechtigt sind daher Erstversicherer, Pensionskassen und Pensionsfonds. Der Code of Conduct hat zwar auch mittelbar Auswirkungen auf Rückversicherung und Art. 17 regelt die Datenübermittlung an Rückversicherer. Ein Beitritt zum Code of Conduct von Rückversichern ist dennoch nicht vorgesehen.35 Da die Verhaltensregeln geeignet sein müssen, die Datenverarbeitung aller beigetretenen Unternehmen zu regeln, sind sie allgemein formuliert. Die Systematik sieht vor, dass zusätzliche Einwilligungen möglichst entbehrlich gemacht werden. Grundsätzlich sind solche nur noch für die Verarbeitung von besonders sensiblen Arten personenbezogener Daten, z. B. Gesundheitsdaten, erforderlich. Für deren Verarbeitung hat der GDV gemeinsam mit den zuständigen Aufsichtsbehörden Mustererklärungen mit Hinweisen zu deren Verwendung erarbeitet. b)

Beispielhafte Regelungen des Code of Conduct

Der Code of Conduct regelt den Umgang mit personenbezogenen Daten in der Versicherungswirtschaft. Er umfasst 21 Artikel. Beispielhaft sollen die folgenden Regelungen hervorgehoben werden: Art. 7 des Code of Conduct regelt die Grundsätze der Datenerhebung. Personenbezogene Daten müssen demnach in nachvollziehbarer Weise erhoben werden. Die Mitwirkungspflichten nach §§ 19, 31 VVG sind bei Versicherten und Antragstellern zu berücksichtigen. Bei weiteren Personen werden sie nur erhoben und verarbeitet, wenn es zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen oder zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist. Art. 9 Code of Conduct regelt die Verarbeitung von Stammdaten (also beispielsweise Name, Adresse, Kontoverbindung und Versicherungsnummer) in der Unternehmensgruppe. Dies ermöglicht den Unternehmen eine zentralisierte Bearbeitung von bestimmten Verfahrensabschnitten im Geschäftsablauf (z. B. Telefonate, Post und Inkasso) in einem von Mitgliedern der Gruppe gemeinsam nutzbaren Datenverarbeitungsverfahren. Stammdaten dürfen dabei aus gemeinsam nutzbaren Datenverarbeitungsverfahren nur weiterverarbeitet werden, soweit dies für den jeweiligen Zweck erforderlich ist. Dieses muss technisch und organisatorisch zu gewährleistet werden. 35 Vomhof, Verhaltensregeln nach § 38a BDSG, PinG 2014, 213.

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Die Unternehmen müssen nach Art. 4 Abs. 2 Code of Conduct ein Datenschutz- und Datensicherheitskonzept implementieren. Dabei ist der Datenschutzbeauftragte einzubinden, der über die erforderliche Sachkunde verfügt. Das Konzept soll im Einzelnen beschreiben, wie die Anforderungen an den Datenschutz und die IT-Sicherheit im Unternehmen umgesetzt werden. Es bietet sich in diesem Zusammenhang an, die anerkannten Standards der IT-Grundschutz-Kataloge des deutschen Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zu verwenden. Die Vorschrift im Code of Conduct verlangt allerdings nicht zwingend ein zertifiziertes Integriertes Sicherheitsmanagementsystem (ISMS) im Sinne von ISO/IEC 27001 oder den IT-GrundschutzKatalogen des BSI.36 Die Datenverarbeitung durch Dienstleister ist in Art. 21ff. Code of Conduct geregelt, wobei zwischen Dienstleistern mit und ohne Auftragsverarbeitung unterschieden wird. Bei der Auftragsverarbeitung dürfen nur solche Dienstleister ausgewählt werden, die hinreichende Garantien dafür bieten, dass geeignete technische und organisatorische Maßnahmen so durchgeführt werden, dass die Verarbeitung im Einklang mit der DS-GVO erfolgt und den Schutz der Rechte der betroffenen Personen gewährleistet. Unternehmen und Dienstleister vereinbaren, dass Betroffene, welche durch die Übermittlung ihrer Daten an den Dienstleister oder die Verarbeitung ihrer Daten durch diesen einen Schaden erlitten haben, berechtigt sind, von beiden Parteien Schadensersatz zu verlangen, Art. 22 Abs. 5 Satz 1 Code of Conduct. Der datenschutzrechtliche Mehrwert dieser Vorschrift besteht darin, dass der Haftungsbeitritt des Unternehmens den Betroffenen die Möglichkeit gibt, sich auch bei einem allein vom verarbeitenden Dienstleister als verantwortliche Stelle verursachten Schaden an das Unternehmen als Vertragspartner zu wenden.37 Gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 Code of Conduct werden die Unternehmen Beschwerden von Versicherten oder sonstigen Betroffenen wegen Verstößen gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen sowie den Code of Conduct zeitnah bearbeiten und innerhalb einer Frist von 14 Tagen beantworten oder einen Zwischenbescheid geben. Die Einrichtung eines fristgebundenen Beschwerdemechanismus stellt ebenfalls einen datenschutzrechtlichen Mehrwert dar. Mit der Novellierung des Code of Conduct war es notwendig, die umfangreichen Regelungen der DS-GVO zu den Betroffenenrechten in die Verhaltensregeln zu übernehmen und zu konkretisieren.38 Diese sind nun in den Art. 23ff. Code of Conduct zu finden. Neben den bekannten Rechten (z. B. Auskunft, Berichtigung und Löschung) sind auch neue Rechte hinzugekommen, wie das 36 Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, 2020, Rn. 38. 37 Polenz, Datenschutz in der Versicherungswirtschaft, VuR 2015, 418. 38 Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, 2020, Rn. 38.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

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Recht auf Datenübertragbarkeit (Art. 23a Code of Coduct). Gemäß Art. 24d Code of Conduct sollen die Unternehmen den Betroffenenrechten möglichst unverzüglich, jedenfalls innerhalb eines Monats nach Eingang des Antrags auf Ausübung des Rechts, nachkommen.

4.

Selbstregulierung in der Rückversicherung

a)

Allgemeines

Wenn sich Versicherungsunternehmen gegen große Risiken absichern wollen, suchen sie Schutz bei Rückversicherern. Dieses Rückversicherungsmodell entstand bereits im Jahr 1842 nach einem Großbrand in Hamburg, bei dem die städtische Brandversicherung nicht imstande war, für die berechtigten Ansprüche der Versicherungsnehmer einzustehen. Die klassische Funktion der Rückversicherung besteht darin, ein Versicherungsunternehmen gegen die Inanspruchnahme durch seine Versicherungsnehmer zu versichern. § 779 Abs. 1 HGB in der bis zum 1. Januar 2008 gültigen Fassung definierte die Rückversicherung als Versicherung, welche »die von dem Versicherer übernommene Gefahr« zum Gegenstand hat. Die Rückversicherung dient damit der sekundären Risikoteilung und ermöglicht es einem Versicherungsunternehmen, ein versichertes Risiko entweder teilweise oder vollständig auf ein anderes Rechtssubjekt, den Rückversicherer, zu übertragen. Im Bereich der klassischen Rückversicherung werden die proportionale sowie die nicht-proportionale Rückversicherung unterschieden. Während bei der proportionalen Rückversicherung das rückversicherte Risiko bezüglich Prämie und Leistung im Schadensfall nach einem festen Anteil zwischen Rück- und Erstversicherer aufgeteilt wird, bestimmt sich die Leistung des Rückversicherers bei der nicht-proportionalen Rückversicherung allein nach der Höhe des eingetretenen Schadens bei dem Erstversicherer.39 Gemäß § 209 VVG sind die Bestimmungen des VVG ausdrücklich nicht auf die Rückversicherung anwendbar. Mangels Kodifizierung finden sich die rechtlichen Grundlagen des Rückversicherungsrechts daher, neben den Vorschriften des allgemeinen Vertragsrechts, insbesondere in den Rückversicherungsbräuchen. Die Rückversicherung ist daher noch stärker als die Erstversicherung von Selbstregulierung geprägt.

39 Liebwein, Klassische und moderne Formen der Rückversicherung, 2009, 67ff.

88 b)

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Rückversicherungsbrauch

Die Verkehrssitte wird üblicherweise durch Handelsbräuche ergänzt, die automatisch Anwendung auf Verträge des jeweiligen Geschäfts finden und für ihre Nichtanwendung durch explizite vertragliche Vereinbarung ausgeschlossen werden müssen. Sie wirken unabhängig von der Kenntnis und dem Unterwerfungswillen durch die Parteien.40 Handelsbräuche finden somit als ungeschriebenes Rückversicherungsrecht grundsätzlich immer Anwendung.41 Da es sich bei der Rückversicherung um ein äußerst internationales Modell handelt, werden die wesentlichen Handelsbräuche auch international anerkannt.42 aa) Folgepflicht und Schicksalsteilung Zu den wesentlichen Grundsätzen, die auf die Rückversicherung anwendbar sind, gilt die Schicksalsteilung und Folgepflicht (Follow the fortunes/follow the settlements). Die Schicksalsteilungspflicht bindet den Rückversicherer, das aus dem Originalrisiko folgende versicherungstechnische und versicherungsvertragliche Schicksal seines Zedenten zu teilen und mitzutragen.43 Das kaufmännische Risiko des Zedenten ist nicht Gegenstand der Schicksalsteilung. Hingegen bindet die Folgepflicht den Rückversicherer im Rahmen und in den Grenzen seiner Beteiligung an einem Rückversicherungsvertrag an die Ergebnisse von Entscheidungen, die ein Zedent mittels seiner Befugnis zu einer ordnungsgemäßen Geschäftsführung trifft.44 Grenzen der Folgepflicht sind im Wesentlichen nur gegeben, wenn der Erstversicherer gegen seine Pflicht zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung verstößt oder der Erstversicherer Zahlungen tätigt, für die keine Leistungspflicht besteht.45

40 Schwepcke, in Langheid/Wandt, Münchner Kommentar zum VVG, 2017, Rn. 26. 41 Franz/Keune, Schiedsvereinbarungen in Rückversicherungsverträgen – Fragen des Schiedsverfahrensrechts und des materiellen Rückversicherungsrechts, VersR 2013, 21. 42 Es gibt jedoch nationale Unterschiede in der Auslegung. Das für den englischsprachigen Rechtsraum eingeführte Prinzip, dass insbesondere im Vorfeld des Vertragsschlusses zwischen den künftigen Parteien eines Rückversicherungsvertrags nicht nur »Good Faith«, sondern »Utmost Good Faith« (uberrima fides), also ein überragendes Treueverhältnis zu herrschen habe, wurde weder in das deutsche Versicherungsvertragsrecht noch vollinhaltlich in die auf Rückversicherung anwendbaren Handelsbräuche übernommen und begründet damit keine eigene Vertragspflicht, siehe Schwepcke, in Langheid/Wandt, Münchner Kommentar zum VVG, 2017, Rn. 20. 43 Schwepcke, in Langheid/Wandt, Münchner Kommentar zum VVG, 2017, Rn. 34. 44 Gerathewohl, Rückversicherung Band I, 1976, 525. 45 Eine über die Folgepflicht hinausgehende Verpflichtung wird durch die Vereinbarung einer. sog. »Back-to-Back«-Klausel begründet. Durch diese wird eine kongruente Deckung vereinbart, d. h. der Rückversicherer folgt dem Erstversicherer unabhängig von den Ursachen der Haftung. Eine »Back-to-Back«-Regelung zählt jedoch nicht zu Handelsbräuchen.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

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bb) Geschäftsführungspflicht Der Handelsbrauch des Geschäftsführungsrechts beinhaltet, dass der Zedent die Pflicht hat, das rückversicherte Geschäft unter Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt abzuwickeln und zu verwalten. Hierbei ist der Sorgfaltsstandard anzulegen, den der Zedent in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt. Darunter fallen die Verwaltung der Versicherungsverträge, die Festlegung der AVB, die Kalkulation der Prämien und die Schadenabwicklung.46 Unbeabsichtigte Irrtümer und Versehen des Zedenten bei der Geschäftsführung führen nicht zum Entfallen des Rückversicherungsschutzes, vorsätzliche oder grob fahrlässige hingegen schon. cc) Anzeigepflichten Da der Zedent grundsätzlich mehr Informationen zur Verfügung hat und der Rückversicherer von dessen Entscheidungen abhängig ist, hat der Rückversicherer bestimmte Informationsrechte. Er kann daher sämtliche Informationen vom Zedenten über den Inhalt und die Umstände, die das Rückversicherungsverhältnis betreffen, verlangen. Die Anzeigepflichten sind jedoch lediglich vorvertraglich, für die laufende Vertragsbeziehung bestehen sie nicht.47 Anstelle der Anzeigepflicht folgt jedoch während der Vertragsbeziehung die Pflicht, dem Rückversicherer Akteneinsicht zu gewähren. Das Recht zur Akteneinsicht wird dem Rückversicherer als Ausgleich für die sehr weitgehende Geschäftsführungsbefugnis des Erstversicherers gewährt.48 In der Praxis wird von dem Recht zur Akteneinsicht jedoch kaum Gebrauch gemacht, um die Geschäftsbeziehung hierdurch nicht zu belasten. dd) Wahrheitspflicht Zum Handelsbrauch zählt weiterhin, dass der Erstversicherer verpflichtet ist, dem Rückversicherer wahrheitsmäßige Angaben zu machen. Tut er dies nicht, hat der Rückversicherer das Recht, vom Vertrag zurückzutreten, sofern die unrichtige Angabe kausal für die Entscheidung des Rückversicherers war, dem Vertrag abzuschließen. Am Beispiel der Wahrheitspflicht zeigt sich, wie Rechtsbräuche im Rückversicherungsrecht entsprechend der nationalen Rechtsvorstellungen angewandt werden.49 Die Wahrheitspflicht ist dem englischen Verbot von »misrepresentation« angelehnt. Da die im englischen Recht vorgesehene Verpflichtung zur Berücksichtigung größtmöglicher Umsicht und Treue gegenüber dem anderen Vertragspartner (Utmost Good Faith) im deutschen Recht nicht kodi46 Franz/Keune, Schiedsvereinbarungen in Rückversicherungsverträgen – Fragen des Schiedsverfahrensrechts und des materiellen Rückversicherungsrechts, VersR 2013, 21. 47 Schwepcke, in Langheid/Wandt, Münchner Kommentar zum VVG, 2017, Rn. 47. 48 Schwepcke, in Langheid/Wandt, Münchner Kommentar zum VVG, 2017, Rn. 48. 49 Siehe hierzu näher unten unter 4.c).

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fiziert ist und auch keinen Handelsbrauch darstellt, sondern vielmehr der Grundsatz von Treu und Glauben in seiner vielschichtigen Umsetzung im deutschen Versicherungsvertragsrecht gilt, unterscheiden sich Voraussetzungen und Rechtsfolgen von »misrepresentation« und Verletzung der Wahrheitspflicht signifikant.50 c)

Internationale Regelungen: Die »Principles of Reinsurance Contract Law (PRICL) 2019«

Obwohl Rückversicherung ein internationales Geschäftsmodell ist, wird das Rückversicherungsrecht national geregelt. Das betrifft wesentliche Regelungen in Bezug auf die Auslegung von Rückversicherungsverträgen oder Rückversicherungsbräuchen. Insbesondere die Rückversicherungsbräuche können sich von Jurisdiktion zu Jurisdiktion erheblich unterscheiden.51 Die Project Group on Principles of Reinsurance Contract Law52 setzte sich daher das Ziel einheitliche Standardbedingungen zu erarbeiten, die die Probleme der unterschiedlichen nationalen Auslegung und Handhabung lösen und damit größere Rechtssicherheit herstellen sollten. Die PRICL sollen dabei nicht-bindendes sog. »soft law« sein, d. h. sie sind nur dann anwendbar, wenn sie von den Vertragsparteien explizit einbezogen werden. Die PRICL sind in fünf Kapitel aufgebaut.53 Kapitel 1 regelt allgemeine Vorgaben in Bezug auf die Anwendbarkeit der PRICL. Darauf folgen in Kapitel 2 die allgemeinen Verpflichtungen von Zedent und Rückversicherer, so insbesondere die Verpflichtung zum »utmost good faith«-Verhalten, Offenlegungspflichten, Vertraulichkeit und Folgepflicht sowie Schicksalsteilung. Kapitel 3 sieht Regelungen in Bezug auf Rechtsmittel bei Vertragsverletzungen vor. Kapitel 4 und 5 befassen sich schließlich mit der Schadenallokation und Schadenaggregation.54 Da die PRICL noch vergleichsweise jung sind, ist die praktische Akzeptanz und ihre Verwendung im Markt derzeit noch nicht umfassend zu bewerten. Die Idee, standardisierte Bedingungen für das Rückversicherungsverhältnis unabhängig von nationalen Rechtsauslegungen zu etablieren, ist jedoch begrüßenswert.

50 Schwepcke, in Langheid/Wandt, Münchner Kommentar zum VVG, 2017, Rn. 52. 51 Gerathewohl, Reinsurance: Principles and Practice, Bd. I, 1980, 488. 52 Eine Projektgruppe, die 2016 als Joint Venture der Universitäten Zürich, Frankfurt am Main und Wien gegründet wurde. 53 Principles of Reinsurance Contract Law (PRICL) 2019, https://www.ius.uzh.ch/dam/jcr:c5e 36159-2cbc-4686-83ce-1067bc4704a3/PRICL_1.0_2019.pdf, abgerufen am 20. 3. 2021. 54 Ausführlich zum Inhalt der PRICL, siehe Bork/Wandt, Der moderne Guidon de la Mer: die Principles of Reinsurance Contract Law (PRICL), VersR 2019, 1113.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

IV.

91

Streitbeilegungsmechanismen

Ein weiterer Aspekt der Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft stellt die Prozeduralisierung dar, welche die autonome Setzung von Verfahrensregelungen zur Klärung von Meinungsverschiedenheiten oder Streitigkeiten beinhaltet.55 Als Beispiele für selbstregulierende Streitbeilegungsregelungen sollen im Folgenden die Institution des Versicherungsombudsmann und die, insbesondere in der Rückversicherung, weit verbreitete Schiedsgerichtsbarkeit dargestellt werden.

1.

Versicherungsombudsmann

a)

Allgemeines

Die Institution des Ombudsmanns ist ein wesentlicher Bestandteil der Selbstregulierung der Versicherungswirtschaft. Die Idee, Schlichtungsstellen für Kundenbeschwerden einzurichten, stammt ursprünglich aus Skandinavien. Dort gibt es bereits seit 1900 Ombudsmänner, die als Sprachrohr des Bürgers im Verhältnis zur öffentlichen Verwaltung fungieren.56 Mittlerweile gibt es dieses Prinzip in einer Vielzahl von Ländern und Bereichen der Wirtschaft. So wurde z. B. der Ombudsmann der privaten Banken (Bankenombudsmann) in Deutschland im Jahr 1992 ins Leben gerufen. Die deutsche Versicherungswirtschaft hat 2001 eine Einrichtung zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten zwischen Versicherungsnehmern und Versicherern sowie zwischen Versicherern und Vermittlern geschaffen. Die Institution des Versicherungsombudsmanns ist unabhängig und erfolgt kostenlos. Der Verein Versicherungsombudsmann e.V. wurde vom GDV gegründet und nahezu alle Mitgliedsunternehmen des Verbandes sind freiwillig beigetreten. Durch diesen Beitritt erkennen die Versicherungsunternehmen zum einen die Verfahrensordnung des Versicherungsombudsmannes, der zur außergerichtlichen Schlichtung der Streitigkeiten zwischen Versicherern und deren Kunden vom Verein berufen wird, als für sie verbindlich an (§ 5 Abs. 1 der Satzung).57 Zum anderen unterwerfen sie sich den Entscheidungen des Ombudsmannes im Rahmen der Verfahrensordnung (§ 5 Abs. 2 der Satzung). Darüber hinaus verpflichten sie sich, ihre Versicherungsnehmer auf die Möglichkeit der außergerichtlichen Streitbeilegung beim Ombudsmann hinzuweisen (§ 5 Abs. 3 der 55 Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 297. 56 Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht, 1995, 298. 57 Satzung des Vereins Versicherungsombudsmann e.V., Beschlussfassung vom 28. September 2020.

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Satzung). Neben dem Vorstand und Mitgliederversammlung verfügt der Verein gem. § 12 der Satzung über einen Beirat, der für die Arbeit des Vereins eine wichtige Rolle spielt.58 Der Ombudsmann wird vom Vorstand vorgeschlagen und ernannt, sofern der Beirat zustimmt. Hinsichtlich der persönlichen Voraussetzungen des Ombudsmanns sieht § 14 Abs. 1 der Satzung vor, dass der Ombudsmann über eine für die Schlichtung erforderliche Befähigung, Fachkompetenz und Erfahrung verfügen muss und ferner in den letzten Jahren vor seinem Amtsantritt nicht für ein Versicherungsunternehmen oder einen Interessenverband der Branche tätig gewesen sein darf. b)

Verfahren

Der Ombudsmann kann von Verbrauchern im Sinne des § 13 BGB angerufen werden. Die Beschwerde ist nach § 2 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Versicherungsombudsmanns (VomVO) zulässig, sofern die Beschwerde einen Anspruch aus einem Versicherungsvertrag, einem Vertrag, der in einem engen wirtschaftlichen Zusammenhang mit einem Versicherungsvertrag steht, einem Realkreditvertrag oder der Vermittlung oder der Anbahnung eines solchen Vertrags betrifft oder das Bestehen eines solchen Vertrags zum Gegenstand hat. Die Durchführung des Verfahrens ist nicht zulässig, wenn der Beschwerdeführer den Anspruch noch nicht beim Beschwerdegegner geltend gemacht hat (§ 1 Abs. 3 VomVO). Zudem kann ein Verfahren vor dem Ombudsmann nicht stattfinden, wenn der Wert der Beschwerde 100.000 Euro übersteigt. Eine weitere Unzulässigkeit ergibt sich dann, wenn die Beschwerde offensichtlich ohne Aussicht auf Erfolg ist oder mutwillig erscheint, z. B. weil der Anspruch bereits verjährt ist oder die Streitigkeit bereits beigelegt ist. Die Unzulässigkeit ist dabei vom Ombudsmann festzustellen. Die Beschwerde kann in jeder geeigneten Form beim Ombudsmann eingereicht werden. Durch die Einreichung wird die Verjährung des Anspruchs gehemmt. Gebühren oder Kosten fallen für den Verbraucher für die Einreichung und das Verfahren nicht an. Im Falle einer zulässigen Beschwerde ermittelt der Ombudsmann von Amts wegen und kann insbesondere weitere Stellungnahmen der Beteiligten anfordern. Er ist in seiner Beweiswürdigung frei, die Beweiserhebung ist jedoch auf den Urkundenbeweis beschränkt. Sofern das Verfahren nicht als unzulässig oder aus sonstigem Grund abgewiesen wird, endet es mit einer Entscheidung oder Empfehlung, welches abhängig vom Beschwerdewert ist (§ 10 VomVO). Bei einem Beschwerdewert bis zu 10.000 Euro erlässt er eine Entscheidung und bei 58 Scherpe, Der deutsche Versicherungsombudsmann, NVersZ 2002, 98.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

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einem Beschwerdewert von mehr als 10.000 Euro bis zu 100.000 Euro eine Empfehlung. Eine Entscheidung ist für den Versicherer, nicht aber für den Beschwerdeführer bindend. Die Empfehlung ist für beide Verfahrensbeteiligten nicht bindend. Die Einführung des Versicherungsombudsmanns ist für Verbraucher positiv. Hierdurch steht für viele Streitigkeiten eine Einrichtung zur außergerichtlichen Streitbeilegung zur Verfügung, die ohne Verlust an Rechten und ohne Kostenrisiko angerufen werden kann und zeit- und kostspielige Gerichtsverfahren vermieden werden können.

2.

Schiedsverfahren

a)

Grundlagen

Gerichtliche Streitigkeiten in der Rückversicherung werden nahezu ausschließlich im Rahmen von privaten Schiedsverfahren ausgetragen. Da fast alle Rückversicherungsverträge eine Schiedsklausel enthalten, sind Streitigkeiten vor ordentlichen Gerichten äußerst selten zu beobachten. Grundsätzlich handelt es sich bei der Rückversicherung um einen »friedlichen« Bereich, da das Geschäft in hohem Maße von Vertrauen abhängt. Unstimmigkeiten werden daher üblicherweise einvernehmlich und im Rahmen eines Geschäftskompromisses gelöst. Jedoch ist auch die Entwicklung im Rückversicherungsgeschäft von einer höheren Anonymität und dem Druck auf das Management gekennzeichnet, Ansprüche auch durchzusetzen. In jüngerer Zeit sind daher Schiedsverfahren vermehrt durchgeführt worden.59 Im Erstversicherungsbereich gibt es kaum Schiedsverfahren, hier ist das gängige Streitbeilegungsmittel, neben dem Versicherungsombudsmann, das Verfahren vor den staatlichen Gerichten. Lediglich im Bereich der W&I-Versicherungen überwiegen Schiedsklauseln, jüngst ist auch eine stärkere Tendenz zu Schiedsvereinbarungen bei D&O-Versicherungen zu beobachten. b)

Rahmenbedingungen für Schiedsverfahren

Die zwischen den Parteien vereinbarte Schiedsvereinbarung bildet die Grundlage für das Schiedsverfahren. Eine Schiedsvereinbarung ist nach der Legaldefinition des § 1029 ZPO eine Vereinbarung der Parteien, alle oder einzelne Streitigkeiten, 59 Franz/Keune, Schiedsvereinbarungen in Rückversicherungsverträgen – Fragen des Schiedsverfahrensrechts und des materiellen Rückversicherungsrechts, VersR 2013, 12.

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die zwischen ihnen in Bezug auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis vertraglicher oder nichtvertraglicher Art entstanden sind oder künftig entstehen, der Entscheidung durch ein Schiedsgericht zu unterwerfen. Der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten wird somit ausgeschlossen. Private Schiedsverfahren finden ihren Ursprung in der Privatautonomie, welche zugleich ihre Legitimation darstellt.60 Die Verfahren finden rein zwischen den Parteien statt, d. h. sowohl der Prozess als auch der Schiedsspruch sind nicht-öffentlich. Die Privatautonomie gilt sowohl in Bezug auf die Bildung eines Schiedsgerichts, namentlich was Anzahl, Bestellung und Qualifikation der Schiedsrichter anbelangt, als auch in Bezug auf die nähere Ausgestaltung des Schiedsverfahrens als solches. Eine für Rückversicherungsverträge typische Schiedsklausel regelt üblicherweise, dass das Schiedsgericht aus drei Schiedsrichtern bestehen soll, welche über ein bestimmtes Maß an Erfahrung in der Erst- oder Rückversicherungsindustrie verfügen müssen. Was die Ausgestaltung des Verfahrens anbetrifft, wird üblicherweise festgelegt, dass mit der Schiedsklage, welche das Verfahren eröffnet, zugleich der Schiedsrichter des Schiedsklägers zu benennen ist, woraufhin der Beklagte vier Wochen Zeit hat, seinen Schiedsrichter zu bestimmen. Beide Schiedsrichter wählen sodann einen Obmann; bei Nicht-Einigung kann der Obmann von einer festgelegten Institution (z. B. der IHK) benannt werden. Das Verfahren soll dabei nicht an prozessuale Vorgaben oder juristische Formalien gebunden sein, und das Urteil hat entsprechend der Gepflogenheit der Rückversicherungspraxis zu erfolgen. Mit einer solchen Schiedsklausel wird ein sog. Ad-hoc-Schiedsverfahren begründet. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass die Parteien im Vorhinein keine konkreten Regelungen über die nähere Ausgestaltung des Schiedsverfahrens vereinbaren, insbesondere in Bezug auf Form, Inhalt und Zustellung von Schriftsätzen, zulässige Beweismittel oder den Ablauf einer etwaigen Beweiserhebung. Die nähere Verfahrensausgestaltung wird vielmehr dann in das Ermessen des Schiedsgerichts gestellt.61 Im Gegensatz zu einem Ad-hoc-Schiedsverfahren steht die Vereinbarung eines institutionalisierten Schiedsverfahrens. Derzeit existiert eine Vielzahl von Organisationen, die die Förderung der Schiedsbarkeit auf dem internationalen Markt betreiben. Diese stellen etwa Schiedsverfahrensordnungen zur Verfügung, übernehmen die Organisation des Schiedsgerichts, stellen Schiedsrichter oder bieten Musterklauseln an. Bekannte Organisation sind die UNCITRAL62 oder die

60 Schütze, Schiedsgericht und Schiedsverfahren, 1991, 1. 61 Katschthaler/Topsch, in: Höra (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, 2017, § 34, Rn. 126. 62 Schiedsverfahrensregeln, https://uncitral.un.org/en/texts/arbitration/contractualtexts/arbitr ation, abgerufen am 20. 3. 2021.

Selbstregulierung in der Versicherungs- und Rückversicherungswirtschaft

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Internationale Handelskammer mit Sitz in Paris.63 Speziell für den Versicherungs- und Rückversicherungsbereich zu nennen ist ARIAS.64 In Bezug auf das Schiedsurteil ist hervorzuheben, dass es hierfür grundsätzlich keine Rechtsmittelmöglichkeit gibt. Eine Aufhebung des Schiedsspruchs kommt nur bei Vorliegen ganz gravierender Verfahrensmängel in Betracht (§ 1059 ZPO). Um Schiedsurteile zwangsvollstrecken zu können, ist eine Vollstreckbarkeitserklärung erforderlich. Für ausländische Schiedssprüche gilt dabei das UNÜbereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche vom 10. 6. 1958.65 c)

Vor- und Nachteile von Schiedsverfahren

Dass das Schiedsverfahren das Mittel der Wahl in der Rückversicherung ist, hat eine Vielzahl von Gründen. Gerade im internationalen Rechtsverkehr steht zunächst häufig im Vordergrund, dass die Vollstreckung von Schiedssprüchen international nach den Regeln des New Yorker Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche häufig leichter als die Vollstreckung von Gerichtsurteilen ist. Es wird ferner davon ausgegangen, dass das Schiedsverfahren gegenüber der staatlichen Justiz ein schnelleres und (deshalb) kostengünstigeres Verfahren bietet. Ferner zieht die Rückversicherungsbranche die Vertraulichkeit des privaten Schiedsverfahrens der öffentlichen Prozessführung vor. Zudem will man erreichen, dass mit Marktpraktikern besetzte Schiedsgerichte praxistaugliche Entscheidungen treffen.66 Diese Ziele werden nicht durchgehend erreicht, da z. B. die jüngere Praxis zeigt, dass Schiedsverfahren häufig nicht kostengünstiger sind und die Schnelligkeit um den Preis des Rechtsmittelverzichts ermöglicht wird und etwaige Fehlentscheidungen damit nicht korrekturfähig sind. Da Schiedsurteile nicht veröffentlicht werden, gibt es auch keine Präzedenzfälle, die zu einer gewissen Berechenbarkeit beitragen könnten.67 Abschließend führt das Erfordernis hinsichtlich der Qualifikation der Schiedsrichter in der Praxis dazu, dass nur relativ

63 Schiedsverfahrensregeln, https://iccwbo.org/dispute-resolution-services/arbitration/rules-of -arbitration/, abgerufen am 20. 2. 2021. 64 ARIAS = AIDA Reinsurance and Insurance Arbitration Society (AIDA = Association Internationale de Droit des Assurances) mit Ablegern in England (www.arias.org.uk), USA (www.arias-us.org) und inzwischen auch Deutschland (www.arias-deutschland.de). 65 BGBl. 1961 II 122. 66 Katschthaler/Topsch, in: Höra (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, 2017, § 34, Rn. 133. 67 Franz/Keune, Schiedsvereinbarungen in Rückversicherungsverträgen – Fragen des Schiedsverfahrensrechts und des materiellen Rückversicherungsrechts, VersR 2013, 13.

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wenige potenzielle Schiedsrichter diese Anforderungen erfüllen und es somit an Kapazität mangelt.68

V.

Ergebnis

Der Beitrag hat gezeigt, dass die Versicherungswirtschaft eine Vielzahl von selbst geschaffenen Standards kennt, die neben den rechtlichen Vorgaben gelten. Diese Selbstregulierung ist von der Versicherungsbranche intendiert, da davon ausgegangen wird, dass die Vermeidung staatlicher Regulierung in einigen Bereichen die Interessen von sowohl Versicherungsunternehmen als auch Versicherungsnehmern besser berücksichtigt. Wie in anderen Bereichen auch ist die Selbstregulierung in der Versicherungswirtschaft jedoch durch staatliche Regelungen begrenzt, wie z. B. dem Kartellrecht. Weit verbreitet ist Selbstregulierung in der Rückversicherung. Dort lässt sich konstatieren, dass insbesondere in der Wahl für die Schiedsgerichtsbarkeit, ein hohes Maß an Institutionalisierung als auch Professionalisierung zu beobachten ist, da selbst geschaffene Schiedsregelungen den Rahmen für die Entscheidung über selbst geschaffene Regelungen vorgeben. Selbstregulierung hat in der Versicherungsindustrie eine lange Geschichte und trotz zunehmender staatlicher Verrechtlichung in weiten Bereichen der Gesellschaft ist davon auszugehen, dass auch in Zukunft bestimmte Teilbereiche der Versicherungswirtschaft selbstreguliert werden. Dieses ist auch begrüßenswert, da durch sie nicht nur eine Prävention der Rechtskonformität unternehmerischen Handelns hergestellt wird, sondern generell den Versicherungsunternehmen das Recht erhalten bleibt, Teilbereiche autonom zu gestalten.

68 Katschthaler/Topsch, in: Höra (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, 2017, § 34, Rn. 134.

Stephan Meder / Claudia Kurkin

Ius non scriptum extraterritoriale als regulierte Selbstregulierung: Die Vermutung gegen Extraterritorialität zwischen ius strictum und aequitas

I.

Einleitung

›Extraterritorialität‹ bezeichnet eine Art der Anwendung nationalen Rechts auf Auslandssachverhalte, die in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Wissenschaft getreten ist. Obwohl der Begriff so alt ist wie das Recht selbst,1 sind bis heute viele Fragen umstritten. Insbesondere birgt das Thema Probleme mit Bezug zur Globalisierung und der Rechtsetzung außerhalb des Staates.2 Extraterritoriale Rechtsanwendung wird global immer häufiger von Staaten dadurch praktiziert, dass nationale Gesetze die extraterritoriale Anwendung anordnen (ius scriptum extraterritoriale). Aber auch staatliche Gerichte wenden Gesetze, welche zu ihrer territorialen Reichweite keine hoheitliche Aussage enthalten, durch richterliche Urteilskraft nach einer noch unbestimmten Methode auf Auslandssachverhalte an (ius non scriptum extraterritoriale).3 In dem durch selbstregulierende Kräfte beherrschten globalen und transnationalen Raum ist hierdurch eine neue Form des Rechts in Gestalt einer neuen Materie extraterritorial law im Entstehen begriffen.

1 Arnell, Law Across Borders, The Extraterritorial Application of United Kingdom Law, New York 2012, S. 3. 2 Zur Rechtsetzung außerhalb des Staates siehe Meder, Ius non scriptum – Traditionen privater Rechtsetzung, 2. Auflage 2009; ders., Doppelte Körper im Recht, Traditionen des Pluralismus zwischen staatlicher Einheit und transnationaler Vielheit, 2015, sowie zur Extraterritorialität Kurkin, Extraterritorialität. Eine Kategorie des transnationalen Rechts, 2021. 3 Zu der Thematik, ob auch Gewohnheitsrecht auf Auslandssachverhalte fortgebildet werden sollte Meyer, Extraterritorial Common Law: Does the Common Law Apply Abroad, in: The Georgetown Law Journal, Bd. 102, 2014, S. 301–350.

98 1.

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Judicial territorialism, judicial unilateralism und richterrechtliche Vermutung

Extraterritorialität steht in enger Verbindung mit unterschiedlichen Rechtsbegriffen, die wiederum auf verschiedenen staatsphilosophischen Prämissen beruhen. So lässt der eher ›positivistische‹ Ansatz nur staatliches, territorial wirkendes Recht und von Staaten geschaffenes Völkergewohnheitsrecht gelten. Im Unterschied dazu erkennt der mehr ›pluralistische‹ Ansatz auch Rechtsetzung außerhalb des Staates an. Als Beispiele lassen sich Gewohnheitsrecht oder Richterrecht, Wissenschaft oder Interpretation anführen.4 Hinzu kommt die ›Autonomie‹ – ein Terminus, der im 19. Jahrhundert aufkam und dazu dient, den Rechtsquellencharakter von Regeln zu beschreiben, die durch Organisationen und Verbände erzeugt werden. Dies verdient Hervorhebung, weil, wie noch zu zeigen sein wird, die im Forum der Vereinten Nationen als Resolution beschlossenen Sustainable Development Goals solchen Verbänden entsprungen sind. Von den unterschiedlichen Rechtsbegriffen aus ergibt sich eine für die gegenwärtigen Transnationalisierungsprozesse relevante und noch näher zu beleuchtende Verbindung zum staatspositivistischen judicial territorialism und dem mit dem Pluralismus harmonierenden judicial unilateralism. Diese beiden Denkrichtungen entstammen zwar dem US-amerikanischen Rechtsraum. Angesichts ihrer exemplarischen Bedeutung für die Analyse und Einordnung transnationaler Rechtsentstehungsprozesse lassen sie sich aber auch für die auf dem europäischen Kontinent geführten Diskussionen fruchtbar machen. Die judicial territorialists betonen die Territorialität. Sie erachten extraterritoriale Rechtsanwendung nur für zulässig, wenn der staatliche Gesetzgeber anordnet, dass ein Gesetz auf Auslandssachverhalte anwendbar ist. Insoweit sie damit eine radikale Beschränkung der zunehmend ausufernden extraterritorialen Praxis fordern, erweist sich ihr Ansatz für die Bewältigung der extraterritorialen Praxis als zu eng. Zu weitgehend ist dagegen der judicial unilateralism. Diese Lehre erachtet Extraterritorialität unabhängig von einem hoheitlichen Anwendungsbefehl oder völkerrechtlichen Konsens über die Voraussetzungen für extraterritoriale Rechtsanwendung wie dem Personalitätsprinzip oder der Auswirkungstheorie (effects doctrine) für zulässig. Während die judicial unilateralists staatliche Gerichte sogar explizit zu extraterritorialer Rechtsfortbildung auffordern, läuft ihr Ansatz Gefahr, extraterritoriale Praxis ausufern zu lassen. Um hier eine Grenze zu ziehen, orientiert sich ein dritter, überaus vielversprechender Ansatz an der widerlegbaren richterrechtlichen Vermutung gegen Ex4 Zu diesen Arten außerstaatlicher Rechtsquellen, Meder, Ius non scriptum – Traditionen privater Rechtsetzung, 2. Auflage 2009, S. 47–90, 129f.

Ius non scriptum extraterritoriale als regulierte Selbstregulierung

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traterritorialität (presumption against extraterritoriality). Die Vermutung schützt zum einen das global nach wie vor bestimmend wirkende Territorialitätsprinzip. Sie kann andererseits aber auch widerlegt werden, wodurch es möglich wird, im Einzelfall der zunehmend ins Bewusstsein dringenden Nachhaltigkeit gerecht zu werden. Um die extraterritoriale Problematik adäquat analysieren zu können, bildet das Territorium und die damit verknüpfte konventionelle Vorstellung von der territorialen staatlichen Rechtsetzung den Ausgangspunkt. Für viele moderne Probleme des Völkerrechts, die an die Voraussetzung des strengen Territorialitätsprinzips im Sinne eines fest umrissenen Staatsgebiets und an eine geschlossene ausschließliche Kompetenzsphäre mit einer zugeordneten Herrschaftsgewalt geknüpft sind, fehlt noch bis ins späte Mittelalter jeder Anhaltspunkt.5 Dies gilt insbesondere auch für bestimmte Anwendungsfälle des Interventionsbegriffs. Denn im Mittelalter waren es die Religion oder Sprache einer Gemeinschaft und nicht das Territorium, das die Grundlage für eine Rechtsgemeinschaft bildete.6 So störte sich zum Beispiel niemand daran, dass der König von England seine Hoheitsgewalt auf sizilianischem Boden übte und nach englischem Recht verfuhr, als Richard Löwenherz (1157–1199) auf seinem Kreuzzug in der Nähe von Messina Diebe und Räuber hängen ließ.7

2.

Extraterritorialität zwischen Territorialität und Selbstregulierung

Territorialität ist ein Phänomen, das sich unter verschiedenen historischen Bedingungen immer wieder neu und anders ausprägt, wobei die Geschichte der internationalen Gerichtsbarkeit als Aufstieg und Fall der Territorialität erscheint.8 Die Frage, welche Bedeutung das Territorium für den Staat hat, ist umstritten.9 Das Meinungsspektrum reicht von einer älteren sachenrechtlichen Betrachtung der Staatsgewalt im Sinne einer Objekts- oder Eigentumstheorie10 über die Betonung der Individualisierung und Abgrenzung der Staatsgewalt bis

5 Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte (1944), 1988, S. 88. 6 Kassan, Extraterritorial Jurisdiction in the Ancient World, 29 American Journal of International Law 237, 1935, S. 237–247 (240). 7 Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte (1944), 1988, S. 88. 8 Vgl. Szigeti, The Illusion of Territorial Jurisdiction, in: Texas International Law Journal, Bd. 52, 2017, S. 369–399 (372). Die territoriale Zuständigkeit ist im späten 17. Jahrhundert aufgekommen und mit dem Wendepunkt um 1945 wieder zurückgegangen, Komlosy, Grenzen, Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf, 2018, S. 17. 9 Dazu eingehend Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, S. 29. 10 Hierzu unten II 1 a und b.

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zur Eigenschafts- oder Raumtheorie,11 wonach das Staatsgebiet einen Herrschaftsraum der Staatsgewalt im Sinne eines Imperiums bildet.12 Die unterschiedlichen Auffassungen haben Folgen für die hier interessierende Frage, ob und in welcher Weise das Recht an territoriale Grenzen gebunden wurde und wie sich Rechtsetzung außerhalb des Staates entwickelt hat. Hinzu kommt die Problematik der Selbstregulierung außerhalb des Staates, was kurz erläutert sei. Zum weiten Bereich der globalen Selbstregulierung zählen die Aktivitäten der internationalen Organisationen, wofür die von Staaten gegründeten Vereinten Nationen ein Beispiel bilden. Im Forum der Generalversammlung wurden von 193 Staaten im Jahr 2015 die Sustainable Development Goals beschlossen.13 Die auch als Globale Agenda 2030 bekannte und an alle Staaten und Privatrechtssubjekte adressierte Resolution ist im Kern eine politische Absichtserklärung für die weltweite Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung insbesondere in den Themenfeldern Umwelt und Menschenrechte. Die Resolution ist zwar nach Artikel 10 UN-Charta rechtlich nicht bindend. Sie entfaltet aber nicht unerhebliche faktische und rechtliche Wirkungen.14 So werden die politischen Ziele in völkerrechtliche Verträge und nationale Gesetze integriert und bestehende Gesetze sogenannten Gesetzesfolgenabschätzungen (Sustainability Impact Assessments) unterzogen bzw. entsprechend angepasst.15 Die Umsetzung der Globalen Agenda 2030 durch extraterritoriale Rechtspraxis wird unter dem Gesichtspunkt der widerlegbaren Vermutung gegen Extraterritorialität zu erörtern sein. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur rechtstheoretischen Frage, ob von der zum strengen Recht (ius strictum) gehörenden formalen Territorialitätsregel 11 Das Staatsgebiet ist der Raum, in dessen Grenzen der Staat seine territoriale Souveränität ausübt, über den er frei verfügt, dessen Entwicklung er organisiert und in dem er vorrangig seine Rechtsordnung geltend macht. Beim Staatsgebiet handelt es sich um einen Teil der Erdoberfläche, des Grunds darunter und des Luftraums darüber, also um einen Raum, sodass wegen dieser Dreidimensionalität der Begriff »Staatsraum« treffender wäre als der eingeführte Begriff »Staatsgebiet«, Proelß, Raum und Umwelt im Völkerrecht, in: Graf Vitzthum, Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 8. Auflage 2019, S. 463–584 (476). 12 Einseitige Extraterritorialität hat als Werkzeug für den Aufbau eines Imperiums gedient, Cohen, Whose Sovereignty? Empire versus International Law, in: Ethics and International Affairs, 18 (3), 2004, S. 1–24 (2). Extraterritoriale Praxis ist eher eine Strategie für den Aufbau von Imperien als eine Strategie des Rechts, Parrish, The interplay between extraterritoriality, sovereignty, and the foundations of international law, in: Margolies, Özsu, Pal and Tzouvala (Hrsg.), The Extraterritoriality of Law: History, Theory, Politics 2018, S. 169–199 (169). 13 Resolution der UN-Generalversammlung vom 25. 9. 2015, A/Res/70/1. 14 Siehe hierzu Huck, Kurkin, Die UN-Sustainable Development Goals (SDGs) im transnationalen Mehrebenensystem, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV)/Heidelberg Journal of International Law (HJIL), Bd. 78, 2018, S. 375–424 (392– 411). 15 Zu den Gesetzesfolgenabschätzungen Windoffer, Nachhaltigkeit und Gesetzesfolgenabschätzung, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit durch Organisation und Verfahren, 2016, S. 217– 233 (218).

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die extraterritoriale Praxis eine zulässige Ausnahme aus Gründen der Billigkeit (aequitas) bzw. Nachhaltigkeit begründen kann.16 Damit verbunden ist die Problematik, ob extraterritoriale Praxis überhaupt als Ausnahme zu qualifizieren ist oder etwa die Regel bildet. Im Schrifttum wird ohne nähere Analyse und Begründung auf »the changing concepts of territoriality and extraterritoriality«17 aufmerksam gemacht. So sehen manche Autoren die Territorialität als Regel und Extraterritorialität als Ausnahme an. Nach Sarah Miller sollen die bestehenden Kategorien der extraterritorialen Gerichtsbarkeit als begrenzte Ausnahmen von der territorialen Regel verstanden werden, weil sie eine bedeutende Verbindung zwischen dem physischen Territorium eines Staates und dem Individuum erfordern.18 Andere beobachten, dass Extraterritorialität eher die Regel als die Ausnahme sei.19

II.

Positivistischer Ansatz: Judicial territorialism

Die judicial territorialists folgen, wie bereits angedeutet, einer strengen staatspositivistischen Sicht. Sie empfehlen den Gerichten, Gesetze nicht extraterritorial anzuwenden, sofern es an einem eindeutigen legislativen Anwendungsbefehl oder zumindest an einer klaren Intention des Gesetzgebers hierfür mangelt.20 16 Dazu näher unten V.3. 17 Coughlan, Currie, Kindred, Scassa, Law Beyond Borders, Extraterritorial Jurisdiction in an Age of Globalization, 2014, S. 5. 18 Miller, Revisiting Extraterritorial Jurisdiction: A Territorial Justification for Extraterritorial Jurisdiction under the European Convention, in: The European Journal of International Law, Bd. 20, Nr. 4, 2010, S. 1223–1246 (1223); Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht. Eine Untersuchung der aus dem Völkerrecht ableitbaren Grenzen staatlicher extraterritorialer Jurisdiktion im Verfahrensrecht, Tübingen 1998, S. 71. »Exceptions that allow for limited extraterritorial jurisdiction have been carved out, and, moreover, the territoriality principle has been construed rather liberally«, Ryngaert, The concept of jurisdiction in international law, in: Orakhelashvili (Hrsg.), Research Handbook on Jurisdiction and Immunities in International Law, 2015, S. 50–75 (50). 19 Siehe hierzu nur Haskell, Ways of doing extraterritoriality in scholarship, in: Margolies, Özsu, Pal, Tzouvala (Hrsg.), The Extraterritoriality of Law, History, Theory, Politics, 2019, S. 13–29 (22). 20 Gerichte sollen genau prüfen, ob eine klare Anweisung des Gesetzgebers vorhanden ist, die zu einer extraterritorialen Anwendung berechtigt, Rowe, Farrior, Revisiting Trade Secret Extraterritoriality, in: Boston University Journal of Science and Technology Law, Bd. 3, Nr. 25, 2019, S. 101–121 (121); zum »judicial territorialism« Parrish, The Effects Test: Extraterritoriality’s Fifth Business, 61 Vanderbilt Law Review (2008), S. 1455–1505 (1493–1505); zum Gesetzespositivismus im australischen Rechtsraum Tamanaha, The Contemporary Relevance of Legal Positivism, Legal Studies Research Paper Series, Paper 07-0065, 2007, S. 1–53. Die Entscheidung des U.S. Supreme Court aus dem Jahr 1812 im Rechtsstreit The Exchange v. McFaddon dient den Vertretern der strengen Territorialität als Anknüpfungspunkt: »The jurisdiction of a nation within its own territory, is exclusive and absolute. It is susceptible of

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Zunehmend wird die Forderung erhoben, dass sich der Kongress schon vor dem Erlass von Gesetzen umfassend damit beschäftigt, was er als territoriale oder innerstaatliche Anwendung eines Gesetzes im Unterschied zum Extraterritorialen betrachtet.21 Es ist darüber hinaus sogar gefordert worden, dass, sofern USGerichte beabsichtigen, amerikanische Regelungsstandards auf ein sich im Ausland ereignendes Verhalten anzuwenden, sie von potenziell betroffenen ausländischen Staaten eine Erlaubnis im Sinne einer formellen Zustimmung einholen.22 Der judicial territorialism bestärkt die in den USA zunehmende Rolle des Gesetzespositivismus und knüpft die hoheitliche Anordnung nun vermehrt auch an den Bereich der Extraterritorialität. Während die Bedeutung von Gesetzesrecht in den USA rapide zugenommen hat, rücken im kontinental-europäischen Rechtskreis vermehrt faktische Rechtsquellen ins Bewusstsein und es ist vielfach die Rede von einer Krise der Kodifikationsidee.23 Das nationale Gesetz darf allerdings nach den judicial territorialists auch dann extraterritorial angewendet werden, wenn das Verhalten aus dem Ausland wesentliche Auswirkungen (effects doctrine) auf die nationale Rechtsordnung hat.24 Zur Begründung wird angeführt, dass die das Territorium schützende effects doctrine hierdurch ebenso territorial ist wie die strenge territoriale Gerichtsbarkeit.25 Durch die extraterritoriale Abwehr von Auswirkungen aus dem Ausland auf das Inland wird das eigene Territorium geschützt und gefestigt. Um das Territorium umfassend zu schützen, wird zusätzlich die Aufnahme des Inlandseffektes in die gesetzliche extraterritoriale Anordnung gefordert.26 Es soll

21

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no limitation not imposed by itself. Any restriction deriving validity from an external source would imply a diminution of its sovereignty to the extent of that restriction, and an investment of that sovereignty to the same extent in that power which could impose such restriction. All exceptions to the full and complete power of a nation within its own territories must be traced up to the consent of the nation itself«, U.S. Supreme Court The Exchange v. McFaddon, 11 U.S. 7 Cranch 116 116 (1812), The Exchange v. McFaddon, 11 U.S. (7 Cranch) 116. Der Kongress wird zur Schaffung einer allgemein gültigen Bestimmung aufgefordert, beispielsweise in Bezug auf die zahlreichen strafrechtlichen Statuten, die keinen ausdrücklichen Handlungsort vorsehen, O’Sullivan, The Extraterritorial Application of Federal Criminal Statutes: Analytical Roadmap, Normative Conclusions, and a Plea to Congress for Direction, in: The Georgetown Law Journal, Bd. 106, 2018, S. 1021–1096 (1021f.). Hannah L. Buxbaum, Transnational Regulatory Litigation, in: Virginia Journal of International Law, Bd. 46, 2006, S. 251–317 (308f.). Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland. Historische Entwicklung, moderne Methodendiskussion und die Auswirkungen von Divergenzen für das internationale Einheitskaufrecht (CISG), 2005, S. 7. Parrish, The Effects Test: Extraterritoriality’s Fifth Business, 61 Vanderbilt Law Review (2008), S. 1455–1505 (1493–1505). Szigeti, The Illusion of Territorial Jurisdiction, in: Texas International Law Journal, Bd. 52, 2017, S. 369–399 (371). Rowe, Farrior, Revisiting Trade Secret Extraterritoriality, in: Boston University Journal of Science and Technology Law, Bd. 3, Nr. 25, 2019, S. 101–121 (121).

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damit hoheitlich geregelt werden, dass ein schädliches Verhalten aus dem Ausland auf dem inländischen Territorium rechtlich geahndet werden kann.

1.

Staatsphilosophische Grundlagen des judicial territorialism

Was die staatsphilosophischen Prämissen des judicial territorialism und die territorialen Grundlagen für die Rechtsetzung außerhalb des Staates angeht, wurde nicht nur versucht, im Gesetz das Recht zu monopolisieren, sondern es auch an das staatliche Territorium zu binden.27 Die Folge war eine weitgehende Verbannung des ungeschriebenen außerstaatlichen Rechts (ius non scriptum) mit den Elementen der Billigkeit (aequitas), Moral oder modern gesprochen: der Nachhaltigkeit. Mit der Begründung der Territorialität befassen sich vor allem die Impermeabilitätslehre und die bis ins 19. Jahrhundert vertretene Patrimonialtheorie. a)

Impermeabilitätslehre

Unter den ersten Aufgaben staatlichen Handelns führt Jean Bodin (1530–1596) die Festlegung von Grenzen auf.28 Grenzen würden die Ordnung des Staates als Rechtsraum in entscheidendem Maße garantieren. Im ersten Buch über den Staat und dort im achten Kapitel über die Souveränität unternimmt Bodin einen Vergleich zwischen Fürsten als Machthabern und Eigentümern. »So wie nämlich nach wie vor Eigentümer und Besitzer bleibt, wer einem anderen einen Teil seines Eigentums leiht, bleiben auch Eigentümer und Besitzer der Macht, Recht zu sprechen und zu befehlen jene, die sie entweder auf bestimmte Zeit oder auf Widerruf anderen zu leihen gegeben oder bis auf Widerruf übertragen haben.«29

Unter den Prämissen seines neuen Staatsbegriffs erhebt der allein der Vernunft und dem Gemeinwohl verpflichtete Monarch einen Anspruch auf das Rechtsetzungsmonopol innerhalb des ihm zugewiesenen Territoriums. Aus Sicht von Bodin erscheint der Staat als eine Art Körper, der einen begrenzten Raum einnimmt und für Einwirkungen anderer Staatskörper undurchdringlich (impermeabel) ist.30 Die Staatslehre mache sich so das physikalische Gesetz zu eigen, 27 »Staat und Territorium [werden] als untrennbare Dinge gedacht«, v. Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, S. 61f. 28 Bodin, Sechs Bücher über den Staat, Buch I–III, Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Wimmer, eingeleitet und herausgegeben von Mayer-Tasch, 1981, I 1, (S. 98). Siehe auch Behr, Entterritoriale Politik. Von den Internationalen Beziehungen zur Netzwerkanalyse. Mit einer Fallstudie zum globalen Terrorismus, 2004, S. 59. 29 Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1576), hrsg. v. Mayer-Tasch, 1981, II 3, S. 205. 30 Dazu näher: Isensee, Grenzen. Zur Territorialität des Staates, Berlin 2018, S. 92.

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dass, wo ein Körper ist, nicht zugleich ein anderer sein kann. Im Zeichen der Aufklärung dominiert der Verweis auf die Natur als Lehrmeisterin den Diskurs.31 So sprach Hugo Grotius (1583–1645) von Flüssen als natürliche Grenzen der anstoßenden Länder, weil dazu nichts sich besser eignet als ein nicht leicht zu überschreitendes Hindernis.32 Erst im 17. Jahrhundert, als die Souveränitätslehre Bodins zunehmend an Einfluss gewann, wurde die Frage gestellt, warum Staaten überhaupt zur Anwendung fremden Rechts verpflichtet sein sollten.33 Diese Frage sei zuvor auch deshalb nicht aufgeworfen worden, weil man die Kollisionsregeln nicht aus staatlichem Recht, sondern aus dem allen Staaten gemeinsamen römischen Recht ableitete. Das revolutionäre Frankreich macht sich die hier nur grob skizzierten Gedanken zu eigen und französische Juristen, Geographen, Philosophen und Politiker haben dann eine suggestive Formel geprägt, die geeignet war, der grenzbereinigenden und auf Grenzausweitung gerichteten Politik einen naturrechtlichen und völkerrechtlichen Hintergrund zu geben: die »natürliche Grenze«.34 Frankreich berief sich unter Ludwig XIV. (1638–1715) auf seine geographische Lage und versuchte, seine territorialen Ansprüche, unter anderem den Anspruch auf die Rheingrenze, naturrechtlich zu begründen und die territoriale Zufälligkeit, die sich aus der Geschichte ergeben hatte, durch einen rationalen Zuschnitt des Staatsgebietes abzulösen, wobei rational im Sinne der französischen Staatsraison zu begreifen ist.35 Die Lehre von den natürlichen Grenzen fungiere als eine politische Ideologie, die auf Abrundung, Geschlossenheit und Optimierung der territorialen Machtbasis der Staaten ausgerichtet ist.36 Der Gegensatz von Willkürgrenzen und Na31 Suckow, Der Rhein als politischer Mythos in Deutschland und Frankreich, in: Schlögel, Halicka (Hrsg.), Oder-Odra. Blicke auf einen europäischen Strom, Frankfurt am Main 2007, S. 50. 32 Grotius, De jure belli ac pacis. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens (1625). Neuer deutscher Text und Einleitung von Schätzel, 1950, Zweites Buch, 3. Kapitel, XVI. 2., XVII. 2., S. 164; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte (1944), 1988, S. 375. 33 Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, S. 148. 34 Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte (1944), 1988, S. 375. Zudem hatte die rechtliche Qualifikation der Kolonien im französischen Zeitalter gewechselt: Während noch Grotius in den Kolonien neue Gemeinwesen erblickte, setzte sich im 18. Jahrhundert die Auffassung durch, dass Kolonien als Teile des Mutterlandes anzusehen sind, Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 1994, S. 184. Mit der zunehmenden Durchsetzung des modernen Territorialstaats wuchs auch das Bedürfnis nach genauerer Grenzziehung, das namentlich im 18. Jahrhundert zu zahlreichen Verträgen führte, Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 1994, S. 181. Die allgemein behauptete strenge Territorialität war freilich illusorisch, weil die Existenz der großen Kolonialreiche bedeutete, dass weniger Staaten existierten und es folglich weniger grenzüberschreitende Meinungsverschiedenheiten gab, Szigeti, The Illusion of Territorial Jurisdiction, in: Texas International Law Journal, Bd. 52, 2017, S. 369–399 (394). 35 Isensee, Grenzen. Zur Territorialität des Staates, 2018, S. 36. 36 Ebd., S. 35.

Ius non scriptum extraterritoriale als regulierte Selbstregulierung

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turgrenzen war dem juristischen und geographischen Schrifttum auch außerhalb Frankreichs schon am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts geläufig.37 Gegen die Argumentation mit Naturgrenzen wurde schon frühzeitig eingewandt, dass sich Grenzlinien zwar aus der Natur ergeben können, die Geltung der rechtlichen Linien aber in keinem Fall aus der Natur folge und die Natur sie auch nicht von sich aus zu erkennen gebe.38 b)

Patrimonialtheorie

Von Vertretern der Patrimonialtheorie wurde übereinstimmend mit der Impermeabilitätslehre die Zugehörigkeit des Territoriums zum Staat als berechtigtem Subjekt zwar ebenfalls als staatsrechtliches Sachenrecht angesehen.39 Sie haben aber, und hier liegt der Unterschied, betont, dass dieses Recht an der Sache nicht die geringste Verwandtschaft mit privatrechtlichen Sachenrechten, wie dem Eigentum oder Obereigentum habe. Georg Jellinek (1851–1911) stellt heraus, dass »mit der Undurchdringlichkeit des Staates häufig die falsche Vorstellung verknüpft werde, dass das Gebiet selbst der unmittelbaren Herrschaft des Staates unterliege, es somit ein staatliches Sachenrecht gebe. Niemals jedoch könne der Staat direkt, ohne Vermittlung seiner Untertanen, über sein Gebiet herrschen«.40

Die rechtliche Bedeutung des Gebiets äußere sich nach Jellinek »in doppelter Weise: negativ dadurch, daß jeder anderen, dem Staate nicht unterworfenen Macht es untersagt ist, ohne ausdrückliche Erlaubnis des Staates Herrschaft zu

37 Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte (1944), 1988, S. 375. 38 Nachweise bei Isensee, Grenzen. Zur Territorialität des Staates, 2018, S. 35. 39 Nach der Patrimonialtheorie galt das Staatsgebiet als Eigentum des Landesherrn und gegebenenfalls als ererbtes Vermögen der Familie des Landesherrn, Doehring, Allgemeine Staatslehre. Eine systematische Darstellung, 3. Auflage 2004, S. 32. Das »Gebiet« wurde als »Gegenstand eines echten Haben« angesehen, das »in seinem rechtlichen Gehalt in gleicher Weise geordnet wie das Eigentum des Privatrechts« ist, Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht, Vierter Band, Allgemeiner Teil, 1936, S 121. Dies sei gekennzeichnet durch den Ausschluss dritter Staaten von einer Einwirkung auf den Gegenstand ebenso wie durch Beschränkungen, denen der Inhaber bei Ausübung seines Rechts zugunsten Dritter unterliegt sowie durch Regeln für den Übergang der Berechtigung auf einen anderen Staat. Aus den Rechtssätzen, die dritte Staaten von der Einwirkung auf das Gebiet ausschließen, folge für den Inhaber die tatsächliche Möglichkeit, das Gebiet für die verschiedensten staatlichen Zwecke nutzbar zu machen. Der Staat könne jede Herrschaftshandlung eines fremden Staates auf seinem Gebiet als rechtswidrig zurückweisen. 40 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage1960, Siebenter Neudruck, S. 398. »Das Verhältnis des Staates zu seinem Gebiete ist weder ein sachen- noch ein personenrechtliches Verhältnis, in eine gewisse Analogie kann man es aber zu beiden setzen«, Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1966, unveränderter fotomechanischer Nachdruck der ersten Auflage von 1925, S. 145f.

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üben; positiv dadurch, daß alle auf dem Gebiet befindlichen Personen der Staatsgewalt unterworfen sind«.41

Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie auf eine dingliche Geschlossenheit des Staates gerichtet sind. Übereinstimmend mit den judicial territorialists, die extraterritoriale Rechtsanwendung an einen legislativen Anwendungsbefehl und von Staaten geschaffenes Völkergewohnheitsrecht knüpfen, besteht nach diesem staatspositivistischen Verständnis kein Raum für extraterritoriale Rechtsanwendung beispielsweise durch nationale Gerichte aus Gründen der Billigkeit, Moral oder Nachhaltigkeit. Die staatliche territoriale Zentralisierung neigt seit jeher dazu, jede andere Rechtsbildung, wie das richterrechtlich erzeugte Gewohnheitsrecht oder das wissenschaftliche Recht auszuschließen.

2.

Die Lotus-Entscheidung im Spannungsfeld von Positivismus und Unilateralismus

Im völkerrechtlichen Schrifttum zur extraterritorialen Staatenpraxis wird der Lotus-Entscheidung des von den Vereinten Nationen eingesetzten Ständigen Internationalen Gerichtshofs (StIGH) aus dem Jahr 1927 nach wie vor große Bedeutung beigemessen.42 Das Urteil ist grundsätzlicher Natur und bildet eine Ursache für die Zunahme der extraterritorialen Praxis in den vergangenen Jahrzehnten. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt kollidierte am 2. August 1926 um kurz vor Mitternacht das sich auf dem Weg von Frankreich nach Konstantinopel befindende französische Postschiff S.S. Lotus mit dem türkischen Kohlenschiff Boz-Kurt, das daraufhin auf Hoher See mit acht von insgesamt 18 Besatzungsmitgliedern sank. Nachdem der wachhabende Offizier des Postschiffs Lotus, Leutnant Demons, in Konstantinopel an Land gegangen war, wurde er festgenommen und von einem türkischen Gericht nach türkischem Recht wegen fahrlässiger Tötung von acht türkischen Staatsangehörigen zu einer Gefängnisstrafe von 80 Tagen und einer geringen Geldstrafe verurteilt. Das türkische Strafgesetzbuch enthielt eine Vorschrift, wonach ein Ausländer, der im Ausland eine Straftat zum Nachteil der Türkei oder ihrer Staatsangehö41 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage 1960, Siebenter Neudruck, S. 394. Auf demselben Territorium können zwar unzählige Körperschaften existieren, aber es könne nur ein einziger Staat seine Macht entfalten, siehe zu den Ausnahmen ebd., S. 395f. 42 PCIJ, The Case of the S.S. Lotus (France v. Turkey), PCIJ Ser. A., No. 10 (1927), abrufbar unter: http://www.icj-cij.org/pcij/serie_A/A_10/30_Lotus_Arret.pdf (zuletzt abgerufen am 8. 12. 2020). Papathanasiou, Völkerrechtmäßiges Verhalten und Extraterritorialität der staatlichen Souveränität – zum 90. Jubiläum der Lotus Entscheidung, in: juris Monatsschrift 2018, S. 80– 85 (85).

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rigen begeht, die nach der türkischen Rechtsordnung mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr belegt ist, nach türkischem Recht unter Anwendung eines modifizierten Strafrahmen zu bestrafen sei, sofern er auf türkischem Hoheitsgebiet inhaftiert wird.43 Der Straftatbestand knüpft nicht an ein Verhalten auf hoher See, sondern allgemein an das Ausland ›außerhalb des türkischen Hoheitsgebietes‹. Die rechtliche Würdigung des Sachverhalts war innerhalb des Entscheidungsgremiums umstritten. Die kontroversen Auffassungen entsprechen in Grundzügen dem judicial territorialism und dem judicial unilateralim. So ist nach der auf eine strenge und staatspositivistische Sicht der Territorialität bedachten dissenting opinion des Richters Nyholm die staatliche Regelungsgewalt auf das Hoheitsgebiet beschränkt. Um auf legitime Weise extraterritorial handeln zu können, fordert Nyholm die Schaffung von völkergewohnheitsrechtlichen Erlaubnissätzen, zu denen heute beispielsweise die Auswirkungslehre (effects doctrine) und die an die Staatsangehörigkeit knüpfende Personalität zählen.44 Nach seiner Vorstellung existiert zwischen Staaten ein leerer Raum, über den sich keine Autorität erstrecke und der durch die Schaffung von Regeln gefüllt werden müsse. Aufgrund der Betonung der Territorialität und der Forderung nach dem von Staaten zu schaffenden Gewohnheitsrecht stimmt der Ansatz im Wesentlichen mit der Auffassung der judicial territorialists überein. Der von Nyholm verfolgte Ansatz konnte sich im Ergebnis freilich nicht durchsetzen. Die knapp überlegene Mehrheit der zur Entscheidung berufenen Richter, stellte sich auf den Standpunkt, dass alles was nicht verboten ist, erlaubt sei.45 Sie

43 Art. 6 des türkischen Strafgesetzbuchs (Gesetz Nr. 765 vom 1. März 1926; GBl. Nr. 320 vom 13. März 1926). 44 Siehe hierzu: https://jusmundi.com/en/document/opinion/pdf/en-lotus-dissenting-opinion -by-m-nyholm-wednesday-7th-september-1927 (zuletzt abgerufen am 8. 12. 2020); Ausnahmen, die eine Ausübung ausländischer Gerichtsbarkeit über die Staatsangehörigen eines bestimmten Staates ermöglichen, sind nur in extremen Fällen anerkannt worden, in denen dies absolut notwendig oder unvermeidlich war, Dissenting Opinion by M. Altamira im Lotus-Fall des StIGH, S. 1, abrufbar unter: https://jusmundi.com/en/document/opinion/pdf /en-lotus-dissenting-opinion-by-m-altamira-wednesday-7th-september-1927 (zuletzt abgerufen am 8. 12. 2020). Die weiteren dissenting opinions sind abrufbar unter: https://jus mundi.com/en/document/opinion/en-lotus-dissenting-opinion-by-lord-finlay-wednesda y-7th-september-1927 (zuletzt abgerufen am: 8. 12. 2020). 45 Aufgrund anfänglicher Stimmengleichheit der Richter (6:6) gab das Votum des Präsidenten den Ausschlag für die endgültige Entscheidung des Gerichts (Art. 55 Abs. 2 StIGH-Statut). Die Geschichte des Satzes, es sei ›alles erlaubt, was nicht verboten ist‹, müsste erst noch geschrieben werden. Im Hintergrund steht das staatspositivistische Ideal einer lückenlosen Rechtsordnung, die keinen Fall ungeregelt lässt, sodass, was nicht ausdrücklich verboten ist, erlaubt sein muss. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem ›Nicht-ausdrücklich-Verbotenen‹ nicht um etwas ›Erlaubtes‹, sondern um etwas ›Dazwischenliegendes‹, wo im Einzelfall über die Grenzen des Zulässigen eine Entscheidung getroffen werden muss, vgl. Grotius, De jure

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erachtete die Regelungsbefugnis eines Staates als nicht auf die Grenzen seiner Gebietshoheit, also den räumlichen Geltungsbereich beschränkt. Das Gericht ging von dem Vorverständnis aus, dass ein Staat völkerrechtlich nur soweit gebunden ist, wie seine Verpflichtungen reichen und er im Übrigen in seinen Handlungen frei ist.46 Das Gericht forschte dementsprechend in der globalen Staatenpraxis nach Verbotssätzen und nicht nach einem Erlaubnissatz aus dem positiven Völkergewohnheitsrecht. Es existieren nach wie vor keine Verbotssätze, die extraterritoriale Praxis ausdrücklich untersagen. Solange dieser Zustand fortbesteht, wäre die nationale Regelung von Auslandssachverhalten nach dieser Gerichtsentscheidung völkerrechtlich zulässig.47 Durch diese Entscheidung wurde von der zum strikten Recht zählenden Territorialitätsregel also die Möglichkeit einer ›Ausnahme‹ zugunsten der Extraterritorialität eröffnet: Indem Staaten den Geltungsanspruch ihrer Normen über die Grenzen ihres Gebietes erstrecken und rechtliche Wirkungen auf fremdem Territorium erzielen, harmoniert diese Sichtweise mit dem judicial unilateralism.

III.

Exkurs: Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts im Lichte der Lehren Savignys

Das von Nyholm in seiner dissenting opinion geforderte, von der Staatengemeinschaft zu schaffende Völkergewohnheitsrecht in Gestalt von zulässigen Anknüpfungspunkten, zum Beispiel an die Staatsangehörigkeit, gibt es inzwischen. Im Hintergrund steht der Gedanke, extraterritoriale Rechtspraxis an die Voraussetzung von völkerrechtlichem Konsens zu binden und so zu legitimieren. Die anerkannten Anknüpfungspunkte für die Beurteilung von grenzüberschreitenden Sachverhalten weisen eine beachtliche Parallele zu den von Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) auf dem Gebiet des internationalen Privatrechts entwickelten Anknüpfungslehren auf. Während im internationalen Privatrecht ausländisches Recht unter Anknüpfung beispielsweise an die Staatsangehörigkeit auf freiwilliger Basis im Inland angewendet wird, wird im

belli ac pacis. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens (1625). Neuer deutscher Text und Einleitung von Schätzel, 1950, § 23 I, S. 389. 46 Kunig, Uerpmann, Der Fall des Postschiffes Lotus – StIGH – Urteil vom 7. 9. 1927 = PCIJ Series A No.10, in: JURA 1994, Heft 4, S. 186–194 (188). Von hier aus ist eine Verbindungslinie zum Naturrecht gezogen worden. Soweit das Naturrecht nicht explizite Verhaltensregeln aufstelle, sei es dispositiv in dem Sinne, dass es Raum für Verhalten lasse, das nicht verboten sei. Positives Recht diene dazu, die Übereinstimmungen darüber festzustellen, welche Regeln gelten, sofern dieses Recht etwas anordne, was das Naturrecht nicht verbiete, sei es auch bindend, Kadelbach, Recht, Krieg und Frieden bei Hugo Grotius, 2017, S. 16. 47 Siehe dazu auch Isensee, Grenzen. Zur Territorialität des Staates, 2018, S. 90.

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öffentlichen Recht unter Anknüpfung an das völkergewohnheitsrechtliche Personalitätsprinzip der Auslandssachverhalt in das eigene Hoheitsgebiet hineingezogen und der territorialen Jurisdiktion zugeordnet. Die Beschränkung staatlicher Regelungsbefugnis auf das eigene Territorium ist nach der Wende zum 19. Jahrhundert zunehmend bestritten worden.48 Savigny erkennt im Anschluss an das römische Recht eine außerstaatliche Rechtsetzung beispielsweise durch Gewohnheitsrecht in Gestalt von Richterrecht oder Autonomie, wofür aus heutiger Sicht die Vereinten Nationen ein Beispiel bilden, durchaus an. Er übt zudem Kritik an Versuchen, das Recht im Gesetz zu monopolisieren und favorisiert einen pluralen Rechtsbegriff.49 Savigny kann sich eine Ausnahme von der Territorialitätsregel also nicht nur in Bezug auf die kollisionsrechtliche Anerkennung fremder Rechte vorstellen, sondern auch in Bezug auf die Rechtsetzung außerhalb des Staates. Sie ist für die Selbstregulierung als Ausnahme von der Territorialitätsregel und der positivistischen staatlichen Rechtsetzung relevant. Savigny suchte nicht nur, das staatliche Souveränitätsdenken für das privatrechtliche Kollisionsrecht zu überwinden.50 Seine Lehre kann auch als Vorbild für die sich allmählich herausbildende völkergewohnheitsrechtliche Anknüpfungsdogmatik beispielsweise nach dem Personalitätsprinzip, der Auswirkungslehre (effects doctrine) und dem Schutzprinzip für zumeist öffentlich-rechtliche Sachverhalte mit Auslandsbezug dienen. Ähnlich wie im Internationalen Privatrecht geht es bei der verwaltungsbezogenen extraterritorialen Rechtsanwendung um durch grenzüberschreitende Sachverhalte bedingte Kollisionslagen und für diese Sachverhalte heranzuziehende Kollisionsnormen.51 Im US-amerikanischen common law gibt es bekanntlich keine klassische Trennung zwischen dem Privatrecht und dem öffentlichen Recht.52 Die historischen Ansatzpunkte für Savignys Dogmatik gründen sich auf die Schriften von Bartolus, Voetius und Ulricus Huber. Sie entfalteten eine beachtliche Strahlkraft sowohl auf europäische als auch auf US-amerikanische Juristen 48 Ziegenhain, Extraterritoriale Rechtsanwendung und die Bedeutung des Genuine-Link-Erfordernisses. Eine Darstellung der deutschen und amerikanischen Staatenpraxis, 1992, S. 29. Die Praxis des 18. und 19. Jahrhunderts war nicht einheitlich territorial geprägt, Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht. Eine Untersuchung der aus dem Völkerrecht ableitbaren Grenzen staatlicher extraterritorialer Jurisdiktion im Verfahrensrecht, 1998, S. 71. 49 Meder, Doppelte Körper im Recht, Traditionen des Pluralismus zwischen staatlicher Einheit und transnationaler Vielheit, 2015. 50 Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, S. 32. 51 Mayer, Internationalisierung des Verwaltungsrechts. Weiße Flecken auf den Landkarten des Verwaltungsrechts und wie man sie findet. Zugleich ein Kommentar zu Philipp Dann, in: Möllers, Voßkuhle, Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht. Eine Analyse anhand von Referenzgebieten, 2007, S. 49–71 (55). 52 Zu den völkergewohnheitsrechtlichen Anknüpfungspunkten siehe unten III 2.

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des 19. Jahrhunderts, unter anderem auf Joseph Story (1779–1845).53 Savignys wissenschaftliche Arbeit, welche im achten Band seines »System des heutigen Römischen Rechts« (1849) niedergelegt ist, brachte die entscheidende Wende von der mit Hoheitsfragen beschäftigten Doktrin der Jurisdiktion des Mittelalters und der frühen Neuzeit hin zum modernen Kollisionsrecht. Seine Theorie habe die Kollisionslehre auf der gesamten Welt beeinflusst und die Grundpfeiler des modernen Kollisionsrechts gelegt.54 Unter Bezugnahme auf die Konstellation, dass »beide Parteien Inländer, oder beide Ausländer sind, oder dass die eine dem Inlande, die andere dem Auslande persönlich angehört« thematisiert Savigny die Frage, »welches der verschiedenen hier einschlagenden Territorialrechte der Richter zur Anwendung zu bringen hat. Ganz dieselbe Frage könnte auch dem Richter jenes fremden Staates zur Entscheidung vorliegen, wenn zufällig der Rechtsstreit, nicht in unsrem, sondern in dem fremden Staate entstanden wäre«.55

Manche haben versucht, »diese Fragen lediglich durch den Grundsatz der unabhängigen Staatsgewalt (Souveränität) zu entscheiden, indem sie folgende zwei Regeln an die Spitze stellen. 1. Jeder Staat kann fordern, daß innerhalb seiner Gränzen lediglich sein Gesetz gelte. 2. Kein Staat kann die Geltung seines Gesetzes außer seinen Gränzen fordern«.56

Savigny will »nicht nur die Wahrheit dieser Sätze einräumen, sondern selbst ihre Ausdehnung bis zu den äußersten denkbaren Gränzen anerkennen«, glaub[t] aber, »daß sie für die Lösung unsrer Aufgabe wenig Hülfe gewähren«. Alles in allem gelang es Savigny, der Statutenlehre ein kollisionsrechtliches System entgegenzustellen, das in seinen Kernaussagen bis heute gültig ist.57 Dabei erwiesen sich folgende drei Ideen als besonders fruchtbar: (1) Inländisches und ausländisches Recht sind abgesehen von den Vorschriften streng positiver, zwingender Natur gleich zu behandeln: »Je mannigfaltiger und lebhafter der Verkehr unter den verschiedenen Völkern« werde, desto mehr sei es rätlich, den strengen Grundsatz [im Sinne der strikten Territorialität] von der Nichtanwendung ausländischen Rechts mit einem entgegengesetzten Grundsatz zu vertauschen.58 Dahin führe 53 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 8, 1849, S. 8; Ziegler, Völkerrechtliche Verpflichtung zur Anwendung oder nur »freundliche Beachtung« fremden Rechts? Die comitas-Lehre heute (Betrachtung eines Rechtshistorikers), in: Leible, Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 43–54 (45). 54 Dazu auch Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, S. 150. 55 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 8, 1849, S. 24. 56 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 8, 1849, S. 24f. 57 Siehe hierzu Junker, Internationales Privatrecht, 3. Auflage 2019, S. 45f. 58 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 8, 1849, S. 26f.

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»die wünschenswerte Gegenseitigkeit in der Behandlung der Rechtsverhältnisse und die daraus hervorgehende Gleichheit in der Beurteilung der Einheimischen und Fremden, die im Ganzen und Großen durch den gemeinsamen Vorteil der Völker und Einzelnen geboten wird«.59 »Man kann diese Gleichstellung, im Gegensatz des oben erwähnten strengen Rechts, als freundliche Zulassung unter souveränen Staaten bezeichnen, nämlich als Zulassung ursprünglich fremder Gesetze unter die Quellen, aus welchen die einheimischen Gerichte die Beurtheilung mancher Rechtsverhältnisse zu schöpfen haben«.60 »Das heutige Recht dagegen hat allmälig zur Anerkennung vollständiger Rechtsgleichheit zwischen Einheimischen und Fremden hingeführt.«61

Das staatliche und nur auf seinem Gebiet geltende Recht wird also im Ausland unter dem Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit der Rechtsnormen angewendet, um die kollisionsrechtliche Gerechtigkeit herzustellen, nicht um staatliche Souveränität zu verwirklichen.62 (2) Es wird nicht von den Gesetzen im Sinne eines Rechtsgebietes ausgegangen, sondern vom konkreten Lebenssachverhalt, dem Rechtsverhältnis. Die Aufgabe des Internationalen Privatrechts sieht Savigny darin, dass bei jedem Rechtsverhältnis dasjenige Rechtsgebiet aufgesucht wird, welchem dieses Rechtsverhältnis seiner eigentümlichen Natur nach angehöre, also »worin dasselbe seinen Sitz hat«.63 Das Bild vom Sitz des Rechtsverhältnisses sei zur Metapher für Savignys Lehre geworden, moderne IPR-Kodifikationen sprechen von der engsten Verbindung, von der stärksten Beziehung oder vom engsten Zusammenhang zwischen einem Rechtsverhältnis und einer Rechtsordnung. Im Vordergrund steht die Rückführung extraterritorialer Rechtsanwendung auf einen territorialen Bezug.64 (3) Savigny zufolge erstrebt das Kollisionsrecht eine internationale Entscheidungsharmonie.65 Es darf nicht in nationalistischer Enge betrieben und fortentwickelt werden, sondern soll sich an den Erfordernissen einer völkerrechtlichen Gemeinschaft orientieren. Die Gleichheit in der Beurteilung der Einheimischen und Fremden muss, so Savigny, in vollständiger Ausbildung dahin führen, dass nicht bloß in jedem einzelnen Staate der Fremde gegen den Einheimischen nicht zurückgesetzt wird, sondern auch die Rechtsverhältnisse, in Fällen einer Kollision der Gesetze, dieselbe Beurteilung zu erwarten haben, ohne Unterschied, ob in diesem oder jenem Staat das Urteil gesprochen werde.

59 60 61 62 63 64

Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 25. Meng, Extraterritoriale Jurisdiktion im öffentlichen Wirtschaftsrecht, 1994, S. 151. Ebd., S. 28, 108. Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht. Eine Untersuchung der aus dem Völkerrecht ableitbaren Grenzen staatlicher extraterritorialer Jurisdiktion im Verfahrensrecht, 1998, S. 72. 65 Dazu auch Junker, Internationales Privatrecht, 3. Auflage 2019, S. 45f.

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Die Privatrechtsordnungen haben sich füreinander geöffnet und berücksichtigen sich nach den Regeln des Kollisionsrechts wechselseitig. Für typisch öffentlich-rechtliche Materien wie das Umweltrecht und die Menschenrechte ist zwar das staatliche Souveränitätsdenken nach wie vor dominierend, es besteht aber angesichts der unübersehbaren Zunahme extraterritorialer Praxis in der aktuell dritten Globalisierungsphase auch für die öffentlich-rechtliche Materie die Notwendigkeit einer näheren Befassung mit den Anforderungen an eine sinnvolle Anknüpfung. Die von Savigny entwickelten Lehren können eine geeignete Grundlage bilden, um das völkerrechtliche Kollisionsrecht weiter zu entwickeln.

IV.

Überpositiver Ansatz Judicial unilateralism

Die judicial unilateralists befürworten, wie bereits angedeutet, eine weitgehende extraterritoriale Rechtsfortbildung. Sie sprechen sich dafür aus, das nationale Recht insbesondere durch Gerichte prinzipiell unabhängig vom Vorhandensein einer legislativen Anordnung extraterritorial anzuwenden.66 Es soll auch nicht darauf ankommen, ob andere hiervon betroffene Staaten damit einverstanden sind und die dahinter stehenden politischen und rechtlichen Auffassungen teilen. Ebenso wenig soll maßgeblich sein, ob der US-amerikanische Kongress diese Vorgehensweise billigt. Schon frühzeitig bedienten sich die Gegner von Kodifikationsbemühungen in den USA der Argumente Savignys und der von ihm begründeten Historischen Rechtsschule.67 Die Bedenken gründeten sich auf ein generelles Misstrauen gegenüber der Legislative sowie die Assoziation von Kodifikationen mit den überkommenen Herrschaftssystemen sowie die Vorstellung, dass eine Kodifikation die fortwährende Rechtsentwicklung behindern würde.68 Durch extraterritoriale Praxis soll zu internationalen multilateralen Übereinkünften ermuntert und zu vorteilhaften diplomatischen Verhandlungen angeregt werden, um im Idealfall einen multilateralen Konsens in global relevanten Themenfeldern herbeizuführen.69 Die judicial unilateralists wollen damit ver66 Gibney, Response, Toward a Theory of Extraterritoriality, in: Minnesota Law Review Headnotes, Bd. 95, Nr. 2, 2011, S. 81–91 (86). 67 Meder, Rechtsgeschichte, 7. Auflage 2020, S. 383–385. 68 Siehe Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland. Historische Entwicklung, moderne Methodendiskussion und die Auswirkungen von Divergenzen für das internationale Einheitskaufrecht (CISG), 2005, S. 11f. Siehe zur Methodik der Rechtsfortbildung in den USA Levin, How Judges Reason. The Logic of Adjudication, 1992, S. 133–174. 69 Dodge, An Economic Defense of Concurrent Antitrust Jurisdiction, in: Texas International Law Journal, Bd. 38, 2003, S. 27–40 (34).

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hindern, dass etwa Unternehmen in anderen Staaten außerhalb der formalen USRegelungsgewalt agieren und beispielsweise natürliche Lebensräume zerstören und grundlegende Menschenrechte verletzen.70 Die extraterritoriale Anwendung von US-amerikanischem Recht wird als geeignet betrachtet, um einer systemischen Unterregulierung von global schädlichen und gefährlichen Aktivitäten entgegenzuwirken.71 Eine unterbleibende hoheitliche extraterritoriale Anordnung wäre danach eine indirekt erteilte konkludente Erlaubnis für Konzerne, im Ausland schwerwiegende Umwelt- und Gesundheitsschäden herbeizuführen.72

V.

Vermittelnder Ansatz: Vermutung gegen Extraterritorialität

Angesichts der im Sinne des judicial unilateralism zunehmenden Anwendung von nationalem Recht auf Auslandssachverhalte hat sich im US-amerikanischen Rechtsraum im Wege des Richterrechts zur Auslegung von amerikanischen Bundesgesetzen die Vermutung gegen Extraterritorialität (presumption against extraterritoriality) herausgebildet.73 Die Vermutung gegen Extraterritorialität ist, wie der judicial territorialism und der judicial unilateralism, zwar eine Spezifikation des US-amerikanischen common law. Doch dürfte sich auch die schon der entwickelten römischen Jurisprudenz bekannte Rechtsregel der Vermutung wie die anderen beiden Denkrichtungen für die auf dem Kontinent geführten Diskussionen fruchtbar machen lassen.

1.

Die Vermutung gegen Extraterritorialität

Die presumption against extraterritoriality unterstützt die nach wie vor bestimmend wirkende Territorialitätsregel und behauptet eine generelle Vermutung für die Richtigkeit des formalen strikten und territorialen Rechts (ius 70 Gibney, Toward a Theory of Extraterritoriality, in: Minnesota Law Review Headnotes, Bd. 95, Nr. 2, 2011, S. 81–91 (86). 71 Dodge, Extraterritoriality and Conflicts-of-Laws Theory: An Argument for Judicial Unilateralism, 39 Harvard International Law Journal (1998), S. 101–169 (152). 72 Gibney, Toward a Theory of Extraterritoriality, in: Minnesota Law Review Headnotes, Bd. 95, Nr. 2, 2011, S. 81–91 (86). 73 Dodge, Misusing the Presumption Against Extraterritoriality in Climate Change Litigation, in: Courts & Justice Law Journal, Bd. 1, Nr. 2, 2019, S. 118–126 (120). Die Vermutung gegen Extraterritorialität besteht im US-Verfassungsrecht seit mindestens 1909: »All legislation is prima facie territorial«, American Banana Co. v. United Fruit Co, US-Supreme Court (1909), S. 357. Siehe zur Geschichte der »presumption against extraterritoriality«, Abate, Dawn of a New Era in the Extraterritorial Application of U.S. Environmental Statutes: A Proposal for an Integrated Judicial Standard Based on the Continuum of Context, in: Columbia Journal of Environmental Law, Bd. 31, 2006, S. 87–137 (91–102).

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strictum).74 Nach der Entscheidung des US-Supreme Court im Rechtsstreit Morrison v. National Australia Bank Ltd. regelt sie das Verhältnis zwischen dem amerikanischen Landesrecht und dem Völkerrecht.75 Sofern ein vom USKongress verabschiedetes Gesetz hinsichtlich seiner territorialen Reichweite unklar formuliert ist, bestimmt sie, dass es so ausgelegt oder interpretiert werden soll, dass damit keine Verletzung von Völkerrecht sowie neutraler Rechte einhergeht. Die Interpretation solle zudem darauf bedacht sein, dass hierdurch der neutrale Handel nicht beeinträchtigt werde. Um die Vermutung zu bestärken, argumentieren Gerichte, dass ihre Anwendung Konflikte mit fremden Staaten vermeidet. Die Vermutung gegen Extraterritorialität stärkt also einerseits den Territorialitätsgedanken, kann andererseits aber widerlegt werden. Sie soll nämlich nur so lange gelten, als keine besonderen Gründe für eine Ausnahme sprechen.76 74 Born, A Reappraisal of the extraterritorial reach of U.S. Law, S. 1, abrufbar unter: https://pape rs.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1959848 (zuletzt abgerufen am 8. 12. 2020). Siehe zur »presumption against extraterritoriality« Dodge, Understanding the Presumption Against Extraterritoriality, in: Berkeley Journal of International Law, Bd. 16, 1998, S. 85–125; Knox, A Presumption Against Extrajurisdictionality (April 30, 2010), American Journal of International Law, July 2010, Wake Forest Univ. Legal Studies Paper No. 1657126; Rotem, Economic Regulation and the Presumption against Extraterritoriality – A New Justification, in: William & Mary Policy Review, Bd. 3, 2012, S. 229–269; Clopton, Replacing the Presumption against Extraterritoriality, in: Boston University Law Review, Bd. 94, 2014, S. 1–53; Dodge, The Presumption against Extraterritoriality in Two Steps, in: American Journal of International Law Unbound, University of California, Davis Legal Studies Research Paper Series, Research Paper No. 501, Bd. 110, 2016, S. 45–50; Park, Equity Extraterritoriality, in: Duke Journal of Comparative & International Law, Bd. 28, 2017, S. 99–183; Dodge, Misusing the Presumption Against Extraterritoriality in Climate Change Litigation, in: Courts & Justice Law Journal, Bd. 1, 2019, S. 118–126; Simowitz, The Extraterritoriality Formalisms, in: Connecticut Law Review, Bd. 51, 2019, S. 375–412; Dodge, Presumptions against Extraterritoriality in State Law, in: University of California Davis Law Review, Bd. 53, 2020, S. 1389–1451; Dodge, The New Presumption against Extraterritoriality, in: Harvard Law Review, Bd. 133, 2020, S. 1582–1654. 75 Morrison v. National Australia Bank Ltd., 547 F.3d 167 (2d Cir. 2008) und Kiobel v. Royal Dutch Petroleum Co., 133 S. Ct. 1659, 1663–69 (2013). 76 Simowitz, The Extraterritoriality Formalisms, in: Connecticut Law Review, Bd. 51, 2019, S. 375–412, bemüht sich, den kaum praktikablen und dadurch zu Intransparenz führenden Schwerpunkt-Test aus der Morrison-Entscheidung zu formalisieren. In der Entscheidung Morrison v. National Morrison v. National Australia Bank Ltd., 547 F.3d 167 (2010) wurde betont, die Vermutung gegen Extraterritorialität sei kein striktes Gebot – keine klare Anweisungsregel (clear statement of rule). Vielmehr hänge es vom Kontext ab, ob sie im Einzelfall ausnahmsweise widerlegt werden könne (context can be consulted), abrufbar unter: https://www.supremecourt.gov/opinions/09pdf/08-1191.pdf (zuletzt abgerufen am 8. 12. 2020), S. 16. Siehe auch die Autoren, welche die Möglichkeit einer Entkräftung der Vermutung mit bestimmten Werten (values) in Verbindung bringen: Clopton, Replacing the Presumption against Extraterritoriality, in: Boston University Law Review, Bd. 94, 2014, S. 1–53 (22); Born, A Reappraisal of the extraterritorial reach of U.S. Law, S. 60, abrufbar unter: https://pape rs.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1959848 (zuletzt abgerufen am 8. 12. 2020).

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Unter welchen Voraussetzungen kann nun die Territorialität sichernde Vermutung gegen Extraterritorialität zugunsten einer extraterritorialen Ausnahme entkräftet werden? Das ist eine Grundsatzfrage, die das Verhältnis von strengem und unstrengem, von formalem und materialem Recht – und letztlich: von Recht und Ethik berührt.

2.

Keine ›Ausnahme‹ nach Maßgabe des staatspositivistischen Verständnisses

Wer nach den Ursprüngen des staatsphilosophischen Etatismus fragt, muss mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurückgehen – in die Epoche des Vernunftrechts, die gut hundert Jahre vor der industriellen Revolution ihren Anfang nahm. Damals begann im Anschluss an die Arbeiten von Jean Bodin eine politische Philosophie zu herrschen, die auf Begriffe wie Naturzustand, Gesellschaftsvertrag und Souveränität gebaut war. Zu ihren Mitbegründern gehört der englische Mathematiker und Rechtsphilosoph Thomas Hobbes, der den Ur- oder Naturzustand bekanntlich als Kriegszustand geschildert hat: Weil der Mensch dem Menschen von Natur aus ein Wolf sei, habe es des Abschlusses eines Gesellschaftsvertrags bedurft, dessen Zweck darin bestehe, den Naturzustand durch den Übergang in einen Rechtszustand zu beenden. Die einvernehmliche Übertragung der ungeteilten Macht auf einen Souverän soll den Frieden sichern und das private Eigentum schützen. Obwohl ein solcher Vertrag in Wirklichkeit nie geschlossen wurde, glaubte Hobbes in ihm eine Zäsur und den eigentlichen Anfang der Geschichte erblicken zu können. Ausdrücklich qualifizierte er den Gesellschaftsvertrag als Schöpfungsakt (imitatio creationis), wodurch ein »künstlicher Mensch« (artifical man), das Artefakt einer Maschine, erzeugt wurde, welches den Staat in Gestalt eines Automaten erscheinen lässt.77 Zu den Merkmalen des staatsphilosophischen Positivismus gehört, dass er selbst extrem ungerechtes Recht für Recht erklären und jene Kontrollprinzipien ausschalten will, die traditionell unter dem Begriff der Billigkeit (aequitas) versammelt wurden. Durch besondere Situationen oder den Kontext bedingte Wertungen vermag der Automat nicht zu berücksichtigen: Bereits bei Bodin verschwindet die Billigkeit hinter dem Befehl des Souveräns.78 Hobbes, Pufendorf, Thomasius und namentlich Kant haben die Billigkeit ebenfalls ausgesondert, da ein Richter »nach unbestimmten Bedingungen nicht sprechen« kann.79 77 Siehe hierzu und zum Folgenden Meder, Doppelte Körper im Recht. Traditionen des Pluralismus zwischen staatlicher Einheit und transnationaler Vielheit, 2015, S. 91f. 78 Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1576), hrsg. v. Mayer-Tasch, 1981, I 8, S. 231. 79 Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Werksausgabe, Bd. VIII, 10. Auflage 1993, S. 341–342.

116

Stephan Meder / Claudia Kurkin

Der staatsphilosophische Positivismus hat das Verhältnis von strengem und unstrengem – von formalem und materialem Recht – also in der Weise orientiert, dass nur das formale Recht Geltung in Anspruch nehmen darf und keinerlei Beziehungen zur Ethik mehr feststellbar sind.

3.

Das Schema von Regel und Ausnahme als Wechselspiel formaler und matrialer Elemente

An diesem Punkt setzt nach der Wende zum 19. Jahrhundert die Rechtskritik Savignys an, der es nicht mehr in Kauf nehmen möchte, dass das höchste Recht zur höchsten Rechtsverletzung (summum ius summa est iniuria) führt. Dementsprechend unterscheidet er zwischen einem ›reinen‹ Rechtsprinzip, das formale Zuständigkeiten schafft und einem ›gemischten‹ Rechtsprinzip, vermöge dessen auch materiale Gesichtspunkte zur Geltung kommen können. Unter Berufung auf die entwickelte römische Jurisprudenz behauptet Savigny, das Recht ohne strukturellen Formalismus (ius strictum) nicht möglich sei, der Formalismus aber eines Korrektivs bedürfe, das aequitas genannt werde.80 Diese »beiden Elemente des Rechts« treten nicht selten »in einem bestimmten Gegensatz aus einander, bekämpfen und beschränken sich wechselseitig, um sich späterhin vielleicht in einer höheren Einheit aufzulösen«.81 Savigny erblickt im Widerstreit zwischen formalen und materialen Elementen also eine Grundbedingung allen Rechts. Wie aber ist der Konflikt zwischen formalen und materialen Elementen – zwischen Recht und Ethik zu lösen? Hier verspricht das noch heute anerkannte Schema von ›Regel und Ausnahme‹ eine Antwort zu geben. Dieses Schema sagt 80 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840, S. 54–56, 112, 407–410. Dass aequitas hier im Sinne eines Sammelbegriffs verstanden wird, der nicht nur die Gebiete von Ethik oder Politik berührt, sondern auch moderne Begriffe wie Verhältnismäßigkeit oder Nachhaltigkeit umfassen kann, wird noch auszuführen sein. 81 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840, S. 54f. Näher Behrends, Struktur und Wert. Zum institutionellen und prinzipiellen Denken im geltenden Recht (1990), in: Savigny (Hrsg.), Institut und Prinzip. Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden republikanischen Konzeptionen in den kaiserzeitlichen Rechtsschulen, II Bände, Bd. I, Göttingen 2004, S. 55–89, 58–60. Dass derartige Gedanken auch in den USA bekannt sind und namentlich im internationalen Recht eine Rolle spielen, zeigen die Ausführungen von Ryngaert, Jurisdiction in International Law, 2. Auflage 2015, S. 157: »Another international law concept that might provide support for a jurisdictional rule of reason under international law is ›equity‹, a general principle of law that corrects the law in the interests of justice. Equity may arguably be one of ›the general principles of law recognized by civilized nations‹ applied by the International Court of Justice in accordance with Article 38 (1) (c) of the ICJ Statute. Equity so understood would then be a source of international law«.

Ius non scriptum extraterritoriale als regulierte Selbstregulierung

117

zunächst, dass die Rechtsordnung auf einer doppelten Struktur beruht, wobei die Regel in das Gebiet des ius strictum und die Ausnahme in das von aequitas oder Ethik fällt. Ob formalen oder materialen Elementen der Vorrang gebührt, lässt sich pauschal nicht beantworten. Es darf aber angenommen werden, dass für die Anwendung der Regel die Vermutung ihrer Richtigkeit spricht. Diese Vermutung entlastet denjenigen, der sich auf das strenge Recht berufen möchte, weil er die Werte, auf denen es fußt, nicht in jedem Fall neu herleiten oder begründen muss. Doch gibt es auch Situationen, in denen eine Anwendung strengen Rechts zu Ungerechtigkeiten führen würde (summum ius summa est iniuria). Dann muss derjenige, der sich genötigt sieht, seine Härten zu mildern, einleuchtende Gründe dafür angeben, warum er ein Abschwenken ausnahmsweise für geboten hält. Aus der Vermutung folgt also, dass derjenige, der sie entkräften möchte, eine besondere Argumentationslast zu tragen hat. Dadurch erschwert sich die Möglichkeit einer Ausschaltung des formalen Rechts, sodass dieses selbst dort eine Bindungswirkung entfaltet, wo es mit Billigkeitserwägungen durchbrochen wird.82

4.

Zwischenergebnis

Diese Grundsätze ließen sich auf die Vermutung gegen Extraterritorialität wie folgt anwenden: Für die Regel der Territorialität spricht die Vermutung ihrer Richtigkeit. Mit der Zunahme globaler Probleme und grenzüberschreitender Sachverhalte mehren sich aber die Situationen und Kontexte, in denen die Regel der Territorialität nicht zu sachgerechten Ergebnissen führen würde.83 In solchen Fällen können, wie noch auszuführen ist, vor allem die sogenannten Sustainable Development Goals den Anknüpfungspunkt für eine gerechte Lösung bieten.84 Wer also die Vermutung der Territorialität widerlegen möchte, muss überzeugende Argumente, stichhaltige Gründe und vernünftige Motive dafür angeben

82 Siehe Meder, Der unbekannte Leibniz. Die Entdeckung von Recht und Politik durch Philosophie, 2018, S. 77–80. 83 Clopton, Replacing the Presumption against Extraterritoriality, in: Boston University Law Review, Bd. 94, 2014, S. 1–53 (4). 84 Ireland-Piper, Accountability in Extraterritoriality: A Comparative and International Law Perspective, 2017, S. 1, Kurkin, Extraterritorialität. Eine Kategorie des transnationalen Rechts, 2021, S. 227 f.; Kurkin, European Union and CARICOM: current challenges and potential solutions in the Energy and Investment Sector, in: Hardy, Elias-Roberts, Huck (Hrsg.), Impact of Trade, Investment and SDGs to EU and CARICOM, 2020, S. 70–86; Kurkin, Risiko und Nachhaltigkeit im internationalen Wirtschaftsrecht, in: Michalke, Rambke, Zeranski (Hrsg.), Vernetztes Risiko- und Nachhaltigkeitsmanagement, erfolgreiche Navigation durch die Komplexität und Dynamik des Risikos, 2018, S. 97–100 (98–100).

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Stephan Meder / Claudia Kurkin

können, dass eine besondere Situation vorliegt und ein Abweichen in Richtung Extraterritorialität ausnahmsweise erforderlich ist.

VI.

Anknüpfung an die UN-Resolution zu den Sustainable Development Goals

Die US-amerikanische Literatur und Rechtsprechung behandelt die Frage nach den Möglichkeiten einer Widerlegung der Vermutung gegen Extraterritorialität weniger unter materialen oder ethischen, als unter streng rechtlichen Gesichtspunkten. Noch immer verlangen die Gerichte, dass das Gesetz eindeutig die Absicht oder den Zweck einer extraterritorialen Handlung angibt.85 Mangelt es an einer solchen Bestimmung, suchen sie eine Verbindung zwischen der territorialen Gerichtsbarkeit und dem Auslandssachverhalt ausfindig zu machen. Leitend ist dabei der Gedanke, dass die Freiheit der Völkerrechtssubjekte zur Regelung von Sachverhalten mit Auslandsbezug stets eine Grenze hat: Sobald der Staat mit seiner gewählten Anknüpfung, beispielsweise nach dem an die Staatsangehörigkeit knüpfenden Personalitätsprinzip oder der Auswirkungslehre (effects doctrine), in eine Kollisionslage mit der Gebietshoheit eines anderen Staates gerät und keine Vorschrift des Völkerrechts eine Regelung ausdrücklich erlaubt, fordern die meisten nationalen Rechtsordnungen eine sinnvolle Anknüpfung zwischen dem die Zuständigkeit beanspruchenden Staat und dem zu regelnden Sachverhalt.86 Auf diese Weise soll ein Ausgleich zwischen konkurrierenden Souveränitätssphären geschaffen werden. Materialen Gesichtspunkten kommt hierbei, wenn überhaupt, lediglich eine untergeordnete, jedenfalls nur selten offen ausgesprochene Bedeutung zu. Die US-amerikanische Literatur und Rechtsprechung schöpft also die Möglichkeiten nicht aus, welche das Schema von Ausnahme und Regel zur Widerlegung der Vermutung gegen Extraterritorialität eröffnet.87

85 Flaherty, Restoring the Global Judiciary, Why the Supreme Court should rule in U.S. Foreign Affairs, 2019, S. 181. Allerdings gibt es in den USA auch Ansätze, welche bemüht sind, die in englisch-sprachigen Ländern bekannte equity-Tradition für die Lösung von Problemen fruchtbar zu machen, die mit Extraterritorialität zusammenhängen, vgl. Park, Equity Extraterritoriality, in: Duke Journal of Comparative & International Law, Bd. 28, 2017, S. 99–183. 86 Siehe hierzu Becker, StIGH v. 7. 9. 1927 – Lotus, Strafjurisdiktion bei Schiffskollisionen, in: Menzel, Pierlings, Hoffmann (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, Ausgewählte Entscheidungen zum Völkerrecht in Retrospektive, 2005, S. 291–298 (296). 87 Es nimmt daher nicht wunder, dass gefordert wird, die Territorialitätsvermutung überhaupt aufzugeben, weil sie die extraterritoriale Anwendung der US-Gesetze in unangemessener Weise einschränke, Born, A Reappraisal of the extraterritorial reach of U.S. Law, S. 1, abrufbar unter: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1959848 (zuletzt abgerufen am

Ius non scriptum extraterritoriale als regulierte Selbstregulierung

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Es empfiehlt sich daher, an die UN-Resolution zu den Sustainable Development Goals anzuknüpfen. Rechtstheoretisch sind diese Ziele der materialen Seite des Rechts zuzuordnen, also der Ethik oder Billigkeit, die unter den Prämissen der Resolution als ›Nachhaltigkeit‹ auftritt. Die Gemeinsamkeit der materialen Elemente besteht darin, dass sie, wie ausgeführt, in bestimmten Situationen ein Abschwenken vom strengen Recht und namentlich der Territorialitätsregel rechtfertigen können. Gegenüber dem judicial territorialism hat die Vermutung gegen Extraterritorialität den Vorteil, dass auf ihrer Grundlage den Bedürfnissen extraterritorialer Rechtspraxis entsprochen werden kann. Zugleich werden die Nachteile eines judicial unilateralism vermieden, der Gefahr läuft, extraterritoriale Praxis zu weit ausufern zu lassen.88 Nach Maßgabe des Regel-Ausnahme-Schemas wäre die Vermutung gegen Extraterritorialität also imstande, einerseits dem Gebot der Territorialität den notwendigen Respekt zu zollen und andererseits extraterritorialer Praxis die Möglichkeit zu eröffnen, auf Grundlage von Wertungen zu argumentieren. Um das Wechselspiel von formalen und materialen Elementen des Rechts – von Regel und Ausnahme juristisch noch genauer fassen zu können, bietet sich der Gedanke der Verhältnismäßigkeit an.89 Die sowohl im Völkerrecht als auch in vielen nationalen Rechtsordnungen bekannte und anerkannte ›Verhältnismäßigkeit‹ ermöglicht einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen und konkurrierenden Souveränitäten. Idealiter könnte auf ihrer Basis ein weltweit anerkannter Auslegungsmodus geschaffen werden, der sich als eine Art Dreistufenfolge charakterisieren ließe: Am Anfang stünde die Entkräftung der Vermutung gegen Extraterritorialität, etwa durch den Hinweis auf den Schutz global wichtiger Güter. Die zunächst im Einzelfall getroffenen Entscheidungen (development cases) könnten sich im Laufe der Zeit zu Gewohnheitsrecht verfestigen,

8. 12. 2020). Solche Forderungen dürften hinfällig werden, sobald Wissenschaft und Rechtsprechung imstande sind, das Potenzial des Regel-Ausnahme-Schemas zu nutzen. 88 Daher ist auch die Forderung nach einer Umkehrung der traditionellen Vermutung gegen Extraterritorialität in eine Vermutung zugunsten der Extraterritorialität abzulehnen, Turley, »When in Rome«: Multinational Misconduct and the Presumption Against Extraterritoriality, in: Northwestern University Law Review, Bd. 84, Nr. 2, 1990, S. 598–664 (602f.). Denn dann wäre die innerhalb der Staatengemeinschaft weithin anerkannte Territorialitätsregel einmal mehr in Frage gestellt, was wohl eher zu einer Verschärfung als zu einer Bewältigung der mit dem judicial unilateralism verbundenen Probleme führen würde. Nicht zuletzt aus Gründen der Rechtssicherheit erscheint die überkommene Vermutung mit der Option, sie am Maßstab der Sustainable Development Goals zu widerlegen, vorzugswürdig. 89 Dazu näher Kurkin, Extraterritorialität. Eine Kategorie des transnationalen Rechts, 2021, S. 225–236. Dabei ist vorausgesetzt, dass auch die ›Verhältnismäßigkeit‹ dem Sammelbegriff der Billigkeit unterfällt.

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Stephan Meder / Claudia Kurkin

um am Ende vielleicht sogar in die Formen strengen Rechts gegossen zu werden.90 Gemeinhin erfordert eine Verhältnismäßigkeitsprüfung über die allgemeinen Voraussetzungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und der Angemessenheit hinaus zunächst die Bestimmung eines legitimen Zwecks. Extraterritoriale Praxis kann akzeptabel werden, wenn sie gemeinsamen Werten entspricht oder Gemeinschaftsinteressen dient. Von hier aus ergibt sich eine Verbindungslinie zu den Sustainable Development Goals. Die insgesamt 17 Ziele und 169 konkretisierenden Unterziele betreffen materiell diverse Lebensbereiche, die sich zu den Gebieten Umwelt und Menschenrechte zusammenfassen lassen.91 Die Ziele bilden gemeinsame Werte. Sie wurden, wie eingangs bereits angedeutet, in Gestalt einer politischen Resolution im Forum der Vereinten Nationen nach einem im Sinne der selbstverpflichtenden UN-Charta formalisierten Abstimmungsverfahren von 193 Staats- und Regierungsdelegierten beschlossen. Die Vereinten Nationen sind eine internationale Organisation, die von Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg als Friedensorganisation gegründet wurde und inzwischen auf internationaler Ebene weitreichende Aufgaben wahrnimmt. Sie können als selbstregulatorisches Gebilde aufgefasst werden, das außerhalb der konventionellen Strukturen des genossenschaftlichen Völkerrechts operiert (Art. 38 Statut des Internationalen Gerichtshofes), gleichwohl aber hiermit auf verschiedene Weise verbunden ist.92 So wird die Gemeinwohlbelange betreffende Resolution von Staaten auf freiwilliger Basis zunehmend umgesetzt und in rechtlich relevante Formate beispielsweise völkerrechtliche Verträge aufge-

90 Wie sich über die zunächst im Einzelfall und als Ausnahme zur Geltung gebrachte Billigkeit Gewohnheitsrecht und schließlich in feste Normen gegossenes Gesetzesrecht entwickeln kann, ist an anderer Stelle näher ausgeführt worden, vgl. Meder, Aequitas und ius strictum in der Historischen Rechtsschule und Pandektistik, in: Armgardt, Busche (Hrsg.), Recht und Billigkeit. Zur Geschichte der Beurteilung ihres Verhältnisses, 2021, S. 509–532. 91 Ziel 1: Keine Armut, 2: Kein Hunger, 3: Gesundheit und Wohlergehen, 4: Hochwertige Bildung, 5: Geschlechtergleichheit, 6: Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen, 7: Bezahlbare und saubere Energie, 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum, 9: Industrie, Innovation und Infrastruktur, 10: Weniger Ungleichheiten, 11: Nachhaltige Städte und Gemeinden, 12: Nachhaltiger Konsum und Produktion, 13: Maßnahmen zum Klimaschutz, 14: Leben unter Wasser, 15: Leben an Land, 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen, 17: Partnerschaften zur Erreichung der Ziele. 92 Das Völkerrecht wird aufgrund des Westfälischen Friedens von 1648, nach dem sich die Staaten als souveräne Gleiche auf einer horizontalen Ebene gegenüberstehen, in seiner Struktur als genossenschaftliches Recht aufgefasst. Es hat selbstregulatorischen und privatrechtsähnlichen Charakter, obwohl es von Staaten bzw. der Staatengemeinschaft nach dem Rechtsquellenkatalog des Art. 38 Statut des Internationalen Gerichtshofes erzeugt wird. Zum genossenschaftlichen Charakter des Völkerrechts Arnauld, Völkerrecht, 4. Auflage 2019, S. 14–16.

Ius non scriptum extraterritoriale als regulierte Selbstregulierung

121

nommen und in nationale Rechtsordnungen integriert.93 Zusätzlich zu diesem unter dem Gesichtspunkt der Selbstregulierung relevanten Transformationsprozess sind an die extraterritoriale Rechtsanwendung folgende Anforderungen zu stellen. Die extraterritoriale Rechtsanwendung muss sich über die politisch und materiell einzuhaltenden Sustainable Development Goals hinaus am internationalen Recht messen lassen. Es sind hierzu die Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts zu beachten, zu denen, wie bereits ausgeführt, das aktive und passive Personalitätsprinzip und das Wirkungsprinzip (effects doctrine) zählen. Die beabsichtigte extraterritoriale Maßnahme sollte zur Erreichung ihrer Ziele geeignet sein. Eine Maßnahme ist geeignet, wenn sie den Zweck auch nur fördert.94 Das Kriterium ›Erforderlichkeit‹ dient der Überprüfung, ob alternative Maßnahmen zur Verfügung stehen, die imstande sind, das Ziel ebenso effektiv, aber mit einer geringeren Belastung für kollidierende Rechtspositionen zu erreichen.95 Es sollte dementsprechend eine Bewertung erfolgen, ob eine weniger restriktive Maßnahme zur Verfügung steht, die gleichermaßen die Regulierungs- und Nachhaltigkeitsziele mit vertretbarem Aufwand wirksam fördert und mit geringeren Auswirkungen auf die Position des von extraterritorialer Praxis betroffenen Staates verbunden ist. Ein milderes Mittel sind beispielsweise diplomatische Konsultationen. Es sollte zudem nur solches Recht extraterritorial angewendet werden, das eine Nachhaltigkeitsprüfung (Sustainability Impact Assessment) erfolgreich durchlaufen hat. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung ist zu berücksichtigen, ob der erstrebte Zweck, der durch die extraterritoriale Maßnahme verfolgt wird, nicht außer Verhältnis zur Intensität des dadurch ausgelösten Eingriffs in die Souveränität eines anderen Staates oder die Rechtspositionen von Privatrechtssubjekten steht. Eine kontinuierliche Anwendung der vorgeschlagenen Methodik kann, sofern sie für überzeugend befunden wird, universelles, also nicht nur territorial wirkendes Gewohnheitsrecht schaffen.

93 Zur rechtlichen Transformation der politischen Resolution Huck, Kurkin, Die UN-Sustainable Development Goals (SDGs) im transnationalen Mehrebenensystem, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV)/Heidelberg Journal of International Law (HJIL), Bd. 78, 2018, S. 375–424. 94 Winter, Ökologische Verhältnismäßigkeit, in: Zeitschrift für Umweltrecht (ZUR), 2013, S. 387–395 (389). 95 Gehne, Nachhaltige Entwicklung als Rechtsprinzip, Normativer Aussagegehalt, rechtstheoretische Einordnung, Funktionen im Recht, 2011, S. 227. Siehe zum Erforderlichkeitskriterium auch Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 56–75. Das Kriterium lässt sich der Minimal-Variante des ökonomischen Prinzips zuordnen, wonach ein Ziel mit möglichst geringen Kosten zu verwirklichen ist Gehne, ebd., S. 228.

122

VII.

Stephan Meder / Claudia Kurkin

Zusammenfassung

Obwohl es sich bei Extraterritorialität keineswegs um ein neues Phänomen handelt, mangelt es weiterhin an einem Konsens über die rechtlichen Rahmenbedingungen und insbesondere an einer adäquaten Methodik der extraterritorialen Rechtsfortbildung, um von der strengen und das konventionelle Rechtsdenken beherrschenden Territorialitätsregel eine sinnvolle Ausnahme begründen und dadurch die presumption against extraterritoriality widerlegen zu können. Aus dem Diskussionsspektrum stechen zwei Ansätze hervor, die einerseits mit der Denkrichtung des Staatspositivismus und andererseits mit dem Rechtspluralismus harmonieren. Die Ansätze führen für sich genommen aber jeweils nicht zu einer kohärenten Bewältigung der Probleme extraterritorialer Rechtspraxis. Während der judicial territorialism die aktuell global drängenden Probleme vernachlässigt, führt der judicial unilateralism mit seiner Forderung nach einer umfassenden extraterritorialen Rechtsanwendung zu nicht unerheblichen Konflikten mit anderen Staaten oder der Staatengemeinschaft um die Regelung von grenzüberschreitenden oder sich im Ausland ereignenden Sachverhalten. Mit den von der Staatengemeinschaft im Forum der Vereinten Nationen beschlossenen und global anerkannte Werte bildenden Sustainable Development Goals, die sowohl von Staaten als auch von Privatrechtssubjekten durch verschiedene Rezeptionsmechanismen allmählich Rechtsqualität erlangen, kristallisiert sich ein dritter Ansatz heraus. Er folgt der Idee, dass Staaten und Gerichte sich durch unilaterale extraterritoriale Praxis wechselseitig dazu anhalten können, die globalen Ziele zu beachten. Im Kern beinhaltet der Ansatz einen allgemeinen Billigkeitsgedanken (aequitas) und ist unter zusätzlicher Beachtung der auf die Problemfelder der extraterritorialen Praxis zugeschnittenen Verhältnismäßigkeitsprüfung dazu imstande, eine Ausnahme vom strengen territorialen Recht (ius strictum) zu begründen.

Roland Schwarze

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

A.

»Jenseits des Staates«

I.

Einleitung

Das Arbeitsrecht ist gewiss das Referenzgebiet für private Regulierung. Die zögerliche Haltung des vordemokratischen Staates gegenüber der mit Etablierung von Vertrags- und Wettbewerbsfreiheit aufkommenden sozialen Frage haben das industriell geprägte Arbeitsleben früh zu eigenen Formen der autonomen Regelung geführt, die nach einer Phase der Improvisation unter der ersten Demokratie systematisch zur normativ wirkenden Selbstregulierung ausgebildet worden ist (TVVO 1918, BRG 1920).1 Im sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes erfreut sich die arbeitsrechtliche Selbstregulierung einer verfassungsrechtlichen (Art. 9 Abs. 3 GG) und gesetzlichen Verfestigung (insbes. TVG, BetrVG), die ihresgleichen in anderen Feldern des Privatrechts kaum finden wird und die den Diskurs über Regulierung »jenseits des Staates« zu einem vornehmlich rechtsdogmatischen macht:2 Die »Staatsfreiheit« der arbeitsrechtlichen Selbstregulierung ist dank ihrer Legalisierung und Konstitutionalisierung eine Frage der Auslegung und Anwendung staatlichen Rechts. Die starke Verrechtlichung ist Ausdruck einer Erwartung des Staates an die Selbstregulierung. Die fundamentale Gegebenheit des Arbeitslebens ist die Dysfunktion der Vertragsautonomie. Sie stellt eine Regulierungsaufgabe, die weder der Staat noch die Akteure 1 Den Übergang vom Verbot zur Duldung markiert die Aufhebung des Koalitionsverbots für den Bereich des Norddeutschen Bundes im Jahre 1869. In der Duldungsphase bis 1918 war die Regelung auf der Basis schuldrechtlicher Verträge erst ab einer grundlegenden Entscheidung des RG v. 20. 1. 1910 (RGZ 73, 92) gesichert, s. Wiedemann/Oetker TVG, 8. Aufl., Geschichte Rn. 2 f. 2 Die Dogmatik misst auf hohem Stand die Bedeutung arbeitsrechtlicher Selbstregulierungen in jeder Generation aufs Neue und für die Fragestellungen ihrer Zeit aus, s. zur Tarifautonomie die Schrifttumsübersicht bei Wiedemann/Jacobs TVG, 8. Aufl., Einl.; zur Betriebsautonomie die Schrifttumsübersicht bei Richardi/Richardi BetrVG, 16. Aufl., § 77 am Anfang.

124

Roland Schwarze

der Selbstregulierung allein bewältigen können. Daraus ist ein komplexes Verhältnis von staatlicher Regulierung und Selbstregulierung erwachsen, das vom Modell der Selbstregulierung als einer gegenüber dem Staat abgeschirmten Sphäre der autonomen Regelung eigener Angelegenheiten nicht abgebildet werden kann und dessen charakteristischer Zug Komplementarität ist – die arbeitsteilige Ergänzung bei der Erfüllung einer allen Akteuren obliegenden Aufgabe. Die arbeitsrechtliche Selbstregulierung soll im Folgenden darauf untersucht werden, ob und wieweit sie diese Komplementarität ermöglicht oder sogar befördert, und zwar für das Verhältnis der Selbstregulierung zur staatlichen Regulierung (Außenverhältnis) ebenso wie für das Verhältnis der arbeitsrechtlichen Selbstregulierungen zueinander (Innenverhältnis).

II.

Begriff der Selbstregulierung

Der Begriff der (privatrechtlichen) Selbstregulierung, die dem vorliegenden Text zugrunde liegt, ist vorab zu bestimmen. 1.

Staatsfreiheit

Das negative Element der Selbstbestimmung ist die Staatsfreiheit.3 Im demokratischen Verfassungsstaat kann die »Staatsfreiheit« autonomer Regelung nur in den Formen staatlich anerkannten Rechts gedacht werden. Die vor- oder außerstaatliche Befähigung zur Erzeugung rechtlicher Bindung mag als rechtstheoretisches Konstrukt eine Metaebene zum Verstehen staatlichen (Verfassungs-)Rechts bilden, als Rechtsquelle kann sie keine Anerkennung finden. Das gilt schon für die Vertragsautonomie, die rechtliche Anerkennung findet nach Regeln, die der Staat setzt. Es gilt nicht minder für die Verbandsautonomie, die Regeln für ihre Mitglieder setzt. Der Versuch, auf den Spuren v. Gierkes die Verbände als Träger einer vor- bzw. außerstaatlichen (»intermediären«) rechtlichen Autarkie zu verstehen,4 hat sich im Arbeitsrecht so wenig wie allgemein durchsetzen können, auch wenn das Arbeitsrecht mit Art. 9 Abs. 3 GG über eine Spezialgarantie verfügt, die im Sinne einer Anerkennung des aus sich Bestehenden hätte gedeutet werden können. Einige literarische Versuche in dieser Richtung aus der Nachkriegszeit5 erscheinen heute als verständliche (Über-) Reaktion auf den Unrechtsstaat, mehr nicht. Sowohl der Rechtsstaatsgedanke als 3 BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146, juris = BVerfGE 146, 71 (»… enthält sich der Staat der Einflussnahme …«); BVerfG 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86 u. a., Rn. 107, juris = BVerfGE 92, 365. 4 Meder, Ius non scriptum – Traditionen privater Rechtsetzung, 2. Aufl., 2009, S. 52ff. 5 Bogs, RdA 1956, 2, 4; Herschel, FS Bogs (1959), S. 125, 130f.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

125

auch die Grundrechtsgarantien gebieten die staatstheoretische Inklusion der arbeitsrechtlichen Selbstregulierung.6 Die Abhängigkeit vom Staat, in welche die von frei gebildeten Verbänden getragene Selbstregulierung damit konstruktiv gerät, wird durch justiziable Ansprüche auf Bereitstellung der erforderlichen Verfahren zur Herstellung rechtlicher Bindung unter Privaten ausgeglichen,7 sodass die Staatsfreiheit des Regulierungsverfahrens und der Regulierungsinhalte auch bei einer in staatlichem Recht sich äußernden und in sie eingegliederten Selbstregulierung denkbar ist. 2.

Selbstbestimmung

Das positive Element der Selbstregulierung ist die Selbstbestimmung. Ihr archimedischer Punkt ist die Selbstbestimmung des Einzelnen, nicht die irgendeines nichtstaatlichen Kollektivs (die des Verbands oder der Belegschaft).8 Ihr Maß ist die Privatautonomie in Gestalt der vertraglichen Selbstbestimmung, deren Störung sie beheben soll. Das Kollektive ist nur Mittel zum Zweck, es hat keinen materiellen Eigenwert. Wenn das Interesse des Einzelnen zurücktreten muss hinter ein kollektives Interesse, so ist das kollektive Interesse stets als eine Resultante der anderen Einzelinteressen zu denken, selbst dann, wenn es um Interessen der Organisation geht, besteht diese Rückbindung, wenn auch nur mittelbar.9 Einen darüber hinaus gehenden »Eigenwert« des Kollektivs, der überhaupt nicht rückgebunden wäre an die Einzelinteressen, auch nicht in einem ideell-repräsentativen Sinne, könnte es nur auf dem Boden der skizzierten Autonomielehre10 geben, die mit dem Staatsverständnis des Grundgesetzes nicht vereinbar ist.11 Die herrschende Theorie der unmittelbaren, der Vermittlung des Art. 19 Abs. 3 GG nicht bedürfenden Grundrechtsträgerschaft der Verbände12 steht dazu nicht in Widerspruch. Sie versucht lediglich, der Notwendigkeit der 6 Unmissverständlich BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146, juris = BVerfGE 146, 71 (»… der Staat überlässt die autonome Vereinbarung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen den Koalitionen …«). 7 BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 130f., 144, 148 m.w.N., juris = BVerfGE 146, 71; BVerfG 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86 u. a., Rn. 107, juris = BVerfGE 92, 365; Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, 1991, S. 73ff. 8 Die Ausführungen unter A II 1 gelten hier entsprechend. 9 S. die Analyse von Reichold, Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995, 358ff., 399ff.; Schwarze, FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht (2020), S. 717, 720f. 10 Unter A II 1. 11 Nicht von ungefähr spricht das BVerfG von den Interessen »der Arbeitnehmer« und »der Arbeitgeber«, nicht jenen der Verbände, vgl. BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146, juris = BVerfGE 146, 71. 12 »Theorie des Doppelgrundrechts«, vgl. BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 130, juris = BVerfGE 146, 71; zur Gegenauffassung grundlegend Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem (1971), insbes. S. 121ff.

126

Roland Schwarze

kollektiven Form für die arbeitsrechtliche Selbstregulierung angemessen Ausdruck und Gewicht zu verleihen.13 Der Minimalgehalt der Selbstbestimmung ist dahin zu bestimmen, dass der Inhalt der Regulierung nicht vom Staat oder von Dritten bestimmt werden kann, die nicht von der Regulierung betroffen sind.14 Positiv ist jedenfalls zu fordern, dass die Einflussnahme der Einzelnen auf die Regulierung stärker sein muss, als sie es im Falle der staatlichen Regulierung wäre, d. h. es muss ein höheres Maß an Einflussnahme bestehen als bei der staatlich-demokratischen Wahl. Diese Voraussetzung ist nicht erst erfüllt, wenn die Bindungswirkung der Regulierung von einem verbandlichen Beitrittsakt abhängig gemacht wird wie im Falle der Tarifautonomie (§ 3 Abs. 1 TVG), sondern schon dann, wenn ein höheres Maß an Einwirkungsmöglichkeit auf die Regulierung für den Einzelnen besteht als bei staatlicher Regulierung, wie es die Betriebsautonomie gewährleistet. Ein der Privatautonomie gleichkommendes Maß an Selbstbestimmung ist dagegen nicht vorauszusetzen, Selbstregulierung kann und wird typischerweise ein geringeres Maß an Selbstbestimmung bedeuten als die rechtsgeschäftliche Privatautonomie und ist trotzdem strukturell näher an der Willens- und Interessenlage als die staatliche Regulierung.15 3.

Regulierung

Das dritte Element, die Regulierung, meint mehr als das Generelle, das die »Regelung« vom Einzelvertrag unterscheidet. Sie kennzeichnet sich formal durch ihre normativ-zwingende Wirkung, die der gesetzlichen Grundlage bedarf. In materieller Hinsicht verfolgt sie zumindest i. d. R. den Zweck, eine Dysfunktion des Individualvertrags zu beheben. In formeller Hinsicht schränkt sie die Vertragsfreiheit aus diesem Grunde für zumindest eine Partei, den Arbeitgeber, ein und wirkt zwingend.16 Regulierend ist demnach der Tarifvertrag (§ 4 Abs. 1 S. 1 TVG) und die Betriebsvereinbarung (§ 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG17). Privates Interesse 13 Näher Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien (1991), S. 62ff. 14 BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146, juris = BVerfGE 146, 71 (»Freiraum, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können«). 15 Unerörtert kann hier bleiben, ob das Zurückbleiben hinter dem rechtsgeschäftlichen Maß an Selbstbestimmung die Anwendung von Schutzmechanismen erfordert, die für gewöhnlich für die Fremdbestimmung vorgesehen sind, namentlich das Maß der Grundrechtswirkung, s. dazu Schwarze, ZTR 1996, 1ff.; Wiedemann/Jacobs TVG, 8. Aufl., Einleitung Rn. 17ff. 16 Zu einem möglichen weiteren Begriff der Selbstregulierung s. Bachmann, Private Ordnung, S. 27ff., 41ff. 17 Pars pro toto für alle anderen Normenverträge unterhalb der tariflichen Ebene, insbes. Dienstvereinbarung (z. B. § 73 BPersVG), Arbeitsgruppen-Vereinbarung (§ 28a Abs. 2 BetrVG) und Richtlinien gem. § 28 SprAuG.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

127

bedient sich hier der öffentlich-rechtlichen Form. Die arbeitsrechtliche Selbstregulierung verfolgt private Interessen und ist nach heute ganz h. M. privatrechtlicher Natur.18 Deshalb kann sie nicht als Delegation öffentlicher Normsetzungsbefugnis konstruiert werden,19 sie unterliegt vielmehr einer Beschränkbarkeit im öffentlichen Interesse.20 Dass ein öffentliches Interesse an der autonomen Regulierung besteht,21 weil die tarifliche Regulierung von »großer Bedeutung für die Sozial- und Wirtschaftsordnung des Gemeinwesens«22 ist, beeinflusst deren privatrechtlichen Charakter nicht. Ob sie andererseits vollständig rechtgeschäftlich (privatautonom oder verbandsrechtlich) erklärt werden kann,23 ist bis heute im Streit und wohl ohne eine Überdehnung der in Betracht gezogenen Figuren nicht möglich. Viel spricht für die Deutung als einer vom Gesetzgeber durch das TVG geschaffenen besonderen Form privater Interessenwahrnehmung, deren Charakterisierung als »kollektiv ausgeübte Vertragsautonomie«24 die Sache durchaus trifft: die Relativierung der Selbstbestimmung im Kollektiv genauso wie das vertragliche Aushandeln als Modus der Regulierung. Funktional »Regulierung«, formal aber nur Regelung ist die Nutzung des Schuldvertrags durch die Akteure des kollektiven Arbeitsrechts zur Ausprägung arbeitsvertragsbezogener Inhalte, die der Umsetzung durch die Arbeitsvertragsparteien bedarf, um dort Wirkung zu entfalten.25 Sie wird in der Praxis eher als Behelf genutzt und kommt am ehesten über § 140 BGB ins Spiel, wenn eine beabsichtigte normative Regulierung an formalen Hindernissen scheitert. Weder der Form noch dem Inhalt nach Regulierung sind einzelvertragliche Regelungen, die inhaltlich eine über den Einzelvertrag hinausgehende Regel durch Wiederholung entstehen lassen (AGB, Gesamtzusage, Betriebliche Übung). Die arbeitsrechtliche Dogmatik spricht hier von vertraglichen Regeln mit »kollektivem« Einschlag,26 womit das »Generelle« des rechtstheoretischen 18 Vgl. BAG 15. 4. 2015, 4 AZR 796/13, Rn. 44, juris = AP § 3 TVG Nr. 57; BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 147, juris = BVerfGE 146, 71. 19 Klärend Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 163ff. 20 BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Leits. 2, juris = BVerfGE 100, 271. 21 BVerfG 20. 3. 2007, 1 BvR 1047/05, Rn. 38, juris = NZA 2007, 609. 22 BVerfG 26. 5. 1970, 2 BvR 664/65, Rn. 34, juris = BVerfGE 28, 295. 23 Zuletzt eingehend Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Recht, 2014, S. 101ff. mit umf. Nachweisen; analysierend Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 259ff. 24 Gebräuchlicher die Formel »kollektiv ausgeübte Privatautonomie«, BAG 15. 4. 2015, 4 AZR 796/13, Rn. 44, juris = AP § 3 TVG Nr. 57; Wiedemann/Jacobs TVG, 8. Aufl., Einl. Rn. 6; sachlich nicht anders BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 147, juris = BVerfGE 146, 71 (»kollektivierte Privatautonomie«). 25 Zur schuldvertraglichen »Koalitionsvereinbarung« Höpfner, RdA 2020, 129ff.; zur betrieblichen Regelungsabrede Richardi/Richardi BetrVG, 16. Aufl., § 77 Rn. 240ff. 26 S. unter E I 2.

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Rechtsbegriffs zum dogmatischen Tatbestand wird, für den sich inzwischen eigene Grundsätze herausgebildet haben, die der kollektiven Regelung eine Position zwischen (Einzel-)Vertrag und Regulierung zuweisen. Der Inhalt wird de facto vom Arbeitgeber als Gestalter der vertraglichen Regeln bestimmt.

III.

Charakteristika der arbeitsrechtlichen Selbstregulierung

Die Autonomie ist der ideelle Kern der Selbstregulierung, die Regelung der Angelegenheiten der Autonomiebeteiligten in staatsfreier Selbstbestimmung. Beide arbeitsrechtlichen Selbstregulierungsebenen sind Ausprägungen dieser Idee, genügen ihr aber in unterschiedlichem Maße. 1.

Absolute Staatsfreiheit der primären Selbstregulierung (Tarifautonomie)

Das Zentrum der arbeitsrechtlichen Selbstregulierung ist die von den frei gebildeten Verbänden getragene Tarifautonomie. Die Tarifautonomie genießt verfassungsrechtliche Anerkennung (Art. 9 Abs. 3 GG)27 und ist durch das TVG als Befugnis zur Setzung von Rechtsnormen ausgestaltet (§ 1 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG), die sich auf praktisch alle Fragen der Arbeitsbeziehung(en) erstrecken kann (Art. 9 Abs. 3 GG, § 1 Abs. 1 TVG). Der freiheitliche, selbstbestimmende Charakter der Tarifautonomie28 fächert sich auf in die (1) Freiheitlichkeit der Verbandsbildung (§§ 20ff. BGB, kein Beitrittszwang), (2) die Freiheitlichkeit des tariflichen Verfahrens (§§ 145ff. BGB, kein Kontrahierungszwang) und (3) die Freiheitlichkeit der Tarifbindung durch Verbandsbeitritt oder -nichtbeitritt (kein Tarifzwang, § 3 Abs. 1 TVG). Die daraus resultierende Selbstbestimmung der Regulierungsunterworfenen ist schwächer als die Selbstbestimmung, die der (funktionsfähige) Einzelvertrag ermöglicht, aber sie gewährt immer noch eine freie Entscheidung des Einzelnen über die Teilnahme am Tarifsystem, die nicht von vornherein beschränkt ist auf »Beteiligung« an Mehrheitsprozeduren und der man sich entziehen kann, ohne das Arbeitsverhältnis aufgeben zu müssen. Diese freiheitliche Struktur der tariflichen Regulierung verbürgt die Abwesenheit staatlichen Einflusses auf die Regulierung in prozeduraler Hinsicht. Die Absicherung der Freiheit in inhaltlicher Hinsicht ergibt sich aus der Verfassungsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG, die das Regulierungsergebnis vor ungerechtfertigten staatlichen Verboten29 oder vor nicht gerechtfertigter Verdrängung durch kon27 BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146f. und passim, juris = BVerfGE 146, 71. 28 BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146, juris = BVerfGE 146, 71. 29 Zu den Voraussetzungen des gerechtfertigten Eingriffs etwa BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 143, 151ff., juris = BVerfGE 146, 71.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

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kurrierende staatliche Regulierung sichert30 und dem Staat damit auch die mittelbare Beeinflussung tariflicher Regulierung durch Androhung staatlicher Regulierung aus der Hand nimmt. Die arbeitsrechtliche Rechtsquellenlehre, die den staatlichen Rechtsakt formal über die Tarifnorm stellt,31 steht dem nur scheinbar entgegen; denn der Vorrang gilt nur für den wirksamen, d. h. den mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbaren staatlichen Rechtsakt. 2.

Relative Staatsfreiheit der sekundären Selbstregulierung (Betriebsautonomie)

Die Betriebsautonomie bildet die zweite Reihe der Selbstregulierung. Ihre Regulierungsbefugnis ist einerseits ähnlich umfassend wie die der Tarifautonomie, nämlich die Regulierung von Arbeitsbedingungen einschließlich betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Fragen (§§ 77 Abs. 3, 88 Einls. BetrVG).32 Sie ist andererseits umfassend33 der Tarifautonomie nachgeordnet (§§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 Einls. BetrVG34), darf also nicht regeln, was die Tarifparteien bereits geregelt haben oder zu regeln beabsichtigen, auch dann nicht, wenn die betriebliche Regelung für die Arbeitnehmer im Vergleich zur tariflichen günstiger ist.35 Versuche, dieses Verhältnis in einen Vorrang der Betriebsautonomie für betriebsnahe Regulierungen umzuinterpretieren,36 ist zu Recht kein Erfolg beschieden gewesen. Sie verfehlen, gestützt auf einen unzureichenden Begriff der Autonomie, das zentrale Anliegen des Art. 9 Abs. 3 GG, die Staatsfreiheit der Regulierung, gleich mehrfach. Zwar ist auch die betriebliche Regulierung »autonome Regulierung«: Die Betriebsparteien regeln durch normativ wirkenden Vertrag (Betriebsvereinbarung) arbeitsrechtliche Fragen des Betriebs. Doch ist die Staatsfreiheit der betrieblichen Selbstregulierung eingeschränkt: Das gilt erstens für die Unterwerfung unter die betriebliche Regulierung, die zur Hälfte37 auf gesetzlichem Zwang und nicht auf Beitrittsakt beruht. Es gilt zweitens für das Regulierungsverfahren, das in den wichtigen Fällen auf einem staatlich ge30 Zur Diskussion um die Vereinbarkeit des Mindestlohngesetzes mit Art. 9 Abs. 3 GG etwa Löwisch, NZA 2014, 948ff.; Henssler, RdA 2015, 43ff.; Lobinger, JZ 2014, 810ff. 31 Preis/Temming, Arbeitsrecht – Individualarbeitsrecht, 6. Aufl. 2019, Rn. 377ff. 32 BAG 12. 12. 2006, 1 AZR 96/06, Rn. 13f., juris = AP § 77 BetrVG 1972 Nr. 94; Richardi/Richardi BetrVG, 16. Aufl., § 77 Rn. 73 m. umf. Nachweisen. 33 Punktuelle Ausnahmen tun dem keinen Abbruch, § 112 Abs. 1 S. 4 BetrVG. 34 Ggf. auch § 4 Abs. 1 TVG kraft Höherrangigkeit, soweit § 77 Abs. 3 BetrVG auf materielle Arbeitsbedingungen beschränkt wird (vgl. GK-ArbR/Schwarze BetrVG, 2. Aufl., § 77 Rn. 19). 35 H. M., s. nur Richardi/Richardi BetrVG, 16. Aufl., § 77 Rn. 298; a. A. Ehmann/Lambrich, NJW 1995, 193, 199f. 36 In diese Richtung Meik, Der Kernbereich der Tarifautonomie, 1987, S. 116ff. 37 Die andere Hälfte bildet der Abschluss des Arbeitsvertrags, der nicht nur formal Selbstbestimmung des Arbeitnehmers ist.

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schaffenen Einigungszwang beruht (insbes. § 87 Abs. 2 BetrVG). Es gilt drittens und vor allem für die Staatsabhängigkeit der Infrastruktur: Seine Verhandlungsmacht verdankt der Betriebsrat nicht dem freien Willen (Arbeitskampfbereitschaft) von Verbandsmitgliedern, sondern den ihm durch staatliche Regelung (BetrVG) eingeräumten Beteiligungsrechten. Diese Abhängigkeit vom staatlichen Gesetz (von der »Politik«) wird nicht aufgewogen durch eine starke verfassungsrechtliche Ausstattungsgarantie wie sie Art. 9 Abs. 3 GG für die Verbände vorhält; selbst wenn man eine gesetzliche Betriebsverfassung durch Art. 12 GG und das Sozialstaatsprinzip garantiert sähe,38 wären daraus konkrete Aussagen über Mindestausstattung von Mitbestimmungsrechten kaum zu treffen. 3.

Praktische Bedeutung der Selbstregulierung

Die praktische Bedeutung der Tarifautonomie ist trotz nicht zu übersehender Erosionstendenzen39 nach wie vor beeindruckend: rd. 77.000 geltende Tarifverträge40 und von diesen erfasste rd. 18 Millionen Arbeitsverhältnisse41 lassen die völlige Überforderung der staatlichen Regulierung vom Komplexitätsbedarf des Arbeitslebens scharf hervortreten. Die praktische Bedeutung der Betriebsautonomie wird von der tariflichen Regulierung bestimmt, davon, was sie der betrieblichen zu regeln übrig lässt. Das ist freilich eine Menge, da die tarifliche Regulierung in Deutschland zum ganz überwiegenden Teil überbetrieblich angelegt ist, d. h. sachlich auf Branchen und räumlich auf Regionen bezogen. Wenn auch die Zahl von Firmentarifverträgen in den letzten zwei Jahrzehnten zugenommen hat,42 werden doch nur 7 % (West) bzw. 11 % (Ost) der Arbeitsverhältnisse von ihnen erfasst. Das hat eine rechtliche Ursache: Um tariffähige »Gewerkschaft« im Sinne von § 2 Abs. 1 TVG sein zu können, muss ein Arbeit38 Abl. Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, 1991, S. 105ff. 39 Abnahme der Tarifbindung 1998–2018 in Deutschland-West von 76 % auf 56 %, in Deutschland-Ost von 63 % auf 45 % der Arbeitsverhältnisse (https://www.wsi.de/de/tarifbin dung-15329.htm). Aus dem rechtsdogmatischen Diskurs über Gegenmittel Hartmann, ZfA 2020, 152ff., Höpfner, ZfA 2020, 178ff., Waltermann, ZfA 2020, 211ff., und Henssler, RdA 2021, 1ff. 40 Für 2019 (Quelle: https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/mehr-als-77-000-gu eltige-tarifvertraege-in-deutschland/). 41 Errechnet aus der Zahl der sozialversicherungsrechtlich Beschäftigten in 2018/19 für Deutschland-West (27,2 Mio.) und Deutschland-Ost (6,3 Mio.) und den in Fn. 39 angeführten Tarifbindungsquoten. Quelle für die Zahl der Beschäftigten: https://www.bpb.de/nachschla gen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61702/sozialversicherungspflichtig -beschaeftigte. Nicht berücksichtigt sind Arbeitsverhältnisse, die sich trotz fehlender Tarifbindung des Arbeitgebers am Tarifvertrag »orientieren«, also zumindest Teile der einschlägigen tariflichen Regulierung in den Arbeitsvertrag übernehmen. 42 Von 6.415 im Jahr 2000 auf 11.466 im Jahr 2017 Unternehmen mit Firmentarifverträgen.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

131

nehmerverband »überbetrieblich« konstituiert sein, womit – ungenau – die Anforderung beschrieben ist, dass die im Verband organisierten Arbeitnehmer nicht alle bei demselben Arbeitgeber beschäftigt sein dürfen. Das steht nicht im Gesetz, wird aber vom BAG so gelesen.43 Die Auswirkungen auf das Tarifsystem sind durchgreifend. In Deutschland wird das Tarifgeschehen im Wesentlichen von den acht DGB-Gewerkschaften und einer Handvoll Berufsgewerkschaften gesteuert.44 Wären betriebs- bzw. arbeitgeberbezogene Gewerkschaften zulässig, könnte es ohne Weiteres eine vier- oder fünfstellige Zahl geben mit entsprechender Diversifikation der Tariflandschaft, die sich dem heutigen Bild betrieblicher Regulierung annähern und eine besondere betriebliche Regulierung als zweite Spur erübrigen würde. Überbetrieblich organisierte Verbände werden dagegen naturgemäß überbetriebliche Regulierung präferieren und selbst da, wo sie sich per Firmentarifvertrag auf einen einzelnen Arbeitgeber einlassen, keine das »Betriebliche« ausschöpfende Regulierungstiefe erzielen. So dürfte die Zahl der betrieblichen Regulierungsakte, vornehmlich Betriebsvereinbarungen, die der Tarifverträge um ein Mehrfaches übertreffen. Die empirischen Daten über Betriebe mit Betriebsrat sind vage. Die Angaben schwanken zwischen rd. 30.000 bis rd. 110.000 Betriebe.45 Sind pro Betrieb durchschnittlich rund 20 Betriebsvereinbarungen in Geltung,46 ergibt dies eine Zahl von zwischen rd. 600.000 bis rd. 2 Mio. Betriebsvereinbarungen,47 so oder so ein Vielfaches der existierenden Tarifverträge, was einen Komplexitätsbedarf belegt, der von überbetrieblich organisierten Tarifparteien nicht gedeckt werden kann.48 43 St. Rspr., s. nur BAG 26. 6. 2018, 1 ABR 37/16, Rn. 54, juris = BAGE 163, 108. Zwar kann der »Überbetrieblichkeit« formal mit einer entsprechenden Fassung der Tarifzuständigkeit in der Verbandssatzung Genüge getan werden (BAG 14. 12. 2004, 1 ABR 51/03, Rn. 34, juris = BAGE 113, 82). Da sich aber die »soziale Mächtigkeit« bzw. »Durchsetzungskraft« des Arbeitnehmerverbands – eine weitere, materiell-reale Anforderung an die tariffähige »Gewerkschaft« im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG (BAG 31. 1. 2018, 10 AZR 695/16, Rn. 20, juris = NZA 2018, 876) – auf die Tarifzuständigkeit bezieht (BAG 5. 10. 2010, 1 ABR 88/09, Rn. 39, juris = BAGE 136, 1) muss die überbetriebliche Mitgliederstruktur auch realiter bestehen. Zum Stand der Diskussion Wiedemann/Oetker, TVG, 8. Aufl., § 2 Rn. 460ff. 44 Eine Internetrecherche, basierend auf Selbstdarstellung der Verbände, ergibt rd. 100 Arbeitnehmerverbände mit tarifpolitischen Ambitionen. Nicht gesagt ist damit, dass auch alle Verbände über die für die Tariffähigkeit (§ 3 Abs. 1 TVG) erforderliche Mächtigkeit (BAG 26. 6. 2018, 1 ABR 37/16, juris = BAGE 163, 108) verfügen. 45 https://www.faz-rechte.de/tl_files/faz/download/Report%20Betriebsratsarbeit%202016_Aus zug.pdf. Diese Zahlen reimen sich nicht ganz mit der Angabe von 2 Mio. betriebsratsfähigen Betrieben (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157401/umfrage/unternehmen-na ch-groessenklasse-im-jahr-2009), von denen 9 % über einen Betriebsrat verfügen (https:// www.iab-forum.de/die-betriebliche-mitbestimmung-verliert-an-boden). Dies ergäbe 180.000 Betriebe mit Betriebsrat. 46 So in etwa der Durchschnittswert bei https://www.wsi.de/data/wsimit_2016_03_baumann.pdf. 47 Ein Teil dieser Betriebsvereinbarungen wird anlassbezogen sein, z. B. die Einführung von Kurzarbeit für eine bestimmte Kalenderwoche. 48 Hinzu kämen die Dienstvereinbarungen des öffentlich-rechtlichen Sektors.

132

B.

Roland Schwarze

Das umfassende Regulierungsgebot als Gegebenheit

Die Grundgegebenheit der arbeitsrechtlichen Selbstregulierung ist ein verfassungsrechtlicher Regulierungsauftrag, der jedes Arbeitsverhältnis zum Regulierungsfall macht (folgend unter I.). Sie stellt die Selbstregulierung vor eine Aufgabe (unter II.) und legt damit das Fundament für eine komplementäre Zuordnung von Selbstregulierung und staatlicher Regulierung.

I.

Der Regulierungsbedarf

1.

Paternalistischer Schutz

Die Dysfunktion der Vertragsautonomie ist eine zweifache. Sie betrifft nicht erst das Zustandekommen des einzelnen Vertrags, das unter dem Paradigma der Unterlegenheit abgehandelt wird, sondern das »Wesen« des Arbeitsvertrags, seinen typischen Inhalt. Der Arbeitsvertrag enthält einen skandalösen Freiheitsverzicht des Arbeitnehmers. In der ihn kennzeichnenden Überlassung der Arbeitskraft zur Verfügung des Arbeitgebers (§ 106 GewO) liegt ein Verzicht auf persönliche und wirtschaftliche Freiheit, der »eigentlich« unzulässig weit geht. In ökonomischer Hinsicht bedeutet er Verzicht auf die unternehmerische Verwertung der Arbeitskraft, in persönlicher Hinsicht die Unterwerfung unter eine die ganze Person miterfassende »Befehlsgewalt« des Arbeitgebers. Der wirtschaftliche Verzicht ist mit dem Risiko der Unauskömmlichkeit verknüpft, die es dem Arbeitnehmer unmöglich macht, Lebensunterhalt und Lebensvorsorge aus seiner Arbeit zu bestreiten. Der Verzicht auf persönliche Freiheit birgt das Risiko des Missbrauchs der dem Arbeitgeber eingeräumten Befehlsgewalt und des Verlusts der Privatheit. Der Verzicht bedarf daher der Konditionierung, einer Eingrenzung und eines Ausgleichs der aus ihm resultierenden Folgen, durch Regulierung. Ein wesentlicher Teil der arbeitsrechtlichen Regulierung hat hierin ihren Sinn, ist also paternalistische Freiheitsverzichtsgrenze und gilt unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer bei Vertragsschluss ausreichend Verhandlungsmacht hatte. Auch der über viele Angebote verfügende mehrsprachige Einserjurist kann bei Abschluss eines Anstellungsvertrags nicht auf den gesetzlichen Urlaub oder die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verzichten, er kann es nicht einmal gegen Zahlung einer Entschädigung oder gegen Verbesserung seiner Bezahlung. Diese Grenze der Autonomie hat absoluten Charakter; sie steht auch bei ausreichender Verhandlungsmacht des Arbeitnehmers nicht zur Disposition der Vertragsparteien.49 49 Zum Ganzen Schwarze, ZfA 2005, 81ff. m. w. N.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

2.

133

Kompensatorischer Schutz

Die »Unterlegenheit« des Bewerbers bei Vertragsschluss bezeichnet die zweite, jedem geläufige Dysfunktion der Vertragsautonomie.50 Sie ist keine unvermeidliche, aber typische Erscheinung und resultiert aus der im Vergleich zum Arbeitgeber stärkeren »Angewiesenheit« des Arbeitssuchenden auf den Vertrag. Sie ist auch im Sozialstaat noch immer »existenziell«, nicht in einem physischen, das nackte Überleben bezeichnenden Sinn, aber in einem die soziale Existenz umfassenden.51 Sie bewirkt eine Dysfunktion des Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt, welche die Anbieter von Arbeitskraft auf fallende Preise entgegen der Grundmechanik des Marktes nicht mit Verknappung, sondern Vergrößerung des Angebots reagieren lässt, sodass eine Verelendungsspirale an die Stelle des natürlichen Ausgleichs der Marktkräfte tritt. Die Verelendung stößt im Sozialstaat des Grundgesetzes zwar an die Grenze der sozialen Grundsicherung, aber Stundenlöhne von 4 oder 5 Euro für schwere Arbeit sind wohl immer noch Elend genug.52 Freilich ist die aus dem Schutz vor Ausnutzung der Unterlegenheit ableitbare Begrenzung der Vertragsautonomie nicht absolut. In personeller Hinsicht muss sie nicht für den gelten, der abweichend vom typischen Fall ausreichend Markt- und Verhandlungsmacht besitzt. Der über diverse Alternativangebote verfügende KI-Experte mag z. B. einen höheren Anteil seines Gesamtverdienstes frei widerruflich gestalten können, als die 25 %-Grenze für »unterlegene« Bewerber es erlaubt,53 etwa um die Chance einer höheren Ergebnisbeteiligung zu erhalten, die ihm als Alternative angeboten wird. Dies spiegelt sich in der unterschiedlichen Behandlung von »gestellten« (§ 305 BGB) und »individuellen« (§ 305b) Arbeitsverträgen. In sachlicher Hinsicht ist die kompensatorische Begrenzung der Vertragsautonomie eine relative, weil – schon theoretisch – nicht jede Unterlegenheit zu kompensieren ist, sondern ein Spielraum für die Ausnutzung von Überlegenheiten bleiben muss, da und soweit Marktgerechtigkeit zur Geltung kommen soll. Es genügt der Ausgleich einer unangemessenen, »strukturellen« Unterlegenheit.

50 51 52 53

S. nur BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146, juris = BVerfGE 146, 71. Schwarze, ZfA 2005, 81ff. Zum Ganzen Schwarze, ZfA 2005, 81ff. m. w. N. BAG 12. 1. 2005, 5 AZR 364/04, juris = AP § 308 BGB Nr. 1; näher Schwarze, RdA 2012, 321, 322f.

134 II.

Roland Schwarze

Seine Einkleidung in ein verfassungsrechtliches Regulierungsgebot

Aus beiden Schutzbedarfen erwächst eine umfassende Regulierungsaufgabe, die das BVerfG mit einer verfassungsrechtlichen Regulierungspflicht aus Art. 12 GG und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) unterlegt hat.54 Der Staat ist zur Regulierung nicht nur des Schutzminimums verpflichtet, ihn trifft darüber hinaus eine Pflicht zur Ausgestaltung, die, wenn auch abgeschwächt durch Beurteilungsspielräume und Einschätzungsprärogativen, mehr ist als ein Appell. Das lässt sich am besten aufzeigen an den Folgen, welche an die Verletzung der Regulierungspflicht geknüpft werden. Der Gesetzgeber ist der staatliche Funktionsträger, der zuerst zur Regulierung berufen ist. Er kommt diesem Auftrag oftmals nicht nach. Die Regulierungslücken kommen als Fallpathologien vor die Gerichte, die in Konkretisierung bzw. Fortbildung gesetzlicher Regelungen oder gestützt auf die staatliche Regulierungsaufgabe »gesetzesvertretend« Regeln55 in Gestalt richterlicher Leitsätze ausarbeiten. Das geschieht zum Teil immerhin auf der Grundlage gesetzlicher Generalklausen wie § 307 BGB oder § 138 BGB, manchmal aber auch nur gestützt auf allgemeine Rechtsprinzipien und wird irgendwann von den Gerichten zum Gewohnheitsrecht erklärt. Ein anschauliches Beispiel liefern die richterrechtlichen Regeln der Arbeitnehmerhaftung, die über eine Zeit von rund 80 Jahren diesen Status erlangt haben und einige gut gefüllte Paragraphen des BGB ergäben, würde man sie in Gesetzesform übertragen.56 Beim Arbeitnehmerbegriff hat der Gesetzgeber zentrale Leitsätze aus der Rechtsprechung in das BGB kopiert (§ 611a BGB). Das mag genügen, um die dogmatische Wirkungsmacht der Regulierungspflicht zu veranschaulichen.

C.

Die komplementäre Zuordnung tariflicher Selbstregulierung und staatlicher Regulierung

I.

Einbindung der Verbände in das Regulierungsgebot

Die primäre arbeitsrechtliche Selbstregulierung (Tarifautonomie) wird in die verfassungsrechtliche Regulierungsaufgabe eingebunden. Nicht unmittelbar, im Sinne einer verfassungsrechtlichen Pflicht. Dies widerspräche der Idee der Autonomie ebenso wie ihrer rechtlichen Garantie durch Art. 9 Abs. 3 GG.57 Wohl 54 BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Rn. 56 und Leits. 2a, juris = BVerfGE 100, 271. 55 Zur Qualifikation der Rechtsfortbildung s. BAG 18. 4. 2007, 4 AZR 652/05, Rn. 47, juris = BAGE 122, 74. 56 Näher Schwarze, in: Otto/Schwarze/Krause, Die Haftung des Arbeitnehmers, 2014, § 9 Rn. 1 ff. und § 10 Rn. 1 ff. 57 Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, 1991, S. 203ff.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

135

aber im Sinne einer normativen Erwartung,58 die, aus dem sozialstaatlichen Regulierungsgebot abgeleitet, zur Obliegenheit wird: Wo Selbstregulierung unterbleibt, rechtfertigt das sozialstaatliche Regulierungsgebot staatliche Regulierung, die im Rahmen der gesetzgeberischen Ausgestaltung über das verfassungsunmittelbar gebotene Minimum hinausgehen kann, wenn das Versagen der tariflichen Regulierung entsprechend umfassend und langwährend ausfällt. Wo Selbstregulierung gebotene Regulierung nicht liefert, darf und muss der Staat selbst regulieren; er kann es nicht bei der Bereitstellung des Instrumentariums zur Selbstregulierung belassen, er muss und kann ein Regulierungsergebnis sicherstellen.

II.

Die Abschwächung der Autonomiegarantie zum Regulierungsvorrang

Dies beschneidet die Autonomie der Selbstregulierungsträger um einen zentralen Gehalt. Die Nichtwahrnehmung einer Regulierungsaufgabe berechtigt den Staat zur Regulierung, und zwar aufgrund eines »heteronomen« Urteils über die Notwendigkeit oder Berechtigung einer Regulierung, das primär-vorläufig vom regelungswilligen Gesetzgeber, endgültig vom Verfassungsrichter aufgrund verfassungsrechtlicher Wertungen gefällt wird.59 Es gibt infolgedessen keinen Vorbehalt der Autonomie, der einen bestimmten Themenkreis der Selbstregulierung reserviert wie in Art. 28 Abs. 2 GG die »örtlichen Angelegenheiten« den Gemeinden.60 Man hat über solche Vorbehaltsbereiche diskutiert, namentlich für die Entgeltregulierung.61 Aber gerade hier, bei der für den Arbeitnehmer wichtigsten Bedingung, hat die Erosion der Tarifbindung letztlich staatliche Regulierung gerechtfertigt (MiLoG).62 Art. 9 Abs. 3 GG gewährt infolge und im Geltungsumfang des verfassungsrechtlichen Regulierungsgebots nur einen Vorrang der Selbstregulierung. Die Tarifparteien können staatliche Regulierung nicht durch eine negative Regulierung – die Entscheidung, die Regulierung zu unterlassen – sperren, wo ein Regulierungsgebot besteht. Damit wird das Verhältnis von Selbstregulierung und staatlicher Regulierung von Grund her komplementär 58 Vgl. BVerfG 26. 5. 1970, 2 BvR 664/65, Rn. 29, juris = BVerfGE 28, 295 (»Aufgabe«); BVerfG 11. 7. 2006, 1 BvL 4/00, Rn. 71, juris = BVerfGE 116, 202. 59 Paradigmatisch BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Rn. 52ff. und Leits. 2, juris = BVerfGE 100, 271. 60 BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Rn. 53, juris = BVerfGE 100, 271: »Dem Gesetzgeber ist es grundsätzlich nicht verwehrt, Fragen zu regeln, die Gegenstand von Tarifverträgen sein können«. 61 Noch anklingend in BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146, juris = BVerfGE 146, 71 (»… dazu gehören insbesondere das Arbeitsentgelt …«). 62 BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Rn. 52ff., juris = BVerfGE 100, 271 rechtfertigt sogar (mittelbare) Einschränkungen einer bestehenden tariflichen Entgeltregulierung.

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strukturiert: Die Selbstregulierung regelt, was sie »aus Sachgründen am besten« regeln kann.63 Die staatliche Regulierung füllt, was die Selbstregulierung an verfassungsrechtlich Gebotenem nicht bewältigen kann oder bewältigt hat.64 Die dem regulierenden Staat zukommende tatsachenbezogene Einschätzungsprärogative65 stattet die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Verbänden mit der angemessenen Flexibilität aus.

III.

Die daraus resultierende komplementäre Zuordnung

1.

Nach Maßgabe des Regulierungsvermögens

Zum ersten und wichtigsten Parameter der Zuordnung der Regulierungen wird damit das Regulierungsvermögen. Die Selbstregulierung muss der staatlichen Regulierung das Feld überlassen, wo sie die Regulierungsaufgabe nicht bewältigen kann und vice versa.66 a) Grenzen der Selbstregulierung Die Selbstregulierung ist aus logischen und praktischen Gründen außerstande, den Regulierungsbedarf vollständig zu decken. Der logische Widerspruch zwischen Regulierung und Selbstbestimmung steht einer vollständigen Deckung des Regelungsbedarfs durch Selbstregulierung entgegen. Einen selbstverständlichen Vorrang vor staatlicher Regulierung kann die Selbstregulierung nur beanspruchen, wenn sie den Einzelnen über die Geltung der Regulierung bestimmen lässt. Das wäre im Idealfall die Entscheidung über einen konkreten Regulierungsinhalt. Aber auch das schwächere Maß an Selbstbestimmung, das § 3 Abs. 1 TVG gewährleistet, darf diesen Vorrang noch für sich in Anspruch nehmen, denn Unterlassung oder Rückgängigmachung des Beitritts gewähren doch ein so hohes Maß an Entscheidung über die Bindung an die tarifliche Regulierung, dass ihr Vorrang vor staatlicher Regulierung aus dem Prinzip der Selbstbestimmung begründbar ist. Die Kehrseite dieser Freiheit ist das eingeschränkte regulative Vermögen des Tarifvertrags. Es handelt sich dabei nicht um eine reparable Schwäche des positiven Rechts, sondern einen logischen Widerspruch, da die sachlich gebotene absolute Bindung kein Gran Selbstbe-

63 64 65 66

BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Rn. 54, juris = BVerfGE 100, 271. BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Rn. 63f., juris = BVerfGE 100, 271. BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Rn. 61, juris = BVerfGE 100, 271. Maßgeblich auf die bessere Befähigung des Regulierers für die Zuständigkeitsverteilung abhebend BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Rn. 54, juris = BVerfGE 100, 271: Schutz vor staatlicher Regulierung »nimmt in dem Maße zu, in dem die Materie aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden kann«.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

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stimmung mehr übrig ließe. Nicht anders verhält es sich mit der Betriebsautonomie, die, ihrem im Vergleich zur Tarifautonomie geringeren Maß an Selbstbestimmung entsprechend, zwar dem Einzelnen nicht die Befugnis gewährt über die Bindung zu entscheiden, sehr wohl aber der Belegschaft diese Entscheidung belässt, da sie die Wahl eines Betriebsrates unterlassen kann. Die Beseitigung dieser Möglichkeit durch einen Betriebsratszwang würde den ohnehin minderen Selbstbestimmungscharakter der Betriebsautonomie auf das Maß öffentlichrechtlicher Selbstbestimmungssysteme reduzieren. Aus beidem resultiert normativ eine Dysfunktion der Selbstregulierung: Die paternalistische Beschränkung der Vertragsautonomie verlangt eine absolute Beschränkung der Vertragsfreiheit, die ausnahmslos für jeden Fall die nötige Regulierung sicherstellt: dass jeder Arbeitnehmer z. B. einen Mindesturlaub erhält oder einen Mindestentgeltschutz im Krankheitsfall. Weder Tarifvertrag noch Betriebsvereinbarung können dies sicherstellen, ohne ihren Selbstregulierungscharakter weitgehend einzubüßen. Damit korrespondiert die Ansicht des BVerfG, der Tarifvertrag solle die Verhandlungsunterlegenheit des einzelnen Arbeitnehmers im Verhältnis zum Arbeitgeber kompensieren.67 Die tatsächliche Schwäche68 der Selbstregulierung ist der zweite Grund, der einer vollständigen Bewältigung des Regulierungsbedarfs durch Selbstregulierung entgegensteht. Ursächlich dafür sind mehrere Faktoren, vor allem die lückenhafte Geltung der Regulierung: Rd. 40 % der Beschäftigten werden weder von tariflicher noch von betrieblicher Regulierung erfasst.69 Ersteres liegt an dem vor allem im Dienstleistungssektor geringen Organisationsgrad,70 letzteres an der geringen Betriebsratsquote in Kleinbetrieben (5 bis 50 Beschäftigte), die 2019 unter 10 % lag.71 Die tarifliche Regulierung kann überdies am offenen Charakter des Regulierungsverfahrens scheitern,72 sodass gebotene Regulierung mangelnder Einigungsbereitschaft zum Opfer fällt. Die betriebliche Selbstregulierung könnte hier als Ersatz nur einspringen, wenn der Betriebsrat über die betreffende Frage zufällig ein Mitbestimmungsrecht hätte. Diese Schwäche führt dazu, dass die Selbstregulierung auch den kompensatorischen Regulierungsbedarf nicht vollständig decken kann, dass hier zumindest eine grundierende staatliche Re67 BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146, juris = BVerfGE146, 71. 68 Sie muss struktureller Art sein, vgl. Schwarze, ZfA 2011, 867, 893 m.w.N.; BVerfG 4. 7. 1995, 1 BvF 2/86 u. a., Rn. 110, juris = BVerfGE 92, 365. 69 IAB Betriebspanel 2019 – Tarifbindung und Betriebliche Interessenvertretung, Tabelle 10, abrufbar unter https://www.iab.de/de/erhebungen/iab-betriebspanel.aspx. 70 IAB Betriebspanel 2019 – Tarifbindung und Betriebliche Interessenvertretung, Tabelle 3 und zusammenfassend Tabelle 10. 71 Im Einzelnen IAB Betriebspanel 2019 – Tarifbindung und Betriebliche Interessenvertretung, Tabelle 6. 72 Vgl. BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 131, juris = BVerfGE 146, 71 (»Aushandeln« von Tarifverträgen).

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gulierung unentbehrlich sein kann. Am Beispiel der Entgeltregulierung verdeutlicht: Neben der paternalistisch gebotenen Auskömmlichkeit des Entgelts ist ein weiteres Gerechtigkeitsanliegen die Marktgerechtigkeit, die einen Schutz gegen Ausbeutung von übermäßiger Marktmacht gebietet. Grundsätzlich genügt hier eine tarifliche Regulierung, der sich der Arbeitnehmer unterstellen kann; es kann ihm überlassen werden, ob er dies tut, ein »Schutz gegen sich selbst« ist nicht geboten. Aber nun kann die tarifliche Regulierung daran scheitern, dass in der betreffenden Branche oder Region keine ausreichende gewerkschaftliche Organisation besteht. Dann ist staatliche Regulierung auch zum Schutz vor Überlegenheit gerechtfertigt. Oft deckt die staatliche Regulierung des paternalistischen Schutzes den kompensatorischen Schutz mit ab: Wenn der Arbeitnehmer zum Schutz vor übermäßiger Arbeitslast daran gehindert wird, sich länger als acht bzw. zehn Stunden am Tag zur Arbeit verpflichten zu können (§ 3 AZG i. V. m. § 134 BGB), ist damit zugleich ein Schutz gegen Ausbeutung unterlegener Vertragsmacht konstituiert. Aber es kann der theoretische Unterschied zwischen beiden Schutzgründen praktisch-konkret werden. So hat die Rechtsprechung im Vorfeld der gesetzlichen Mindestlohnregulierung aus dem Wucherverbot (§ 138 Abs. 2 BGB) eine Mindestvergütung abgeleitet, die sich primär am einschlägigen Tariflohn orientiert hat.73 Soweit die Höhe dieses Entgelts über der Auskömmlichkeitsgrenze liegt, lässt sie sich nicht mehr als paternalistischer Schutz erklären, sondern zielt darauf, einen Mindestschutz vor der Ausnutzung übermäßiger Verhandlungsmacht seitens des Arbeitgebers zu gewähren. Hält man – richtigerweise – an dieser Rechtsprechung auch nach Inkrafttreten des MiLoG fest,74 manifestiert sich die teleologische Zweispurigkeit des arbeitsvertraglichen Schutzes in konkreter Regulierung. Beide (logische und tatsächliche) Schwächen stehen überdies der Wahrnehmung öffentlicher Interessen durch die Selbstregulierung entgegen.75 Ein Arbeitsverbot aus öffentlichem Interesse an der Volksgesundheit zur Unterbindung einer Pandemie kann nicht im Wege der Selbstregulierung erfolgen, weil diese die nötige absolute und flächendeckende Verbindlichkeit aus den erwähnten Gründen nicht herstellen kann. Allerdings stellt das öffentliche Interesse die Funktionsfähigkeit des Vertrags nur punktuell, nicht strukturell auf die Probe.

73 BAG 22. 1. 1980, 1 ABR 48/77, Rn. 41, 39, juris = BAGE 32, 350; Schwarze, SR 2019, 131, 134f. 74 Schwarze, SR 2019 131, 134f. 75 Zur vertragstheoretischen Einordnung des öffentlichen Interesses als Rechtfertigung von Beschränkungen der Vertragsfreiheit Schwarze, ZfA 2005, 81f.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

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b) Grenzen der staatlichen Regulierung Vice versa liefert die Selbstregulierung die angemessene Komplexität, die der Staat de facto nicht erzeugen kann. Am Beispiel der Entgeltregulierung veranschaulicht: Staatliche Regulierung kann die Auskömmlichkeit des Entgelts (MiLoG) und seine Diskriminierungsfreiheit (AGG, EntTrG) regeln, da diese Gerechtigkeitsgehalte einheitlich für alle Arbeitsverhältnisse bestimmbar sind.76 An anderen Gerechtigkeitsgehalten wie Leistungsgerechtigkeit oder Marktgerechtigkeit scheitert sie dagegen vor dem Differenzierungsbedarf.77 Nicht einmal regions- oder branchenbezogene Entgeltstrukturen wären staatlich in angemessener Weise zu regeln.78 Die um ein Vielfaches höhere Zahl an tariflichen und betrieblichen Regulierungsakten liefert dafür einen nachdrücklichen Beleg.79 2.

Nach Maßgabe der Regulierungspraxis

Die Praxis der Selbstregulierung kann – zumindest theoretisch – als zweiter Parameter für die Zuordnung zur staatlichen Regulierung bestimmend sein. Die Situation wäre derart, dass eine verfassungsrechtlich gebotene Regulierung unterbleibt – nicht infolge Überforderung, sondern aus Nachlässigkeit. Wenn etwa die marktkompensatorische Entgeltregulierung trotz ausreichender gewerkschaftlicher Organisation unterbleibt, wäre eine staatliche Entgeltregulierung zulässig. Konkret: Der Richter wäre nicht gehindert, gem. § 138 Abs. 2 BGB den sittengemäßen Lohn zuzusprechen. Der umgekehrte Fall ist theoretisch nicht denkbar: dass Selbstregulierung eigentlich gebotene staatliche Regulierung ersetzt, da sie eben die absolute Verbindlichkeit gegenüber dem Einzelvertrag nicht aus sich heraus erzeugen kann. Einen faktischen Zusammenhang dieser Art gibt es aber schon. Über Jahrzehnte hinweg hat es einen staatlichen Mindestlohn nicht gegeben, weil tarifliche Entgeltregulierung, obgleich weder ihrem Motiv noch der Sache nach darauf gerichtet, staatliche Mindestlohnregulierungen zu ersetzen, das Problem unauskömmlicher Vergütungen de facto mitgeregelt hat. 3.

Gestaltete Komplementarität

Praktisch wichtiger ist die bewusst gestaltete Komplementarität. Sie kann sich darin erschöpfen, das eigene Regulierungsverhalten auf die Regulierung des jeweils anderen Akteurs auszurichten, ohne die Regulierungen formell miteinander zu verknüpfen und entweder auf die Regulierung des anderen aufzubauen 76 77 78 79

Näher Schwarze, SR 2019, 131ff. BVerfG 11. 7. 2017, 1 BvR 1571/15 u. a., Rn. 146, juris = BVerfGE 146, 71. Vgl. BVerfG 27. 4. 1999, 1 BvR 2203/93 u. a., Rn. 54, juris = BVerfGE 100, 271. Oben unter A II 3.

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(vertikale Schichtung) oder die Regulierungen thematisch komplementär auszurichten und im Nebeneinander sich ergänzen zu lassen (horizontale Schichtung). Ein Beispiel für die vertikale Schichtung wäre eine tarifliche Regelung über Urlaub, die über den gesetzlichen Anspruch hinaus Urlaub für zwei Wochen gewährt. Ein Beispiel für die horizontale Schichtung ist es, wenn die Tarifvertragsparteien den Entgeltschutz im Krankheitsfall vollständig der staatlichen Regulierung überlassen (EntFzg), während etwa die Regulierung von Akkordlöhnen gänzlich der tariflichen Regulierung überlassen ist. Der Gedanke der Komplementarität kann aber sehr viel weiter gehen und eine formale Verknüpfung der Regulierungen der Akteure in Gestalt kooperativer Regulierung herbeiführen, um die komplementären Stärken der Akteure zu verbinden und ihre Schwächen auszugleichen. Es findet eine formalisierte, im Verfahren oder im Akt der Regulierung ablesbare Kooperation der Akteure statt. Diese Form der Regulierung hat, teils als Folge der schwächeren gewerkschaftlichen Organisation, in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Im einen Typus der kooperativen Regulierung geht es um die Verbesserung der Verbindlichkeit von verbandlich bestimmten Regulierungsinhalten: dafür kann man die Allgemeinverbindlicherklärung von tariflichen Entgeltregulierungen anführen (§ 5 TVG), zum anderen die Festsetzung des staatlichen Mindestlohns in Form einer staatlichen Rechtsverordnung nach Art. 80 GG durch eine von den Verbänden besetzte Kommission (§§ 4 ff. MiLoG).80 Der andere Typus kooperativer Regulierung geht den umgekehrten Weg einer Ausdifferenzierung staatlicher Regulierung durch Öffnung staatlicher Regelungsakte für tarifliche Regulierung: So kann etwa von den Höchstarbeitszeiten, die das AZG festlegt (§ 3 AZG), durch Tarifvertrag in einem gewissen Rahmen abgewichen werden (§ 7 AZG). Auf der Unionsebene kommt der kooperativen Regulierung sogar primärrechtlicher Charakter zu (Art. 154, 155 AEUV), sodass die Sozialpartner den Inhalt unionsrechtlicher Rechtsakte bestimmen.81

D.

Die komplementäre Zuordnung zwischen den Selbstregulierungen

Die Zuordnung der tariflichen zur betrieblichen Regulierung folgt einem ähnlichen, komplementären Muster wie jene zwischen tariflicher und staatlicher Regulierung. Art. 9 Abs. 3 GG gebietet den Vorrang der Tarifautonomie auch im 80 Im Einzelnen Schwarze, ZfA 2011, 867ff.; die Bedeutung auf »Verstaatlichung des Tarifwesens« verkürzend Henssler, RdA 2021, 1, 4f. 81 Näher Schwarze, Sozialer Dialog im Unionsrecht, in: Oetker/Preis (Hrsg.), Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, 2012, Rn. 16.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

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Verhältnis zur »staatsnäheren« Betriebsautonomie. § 77 Abs. 3 BetrVG setzt diese Wertung einfachrechtlich um.82 Die verbreitete Kennzeichnung des von der Norm bestimmten Verhältnisses der Selbstregulierungen zueinander als Tarifvorbehalt würde missverstanden, wollte man sie als Vorbehalt im echten Sinne deuten, als Ausweisung eines reservierten Bereichs, der nur von den Tarifparteien geregelt werden kann. Versuche, auf der Ebene der interpretierenden Dogmatik solche Vorbehaltsbereiche auszuweisen, haben sich nicht durchgesetzt.83 Die heute ganz h. M. gesteht der Betriebsautonomie zu, dasselbe Themenfeld beackern zu dürfen wie die Tarifautonomie. In Wahrheit handelt es sich daher nur um einen Vorrang, der allerdings weiter ausgreift, da er bereits die Üblichkeit einer tariflichen Regulierung für die Ausschließung betrieblicher Regulierung genügen lässt. Die Üblichkeit entfällt, wenn nach Ablauf der bisherigen tariflichen Regulierung die Tarifvertragsparteien eine neue Regelung nicht mehr anstreben,84 sodass letztlich wie im Verhältnis der tariflichen zur staatlichen Regulierung nur die ausgeübte Tarifautonomie die betriebliche Regulierung sperrt. Dem entspricht, dass eine rein negative tarifliche Regulierung (z. B. dass es neben dem Arbeitsentgelt keine weiteren Zulagen geben soll) keine Sperre für betriebliche Regulierung auslöst.85 Wiederum parallel zum Verhältnis tarifliche – staatliche Regulierung ist das Regulierungsvermögen ein wesentlicher Parameter für die Zuordnung der Regulierung. Die vorrangig aufgerufenen Tarifparteien können typischerweise betriebsspezifische Umstände angesichts ihrer überbetrieblichen Struktur nicht ausreichend erfassen und verwerten.86 Dort, wo solche Umstände »aus der Sache« oder nach dem Willen der Tarifparteien erheblich sein sollen, findet betriebliche Regulierung statt. Am Beispiel der Entgeltregulierung: Während tariflich die Grobstruktur der Entgelte reguliert wird, namentlich die branchen- oder berufsbezogenen Entgeltgruppen, finden sich Zulagen, die an besondere Umstände der betrieblichen Situation oder des Unternehmens anknüpfen, typischerweise auf der betrieblichen Regelungsebene. 82 Der Vorrang bestimmt auch das Verhältnis der tariflichen zur betrieblichen Selbstregulierung, wenn beide nur aufgrund arbeitsvertraglicher Inbezugnahme (s. unter E I 1) gelten, BAG 11. 4. 2018, 5 AZR 263/17, Rn. 57f., juris = BAGE 162, 392. 83 Das gilt auch in umgekehrter Richtung für die Ausweisung eines Vorbehalts der Betriebsautonomie, vgl. Meik, Der Kernbereich der Tarifautonomie, 1987, S. 116ff., auch für »günstigere« betriebsnahe Regulierung, wie sie in den wirtschaftlichen Krisenjahren der Neunziger und Nuller Jahre diskutiert worden ist, wobei es meistens um betriebliche Beschäftigungsgarantien als Ausgleich für Verschlechterungen der Entgeltregulierung ging, vgl. Ehmann/ Lambrich, NJW 1995, 193, 199f. 84 Richardi/Richardi BetrVG, 16. Aufl., § 77 Rn. 292. 85 BAG 22. 1. 1980, 1 ABR 48/77, Rn. 41, 39, juris = BAGE 32, 350. 86 Belegt durch das (mindestens) rd. Zehnfache an Regulierungsakten auf der betrieblichen im Vergleich zur tariflichen Ebene, s. unter A III 3.

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Die faktische (Nicht-)Regulierung ist auch hier das zweite Element, das die komplementäre Verteilung der Regulierungen prägt. Wo tarifliche Regulierung ausbleibt, kann die betriebliche Regulierung übernehmen, und sie tut es vereinzelt sogar in Bereichen, die traditionell Kernmaterie tariflicher Regulierung sind, in manchen Branchen oder Regionen aber infolge schwacher Organisation tarifliche terra incognita (geworden) sind. Fast noch von größerer praktischer Bedeutung ist die gestaltete Komplementarität, deren Steuerung in den Händen der Tarifparteien liegt. Die Komplementarität ist zum Teil eine thematische: in vertikaler Schichtung, wenn z. B. zum tariflich geregelten Arbeitsentgelt »übertarifliche« Entgeltteile hinzutreten, die auf der betrieblichen Ebene geregelt werden; in horizontaler Schichtung, wenn auf der betrieblichen Ebene materiell Vorteile geregelt werden, die außerhalb des eigentlichen Entgelts liegen und vom Tarifvertrag nicht thematisiert werden wie z. B. ein Familienzuschuss. Noch wichtiger ist die durch § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG ausdrücklich geregelte Herstellung komplementärer Regulierung durch formale Kooperation, sei es durch Verfahren (z. B. tarifvertragliche Regelung, die die Absenkung des tariflichen Entgelts aufgrund einer Betriebsvereinbarung mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien bei finanzieller Krise des Unternehmens regelt), sei es durch materiell definierte Regulierungsspielräume für betrieblich differenzierende Regulierungen, z. B. die Bestimmung einer tarifvertraglichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden als Normalarbeitszeit, von der nach oben und unten durch Betriebsvereinbarung im Umfang von je 1,5 Stunden abgewichen werden kann.87

E.

Komplementäre Effekte des Arbeitsvertragsrechts

Die staatliche Regulierung erzeugt einen zusätzlichen komplementären Effekt, indem sie Selbstregulierungsinhalte zu arbeitsvertraglichen Inhalten macht oder den darauf gerichteten Willen der Arbeitsvertragsparteien fördert und damit Wirkungslücken der Selbstregulierung schließen hilft. Dies geschieht durch die vertragsrechtliche Begünstigung vertragsautonomer Öffnung des Arbeitsvertrags für Selbstregulierungsinhalte (folgend unter I) und durch die Öffnung vertragsrechtlicher Generalklauseln für Inhalte der Selbstregulierung (folgend unter II).

87 Zu dieser »Indienstnahme« der betrieblichen durch die tarifliche Regulierung Schwarze, Der Betriebsrat im Dienst der Tarifvertragsparteien, 1991.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

I.

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Stärkung der Selbstregulierung durch vertragsrechtliche Begünstigung vertragsautonomer Einbeziehung der Selbstregulierung

Das staatliche Arbeitsvertragsrecht fördert Selbstregulierung, indem es die Schwelle für eine vertragsautonome Implementierung von Selbstregulierung in den Arbeitsvertrag herabsetzt mit der Folge, dass die Wirkung der Selbstregulierung über die ihrer eigenen Kraft gesetzten Grenzen erweitert wird, und zwar horizontal und vertikal. 1.

Horizontale Ausweitung der Selbstregulierung

Die komplementäre Wirkung des Vertragsrechts betrifft einmal die horizontale Reichweite der Selbstregulierung, primär der tariflichen Selbstregulierung.88 Durch vertragliche Inbezugnahme- oder Gleichstellungsabrede werden tarifliche Regulierungen auf Arbeitsverhältnisse erstreckt, die mangels Verbandsmitgliedschaft nicht der Tarifbindung gem. § 3 Abs. 1 TVG unterliegen.89 Die Reichweite tariflicher Regulierung wird mithilfe dieser Konstruktion und in Verbindung mit einer alle Beschäftigten erfassenden, einheitsvertraglichen Praxis der Arbeitgeberseite massiv über den Kreis der Gewerkschaftsangehörigen ausgedehnt, sogar auf Arbeitsverhältnisse, deren beide Seiten nicht verbandsangehörig sind (sog. tarifanwendende Arbeitgeber).90 Das Tarifwesen erhält so überhaupt erst seine repräsentative Bedeutung. Eine Tarifbindung von 56 % (West) bzw. 46 % (Ost) könnte über die bei gerade noch 15 % liegende Organisationsquote91 nicht erreicht werden. Das staatliche Arbeitsvertragsrecht ermöglicht bzw. fördert diese vertragsautonome Ausweitung auf vielfache Weise: Es nimmt die Inbezugnahme von Tarifverträgen als ausreichend bestimmt für eine wirksame vertragliche Einigung gem. §§ 145ff. BGB. Es gestaltet die Einbeziehungskontrolle nach §§ 305–305c BGB tarifgünstig: So passiert die dynamisierte Inbezugnahme, d. h. die Inbezugnahme des jeweils geltenden Tarifvertrags, die Einbeziehungs- (§ 305c Abs. 1 BGB) und Transparenzkontrolle (§ 307 Abs. 2 BGB),92 obgleich der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses den künftigen Vertragsinhalt nicht überschauen kann. So ist die Unklarheiten88 Denkbar ist die vertragliche Inbezugnahme auch bei Betriebsvereinbarungen, wenn z. B. ein Arbeitnehmer nicht mehr in den Betrieb eingegliedert und daher der normativen Wirkung der Betriebsvereinbarung entzogen ist. 89 Preis/Temming, Arbeitsrecht – Individualarbeitsrecht, 6. Aufl. 2019, Rn. 675. 90 Funktionale Analyse im Kontext privater Regulierung bei Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 300ff., 315ff. 91 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/309846/ unternehmerverbaende-und-gewerkschaften. 92 BAG 23. 4. 2017, 7 AZR 771/12, Rn. 24, juris = BAGE 148, 357.

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regel des § 305c Abs. 2 BGB auf die Inbezugnahmeregeln i. d. R. nicht anwendbar.93 So tritt der Betriebserwerber in die vertragliche Inbezugnahme ein (§ 613a BGB), auch wenn beim Veräußerer Tarifbindung bestand und die Klausel daher keine Wirkung hatte.94 Das staatliche Arbeitsvertragsrecht fördert die vertragsautonome Inbezugnahme der tariflichen Regulierung ferner dadurch, dass die Arbeitsvertragsparteien an denselben erweiterten Gestaltungsspielräumen gegenüber höherrangigem staatlichen Recht partizipieren können wie die echte, normative Selbstregulierung. Der tragende Grund dafür ist die Richtigkeitsgewähr der tariflichen Regulierung, die nicht von der Art der Verbindlichkeit – Tarifbindung oder vertragliche Inbezugnahme – abhängig ist.95 So kann beispielsweise die Arbeitszeit eines Pförtners, dessen Dienst zu erheblichen Teilen in bloßer Arbeitsbereitschaft besteht, über die zwingenden gesetzlichen Grenzen des § 3 AZG hinaus arbeitsvertraglich ausgedehnt werden, indem der Arbeitsvertrag einen einschlägigen Tarifvertrag in Bezug nimmt, der die Öffnungsklausel in § 7 Abs. 1 Nr. 1 a AZG z. B. für eine Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit auf 10 Stunden nutzt. Die Rechtsprechung sieht diese Konstruktion als durch § 7 AZG gedeckt an, der Abweichungen durch »Tarifvertrag« zulässt.96 Zum Teil erstrecken gesetzliche Regelungen die Öffnung ausdrücklich auf vertragliche Inbezugnahmen von tariflichen Regelungen (§ 622 Abs. 4 S. 2 BGB, § 4 Abs. 4 S. 2 EFZG). Der Arbeitgeber erhält so einen Anreiz, den Tarifvertrag in Bezug zu nehmen. Ein anderes Beispiel ist der Dispens vom Schriftformgebot für Befristungsabreden des § 14 Abs. 4 TzBefrG, der für tarifliche Befristungsregeln nicht nur bei Tarifbindung, sondern auch bei vertraglicher Inbezugnahme gilt.97 Eine vergleichbare Anreizwirkung geht von § 310 Abs. 4 BGB aus, der von der Rechtsprechung dahin gedeutet wird, dass die Herausnahme tariflicher Regelungen aus der AGB-Kontrolle auch für eine vertragliche Inbezugnahme tariflicher Regelungen gilt. Zugleich stellt die Rechtsprechung, teils gestützt auf §§ 305ff. BGB, teils gestützt auf die Auslegung der jeweiligen Öffnungsklausel, regulierungsstärkende Kautelen auf, etwa die, dass nicht nur die einzelne, dem Arbeitgeber günstige Klausel, sondern der ganze Tarifvertrag oder zumindest der ganze sachlich zusammengehörende Regelungskomplex in Bezug genommen sein muss, ferner dass es sich um einen »einschlägigen« Tarifvertrag handeln

93 94 95 96

BAG 24. 9. 2008, 6 AZR 76/07, Rn. 27, juris = BAGE 128, 73. BAG 24. 2. 2010, 4 AZR 691/08, juris = AP § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 75. S. nur BAG 23. 4. 2017, 7 AZR 771/127, Rn. 44, juris = BAGE 148, 357. Zu § 6 Abs. 5 AZG: BAG 17. 1. 2012, 1 ABR 62/10, Rn. 16, 18, juris = NZA 2012, 513; Preis/ Temming, Arbeitsrecht – Individualarbeitsrecht, 6. Aufl. 2019, Rn. 676. 97 BAG 23. 4. 2017, 7 AZR 771/127, Rn. 29ff., 35, juris = BAGE 148, 357.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

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muss, wobei die Sachnähe primär durch den von den Tarifvertragsparteien definierten Geltungsbereich sichergestellt wird.98 2.

Vertikale Ausweitung der Selbstregulierung

Die Wirkung der Selbstregulierung, und zwar sowohl der tariflichen wie der betrieblichen, wird durch vertragsautonome Regulierung auch in der vertikalen Richtung erweitert. Die Selbstregulierung kann grundsätzlich vertragliche Arbeitsbedingungen nicht verschlechtern, wie sich aus § 4 Abs. 3 TVG für die tarifliche und (analog) für die betriebliche Regulierung ergibt. Der Arbeitsvertrag kann sich nun für eine verschlechternde oder umstrukturierende Regulierung öffnen und der Regulierung so eine tiefere Wirkung verschaffen, als ihr nach der gesetzlichen Regelung zukommt. Das staatliche Arbeitsvertragsrecht lässt einheitsvertragliche Klauseln solchen Inhalts zu: Die Rechtsprechung bejaht die Vereinbarkeit mit § 307 BGB grundsätzlich.99 Die Voraussetzungen für eine solche Regelung sind umstritten. Die derzeitige (nicht gesicherte) Rechtsprechung befürwortet die Betriebsvereinbarungsoffenheit bereits aufgrund eines formalen Aspekts, der »Kollektivität« der rechtsgeschäftlichen Regelung (allgemeine Vertragsbedingungen, betriebliche Übung, Gesamtzusage).100 Die tradierte Rechtsprechung lässt in diesen Fällen immerhin umstrukturierende Eingriffe in vertragliche Ansprüche zu: Es darf z. B. ein aufgrund einer einheitsvertraglichen Regelung (AGB) oder Gesamtzusage bzw. betrieblicher Übung ausbezahltes jährliches Weihnachtsgeld in Höhe eines Monatsgehalts zur Leistungsprämie umgestaltet werden mit der Folge, dass der Arbeitnehmer A, der die erforderliche Mindestleistung nicht erbracht hat, leer ausgeht, vorausgesetzt, das an die Belegschaft ausbezahlte Gesamtvolumen (der »Topf«) bleibt unverändert.101

98 Etwa BAG 23. 4. 2017, 7 AZR 771/127, Rn. 39, juris = BAGE 148, 357. 99 BAG 5. 8. 2009, 10 AZR 483/08, Rn. 12ff., juris = NZA 2009, 1105 (Ablösung durch Betriebsvereinbarung). 100 BAG 5. 3. 2013, 1 AZR 417/12, juris = NZA 2013, 916; 30. 1. 2019, 5 AZR 450/17, juris = AP § 611 BGB Sachbezüge Nr. 25; ferner zur BV-Offenheit bei Beteiligung des BR und deren Erkennbarkeit für AN: BAG 30. 9. 2014, 3 AZR 998/12, Rn 51, juris = AP § 2 BetrAVG Nr. 73; 17. 2. 2015, 1 AZR 599/13, juris = AP § 77 BetrVG 1972 Betriebsvereinbarung Nr. 65; auch für Leistungen der betrieblichen Altersversorgung BAG 11. 12. 2018, 3 AZR 380/17, juris = AP § 1 BetrAVG Ablösung Nr. 78; zur weithin abl. Reaktion der Literatur Waltermann, RdA 2016, 296ff. m. w. N.; Creutzfeld, NZA 2018, 1111ff. 101 BAG 16. 9. 1986, GS 1/82, juris = AP § 77 BetrVG 1972 Nr. 17; 11. 12. 2007, 1 AZR 284/87, juris = AP § 77 BetrVG 1972 BV Nr. 37; zur Kritik NK-GKArbR/Schwarze, 2. Aufl., § 77 BetrVG Rn. 50 m.w.N.

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Roland Schwarze

Ausweitung der Selbstregulierung über vertragsrechtliche Generalklauseln

Eine zweite Wirkungsverstärkung der Selbstregulierung über das staatliche Vertragsrecht geht von den Generalklauseln aus. Wenn etwa die Sittengemäßheit der Vergütung gem. § 138 Abs. 2 BGB bei einer Tarifanwendung von mehr als 50 % der Arbeitsverhältnisse des einschlägigen Wirtschaftsgebiets am tariflichen Entgeltniveau orientiert wird,102 hat dies einen stärkenden Effekt für den Tarifvertrag, weil der Anreiz für Arbeitgeber, sich durch Tarifflucht einen finanziellen Vorteil zu verschaffen, begrenzt wird. Eine ähnliche Wirkung geht von der tariflichen Anbindung der »üblichen Vergütung« aus, die gem. § 612 BGB im Zweifel als geschuldet anzusehen ist.103 Vergleichbar verhält es sich mit Anknüpfung der rechtsgeschäftlichen Verkehrsüblichkeit an tarifliche Standards, z. B. die Ermittlung der vertraglich durch Berufsbezeichnung (»beschäftigt als kaufmännischer Angestellter«) vereinbarten Arbeitspflicht anhand tarifvertraglicher Arbeitsplatzbeschreibungen. Auf dieser Linie liegt sodann die Anfüllung von Vertragslücken durch eine an tariflicher Selbstregulierung orientierte ergänzende Vertragsauslegung.104 Außerhalb des Gegenleistungsverhältnisses (§ 307 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 BGB) und im Hinblick auf die sonstigen vertraglichen Pflichten greift eine ähnliche Wirkungsausweitung über die Inhaltskontrolle gem. § 307 BGB, da tarifvertragliche Regelungen als leitbildfähig angesehen werden und so Standards der Vertragskontrolle sein können.105 Ferner kann die in § 310 Abs. 4 S. 2 BGB angeordnete Gleichstellung von Kollektivverträgen mit dispositivem Recht im Hinblick auf § 307 Abs. 3 BGB dahin verstanden werden, dass einzelvertragliche Regelungen, die kollektivvertraglichen Regelungen inhaltlich entsprechen, der Klauselkontrolle nach § 307 BGB entzogen sind.106 Das befördert nicht nur die Ausweitung kollektivvertraglicher, insbesondere tariflicher Regulierung, sondern verleiht ihr über § 307 BGB einen quasi zwingenden Status.

102 Etwa BAG 16. 5. 2012, 5 AZR 268/11, Rn. 32, juris = BAGE 141, 348; BAG 18. 11. 2015, 5 AZR 814/14, Rn. 21, juris = NZA 2016, 494 (Zweidrittel der [tarif-]üblichen Vergütung). 103 Vgl. BAG 21. 11. 2001, 5 AZR 87/00, Rn. 31f., juris = BAGE 100, 1. 104 BAG 11. 4. 2018, 4 AZR 119/17, Rn. 78, juris = BAGE 162, 293. 105 BAG 25. 5. 2005, 5 AZR 572/04, Rn. 27ff., juris = BAGE 115, 19; Staudinger/Krause BGB (2019), § 310 Rn. K 234f. 106 Staudinger/Piekenbrock BGB (2019), § 310 Rn. 162.

Komplementäre Regulierung im Arbeitsrecht

F.

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Zusammenfassung

1. Der umfassende Bedarf an Regulierung ist die Grundgegebenheit des Arbeitsrechts. Er entsteht aus einer zweifachen Dysfunktion des Vertrags: (1) Die vertragliche Pflicht zur Arbeitsleistung enthält einen problematischen Freiheitsverzicht, welcher der regulierenden Begrenzung bedarf (paternalistischer Schutz). (2) Der Bewerber befindet sich beim Abschluss des Arbeitsvertrags typischerweise in einer erheblichen Unterlegenheit, was die Regulierung von Mindestinhalten zu Gunsten des Arbeitnehmers erfordert (kompensatorischer Schutz). 2. Der umfassende Regulierungsbedarf ist mit einem Gebot zur Regulierung unterlegt: Der Staat ist aus dem Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1 GG) zur Regulierung verpflichtet; wo der Gesetzgeber versagt, handelt die Rechtsprechung im Wege richterlicher Rechtsfortbildung. 3. Das sozialstaatliche Regulierungsgebot strahlt aus auf die primäre, von frei gebildeten Verbänden getragene tarifliche Selbstregulierung. Es führt zu einer Regulierungserwartung an die Verbände, deren Nichterfüllung staatliche Regulierung legitimiert. Die verfassungsrechtliche Garantie der tariflichen Selbstregulierung (Art. 9 Abs. 3 GG) entspricht infolgedessen im Kern nicht dem Modell einer gegenständlich bestimmten, hermetischen Sphäre der Freiheit von staatlicher Regulierung. Sie ist aufgrund und im Umfang der Regulierungserwartung abgeschwächt zum Vorrang ausgeübter Selbstregulierung. 4. Regulierungsgebot und Regulierungserwartung befördern eine arbeitsteilige, komplementäre Zuordnung der Regulierungen nach Maßgabe der jeweiligen Stärke der Regulierungsakteure, eine wechselseitige Ergänzung der Regulierungen. Der Staat regelt, was tarifliche Regulierung zu regeln rechtlich oder tatsächlich außerstande ist. Partiell ist diese Komplementarität gestaltet und verdichtet bis hin zur kooperativen Regulierung. 5. Das Verhältnis der primären (tariflichen) Selbstregulierung zur sekundären (betrieblichen) Regulierung entspricht jenem zur staatlichen Regulierung. Das sozialstaatliche Regulierungsgebot schwächt auch hier die Stellung der tariflichen Regulierung zu einem Vorrang ausgeübter Regulierung ab; der »Tarifvorbehalt« gem. § 77 Abs. 3 BetrVG ist kein echter Vorbehalt, sondern nur ein um Vor- und Nachwirkung angereicherter Vorrang. Daraus erwächst auch hier ein komplementäres Verhältnis: Die betriebliche Regulierung regelt, was die tarifliche Regulierung aufgrund der überbetrieblichen Struktur der Gewerkschaften nicht zu regeln imstande ist. 6. Das staatliche Arbeitsvertragsrecht erzeugt einen zusätzlichen komplementären Effekt, indem es Selbstregulierungsinhalte zu arbeitsvertraglichen Inhalten macht oder den darauf gerichteten Willen der Arbeitsvertragsparteien fördert und damit Wirkungslücken der Selbstregulierung schließen hilft. Dies

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Roland Schwarze

geschieht durch die vertragsrechtliche Begünstigung vertikaler und horizontaler Öffnung des Arbeitsvertrags für Selbstregulierungsinhalte und durch die Anfüllung vertragsrechtlicher Generalklauseln mit Selbstregulierungsinhalten.

Christoph Sorge

Recht »macht sich auch von selbst, wie die Sprache« – Gustav Hugos Rechtsquellenlehre im Kontext der ›Franzosenzeit‹

I.

Einleitung

Bis heute lassen sich zwei grundlegende Modelle zur Entstehung von Recht ausmachen, die häufig wie ein scharfer Gegensatz anmuten.1 Nach dem einen Modell entstehen Rechtsregeln durch autoritative Setzung, verkörpert in Befehlen des Fürsten oder in Gesetzen des Parlaments. Das Recht wird hier mittels Machtspruch förmlich erzeugt und soll die Zukunft willentlich gestalten. Die Verkündung des Neuen folgt dabei der archaischen Vorstellung des königlichen »Spruchrechts«.2 Es ist ein ius dicere, wonach die Regeln an Ort und Stelle durch Aussprechen ins Leben übertreten und somit Geltung und Wirksamkeit erlangen.3 Zugleich ist es etwas ›Gemachtes‹, ein performatives ius facere,4 da die Regeln strikt in Form gebracht wurden – lex est constitutio scripta.5 Nach dem anderen Modell bilden sich Rechtsregeln mehr unwillkürlich, gehen nicht auf einen Willensakt in der Zeit zurück, sondern entstehen allmählich durch 1 Eingehend dazu die Studien von Meder, Ius non scriptum, 2. Aufl. 2009, insb. S. 9f., 23–27, 45f., 132–151, 227–233; ders., Doppelte Körper im Recht, 2015, insb. S. 146–149, 204–207, 216–243, 248–270; ders., JZ 2006, S. 477–484. 2 Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Aufl. 1992, S. 21 mwN; Grossi, Das Recht in der europäischen Geschichte, 2010, S. 36–38; zum Forschungsstand zu Fritz Kerns Theorie vgl. Kalb, Rechtswissenschaft, Rechtsgeschichte und der Gesetzesbegriff im Mittelalter, in: Speer/ Guldentops (Hrsg.), Das Gesetz – The Law – La Loi, 2014, S. 4–18, 7–12. 3 Vgl. etwa Paulus lib 14 ad Sab. D. 1, 2, 11. 4 UIpian lib. 19 ad ed. D. 1, 3, 9. 5 Isidor, Etymologiarum, V, III, 2, Lindsay (Hrsg.), Oxford 1911; vgl. auch aaO., II, X, 1. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der Gesetzesbegriff beim frühmittelalterlichen Isidor von Sevilla (560–636) noch stark vom Herkommen (maiores natu) bestimmt war. Auch Justinian I. beteuerte in seiner Ratifizierung des Codex (529 n. Chr.), dass das gesetzlich ›Neue‹ dem rechtlich ›Alten‹ bloß hinzugefügt sei (vgl. const. Summa rei pub. pr.). Erst im Hochmittelalter lassen sich in den Königsrechten Anzeichen eines ›modernen‹ Gesetzesverständnisses ausmachen, wo also der ›Eingriff‹ und die ›Neuerung‹ im Fokus stehen. Bis zum 18. Jahrhundert steckte auch die französische Eingriffsgesetzgebung noch in institutionellen Hemmschuhen, vgl. Cremer, Die Gesetzgebung im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Klippel (Hrsg.), Gesetz und Gesetzgebung, 1998, S. 33–53, insb. 48–53.

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gesellschaftliche Interaktion und subjektive Integration. Sie speisen sich aus normativen Erfahrungen und eingespielten Gewohnheiten, wie es etwa in Sprachen, Sitten und Gebräuchen, in geschäftlichen Routinen sowie in richterlichen und gelehrten Praktiken zum Ausdruck kommt.6 Mit den in Form gebrachten Rechtsregeln soll die Gegenwart mehr geordnet als verändert werden. Anders als im ersten Modell zeigt sich hier das Recht häufig ursprungslos als eine vorgängige Tatsache, spiegelt gleichförmige, kollektive Verhaltensmuster wider, über deren Geltung und Gültigkeit ›als rechtens‹ ein allgemeiner Konsens besteht – consuetudo et hoc iure utimur.7 Beide Modelle haben eine geschichtsträchtige Vergangenheit. Die Vorstellung, dass allein umfassende Gesetzbücher die Wirklichkeit gestalten, kommt jedoch erst im 16. Jahrhundert auf und ist ein eng mit dem philosophischen Rationalismus verschwistertes Kind moderner Staatlichkeit. Das consuetudo-Modell beruht dagegen auf einem originär juristischen Konzept und lässt sich von der Antike über das frühneuzeitliche ius commune bis zur Historischen Rechtsschule im 19. Jahrhundert verfolgen. Seit dem römisch-rechtlichen Ursprung8 dürfte es zumindest realgeschichtlich das wesentlich erfolgreichere von beiden gewesen sein, soweit für den Erfolg eines theoretischen Modells sein Pragmatismus und seine Anschauungsfülle veranschlagt werden.9 Sieht man von größeren und kleineren Modifikationen ab und lässt politische Rekonfigurationen beiseite, so ist es nicht zu viel gesagt, dass mit dem consuetudo-Modell nicht nur bis heute gearbeitet wird, sondern es – jedenfalls im Privatrecht – auch durch Kodifikationsprojekte nicht verabschiedet werden konnte. Im Kontext der französischen Besatzungzeit von 1807–1813 und mit der Einführung des Code Napoléon im Königreich Westphalen versucht der folgende 6 Meder, Ius non scriptum (wie Fn. 1), S. 2–4, 29–42, 119–151, 158–167, 183f.; Garré, Consuetudo 2005, S. 31–86, 89–97; Weitzel, Der Grund des Rechts in Gewohnheit und Herkommen, in: Willoweit (Hrsg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, 2000, S. 137–152, 142– 152; Schröder, Zur Vorgeschichte der Volksgeistlehre, 1992, erneut in: Finkenauer/Peterson u. a. (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Neuzeit, 2010, S. 221–258, 248–258; für einen Überblick vgl. Krause/Köbler, Art. Gewohnheitsrecht, in: Cordes/Lück u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte II, 2. Aufl. 2012, Sp. 364–375, 364–371. 7 Zum ›unstreitigen‹ hoc iure utimur vgl. etwa Ulp. lib. 7 ad Sab. D. 28, 5, 22, 19; dazu Flume, Gewohnheitsrecht und römisches Recht, 1975, S. 17–20; kritisch aus germanistischer Sicht jüngst Meyer, Konsens in der Rechtsgeschichte des frühen Mittelalters, in: Epp/ders. (Hrsg.), Recht und Konsens im frühen Mittelalter, 2017, S. 19–45, insb. 40–45. 8 Eingehend Behrends, Die Gewohnheit des Rechts und das Gewohnheitsrecht, in: Willoweit (Hrsg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, 2009, S. 19–115, insb. 21–24, 84– 89; Meder, Ius non scriptum (wie Fn. 1), S. 23–44, 119–125. 9 Soweit das Modell also daran gemessen wird, ob es ›dichte Beschreibungen‹ (Geertz) von Rechtsbildungsprozessen zu liefern vermag und auch neue soziale Erscheinungen erfassen kann; vgl. etwa das ›Update‹ von Callies/Zumbansen, Rough Consensus and Running Code, 2010, insb. S. 135–152; dazu Meder, Ius non scriptum (wie Fn. 1), S. 112f.

Recht »macht sich auch von selbst, wie die Sprache«

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Beitrag, das consuetudo-Modell des Göttinger Rechtsgelehrten Gustav Hugo (1764–1844) umfassend zu würdigen. Hugo darf nicht nur als der Gründer moderner Rechtswissenschaft gelten, sondern er war zugleich spiritus rector der Historischen Rechtsschule. So entwickelten Puchta und Savigny im Anschluss an Hugo inmitten des Kodifikationszeitalters das wohl wirkungsmächtigste Update einer römisch-rechtlichen Rechtsquellenlehre. Den ersten Aufschlag tat indes der große Reformator an der Georgia Augusta. Der Beitrag bearbeitet zwei Desiderate der Hugo-Forschung. Während für das von Haferkamp10 aufgewiesene Desiderat zum Code Napoléon jetzt zumindest ein universitätspolitischer Beitrag von Kroppenberg und Linder vorliegt,11 wurde Hugos Rechtsquellenlehre, insbesondere seine Bezüge zum römischen Recht und zur Phänomenologie der Sprache, bislang nicht eingehend gewürdigt.12 Im Ergebnis wird sich zeigen, dass die von Hugo bereits Ende des 18. Jahrhunderts konzipierte Rechtsquellenlehre nicht nur progressiven Charakter besaß, sondern ebenso große Integrationskraft bewies. Der Code Napoléon als ›legal transplant‹ (Watson) oder »Verpflanzung«13 konnte durch Hugos consuetudo-Modell von der heimischen Jurisprudenz aufgenommen und verarbeitet werden, ohne ›heutiges Römisches Recht‹ und ius commune aufgeben zu müssen. Formale Geltungsfragen wurden dabei geschickt in materielle Rechtsfragen umgemünzt. Hugo stellte das voluntaristische Gesetzgebungsideal des Code Napoléon vor den Horizont der Geschichte, womit die ›Unvollständigkeit‹ der Kodifikation deutlich sichtbar wurde. Für die Anwendbarkeit der allgemeinen Regeln französischer Provenienz konnte so das Bedürfnis nach rezipiertem Rechtsstoff und ergänzender Doktrin kaum noch mit Verweis auf den Willen des Gesetzgebers zurückgewiesen werden. Für Hugo sollte eine neue Achse der Jurisprudenz entstehen, die von Rom, Byzanz, Bologna über Paris nach Göttingen reichte.

10 Haferkamp, Die Lehre des französischen Rechts, in: Schubert/Schmoeckel (Hrsg.), 200 Jahre Code civil, 2005, S. 48–71, 70f. 11 Kroppenberg/Linder, »… als große Unruhen in Göttingen wegen der Gensd’armen Statt fanden …«, in: ZRG (GA) 136 (2019), S. 164–186. 12 Vorhanden sind vornehmlich rechtstheoretische Analysen, vgl. nur die beiden ausführlichsten von Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie, 1997, S. 52–64; Lavranu, Historizität und Verbindlichkeit von Werten, 1996, S. 54–70. Eine Ausnahme bildet der summarische Überblick von Behrends, Gustav Hugo, in: ders. (Hrsg.), Edward Gibbon. Historische Übersicht des Römischen Rechts, 1996, S. 159–226, 189–226. 13 Hugo, Lehrbuch der juristischen Encyclopädie, 5. Aufl. 1817, S. 25. Die weiteren im Beitrag zitierten Auflagen erschienen 17992, 18063, 18114, 18206, 18237, 18358.

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II.

Christoph Sorge

Die Hannoversche Privatrechtsrevolution von 1808

Zunächst standen die Zeichen der Zeit jedoch auf Veränderung und Neubeginn. Das ›gute alte Recht‹ in den Braunschweig-Lüneburgischen Provinzen musste sich dem Willen französischer Herrschaft beugen. Verändern wollte vor allem Napoléons jüngster Bruder, Jérôme Bonaparte, nachdem weite Teile des Kurfürstentums Hannover im Tilsiter Vertrag vom 9. Juli 1807 dem neuen Modellstaat »Königreich Westphalen« mit dem Erbprinzen an der Spitze zugeschlagen wurde.14 Zwischen 1801 und 1806 wurde das ›britische Kurhannover‹ abwechselnd von preußischen und französischen Truppen besetzt;15 jetzt aber schlug die Stunde von »Hieronymus«, wie der neue Machthaber in den offiziellen Erlassen genannt wurde. Schon einige Monate nach Friedensschluss zeigte sich im Kurfürstentum, auf agrarisch geprägtem Boden mit römisch-sächsischem Mischrecht,16 französischer Tatendrang in Sachen ›Verfassung‹. So regelte das Décret Royal vom 7. Dezember neben staatsorganisatorischen Fragen auch einige materiellrechtliche Artikel: Gleicheit vor dem Gesetz, Religionsfreiheit, Verbot aller politischen Korporationen, Abschaffung der Leibeigenschaft und Mediatisierung des Adels.17 Das Dekret bildete somit nicht nur die erste »Constitution«, sondern bestimmte auch die ersten »Grundgesetze«18 in den ehemaligen Territorien des Alten Reichs.19 Noch größere Umbrüche erfolgten auf dem Gebiet des Privatrechts. Mit Art. 45 der westfälischen Verfassung trat am 1. Januar 1808 der Code Napoléon20 14 Zunächst wurden nur die Fürstentümer Grubenhagen und Göttingen, 1810 auch die weiteren Gebiete eingegliedert; vgl. Lampe, Politische Entwicklungen in Göttingen, in: Böhme/Vierhaus (Hrsg.), Göttingen II, 2002, S. 43–102, 45f. 15 Vgl. zur heterogenen Haltung der britischen Krone: Riotte, Großbritannien, Hannover und das Ende des Alten Reiches 1806, in: Nds. Jahrb. 79, 2007, S. 29–50, insb. 32–45. 16 Hinzu kamen Statuarrechte und Landesgesetze. Durch die Rezeption des römischen Rechts wurde das sächsische Recht in der Frühen Neuzeit weitgehend verdrängt und zog sich in die Nische eines rudimentären Gewohnheitsrechts zurück. Vgl. den Überblick bei Grefe, Hannovers Recht I, 3. Aufl. 1860, S. 15–17, 21–36; jetzt eingehend Kroeschell, recht unde unrecht der sassen, 2005, S. 173–198, 200–204. 17 Artt. 10–14 der »Constitution du Royaume de Westphalie«, in: Bulletin des Lois et Décrets de Royaume Westphalie, T. 1, 1808, S. 13. Leibeigenschaft spielte indes schon zuvor kaum noch eine Rolle, so Hugo, Lehrbuch des Naturrechts, 2. Aufl. 1799, S. 138 Note †; vgl. Hattenhauer, Das Königreich Westphalen (1807–1813), in: Großfeld (Hrsg.), Westfälische Jurisprudenz, 2000, S. 67–91, 79; eingehend Kroeschell, recht unde unrecht der sassen, 2005, S. 200–204. 18 Aus heutiger Sicht im Plural ungewöhnlich, so indes amtssprachliche Verfügung. 19 Vgl. dazu Ram, Die Constitution für das Königreich Westphalen von 1807, in: ZNR 26 (2004), S. 227–245, 233–236, 244, der die Verfassung treffend als »modern und rückständig zugleich« bezeichnet. Ferner Grothe, Die Verfassung des Königreichs Westphalen von 1807, in: Brandt/ ders. (Hrsg.), Rheinbündischer Konstitutionalismus, 2007, S. 31–51, 38–41. 20 Die Umwidmung 1807 von »Code civil« zu »Code Napoléon« erfolgte bekanntlich nur für die Kaiserzeit bis 1814. Vgl. Meder, Rechtsgeschichte, 7. Aufl. 2021, S. 288; den imperialen Impetus der Umwidmung vorsichtig hervorhebend Hugo, Encyclopädie, 4. Aufl. 1811, § 97, S. 94.

Recht »macht sich auch von selbst, wie die Sprache«

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übergangslos mit sofortiger Wirkung in Kraft.21 Dies kam einer Rechtsrevolution gleich und begründete »einen ächt revolutionairen Zustand«.22 Blätterten die Professoren der Göttinger Universität und die Celler Richter am Oberappellationsgericht bisher in den Wälzern des Usus modernus pandectarum und schlugen Sammlungen des Statuar- und Gewohnheitsrechts auf, so waren sie jetzt mit einem fremden Gesetzbuch konfrontiert. Die ›legislatorische‹ Technik mit abstrakt-generellen Tatbeständen in Artikelreihenfolge war völlig neu23 und erwuchs – ohne mitgelieferte Doktrin – zwangsläufig zu einer enormen Herausforderung bei der Anwendung im Gerichtshof und im Hörsaal.24 An einheimischen Vorbildern hatte man sich bisher nicht üben können, zumal der letzte Gesetzgebungsversuch, Friedrich Esaias Pufendorfs Entwurf eines hannoverschen Landrechts von 1772,25 nur eine »allgemeine, beständige Richtschnur« auf Basis einer bunten Kontroversensammlung geben wollte.26 Nicht einmal im Ansatz beabsichtigte der damalige Vizepräsident des Celler Oberappellationsgerichts und entfernte Verwandte des bekannten Naturrechtlers, in Kurhannover ein modernes, voluntaristisches Gesetzgebungsideal zu verwirklichen.27 So mag 1808 der Geist des nie umgesetzten Pufendorfschen Entwurfs noch über den Gerichten geschwebt haben; nunmehr jedoch galt: »La sagesse du Code Napoléon subjugue tous les esprits.«28

21 Für einen Überblick zu den Rheinbundstaaten s. Dölemeyer, Kodifikationen und Projekte, in: Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte III/2, 1982, S. 1440–1625, 1440f., 1449–1453, 1459f.; zu Westphalen vgl. Schubert, Französisches Recht in Deutschland, 1977, S. 98–112. 22 Und konnte die »Bande des Zutrauens im Privatleben auflösen« – so Harscher von Almendingen, Vorträge über den Codex Napoleon und seine organischen Umgebungen I, 1811, S. 6, um die rheinbündische Justiz vor einer unbedachten praktischen Rezeption zu warnen. 23 Zeitgenössisch wurde die Beschränkung auf das Allgemeine als ›legislatorische‹ Gesetzgebungstechnik bezeichnet; sie stand im Gegensatz zur ›doctrinellen‹ Preußens, vgl. nur Seidensticker, Einleitung in den Codex Napoleon, 1808, S. 242–247. 24 Zum holprigen Start und ›Durchgriffen‹ auf das alte Recht vgl. Mohnhaupt, Die Gerichtspraxis zum Code civil im Königreich Westphalen, in: Dölemeyer/ders. u. a. (Hrsg.), Richterliche Anwendung des Code civil, 2006, S. 37–60, 46–58. 25 Originaltitel: »Entwurf eines auf Veranlassung des weiland Herrn Geheimten [sic!] Raths von Behr verfaßten CODICIS GEORGIANI«. 26 Ebel, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Friedrich Esajas Pufendorfs Entwurf eines hannoverschen Landrechts, 1970, S. IX–XXVIII, XV. 27 Vgl. Titul I, § 1 des Entwurfs, erneut abgedr. bei Ebel (Hrsg.), Pufendorfs Entwurf (wie Fn. 26), S. 22 [Hervorheb. v. Verf.]. Das Oberappellationsgericht rühmte sich im Übrigen einer selbstbewussten, vom Fürsten unabhängigen Stellung. Eingehend Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert, 2011, S. 82f. 28 »Die Weisheit des Code Napoléon zieht alle Geister in seinen Bann« – so der einflussreiche Advokat, Mitredaktor und gemäßigte Royalist Jean Guillaume Locré de Roissy in der Grußadresse an den »Empereur et Roi« in seiner Materialienkompilation »Esprit du Code Napoléon«, Bd. 1, 1805, S. XV.

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Ausflüchte, die französische Legislation links liegen zu lassen, gab es kaum. Denn unmissverständlich bestimmte Art. 3 des Einführungsdekrets vom 21. September 1808, dass »die römischen, canonischen und ehemaligen deutschen Reichsgesetze, wie auch die besonderen Gesetze […] der Länder, […] imgleichen die allgemeinen oder örtlichen Observanzen und Gewohnheiten, Statuen und Vorschriften aufgehört, […] die Kraft eines […] Gesetzes zu haben«.29

Gelehrtenrecht aus Büchern und Gewohnheitsrecht aus Herkommen wurden von Napoléon und Jérôme kurzer Hand ersetzt durch promulgiertes Gesetzesrecht ›von oben‹. Beide eingangs erläuterten Modelle zur Rechtsentstehung – ›Wille‹ und ›Herkommen‹ – prallten Anfang des Jahres 1808 im ehemaligen Kurhannover schroff aufeinander.30 Was auf Jérômes Regierungsantritt folgte, waren zunächst kleinere Ausschreitungen, organisiert von Göttinger Studentenkorps, ausgerüstet mit »Abzeichen«, »farbigen Mützen«, »Schnurrbärten und Waffen«, ein Zustand, der nicht nur den damaligen Prorektor Gustav Hugo beschäftigte.31 Und wie reagierten die ausgebildeten Juristen im besetzten Kurhannover? Erstaunlich gelassen und pragmatisch. Schon in den ersten Jahren schrieben sie eifrig neue Fachbücher. Neben praktischen Werken – wie etwa ein 1808 erschienenes »Handbuch für teutsche Geschäftsmänner« zu »Napoleons Gesetzbuch«32 oder die von einem Celler Tribunalrichter verfasste Spezialstudie zum französischen Verschollenheitsrecht33 – machten Kurhannovers Rechtsgelehrte insbesondere mit gründlichen Lehrbüchern und Kommentaren auf sich aufmerksam. Die Nachfrage bestimmte hier das Angebot. Denn nicht nur Anwälte und Richter,

29 Art. 3 Königliches Dekret v. 21. 9. 1808, abgedr. in: Bulletin des Lois du Royaume de Westphalie III, 1809, S. 91–94, 93. 30 Im Unterschied zu anderen Gebieten des Rheinbundes, wo selbst Napoléon im Laufe der Zeit die Hoffnung auf eine praktische Vollrezeption aufgeben musste, wurde im eingegliederten Modellstaat Westphalen die unmittelbare Geltung des Code civil penibel beobachtet. Vgl. Schöler, Deutsche Rechtseinheit, 2004, S. 48f. 31 Vgl. Kleinschmitt, Zeitschr. d. hist. Ver. f. Nds. 1891, S. 199–211 (zit. 203); Jeske, »Ein behagliches vergnügtes Leben, wenig berührt von den Stürmen der Zeit«, in: Gall (Hrsg.), Vom alten zum neuen Bürgertum, 1991, S. 65–104, 90–94; jetzt aus universitätspolitischer Perspektive eingehend Kroppenberg/Linder, Unruhen (wie Fn. 11), S. 164–186. 32 Pfeiffer/Pfeiffer, Napoleons Gesetzbuch nach seinen Abweichungen von Teutschlands gemeinem Rechte, 1808. Das Werk kommentiert den Gesetzestext mit kurzen Anmerkungen. 33 Deneke, Ueber die Verschollenen, oder über die Abwesenheit nach dem Code Napoleon, 1810. Ferner erschien im Königreich schnell einiges an populärer Ratgeberliteratur, wie z. B. vom Kölner Advokaten Sommer, System des Civil-Gesetzbuches Napoleons in Fragen und Antworten, 2 Teile, 2. Aufl. [nur d. Titels!], 1807, oder vom Kasseler Juristen Hartmann, Der belehrende Bürgerfreund, Erstes Bändchen: Unterricht in dem französischen Gesetzbuche, 1807.

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auch die Studenten in den Hörsälen der Göttinger Georgia Augusta mussten von Anfang an mit Lern- und Lesestoff versorgt werden.

III.

Drei Gelehrte und ein Code – neue Vorlesungen an der Georgia Augusta

Bereits im Sommersemester 1808 richtete die Juristische Fakultät ständige »Vorlesungen über das bürgerliche Recht nach dem Napoleonischen Gesetzbuche« ein.34 Die Hauptvorlesung hielt, anfangs sogar in französischer Sprache, der aus dem Dreiländereck im badischen Lörrach stammende Gustav Hugo, einer der damaligen Stars der Georgia Augusta und spiritus rector der sich gerade formierenden Historischen Rechtsschule.35 Flankiert wurde Hugos Hauptvorlesung durch etliche Veranstaltungen von zwei seiner engen Schüler, dem Privatdozenten und späteren Richter am Oberappellationsgericht, Ernst Peter Johann Spangenberg (1784–1833)36, und einem gebürtigen Hannoveraner, Friedrich Christian Bergmann (1785–1845)37, zunächst außerordentlicher, seit 1811 ordentlicher Professor in Göttingen. Daneben gab es ›Privatissimis‹ zum Code Napoleon, Pandektenvorlesungen mit ›napoleonischem Einschlag‹, Vorlesungen zum westphälisch-französischen Staatsrecht oder Seminare über das Wechselrecht nach Code de commerce. 34 Einen Überblick über das damalige Professorium an der Georgia Augusta nach der ›Franzosenzeit‹ gibt Hugo, Lehrbuch der Geschichte des Römischen Rechts seit Justinian, 3. Aufl.1830, S. 608–612. 35 Zum Doyen rechtsgeschichtlicher Forschung vgl. nur die zwei kontrastierenden Porträts: Behrends, Gustav Hugo (wie Fn. 12), S. 159–226, und Rückert, »… dass dies nicht das Feld war, auf dem er seine Rosen pflücken konnte …«, in: Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 94–128. 36 Der Sohn des Göttinger Professors für römisches Recht, Georg August Spangenberg, promovierte 1806 bei Hugo und machte während der Besetzung eine steile Karriere im Justizdienst, u. a. als Generaladvokat am kaiserlichen Cour Impériale in Hamburg. Zeitlebens blieb er im Herzen Romanist, sein Œuvre ist beeindruckend. Eine akademische Karriere musste der mehrfache Familienvater wegen knauseriger Besoldung leider frühzeitig aufgeben. Für Brinkmann sollte sich das – auch vom damaligen Prorektor Heyne verübte – »Unrecht, welches Spangenbergen widerfahren« ist, »niemals ausgleichen lassen« (Bruchstücke die Universität Göttingen betreffend, 1820, S. 7). Vgl. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III/2: Text, 1910, S. 64–68; ders., aaO. III/2: Noten, 1910, S. 26f. 37 Bergmann promovierte wie Spangenberg ebenfalls bei Hugo zu einem im ius commune höchst umstrittenen Thema, nämlich zur Natur dinglicher Rechte nach römischem Recht. Abgesehen von dem bereits erwähnten Lehrbuch und seiner wohl gründlichsten Studie, »Das Verbot der rückwirkenden Kraft neuer Gesetze im Privatrechte« von 1818, die das Problem der transitorischen Gesetzgebung nach Besatzungsende behandelt, waren seine literarischen Produktionen seit der Göttinger Berufung 1811 eher von bescheidenem Rang. Vgl. Pütter/ Saalfeld, Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte III, 1820, S. 301.

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Die drei Gelehrten beherrschten an der Fakultät das Lehrprogramm zum neuen Grundgesetz des Privatrechts, dem Code Napoléon. Arbeitsteilig lieferte Hugo, ein Kenner französischer Kultur und Sprache,38 die rechtstheoretischen Fundamente, während Spangenberg und Bergmann die materiellrechtlichen und prozessualen Bereiche besorgten.39 Zwei spätere, erst 1812 zur Beförderung des französischen Privatrechts extra berufene Professoren, Anton Bauer und Heinrich Rudolf Brinkmann, mussten sich dagegen ›hinten anstellen‹ und konnten ihr Lehrdeputat nur noch mit zweitrangigen Veranstaltungen erfüllen.40 Dies lag nicht zuletzt daran, dass Bergmann und besonders Spangenberg auch literarisch das Feld der Kodifikation bereits bestellt hatten. Bergmann publizierte 1810 seine Vorlesungsgrundlage, ein etwas schwerfälliges Lehrbuch zum »Privatrecht des Code Napoleon«, das er Hugo, »seinem Lehrer, seinem Freunde, als ein geringes Zeichen […] seiner innigsten Achtung« widmete.41 Wesentlich souveräner im Zugriff und von einer bis heute beeindruckenden Gelehrsamkeit ist dagegen der dreibändige, von 1808 bis 1811 erschienene »Commentar über den Code Napoleon« Spangenbergs.42 Allein die innere und äußere Rechtsgeschichte im ersten Abschnitt, wo Spangenberg die »Legislation ancienne«, »intermédiaire« und »nouvelle« eingängig aus den Quellen schöpft,43 setzte Maß38 Durch den obligatorischen Schüleraustausch mit Montbéliard (Mömpelgard) beschäftigten Hugo »französische Bücher, z. B. Voltaire, viel früher […], als deutsche«, wodurch er – nach eigener Auskunft – »gegen die Vorurtheile meines Volks wenigstens durch Die eines Andern geschützt war«. (Hugo, Nachrichten über die frühere Bildung des Verfassers, in: ders., Beyträge zur civilistischen Bücherkenntnis I, 1828, S. 15–31, 19). 39 Seit 1809 las Hugo den Code Napoléon nur noch im Winter und hatte die Staffel für das Sommersemester an Bergmann übergeben. Dessen Handbuch befand sich bereits »unter der Presse« (Verzeichniß der Vorlesungen, Sommer 1809, S. 5). 40 Anders dagegen Kroppenberg/Linder, Unruhen (wie Fn. 11), S. 176, die insbesondere dem Marburger Bauer eine prominente Rolle einräumen, Spangenberg und Bergmann indes unerwähnt lassen. Dies erscheint aber für die Zeit der französischen Besetzung zumindest fraglich. So geht aus den Vorlesungsverzeichnissen zwischen 1807/08 und 1813 hervor, dass für Bauer neben Hugo, Spangenberg und Bergmann letztlich nichts mehr zum ›Lesen‹ übrig geblieben war. Anfangs musste er sogar auf »Das Deutsche Recht, nach Runde, nebst Lehenrecht« ausweichen und rangierte zum Code Napoléon abgeschlagen hinter Bergmanns Vorlesungen mit Nebenmaterien wie z. B. »Das Verhältniß des Code Napoléon zur Staatsverfassung und Verwaltung« (vgl. Verzeichniß der Vorlesungen, Sommer 1813, S. 5; aaO., Winter 1813, S. 6). 41 Bergmann, Lehrbuch des Privatrechts des Code Napoleon, 1810, Widmung [n.pag.]. 42 An monographischer Literatur erschien von Spangenberg zum neuen Recht noch ein »Repertorium der jetzt gültige Kraft habenden Französischen Gesetze«, 1811, und ein dreibändiger, gemeinsam mit Oesterley herausgegebener Kommentar zum Prozessrecht, der aber überwiegend nur eine Übersetzung des 1807/08 publizierten Werks von Eustache-Nicolas Pigeau (1750–1818) bildete; vgl. dies., Ausführlicher theoretisch-practischer Commentar über das französische und westphälische Gesetzbuch des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, 1810, S. 13. 43 Spangenberg, Commentar über den Code Napoleon I, 1810, S. 9–57, wo sich auch der Kenner humanistisch-eleganter Literatur zeigte.

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stäbe44 und brauchte den Vergleich mit Konkurrenzprodukten – etwa mit dem bedeutendsten, auch in der französischen Doktrin rezipierten Handbuch Zachariäs von Lingenthal – nicht zu scheuen.45 Dass mit Spangenberg ein Vollblutschüler Hugos am Werke war, zeigte sich schon in den 1808 publizierten »Institutiones Iuris Civilis Napoleonei«, ein Vorläufer seines Kommentars und eines der ersten Werke zum neuen Privatrecht im Modellstaat. Lateinische Sprache und römisches Institutionensystem waren von Spangenberg nicht zufällig gewählt. Vielmehr bildeten die ›Napoleonischen Institutionen‹ einen evidenten Coup d’État gegen eine Kodifikation, die den Faden des geschichtlichen Rechts zwar nicht kappen, aber doch der Heiligkeit des politischen Willens rigoros unterordnen wollte.46 Den Code konstituierte nicht mehr der ›Esprit‹ Montesquieus, sondern ein monistischer Geist, der sowohl dem bunten »esprit de province« als auch Pothiers römisches Erbe ein Ende bereiten sollte.47 Schaut man auf Spangenbergs Vorrede zu seinen ›Napoleonischen Institutionen‹, so schien er sich von der voluntaristischen Hypostase der Gesetzesverfasser nicht im Geringsten irritieren zu lassen.48 Anstelle von Polemik oder Apologie findet man bei ihm viel konstruktive Vernunft zur Rettung des Herkommens. Spangenberg will ersichtlich die noch gebrauchsfähigen, d. h. freiheitlichen Materien des ius commune und des Gewohnheitsrechts über die Heuristik der römisch-rechtlichen Rechtsquellenlehre – getarnt unter der Flagge der »doctrinellen Autorität« – in das neue Gesetzbuch integrieren.49 Nach kurzer 44 Ähnlich bereits Schubert, Französisches Recht (wie Fn. 21), S. 63. 45 Das in acht Auflagen zwischen 1808 und 1864 erschienene »Handbuch des französischen Civilrechts« machte Epoche und konnte insbesondere in der Bearbeitung von Carl Crome europaweiten Einfluss auf die Lehre des Code civil nehmen. Vgl. Ranieri, 200 Jahre Code civil, in: Schubert/Schmoeckel (Hrsg.), 200 Jahre Code civil, 2005, S. 85–125, 114–117. 46 Das Schweigen des Code civil zur Rechtsquelle des Gewohnheitsrechts ist bekantlich die bedeutendste Differenz zur französischen Revolutionsgesetzgebung. Im nicht kodifizierten »Livre préliminaire« wurden im ersten Titel mit Art. 1 Nr. 4, 5, die »coutumes ou usages« sogar als stillschweigend anerkanntes »supplément« des geschriebenen Rechts erwähnt (vgl. Projet de l’an VIII, in: Fenet [Hrsg.], Recueil Complet des Travaux Preparatoires II, 1836, S. 4). Vgl. auch Portalis, Discours préliminaire sur le Projet de Code civil, 1801, in: ders. (Hrsg.), Discours, Rapports et Travaux, 1844, S. 20. Schon kurz nach Einführung hatte indes die Lehre dem Gewohnheitsrecht – jenseits partieller Integrationsnormen wie etwa Artt. 590, 591, 593, 1135, 1754, 1762 – kaum noch Luft zum Atmen gelassen; vgl. statt aller Zachariä, Handbuch des französischen Civilrechts I, 2. Aufl. 1811, S. XX–XXIII. 47 Locré, Esprit I (wie Fn. 28), S. 63f. 48 Alles ›Kommentieren‹ war etwa dem Generalsekretär des Conseil d’État Locré spinnefeind, eine art dangereux: Wer kommentiere, töte das Gesetz. Fremde Begriffe würden Artikel schikanieren, jeden eindeutigen Wortlaut in unendliche Zweifel ziehen und aus dem Gesetz une lettre morte machen: »Alors, la loi perd sa majesté.« Locré, Esprit I (wie Fn. 28), S. 1. 49 Deutlich bei Spangenberg, Commentar (wie Fn. 43), S. 60, 69, 81, 84–87. Auch wenn er sich im Argumentieren schwertat, war es offensichtlich eine weitherzige Sondermeinung (so Thibaut, Lehrbuch des französischen Civilrechtes, 1811, hrsg. v. Guyet, 1841, S. 23, Note 4).

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Huldigung Hugos als tiefgründigen Rechtsvergleicher überrascht Spangenberg sogar mit etwas Pathos: »Venit tempus!« – wir haben eine Kodifikation, also frisch ans Werk des geschichtlichen Systematisierens, wie man einige Zeilen der Vorrede etwas freier übersetzen könnte.50 Spangenbergs progressive Kommentierung vorbereitet hatte dabei sein akademischer Lehrer Gustav Hugo, auf den im Folgenden einzugehen ist.

IV.

Hugos Rechtsquellenlehre als Propädeutik zum Code

Obwohl Hugo selbst kein eigenes Werk über den Code Napoléon herausbrachte, war er unstreitig die Göttinger Zentralgestalt in Lehre und Forschung zur neuen Kodifikation. Ein Befähigungszeugnis durfte ihm schon allein wegen seiner umfassenden Einblicke in die französische Rechtsgeschichte ausgestellt werden. Eines seiner Spezialgebiete bildeten die eleganten Juristen des mos Gallicus von Cujas über Godefroy bis Domat.51 Tiefergehend hatte er sich aber auch mit späteren Juristen aus der noblesse de robe wie Montesquieu und Jean Bouhier beschäftigt,52 die als bedeutende »Repräsentanten des tiers état«53 den Epochenumbruch vom Absolutismus zur Revolution mitgestalteten. Seit 1809 berücksichtigte Hugo nahezu sämtliche Institute des Code Napoléon in seinem »Lehrbuch des Naturrechts«, das eigentlich eine politische Rechtsphilosophie auf sozioökonomischer Grundlage war,54 und gab in der dritten Auflage seiner »Encyclopädie« einen kurzen Abriss zur französischen Rechtsentwicklung.55 Darüber hinaus prädestinierten ihn für den Code seine exzellenten Französischkenntnisse, die er bei vielen Kollegen in dieser Zeit schmerzlich vermisste.56 50 Spangenberg, Institutiones iuris civilis Napoleonei, 1808, S. VIII. 51 Vgl. die französische Gelehrtengeschichte bei Hugo, Rechtsgeschichte seit Justinian (wie Fn. 34), S. 298–343. Cujas, »der berühmteste aller Bearbeiter des Römischen Rechts« (aaO., S. 300), hatte es ihm besonders angetan, vgl. nur ders., Cujas (1803), in: ders., Civilistisches Magazin III. 1. Aufl. 1812, S. 190–246; ders., Ungedruckte Briefe von Cujas, aaO., S. 247–256; ders., Cujas. Beschluß, 1812, aaO., S. 433–462. 52 So rezensierte Hugo etliche Werke von in Deutschland kaum bekannten französischen Juristen, wie etwa das Œuvre des Experten für burgundisches Gewohnheitsrecht, Jean Bouhier de Savigny (1673–1746); vgl. Hugo, Rez. Bouhier, 1788, in: Beyträge zur civilistischen Bücherkenntnis I, 1828, S. 147–152. 53 So zutreffend Koschaker, Europa und das römische Recht, 4. Aufl. 1966, S. 169. 54 Vgl. nur Hugo, Lehrbuch des Naturrechts, 3. Aufl. 1809, S. 124 Note 1, S. 135f.; Note 6, S. 232; Note 7, S. 254; Note 4, S. 280; Note 2, S. 334; Note 1, S. 355f.; Note 3, S. 363f.; Note 1, S. 394; Note 3. Im Wintersemester 1807 kündigte er die Naturrechtsvorlesung sogar »mit besonderer Hinsicht auf den Code Napoléon« an (Verzeichniß der Vorlesungen, Winter 1807, S. 4). Siehe weitere Nachweise bei Schubert, Französisches Recht (wie Fn. 21), S. 318, Note 22. 55 Hugo, Encyclopädie, 4. Aufl. 1811, §§ 90–101, S. 87–96. 56 Vgl. die Ironie bei Hugo, aaO. § 101, S. 96. Hingewiesen sei noch auf die äußerst humane Sprachpolitik im neuen Königreich, wo anstelle eines linguistischen Umsturzes evolutionäre

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Kein Wunder also, dass es selbst für Hugo, diesem gelehrten Gegenteil eines devoten Fürstenschmeichlers,57 französische Ehrenmitgliedschaften regnete.58 Sein Blick auf den Code Napoléon war geprägt durch die scharfe Brille der Rechtsquellenlehre des klassischen römischen Rechts in der »Periode der Antonine«.59 Bereits vor der Jahrhundertwende war Hugos Konzeption einer ›geschichtlichen Rechtswissenschaft‹ voll ausgereift60 und erhielt durch die politischen Entwicklungen nur noch den letzten Schliff.61 Speziell seine Rechtsquellenlehre konnte er in der Zeit von 1807 bis 1813 durch Realerfahrung erneut und nun auch im direkten Vergleich mit dem Preußischen Landrecht und später mit dem ABGB von 1811 noch einmal kräftig sättigen.62 Hugo sah dabei im nachrevolutionären Gesetzbuch weder den französichen Leviathan, der alles territoriale Herkommen zunichte macht, noch die vermeintliche Erlösung aus dem Faltengebirge des ius commune.

1.

Cicero ante portas

Anstatt alles über einen Leisten zu schlagen, differenzierte Hugo zur Erkenntnis von alten und neuen »Rechtswahrheiten«63 zunächst fein säuberlich zwischen Recht und Gesetz und legte hierfür den heuristisch ergiebigen Maßstab Ciceros

57

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Zweisprachigkeit eingeführt wurde. Vgl. dazu Paye, Über Sprachen und Sprachpolitik, in: Bartsch (Hrsg.), König Lustik!?, 2008, S. 148-154. Bei einem Besuch Jérômes’ in Göttingen hatte Hugo ihm wohl so oft widersprochen, dass der König irgendwann die Unterhaltung mit einem harschen »Point de mais!« abbrach (nach Mejer, in: Preuß. Jahrb. 44, 1879, S. 457–489, 484). Vgl. aber zum grundsätzlichen »Opportunismus« des Professoriums Marino, Praceceptores Germaniae, 1995, S. 26f. So ist er etwa 1805 zum Korrespondenten der Pariser Académie de legislation ernannt worden; vgl. Hugo, Selbstanz. Lehrbücher (1811), in: ders., Beyträge zur civilistischen Bücherkenntnis II, 1829, S. 58–66, 66. Hugo, Lehrbuch und Chrestomathie des classischen Pandecten-Rechts I, 1790, S. VI. Seit seiner akademischen Laufbahn 1788 lässt sich der Blütebeginn nahezu exakt auf das Jahr 1799 datieren, wo sein Reformprogramm eines »civilistischen Cursus« mit den zweiten Auflagen der »Encyclopädie«, des »Naturrechts«, der »Rechtsgeschichte« und der ›Institutionen des heutigen römischen Rechts‹ konzeptionell abgerundet wurde. Zutreffend insofern von Hippel, Gustav Hugos juristischer Arbeitsplan, 1931, in: ders., Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, 1964, S. 47–90, 54; ähnlich bereits Mejer, Art. Hugo, in: ADB 13, 1888, S. 321–328, 323. Neben den Savigny-, Gönner- und Rehberg-Besprechungen bildet die reifste Frucht der auch heute noch vielzitierte Beitrag »Die Gesetze sind nicht die einzige Quelle der juristischen Wahrheiten«, erschienen im Juli-Heft 1812 seines Civilistischen Magazins IV (1815), S. 90– 136, auf Veranlassung eines nicht genannten Rezensenten, in: Heidelberg. Jahrb. d. Lit. 1812/ 1, S. 1–15, 14. Hugo, Encyclopädie, 8. Aufl. 1835, S. 19f.; ders., Gesetze (wie Fn. 62), S. 97.

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an.64 Die »ausdrückliche Gesetzgebung« konkurrierte folglich bei Hugo mit einer höchst komplexen Theorie zum historisch gewachsenen »Gewohnheitsrecht«.65 In römischer Lesart wurde es grundsätzlich von unten gebildet, regelmäßig durch gleichförmige Edikte der Gerichtsmagistrate bzw. durch ständige Rechtsprechung bekannt gemacht und stets über die »Autorität der Rechtsgelehrten« juristisch operationalisiert.66 Um den Unterschied zwischen den Rechtsquellen deutlich zu machen, spricht Hugo auch mit Vorliebe von dem Zivilrecht »im weitesten Sinne« und »im engern Sinne«.67 Ersteres bezeichnete – ganz im lateinischen Sinne von civitas – Politik und Gesetzgebung überhaupt; letzteres dagegen nur das ›eigentliche Zivilrecht‹, womit sich Hugo auf das römische proprium ius civile bezieht, das nach dem Spätklassiker Gaius »als ungeschriebenes Recht allein auf der Auslegung der Rechtsgelehrten beruht«.68 Damit verankerte Hugo das Gewohnheitsrecht auf einer breiten institutionellen Basis von professionalisierter Rechtsprechung und gelehrter Jurisprudenz. Beide Institutionen sollten für ein republikanisches Äquilibrium zwischen Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung sorgen, und zwar ähnlich wie in den Verfassungen römischer und britischer Provenienz.69 So schrieb er 1806, während die Preußen Kurhannover noch besetzt hielten, für seine Erstsemester in der ›Encyclopädie‹: »Die Gewohnheit ist völlig eben so gut, wie die ausdrücklichen Gesetze; man kann sie in jedem Staat unmittelbar auf den Willen des Volks gründen, und braucht auch in

64 Im Unterschied zu Puchta, Das Gewohnheitsrecht I, 1828, S. 46, für den Cicero mehr »Redner und Griechisch-Gebildete[r]« war, hatte er für Hugo auch juristische Autorität (Lehrbuch der Geschichte des Römischen Rechts bis auf Justinian I, 11. Aufl. 1832, S. 15); ferner ders., Lehrbuch der Geschichte des Römischen Rechts, 2. Aufl. 1799, S. 135 Note *), 142 Note **), 146 Note *); aufgelistet bei ders., aaO., Rechtsgeschichte I, S. 113; vgl. auch ders., Ankündigung exegetischer Vorlesungen, 1796, erneut in: ders., Civilistisches Magazin II, 1. Aufl. 1797, S. 257–287, 260. 65 Hugo, Rechtsgeschichte (wie Fn. 64), S. 134f.; vgl. eingehend ders., Rechtsgeschichte bis auf Justinian I (wie Fn. 64), S. 114, 368–371, 414f., 426f., 439–444; ders., aaO. II (wie Fn. 64), S. 810–817, 862f. 66 Seit Hugo, Rechtsgeschichte I (wie Fn. 64), §§ 128–135, S. 134–154 (zit. 134, 151); vgl. ders., Rechtsgeschichte bis auf Justinian I (wie Fn. 64), S. 368–371 (allgemein), 371–414 (Gesetzgebung), 414–437 (prätorische Edikte), 439–444 (Gewohnheitsrecht). 67 Hugo, Encyclopädie, 8. Aufl. 1835, S. 14; vgl. ferner ders., Lehrbuch der Geschichte des Römischen Rechts, 1. Aufl. 1790, S. 134f., 151f., bis ders., Rechtsgeschichte I (Fn. wie Fn. 64), S. 439–444. 68 Gai., D. 1, 2, 1, 12, in dt. Übers. zit. n. H. H.Seiler, in: Behrends/Knütel u. a. (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis II, 1995, S. 99. 69 Das liberalistische Grunddogma der ›rule of law‹ nahm Hugo folglich wörtlich und reduzierte es nicht auf eine ›rule of statues‹; vgl. sehr deutlich zum Preußischen Landrecht: ders., Rez. Klein’s Annalen, 1793, in: Bücherkenntnis I (wie Fn. 38), S. 322–326, 323; ferner am Beispiel des Strafrechts: ders., Gesetze (wie Fn. 62), S. 108–114.

Recht »macht sich auch von selbst, wie die Sprache«

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monarchischen Staaten den Umweg nicht, erst den Monarchen selbst diese bestimmte Gewohnheit erfahren und wollen zu lassen.«70

Und mit Bezug auf den Altmeister des common law, William Blackstone, ergänzte Hugo in der dazugehörigen Fußnote, dass auch das englische Recht größtenteils »nicht auf bloßen WillensErklärungen des Königs und des Parlaments beruhe, sondern auf Gewohnheiten.«71 War die Willenserklärung eine Chiffre für voluntaristische, gesetzgeberische Tätigkeit »von oben herab«72, so lag auf der anderen Seite seiner Rechtsquellenlehre – oder vielmehr darunter – das wesentlich gehaltvollere, von Rechtsgelehrten und Praktikern betreute Gewohnheitsrecht. Beide Modelle konnten so von Hugo wie folgt auf den Punkt gebracht werden: Gesetzgebung ist Rechtsentstehung durch überlegende politische »Macht«,73 Gewohnheitsrecht dagegen Rechtsentstehung durch institutionelles »Zutrauen«74 in die Tätigkeit ausgebildeter Juristen, also in »diejenigen, welchen man am meisten zutraut, daß sie verstehen, wie dieser rechtliche Zustand erhalten werden soll […]«.75 Im Hintergrund dieses »Zutrauens« stand eine eminent römischrechtliche Einrichtung: Das republikanische Vertrauensverhältnis (fiducia) zwischen den Gutachten erteilenden Rechtsgelehrten und ihren Ratsuchenden.76

2.

Jérôme und das Problem eines absoluten Anfangs

Wichtig war Hugo aber nicht nur die genetische Differenzierung nach der Art der Rechtsentstehung, sondern auch ein damit zusammenhängender struktureller Unterschied. Für Hugo konnte ein »von politischen Absichten«77 getragener »Rechtssatz von einem Gesetzgeber«78 niemals – wie im Sinne der biblischen Schöpfungslehre – einen ›absoluten Anfang‹ setzen.79 Denn im Unterschied zu allen metaphysischen Rechtstheorien sah Hugo das Recht streng mit dem Satz des

70 Hugo, Encyclopädie, 3. Aufl. 1806, § 9, S. 10. 71 AaO., S. 11 Note 1. 72 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 119. So bereits ders., Rez. Schlosser, 1789, in: Bücherkenntnis I (wie Fn. 38), S. 107–120, 113. 73 Hugo, Encyclopädie, 2. Aufl. 1799, S. 7. 74 AaO. 75 Hugo, Encyclopädie, 4. Aufl. 1811, S. 15. 76 Vgl. Pomp. D. 1, 2, 2, 49. 77 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 115. 78 AaO. 79 Hugo, Encyclopädie, 3. Aufl. 1806, § 28, S. 25f. Zur biblischen Lehre vom absoluten Anfang, mit der sich selbst die spätantiken Kirchvenväter wegen des innewohnenden Kontingenzgedankens äußerst schwer taten, vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, 1974/2012, S. 267–272.

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Protagoras an: ›Der Mensch ist das Maß aller Dinge‹.80 Und im Unterschied zu allen voluntaristischen Rechtstheorien teilte er mit David Hume die Einsicht, dass ›Recht‹ wie jedes andere Kulturprodukt kein Werk eines Einzelnen ist, sondern einer gesellschaftlichen Bildungs- und Integrationslogik folgt.81 Wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, so Hugo, leben seit jeher immer viele Menschen gleichzeitig zusammen,82 sodass auch das Recht nur ein kollektives Kulturprodukt sein kann und nicht ein Werk eines allmächtigen Schöpfers im Himmel oder auf Erden. Im Ergebnis war so alles Recht »a posteriori, empirisch, nach Zeit und Ort verschieden, durch eigene und fremde Erfahrung von Thatsachen zu erlernen, geschichtlich«.83 Jeder Rechtssatz, der »von Moses an bis auf die neusten Zeiten«84 gesetzt oder modifiziert wurde, war für Hugo daher unvordenklich eingebettet in ein Ensemble bestehender Rechtsinstitutionen und – bei höherer Kultur – auch bereits entwickelter Rechtslehren. Dies hätten »nicht nur die Römer gelehrt, welche […] nie blos von leges, sondern auch von mores, nicht blos von jus scriptum, auch von non scriptum sprachen, […] sondern es ist auch bey den germanischen Völkern die Ansicht gewesen, auf welcher die Rechtsbücher, die Schöffenrechte und selbst die Giltigkeit [sic!] des fremden Rechts […] beruhten«.85

Nun sind nach Hugo aber die meisten Institutionen und Lehren, insbesondere diejenigen über »Mein und Dein«,86 seit der römischen Antike bis zur heutigen Zeit lediglich das verschriftlichte Produkt tatsächlicher, sozialer Interaktion.87 Solche Sozialprodukte konnte man nicht ex nihilo erzeugen oder »bewirken«, sondern nur cum historia modifizieren oder »erhalten«.88 Besonders die Rechtslehren seien »fast ohne alle Gesetzgebung bestimmt worden« – zunächst

80 Die »Natur […] ist für uns zu groß, wir selbst sind uns viel eher ein angemessener Gegenstand« (Hugo, Encyclopädie, 8. Aufl. 1835, S. 50). 81 »Alle diese Dinge [Rechtssätze] sind positiv oder historisch […]; aber sind sie durch den Willen eines Obern so geworden, wie sie nun ein Mahl sind?« (Hugo, Rez. Madihn, 1790, in: ders., Bücherkenntnis I [wie Fn. 38], S. 206–209, 209). Sehr deutlich auch in der Ablehnung der naturrechtlichen Vertragstheorie bei Hugo, Lehrbuch des Naturrechts, 4. Aufl. 1819, S. 453–456; ähnlich bereits ders., Encyclopädie, 2. Aufl. 1799, S. 5; vgl. die zutreffende Analyse von Blühdorn, Tijdschr. v. Rechtsgesch. 41 (1973), S. 3–17, 4–7; mit einer in dieser Hinsicht gewichtigen Parallele zu Savigny Behrends, Gustav Hugo (wie Fn. 12), S. 204. 82 Vgl. Hugo, Naturrecht (wie Fn. 17), S. 105, 115 et passim. 83 Hugo, Encyclopädie, 3. Aufl. 1806, § 24, S. 22 [Hervorheb. i.O.]. 84 Hugo, Rechtsgeschichte bis auf Justinian I (wie Fn. 64), S. 99 [hier aber auf Verfassungsrecht bezogen]. 85 Hugo, Encyclopädie, 5. Aufl. 1817, S. 27 [Hervorheb. i.O.]. 86 Hugo, Encyclopädie, 8. Aufl. 1835, S. 17 mit Note 2. 87 Hier verweist Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 127f., insbesondere auf das ius gentium und den fundierenden (quasi) consensus omnium. 88 Hugo, Encyclopädie, 4. Aufl. 1811, S. 15.

Recht »macht sich auch von selbst, wie die Sprache«

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durch Gebrauch und Gewohnheit, später durch Rechtsprechung und Rechtsgelehrte.89 Selbst wenn man also die »Regierung als Stellvertreterin des ganzen Volks« betrachten möchte, sei es gar »nicht nöthig«, dass sie andauernde Aktivität entfalten muss. Denn, so Hugo, gerade in der heutigen Zeit kann »das Volk […] auch manches selbst thun, und der Stellvertreter freut sich darüber, daß ihm die Mühe und die Verantwortlichkeit […] erspart wird«.90 Dies galt im Übrigen auch für Rechtsgelehrte, die juristisch korrekt das Sozialverhalten ›aussprechen‹ und ›beschreiben‹ konnten, womit sie für Hugo ähnlich den zur Nachahmung anreizenden Musterschriftstellern »in so fern wirklich Stellvertreter des Volks heißen können […]«.91 Mit ihrer hochsprachlichen Bildung seien sie in einer arbeitsteiligen Gesellschaft zwar Experten des Rechts, so wie es Ärzte, »Arzneymittel«92 und »medicinische Bücher« für die Gesundheit gibt.93 Sie waren also unstreitig Normgeber – aber längst keine Priester des Sozialen oder gar Volkserzieher.94 Die Form des Gesetzes zur Regelung sozialen Verhaltens litt für Hugo noch an einem weiteren, mehr pragmatischen Pferdefuß. So müsse bei jedem Gesetzeserlass die Differenz zwischen der Macht der Worte »und dem, was nun geschieht« berücksichtigt werden.95 Ähnlich einer »Maschine« sei auch die Gesetzgebung einer »unausbleibliche[n] Reibung« ausgesetzt. Die Effizienz politischer Eingriffe durch legislativen »Befehl«96 sei eng begrenzt und weit entfernt von der häufig behaupteten Wirksamkeit eines Naturgesetzes. Beide Schwierigkeiten zusammengenommen machen für Hugo aus dem scharfen Schwert des Gesetzes einen zahnlosen Tiger, der dem Volk bloß Ratschläge erteilen kann:

89 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 115f. In diesem Punkt also auf ganzer Linie mit Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit, 1814, S. 13f. 90 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 130. 91 Hugo, Encyclopädie, 8. Aufl. 1835, S. 22. 92 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 129. 93 Hugo, Rez. Savigny: Berufsschrift, 1814, in: Bücherkenntnis II (wie Fn. 58), S. 209–218, 214. 94 Deutlich bei Hugo, Rez. Gönner, 1815, in: Bücherkenntnis II (Fn. 58), S. 236–245, 243f. Sensibel reagierte er daher selbst auf Puchtas frühere, kaum merkliche Trennung von Gewohnheits- und Juristenrecht; vgl. ders., Rez. Puchta: Gewohnheitsrecht, 1. Aufl. 1828, in: GGA 174 (1828), S. 1731–1735, 1733; zum jungen Puchta vgl. Mecke, Begriff und System, 2009, S. 283–286; übergreifend Meder, Ius non scriptum (wie Fn. 1), S. 161–167, und Schröder, Savignys Spezialistendogma, 1976, erneut in: Rechtswissenschaft in der Neuzeit (wie Fn. 6), S. 391–418, 404–417; ferner jetzt auch mit Hugo Haferkamp, Die Historische Rechtsschule, 2018, S. 210–212. 95 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 124. 96 AaO., S. 122. Er hielt es für verfehlt, »daß man sich vorstellt, jeder Rechtssatz sey ein Befehl an alle Mitglieder des Staates«, ders., Rez. n.n., Anleitung zur Kenntniß, 1790, in: Bücherkenntnis I (wie Fn. 38), S. 204–206, 205.

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»Ein Gesetz ist gewissermaßen nur die Initiative zu dem, wie es wirklich gehalten werden soll; es soll so seyn, sagt man, in einem Sinne, der von dem in unsern Compendien vorgetragenen des Sollens im Gegensatze des Müssens gar sehr verschieden ist.«97

Zur Untermauerung, dass Gesetze mehr empfehlenden Charakter haben und nicht mit einem ›Befehl im Feld‹ gleichzusetzen sind, zieht Hugo das äußerst aktuelle Beispiel der Umwidmung von Straßennamen heran. So gaben die Regierungen »in Lörrach«, seiner Geburtsstadt, und »in Göttingen«, seiner Wirkungsstätte, zwei Straßen einen neuen Namen. Sie ließen »diesen öffentlich bekannt machen […], aber kein Mensch nennt sie so; und die meisten Einwohner haben es sicher ganz vergessen, daß sie so heißen sollten«.98 Nicht minder aktuell war Hugos anthropologische Beobachtung von Kleidungssitten, wo er die Symbolik der Kopfbedeckung als soziale Umgangsform anführte. So gäbe es keinen monistischen Gesetzgeber, der den Europäern und Asiaten das Entblößen bzw. Verhüllen des Kopfes als Zeichen der »Ehrerbietung« anbefohlen hätte. Wie die Straßennamen beruhe auch diese Sitte vielmehr »auf dem, was sich von selbst macht«.99 Die aus der Geschichte gewonnene Strukturanalyse zeigte Hugo deutlich, dass sich das Recht in den meisten Epochen nicht »durch einen förmlichen ein führ alle Mahl gefaßten Schluß« des Volkes oder »durch einen solchen Befehl der Obrigkeit« bildet.100 Kein voluntativer Akt brachte für ihn das Recht hervor, sondern im Gegenteil: »Bey weitem das Meiste macht sich von selbst wie die Sprache und wie die […] Sitten eines Volkes«101, durch »mores majorum, Herkommen, Gebrauch, bey uns eine Zeitlang Schlendrian, jetzt Praxis […]«.102

3.

Das Gesetzbuch als Krückstock der Kultur

Mit einiger Chuzpe erwähnte Hugo in seiner vierten ›Encyclopädie‹, die während der Franzosenzeit erschienen ist, den Code Napoléon nur ganz kurz unter dem »particulairen (statuarischen) Rechte«.103 Das rezipierte römische Recht durfte

97 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 123. Damit stellte er ganz bewusst die Hobbes’sche Lehre vom Kopf auf die Füße; vgl. Sorge, Die rechtshistorischen Wurzeln, in: Dieckmann/ders. (Hrsg.), Der homo oeconomicus, 2018, S. 39–122, 79–81. 98 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 122. 99 AaO., S. 120. Vgl. bereits ders., Naturrecht (wie Fn. 17), S. 197f. 100 Hugo, Encyclopädie, 8. Aufl. 1835, S. 20. 101 AaO., S. 21. 102 Hugo, Encyclopädie, 5. Aufl. 1817, S. 23. 103 Hugo, Encyclopädie, 4. Aufl. 1811, S. 117.

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dagegen den gesamten Abschnitt »Heutiges Recht« mit einem Fanfarenstoß und einer langen Rezeptionsgeschichte zum Corpus Iuris Civilis eröffnen.104 Sicherlich wollte Hugo mit seinem Lehrbuch für Anfänger eine Totale sämtlicher Rechtsquellen der deutschen Territorien bieten und nicht nur das unter Kodifikationsgeltung stehende Königreich Westphalen behandeln. Doch die Spitze gegen den umfassenden Anspruch des Code Napoléon war unverkennbar. Ohne die Kodifikation beim Namen zu nennen, schrieb er gleich einleitend, dass sich zwar der Unterschied zwischen ius commune und Partikularrecht jetzt durch Privatrechtsgesetzgebung nivelliert habe und »nur noch in einem sehr laxen Sinne zu gebrauchen ist«.105 Von formalen Unterschieden abgesehen sei aber auch weiterhin die einzige Rechtsquelle von »allgemeinem Interesse« nicht der Code von Napoléon, sondern die »Compilation von Justinian«.106 Auch nach Einführung der Kodifikation war folglich für Hugo und ebenso »für das juristische Studium« nicht das Recht aus Gesetzen, sondern das Recht aus »dem wichtigsten und bekanntesten unter allen juristischen Büchern«107 von Bedeutung und somit – wie er andernorts formulierte – »Grundlage alles in der Rechtswissenschaft«.108 Die Bedeutung für das geltende Recht resultiere dabei nicht allein aus dem Umstand, dass in der »Sammlung Kaiser Justinians I.«109 neben kaiserlichen Erlassen viele Fragmente der klassisch-römischen Juristen überliefert waren, es also »ein wahres Gesetzbuch und Rechtsbuch zugleich«110 bildete. Entscheidend waren die ›Rechtsbücher‹ der Digesten vielmehr aus dem einfachen Grund, dass »Vieles aus jenen Büchern in die sie ausschließenden Gesetze übergegangen ist […]«.111 Nicht die Lothar-Legende und eine förmliche translatio imperii, sondern ein materieller Wissenstransfer und die schlichte Notwendigkeit, an eine kulturell hochstehende Rechtsüberlieferung anzuknüpfen, bildeten für Hugo den ›Geltungsgrund‹ des Juristenrechts der ›Sammlung Kaiser Justinians I.‹112 Die »Reception eines fremden Rechts« sei schließlich nur eine »besondre Anwendung« von der allgemeinen Rechtsenstehung aus Gewohn104 105 106 107 108 109 110 111

AaO., S. 97–117. AaO., S. 97. AaO. AaO. Hugo, Lehrbuch des heutigen Römischen Rechts, 6. Aufl. 1820, S. 3. AaO. AaO. Hugo, Encyclopädie, 8. Aufl. 1835, S. 192 [Hervorheb. v. Verf.]. Derselbe Gedanke findet sich bereits bei seinem Lehrer Pütter, Vom Verhältnisse zwischen Gesetzbüchern und Gewohnheits-Rechten, in: ders., Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte II, 1779, S. 1–22, 22. 112 Vgl. Meder, Ius non scriptum (wie Fn. 1), S. 130–151, zur Frage des ius commune als ius non scriptum.

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heit.113 Mit dem Übergang des Rechtswissens aus Büchern, häufig der communis opinio doctorum,114 in monopolisierende Gesetze thematisierte Hugo folglich das auch heutzutage noch umstrittene Verhältnis zwischen Rechtserkenntnis- und Rechtsentstehungsquelle und plädierte hier für einen publizistischen, methodenehrlichen Umgang.115 Die Rezeption des römischen Rechts, ein eminent kultureller Vorgang, konnte nach Hugo nicht durch politische Intervention von oben unterbrochen werden und dauerte selbst in Zeiten der großen Kodifikationen unweigerlich an: »Für die neuen Gesetzbücher, die man seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach dem Muster des Corpus Juris abfasste, blieb Dieses doch die wichtigste Quelle.«116 Nach Hugo waren folglich die Quellen des römischen Rechts – modifiziert, aktualisiert oder kodifiziert im Laufe der Rezeption – das Fundament jeder zivilistischen Tätigkeit. Auch in der ›Franzosenzeit‹ erschöpfte sich deren Bedeutung nicht nur in einer »juristische[n] Denkschule«117 für die Studierenden, sondern bildete praktisches Recht in den Gerichtshöfen.118 Die Frage, warum es überhaupt Phasen in der Geschichte gebe, in denen alle Leute von (politischen) Gesetzen reden, obwohl sie eigentlich das (römische) Recht meinen, beantwortete Hugo mit einer kulturgeschichtlichen Theorie. Hierzu wagte er eine äußerst kreative Neuauflage des seit der Antike bekannten

113 Seit Hugo, Encyclopädie, 2. Aufl. 1799, S. 7; mit Bezug zum Code ders., Encyclopädie, 4. Aufl. 1811, S. 17 Note 1. 114 Schröder, ›Communis opinio‹ als Argument, 1987, erneut in: Rechtswissenschaft in der Neuzeit (wie Fn. 6), S. 191–205. 115 Für die Gegenwart vgl. Meder/Sorge, Zur schöpferischen Kraft der Hermeneutik, in: Meder/ Omaggio u. a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik im 20. Jahrhundert, 2018, S. 17–53, 27–53; Bucher, in: ZEuP 2000, S. 394–543, 468–491. 116 Hugo, Heutiges Römisches Recht (wie Fn. 108), S. 4. 117 Die Reduzierung auf eine »Denkschule« bei Haferkamp, Die Historische Rechtsschule, 2018, S. 68–74, insb. 69f., der sich im Begriff wohl an Windscheid, Pandektenrecht I, 1. Aufl. 1862, § 6, S. 16, anlehnt, dürfte zu niedrigschwellig veranschlagt sein. Selbst bei dem großen Pandektisten des 19. Jahrhunderts war die pädagogische Schärfung der Urteilskraft nur die eine Hälfte der Wirksamkeit des heutigen römischen Rechts. Gleichrangig daneben stand bei Windscheid noch »sein Inhalt«, genauer: das ius gentium als »Ausdruck […] allgemein menschlicher Verhältnisse […] – daher unmittelbar verwerthbar, wo civilisierte Menschen zusammenwohnen.« (aaO., S. 16). Auch für Hugo war die Rezeption unumkehrbar im kollektiven Gedächtnis verankert, die römischen Normen untilgbar dem ›deutschen‹ Verhalten eingeschrieben und jede prosperierende Gesellschaft schlicht abhängig von römischer Rechtskultur, will sie nicht auf den Stand von rusticuli zurückfallen. 118 So löst sich auch das ›Rätsel‹, dass Hugo, Encyclopädie, 5. Aufl. 1817, S. 24, keine Probleme mit der Anwendungsregel lex posterior derogat legi priori hatte: Gesetze waren nur der dünne Zweig, der ohne seinen Stamm des geschichtlichen Rechts unanwendbar blieb. Andersherum konnten nach Hugo auch längst »abgeschaffte Civilgesetz[e]« noch erhebliche, häufig missliche Langzeitfolgen für die Rechtsanwendung haben, ders., Rez. Schlosser (wie Fn. 72), S. 115.

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Dekadenzmodells, bei der vor allem, aber nicht nur, der Vater der modernen Geschichtsschreibung, Edward Gibbon, Pate stand.119 In der ›Encyclopädie‹ gab er für das spätantike römische Imperium eine Kurzfassung davon. So fiel die Blüte der Rechtskultur auf die Antoninenzeit und ihr Trauertag, an dem sich also das Bedürfnis nach Gesetzbüchern regte, auf das 6. Jahrhundert n. Chr.: »So hatte sich das Privatrecht bis in das dritte Jahrhundert nach Christus immer mehr ausgebildet. Man bearbeitete es wissenschaftlich, und die ersten Männer im Staate, Papinian, Ulpian und Paulus waren in ihren juristischen Schriften Muster von Consequenz und gesundem Raisonnement. Allein erst nachdem drey Jahrhundert lang, die Sprache, die Verfassung, und die Religion anders geworden war, nachdem sich die Jurisprudenz in ein bloßes Citieren von Rechtsgelehrten und kaiserlichen Constitutionen verwandelt hatte, so kam im Anfange des sechsten Jahrhunderts, sowohl bey den Westgothen, als bey den Griechen, auf die Idee einer gesetzliche Compilation der Autoritäten.«120

Folglich waren es für Hugo vor allem die ›germanischen Barbaren‹ und die unvollkommene griechische Rechtskultur, die dafür verantwortlich zeichneten, dass das wissenschaftlich gepflegte ius mehr und mehr zu bürokratischen leges schrumpfte.121 Der Stern begann für Hugo schon bei den Spätklassikern zu sinken, und so gehörten die Prätorianerpräfekten der Severer im Ausgang des 2. Jahrhunderts »zu den letzten Musterschriftstellern unter den Rechtsgelehrten.«122 Eine Parallele zur Spätantike fand Hugo auch in seiner eigenen Zeit. Römische Juristen und griechische Philosophen wurden hierbei auf zwei Epochen der französischen Geschichte verteilt: ›Römer des Rechts‹ waren die Franzosen noch im Humanismus mit »Cujas und seinen Schülern« und der Universität Bourges als das zweite »Beryt«, wo die einstigen Gallier ihre juristische »Blüte« erlebten.123 Zu ›Griechen des Rechts‹ wurden sie dagegen seit dem Aufkommen von »les philosophes« (die Aufklärer)124 im 18. Jahrhundert, unter denen die »Kenntniß 119 Auf Hugos äußerst komplexe Theorie einschließlich ihrer ideengeschichtlichen Hintergründe kann hier nicht eingegangen werden. Dazu sei verwiesen auf meine in Vorbereitung befindliche Habilititationsschrift mit dem Arbeitstitel »Skeptische Rechtstheorie in neuhumanistischer Absicht. Gustav Hugo und die Göttinger Spätaufklärung«. Bemerkenswert erscheint im Übrigen, wie nahe der junge Puchta, Encyclopädie, 1825, S. 20–28, noch bei Hugo lag, soweit man die Begriffe des ›Volks‹ und des ›Volksbewußtseins‹ ignoriert. 120 Hugo, Encyclopädie, 2. Aufl. 1799, S. 33f. [Hervorheb. v. Verf.]; vgl. auch ders., Rechtsgeschichte bis auf Justinian II (wie Fn. 64), S. 1037. 121 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 98–104. Vgl. auch ders., Rez. Schlosser (wie Fn. 72), S. 113. 122 Hugo, Rechtsgeschichte bis auf Justinian II (wie Fn. 64), S. 732; noch treffender als »die letzten juristischen Classiker« bezeichnet bei ders., Rechtsgeschichte (wie Fn. 64), S. 239. 123 Hugo, Rechtsgeschichte seit Justinian (wie Fn. 34), S. 254, 298. 124 Hugo, Naturrecht (wie Fn. 81), S. 28 [Hervorheb. i.O.].

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der Alten […] immer mehr« abnahm und wo etwa die Physiokraten mit einem »Code de la nature« der Kultur des Rechts einen Todesstoß versetzen wollten.125 Ähnlich lag es für Hugo in den deutschen Territorien, obwohl sie mangels tiefgehender Akkulturation niemals den hohen Stand an Rechtskultur erreichten wie der ehemalige Nachbar und zeitgenössische Besatzer. So galt ihm etwa das Preußische Allgemeine Landrecht weniger als Gesetz- oder als Rechtsbuch, sondern überwiegend »als das Resultat« der vernunftrechtlichen »Philosophie des positiven Rechts«.126

4.

Quintilians Consuetudo und Hugos Sprachspiel

Zwei Parallelen, die Hugo zur Erläuterung seiner Theorie verwendet und die in allen nachfolgenden Juristengenerationen Epoche machten, sind die Vergleiche der Rechtsentstehung mit der Sprache und mit dem Spiel.127 Trotz des bis heute andauernden ›Rezeptionserfolgs‹ war der ideengeschichtliche Zusammenhang mit Gustav Hugo bereits Ende des 19. Jahrhunderts verdunkelt und in der rechtswissenschaftlichen Diskussion kaum mehr präsent.128 Für die deutsche Entwicklung verschüttete nicht nur Savignys wirkungsmächtige Übernahme der Sprachmetapher die Linie hinab zu Hugo, sondern ursächlich waren auch einige spätere Umdeutungen.129 So hatte etwa der Freirechtler Hermann Kantorowicz mit vielen anderen die »voluntaristische Phase«130 der Jurisprudenz verkündet und in seiner berühmten Polemik »Der Kampf um die Rechtswissenschaft« von 1906 behauptet, erstmals mit der »Vergleichung von Recht und Sprache durch die Historische Rechtsschule Ernst zu machen!«.131 125 Deutlich bei Hugo, Naturrecht (wie Fn. 17), S. 30f.; vgl. zu seiner Kritik eines essentialistischen Naturrechts in allen Schattierungen: Lavranu, Historizität (wie Fn. 12), S. 23–54; Behrends, Gustav Hugo (wie Fn. 12), S. 175–182. 126 Hugo, Naturrecht (wie Fn. 17), S. 22. Allgemein hielt er jedes Gesetzbuch, das lehrbuchartigen Charakter besitzt und die Doktrin gleich mitkodifizierte, für »eine bloße Palliativcur«, ders., Rez. Voigt, 1789, in: Bücherkenntnis I (wie Fn. 38), S. 48–55, 54. 127 Neben etwa Rudolf Stammler, Max Weber oder dem britischen Rechtsphilosophen H. L. A. Hart waren für die Spielphänomenologie besonders Sprechakttheoretiker – von J. L. Austin bis Searle – und der Pragmatismus um John Dewey prägend. 128 In der Rezension zu Rudolf Stammlers »Wirtschaft und Recht«, 2. Aufl. 1906, griff Max Weber die vom Autor verwendete Spielmetapher auf und unterzog sie einer rechtstheorischen Analyse. Am Beispiel der Skatregeln ›entdeckte‹ er nicht weniger als sechs Modalformen des Normativen. Hugo wird indes mit keinem Wort erwähnt. Vgl. Weber, R. Stammlers ›Ueberwindung‹ der materialistischen Geschichtsauffassung, 1907, erneut in: ders., Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 6. Aufl. 1985, S. 291–383, 337–343. 129 Vgl. Schröder, Savignys Spezialistendogma (wie Fn. 94), S. 391–404. 130 Kantorowicz (Gnaeus Flavius), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, erneut in: Würtenberger (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, S. 13–49, 22. 131 AaO., S. 28.

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Kantorowicz’ Recht, »das wir leben und als ein lebendes in uns fühlen«,132 bildete freilich das genaue Gegenteil von dem, was einst Savigny unter dem »Leben der Menschen selbst«133 und Hugo unter der Sprachlichkeit des Rechts verstanden hatten. Blickt man heute auf Hugos Ausführungen, so ist schnell der große Sprachphilosoph Ludwig Wittgensein zur Hand, der bekanntlich beide Vergleichsgrößen in seiner Phänomenologie der Sprachspiele zusammenführte und dabei die Sprache im Gebrauch und als Lebensform ins Zentrum stellte.134 Auch Hugo verglich die Rechtsentstehung nicht nur mit der Sprache, sondern ebenfalls mit Gesellschaftsspielen: »Schach oder Billard oder Cartenspiele«.135 Wie für Wittgenstein beruhten auch für Hugo die Regeln der Sprache nur zum geringsten Teil »auf Verordnungen« oder »auf Verabredungen«. In den meisten Fällen würden sie vielmehr ähnlich dem case law der Praxis selbst entspringen.136 So bildeten sich Spielregeln »nach und nach«, unmittelbar bei der spielerischen Interaktion, also während der Regelanwendung, »indem immer mehr zweifelhafte Fälle vorkamen«, die häufig einem »unpartheyischen Dritten«, etwa dem Tischnachbarn, zur Entscheidung vorgelegt wurden.137 Anstelle von Wittgenstein, der hier ganz bewusst aus dem ›Spiel‹ gelassen wird, soll im Folgenden dagegen Quintilians138 rhetorische Sprachphilosophie, sein consuetudo-Modell der Sprachlichkeit, zur Horizonterhellung Hugos dienen.139 Denn das Bemerkenswerte an Hugos ›Sprachspiel des Rechts‹ bildet der Umstand, dass er hier nicht nur die pragmatische, »alte Göttingische Art zu lesen«140 pflegte, sondern vor allem echt römische Denkungsart bewies.141

132 AaO. 133 Savigny, Beruf (wie Fn. 89), S. 29–36, zit. 30, wo die »lebendige Anschauung« kein Wollensakt ist, sondern Perspektivenwechsel meint und stets nur in Verbindung mit den »leitenden Grundsätzen« des Rechts zu einer sinnvollen Rechtsanwendung gedeihen kann. 134 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1945/2003, §§ 23, 54, 83, S. 26f., 49f., 68. Vgl. dazu v. Arnauld, Normativität von Spielregeln, in: ders. (Hrsg.), Recht und Spielregeln, 2003, S. 17–36, 25–29. 135 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 131. 136 AaO.; die bekannte Formulierung von Wittgenstein, Untersuchungen (wie Fn. 134), § 83, S. 68, lautet : »make up rules as we go along«. 137 Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 132. 138 Kongenial zusammengebracht wurden Wittgenstein und Quintilian bei Trabant, Sprachdenken, 2006, S. 307f., der das consuetudo-Modell als gemeinsamen Nenner treffend herausstellt. 139 Anders als Cicero verwendete Hugo Quintilian jedoch nicht zentral für die Rechtsquellenlehre. Quintilians Richtigkeitskriterien des Sprachgebrauchs – ratio, vetustas, auctoritas und consuetudo – waren Hugo aber gut bekannt, auch die Anleihen bei Varro, vgl. Hugo, Rechtsgeschichte I (wie Fn. 64), S. 114f. 140 Hugo, Rez. Mühlenbruch, 1808, in: Bücherkenntnis II (wie Fn. 58), S. 8–11,10. Zum mos Gottingensis und seiner maßgeblichen Leitfigur, dem Kurator Adolph Gerlach von Münch-

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Parallelen zwischen dem antiken Rhetor und dem modernen Rechtsgelehrten sind unverkennbar: Beide fundierten ihre Konventionstheorien mit den Elementen einer lang andauernden consuetudo und dem consensus eruditorum, dem »Urteil der größten Meister« in der Sprache bzw. des Rechts.142 Im Unterschied zur reinen Grammatik, wo die ratio eine überragende Rolle hat, zählten in der Redekunst für Quintilian besonders die ›Klassiker der Latinitas‹ und der Usus der Sprachpraxis, mit denen man »ganz so umgehen [soll], wie mit einer Münze, die Wert und Geltung für alle empfiehlt«.143 Hatte Hugo schon in den früheren Auflagen seiner ›Encyclopädie‹ auf die Sprache Bezug genommen,144 so formulierte er eine ausgereifte Fassung erst im rechtsquellentheoretischen Beitrag von 1812: »Das positive Recht eines jeden Volks ist ein Theil seiner Sprache. […] Wie entsteht nun die Sprache eines Volks? Ehemals hat man wohl geglaubt, Gott selbst habe die Sprache erfunden und den Menschen gelehrt. Dieß wäre ein eigentliches Gesetz von oben herab […]. Andere dachten sich eine Verabredung […]. Keines von beyden wird jetzt mehr jemand behaupten. Wer irgend darüber nachgedacht hat, der weiß, daß eine Sprache sich von selbst bildet […].«145

Bis hierhin zitiert, scheint es so, als käme bei Hugo nichts Neues und er setze mit der Sprache bloß die Reihe von Beispielen etwa zur Sitte oder zur Heilkunst fort. Alles macht sich von selbst, auch ohne Gesetzgebung eines Machthabers. Erschöpfte sich also Hugos Rechts- und Sprachentstehung in einer schlichten Negation, in der Ablehnung jeglicher Urheberschaft und individueller Zurechnung? Die Frage stellen heißt, sie mit Blick auf die römischen Juristen zu verneinen. Schon in den Folgesätzen erläutert Hugo, dass nämlich auch das ›SichVon-Selbst-Machen‹ durchaus von Persönlichkeiten geprägt ist. Auf die »weiteren Fortschritte« in der Sprache, von den ersten Lauten der rusticuli zur Kultivierung und Erudition, habe »das Beyspiel Einzeler [sic!], die einmahl dafür angesehen werden, als sprächen oder schrieben sie gut, den größten Einfluß […]. Ein Hofmann, […] ein beliebter Schriftsteller sagt etwas; andere hören es, und weil so vieles, was dieser sagt […] für schön gilt,

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hausen, vgl. Sellert, Rechtswissenschaft und Hochschulpolitik, in: Stackelberg (Hrsg.), Zur geistigen Situation der Zeit der Göttinger Universitätsgründung, 1988, S. 57–84, insb. 66–72. Daher kann es nicht verwundern, dass Hugo die großen idealistischen Sprachkonzepte eines Herder oder eines Humboldt unbeeindruckt ließen. Quintilian, Inst. orat. I, 6, 1–3, 43–45. Vgl. auch Flume, Gewohnheitsrecht (wie Fn. 7), S. 31f. Quintilian, Inst. orat. I, 6, 3, dt. zit. n. Rahn (Hrsg.), Quintilian. Ausbildung des Redners I, 2. Aufl. 1988, S. 89. Überraschend ähnlich in dieser Hinsicht auch die Formulierung von Savigny, Rez. Gönner, in: Zeitschr. f. gesch. Rechtsw. 1 (1815), S. 373–423, 384. Seit Hugo, Encyclopädie, 2. Aufl. 1799, S. 9. Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 119.

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so halten sie auch dieses dafür; sie wiederholen es, und ehe man sich versieht, ist der neue Ausdruck, die neue Wendung geprägt«.146

Es ist hier der Topos des nachahmungswürdigen ›Klassikers‹,147 der Hugos Konventionalismus der Rechts- und Sprachenstehung eine völlig neue Wendung zum Humanismus gibt.148 Ausgangspunkt waren die sogenannten römischen Prinzipatsjuristen, die er mit der Gattungsbezeichnung der »classischen Civilisten«149 zusammenfasste. Am Anfang des klassischen Reigens und noch vor Labeo, dem »berühmtesten von allen ältern Rechtsgelehrten«,150 stand für Hugo der Schwellendenker und die veteres verabschiedende Republikaner Servius Sulpicius Rufus – »Urheber des schönsten Römischen Systems«.151 Die Parallelen zum antiken Rhetoriklehrer lassen sich an dieser Stelle mit den Händen greifen, darf Quintilian doch als einer der ersten römischen Schriftsteller gelten, der wie Hugo das consuetudo-Modell erweitert und – analog der alexandrinischen Bibliothekare – einen Kanon vorbildlicher Autoren anfertigte.152 Mit dem kanonischen Rückblick auf die ›Altmeister‹ – z. B. Vergil, Tibull, Sallust und Cicero – wollte Quintilian seinen Rhetorikschülern keineswegs nur ein Museum darbieten, sondern vielmehr zur aemulatio anreizen und einen Wettstreit anstacheln, damit die ›Alten‹ von den ›Modernen‹ alsbald übertroffen werden.153 Anders als beim großen römischen Antiquaren Varro,154 von dessen 146 AaO., S. 119f. 147 Vgl. zur inzwischen ›historisierten‹ Diskussion etwa Vosskamp, Normativität und Historizität europäischer Klassiken, in: ders. (Hrsg.), Klassik im Vergleich, 1993, S. 5–7. Anders noch Curtius, Europäische Literatur, 8. Aufl. 1973, S. 253–261. 148 Auch Pütter, Gesetzbücher und Gewohnheitsrechte (wie Fn. 111), S. 12f., vertrat eine ähnliche Konventionstheorie. Dort war es allerdings nicht der hochsprachlich gebildete Jurist, sondern der »Nachbar« und »Mitbürger« vom selben Stand, der als Muster normativer Nachahmung diente. 149 Hugo, Rechtsgeschichte (wie Fn. 67), S. 106. Vgl. Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1946/61, S. 117–127. Vgl. auch den Diskurs unter heutigen Romanisten: Bretone, Geschichte des römischen Rechts, 2. Aufl. 1998, S. 147, und Behrends, Die Grundbegriffe der Romanistik, in: Index 24 (1996), S. 1–69, 33–36. 150 Hugo, Lehrbuch der Geschichte des Römischen Rechts, 1. Aufl. 1790, S. 131. 151 Hugo, Rechtsgeschichte (wie Fn. 64), S. 292f.; später indes stark relativiert, vgl. ders., Rechtsgeschichte bis auf Justinian II (wie Fn. 64), S. 864. 152 Vgl. Coenen, Art. Konvention, in: Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik IV, 1998, Sp. 1314–1322, 1320. 153 In der literarischen Form der Parallele mit griechischen Musterautoren bei Quintilian, Inst. orat. X, 1, 87–125. Selbst Servius Sulpicius tauchte hier auf, indes weniger prominent unter der Gattung der Redner (vgl. aaO., 116). Aufschlussreich abgegrenzt zum aristotelischen Konzept der Naturnachahmung von Baier, Quintilian’s approach, in: Bessone/Fucecchi (Hrsg.), The Literary Genres in the Flavian Age, 2018, S. 47–61, 52–56. Ebenso empfahl Hugo, »daß in jeder Wissenschaft der Jünger seinen Meister einst übertreffen sollte […]«, erinnerte jedoch umgehend daran, dass die Zeitgenossen noch nicht einmal dasselbe Niveau von »Bynkershoek, Noodt und Schulting« erreicht hätten (Rez. Pestel [1789], in: Bücherkenntnis I [wie Fn. 38], S. 120f., 121).

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Schriften Quintilian vermutlich das consuetudo-Modell entlehnte, erklärte er den sprachlichen Wandel zu einem natürlichen Phänomen. So sei es nicht etwa den Ungebildeten anzulasten, sondern dem Sprachgebrauch immanent, dass neue Wörter und Wendungen ständig entstehen und wieder vergehen.155 Korrektes Reden und Schreiben hieße daher stets, eine Auswahl aus dem Fundus des ›Alten‹ und des ›Neuen‹ zu treffen. Diese Auswahl sollte dabei zwar nicht von der Tradition und der Überlieferung beherrscht werden; aber die Vergangenheit und der darin aufbewahrte consensus eruditorum leiteten nach Quintilian die Urteilskraft (iudicium) an und ermöglichten einen reflektierten Sprachgebrauch.156 Hugo übertrug das von Quintilian modifizierte consuetudo-Modell mit feinem Gespür auf das geltende Recht und auf die gegenwärtige Rechtssprache. Für Hugo war es nicht die Frage, ob man in der Moderne mit oder gegen den Strom schwimmt, sondern allein entscheidend sollte die treffende Auswahl aus dem Fundus an Rechtsüberlieferung sein. So hatte Hugo, der Bewunderer der Antike, nicht die geringste Scheu, mit einem Handstreich das römische Personenrecht größtenteils für unanwendbar zu erklären, da hier noch zu viel an gesellschaftlicher Ungleichheit verrechtlicht, zu wenig an civitas verwirklicht war.157 Andersherum bildete für ihn »die genaue Anschließung an die Sprache und die Vorstellungsart der Alten«158 auch für das geltende Recht ein hohes Gut. Doch hatte dieser sprachliche Blick zurück in die Antike nicht bloß einen antiquarischen, sondern – wie in Quintilians Rhetorik – zugleich einen eminent praktischen Wert. Denn ohne eine die ›Sachen des Rechts‹ treffende Sprache käme man nach Hugo selbst mit naturrechtlichen Erwägungen dazu, die moderne Sklaverei sowohl in fremden Ländern als auch im preußisch-protestantischen Berlin glatt zu rechtfertigen.159 Wer also würde uns Gegenwartsjuristen, fragte Hugo, »zwingen, in Fällen wo das Alte besser ist, das Neue, und wo das Neue besser ist, das Mittelalter zum Muster zu nehmen?«.160

154 Erhalten bei Gellius Noct. Att. XV, 5, 1, am Beispiel der Vulgarisierung des Wortes ›profligo‹. Zur Differenz zwischen Varro und Quintilian vgl. Müller, Sprachbewußtsein und Sprachvariation, 2001, S. 188–190. 155 Vgl. nur Quintilian, Inst. orat. XII, 10, 75. 156 Eingehend dazu Derschmeier, Sprache als humanisierende Macht, 2017, S. 99–108. 157 Vgl. nur Hugo, Heutiges Römisches Recht (wie Fn. 108), S. 11f.; ferner ders., Ehrenrettung Tribonian’s, in: Civilistisches Magazin II (wie Fn. 64), S. 84–96, 93–95. zum Sklavenrecht vgl. ders., Ueber die Institutionen, in: ders., Civilistisches Magazin I, 1. Aufl. 1791, S. 305–382, 358–360. 158 Hugo, Lehrbuch des heutigen Römischen Rechts, 5. Aufl. 1816, S. XI. 159 So bei Hugo, Naturrecht (wie Fn. 81), S. 242–245, in Note 10 mit Verweis auf ein mit naturrechtlichen Autoritäten gespicktes Urteil des Berliner Kammergerichts, wonach ein von einem Dänen eingeführter Sklave auch auf preußischem Boden trotz anderslautenden Gesetzesrechts weiterhin unfrei blieb. 160 Hugo, Rez. Galvani, 1789, in: Bücherkenntnis I (wie Fn. 38), S. 77–83, 80.

Recht »macht sich auch von selbst, wie die Sprache«

V.

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… und die Politik der Geschichte?

Wird abschließend versucht, Hugos Rechtsquellenlehre politisch zu verorten, so könnte man geneigt sein, die Vorwürfe von Konservatismus und Quietismus zu erheben.161 Die Betonung des rechtlichen Herkommens zulasten des politischen Willens, das Festhalten an römisch-rechtlichen Institutionen sowie die Dominanz des akademischen Juristenstands führten in Hugos Konzeption zweifellos zu einem Bedeutungsschwund von Gesetzgebungen und politischen Eingriffen in das Rechtssystem. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass nicht die Form, sondern stets der Inhalt des Rechts den Gradmesser für eine politische Bewertung abgibt, in Hugos Worten also nur die empirische Rechtserfahrung für die »Rathsamkeit« und »Zweckmäßigkeit« einer Regel entscheidend sein kann.162 Und wer sich wie Hugo rechtsinhaltlich für Judenemanzipation, Frauenrechte und Libertinage einsetzte, mag zwar rechtsformal noch als konservativ bezeichnet werden.163 Ein politisches Werturteil kann daraus aber nicht mehr abgeleitet werden. Die von Hugo behauptete Überlegenheit des Gewohnheitsrechts machte ihn darüber hinaus keinesfalls zu einem ›Gesetzesstürmer‹. Selbst der preußischen Kodifikation, diesem erfüllten »Lieblingswunsch fast aller neuern Philosophen und Politiker«, konnte er noch abgewinnen, »daß die meisten absichtlichen Aenderungen des bisherigen Rechts […] gut und weise erscheinen«.164 Und an der scharfen Kritik des Code Napoléon seines Freundes August Wilhelm Rehberg, einst hoher Staatsmann und Haupt der reformkonservativen Hannoverschen Schule,165 missfiel ihm sowohl die Parteilichkeit als auch die von persönlichen Erlebnissen zeugende »Bitterkeit« der Schrift.166 161 Zu dem oft gepflegten Pauschalverdikt vgl. nur Singer, Grünhut’s Zeitschrift 16 (1889), S. 273–319, 297 Note 28; Mannheim, Konsvervatismus, 1925/84, S. 213; Lavranu, Historizität (wie Fn. 12), S. 68f.; zu weiteren ›Hugo-Bildern‹ vgl. Rückert, Rosen pflücken (wie Fn. 35), S. 97f., 108–112. 162 Hugo, Encyclopädie, 2. Aufl. 1799, S. 15. Vgl. dazu Haferkamp, ZEuP 2015, S. 105–127, 112– 114; Blühdorn, Naturrechtskritik (wie Fn. 81), S. 10–12. 163 Hugo war ein Bewunderer Moses Mendelssohns, plädierte für bikonfessionelle Ehen und für die Legalisierung außerehelichen Geschlechtsverkehrs und vergab an seinen Schüler Spangenberg ein Dissertationsthema zur rechtlichen Stellung der Frau im römischen Recht. Vgl. dazu meine in Vorbereitung befindliche Habilititationsschrift (wie Fn. 119). 164 Hugo, Rez. PrALR, 1791, in: Bücherkenntnis I (wie Fn. 38), S. 268–275, 268, 274. Denn die »Gesetzgeber sind gewöhnlich so weit vorwärts, und so weit zurück, als ihr Zeitalter«, ders., Rez. Schlosser (wie Fn. 72), S. 115. 165 Zur politischen Charakterisierung Rehbergs, der unter französischer Herrschaft zu einem ›Direktor für indirekte Steuern‹ degradiert wurde, immer noch lesenswert Epstein, Die Ursprünge des Konservatismus in Deutschland, 1966/73, S. 636–655. 166 Hugo, Rez. Rehberg: Ueber den Code Napoleon und dessen Einführung in Deutschland, 1814, in: Bücherkenntnis II (wie Fn. 58), S. 175–181, 178f.

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Können damit alle Einwände von ›Goethe bis Hegel‹ gegen Hugos Konzeption erledigt werden? Oder erbte sich bei ihm dennoch das Recht »wie eine ewige Krankheit fort« und wurde aus politischer Vernunft empirischer Unsinn, aus gesetzlicher Wohltat gewohnheitsrechtliche Plage?167 Besonders Hegel, für den die ›Allgemeinheit‹ des Code Napoléon bekanntlich die kodifizierte Wirklichkeit des Vernünftigen war, ließ an Hugo kein gutes Haar.168 Er monierte unter anderem den Mangel an ›Totalität‹, das barbarische Stehenbleiben beim unvermittelten Positiven, die Verwechslung von Gelehrsamkeit mit Vernünftigkeit und das (vermeintliche) Lob für die »Inkonsequenz der römischen Rechtsgelehrten und Prätoren«.169 Spießt man dagegen Hegel nicht von dialektischer, sondern von politischer Seite auf, so löst sich der Knoten in Hugos Rechtsquellenlehre auch mit Blick auf den ›Philosophen der Freiheit‹ (Vieweg) schneller als gedacht. Denn in Carl Ludwig von Haller, dessen Hauptwerk »Restauration der Staats-Wissenschaft« von 1816 als Stichwort einer neuen Epoche dienen sollte, fanden beide Denker ihren gemeinsamen Gegner.170 Gegen Ständegesellschaft und naturgegebene Königsherrschaft wehrte sich Hugo, der von Haller in einem anderen Werk als Autorität herhalten musste, mit einem schlichten Verweis auf Freiheit: »Wir sind vernünftige, einer freyen Wahl fähige Geschöpfe, und können dadurch gar maches zu Stande bringen, was sich nicht so ganz von selbst macht. […].«171 Damit stand Hugo nun wieder ganz nah bei Hegel, selbst wenn für ihn nicht alles Recht staatliches und willentlich gesetztes sein musste, um Sicherheit und Vorhersehbarkeit zu garantieren.172 Im Ergebnis darf Hugos Rechtsquellenlehre im Kontext des Freiheit und Bürgerlichkeit versprechenden Code Napoléon nicht als politisch rückständig oder quietistisch bewertet werden. Wird an das französische Familienrecht ge167 Goethes »Studierzimmer« bringt Hugo, Encyclopädie, 2. Aufl. 1799, S. 13, selbst und bleibt somit seiner Argumentation in utramque partem auch in methodologischer Hinsicht treu. Dieselbe Sentenz verwendet im Übrigen auch P.J.A. Feuerbach in seiner Werbeschrift für eine bayerische Version des Code Napoléon, dort freilich gegen die »innere Fäulniß« der Lehnsverfassung gerichtet, vgl. Betrachtungen über den Geist des Code Napoléon, 1808, in: ders., Themis, oder Beiträge zur Gesetzgebung, 1812, S. 1–73, 47f. 168 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, zit. n. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, 1970, S. 36–46. Hugos Retourkutsche erfolgte 1821 durch Rezension in den »Göttingischen Gelehrte Anzeigen«, woraufhin noch im selben Jahr eine Duplik von Hegel unter dem Titel »Erklärung« erschien; beide erneut abgedr. in: Riedel (Hrsg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie I, 1975, S. 67–73. 169 Hegel, Rechtsphilosophie (wie Fn. 168), § 3, S. 41. 170 Vgl. aaO., § 258, S. 399–406. 171 Hugo, Ueber Herrn von Haller’s Handbuch, 1812, in: ders., Civilistisches Magazin III (wie Fn. 51), S. 462–484, 470f. [Hervorheb. v. Verf.]. 172 Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie (wie Fn. 168), § 217 Zusatz, S. 371, versus Hugo, Gesetze (wie Fn. 62), S. 128.

Recht »macht sich auch von selbst, wie die Sprache«

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dacht,173 so findet man bei Hugos Update römisch-rechtlicher Lehren sogar wesentlich mehr an libertas, aequitas und an sozialer Gerechtigkeit. Zudem ist der oppositionelle Charakter der Rechtsquellenlehre zu berücksichtigen.174 In Opposition des aufgeklärten Absolutismus und des neuen, staatszentrierten Bonapartismus plädierte Hugo ganz bewusst für ein ›Recht, das sich so ganz von selbst macht‹ – für mehr Teilhabe der Rechtsadressaten und für weniger Machtkonzentration bei den Herrschenden. Auch in der Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe bewahrte Hugo, der genaue Beobachter französischer Revolutionen, freilich seine skeptisch-empirische Haltung. Wie bei Gesetzen ›von oben herab‹ hegte er gegenüber dem Plebiszit, der voluntaristischen Variante von Demokratie, große Bedenken. Einer Kassandra gleich antizipierte Hugo die spätestens im geeinten Deutschen Reich konkret werdenden Gefahren von Populismus und Manipulationsanfälligkeit der öffentlichen Meinung.175 Die ›Macht der Masse‹ sollte daher in tradierten oder auch in erkämpften Institutionen eingehegt und kanalisiert werden. Römische Jurisprudenz, britisches Parlament, »Publizität der Justiz und Zuziehung der Geschworenen«176 standen hierfür in Hugos Œuvre Pate. Zwischen Cicero, dem römischen Republikaner, und Napoléon, dem Caesar der Moderne, lagen fast 2000 Jahre, also veränderte Umstände, verändertes Bewusstsein, andere Menschen. Hugo selbst gab den Hinweis in seiner Vorrede zur Gibbon-Übersetzung, dass wir ›Modernen‹ mit Blick auf die ›Alten‹ stets darüber nachdenken sollten, »woher es komme, daß Menschen, die doch im Grunde waren wie wir, in ihren Handlungen und Einrichtungen uns oft so unähnlich sind«.177 Im Unterschied zu vielen Zeitgenossen nahm Hugo dies jedoch nicht zum Anlass, auf die Vergangenheit herabzuschauen, sondern im Gegenteil, sich die höhere Rechtskultur der Römer zum Vorbild zu nehmen, um auf den Schultern der Riesen über gegenwärtige Kodifikationsprojekte weit hinaus in die rechtliche und soziale Zukunft zu blicken.

173 Vgl. Sorge, Die Hörigkeit der Ehefrau, in: Meder/Mecke (Hrsg.), Reformforderungen zum Familienrecht international I, 2015, S. 126–188. 174 Übergreifend zu diesem zentralen Konzept der Historischen Rechtsschule vgl. Meder, Doppelte Körper (wie Fn. 1), S. 146–149. 175 Vgl. nur die prägnanteste Formulierung bei Hugo, Rez. Erhard, 1793, S. 319–321, 321; im Übrigen meine in Vorbereitung befindliche Habilitationsschrift (wie Fn. 119). 176 Hugo, Rez. Klein, 1793, in: Bücherkenntnis I (wie Fn. 38), S. 322–326, 325. 177 Hugo, Eduard Gibbon’s historische Uebersicht des Römischen Rechts, 1789, zit. n. d. Ausg. v. Behrends, 1996, S. 15.

Georgia Stefanopoulou

Strafvollstreckung und Strafvollzug jenseits des Staates – Direkte Sanktionsverwirklichung durch den Internationalen Strafgerichtshof ?

Im Jahr 2016, als das Strafverfahren gegen Ahmad Al Faqi Al Mahdi vor dem Internationalen Strafgerichtshof abgeschlossen wurde, hat die Nachricht über die Verurteilung des malischen Extremisten wegen der Zerstörung des Weltkulturerbes in Timbuktu im Jahre 2012 schnell die mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zum ersten Mal wurden ausschließlich Kriegsverbrechen gegen Kulturgüter als besonders geschützte Objekte nach Art. 8 Abs. 2 e) (iv) IStGHStatut Gegenstand eines Strafverfahrens vor dem Gerichtshof.1 Im Vordergrund der Berichterstattung stand neben dieser Neuerung2 die Höhe der zu verbüßenden Freiheitsstrafe: »IStGH verhängt neun Jahre Haft. Historisches Urteil gegen Islamisten«,3 »Terrorismus in Mali: Neun Jahre Haft für die Zerstörung von Weltkulturerbe«,4 »Neun Jahre Haft für die Zerstörung von Weltkulturerbe Malis«5 lauteten exemplarisch die Titel der verschiedenen Artikel, die dem Urteil eine große Symbolwirkung für den Schutz von Kulturgütern bei bewaffneten Konflikten zusprachen. Mit der Ankündigung des Urteils scheint zugleich das Interesse der Öffentlichkeit an dem Fall Al Mahdi zufriedengestellt zu sein. Das Wie und Wo der Vollstreckung und des Vollzugs der Strafe scheint eher nebensächlich zu sein. Dass der Staat, der die Vollstreckung und den Vollzug der Strafe Al Mahdis übernommen hat, das Vereinigte Königreich ist,6 dürfte nicht 1 Werle/Jeßberger, 5. Aufl. 2020, Rn. 1428. 2 Die Aburteilung der Zerstörungstaten in Timbuktu entspricht der im Jahr 2016 angekündigten neuen Strategie der Anklagebehörde, bis dahin vernachlässigte Delikte verstärkt in den Fokus zu nehmen, ebd., mit Verweis auf das IStGH, Policy Paper v. 15. September 2016, S. 15. 3 lto vom 27. 9. 2016 (abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/istgh-icc-011201 15-urteil-islamist-al-mahdi-mali-timbuktu-neun-jahre-haft/). 4 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 9. 2016 (abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell /politik/ausland/afrika/terrorismus-in-mali-neun-jahre-haft-fuer-die-zerstoerung-von-weltk ulturerbe-14455532.html). 5 Süddeutsche Zeitung vom 27. 9. 2016 (abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik /konflikte-neun-jahre-haft-fuer-zerstoerung-von-weltkulturerbe-malis-dpa.urn-newsml-dpa -com-20090101-160927-99-606381). 6 IStGH-Pressemitteilung vom 3. 5. 2019 (abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/Pages/item.asp x?name=pr1451).

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vielen bekannt sein. Darüber wurde längst nicht so viel berichtet wie über die Höhe der Haftstrafe. Ebenso wenig bekannt dürfte sein, wo andere durch den Gerichtshof Verurteilte ihre Freiheitsstrafen absitzen, dass z. B. Thomas Lubanga oder Germain Katanga sich in Justizvollzugsanstalten der Demokratischen Republik Kongo befinden.7 Dieses Desinteresse dürfte symptomatisch für das von einigen beklagte generelle »Desinteresse am Strafvollzug«8 sein, das sich unter anderem auch in der untergeordneten Rolle des Gebiets im Rahmen der juristischen Ausbildung spiegelt.9

I.

Das Strafverwirklichungsmodell des IStGH-Statuts

Will man das »Desinteresse am Strafvollzug« bestreiten und gutgläubig annehmen, dass der Grund für die mangelnde Berichterstattung in dem Interesse an der Resozialisierung des Gefangenen liegt (und der Absicht, ihn nicht medial zu behelligen), ist an die generell umstrittene Rolle der positiven Spezialprävention als Strafzweck im Völkerstrafrecht zu erinnern.10 Dem Resozialisierungsgedanken soll im Völkerstrafrecht auch nach ständiger internationaler Rechtsprechung eine nachrangige Bedeutung zukommen.11 Die Nachrangigkeit der positiven Spezialprävention bei der Verhängung der Strafe findet sich bei ihrer Gestaltung wieder. Exemplarisch für die Untergewichtung des Resozialisierungsgedankens in der völkerstrafrechtlichen Praxis ist die offizielle Internetseite des Internationalen Strafgerichtshofs, auf der Bilder von Verurteilten und längst im Vollzug sich befindenden Personen gezeigt werden. Überlegungen zum Persönlichkeitsrechtsschutz und zur Resozialisierungsgefährdung der Inhaf-

7 S. Case Information Sheet, Situation in the Democratic Republic Congo, The Prosecutor v. Thomas Lubanga, ICC-01/04-01/06 (abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/CaseInformatio nSheets/LubangaEng.pdf); Case Information Sheet, Situation in the Democratic Republic Congo, The Prosecutor v. Germain Katanga, ICC-01/04-01/07 (abrufbar unter: https://www.icc -cpi.int/iccdocs/pids/publications/KatangaEng.pdf). 8 Bung, in: Goeckenjan/Puschke/Singelnstein (Hrsg.), FS für Ulrich Eisenberg zum 80. Geburtstag, 2019, S. 289 (290). 9 Bung (Fn. 8), S. 290; Eisenberg/Bung/Kölbel, Fälle zum Schwerpunkt Strafrecht, 10. Aufl. 2019, S. 254. 10 Dazu Epik, Die Strafzumessung bei Taten nach dem Völkerstrafgesetzbuch, 2017, S. 123ff.; Werle/Jeßberger (Fn.1), Rn. 132. 11 S. z. B. ICC, Prosecutor v. Al Mahdi, Judgement and Sentence, ICC-01/12-01/15, 27. 09. 2016, para. 67: »Lastly, the extent to which the sentence reflects the culpability of the convicted person addresses the desire to ease that person’s reintegration into society, although, in particular in the case of international criminal law, this goal cannot be considered to be primordial and should therefore not be given any undue weight«; weitere Hinweise zu der Rechtsprechung in: Epik (Fn. 10), S. 120ff.

Strafvollstreckung und Strafvollzug jenseits des Staates

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tierten, wie sie im Lebach-Urteil12 angestellt werden, finden im Kontext der völkerstrafrechtlichen Vollzugspraxis offenbar nicht statt. Es ist sogar zweifelhaft, ob überhaupt von einer »völkerstrafrechtlichen Vollzugspraxis« gesprochen werden kann, geschweige denn von einem »völkerstrafrechtlichen Strafvollzugsrecht«. Art. 103–111 IStGH-Statut widmen sich zwar der Vollstreckung von Freiheitsstrafen, dem Vollzugsablauf jedoch kaum. Das Statut begnügt sich damit, dass die Bestimmung des Vollstreckungsstaates sowie die Aufsicht des Gerichtshofs über die Haftbedingungen unter Berücksichtigung der »Anwendung allgemein anerkannter Normen völkerrechtlicher Verträge betreffend die Behandlung von Strafgefangenen« stattfindet, Art. 103 Abs. 3b) IStGH-Statut und Art. 106 Abs. 1 IStGH-Statut. Diese Maßgabe ist nicht nur zu grob und zu ungenau. Es ist wegen der Erwähnung von völkerrechtlichen Verträgen unklar, ob auch Soft Law zu Haftbedingungen einbezogen wird,13 sie kann auch keine einheitliche Gestaltung des Vollzugs und der Rechtsschutzmöglichkeiten für Gefangene leisten.14 Die Regulierung von Vollzugsangelegenheiten wird an die Vollstreckungsstaaten delegiert. Mit Fragen des Vollzugsablaufs kann sich der Gerichtshof nur insoweit befassen, als Vollzugsmaßnahmen, wie im Falle von Vollzugslockerungen, Einfluss auf die Vollstreckung der Strafe nehmen können. Eine Vollzugslockerung stellt zwar aus rechtlicher Sicht keine Unterbrechung der Vollstreckung dar, ist jedoch auf der Basis einer »autonomen Auslegung« des Begriffs der Vollstreckung durch den Gerichtshof eine faktische Unterbrechung, da der Gefangene nicht der unmittelbaren Kontrolle der Vollzugsbediensteten unterliegt.15 Die Regel 211 Abs. 2 der Beweisordnung sieht daher vor, dass der Gerichtshof informiert werden muss, wenn die Gewährung einer Vollzugslockerung im Vollstreckungsstaat in Betracht kommt.16 Über die Gewährung der Lockerung, anders als bei Fragen des »Ob« der Sanktionsverwirklichung, entscheidet der Internationale Strafgerichtshof nicht selber.17 Eine Strafvollstreckungskammer des Gerichtshofs ist außerdem nicht errichtet worden, auch ein den §§ 109ff. StVollzG entsprechendes Kontrollverfahren vor dem Gerichtshof selbst ist nicht vorgesehen.18 12 BVerfGE 35, 202. 13 Dazu ausführlich Rochner, Strafvollstreckung und Strafvollzug im internationalen Strafrecht, 2014, S. 292ff. 14 Ebd., S. 292; 331f. 15 Vgl. ebd., S. 298, S. 302. 16 »When a sentenced person is eligible for a prison programme or benefit available under the domestic law of the State of enforcement which may entail some activity outside the prison facility, the State of enforcement shall communicate that fact to the Presidency, together with any relevant information or observation, to enable the Court to exercise its supervisory function«, dazu auch Rochner (Fn. 13), S. 298f. 17 Ebd., S. 299. 18 Vgl. ebd., S. 305.

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Insgesamt lässt sich sagen, dass die Sanktionsverwirklichung bei der direkten Durchsetzung des Völkerstrafrechts, d. h. bei Bestrafung durch den Internationalen Strafgerichtshof, wenn man von der ausschließlichen Entscheidungszuständigkeit des Gerichtshofs bei Fragen der vorzeitigen Entlassung19 absieht, größtenteils jenseits des Gerichtshofs stattfindet. Sie bleibt staatsabhängig und -gebunden. Vergegenwärtigt man sich diesen Umstand, erkennt man, in welche Richtung unter anderem die vom Begriff des Staates emanzipierte Entwicklung der völkerstrafrechtlichen Justiz vorangetrieben werden sollte, die bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzte und mit dem IStGH-Statut ihren »vorerst letzten Meilenstein«20 erreicht hat.

II.

Völkerstrafvollzugsrecht als nächster Entwicklungsschritt des Völkerstrafrechts

Das Völkerstrafrecht hat bisher einige Reifungsstadien durchlaufen. Zunächst musste die Lockerung des Souveränitätsgedankens überhaupt erreicht werden sowie der Gedanke der Verantwortlichkeit des Individuums als eines eigenständigen Völkerrechtssubjekts reifen.21 Daraufhin kam es zu den ersten Bemühungen um die Kodifikation des Völkerstrafrechts. Im Mittelpunkt derselben stand die Ausarbeitung der einzelnen völkerstrafrechtlichen Tatbestände, dies war zunächst in praktischer Hinsicht von grundlegender Bedeutung.22 Sowohl die Statuten der Militärischen Strafgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio als auch die Statuten der zwei Ad-hoc-Gerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda widmen sich hauptsächlich dem Besonderen Teil des Völkerstrafrechts.23 Dem Allgemeinen Teil kommt bei diesen Regelwerken nur eine nachrangige Bedeutung zu.24 Dies hängt auch damit zusammen, dass die Durchsetzung des Völkerstrafrechts bis in die 90er-Jahre noch überwiegend als eine Aufgabe der staatlichen Verfolgungsbehörden gehandhabt wurde.25 Die jeweiligen staatlichen Allgemeinen Teile wurden vor diesem Hintergrund als ausreichend angesehen.26 Die Erarbeitung des Allgemeinen Teils mit den darin enthaltenen allgemeinen

19 20 21 22 23

Dazu Rochner (Fn. 13), S. 328f. Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 57. Ebd., Rn. 2. Ebd., Rn. 498. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 9. Aufl. 2020, § 15, Rn. 1; Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 499. 24 Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 499; Satzger (Fn. 23), § 15, Rn. 1. 25 Werle/ Jeßberger (Fn. 1), Rn. 500. 26 Ebd.; Satzger (Fn. 23), § 15, Rn. 1.

Strafvollstreckung und Strafvollzug jenseits des Staates

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Zurechnungsregeln erfolgte erst mit dem IStGH-Statut.27 Damit erreichte das Völkerstrafrecht seine nächste Entwicklungsstufe, und die direkte Durchsetzung des Völkerstrafrechts gewann eine solide Grundlage, die durch die Rechtsprechung weiter verfeinert wurde und wird.28 Will man aber den Mechanismus der direkten Durchsetzung weiter verstärken, sollte man an den nächsten Kodifikationsschritt denken, der in der Entwicklung eines völkerstrafrechtlichen Strafvollzugsrechts bestünde. Ein Einwand wäre an dieser Stelle vorstellbar: Die direkte Durchsetzung hätte keinen prioritären Anspruch gegenüber der indirekten durch einzelne Staaten, das würde das Komplementaritätsprinzip in Art. 17 IStGH-Statut genügend zum Ausdruck bringen. Vor diesem Hintergrund sollte es nicht verkehrt sein, dass die Sanktionsverwirklichung den Staaten überlassen wird. Ein solcher Einwand würde folgende zwei Gesichtspunkte verkennen: Erstens, die Sanktionsverwirklichung durch einen Vertragsstaat auf der Grundlage eines Urteils des Internationalen Strafgerichtshofs stellt keine echte indirekte Völkerstrafrechtsdurchsetzung dar, die priorisiert wird, sondern lediglich eine Umwandlung der ursprünglich direkten Durchsetzung in eine indirekte. Dafür liefert das Komplementaritätsprinzip keinen Grund. Ist ein Urteil des Gerichtshofs gefällt, heißt es auch, dass der Mechanismus der direkten Durchsetzung längst zulässig aktiviert wurde und es keinen Platz mehr für komplementaritätsbezogene oder -abgeleitete Erwägungen gibt.29 Zweitens, das Komplementaritätsprinzip und die Priorisierung der staatlichen Völkerstrafrechtspflege, die es mit sich bringt, entfalten ihre Schutzrichtung nur gegenüber den tatnäheren Staaten.30 Als Vollstreckungsstaaten kommen aber prinzipiell alle Vertragsstaaten in Betracht. Der Vollstreckungsstaat wird nach Art. 103 Abs. 1 IStGH-Statut im Einzelfall anhand einer Liste von Staaten bestimmt, die ihre Bereitschaft zur Übernahme der Verurteilten erklärt haben. Pragmatische Gründe, die mit den finanziellen Kapazitäten der sich in der Regel in Transitionsphasen befindenden tatnäheren Staaten oder mit den dort noch andauernden Feindseligkeiten und Spannungen 27 Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 501; Satzger (Fn. 23), § 15, Rn. 1. 28 Vgl. Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 502. 29 Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Grundsatz der Komplementarität bei der Sanktionsverwirklichung völlig ausgeblendet wird. Er bleibt für den Vollzug insoweit von Relevanz, als andere Gefangene wegen ähnlicher völkerstrafrechtlicher Taten auf der Grundlage des Komplementaritätsprinzips durch Gerichte des Vollstreckungsstaates bestraft wurden. Der sog. »national standard« des Art. 106 Abs. 2 IStGH-Statut berücksichtigt diese Möglichkeit der indirekten Durchsetzung des Völkerstrafrechts und bestimmt, dass die Haftbedingungen für die durch den Gerichtshof Verurteilten »keinesfalls günstiger oder ungünstiger sein [dürfen] als diejenigen für Strafgefangene, die im Vollstreckungsstaat wegen ähnlicher Straftaten verurteilt werden«, zur Beziehung von »national standard« und Komplementaritätsprinzip Abels, Prisoners of the International Community, 2012, S. 464. 30 Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 345.

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zusammenhängen, werden oft eine heimat- und tatortferne Vollstreckung nahelegen.31 Die Vollstreckungspraxis der UN-Ad-hoc-Gerichtshöfe, vor allem des jugoslawischen, ist dafür exemplarisch.32

III.

Bessere Gewährleistung von Gleichbehandlung und Menschenrechtsschutz

In diesem letzten Punkt der Bestimmung des Vollstreckungsstaates im Einzelfall zeigen sich auch die rechtlichen und praktischen Schwächen des derzeit geltenden Sanktionsverwirklichungsmodells. Es geht hier nicht nur um ein Problem der falschen Symbolwirkung für die Durchsetzungskraft des Völkerstrafrechts unmittelbar auf internationaler Ebene, sondern auch um die Gefahr, dass rechtliche und faktische Ungleichheiten bei der Gestaltung des Vollzugsablaufs entstehen können.33 »[I]t seems that the designation of the state of enforcement amounts to something like a lottery for the [sentenced] person«34 wurde im Zusammenhang mit dem Vollzugsmodell angemerkt, das dem Statut des Jugoslawischen Internationalen Gerichtshofs zugrunde lag und ebenso wie das IStGH-Statut dem Prinzip der staatlichen Vollzugszuständigkeit folgte. Es wird bezweifelt, ob bei allen Vertragsstaaten völkerrechtliche Mindeststandards beim Umgang mit Gefangenen gleichermaßen eingehalten werden.35 Allein die allgemeine Klausel des IStGH-Statuts, dass die Bestimmung des Vollstreckungsstaates sowie die Aufsicht des Gerichtshofs über die Haftbedingungen im Vollstreckungsstaat unter Berücksichtigung der allgemein anerkannten Normen völkerrechtlicher Verträge zur Behandlung von Gefangenen stattfindet, kann keinen einheitlichen effektiven Rechtsschutz der Gefangenen gewährleisten.36 Dafür ist wenigstens nötig, dass ein umfassendes gerichtliches Kontrollverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof selber vorgesehen wird.37 Außerdem werden Einzelentscheidungen, die der Vollzugsalltag abverlangt, vor dem Hintergrund der Differenzen der Rechtsordnungen verschieden ausfallen, was dazu führt, dass die Lebenssituation der Gefangenen auf unterschiedliche Art und Weise geprägt wird.38 Diese wird auch nicht zuletzt durch 31 32 33 34 35 36 37

Rochner (Fn. 13), S. 322. S. dazu Abels (Fn. 29), S. 464ff.; auch Hoffmann, ZIS 2011, 838 (840f.). Zu den rechtlichen und faktischen Ungleichheiten ausführlich Rochner (Fn. 13), S. 316ff. Hoffmann, ZIS 2011, 838 (841). Rochner (Fn. 13), S. 332. Vgl. Hoffmann, ZIS 2011, 838 (841); vgl. Rochner (Fn. 13), S. 282, 292ff., 305. Rochner (Fn. 13), S. 305, 330. Vorgesehen ist lediglich die »ungehindert[e] und vertraulich[e]« Kommunikation des Verurteilten mit dem Gerichtshof (Art. 106 Abs. 3 IStGH-Statut). 38 Rochner (Fn. 13), S. 331; Hoffman, ZIS 2011, 838 (841f.).

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personelle und finanzielle Ressourcen bestimmt, die bei den Vollstreckungsstaaten in unterschiedlicher Höhe vorhanden sind. Es wird das Narrativ von Luxushotel-Anstalten in westlichen Staaten verbreitet.39 Auch Al-Mahdi soll sich über die Haftbedingungen in Schottland besonders lobend geäußert haben. In der Boulevardpresse wird verbreitet, dass er sich zwar etwas über die Kälte in Schottland beschwere, er sei jedoch beeindruckt, wie gut es die Gefangenen in dem Land haben. Die Gefängnisse in Mali seien dagegen »diabolische« Orte.40 In solchen Narrativen, die auch im Rahmen der Arbeit des Ad-hoc-Gerichtshofs für Ruanda kursierten,41 wird in der Literatur eine Gefahr für die Akzeptanz der internationalen Justiz gesehen.42 Die komfortablen Haftbedingungen der durch die internationale Justiz Verurteilten seien der Bevölkerung der Heimatortstaaten, die oft mit Armut und Lebensmittelknappheit konfrontiert seien, schwer vermittelbar.43 Als Lösung wird die Leistung von Aufklärungs- und Versöhnungsarbeit in den jeweiligen Staaten vorgeschlagen.44 Dies könne dazu führen, dass die Heimatorte selbst die Vollstreckung der Strafen unter Berücksichtigung von menschenrechtlichen Standards durchführen.45

IV.

Weitere Aspekte der Diskussion

Neben den bisher erörterten Gesichtspunkten lassen sich weitere Aspekte der Thematik in den Blick nehmen.

1.

Entkräftung postkolonialer Skepsis

Gegen Aufklärungsforderungen und Friedensstiftung ist selbstverständlich nichts einzuwenden, auch die Stärkung der Stellung und Bedeutung der Menschenrechte auf globaler Ebene ist ohne Zweifel mehr als zu begrüßen. Gleichwohl kommt bei dem gerade beschriebenen Zugang zum Thema der ungleichen Lebensbedingungen von Gefangenen in den Vollstreckungsstaaten eine entscheidende Dimension des Problems zu kurz: der Nord-Süd-Konflikt. 39 Rochner (Fn. 13), S. 323. 40 S. Artikel in The Scottish Sun vom 18. 12. 2018, »Warlords in Scots Nick« (abrufbar unter: https://www.thescottishsun.co.uk/news/scottish-news/3629722/ahmad-al-faqi-al-mahdiwar-crimes-scotland-lanarkshire/). 41 S. dazu Abels (Fn. 29), S. 479ff. 42 Rochner (Fn. 13), S. 323f. 43 Ebd., S. 323. 44 Ebd., S. 324. 45 Ebd.

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Das Narrativ des Luxus-Gefängnisses in dem Drittstaat, der in der Regel westlich-nördlich ist, setzt als Kontrasterzählung das Bild des Horrors-Gefängnisses im globalen Süden voraus. Dieses Narrativ ist auch bei der Bestimmung des Vollstreckungsstaates anhand des Art. 103 IStGH-Statut präsent. Die Auswahl des Vollstreckungstaates muss im Einklang mit der Anwendung von menschenrechtlichen Standards für die Gefangenen erfolgen. Zwar ist die Richtigkeit dieser Bestimmung keineswegs zu bestreiten, es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass die Auswahl mit konfliktbeladenen Wertentscheidungen einhergeht, die den Vorwurf des kolonialen Blicks nach sich ziehen können. Solche im Einzelfall polarisierenden Auswahlentscheidungen können als Nährboden für das in den letzten Jahren geäußerte Misstrauen gegenüber dem Gerichtshof als einer neokolonialen westlichen Institution fungieren.46 Würde der Gerichtshof aber selber die Strafen in einer eigenen Vollzugsanstalt vollstrecken, könnten einige Reibungen und latente Spannungen vermieden werden.

2.

Bessere Resozialisierung

Die Errichtung einer eigenen Vollzugsanstalt ist auch vor dem Hintergrund, dass der Internationale Strafgerichtshof bereits sein eigenes Detention-Center hat, in dem Beschuldigte bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Gerichtshof untergebracht werden, keine undurchführbare Unternehmung. Die Erfahrungen aus der Praxis der zwei UN-Ad-hoc-Gerichtshöfe, denen diese Einrichtung zunächst zugeordnet war, zeigt außerdem, dass die Verfahren vor den Internationalen Gerichtshöfen so zeitaufwendig ist, dass die Untersuchungshaft ohnehin sehr lange dauert.47 Da diese auf die Gesamtstrafe angerechnet wird, ist es dann sinnvoll, für die Gewährleistung eines stabilen Behandlungsniveaus, den Rest der Freiheitsstrafe weiter im Detention-Center verbüßen zu lassen.48 So hatte etwa Germain Katanga unter Anrechnung von sechs Jahren Untersuchungshaft, bis er der Demokratischen Republik Kongo überstellt wurde, faktisch mehr als die Hälfte seiner Strafe bereits in ICC-Detention-Center verbüßt.49 Nach fast sieben Jahren Inhaftierung in Den Haag musste seine Behandlung neuen Rah46 Zur Vertrauenskrise des Internationalen Strafgerichtshofs wegen postkolonialer Skepsis, Stefanopoulou, ZIS 2018, 103ff.; Monageng, in: Werle/Fernandez/Vormbaum (Hrsg.), Africa and the International Criminal Court, Bd. 1, 2014, S. 13 (17f.); Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 76, 114. 47 Zum Problem Hoffmann, ZIS 2011, 838 (842). 48 Vgl. ebd. 49 Katanga wurde zu einer Gesamtstrafe von 12 Jahren verurteilt. Laut der Berichterstattung des Gerichtshofs verbrachte er im ICC-Detention-Center den Zeitraum vom 18. September 2007 bis 23. Mai 2014 (abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/drc/katanga).

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menbedingungen angepasst werden. Das Problem kann sich in der Zukunft im Falle der Verhängung von kürzeren Strafen verschärfen.50 Gewiss werden solche »Umsiedlungen« der Inhaftierten erst als Problem richtig wahrgenommen, wenn im Resozialisierungsgedanken die zentrale Gestaltungsmaxime des Vollzugs völkerstrafrechtlicher Freiheitsstrafen gesehen wird.51 Erfasst man den Vollzug der Freiheitsstrafe als bloße Verwahrung des verurteilten und, wie teilweise behauptet wird, resozialisierungsunbedürftigen, weil an die jeweilige Rechtsordnung angepassten oder resozialisierungsunfähigen Völkerstraftäters,52 sind wohl dann weder der Anstaltswechsel nach langjähriger Inhaftierung noch generell der Mangel an einheitlicher Vollzugsgestaltung von besonderer Bedeutung. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass praktische und tatsächliche Änderungen wie die Errichtung einer eigenen Vollzugsanstalt oder die Strafrestverbüßung weiter in Den Haag eine Neubesinnung über die Rolle der positiven Spezialprävention im Völkerstrafrecht voraussetzen. Diese wird von Teilen der Literatur richtigerweise als fester Bestandteil der völkerstrafrechtlichen Strafzwecklehre angesehen.53 Legalbewährung, wird zu Recht angemerkt, bestehe darin, dass »hinreichende kognitive Sicherheit« gewährleistet wird, »dass der Täter die durch die Tatbestände des Völkerstrafrechts geschützten Grundwerte des Völkerrechts respektieren wird, und zwar auch dann, wenn die Rechtsgemeinschaft, der er unmittelbar angehört, Völkerrechtsverbrechen toleriert oder sogar gebietet«.54 Biographien von prominenten Völkerrechtsverbrechern wie Klaus Barbie, Alois Brunner und Maurice Papon, die nach dem Untergang des NS-Unrechtsregimes im Dienst anderer verbrecherischer Kontexte gearbeitet haben,55 zeigen, dass es bei der Legalbewährung nicht auf die Konformität mit einzelnen Rechtsordnungen ankommt, sondern darauf, ob es durch Einwirkung auf die Täter gelingt, die Kontinuität von persönlichen Verhaltensmustern zu brechen.56 50 Vgl. Hoffmann, ZIS 2011, 838 (842). 51 Zur Resozialisierung als Gestaltungsmaxime des Strafvollzugs generell Laubenthal, Strafvollzug, 8. Aufl. 2019, Rn. 137. 52 Der Völkerstraftäter verhalte sich nach dem Zusammenbruch des Unrechtssystems normkonform, deshalb gebe es keinen Bedarf an Resozialisierung, besagt eine verbreitete Ansicht. Zum Teil wird auch argumentiert, der Völkerstraftäter breche die Normen, obwohl ihm ihre Geltung bewusst ist, um eigene Ziele zu erreichen, deshalb soll er nicht resozialisierungsfähig sein. Ausführlich zu diesen Ansichten Epik (Fn. 10), S. 123f. m. w. N.; dazu auch Werle/ Jeßberger (Fn. 1), Rn. 132. 53 Burghardt/Epik, ZIS 2019, 286 (297). 54 Ebd. 55 Zu diesen Biographien als Beispiel verbrecherischer Kontinuität ausführlich Burghard/Epik, ZIS 2019, 286ff.; zum Phänomen der erneuten Integration in kriminogene Kontexte und zur Wiederholungsgefahr auch Werkmeister, Straftheorien im Völkerstrafrecht, 2015, S. 156ff. 56 Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 132; Burghardt/Epik, ZIS 2019, 286ff.

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Wird die Bedeutung der positiven Spezialprävention in Bezug auf Statusentscheidungen anerkannt, d. h. bei Fragen, die den Status des Straffälligen als eines Gefangenen begründen oder aufheben (Bemessung der Strafe, Aussetzung des Strafrests zur Bewährung), öffnet sich der Weg für die Anwendung des Resozialisierungsgedankens bei den Gestaltungsfragen des Vollzugs.57 Dieser beansprucht als Ausdruck des Gebots zur Achtung der Menschenwürde sogar, das alleinige Vollzugsziel zu sein.58 Das Recht auf Achtung der Menschenwürde verpflichtet die internationale Gemeinschaft zu Resozialisierungsbemühungen. Auf dieser Basis kann ein echtes völkerstrafrechtliches Strafvollzugsrecht entwickelt werden, das Fragen der Gefangenenstellung, der Mitwirkung an der Behandlung, der Vollzugsplanung und des gerichtlichen Rechtschutzes einheitlich und umfassend regelt. Auch besondere Bedürfnisse von »Gefangenen der Völkerrechtsgemeinschaft«59 können auf der Grundlage eines Vollzugsrechts, das sich an Legalbewährung und sozialer Integration orientiert, besser berücksichtigt werden. Diese bestehen vor allem wegen der kultur- und heimatfernen Vollstreckung in den Kommunikationsbarrieren sowie in der Distanz von Familien und nahstehenden Personen.60

3.

Praktische Schwierigkeiten

Zwar setzt die einheitliche Regelung des völkerstrafrechtlichen Strafvollzugs nicht zwingend die Einrichtung einer dem Internationalen Strafgerichtshof direkt unterstellten Vollzugsanstalt und damit die Abkehr von dem Grundsatz der Vollstreckung durch Vertragsstaaten voraus. Die Einrichtung einer Strafvollstreckungskammer beim IStGH und die Entwicklung konkreter Vorgaben zum Vollzugsablauf in den Vollstreckungsstaaten wären bereits entscheidende Vereinheitlichungsschritte.61 Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Schaffung einer eigenen Vollzugsanstalt, in der der Gerichtshof selbst die Strafen vollstreckt, die einheitliche Gestaltung des Strafvollzugs am sichersten gewährleisten kann. Einwände gegen die Vollstreckung in einer eigenen Anstalt betreffen hauptsächlich Schwierigkeiten praktischer Natur, wie die Hinterfragung der aktuellen Raumkapazitäten der Untersuchungshaftanstalten oder die finanzielle Überbelastung der Niederlande, falls es zum Ausbau des Detention-Centers zur Straf-

57 Zur Unterscheidung von Status- und Gestaltungsentscheidungen bei der Sanktionsverwirklichung s. Laubenthal (Fn. 51), Rn. 176ff. 58 Dazu ebd., Rn. 147. 59 Bezeichnung nach Abels’ »Prisoners of the International Community« (Fn. 29). 60 Ebd., S. 431. 61 So auch Rochner (Fn. 13), S. 330, 331f.

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vollzugsanstalt kommt.62 Diese Schwierigkeiten, die sowieso nicht allein den Vollzug völkerrechtlicher Strafen betreffen, sind allerdings mit der entsprechenden Logistik, Kostenplanung und -verteilung unter den Vertragsstaaten überwindbar. Die aktuell geltende Lösung der Kostentragung allein durch den jeweiligen Vollstreckungsstaat ist ohnehin unter dem Gesichtspunkt der gerechten Kostenverteilung kritisch zu betrachten.63 Was vorgebrachte Sicherheitsbedenken betrifft, wonach eine Anstalt, in der sich mehrere Verurteilte des Gerichtshofs befinden, ein einfaches Ziel für Angriffe ehemaliger Kriegsparteien ist,64 sind sie insoweit ernst zu nehmen, als sie auf den Bedarf hochgradiger Sicherheitsmaßnahmen hinweisen. Es handelt sich aber wieder um praktische Probleme, die auch in anderen, vor allem politischen Kontexten vorkommen.

V.

Zusammenfassung und abschließende Bemerkungen

Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte festhalten: Auch wenn die internationale Strafgerichtsbarkeit immer noch im Schatten einer auf staatliche Souveränität gegründeten internationalen Machtpolitik steht, ist der Gedanke, dass es Verbrechen von derartiger Schwere gibt, dass ihre Ahndung eine Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist, mittlerweile tief eingewurzelt. Dieser Gedanke hat bis heute mehrere Verrechtlichungsphasen durchlaufen.65 Mit den bisherigen Kodifizierungen ist diese Entwicklung aber längst noch nicht abgeschlossen. Notwendig ist vor allem die Stärkung der direkten Durchsetzungskraft des Völkerstrafrechts durch den Internationalen Strafgerichtshof. »Gerichtsherr sollte in solchen Fällen weder der Sieger noch der Besiegte [d. h. die unmittelbar betroffenen Staaten; G.S.], sondern die internationale Gemeinschaft sein« betonte Christian Tomuschat im Hinblick auf Aggressionsverbrechen und weitere völkerrechtliche Verbrechen im Rahmen des 60. Deutschen Juristentags in Münster 1994.66 Die Ahndung solcher Verbrechen übersteige die Rechtsdurchsetzungskraft eines Staates.67 Zwar haben sich die Vertragsstaaten des IStGH-Statuts 1998 in der Konferenz von Rom für eine zurückhaltendere Regelung der Jurisdiktionsverhältnisse zwischen tatnäheren Staaten und dem Internationalem Strafgerichtshof auf der Basis der Komplementarität entschieden, doch trifft die Aussage Tomuschats in 62 63 64 65 66

Ebd., S. 320. Vgl. ebd., S. 331. Ebd., S. 321. Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 2, 498ff. Tomuschat, in: Rechtliche Aspekte internationaler Friedenssicherung, Sitzungsbericht Q zum 60. Deutschen Juristentag, Münster 1994, Q 53 (57). 67 Ebd.

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praktischer Hinsicht zu. Tatnähere Staaten werden oft nicht willens oder nicht in der Lage sein, die Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen ernsthaft durchzuführen. Dann kommt es auf die direkte Durchsetzung des Völkerstrafrechts an. Strafrechtliche Strafverfolgungsmaßnahmen durch Drittstaaten sind der ständigen Institution in Den Haag gegenüber nachrangig.68 Die Strafbefugnis auf der Grundlage des Weltrechtsgrundsatzes lässt sich von der Strafgewalt der internationalen Gemeinschaft ableiten und ist somit im Verhältnis zu ihr subsidiär.69 Eine verstetigte unabhängige Institution zur direkten Ahndung von Menschenrechtsverletzungen hat außerdem eine größere Ausstrahlung und stärkere Symbolwirkung als vereinzelte Strafverfolgungsmaßnahmen in Drittstaaten. Zu einer starken, von staatlicher Mitwirkung einigermaßen unabhängigen direkten Völkerstrafrechtsdurchsetzung gehört neben der Regelung von Jurisdiktionsfragen, der Entwicklung von allgemeinen Zurechnungsnormen und der Kodifizierung von Tatbeständen auch die Konzipierung eines einheitlichen Sanktionsverwirklichungssystems. Die Übertragung der Vollstreckung von Freiheitssanktionen, auch wenn der Internationale Strafgerichtshof die Prärogative diesbezüglich innehat, ohne verbindliche Maßgaben für die Vollzugsgestaltung im Vollstreckungsstaat zu entwickeln, führt zu einer faktischen Abhängigkeit der direkten Durchsetzung von der indirekten. Mag zwar dasselbe Problem auch in Bezug auf die Vollstreckung von durch den Internationalen Strafgerichtshof erlassenen Haftbefehlen bestehen – das Stichwort »Kopf ohne Hände« wird in diesem Zusammenhang häufig benutzt70 – ist dieses gleichwohl bei der Sanktionsverwirklichung einfacher als dort zu bewerkstelligen. Bei der Vollstreckung und beim Vollzug von Strafen ist der Internationale Strafgerichtshof nicht zwingend auf die unmittelbare Mitwirkung der Staaten angewiesen. Sieht man von gewissen überwindbaren praktischen Schwierigkeiten ab, die sich hauptsächlich im Zusammenhang mit Kostenfragen ergeben, ist die Vollstreckung der Sanktionen durch den Internationalen Strafgerichtshof in einer eigenen Vollzugsanstalt eine durchführbare Lösung. Dies würde zugleich zur einer dem Menschenrechtsschutz zugutekommenden Vereinheitlichung des Vollzugsablaufs führen. Dafür wäre es auch nötig, dass ein um Resozialisierung bemühtes Strafvollzugsrecht statuiert wird, das den Gefangenen Rechtswege direkt beim Gerichtshof eröffnet. Der oben genannte Vorteil hinsichtlich der Vermeidung von Auswahlentscheidungen, die die Beziehungen des Gerichtshofs zu Ländern des globalen Südens weiter verschlechtern, käme bei einer solchen vereinheitlichenden Praxis hinzu. Alles in allem: 68 Werle/Jeßberger (Fn. 1), Rn. 268. 69 So ebd. 70 Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, § 8, Rn. 64.

Strafvollstreckung und Strafvollzug jenseits des Staates

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Man sollte überlegen, ob es nicht Zeit ist, dass das Völkerstrafrecht in seine nächste Entwicklungsstufe eintritt. Ein Strafvollzug jenseits des Staates wäre sowohl für die Symbolwirkung der direkten Durchsetzung des Völkerstrafrechts als auch für die Wiedereingliederung der Gefangenen von Gewinn.

Klaus Vieweg

Zusammenwirken von staatlichem Recht und privater Regelung im Sport*

I.

Einleitung

Die Bezeichnung des Sports als »schönste Nebensache der Welt« verkennt wesentliche Entwicklungen. Kommerzialisierung, Professionalisierung und Medienpräsenz haben den Sport – zumindest in Teilen – zu einem relevanten Wirtschaftsfaktor von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung gemacht. Gesetzgeber und Rechtsprechung sind dadurch auf den Plan gerufen worden: Wurde der Sport zunächst weitgehend autonom von privatrechtlichen Organisationen geregelt, ist er im Laufe der Zeit zunehmend auch zum Gegenstand staatlichen und europäischen Rechts und dessen Anwendung durch Gerichte geworden. Damit haben wir heute ein – keineswegs immer konfliktfreies – Zusammenwirken von staatlichem Recht und privater Regelung im Sport. Die aktuelle Einführung des Fachanwalts für Sportrecht1 wirft ein Schlaglicht auf die praktische Bedeutung und die Entwicklung zu einem eigenständigen Rechtsgebiet. Im Folgenden möchte ich diese »Zweispurigkeit von staatlichem Recht und privater Normsetzung«2 näher beleuchten (dazu II.). Danach gehe ich exemplarisch auf drei Beispiele für das Zusammenwirken von Staat und organisiertem Sport ein (dazu III.): das Haftungsproblem (dazu III.1.), Doping (dazu III.2.) und den Immissionsschutz (dazu III.3.). Auf weitere interessante Aspekte wie das Waffenrecht3 und die Technische Normung4 kann ich aus Zeitgründen nur hinweisen. * Die Vortragsfassung vom 22. November 2018 wurde bis auf einige Ergänzungen und Aktualisierungen beibehalten. 1 Beschluss der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) vom 23. 11. 2018. 2 Vieweg, Faszination Sportrecht, S. 22 (abrufbar unter: http://www.irut.de/Forschung/Veroef fentlichungen/OnlineVersionFaszinationSportrecht/FaszinationSportrecht.pdf). 3 Ders., Vormitgliedschaftliche Rechtsverhältnisse eingetragener Vereine, in: Martinek/Rawert/ Weitemeyer (Hrsg.), Festschrift für Dieter Reuter zum 70. Geburtstag am 16. Oktober 2010, 2010, S. 395 mit Verweis auf AG Nürnberg. 4 Instruktiv Tschauner, Die rechtliche Bedeutung technischer Normen für Sportgeräte und -ausrüstung, in: Vieweg (Hrsg.), Perspektiven des Sportrechts, 2005, S. 189ff.

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II.

Klaus Vieweg

Zweispurigkeit von privatautonomen Verbandsregelungen und staatlichem Recht

Die Zweispurigkeit von Regelungen privatrechtlicher Sportverbände einerseits und staatlichem Recht andererseits ist – im Kontext mit dem System der Selbstregulierung – ein zentrales Kennzeichen des Sportrechts.5 Die internationalen und nationalen Sportverbände nehmen für sich in Anspruch, »ihren« Sport zu regeln, diese Regelungen anzuwenden und ggf. durchzusetzen. Mit einer für Außenstehende erstaunlichen Regelungsdichte umfassen die Regelwerke zum Teil mehrere hundert Seiten. Die einheitliche Anwendung und ggf. Durchsetzung wird durch eine fachlich-geografische Monopolstruktur – das sog. Ein-PlatzPrinzip6 – ermöglicht und durch die Organisation von Sportgerichten mit dem Anspruch auf endgültige Entscheidung abgesichert. Rechtliche Grundlage dieser Selbstregulierung ist die Verbandsautonomie, die verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 1 GG und europarechtlich durch Art. 12 Abs. 1 EU Grundrechtecharta garantiert ist. Entstehen verbandsinterne Konflikte, weil die Selbstregulierungsmechanismen der Sportorganisationen versagen oder fehlgeleitet werden, stellt sich die Frage, ob die Lösungsansätze und Maßstäbe des allgemeinen Rechts – sozusagen die zweite Spur – korrigierend oder ergänzend herangezogen werden müssen und ob staatliche bzw. europäische Gerichte zur Korrektur von Verbandsentscheidungen berufen sind. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die Regelwerke der Sportverbände stets in eine nationale Rechtsordnung eingebettet sind und zu ihrer Wirksamkeit der staatlichen Anerkennung bedürfen.7 Die Lösung sportspezifischer Konflikte und Rechtsfragen hängt häufig von der Auslotung des Verhältnisses dieser beiden Normenkomplexe ab. Zusammenspiel und Widerstreit von Verbandsregelungen und allgemeinem Recht prägen das Sportrecht. Einerseits entlasten die Sportverbände mit ihren Regelwerken und ihren Streitentscheidungsorganen – den Sportgerichten – den Staat und dessen Gerichte. Rein zahlenmäßig entsprechen z. B. die Entscheidungen der Sportgerichtsbarkeit des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) denen der gesamten deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit.8 Andererseits ist der Staat aufgrund der verfassungsrechtlichen Justizgewährungspflicht aus Art. 20 Abs. 3 GG bzw. dem korrespondierenden Justizgewährungsanspruch gehalten, dafür zu sorgen, dass die Maßstäbe des allgemeinen Rechts beachtet werden. Insbesondere dürfen 5 In meinem Beitrag »Faszination Sportrecht« (Fn. 2), S. 6ff. nenne ich als weitere Kennzeichen Querschnittsmaterie, Internationalität und Mehrfachwirkung. 6 Grundlage ist eine pyramidenförmige Verbandsstruktur. Dazu Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, 1990, S. 61ff. 7 Vieweg, Normsetzung (Fn. 6), S. 150ff. 8 Hilpert, BayVBl. 1988, 161.

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grundrechtlich geschützte Positionen nicht ausgeblendet werden. Kollidieren – wie häufig – Grundrechte, so sind sie nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz, letztlich nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gegeneinander abzuwägen.9 Der Umfang der Überprüfbarkeit von Verbandsentscheidungen durch staatliche und europäische Gerichte kristallisiert sich als Kernfrage heraus, die zugleich damit die Grenze der Verbandsautonomie betrifft. Dabei sind drei Kontrollformen zu unterscheiden: die Inhaltskontrolle der Verbandsregelungen, die Tatsachenkontrolle und die Kontrolle der zur Verbandsentscheidung führenden Subsumtion.10 Bei Vereinen und Verba¨ nden ohne soziale und wirtschaftliche Machtposition beschra¨nkt sich die Rechtsprechung hinsichtlich der Verbandsstrafen auf die Pru¨ fung, ob der Strafbeschluss in der Satzung eine Stu¨ tze findet, das vorgeschriebene Verfahren beachtet, die Satzungsvorschrift nicht gesetz- oder sittenwidrig ist und die Sachverhaltsfeststellung fehlerfrei erfolgt. Die Subsumtion unter die Vereinsnorm und die Bemessung der Bestrafung wird hingegen allein auf Willku¨ r und offenbare Unbilligkeit gepru¨ ft.11 Diese Maßsta¨be wenden die staatlichen Gerichte mittlerweile auch bei der Kontrolle anderer Verbandsentscheidungen an.12 Bei Vereinen mit einer sozioo¨ konomischen Machtstellung – wie es die Sportverba¨nde wegen des Ein-Platz-Prinzips sind – stieß die beschra¨nkte Kontrolle der Verbandsstrafen durch die Rechtsprechung seit Ende der 1960er-Jahre zunehmend auf Kritik des Schrifttums, das sich vor allem mit dem Problem der Verbandsmacht auseinandersetzte. Die Problematik trat Anfang der 1970er-Jahre im sog. Bundesligaskandal13 mit besonderer Scha¨ rfe zutage, wurde hier doch deutlich, dass Entscheidungen u¨ ber Berufsausu¨ bung und -chancen durch Verbandsinstanzen – die Sportgerichtsbarkeit des DFB – unter weitgehender Ausblendung allgemein-gesetzlicher Wertungen getroffen wurden.14 Das gemeinsam verfolgte Ziel der Literatur, Verbandsmacht und schutzwu¨ rdige Individualinteressen einander na¨her zu bringen, wurde von der Rechtsprechung, wie sogleich ausgeführt wird, aufgegriffen. Bei Vereinen mit einer 9 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1988, Rdnr. 72. 10 Die folgenden, gegenüber dem Vortrag detaillierteren Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf meinem Beitrag »Faszination Sportrecht« (Fn. 2), S. 23ff. 11 BGHZ 21, 370 (373); 47, 381 (384f.); 87, 337 (343); 102, 265 (276). 12 So schon OLG Frankfurt NJW 1992, 2576, LG Berlin causa Sport (CaS) 2006, 73ff.; zudem LG Mu¨ nchen I SpuRt 2007, 124ff. im Zusammenhang mit der Nichtnominierung eines Trainers fu¨ r internationale Wettka¨mpfe durch das Nationale Olympische Komitee. 13 Vgl. hierzu die informative Dokumentation von Rauball, Bundesliga-Skandal, 1972, und die juristische Bewertung durch Westermann, Verbandsstrafgewalt und das allgemeine Recht, 1972. ¨ berblick u¨ ber die seinerzeitigen Versuche des Schrifttums, eine gerichtliche Kontrolle 14 Ein U der Verbandsstrafen dogmatisch zu begru¨ nden, findet sich bei Vieweg, JuS 1983, 825 (827f.).

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sozialen und/oder wirtschaftlichen Monopolstellung erweiterte die Rechtsprechung den Pru¨ fungsumfang. Ha¨ lt man sowohl die Verbandsstrafen als auch andere Verbandsentscheidungen mit individuell belastender Wirkung nicht nur aus Zweckma¨ ßigkeitsgru¨ nden, sondern auch als notwendigen Aspekt der verfassungsrechtlich garantierten Befugnis zur eigenen Normsetzung der Verba¨nde fu¨ r prinzipiell zula¨ssig, so muss dem mit der Verbandsmacht verbundenen Rechtsschutzrisiko begegnet werden. Hierzu bedarf es erstens einer weitgehenden Inhaltskontrolle15 der verbandsrechtlichen Normen, die Grundlage fu¨ r Sportstrafen und sonstige individuell belastende Entscheidungen sind. Der vom BGH in seiner RKB Solidarita¨ ts-Entscheidung16 gewa¨ hlte Ansatz einer Inhaltskontrolle im Wege einer umfassenden Interessenabwa¨gung la¨ sst sich im Erst-Recht-Schluss auf die interne Beziehung von Verband und Mitglied übertragen. Die Gesichtspunkte des Monopolverbandes einerseits und des Angewiesenseins auf seine Leistungen andererseits haben hier ihren Platz. Mittlerweile unterzieht der BGH sportliche Regelwerke einer Inhaltskontrolle unmittelbar am Maßstab des § 242 BGB.17 Verbandsrechtliche Generalklauseln, die – wie z. B. »unsportliches Verhalten« – als Grundlage fu¨ r Sportstrafen nur schwer zu entbehren sind, wa¨ ren in Streitfällen als »unbestimmte Verbandsrechtsbegriffe« von der Rechtsprechung daraufhin zu u¨ berpru¨ fen, ob sie mit dem allgemeinen Recht in Einklang zu bringen sind und ob sie zula¨ ssigerweise einen Beurteilungsspielraum enthalten oder nicht.18 Zweitens bedarf es einer gerichtlichen Tatsachenkontrolle.19 So kann verhindert werden, dass durch eine unzutreffende Tatsachenfeststellung der betroffene Sportler – trotz Inhaltskontrolle des Verbandsrechts – rechtlos gestellt wird. Zu beru¨ cksichtigen ist dabei, dass im Interesse des Spielflusses bestimmte sog. Tatsachenentscheidungen wie die Bejahung eines Foulspiels beim Fußball ad hoc getroffen werden mu¨ ssen und wegen der Einmaligkeit des Spielablaufs auch nicht im Nachhinein – auch beim Nachweis durch technische Hilfsmittel, z. B. einen Videobeweis – gea¨ ndert werden sollen.20 Fraglich ist hingegen, ob die u¨ ber den sportlichen Wettkampf hinausgehende Wirkung einer Tatsachenentschei15 BGH NJW 1995, 583 (587); NJW 2004, 2226 (2227). 16 BGHZ 63, 282ff. = NJW 1975, 771ff. 17 BGHZ 128, 93 (101ff.) = NJW 1995, 583 (585) = SpuRt 1995, 43 (46f.); dazu Vieweg, SpuRt 1995, 97ff. Generell zur Inhaltskontrolle von Verbandsnormen Vieweg, Normsetzung (Fn. 6), S. 159 ff; ders., Zur Inhaltskontrolle von Verbandsnormen, in: Leßmann/Großfeld/Vollmer (Hrsg.), Festschrift fu¨ r Rudolf Lukes, 1989, S. 809ff. 18 So bereits Westermann (Fn. 13), S. 104ff. m. w. N. 19 BGH JZ 1984, 180 (187); dazu Vieweg, JZ 1984, 167 (170f.). 20 Vgl. hierzu Vieweg, Tatsachenentscheidungen im Sport – Konzeption und Korrektur, in: Kra¨he/Vieweg (Hrsg.), Schiedsrichter und Wettkampfrichter im Sport, 2008, S. 53ff.; ders., Fairness und Sportregeln – Zur Problematik sog. Tatsachenentscheidungen im Sport, in: Crezelius/Hirte/Vieweg (Hrsg.), Festschrift fu¨ r Volker Ro¨ hricht, 2005, S. 1255ff.

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dung, z. B. eine la¨ ngerfristige Sperre, gerichtlich u¨ berpru¨ ft werden kann.21 Drittens bedarf es schließlich, nicht zuletzt wegen des Umgehungsaspekts, der Subsumtionskontrolle.22 Hierbei spielt es insbesondere eine Rolle, ob den Verba¨nden hinsichtlich der unbestimmten Verbandsrechtsbegriffe ein Beurteilungsspielraum zuerkannt werden kann. Der skizzierte Lo¨ sungsansatz tra¨ gt dem Umstand Rechnung, dass die Interessen von Sportverband und Mitglied – hiermit sind auch die Mitglieder verbandsangeho¨ riger Vereine gemeint23 – nicht nur gegeneinander gerichtet sind, sondern auch eine gemeinsame Basis haben. Die Chance zur sachnahen und fairen Selbstregulierung der Konflikte durch Verbandsregelungen und verbandsrechtliche Entscheidungsmechanismen, beispielsweise Verfahren vor den Sportgerichten, bleibt gewahrt. Die staatlichen Gerichte haben durch Anerkennung von Beurteilungs- bzw. Ermessensspielra¨ umen die Mo¨ glichkeit, Zurückhaltung zu u¨ ben, wenn es darum geht, eigene Entscheidungen an die Stelle der Entscheidungen fachkundiger Verbandsorgane zu setzen. Die dennoch drohende »Konkurrenz« staatlicher und europa¨ischer Gerichte du¨ rfte bereits im verbandsinternen Vorfeld zu Regelungen und Entscheidungen fu¨ hren, die auch von den betroffenen Sportlern und Vereinen als sachgerecht akzeptiert werden ko¨ nnen. Ein kurzer Seitenblick auf die europäische Rechtslage, die mit dem BosmanUrteil des EuGH24 der breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, zeigt Folgendes: Der EuGH hat verschiedentlich bei Sportverbänden mit wirtschaftlich-sozialer Machtposition eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten auf deren Verbandsregelungen und -anwendung bejaht. Das Verhältnis der als Gemeinschaftsgrundrecht anerkannten Verbandsautonomie zu den drittwirkenden Grundrechten ist komplex. Als Ergebnis einer früheren Untersuchung25 lässt sich festhalten, dass die Gemeinschaftsgrundrechte als immanente Schranken drittwirkender Grundfreiheiten wirken. Mit anderen Worten: Die Reichweite der Grundfreiheiten wird von vornherein auf die Achtung der Verbandsautonomie beschränkt. Dabei kommt, wie im deutschen Recht, auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip als Abwägungsmaßstab Bedeutung zu. Aus Zeitgründen muss ich das angesichts der Kommerzialisierung vieler Bereiche des Sports zunehmend relevante Spannungsverhältnis zwischen den au-

21 So schon Westermann (Fn. 13), S. 107f. 22 BGHZ 102, 265 (276). 23 Eine Bestrafung von Nichtmitgliedern ist allerdings unzula¨ ssig. So zutreffend BGHZ 28, 131 (133); 29, 352 (359). 24 EuGH, Rs. C-415/93 Slg. 1995 I – 4921ff. = NJW 1996, 505ff.; dazu Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), 6ff. 25 Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), 6ff.

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Klaus Vieweg

tonomen Verbandsregelungen und dem Kartellrecht ausblenden26 und mich auf den Hinweis auf die zentralen EuGH-Urteile Meca-Medina und Majcen27 sowie MOTOE28 beschränken.

III.

Beispiele

1.

Haftung und Strafbarkeit

Haftungsfragen sind vor gut 80 Jahren der Startpunkt dessen gewesen, was wir heute Sportrecht nennen. Sportliche Betätigung – damals war die Bezeichnung Leibesübung oder Körperkultur gebräuchlich – kann zu Verletzungen führen und damit die Frage der zivilrechtlichen Haftung und der strafrechtlichen Verantwortung aufwerfen. Zu den haftungsrechtlichen Besonderheiten gehören die Sportregeln der internationalen und nationalen Sportverbände, die definieren, welches Verhalten erlaubt und welches verboten ist. Im Boxen sind z. B. Schläge unter der Gürtellinie verboten. Im Fußball werden grobe Fouls oder Tätlichkeiten mit einer roten Karte und dem Feldverweis geahndet.29 Sportregeln legen auch die technischen Bestimmungen fest für die Sportgeräte (z. B. Gewicht und Schwerpunkt von Wettkampfspeeren, um riskante Weiten zu vermeiden), für die persönliche Schutzausrüstung (z. B. Kopfschutz beim Boxen, Maske beim Fechten) und für die Gestaltung der Sportstätte (z. B. Sicherheitskäfig beim Hammerwerfen, Plexiglaswände beim Eishockey). Haftungsrechtlich kommt es darauf an, ob die Sportler und Sportlerinnen bzw. die für eine Sportstätte Verantwortlichen an diese Regeln gebunden sind. Soweit es sich um aktive Mitglieder innerhalb der Verbandspyramide handelt, gibt es zwei Ansätze für eine Bindungswirkung. Zum einen kann die Bindung dadurch erfolgen, dass die internationalen Sportverbände in ihren Satzungen ihre Mitglieder – die nationalen Sportverbände – verpflichten, diese Regeln anzuerkennen und sie weiterhin zu verpflichten, ihrerseits in ihren Satzungen ihre Untergliederungen entsprechend zu binden. Durch eine lückenlose Kette solcher Überleitungsbestimmungen werden auf der letzten Stufe die einzelnen Mitglieder den Regeln unterworfen. Zum andern – und in der Praxis von zunehmender

26 Grundlegend Hannamann, Verhaltenskoordinationen im Sport, 2001, passim; Überblick bei Heermann, causa Sport, 2006, 345ff.; Vieweg, Festschrift O. Werner, S. 275 (284ff.); Stopper, SpuRt 2018, 190ff. 27 EuGH, Rs. C-519/04, Slg. 2006, I-6991ff. 28 EuGH, Rs. C-49/07, SpuRt 2008, 193ff. 29 Regel 12 Fußball-Regeln.

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Bedeutung – kann eine Bindung durch Vertragskonstruktionen (z. B. Lizenzen, Teilnahmeverträge) erzielt werden. Im Skisport hat der Internationale Skiverband (Federation Internationale de Ski) mit den FIS-Regeln30 schon vor Jahren Diskussionen hervorgerufen, ob und für wen diese verbindlich sind. Zum Teil wird vertreten, dass es sich bei ihnen inzwischen um Gewohnheitsrecht handelt. Andere bejahen eine Bindung über den Erwerb des Skipasses oder sehen sie als Konkretisierung des zu erwartenden Verhaltens an. Für die Haftung der Sportler31 untereinander wird unterschieden, ob es sich um Sport miteinander (z. B. Doppelpartner im Tennis), nebeneinander (z. B. Ski und Snowboard) oder gegeneinander (Kampfsportarten) handelt. In jedem Fall ist Vorsatz oder Fahrlässigkeit Haftungsvoraussetzung. Der allgemeine Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 1 Satz 1 BGB (Haftung für jede Form der Fahrlässigkeit) wird den spezifischen Eigenarten des Sports nicht immer gerecht. Eine kampfbetonte Sportausübung würde von vornherein durch das Haftungsrisiko verhindert werden. Jedenfalls bei Einhaltung der einschlägigen Wettkampfregeln erscheint es nicht sachgerecht, den Schadensverursacher für alle entstandenen Verletzungen einstehen zu lassen. Im Ergebnis besteht deshalb Einigkeit, dass die jeweiligen Sportregeln eine Modifikation des Sorgfaltsmaßstabs im Sport bewirken. So wird bei nur geringfügigen Regelverstößen in wettbewerbstypischen Risikolagen – etwa bei verständlichem übereifrigen Spieleinsatz, bei bloßer Unüberlegtheit oder bei wettkampfbedingter Übermüdung – eine eingeschränkte Haftung des Sportlers angenommen. Die dogmatische Begründung variiert. Der Bundesgerichtshof lehnt eine rechtfertigende Einwilligung als »künstliche Unterstellung« ab und favorisiert, gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben, den Ansatz, dass die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen treuwidrig wäre. Mit dem Eintritt von unvermeidbaren Verletzungen rechne jeder Spieler und er gehe davon aus, dass auch der andere diese Gefahr in Kauf nehme und daher etwaige Haftungsansprüche nicht erheben werde.32 Dabei bestimmten sich – so der BGH33 – die Sorgfaltsanforderungen an die Teilnehmer eines Wettkampfs nach den besonderen Gegebenheiten des Sports, bei dem sich der Unfall ereignet habe. Sie seien an der tatsächlichen Situation und den berechtigten Sicherheitserwartungen der Teilnehmer des Wettkampfs auszurichten

30 FIS-Regeln (abrufbar unter: http://www.fisski.com/mm/Document/documentlibrary/Admi nistrative/04/22/77/10fisrulesforconductsafetyandtheenvironment_newFISCI_Neutral.pdf). 31 Die folgenden, gegenüber dem Vortrag detaillierteren Ausführungen orientieren sich an meinem Beitrag »Haftungsrecht«, in: Nolte/Horst (Hrsg.), Handbuch Sportrecht, 2009, S. 121ff. 32 BGHZ 63, 140; BGH NJW 2003, 2018. 33 BGH NJW 2010, 537.

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Klaus Vieweg

und würden durch das beim jeweiligen Wettkampf geltende Regelwerk konkretisiert. Bei einem groben Regelverstoß wird allerdings eine Haftung des Mitsportlers bejaht. Wann ein solcher grober Regelverstoß anzunehmen ist, lässt sich dabei nicht generell bestimmen, sondern ist – abhängig von der jeweiligen Sportart – im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu ermitteln. Es liegt auf der Hand, dass im Boxsport andere Sorgfaltsanforderungen als etwa beim Tennis gegeben sind. Grobe Regelverstöße mit Verletzungsfolgen sind z. B. im Fußball an der Tagesordnung. Dennoch müssen nur selten staatliche Gerichte derartige Fälle entscheiden. Grund ist die bereits erwähnte Sportgerichtsbarkeit des DFB, die einen wesentlichen Beitrag zur Staatsentlastung leistet. Neben diesen Fällen, in denen der Staat von der Selbstregulierung der Sportverbände profitiert, ist auch die umgekehrte Konstellation möglich, wie der Blick in die USA zeigt. Die Concussion-Problematik der National Football League, die zu einem gerichtlichen Vergleich in Höhe von 865 Mio. USD führte, und die Klagen gegen den nationalen Verband veranlassten diesen, in seinen Regeln ein Kopfballverbot für junge Spieler einzuführen.34 Auch bei der Haftung des Sportstätteneigentümers, des Veranstalters und des Ausrichters handelt es sich um »klassische« Haftungsfälle im Sport. Hier stellt sich insbesondere die Frage, welche Verkehrssicherungspflichten gegenüber den Sportlern, aber auch gegenüber den Zuschauern bestehen. Welche Maßnahmen im Einzelnen insbesondere vom Veranstalter zu treffen sind, um der Verkehrssicherungspflicht zu genügen, bestimmt sich nach der ständigen Rechtsprechung nach den jeweiligen Umständen der Veranstaltung. Maßgeblich sind vor allem die Intensität und Häufigkeit der sich für die Zuschauer ergebenden Gefährdung, wobei auch der finanziellen Belastbarkeit des Veranstalters (bzw. des Eigentümers der Sportanlage) bei Abwägung der Zumutbarkeit eine gewisse, wenn auch untergeordnete Bedeutung zukommt.35 Zwar muss nicht jeder nur denkbaren Gefahr durch vorbeugende Maßnahmen begegnet werden. Eine Gefahr begründet vielmehr erst dann eine Haftung, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Verletzung fremder Rechtsgüter ergibt. Beispielsweise geht beim Eishockeyspiel auch von einem Puck, der über die Längsseiten des Spielfeldes hinausgeschleudert wird, eine Gefahr für die Zuschauer aus, der vom Verkehrssicherungspflichtigen zu begegnen ist.36

34 Vieweg, Medizinische Probleme im Fußball – Pflichten und Maßnahmen der FIFA aus rechtlicher Sicht, in: Steiner/Walker (Hrsg.), Von »Sport und Recht« zu »Faszination Sportrecht« – Ausgewählte Schriften von Klaus Vieweg, 2016, S. 667 (667). 35 BGH NJW 1984, 801. 36 BGH a. a. O.

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Fraglich ist, welche rechtliche Bedeutung die Beschaffenheitsanforderungen von Verbandsregelungen sowie etwaige technische Standards in diesem Zusammenhang haben. Im Fall des abgeirrten Eishockey-Pucks war es so, dass sowohl die einschlägige DIN-Norm37 nur an den Stirnseiten und an den Längsseiten bis zur verlängerten Torlinie einen Schutz für Zuschauer vorsah. Ebenso stellte der Internationale Eishockey-Verband nur für Europa- und Weltmeisterschaften die Anforderung auf, dass die Zuschauer durch eine Plexiglaswand geschützt werden müssen. Der BGH38 stellt hingegen zu Recht in seiner Entscheidung klar, dass die Regeln der Technik zwar zur Konkretisierung der Verkehrssicherungspflichten herangezogen werden können und oft – da sie von Experten-Kommissionen erarbeitet sind – einen brauchbaren Maßstab für die zu fordernde Sorgfalt darstellen. Sie entließen den Richter aber nicht aus der Pflicht, das Integritätsinteresse des potenziellen Geschädigten selbst zu bewerten. Dies gelte insbesondere, wenn die Regeln – wie beim Eishockey – unterschiedliche Anforderungen für die Spiele auf nationaler und internationaler Ebene aufstellen. Der Sorgfaltsmaßstab richte sich nicht stets nach dem, was üblich sei. Maßgeblich seien vielmehr die Sicherheitserwartungen, die einer besonnenen und gewissenhaften Beurteilung entsprächen. Da die Zuschauer sich wegen der hohen Geschwindigkeit des kleinen Pucks nicht selbst gegen die Gefahr einer Verletzung durch einen abirrenden Puck schützen könnten, müsse der Verkehrssicherungspflichtige dieser Gefahr begegnen. Dieser Beispielsfall zeigt das Zusammenwirken von staatlichem Haftungsrecht und zwei privaten Regelungen – den Anforderungen des Deutschen Eishockey Bundes und des Deutschen Instituts für Normung (DIN) – mit der richterlichen Bewertung, dass diese die Verkehrssicherungspflichten nicht zutreffend konkretisieren.

2.

Doping

In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Dopingproblematik seit Mitte der 1980er-Jahre wohl das bekannteste Beispiel für die Frage des Zusammenwirkens von Sport und Staat. Zuvor war Doping mehr oder weniger toleriert. Beispielsweise bekannte sich Doppel-Olympiasieger Lasse Viren nach den Sommerspielen 1972 in München zur Eigenbluttransfusion, die – da dem Effekt eines Höhentrainings entsprechend – verbreitet nicht als Doping angesehen wurde. Dopingkontrollen wurden erst 1984 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles eingeführt. Größere Schlaglichter auf die Problematik werfen der Tod der Leichtathletin Birgit Dressel 1987, die Aberkennung des Olympiasiegs im 100 m37 DIN-Norm 18086 (»Hallen für Eissport« Teil 1, 8.1.4.3). 38 BGH, NJW 1984, 801.

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Lauf von Ben Johnson 1988 in Seoul und das nach der deutschen Vereinigung bekannt gewordene flächendeckende Staatsdoping in der DDR – ein besonders perfides Zusammenwirken von Staat und Sport. Der Bericht der vom Präsidenten des Bundessozialgerichts, Heinrich Reiter, geleiteten Kommission ist ein aufschlussreiches Zeitdokument. Auch im Deutschen Sportbund (DSB) wuchs die Sensibilität für die Dopingproblematik. Ende 1991 wurde eine Kommission eingesetzt, die die RahmenRichtlinien zur Bekämpfung des Dopings überarbeiten sollte. Auf meinen Vorschlag wurde mit dem im II. Zivilsenat des BGH intern für Vereinsrecht zuständigen Bundesrichter Volker Röhricht die Kommission ergänzt, um eine gewisse Gewähr zu haben, dass die überarbeiteten Rahmen-Richtlinien auch »gerichtsfest« sind. Wichtig war uns die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das dadurch bei den Sanktionen seinen Niederschlag fand, dass diese an den Grad des Verschuldens und die von Sportart zu Sportart unterschiedliche Zeitspanne möglicher Spitzenleistungen orientiert waren. Dieser vom deutschen Verfassungsrecht geforderte Ansatz wurde später im Rahmen der internationalen Harmonisierung durch den Grundsatz der »strict liability« aufgegeben. Die rechtlichen Auseinandersetzungen um die Dopingsperren der Doppelweltmeisterin im Sprint, Katrin Krabbe, begannen 1992 und zogen sich bis zu einem Vergleich der Athletin mit dem internationalen Leichtathletikverband IAAF im Jahre 2001 hin.39 Defizite in den Regelwerken und vor allem in der praktischen Handhabung wurden durch die staatliche Rechtsprechung im Rahmen der Überprüfung der Verbandsentscheidungen aufgedeckt. Dies führte seinerseits zur – nicht unberechtigten – Sorge mancher Sportverbände, bei fehlerhaften Sperren mit beträchtlichen Schadensersatzforderungen konfrontiert zu werden, zumal der britische Leichtathletikverband aus einem solchen Anlass insolvent geworden war. Mit zwei Bestrebungen sollte dieses Haftungsrisiko ausgeschlossen oder zumindest gemindert werden: zum einen mit der Verlagerung der Sanktionsentscheidungen auf ein Schiedsgericht außerhalb des Verbands und zum andern durch ein staatliches Anti-Doping-Gesetz. Die Errichtung des Deutschen Sportschiedsgerichts bei der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e.V. (DIS) wurde 2008 realisiert.40 Die DISSportschiedsgerichtsordnung enthält Sonderbestimmungen für Anti-DopingStreitigkeiten (§§ 50–64 DIS-SportSchO). Die Schiedsrichterliste für Anti-Do39 Vieweg, Doping and the Krabbe Cases – The Legal Review of »Sports Decisions« in Germany, in: The Human Rights Training Institute of the Paris Bar Association (ed.), Sports and Fundamental Guarantees. Assault – Doping, 2003, S. 571ff. 40 Die Vorüberlegungen einer Arbeitsgruppe beim DSB sind veröffentlicht in der Akademieschrift 54 der Führungsakademie des Deutschen Sportbundes, Schiedsgerichtsbarkeit bei Dopingstreitigkeiten, 2003.

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201

ping-Streitigkeiten ist für die Parteien bindend. Rechtsmittel besteht zum Court of Arbitration for Sport (CAS) in Lausanne. Nach langer, kontrovers geführter Diskussion über Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit eines Anti-Doping-Gesetzes wurde dieses am 10. 12. 2015 vom Bundestag beschlossen.41 Manche Verzahnungen mit den Regelungen der Sportverbände sind darin unverzichtbar. So werden Dopingmittel und -methoden durch Verweis auf Verbandsregelungen konkretisiert. Sie müssen in der Absicht verwendet werden, sich in einem Wettbewerb des organisierten Sports42 einen Vorteil zu verschaffen. Aus internationaler Perspektive ist die Gründung der World Anti-Doping Agency (WADA) im Jahre 1999 ein Markstein. Der Weltsport benötigt – nicht zuletzt aus Gründen der Chancengleichheit und Fairness – einen effektiven einheitlichen organisatorischen Rahmen. Mit dem WADA Code und der Liste verbotener Substanzen und Methoden stehen Regelungen zur Verfügung, auf die die Staaten in ihren Gesetzen verweisen können. So verweist § 2 Abs. 1 AntiDopG auf »ein Dopingmittel, das ein in der Anlage I des Internationalen Übereinkommens vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport (BGBl. 2007 II S. 354, 355) in der vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat jeweils im Bundesgesetzblatt Teil II bekannt gemachten Fassung (Internationales Übereinkommen gegen Doping) aufgeführter Stoff ist oder einen solchen enthält.« Der vorherige »Flickenteppich« unterschiedlicher Regelungen in den verschiedenen Sportarten sowie auch auf internationaler und nationaler Ebene ist mit dem World Anti-Doping Code (WADC) und der Liste verbotener Substanzen und Methoden 2003 harmonisiert worden. Eine Vorarbeit haben wir federführend in Erlangen mit der von der Europäischen Kommission beauftragten Studie43 geleistet, die am 7. 11. 2001 präsentiert werden konnte. Zahlreiche Experten im In- und Ausland haben uns dabei unterstützt, den international und interdisziplinär vorhandenen Erkenntnisstand zu dokumentieren und unsere Vorschläge zu unterbreiten.

41 Der Evaluierungsbericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen der im Anti-DopingGesetz enthaltenen straf- und strafverfahrensrechtlichen Regelungen ist veröffentlicht als BTDrs. 19/25090 vom 10. 12. 2020. 42 Definiert in § 3 Abs. 3 AntiDopG: (3) Ein Wettbewerb des organisierten Sports im Sinne dieser Vorschrift ist jede Sportveranstaltung, die 1. von einer nationalen oder internationalen Sportorganisation oder in deren Auftrag oder mit deren Anerkennung organisiert wird und 2. bei der Regeln einzuhalten sind, die von einer nationalen oder internationalen Sportorganisation mit verpflichtender Wirkung für ihre Mitgliedsorganisationen verabschiedet wurden. 43 Vieweg/Siekmann (Hrsg.), Legal Comparison and the Harmonisation of Doping Rules and Regulations – Pilot Study for the European Commission, 2007.

202 3.

Klaus Vieweg

Immissionsschutz

Sport-Umwelt-Konflikte sind zahlreich. Wird die Natur von Sporttreibenden – quasi als Sportstätte – genutzt, so sind Schäden nicht auszuschließen. Kletterer beschädigen Berge, Mountainbiker den Waldboden, mit Kunstschnee präparierte Skipisten den natürlichen Bewuchs der Berghänge. Ein besonderes Problem stellt der mit der Sportausübung verbundene Lärm dar. Gesetzliche Regelungen zum Schutz der Nachbarn und die regelungskonforme Sportausübung gerieten erstmals wohl 1933 miteinander in Konflikt und führten zu einer Gesetzgebung, die heutigen rechtsstaatlichen Anforderungen in keiner Weise Stand halten würde. Auf die erfolgreiche Klage von Nachbarn wegen des von einem Schießplatz in Berlin-Wannsee ausgehenden Lärms reagierte der Reichsgesetzgeber mit dem Erlass des Nachbarrechtsbeschränkungsgesetzes,44 das den vom BGB vorgesehenen Nachbarschutz aushebelte.45 Für Sportanlagen, die der Reichsinnenminister wegen ihrer »besonderen Bedeutung für die Volksertüchtigung« genehmigt hatte, war der durch § 906 BGB gewährleistete Nachbarschutz eingeschränkt. Der Nachbar konnte weder die Einstellung des Sportbetriebs noch die Errichtung von Schutzmaßnahmen verlangen. Die Gewährung einer Entschädigung war in das Ermessen des Reichsinnenministers gestellt. Der Rechtsweg war ausgeschlossen. Mit dem sog. Tennisplatzurteil löste der BGH46 eine Welle von Nachbarschaftsklagen wegen Sportstätten(lärms) aus. Bedingt durch die Zweispurigkeit von öffentlich-rechtlichem und zivilrechtlichem Nachbarschutz kam es zu ca. 30 verwaltungs- und zivilgerichtlichen Urteilen, die ich 1986 analysiert habe.47 Deutlich wurde der Bedarf, die öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Entscheidungsmaßstäbe zu konkretisieren und zu harmonisieren. Mein Vorschlag ging dahin, für die Standortentscheidung der öffentlich-rechtlichen Planungsentscheidung gegenüber dem privaten Nachbarrecht den Vorrang einzuräumen und für das zulässige Maß der Nutzung speziell für Sportimmissionen ein Raster zu entwickeln, um Raum für die richterliche Berücksichtigung fallspezifischer Besonderheiten zu geben. Mit der 18. Bundes-ImmissionsschutzVO (SportanlagenlärmschutzVO)48 hat der Verordnungsgeber 1991 eine spezielle Regelung geschaffen, die gekenn44 RGBl. I 1933, S. 1058. 45 Näher dazu Vieweg, Gleichschaltung und Fu¨ hrerprinzip – Zum juristischen Instrumentarium der Organisation des Sports im Dritten Reich, in: Salje (Hrsg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, 1985, S. 244. (247f.) 46 BGH, Urt. vom 17. 12. 1982, NJW 1985, 751f. 47 Vieweg, Sportanlagen und Nachbarschutz, JZ 1987, S. 1104ff.; ders., Sport und Umwelt – rechtliche Implikationen des Konflikts, Sportwissenschaft 1986, S. 148ff. 48 18. BImSchV vom 18. 7. 1991, BGBl. I, S. 1588.

Zusammenwirken von staatlichem Recht und privater Regelung im Sport

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zeichnet ist durch eine gewisse Privilegierung des Sportlärms durch höhere Immissionsrichtwerte und den Verweis auf bestimmte VDI-Richtlinien und DINNormen, also auf Empfehlungen privatrechtlicher Vereine, um technische Details zu konkretisieren. Gerade mit dieser Verweisungsmethode wird ein im Technikrecht typischer Ansatz aufgegriffen, der effektiv der Staatsentlastung dient. Auch wenn die Sportlärmproblematik im Großen und Ganzen gelöst zu sein scheint, gibt es vereinzelt noch aktuellen Handlungsbedarf. Lautstarker Torjubel der Zuschauer bei den Abendspielen der Fußball-Bundesliga können nach 22 Uhr die Immissionsrichtwerte überschreiten. Die Anpassung des Spielplans der DFL erscheint insofern erforderlich.

IV.

Fazit

Sportrecht als dynamische Querschnittsmaterie ist unter anderem durch die Zweispurigkeit von Verbandsregelungen und staatlichem Recht gekennzeichnet. Damit verbunden ist ein vielfältiges Zusammenwirken von Sport und Staat. Das staatliche Recht garantiert durch Art. 9 Abs. 1 GG die Verbandsautonomie der Sportverbände, setzt dieser aber zugleich auch Grenzen. Insbesondere resultiert aus der verfassungsrechtlichen Justizgewährungspflicht der Anspruch auf eine staatlich-gerichtliche Kontrolle, deren Umfang sich danach richtet, ob die betreffende Entscheidung von einem sozial und/oder wirtschaftlich mächtigen Verband – das ist bei den Sportverbänden der Fall – getroffen worden ist. Durch Verbandsregelungen und deren Anwendung durch Verbandsorgane, einschließlich der sog. Sportgerichte, wird der Staat aber auch entlastet. Müssen staatliche Gerichte bemüht werden, so können Verbandsregelungen z. B. zur Konkretisierung von Verkehrspflichten und des Verschuldens herangezogen werden

Malte Wilke

Compliance Monitorships – ein System staatlich regulierter Selbstregulierung

I.

Der rechtliche Rahmen eines Compliance Monitorships

Corporate Compliance beschreibt einen Selbstregulierungsmechanismus, der der Einhaltung von Gesetzen, internen und externen Regelungen, sowie Selbstverpflichtungen dient und Unternehmen vor den rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen von Fehlverhalten schützen soll. Zu den möglichen Konsequenzen von Verstößen gegen die Grundsätze der Corporate Compliance können für Unternehmen u. a. hohe Geldbußen, zivilrechtliche Haftungsansprüche Dritter, hohe Anwaltskosten, Reputationsschäden, sowie bei Aktiengesellschaften die Verringerung des Börsenwerts zählen.1 Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass Corporate Compliance auch in deutschen Unternehmen einen immer höheren Stellenwert gewinnt.2 So setzt sich zusehends die Auffassung durch, dass ein effektives Compliance-Management-System bei der Bemessung der Höhe eines Bußgeldes i. S.v. § 30 Abs. 1 OWiG berücksichtigt werden kann.3 Gleichzeitig hat das US-Unternehmensstrafrecht mit seinem extensiven und extraterritorialen Ansatz sowie seinen nach deutschen Maßstäben exorbitant hohen

1 Vgl. Beckemper/Rotsch, Criminal Compliance: ein Handbuch, 2015, S. 31ff. zur theoretischen Grundlegung der Corporate Compliance, sowie Bock, Criminal Compliance, 2011, S. 19ff. zum Compliance-Begriff. 2 Aktiengesellschaften richten ihre Corporate Compliance Maßgaben regelmäßig an den strengen Anforderungen der US-Gesetze aus, vgl. Kubiciel, Die deutschen Unternehmensgeldbußen: Ein nicht wettbewerbsfähiges Modell und seine Alternativen, NZWiSt 2016, 178, 179. Siehe auch Momsen/Tween, Criminal Compliance in den USA, in: Rötsch (Hrsg.), Criminal Compliance, 2015, § 30, Rn. 10 zu der Konzeption der Criminal Compliance in den USA. 3 BGH-Entscheidung v. 9. 5. 2017–1 StR 265/16 – NJW 2017, 3798; Schulz/Block, Wirksames Compliance-Management – Anreize und Orierntierungshilfen zur Vermeidung von (Verbands-) Sanktionen, CCZ 2020, 49, 50 und Wilke/MacPherson, Liability of Banks for Aiding Tax Evasion: A Comparative Analysis of German and UK Law, European Journal of Risk Regulation 2019, 148, 154f.

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Malte Wilke

Geldstrafen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die ComplianceStrukturen deutscher Unternehmen in den vergangenen Jahren gewonnen.4 Aus diesem Grund verwundert es kaum, dass sich deutsche Unternehmen, die gegen US-Gesetze verstoßen haben, regelmäßig fragen, ob sie ein Agreement mit der US-Strafverfolgungsbehörde, bei der es sich regelmäßig um die Criminal Division des US Department of Justice handeln wird, abschließen können, um einer Anklageerhebung zu entgehen bzw. einen Strafprozess zu vermeiden.5 Eine solche (strafrechtliche) Vergleichsvereinbarung legt dem Unternehmen regelmäßig den Aufbau eines effektiveren Compliance-Management-Systems auf, um erneuten (US-)Gesetzesverstößen proaktiv entgegenzuwirken.6 Hieraus folgt bereits, dass (strafrechtliche) Vergleichsvereinbarungen mit dem US Department of Justice Criminal Division einen spezialpräventiven und keinen repressiven Ansatz verfolgen.7 Die Anpassung des Compliance-Management-Systems wird hierbei regelmäßig von einem unabhängigen US-Monitor inhaltlich begleitet, überwacht und zertifiziert.8 Die finale Zertifizierung des erfolgreichen Abschlusses der mehrjährigen Überwachung (Monitorship) durch den US-Monitor ist dabei zugleich die Voraussetzung für den endgültigen Verzicht der US-

4 Siehe Rübenstahl/Boerger, Der Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) der USA (Teil 4) – Territorialer und personeller Anwendungsbereich, Rechtsfolgen und Verjährung, NZWiSt 2013, 281, 281ff.; Brewster/Mastro/Sebesky/Whiting, Foreign Corrupt Practices Act, Criminal Law Review 2015, 1171, 1171ff.; Eidam, Unternehmen und Strafe, 5. Aufl., 2018, S. 368ff., 1039ff. Das britische Unternehmensstrafrecht verfolgt einen ähnlich restriktiven Ansatz wie das US-amerikanische Unternehmensstrafrecht, vgl. Wilke/Rüping, Strafbarkeitkeitsrisiken für ausländische Unternehmen gemäß §§ 45, 46 UK Criminal Financial Act, NZWiSt 2018, 479, 480; Wells, Who’s Afraid of the Bribery Act 2010?, The Journal of Business Law 2012, 420, 420ff. 5 Strafverfolgungsbehörde kann neben dem US Department of Justice Criminal Division bei Finanzmarktkriminalität auch die Securities and Exchanges Commission (SEC) sein, die über wesentlich weitergehende Befugnisse als die BaFin verfügt. Siehe für weitergehende Ausführungen das Enforcement Manuel der SEC, abrufbar unter: https://www.sec.gov/divisions/enfo rce/enforcementmanual.pdf. Siehe auch Rotsch, Criminal Compliance, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, 4. Aufl. 2015, S. 52, 65, über das US-amerikanische Verständnis von Compliance als Instanz der Selbstkontrolle von Unternehmen und Willms, Proven Practice – Erfahrungen mit US Compliance Monitorships, CCZ 2020, 57, 60. 6 Waltenberg, Unter Beobachtung – Der amerikanische Monitor im deutschen Unternehmen, CCZ 2017, 146, 146, und Eidam, Unternehmen und Strafe, 5. Aufl. 2018, S. 450ff. zu den strafrechtlichen Hauptrisikobereichen in Unternehmen. 7 Schweiger, Quo vadis Verbandssanktionenrecht? Eine Stellungnahme im Anschluss an die Äußerungen des Bundesrates und der Bundesregierung zum Regierungsentwurf eines Verbandssanktionengesetzes, ZIS 2021, 137, 141 Fn. 51. 8 Zulauf/Studer, Masters of Compliance – Monitore als Förderer der Unternehmens-Compliance, GesKR 2018, 301, 301; Willms, Proven Practice – Erfahrungen mit US Compliance Monitorships, CCZ 2020, 57, 60. Die Einsetzung eines Compliance Monitors ist v. a. bei Antikorruptionsverstößen, Betrugstaten, Geldwäsche- und Steuerdelikten üblich.

Compliance Monitorships – ein System staatlich regulierter Selbstregulierung

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Strafverfolgungsbehörde auf eine Anklageerhebung bzw. die endgültige Einstellung des Strafverfahrens ohne weitere Sanktionen.9 Grundsätzlich gilt es, bei derartigen Agreements zwischen den Deferred Prosection Agreements, den Non-Prosecution Agreements und den sogenannten Plea Agreements zu unterscheiden.10 Die Deferred Prosection Agreements verpflichten das Unternehmen die Auflagen der US-Strafverfolgungsbehörde umzusetzen, wozu regelmäßig die Implementierung eines Compliance Monitorships gehören wird.11 Im Gegenzug setzt das US Department of Justice die bereits gegen das Unternehmen erhobene Anklage für die Dauer der Laufzeit der Compliance Monitorships vorläufig aus.12 Das zuständige Gericht hat diesbezüglich nur eingeschränkte Mitspracherechte.13 Voraussetzung für den Abschluss eines Deferred Prosecution Agreements ist jedoch stets, dass das Unternehmen ein Statement of Facts anerkennt, bei dem es sich um eine Zusammenfassung des von dem US Department of Justice Criminal Division für strafbar erachteten Verhaltens handelt. Ein Statement of Facts stellt allerdings kein Schuldanerkenntnis im juristischen Sinne dar.14 Ein besonderer Anreiz, den im Deferred Prosecution Agreement, Non-Prosecution Agreements und in Plea Agreements vereinbarten Auflagen nachzukommen, besteht für die betroffenen Unternehmen darin, dass die US-Strafverfolgungsbehörde die dem Monitor vom Unternehmen zur Verfügung gestellten Dokumente und Informationen verwenden darf, wenn das betroffene Unternehmen seine Auflagen nicht erfüllen sollte und infolgedessen das Strafverfahren gegen das Unternehmen wieder aufgenommen wird.15 9 Ebd. 10 Karami, Monitoring innerhalb von Deferred und Non-Prosecution Agreements: Der neue Ansatz des Department of Justice, NZWiSt 2019, 383, 383ff. 11 US-Behörden, die Compliance Monitorships nutzen, sind insbesondere das US Department of Justice, die Security Exchange Commission und die Environmental Protection Agency. 12 Karami, Monitoring innerhalb von Deferred und Non-Prosecution Agreements: Der neue Ansatz des Department of Justice, NZWist 2019, 383, 384. In Großbritannien wurde 2015 erstmals ein Deferred Prosecution Agreement zwischen dem Serious Fraud Office und einem der Bestechung beschuldigten Unternehmen geschlossen. Vgl. zu den Entwicklungen in Großbritannien Bu, The Viability of Deferred Prosecution Agreements (DPAs) in the UK: The Impact on Global-Bribery Compliance, European Business Organization Law Review 2021, 173, 173ff.; Bisgrove/Weekes, Deferred Prosecution Agreements: A Practical Consideration, Criminal Law Review 2014, 416, 416ff., und Süße/Püschel, UK Bribery Act 2010 aktuell – Die Strafverfolgung von Unternehmen unter Sec. 7 UKBA gewinnt an Fahrt, CCZ 2016, 131, 133. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in Frankreich feststellen, vgl. Schumacher/Saby, »loi Sapin 2«: Die Revolution im französischen Anti- Korruptionsrecht, CCZ 2017, 68, 68. 13 Zulauf/Studer, Masters of Compliance – Monitore als Förderer der Unternehmens-Compliance, GesKR 2018 301, 303 Fn. 6. 14 Zulauf/Studer, Masters of Compliance – Monitore als Förderer der Unternehmens-Compliance, GesKR 2018 301, 303. 15 Karami, Monitoring innerhalb von Deferred und Non-Prosecution Agreements: Der neue Ansatz des Department of Justice, NZWiSt 2019, 383, 384.

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Ein Non-Prosecution Agreement kann demgegenüber zwischen der USStrafverfolgungsbehörde und dem Unternehmen geschlossen werden, wenn das Unternehmen die Strafverfolgungsbehörde während der Ermittlungen bei der Aufklärung des Sachverhalts unterstützt.16 Eine gerichtliche Genehmigung eines Non-Prosecution Agreements ist nicht erforderlich.17 Schließen die Strafverfolgungsbehörde und das Unternehmen ein Non-Prosecution Agreement miteinander ab, wird das Verfahren ohne Anklageerhebung unter Auflagen eingestellt. Die Einhaltung der Auflagen wird hierbei nicht vom Gericht überprüft. Die Gestaltung der Auflagen unterliegt bei einem Non-Prosecution Agreement vielmehr dem freien Ermessen der Strafverfolgungsbehörde, die auch deren Einhaltung überwacht. Die Auflagen eines Non-Prosecution Agreements sind regelmäßig mit denen eines Deferred Prosection Agreements vergleichbar und sehen grundsätzlich ein Schuldeingeständnis des Unternehmens, Geldstrafen, eine Kooperationspflicht mit den US-Strafverfolgungsbehörden und die Implementierung eines effektiveren Compliance-Management-Systems vor.18 Sofern das Unternehmen die Auflagen des Non-Prosecution Agreements innerhalb einer bestimmten Frist erfüllt, sieht das US Department of Justice von der weiteren Strafverfolgung ab. Abgesehen davon können sich das Unternehmen und das US Department of Justice auch auf die Abgabe eines sog. Plea Agreements (Schuldanerkenntnis) verständigen. Hierbei handelt es sich um eine unter Zustimmung des zuständigen Gerichts geschlossene Vereinbarung, mit der das Unternehmen eine Straftat einräumt. Das Plea Agreement steht einem Strafurteil gleich und legt dem Unternehmen ebenfalls Auflagen auf, die es innerhalb einer Bewährungszeit erfüllen muss. Ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Plea Agreement und einem Deferred Prosecution Agreement bzw. einem Non-Prosecution Agreement besteht darin, dass das Plea Agreement negative regulatorische und geschäftliche Auswirkungen für das Unternehmen haben kann.19 Sollte das Unternehmen seine Auflagen nicht vollständig innerhalb der Bewährungszeit erfüllen, kann es zu einem Strafverfahren kommen, in dem bereits erfüllte Auflagen aus dem Schuldanerkenntnis unberücksichtigt bleiben.20 16 Justice Manual of the Department of Justice of the United States, § 9–27.600 (abrufbar unter: https://www.justice.gov/jm/jm-9-27000-principles-federal-prosecution#9-27.600). 17 Zulauf/Studer, Masters of Compliance – Monitore als Förderer der Unternehmens-Compliance, GesKR 2018 301, 303. 18 Schorn/Sprenger, Deferred Prosecution Agreements im Anwendungsbereich des UK Bribery Act, CCZ 2013, 104, 106. 19 Ausführlich Zulauf/Studer, Masters of Compliance – Monitore als Förderer der Unternehmens-Compliance, GesKR 2018 301, 303. 20 Schünemann, Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur – Die Urteilsabsprachen als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung, 2005, S. 22.

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Die Entscheidung, ob ein Unternehmen für eine Straftat angeklagt wird oder mit diesem ein Deferred Prosecution Agreement, Non-Prosecution Agreement oder Plea Agreement mit dem Unternehmen abgeschlossen werden soll, wird von der US-Strafverfolgungsbehörde stets unter Berücksichtigung der folgenden neun Gesichtspunkte getroffen:21 – The nature and seriousness of the offense, including the risk of harm to the public; – the pervasiveness of wrongdoing within the corporation, including the complicity in, or the condoning of, the wrongdoing by corporate management; – the corporation’s history of similar misconduct, including prior criminal, civil, and regulatory enforcement actions against it; – the corporation’s timely and voluntary disclosure of wrongdoing and its willingness to cooperate in the investigation of its agents; – the existence and effectiveness of the corporation’s pre-existing compliance program; – the corporation’s remedial actions, including any efforts to implement an effective corporate compliance program or improve an existing one, replace responsible management, discipline or terminate wrongdoers, pay restitution, and cooperate with the relevant government agencies; – collateral consequences, including whether there is disproportionate harm to shareholders, pension holders, employees, and others not proven personally culpable, as well as impact on the public arising from the prosecution; – the adequacy of the prosecution of individuals responsible for the corporation’s malfeasance; and – the adequacy of remedies such as civil or regulatory enforcement actions. Erstaunlich ist insofern, dass das US-amerikanische Strafprozessrecht Compliance Monitorships nicht direkt erwähnt, obwohl deren Anzahl in den vergangenen zehn Jahren exponentiell angestiegen ist.22 Gleichwohl erkennen einige US-Gesetze und Memoranden des US Department of Justice ihre Existenz an. So offeriert Title IV – The Arraignment and Preparation for Trial Rule 11 (c) Plea Agreement Procedure der Federal Rules of Criminal Procedure der US-Strafverfolgungsbehörde die Möglichkeit des Abschlusses eines Plea Agreements. Auflage für einen solchen Abschluss ist hierbei regelmäßig die Implementierung eines Compliance Monitorships.23 Das Plea Agreement muss zudem dem zu21 Justice Manual of the Department of Justice of the United States, § 9–28.000 (abrufbar unter: https://www.justice.gov/jm/jm-9-28000-principles-federal-prosecution-business-organizati ons). 22 Waltenberg, Unter Beobachtung – Der amerikanische Monitor im deutschen Unternehmen, CCZ 2017, 146, 146. 23 https://www.federalrulesofcriminalprocedure.org/title-iv/rule-11-pleas/.

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ständigen Gericht gem. Rule 11 (c) (3) (A) der Federal Rules of Criminal Procedure zur Genehmigung vorgelegt werden.24 Gleichzeitig trifft Unternehmen gem. § 8 B 2.1 (a) US Federal Sentencing Guidelines, die Sorgfaltspflicht »compliance with the law« sicherzustellen.25 Hieraus folgt, dass das Unternehmen bei Gesetzesverstößen »reasonable steps« ergreifen muss, worunter auch die Mandatierung eines »professional outside advisor« fallen kann.26 Compliance Monitorships werden zudem im US Attorney’s Manuel, das sich an die US-Staatsanwälte richtet, erwähnt. Das Manuel führt im commentary zu sec. 9–28.1500 aus: A corporate plea agreement should also contain provisions that recognize the nature of the corporate ›person‹ and that ensure that the principles of punishment, deterrence, and rehabilitation are met. In the corporate context, punishment and deterrence are generally accomplished by substantial fines, mandatory restitution, and institution of appropriate compliance measures, including, if necessary, continued judicial oversight or the use of special masters or cororate monitors.27

Gleichzeitig wird die Existenz von Compliance Monitorships in verschiedenen Memoranden des US Department of Justice, wie dem Morford-Memorandum, dem Grindler-Memorandum und dem Benczkowski-Memorandum anerkannt.28

II.

Das Konzept der Compliance Monitorships

Die Anforderungen an ein Compliance Monitorship werden im MorfordMemorandum von 2008 ausführlich dargelegt.29 Der damalige stellvertretende US-Justizminister Craig Morford fasste in seinem Memorandum die Prinzipien zusammen, die für ein erfolgreiches Compliance Monitorship gelten sollten. Hierbei ging er u. a. auf die erforderliche Qualifikation und das Erfordernis von 24 Rule 11 (c) (4), (5) der Federal Rules of Criminal Procedure (abrufbar unter: https://www.feder alrulesofcriminalprocedure.org/title-iv/rule-11-pleas/). 25 Zulauf/Studer, Masters of Compliance – Monitore als Förderer der Unternehmens-Compliance, GesKR 2018 301, 308. 26 United States Sentencing Guidelines Manuel 2018 (abrufbar unter: https://www.ussc.gov/site s/default/files/pdf/guidelines-manual/2018/GLMFull.pdf); Zulauf/Studer, Masters of Compliance – Monitore als Förderer der Unternehmens-Compliance, GesKR 2018 301, 308. 27 US Attorney’s Manuel, 9–28.1500 – Plea Agreements with Corporations (abrufbar unter: https://www.justice.gov/archives/usam/archives/usam-9-28000-principles-federal-prosec ution-business-organizations#9-28.1500). 28 Zulauf/Studer, Masters of Compliance – Monitore als Förderer der Unternehmens-Compliance, GesKR 2018 301, 307f.; Alexander/Cohen, Trends in the Use of Non-Prosecution, Deferred Prosecution and Plea Agreements in the Settlement of alleged Corporate Criminal Wrongdoing, 14f. (abrufbar unter: https://masonlec.org/site/rte_uploads/files/Full%20Repo rt%20-%20SCJI%20NPA-DPA%2C%20April%202015%281%29.pdf). 29 https://www.justice.gov/sites/default/files/dag/legacy/2008/03/20/morford-useofmonitorsm emo-03072008.pdf.

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fehlenden Interessenkonflikten des US-Monitors sowie dessen erforderliche Unabhängigkeit ein.30 Das Grindler-Memorandum des US-Justizministeriums spezifizierte die Anforderungen »on the Use of Monitors in Deferred Prosecution Agreements and Non-Prosecution Agreements with Corporations« noch weitergehend, und das Benzkowski-Memorandum erläuterte schließlich die Auswahlkriterien, die bei der Auswahl eines Monitors gelten sollten.31

1.

Die Monitorauswahl

Aus dem Morford-Memorandum folgt, dass der Monitor ein unabhängiger Experte sein muss, der weder Mitarbeiter noch Auftragnehmer der US-Strafverfolgungsbehörde bzw. des Unternehmens sein darf.32 In der praktischen Umsetzung haben die Unternehmen dem US Department of Justice Criminal Division bis zu drei Kandidaten vorzuschlagen, die von diesem entweder bestätigt oder abgelehnt werden können.33 Dem folgend hat das Unternehmen ein Vorschlagsrecht hinsichtlich der Ernennung des US-Monitors, wenngleich die endgültige Entscheidung bei dem US Department of Justice liegt. Hinsichtlich der im Morford-Memorandum geforderten Qualifikation des Monitors gibt es keine formalen Anforderungen. Das Memorandum spricht jedoch davon, dass der US-Monitor stets eine hochqualifizierte und geachtete Persönlichkeit sein soll.34 Oftmals handelt es sich bei US-Monitoren um ehemalige US-Regierungsbeamte oder um Rechtsanwälte mit einem Tätigkeitsfokus im Bereich Compliance und Internal Investigations. Es muss sich bei dem Monitor nicht zwingend um einen US-Staatsbürger oder eine natürliche Person handeln,35 auch Anwaltskanzleien können als Monitore eingesetzt werden.36 30 Ebd. 31 Das Memorandum wurde 2010 von dem stellvertreten US-Justizminister Gary Grindler verfasst (abrufbar unter: https://www.justice.gov/archives/jm/criminal-resource-manual-16 6-additional-guidance-use-monitors-dpas-and-npas); das Benczkowski-Memorandum ist abrufbar unter: https://www.justice.gov/criminal-fraud/file/1100366/download. 32 Root, Modern-Day Monitorships, Yale Journal on Regulation 2016, 109, 116. 33 Karami, Monitoring innerhalb von Deferred und Non-Prosecution Agreements: Der neue Ansatz des Department of Justice, NZWiSt 2019, 383, 384. 34 Reyhn, Wer bist DU und wenn ja, wie viele? Der Corporate Monitor im US-Straf- und Zivilprozessrecht, CCZ 2011, 48, 54. Die Anforderungen an einen Criminal Compliance Monitor wurden von der American Bar Association 2015 hinsichtlich der fees spezifiziert, vgl. Zulauf/ Studer, Masters of Compliance – Monitore als Förderer der Unternehmens-Compliance, GesKR 2018 301, 309. 35 So wurde der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel 2008 als Compliance Monitor bei Siemens nach der sogenannten »Schmiergeldaffäre« eingesetzt, vgl. http://www.justice.go v/opa/ documents/siemens.pdf. Siehe auch Arzt, Siemens: Vom teuersten zum lukrativsten Kriminalfall der deutschen Geschichte, in: Jahn/Kudlich/Streng (Hrsg.), Strafrechtspraxis

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Entscheidendes Kriterium für die Auswahl des Monitors ist vielmehr, dass dieser geeignet sein muss, das öffentliche Vertrauen der US-Bevölkerung und der USStrafverfolgungsbehörde zu gewinnen.37 2018 spezifizierte das US Department of Justice die Anforderungen an die Ernennung des Monitors im Memorandum des stellvertretenden US-Justizministers Benczkowski noch weitergehend.38 So sollen das US Department of Justice und das Unternehmen in jedwede Deferred Prosecution Agreements, Non-Prosecution Agreements und Plea Agreements Ausführungen zu folgenden Aspekten aufnehmen:39 – A description of the monitor’s required qualifications; – a description of the monitor selection process; – a description of the process for replacing the monitor during the term of the monitorship, should it be necessary; – a statement that the parties will endeavor to complete the monitor selection process within sixty (60) days of the execution of the underlying agreement; – an explanation of the responsibilities of the monitor and the monitorship’s scope; and – the length of the monitorship. Aus dem Benczkowski-Memorandum geht darüber hinaus hervor, dass die Anwälte des Unternehmens der Criminal Division des US Department of Justice drei Kandidaten vorschlagen müssen, die von den Beamten des US-Justizministeriums im Anschluss befragt werden. Hierbei sollen folgende Aspekte von den Parteien berücksichtigt werden:40 – Each monitor candidate’s general background, education and training, professional experience, professional commendations and honors, licensing, reputation in the relevant professional community, and past experience as a monitor;

36 37 38 39 40

und Reform, Festschrift für Heinz Stöckel, 2010, S. 15ff. zur Siemens-Affäre. Die Einsetzung eines ausländischen Monitors erfolgt regelmäßig dann, wenn der Monitor über vertiefte Kenntnisse des nationalen Rechts verfügen muss, vgl. Warin/Diamond/Root, Somebody’s watching me: FCPA Monitorships and how they can work better, Journal of Business Law 2011, 321, 352. Reyhn, Wer bist DU und wenn ja, wie viele? Der Corporate Monitor im US-Straf- und Zivilprozessrecht, CCZ 2011, 48, 54. Ebd. Benczkowski-Memorandum (abrufbar unter: https://www.justice.gov/criminal-fraud/file/11 00366/download). https://www.justice.gov/criminal-fraud/file/1100366/download. https://www.justice.gov/criminal-fraud/file/1100366/download.

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– each monitor candidate’s experience and expertise with the particular area(s) at issue in the case under consideration, and experience and expertise in applying the particular area(s) at issue in an organizational setting; – each monitor candidate’s degree of objectivity and independence from the Company so as to ensure effective and impartial performance of the monitor’s duties; – the adequacy and sufficiency of each monitor candidate’s resources to discharge the monitor’s responsibilities effectively; and – any other factor determined by the Criminal Division attorneys, based on the circumstances, to relate to the qualifications and competency of each monitor candidate as they may relate to the tasks required by the monitor agreement and nature of the business organization to be monitored. Sofern die Gespräche aus Sicht der Criminal Division nicht wenigstens mit einem Kandidaten zufriedenstellend verlaufen sein sollten, wird dem Unternehmen eine Frist von 20 Tagen gewährt, um der Criminal Division des US Department of Justice neue Kandidaten vorzuschlagen.41 Sollten die Gespräche indes mit mehr als einem Kandidaten erfolgreich verlaufen sein, spricht sich die Criminal Division mit einer schriftlichen Empfehlung an das Standing Committee für den geeignetsten Kandidaten aus.42 Die Empfehlung sollte dabei folgende Aspekte beinhalten:43 – A brief statement of the underlying case; – a description of the proposed disposition of the case, including the charges filed (if any); – an explanation as to why a monitor is required in the case, based on the considerations set forth in this memorandum; – a summary of the responsibilities of the monitor, and his/her term; – a description of the process used to select the candidate; – a description of the selected candidate’s qualifications, and why the selected candidate is being recommended; – a description of countervailing considerations, if any, in selecting the candidate; – a description of the other candidates put forward for consideration by the Company; and – a signed certification, on the form attached hereto, by each of the Criminal Division attorneys involved in the monitor selection process that he/she has 41 Karami, Monitoring innerhalb von Deferred und Non-Prosecution Agreements: Der neue Ansatz des Department of Justice, NZWiSt 2019, 383, 387. 42 Siehe zum Standing Committee https://www.justice.gov/criminal-fraud/file/1100366/down load. 43 https://www.justice.gov/opa/speech/file/1100531/download.

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complied with the conflicts-of-interest guidelines set forth in 18 U.S.C Section 208, 5 C.F.R. Part 2635, and 28 C.F.R. Part 45 in the selection of the candidate. Das Standing Committee des US Department of Justice leitet die Empfehlung der Criminal Division an das Office of the Deputy Attorney General weiter, sofern es die Empfehlung der Criminal Division mitträgt. Sofern das Office of the Deputy Attorney General die Empfehlung der Criminal Division ablehnt, kann die Criminal Division dem Standing Committee bis zu drei neue Kandidaten empfehlen. Sofern das Standing Committee der Empfehlung der Criminal Division folgt, kann der Deputy Attorney General die Empfehlung des Standing Committee anschließend bestätigen oder ablehnen. Sollte er die Empfehlung ablehnen, erhält das Unternehmen die Möglichkeit, bis zu drei neue Kandidaten vorzuschlagen.44 Sollte der Deputy Attorney General den Kandidaten jedoch bestätigen, kann das Unternehmen einen Vertrag mit seinem neu ernannten Monitor abschließen, und das Compliance Monitorship kann beginnen.

2.

Die Ziele des Compliance Monitorships

Das US Department of Justice verfolgt mit der Implementierung eines Compliance Monitorships primär die Absicht das Compliance-System eines straffällig gewordenen Unternehmens effektiver auszugestalten, um das Risiko weiteren devianten Verhaltens in der Zukunft zu minimieren.45 Das vorangegangene Fehlverhalten ist hierbei allerdings nur der Ausgangspunkt des Compliance Monitorships, jedoch nicht dessen alleiniger Fokus.46 Das Morford-Memorandum führt insofern aus: A monitor’s primary responsibility should be to assess and monitor a corporation’s compliance with those terms of the agreement that are specifically designed to address and reduce the risk of recurrence of the corporation’s misconduct, including, in most cases, evaluating (and where appropriate proposing) internal controls and corporate ethics and compliance programs.47

Der Monitor ermittelt insbesondere nicht proaktiv, ob sich das Unternehmen in der Vergangenheit weiteres Fehlverhalten hat zuschulden kommen lassen: »The

44 Benczkowski-Memorandum (abrufbar unter: https://www.justice.gov/criminal-fraud/file/11 00366/download). 45 Warin/Diamond/Root, Somebody’s watching me: FCPA Monitorships and how they can work better, Journal of Business Law 2011, 321, 321. 46 Willms, Proven Practice – Erfahrungen mit US Compliance Monitorships, CCZ 2020, 57, 60. 47 Morford-Memorandum (abrufbar unter: https://www.justice.gov/sites/default/files/dag/leg acy/2008/03/20/morford-useofmonitorsmemo-03072008.pdf.)

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monitor’s mandate is not to investigate historical misconduct.«48 Der US-Monitor prüft vielmehr die internen Prozesse des Unternehmens und identifiziert die Schwachstellen der internen Organisation. Stellt der Monitor Prozessrisiken für Compliance-Verstöße in der internen Organisation des Unternehmens fest, gibt er dem Unternehmen Handlungsempfehlungen, die das Unternehmen innerhalb eines bestimmten Zeitraums implementieren muss. Gleichzeitig wird der US-Monitor dem Unternehmen Handlungsempfehlungen hinsichtlich der Strukturierung der internen Kontrollinstanzen, wie der Compliance-Abteilung, dem Whistleblower-Office und der Revisionsabteilung erteilen, um diese in der Organisation zu stärken. A monitor’s primary responsibility should be to assess and monitor a corporation’s compliance with those terms of the agreement that are specifically designed to address and reduce the risk of recurrence of the corporation’s misconduct, including, in most cases, evaluating (and where appropriate proposing) internal controls and corporate ethics and compliance programs.49

Gleichzeitig soll das Compliance Monitorship nach Auffassung des US Department auf Justice jedoch auch zu einem Integritätswandel des Unternehmens beitragen, aus dem das Unternehmen gestärkt für die Zukunft hervorgeht: »Ultimately, a monitor should benefit the company, its employees, shareholders, and the public by effectively furthering the goal of preventing and detecting future misconduct.«50 Abgesehen von diesen spezialpräventiven Erwägungen verfolgt das US Department of Justice mit der Strategie der Compliance Monitorships zusätzlich die Absicht, aufwendige und zeitintensive Strafverfahren zu vermeiden. In Anbetracht der Tatsache, dass das US Department of Justice mit einer (strafrechtlichen) Vergleichsvereinbarung schneller und kostengünstiger vergleichbare Ergebnisse erzielen kann als mit einer erfolgreichen Anklage, ist dieser Ansatz aus der Sicht des US-Justizministeriums durchaus nachvollziehbar. Gleichwohl laufen betroffene Unternehmen bei derartigen Vergleichsvereinbarungen mit der US-Strafverfolgungsbehörde auch stets Gefahr, auf ihre prozessualen Garantien im Strafprozess zu verzichten und sich den Auflagen der Vereinbarung, auf die sie wenig Einfluss haben, zu unterwerfen. Dessen ungeachtet kann der Abschluss einer Vergleichsvereinbarung für das Unternehmen aus Reputationsgründen und wirtschaftlichen Erwägungen heraus durchaus sinnvoll sein. 48 Morford-Memorandum (abrufbar unter: https://www.justice.gov/sites/default/files/dag/lega cy/2008/03/20/morford-useofmonitorsmemo-03072008.pdf). 49 https://www.justice.gov/archives/jm/criminal-resource-manual-163-selection-and-use-mon itors. 50 https://www.justice.gov/opa/speech/assistant-attorney-general-brian-benczkowski-deliversremarks-nyu-school-law-program.

216 3.

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Die Aufgaben des Monitors

Die genauen Aufgaben des US-Monitors ergeben sich aus dem jeweiligen Agreement.51 Die Arbeit des Monitors beginnt regelmäßig mit der Erstellung der »time line« für das Compliance Monitorship, die er mit dem Unternehmen abstimmt.52 Anschließend führt der Monitor mit seinem Expertenteam eine »root cause analysis« durch und erstellt einen ersten Bericht, der Handlungsempfehlungen für das Unternehmen enthält.53 Der Monitor wird insofern regelmäßig »document requests« an das Unternehmen stellen, wobei es sich um spezifische Fragen an das Unternehmen handelt, die dieses mittels geeigneter Unterlagen zu beantworten versucht. Als interner Ansprechpartner für den Monitor sollte insofern eine Stabsstelle eingerichtet werden, die die Monitoranfragen und die Antworten der Fachabteilungen an den Monitor koordiniert.54 So weist das Morford-Memorandum zurecht darauf hin, dass »communication among the Government, the corporation and the monitor is in the interest of all the parties«.55 Der US-Monitor kann die in der Vergleichsvereinbarung getroffenen Aufgaben in einer kooperativen Arbeitsatmosphäre, bei der er von einer internen Stabstelle unterstützt wird, effizienter wahrnehmen. Aufgrund dessen ist es wahrscheinlicher, dass ein »time delay«, der mit erheblichen Mehrkosten für das Unternehmen einhergehen würde, vermieden werden kann.56 Auf Grundlage der ihm vom Unternehmen zur Verfügung gestellten Informationen und der Ergebnisse seiner Prüfungen entwickelt der Monitor seine Handlungsempfehlungen. Sollte das Unternehmen die Handlungsempfehlungen des Monitors ablehnen, kann es sich bei dem US Department of Justice beschweren, das ggf. auf den US-Monitor einwirken wird: If the corporation chooses not to adopt recommendations made by the monitor within a reasonable time, either the monitor or the corporation, or both, should report that fact 51 Karami, Monitoring innerhalb von Deferred und Non-Prosecution Agreements: Der neue Ansatz des Department of Justice, NZWiSt 2019, 383, 385. 52 Waltenberg, Unter Beobachtung – Der amerikanische Monitor im deutschen Unternehmen, CCZ 2017, 146, 152. 53 Der Monitor wird in der Regel von Anwaltskanzleien und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften bei seiner Arbeit unterstützt, vgl. Schwarz, FCPA Compliance Monitorships – US-Marotte oder Flavor of the New Times? – Praktische Erfahrungen mit FCPA Compliance Monitorships, CCZ 2020, 59, 62. 54 Warin/Diamond/Root, Somebody’s watching me: FCPA Monitorships and how they can work better, Journal of Business Law 2011, 321, 374. 55 Morford-Memorandum (abrufbar unter: https://www.justice.gov/sites/default/files/dag/lega cy/2008/03/20/morford-useofmonitorsmemo-03072008.pdf). 56 Siehe die Ausführungen von Karami, Monitoring innerhalb von Deferred und Non-Prosecution Agreements: Der neue Ansatz des Department of Justice, NZWiSt 2019, 383, 386, zu den erheblichen Kosten, die ein Unternehmen infolge eines Compliance Monitorships treffen können.

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to the Government, along with the corporation’s reasons. The Government may consider this conduct when evaluating whether the corporation has fulfilled its obligations under the agreement.57

Das Grindler-Memorandum greift diesen wichtigen Aspekt auf und führt insofern aus: »An agreement should explain what role the Department could play in resolving disputes that may arise between the monitor and the corporation, given the facts and circumstances of the case.«58 Gleichwohl soll die Criminal Division des US Department of Justice bei Auseinandersetzungen zwischen dem Monitor und dem Unternehmen laut dem Grindler-Memorandum auch stets folgende Aspekte berücksichtigen: First, the role that the Department plays in resolving particular types of disputes should be consistent with the fact that the Department is not a party to the contract between the company and the monitor. Accordingly, the dispute resolution language should not imply that the Department will arbitrate contractual disputes between the company and the monitor. Second, the Department’s role in resolving disputes generally should be limited to questions relating to whether the company has complied with the terms of the agreement. Third, the Department’s appropriate role in resolving disputes will depend on the public and law enforcement interests implicated by the dispute.59

Unabhängig von der Frage einer Beschwerdemöglichkeit gegen ungerechtfertigte Handlungsempfehlungen des Monitors, werden sich an den ersten Bericht in der Regel Anschlussprüfungen anschließen, in denen überprüft wird, ob die erteilten Handlungsempfehlungen von dem Unternehmen ordnungsgemäß implementiert wurden. Sollten diese noch nicht oder nicht ausreichend erfolgt sein, spricht der Monitor oftmals weitere Handlungsempfehlungen aus.60 Als unabhängiger Experte erteilt der Monitor insbesondere dann weitere Handlungsempfehlungen, wenn aus seiner Sicht weiterhin Schwächen des Compliance-ManagementSystems existieren, die die Gefahr zukünftiger Compliance-Verstöße in sich bergen.61 Die Anzahl der Monitorberichte, die der Monitor dem US Department of Justice und dem Unternehmen zur Verfügung stellt, variiert je nach den Auflagen 57 https://www.justice.gov/sites/default/files/dag/legacy/2008/03/20/morford-useofmonitorsm emo-03072008.pdf. 58 https://www.justice.gov/archives/jm/criminal-resource-manual-166-additional-guidance-us e-monitors-dpas-and-npas. 59 https://www.justice.gov/archives/jm/criminal-resource-manual-166-additional-guidance-us e-monitors-dpas-and-npas. 60 Waltenberg, Unter Beobachtung – Der amerikanische Monitor im deutschen Unternehmen, CCZ 2017, 146, 152. 61 Warin/Diamond/Root, Somebody’s watching me: FCPA Monitorships and how they can work better, Journal of Business Law 2011, 321, 352; Willms, Proven Practice – Erfahrungen mit US Compliance Monitorships, CCZ 2020, 57, 60; https://www.justice.gov/sites/default/files/dag /legacy/2008/03/20/morford-useofmonitorsmemo-03072008.pdf.

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der Vergleichsvereinbarung und der Dauer des Monitorships. Mit den Monitorberichten informiert der Monitor das US Department of Justice über den Fortgang seiner Arbeit, die Fortschritte, die das Unternehmen bereits erzielt hat, sowie die Einhaltung der Auflagen. Die Dauer des Monitorships beträgt durchschnittlich zwei bis drei Jahre. Sie hängt jedoch stets von der im Plea Agreement vereinbarten Aufgabenstellung ab, sodass das Compliance Monitorship im Einzelfall auch länger als drei Jahre dauern kann:62 »The duration of the agreement should be tailored to the problems that have been found to exist and the types of remedial measures needed for the monitor to satisfy his or her mandate.«63 Vor diesem Hintergrund hat in der Vergangenheit die Dauer von einzelnen Compliance Monitorships auch schon mehr als vier Jahre betragen.64 Die exakte Dauer des Compliance Monitorships wird bei Abschluss des Plea Agreements zwischen dem US Department of Justice und dem Unternehmen vereinbart. Allerdings kann der Monitor dem US Department of Justice in Abweichung dieser Vereinbarung eine Verkürzung oder, was in der Praxis häufiger vorkommt, eine Verlängerung des Monitorships empfehlen, wenn er dies für geboten hält:65 In most cases, an agreement should provide for an extension of the monitor provision(s) at the discretion of the Government in the event that the corporation has not successfully satisfied its obligations under the agreement. Conversely, in most cases, an agreement should provide for early termination if the corporation can demonstrate to the Government that there exists a change in circumstances sufficient to eliminate the need for a monitor.66

Das US Department of Justice tendiert dazu, den diesbezüglichen Empfehlungen des Monitors zu folgen.67 Entscheidend ist für das US Department of Justice dabei stets, dass die Dauer des Compliance Monitorships so bemessen ist, dass das Compliance-System während dessen Laufzeit signifikant verbessert werden kann und das Risiko eines erneuten Gesetzesverstoßes hierdurch minimiert 62 Karami, Monitoring innerhalb von Deferred und Non-Prosecution Agreements: Der neue Ansatz des Department of Justice, NZWiSt 2019, 383, 386; Warin/Diamond/Root, Somebody’s watching me: FCPA Monitorships and how they can work better, Journal of Business Law 2011, 321, 348. 63 https://www.justice.gov/sites/default/files/dag/legacy/2008/03/20/morford-useofmonitorsm emo-03072008.pdf. 64 Warin/Diamond/Root, Somebody’s watching me: FCPA Monitorships and how they can work better, Journal of Business Law 2011, 321, 347. 65 Schwarz, FCPA Compliance Monitorships – US-Marotte oder Flavor of the New Times? – Praktische Erfahrungen mit FCPA Compliance Monitorships, CCZ 2020, 59, 61. 66 https://www.justice.gov/sites/default/files/dag/legacy/2008/03/20/morford-useofmonitorsm emo-03072008.pdf. 67 Karami, Monitoring innerhalb von Deferred und Non-Prosecution Agreements: Der neue Ansatz des Department of Justice, NZWiSt 2019, 383, 386.

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werden kann. Unabhängig davon überwacht das US Department of Justice jedoch auch stets, dass das Compliance Monitorship nicht unnötigerweise seitens des Monitors verlängert wird. So führte der damalige Deputy Attorney General Benczkowski in einer Rede vor Absolventen der NYU Law School aus: »In particular, it is incumbent on our prosecutors to ensure that monitors are operating within the appropriate scope of their mandate. Monitorships should never be expanded or extended for any illegitimate reason.«68 Sollte der Monitor während seiner Arbeit neue Compliance-Verstöße identifizieren, trifft ihn eine Meldepflicht gegenüber dem US Department of Justice:69 The agreement should clearly identify any types of previously undisclosed or new misconduct that the monitor will be required to report directly to the Government. The agreement should also provide that as to evidence of other such misconduct, the monitor will have the discretion to report this misconduct to the Government or the corporation or both.70

Gegen Ende der Laufzeit des Monitorships muss der Monitor dem Unternehmen die Effektivität des Compliance-Systems zertifizieren. Zertifiziert der US-Monitor das Unternehmen, wird das US-Justizministerium endgültig von einer Strafverfolgung absehen.71 Eine Beurteilungsgrundlage für die Zertifizierung durch den Monitor werden dabei regelmäßig die Maßgaben des Resource Guide to the US Foreign Corrupt Practices Act sein,72 der insbesondere hinterfragt, ob das Compliance-Programm des Unternehmens verbessert wurde und mit einer effizienten Umsetzung von Compliance-Maßnahmen in der Zukunft gerechnet werden kann. Eine weitere Orientierungshilfe für die Beurteilung der erzielten Fortschritte bilden die Leitlinien des US Department of Justice Criminal Division zur Evaluation of Corporate Compliance Programs.73 Das US Department of Justice Criminal Division nennt in den Leitlinien Parameter, die es für die Bewertung eines Compliance-Programms als besonders relevant ansieht. Hierunter 68 https://www.justice.gov/opa/speech/assistant-attorney-general-brian-benczkowski-deliversremarks-nyu-school-law-program. 69 Willms, Proven Practice – Erfahrungen mit US Compliance Monitorships, CCZ 2020, 57, 60. 70 Morford-Memorandum (abrufbar unter: https://www.justice.gov/sites/default/files/dag/leg acy/2008/03/20/morford-useofmonitorsmemo-03072008.pdf). 71 Schwarz, FCPA Compliance Monitorships – US-Marotte oder Flavor of the New Times? – Praktische Erfahrungen mit FCPA Compliance Monitorships, CCZ 2020, 59, 61. 72 Die einzelnen Anforderungen des Resource Guide to the US Foreign Corrupt Practices Act können unter https://www.sec.gov/spotlight/fcpa/fcpa-resource-guide.pdf nachgelesen werden. Siehe auch Bartz/Weiding, Aktuelle Entwicklungen in den USA – Zweite Auflage des FCPA Guide, CCZ 2020, 359, 359ff. 73 https://www.justice.gov/criminal-fraud/page/file/937501/download; von Laufenberg/Klaas, Aktuelle Entwicklungen in den USA – Neuer Leitfaden zur Bewertung von Compliance Programmen – DOJ berücksichtigt ausländisches Recht, CCZ 2020, 296, 296ff.; Pasewaldt/ Wick/Di Bari, Zum neuen Leitfaden des US-Justizministeriums zur Bewertung von Compliance-Management-Systemen, NZWiSt 2020, 55, 55ff.

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fallen u. a. die Abstellung der Ursache des ursprünglichen Fehlverhaltens, die Sicherstellung der fachlichen Unabhängigkeit der Compliance-Abteilung, die Implementierung effizienter Compliance-Richtlinien und Compliance-Prozesse in das Unternehmen, die Implementierung einer Whistleblower Hotline, die Durchführung von Compliance-Schulungen für die Mitarbeiter, Due DiligencePrüfungen von Geschäftspartnern, transparente Disziplinarmaßnahmen bei Fehlverhalten von Mitarbeitern und die kontinuierliche Verbesserung und Anpassung der bestehenden Compliance-Strukturen.74 Die Zertifizierung durch den US-Monitor bescheinigt dem Unternehmen insofern, dass das ComplianceSystem den vorgenannten Parametern entspricht und die internen ComplianceRichtlinien sowie die entsprechenden Prozesse geeignet sind, die Einhaltung der Compliance im Unternehmen zukünftig sicherzustellen.75

III.

Die sachkundige Stelle i. S.v. § 13 Abs. 2 VerSanG-E – eine sinnvolle Alternative zu Geldbußen gem. 30 Abs. 1 OWiG?

Die Frage, ob Compliance Monitorships eine sinnvolle Alternative zu staatlichen Sanktionen darstellen können, ist hochaktuell. So sah der im Juni 2021 (für diese Legislaturperiode) gescheiterte Regierungsentwurf zum Verbandssanktionengesetz (VerSanG-E) vom 16. 6. 2020 in § 9 VerSanG-E die Verhängung von Verbandsgeldsanktionen vor. Als mildere Alternative sollen Gerichte betroffene Unternehmen auch mit einem Verbandssanktionenvorbehalt gem. § 10 Abs. 1 VerSanG-E verwarnen können. Eine solche Verwarnung sollten Gerichte gegenüber Unternehmen insbesondere unter dem Vorbehalt der Erfüllung von Weisungen i. S.v. § 13 Abs. 2 VerSanG-E verhängen können. § 13 Abs. 2 VerSanG-E sah insofern die Möglichkeit der Errichtung einer sog. sachkundigen Stelle vor, die dem Unternehmen bescheinigen muss, dass die gerichtlich angeordneten Compliance-Maßnahmen erfolgreich umgesetzt wurden.76 Als sachkundige Stelle waren, abhängig von den jeweiligen Compliance-Weisungen i. S.v. § 13 Abs. 2 VerSanG-E, Rechtsanwaltskanzleien, Unternehmensberatungen und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften vorgesehen.77 Als bedenklich erwies sich insofern jedoch, dass der Re74 Vgl. auch Kort, Verhaltensstandardisierung durch Corporate Compliance, NZG 2008, 81, passim. 75 Schwarz, FCPA Compliance Monitorships – US-Marotte oder Flavor of the New Times? – Praktische Erfahrungen mit FCPA Compliance Monitorships, CCZ 2020, 59, 61. 76 Ott/Lüneborg, Das neue Verbandssanktionengesetz – Fragen und Auswirkungen für die Compliance Praxis, NZG 2019, 1361, 1362. 77 Ott/Lüneborg, Das neue Verbandssanktionengesetz – Fragen und Auswirkungen für die Compliance Praxis, NZG 2019, 1361, 1362.

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gierungsentwurf keine Mindeststandards für Compliance-Management-Systeme normierte, sondern den Gerichten insofern einen weiten Ermessensspielraum einräumen wollte. Auch wenn Compliance-Maßnahmen stets an den Anforderungen des jeweiligen Unternehmens ausgerichtet werden müssen, stellt sich die Frage, wie Gerichte zukünftig hätten festlegen sollen, welche Compliance-Maßnahmen erforderlich wären und dementsprechend von ihnen hätten angeordnet werden sollen. Abgesehen davon hätte auch der sachkundigen Stelle infolge dieses Versäumnisses des VerSanG-E ein Anknüpfungspunkt für ihre Compliance-Zertifizierung gefehlt. Vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoll, wenn sich der VerSanG-E an den konkreteren Compliance-Anforderungen des US Department of Justice orientiert hätte. Alternativ hätten auch international anerkannte Compliance-Standards als Anknüpfungspunkt für die Beurteilung von Compliance-Management-Systemen dienen können, die gemäß § 13 Abs. 2 VerSanG-E gerichtlich hätten angeordnet werden können. Auf diesem Weg hätte der Regierungsentwurf zweifelsohne zu mehr Rechtssicherheit beitragen.78 Abgesehen davon gab es jedoch auch weitere signifikante Abweichungen zwischen § 13 Abs. 2 VerSanG-E und US Compliance Monitorships. So sah § 10 Abs. 2 VerSanG-E eine Vorbehaltszeit der Verwarnung von bis zu fünf Jahren vor. Vor dem Hintergrund des schwerwiegenden Eingriffs in die unternehmerische Freiheit und der erheblichen finanziellen Auswirkungen, die aus der Errichtung einer sachkundigen Stelle gefolgt wären, hätte sich der VerSanG-E auch insofern an dem US-Vorbild orientieren sollen. Gleiches gilt für die konkreten Aufgaben der sachkundigen Stelle, die im VerSanG-E nicht normiert wurden. Des Weiteren hätte normiert werden sollen, wie oft dem Gericht von der sachkundigen Stelle Compliance-Bescheinigungen bzw. Compliance-Berichte vorlegt werden müssen. Der Regierungsentwurf sah insofern vor, dass die Gerichte die Anzahl der Compliance-Berichte nach freiem Ermessen hätten bestimmen können. Da dies jedoch zu unbilligen Ergebnissen hätte führen können, hätte sich der Gesetzgeber auch insofern an den Maßgaben des US Department of Justice orientieren sollen, das sich in halbjährlichen oder jährlichen Abständen Compliance-Berichte von dem Monitor vorlegen lässt. Darüber hinaus sah der Regierungsentwurf für Gerichte die Möglichkeit vor, die Errichtung von Compliance-Management-Systemen als Strafmilderungs-

78 Schweiger, Quo vadis Verbandssanktionenrecht? Eine Stellungnahme im Anschluss an die Äußerungen des Bundesrates und der Bundesregierung zum Regierungsentwurf eines Verbandssanktionengesetzes, ZIS 2021, 137, 142 m.w.N.; Ströhmann, Der Referentenentwurf des Verbandssanktionengesetzes – Anspruch und Wirklichkeit, ZIP 2020, 105, 108; Teicke, Gute Unternehmenspraxis für Internal Investigations – Praxistipps zur erfolgreichen Umsetzung unter Berücksichtigung des VerSanG-E, CCZ 2019, 298, 305.

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grund zu würdigen.79 Dieser Gedanke, der zuerst in den USA aufgekommen ist, wurde zwischenzeitlich auch vom Bundesgerichtshof aufgegriffen.80 Der Referenten-Entwurf orientierte sich auch insofern eindeutig am US-Unternehmensstrafrecht und dessen »System der Kooperation von Staat und Unternehmen«, in dem Compliance-Verbesserungen durch Anreize gefördert werden sollen.81 Zusammenfassend handelt es sich bei dem gescheiterten Regierungsentwurf und den mit diesem einhergehenden Entwicklungstendenzen um nicht weniger als eine Abkehr vom traditionellen in Deutschland vorherrschenden Strafrechtsverständnis des Subordinationsverhältnisses zwischen Staat und Privatem hin zu dem kooperativeren US-amerikanischen Sanktionsmodell.82 Dieser gewonnene Eindruck wird durch § 17 Abs. 1 VerSanG-E noch verstärkt. § 17 Abs. 1 VerSanG wollte die Strafmilderung des § 18 S. 1 VerSanG-E an eine erfolgreich durchgeführte »internal investigation« anknüpfen. Die Strafmilderung des § 18 S. 1 VerSanG-E hätte insofern erfordert, dass der Verband oder eine von ihm mandatierte Anwaltskanzlei oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaft wesentlich dazu beigetragen hätte, dass die Verbandstat und die Verbandsverantwortlichkeit hätte aufgeklärt werden können.83 Wären die §§ 17, 18 VerSanG-E in der Fassung des Regierungsentwurfs verabschiedet worden, hätte dies im Ergebnis nicht weniger als die Übertragung der Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaften auf private Unternehmen bedeutet, was einer faktischen Aufgabe des staatlichen Strafverfolgungsmonopols im Bereich von Unternehmensstraftaten 79 Lawall/Weitzell, Die Bekämpfung der Unternehmenskriminalität durch ein Verbandssanktionengesetz – Der Weisheit letzter Schluss?, NZWiSt 2020, 209, 210; Grützner/Behr, Effektives Compliance-Programm verhindert Bestrafung von Investmentbank wegen Verstößen gegen FCPA, CCZ 2013, 71, passim. 80 BGH-Entscheidung v. 9. 5. 2017–1 StR 265/16 – NJW 2017, 3798; Schulz/Block, Wirksames Compliance-Management – Anreize und Orientierungshilfen zur Vermeidung von (Verbands-) Sanktionen, CCZ 2020, 49, 50; Rotsch, Criminal Compliance, in: Achenbach/Ransiek/ Rönnau (Hrsg.), Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, 4. Aufl. 2015, S. 52, 71f. 81 Hierzu Rotsch, Criminal Compliance, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, 4. Aufl. 2015, S. 52, 71. Für diese Sichtweise spricht auch § 9 Abs. 2 VerSanG-E, der Sanktionen in Höhe von bis zu 10 % des durchschnittlichen Jahresumsatzes des Verbandes vorsieht. Das deutsche Sanktionsniveau würde sich hierdurch an dem extensiven Sanktionsniveau der USA orientieren, was aus guten Gründen abzulehnen ist. Exemplarisch zur berechtigten Kritik an § 9 Abs. 2 VerSanG-E bereits Schweiger, Quo vadis Verbandssanktionenrecht? Eine Stellungnahme im Anschluss an die Äußerungen des Bundesrates und der Bundesregierung zum Regierungsentwurf eines Verbandssanktionengesetzes, ZIS 2021, 137, 144 m.w.N. 82 Siehe bereits Taschke, Zur Entwicklung der Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen in der Bundesrepublik Deutschland, Teil 3 – Auf dem Weg zur Privatisierung der Strafverfolgung, NZWiSt 2012, 89, passim, zu dieser Entwicklungstendenz. 83 Schweiger, Quo vadis Verbandssanktionenrecht? Eine Stellungnahme im Anschluss an die Äußerungen des Bundesrates und der Bundesregierung zum Regierungsentwurf eines Verbandssanktionengesetzes, ZIS 2021, 137, 148.

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entsprochen hätte.84 Eine solche Entwicklung hätte sich auch nicht mit ökonomischen Erwägungen der Strafverfolgungsbehörden bzw. den geringeren Anforderungen der Einhaltung rechtlicher Standards bei »internal investigations« rechtfertigen lassen. Ungeachtet dessen hätte die avisierte Anordnung der Mandatierung einer sachkundigen Stelle i. S.v. § 13 Abs. 2 VerSanG-E jedoch auch als Ausdruck eines globalisierten Verständnisses von Criminal Compliance in Deutschland gesehen werden können, bei der global agierende Unternehmen in die Zukunft gerichtet zur Gesetzestreue angehalten werden sollen, um das Vertrauen der Kapitalmärkte in die Unternehmen zu stärken bzw. wiederherzustellen.85 Abgesehen davon sollte jedoch nicht verkannt werden, dass sich Unternehmen durch die aufoktroyierte »Kooperation« mit der Strafjustiz und der sachkundigen Stelle und ohne die Absicherung der prozessualen Garantien des Strafprozesses, auch Risiken ausgesetzt gesehen hätten. Aus diesem Grund sollte der Gesetzgeber die Auswahl, die Dauer der Tätigkeit, die Anforderungen an die Berichterstattung sowie eine Beschwerdemöglichkeit gegen Handlungsempfehlungen der sachkundigen Stelle im nächsten VerSanG-E festschreiben, wie es bei Compliance Monitorships üblich ist. Sollte der Gesetzgeber dieser Argumentationslinie zukünftig nicht folgen und den wiederum Gerichten einen Ermessenspielraum einräumen, wäre es zwingend erforderlich, dass die Gerichte in ihren Compliance-Weisungen die exakten Anforderungen an die Compliance-Maßnahmen festschreiben, um für die betroffenen Unternehmen eine rechtssichere Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Gleichwohl würde eine solche flexible Anordnungsmöglichkeit von Compliance-Weisungen, wie sie § 13 Abs. 2 VerSanG-E vorsah, stets die Gefahr bergen, dass die Gerichte zu offene und unpräzise Anordnungen treffen und die betroffenen Unternehmen sich hierdurch erheblichen Risiken ausgesetzt sehen würden. Trotz aller berechtigten Kritik an der Konzipierung der sachkundigen Stelle im gescheiterten VerSanG-E sollte jedoch nicht verkannt werden, dass ihre Errichtung für betroffene Unternehmen auch eine große Chance geboten hätte. So hätte die sachkundige Stelle einen Kulturwandel anstoßen und dazu beitragen können, Unternehmen wettbewerbsfähiger zu machen und einen Raum für vi84 Siehe exemplarisch zur völlig berechtigen Kritik Cordes/Wagner, Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft – Fundamentale Reform oder alter Wein in neuen Schläuchen?, NZWiSt 2020 215, 218; Knauer, Der Regierungsentwurf zur Einführung eines Gesetzes zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten – großer Wurf oder bittere Pille?, NStZ 2020, 441, 445, und Bittmann, Ein Aufschrei! – Zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, ZWH 2020, 157, 160. 85 Siehe Schünemann, Das Strafrecht im Zeichen der Globalisierung, GA 2003, 299, passim, und Meder, Doppelte Körper im Recht, Traditionen des Pluralismus zwischen staatlicher Einheit und transnationaler Vielfalt, 2015, S. 249.

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sionäre Unternehmensstrategien zu öffnen. Gleichzeitig hätte es sich bei der Compliance-Weisung, eine sachkundige Stelle einzurichten, im Gegensatz zu der Festsetzung eines Bußgeldes i. S.v. § 30 Abs. 1 OWiG, um eine Maßnahme gehandelt, von dem betroffene Unternehmen langfristig sogar wirtschaftlich hätten profitieren können. Diese Sichtweise folgt aus der Erwägung, dass der Wert von Unternehmen zukünftig noch stärker durch Faktoren wie gute ComplianceStrukturen mitbestimmt werden wird.86 Entscheidend für den Erfolg oder den Misserfolg einer sachkundigen Stelle, die in einem zukünftigen Verbandssanktionengesetz mit großer Sicherheit wiederum vorgesehen sein dürfte, wird am Ende jedoch sein, ob es dem Gesetzgeber gelingt, eine rechtssichere Grundlage für das deutsche Monitorship zu schaffen, wobei die Maßgaben des US Department of Justice für Compliance Monitorships als Bezugsgröße dienen sollten. Sofern dies gelingt, könnte sich die Einsetzung einer sachkundigen Stelle, wie sie § 13 Abs. 2 VerSanG-E vorgesehen hatte, aus den vorgenannten Gründen zu einer sinnvollen Alternative zu Bußgeldern i. S.v. § 30 Abs. 1 OWiG entwickeln.

IV.

Fazit

Abschließend bleibt festzuhalten, dass es sich bei US Compliance Monitorships bzw. sachkundigen Stellen i. S.d. vorerst gescheiterten § 13 Abs. 2 VerSanG-E um Systeme staatlich regulierter Selbstregulierung handelt. So wird ein Compliance Monitorship stets infolge eines Vergleichs zwischen der Strafverfolgungsbehörde und einem Unternehmen innerhalb eines bestehenden rechtlichen Rahmens vereinbart. Die Anpassung der Compliance-Strukturen infolge des »Settlements« obliegt jedoch ausschließlich dem Unternehmen und nicht der Strafverfolgungsbehörde. Auch die Compliance-Weisung i. S.v. § 13 Abs. 2 VerSanG-E sah vor, dass Unternehmen ihre Compliance-Strukturen mithilfe einer sachkundigen Stelle effizienter ausgestalten sollen, was zu begrüßen gewesen wäre. Die sachkundige Stelle hätte dem Unternehmen jedoch wie der US-Monitor nur Handlungsempfehlungen erteilt und deren Umsetzung dem Unternehmen überlassen. Die Möglichkeit der Einrichtung einer sachkundigen Stelle hätte sich mithin stark am Compliance Monitorship orientiert, wenngleich § 13 Abs. 2 VerSanG-E Unternehmen nicht dieselbe Rechtssicherheit geboten hätte, wie die entsprechenden Maßgaben des US Department of Justice. Aus diesem Grund wäre es 86 Meder, Doppelte Körper im Recht, Traditionen des Pluralismus zwischen staatlicher Einheit und transnationaler Vielfalt, 2015, S. 249; Andres/Betzer/Daumet/Limbach, Auswirkungen guter Corporate Governance auf den Unternehmenswert, 2013, S. 92, passim; Rotsch, Criminal Compliance, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, Handbuch des Wirtschaftsstrafrechts, 4. Aufl. 2015, S. 52, 63.

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wünschenswert, wenn sich eine zukünftige sachkundige Stelle in einem angepassten VerSanG-E hinsichtlich der rechtlichen Anforderungen ihrer Errichtung noch stärker an seinem US-Vorbild orientieren würde. Ob dies geschehen wird, bleibt vorerst abzuwarten.

Autorenverzeichnis

Dirk Baecker, Dr. rer. soc., Seniorprofessor für Soziologie und Management an der Universität Witten/Herdecke Susanne Beck, Dr. iur., Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung und Rechtsphilosophie an der Leibniz Universität Hannover Petra Buck-Heeb, Dr. iur., Professorin für Zivilrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Leibniz Universität Hannover Alexander Djazayeri, Dr. iur., Syndikusrechtsanwalt bei HDI Global SE, Hannover Claudia Kurkin, Dr. iur., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Recht der Brunswick European Law School (BELS) Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften; Gastdozentin an der Law School der Symbiosis International University Pune (Indien); Wissenschaftliche Mitarbeit am Lehrstuhl für Zivilrecht und Rechtsgeschichte der Juristischen Fakultät der Universität Hannover Stephan Meder, Dr. iur., Professor für Zivilrecht und Rechtsgeschichte an der Leibniz Universität Hannover Maximilian Nussbaum, Dipl. Jur., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung und Rechtsphilosophie von Frau Professorin Susanne Beck an der Leibniz Universität Hannover Roland Schwarze, Dr. iur., Professor für Zivilrecht, Arbeitsrecht und Zivilprozessrecht an der Leibniz Universität Hannover

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Autorenverzeichnis

Christoph Sorge, Dr. iur., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zivilrecht und Rechtsgeschichte von Herrn Professor Stephan Meder an der Leibniz Universität Hannover Georgia Stefanopoulou, Dr. iur., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kriminalwissenschaftlichen Institut der Leibniz Universität Hannover und am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung und Rechtsphilosophie von Frau Professorin Susanne Beck an der Leibniz Universität Hannover Malte Wilke, Dr. iur., LL.M. (Aberdeen), Syndikusrechtsanwalt in der Konzernrechtsabteilung der Volkswagen AG; Lehrbeauftragter an der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover Klaus Vieweg, Dr. iur. Professor em. für Bürgerliches Recht, Rechtsinformatik, Technik- und Wirtschaftsrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg

Sachregister

Arbeitsrecht 52, 123f., 127, 129, 143f., 147, 227 Betriebsautonomie 141

123, 126, 129f., 137,

Code Napoléon 150–153, 156, 158f., 164f., 173f. Code of Conduct (GDV) 83–87 Compliance-Management-System 205f., 208, 217, 219, 221 Compliance Monitorship 205–207, 209f., 214–221, 223f. Compliance-Weisungen 220, 223 Comply-or-explain-Mechanismus 60f., 65, 74 consuetudo-Modell 150f., 169, 171f. Corporate Compliance 52, 205, 209, 219f. Corporate Governance 59, 62–64, 66, 69, 73, 224 Deferred Prosecution Agreement 207– 209, 211f. Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK) 59–69, 71–74 Doping 191, 199–201 Dysfunktion der Vertragsautonomie (Arbeitsrecht) 123, 132f. Entsprechenserklärung

61, 67f., 72, 74

Gemeinschaftsstandards 35f., 39–46, 48– 51, 53, 55–57

Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) 76f., 81f., 84f., 91 Gleichbehandlung 182 Haftung (Sportrecht) 196–198 Human Condition 14–21, 25f., 29, 33 Immissionsschutz (Sportrecht) 191, 202 ius commune 150f., 155, 157, 159, 165 Kodifikation 111f., 151, 153, 156–158, 165f., 173, 180 Konventionstheorien 170 Kooperations-Design 36, 54–57 Managementphilosophie 10f., 26 Manifest für Agile Softwareentwicklung 9f., 29 Menschenrechtsschutz 182, 188 Nachhaltigkeit 99–101, 103, 106, 116f., 119 Netzwerkdurchsetzungsgesetz 36, 41–46, 49f., 53, 55–58 Non-Prosecution Agreement 207–209, 211–213, 216, 218 Nord-Süd-Konflikt 183 Parsons’ AGIL-Schema 9, 13, 16, 18, 20f., 23–26, 30f., 33 Plea Agreement 207–210, 212, 218 presumption against extraterritoriality 99, 113f., 117, 119, 122

230 Principles of Reinsurance Contract Law (PRICL) 2019 90 Rechtsetzung außerhalb des Staates 97f., 100, 103, 109 Rechtskultur 166–168, 175, 208 Regel und Ausnahme 116, 119 Regierungsentwurf zum Verbandssanktionengesetz 220 Resozialisierung 178, 184f., 188 Rückversicherungswirtschaft 75, 91 Sachkundige Stelle 220f., 223–225 Schiedsverfahren 75, 93–95 Selbstbestimmung 85, 124–129, 136f. Selbstregulierung 7, 35, 41, 43, 55, 57, 59f., 63–67, 70–80, 84, 87, 91, 96f., 99f., 109, 121, 123–130, 132, 134–147, 192, 195, 198, 205, 224 Soziale Netzwerke 35f., 39–44, 46, 48, 50, 53, 55–57 Sportrecht 191–193, 196–198, 203 Sportverband 192, 195–201, 203 Sprachpraxis 170 Staatsfreiheit 123–125, 128f.

Sachregister

Strafrecht 35f., 46, 48, 51, 56f., 160, 178– 180, 188, 223, 227f. Sustainable Development Goals 98, 100, 117–122 Tarifautonomie 123, 126, 128–130, 134, 137, 140f. Technische Normen 35–39, 41, 46f., 51, 54, 58, 191 Unilateralismus 106 US Department of Justice 206–219, 221, 224 US-Monitor 206, 211, 215f., 219f., 224 US-Unternehmensstrafrecht 205, 222 Verbandsautonomie 124, 192f., 195, 203 Verbandsrecht 79, 194 Vergleichsvereinbarung 206, 215f., 218 Verhaltenskodex des GDV 80–82 Verrechtlichung 68, 96, 123 Versicherungswirtschaft 75, 77–81, 83–86, 91, 96 völkerstrafrechtliches Strafvollzugsrecht 186