Jean Pauls Dichtung im Lichte unserer nationalen Entwicklung: In Stück deutscher Kulturgeschichte [Reprint 2018 ed.] 9783111481227, 9783111114378


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German Pages 195 [196] Year 1867

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
I. Grundcharakter Jean Paul’s
II. Jean Paul’s dichterischer Entwicklungsgang
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Jean Pauls Dichtung im Lichte unserer nationalen Entwicklung: In Stück deutscher Kulturgeschichte [Reprint 2018 ed.]
 9783111481227, 9783111114378

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Jean Paul s Dichtung im

Lichte unserer nationalen Entwicklung.

Ein Stuck deutscher Kulturgeschichte.

Von

ft. Ck. Planck.

ptr lin Druck uns Verlag von Georg Reimer.

1867.

Vorwor t.

vtoch immer fehlt es an einer solchen Einführung in Jean Paulas Dichtungen, wie sie doch für das allge­ meinere Verständniß derselben und für die volle Würdigung ihrer eigenthümlichen Bedeutung durchaus nothwendig ist. Denn kein Dichter jener Blüthezeit unserer Literatur be­ darf so sehr einer derartigen Einführung, und bei keinem fehlt es noch so an dem einfachen geschichtlichen Gesichts­ punkt, welcher alle die entgegengesetzten und scheinbar so seltsamen Eigenthümlichteiten dieses Geistes nicht nur aus einer Wurzel begreifen lehrt, Jean Paul

erst

als

sondern auch

den ganzen

einen natürlichen und

wesentlichen

Ausdruck seiner Zeit, als einen scharfen und treuen Spie­ gel der damaligen deutschen Entwicklung erkennen läßt.

Was

zu diesem Zwecke an biographischen Kommentaren vorhan­ den ist, wie namentlich das jetzt schon ziemlich alte Werk von O. Spazier, ist theils zu umfangreich, theils der Form nach zu schwerfällig und ungenießbar, theils in seiner ge­ schichtlichen Auffassung für die Gegenwart nicht mehr zu­ reichend.

Auch die allgemeinere literaturgeschichtliche Wür-

IV

Vorwort.

digung und Auffassung Jean Paul's ist bis jetzt sehr man­ gelhaft; und namentlich können Hauptwerke, wie das von Gervinus, und das so verdienstvolle und gediegene Werk von Koberstein, nicht genügen. Bemerkt doch der erstere nicht umsonst gleich zu Eingang seiner Darstellung, daß bei Jean Paul „in den meisten Fällen der Versuch mißlinge, in die heterogenen Theile den bindenden elektrischen Funken hineinzuschlagen, zu dem vielseitigen Charakter den sprin­ genden Punkt zu finden." Und so Treffendes dann auch über die verschiedenen Seiten Jean Paul's gesagt wird, so sehr fehlt es doch an der einfach natürlichen Erklärung seines ganzen Wesens aus dem innern Gegensatze und Kon­ traste, in welchen das ganze damalige deutsche Leben aus­ einanderfiel. Ist es nun auch gewiß, daß das Bedürfniß einer der­ artig erklärenden Einführung mit den großen Mängeln Jean Paul's zusammenhängt, so gewinnt doch sicherlich seine Dichtung ein ganz anderes Interesse, sobald man den eigenthümlichen Kern seines Wesens und dessen natürlichen Zusammenhang mit seiner Zeit erfaßt hat. Dann erst sieht man, welch' wesentliches und ewig denkwürdiges Abbild deutschen Lebens und deutscher Geistesgeschichte in Jean Paul sich darstellt. In dieser Hinsicht ist nun aber beson­ ders der Entwicklungsgang Jean Paul's noch ganz un­ genügend gewürdigt. Wenn Gervinus sagt, Jean Paul's Schriften „bieten einen solchen geschichtlichen Fortgang, solche Perioden der Bildung, wie wir sie bei Goethe und

Vor w o r t.

v

Schiller in aller Schärfe getrennt sehen, gar nicht dar," so zeigt ein solches Urtheil, (das anch noch Koberstein theilt), daß man die wirkliche Entwicklung Jean Paul's noch gar nicht kennt.

Richtig ist daran nur soviel, daß bei dem so

auffallenden und so einseitig ausgeprägten Grundcharakter Jean Paul's der große und tiefe Unterschied seiner Ent­ wicklungsstufen nicht so leicht bemerklich wird, wie bei an­ deren Dichtern. welche

Allein nur um so mehr galt es zu zeigen,

bedeutungsvolle und reiche Entwicklungsphasen, in

denen sich seine Anschauungsweise zum Theil geradezu um­ kehrt, auch Jean Paul durchgemacht hat, und wie hiemit erst der ganze Reichthum dieses Geistes sich würdigen laßt. Die Hauptsache jedoch, und das, was gerade für die jetzige Zeit sein eigenthümliches Interesse hat, ist der Nachweis, welche schlagende und unvergängliche Typen deut­ scher Entwicklungsgeschichte und Bestimmung Jean Paul in verschiedenen seiner Hauptwerke gegeben hat, ja wie seine eigene Entwicklung

in vorbildlicher Weise

auf die seiner

Nation hinweist, auf den Fortgang aus idealistischer und unreif jugendlicher Schwäche zur männlich nüchternen und kräftigen Gestaltung des eigenen Daseins, zur Versöhnung jenes scharfen Kontrastes, der so lauge zwischen dem inner­ lich geistigen Reichthum deutschen Lebens und seiner natio­ nalen Schwäche und Unmacht bestanden hat. Schließlich bemerkt der Verfasser nur noch, daß er sei­ nem ganzen Zwecke zufolge weder eine vollständige Ueber­ sicht über Jean Paul's schriftstellerische Thätigkeit, (also

auch diejenige, die mehr in das Politische hinübergreift), noch auch eine durchgeführte ästhetische Beurtheilung geben wollte, soweit diese nicht in der erklärenden Charakteristik von selbst mitenthalten ist. Aus dem gleichen Grunde ist auch das Biographische nur soweit beigezogen, als es für die Erklärung des geistigen Entwicklungsganges und der einzelnen Dichtungen selbst nothwendig war. Für das Biographische als solches ist ja durch anderweitige Werke schon genügend gesorgt.

Inhaltsübersicht

Jean Paul nach seinem Gesammtcharakter. — S. 1. Er bildet den inneren Contrast des damaligen deutschen Le­ bens ab. — S. 1. a) Er schildert wie keiner das Kleine und Klägliche der da­ maligen bürgerlichen und politischen Zustände. — S. 4. b) Centra st derselben mit der gleichzeitigen Idealwelt, und die Form, welche diese bei Jean Paul erhält. — S. 6. Die universalistisch gelehrte Form

seines Humors und seine

Bilderhatz. — S. 10. Fortwährender Wechset zwischen entgegengesetzten Extremen, dem Universellen und dem kleinlich Beschränkten. — S. 14. Unvermögen zur Darstellung größerer geschichtlicher Gestalten. — S. 17. Phantastische Elemente bei Jean Paul. — S. 19. Seine Naturschw ä r m erei. — S. 22. Eigenthümliche Berührung mit der weiblichen Natur und un­ mittelbar persönliche Richtung seiner Denk- und Gefühls­ weise. — S. 23. Bedeutung der Kindheitserinnernnge n bei ihm. — S. 26.

Inhaltsübersicht. Jean Paul's dichterischer Entwicklungsgang.

Seine Jugend-

verhältnisse. — S. 29. a) Seine rein satirische (oder herb realistische) Periode. —S. 35. Die Grönländischen Processe.

Die Auswahl aus des Teu­

fels Papieren. b) Die humoristisch-sentimentale Periode (oder Uebergewicht des schmerzlichen Contrastes). — S. 43. Uebergang hiezu; der „Florian Fälbel" u. s. w.; das „Schulm ei st erlein Wutz," als erste humoristische Idylle. — S. 45. Die unsichtbare Loge als der erste sentimentale Roman. — S. 53. Der Hesperus

als Weiterbildung der unsichtbaren Loge. —

S. 62. Quintus Fixlein als Weiterbildung des Wutz. — S. 73. Die „biographischen Belustigungen" als eine Vorstudie. — S. 74. Der Siebenkäs als Schlußstein der schmerzlich-sentimentalen Periode. — S. 76. Abermalige Uebergangszeit: die Weimarer Reise; inneres Ver­ hältniß Jean Paul's zu Goethe und Schiller.

Herder;

die

Titaniden. — S. 80. Zwischenschöpfungen. tus Fixlein.

Holzschnitte. Lebenslauf."

Die Vorrede zur zweiten Auflage des Ouin-

Jubel senior.

Das Kampauerthal und die

Palingeuesieen; „Briefe und bevorstehender

- S. 90.

c) Die hoch pathetische Periode (Streben nach praktischer Ueberwindung des Contrastes). — S. 95. Der Titan und sein Gruudcharaktcr; Anknüpfung an das An­ tike und dessen Größe;

einseitig idealer und jünglingshafter

' Drang des Helden. — S. 95. Unterordnung des humoristischen Elements, Schoppe. — S. 103.

Inhaltsübersicht.

ix

Die andern Charaktere: Roquairol; Gaspard; die drei Heldinnen, und Linda's Schicksal insbesondere. („Das heimliche Klagelied der jetzigen Männer.") — S. 106. Heterogene Elemente deß Titan; vergleichender Hinblick auf Goethe (Hermann und Dorothea). — S. 111. Der komische Anhang zum Titan. — S. 115. d) Periode der bewußten Reife oder der heiter humoristi­ schen Ueberwindung des Contrastes. — S. 118. «) Negative Ueberwindung desselben durch bewußte Her­ vorkehrung seines innern Grundes und schließlichen Zie­ les.

Die Flegeljahre. — S. 118.

In den Flegeljahren erst tritt das Bewußtsein des inneren Grundfehlers, nämlich der unpraktisch idealistischen Schwäche hervor, sowie der schließlichen nüchtern praktischen Bestimmung.

Allgemein symbolische Bedeutung der Flegel­

jahre für die deutsche Entwicklung; Gegensatz zum Titan. — S. 118. Warum die Flegeljahre unvollendet bleiben mußten. — S. 126. Walt und Bult nach ihrer Eigenthümlichkeit. — S. 127. Die Flegeljahre als eine negative Ergänzung zu Wilhelm Mei­ ster und Faust. — S. 134. Die Vorschule zur Aesthetik und die Levana. — S. 137.

ß) Vorläufige positive Versöhnung des Kontrastes im ko­ mischen Subjekt und dessen Glück.

Periode des ver­

söhnten rein komischen Realismus. — S. 142. Innere Nothwendigkeit dieser letzten Periode; Fibel als erster Typus derselben. — S. 142. Katzenbergers Badereise; der Feldprediger Schmelzte u.A. — S. 147. Der Komet (oder Nikol. Marggraf) und seine ausgesprochenere Analogie mit dem Don Quixote. — S. 153. flaues, Scan Puul's Dichtung.

*

x

Inhaltsübersicht. Uebersicht der Gesammtentwicklung I. Panl's. — S. 159. Sein Verhältniß zur romantischen Schule. — S. 164. Nochmalige Vergleichung mit Goethe und Schiller. — S. 170. Jean Paul in seinem Verhältniß zur deutschen Gesammtentwick­ lung; der Grund ihrer idealistischen Schwäche, das Streben der Gegenwart und das schließliche Ziel. — S. 174.

I.

Grundcharakter Jean Paulas. OVeitt Dichter aus unserer verflossenen großen Literaturperiode scheint der Denk- und Gefühlsweise unserer Gegenwart ferner zu stehen, als Jean Paul. Denn alles das, was uns jetzt an diesem Dichter so auffällig scheint, diese verschwommene Gefühlsseligkeit, dieß formlose Schwärmen in einer idealen Phan­ tasiewelt, diese mit Bildern überladene oder überstiegen pathetische Sprache, und wiederum die ordnungslose Mischung dieser Ele­ mente mit den wunderlichen Einfällen und Abschweifungen eines oft künstlichen und universalistisch gelehrten Humors, — alles dieß zusammen scheint nicht anders als abstoßend wirken zu können auf eine so nüchtern praktische Zeit, wie die unsrige, die ganz mit den speciellen Aufgaben des bürgerlichen und natio­ nalen Lebens beschäftigt, auch in Wissenschaft und Dichtung möglichst auf das Reelle hingerichtet ist. Und dennoch ist es ebenso gewiß, daß gerade diejenige Denk- und Anschauungsweise, mit der wir heute auf jene Periode zurückblicken, nirgends eine so entsprechende Anknüpfung, nirgends eine so unmittelbare und ausdrückliche Bekräftigung findet, als eben bei Jean Paul! Was ist es denn, das wir an jener Glanzzeit unserer Literatur zu vermissen und auszusetzen haben, als daß sie in ihrer idea­ len Geistesthätigkeit, in ihren noch allgemein menschlichen und Planck, Jean Paul's Tlck'tnng.

1

2

I. Paul's Berührung mit d. jetzigen Zeitbewußtsein.

wellbürgerlichen Ideen und Bestrebungen, die bürgerlichen und nationalen Zustände noch in ihrer ganzen Kläglichkeit ließ, daß sie in schneidendem Gegensatze zu der Dumpfheit und kleinlichen. Beschränktheit der äußeren Verhältnisse nur von ihrem inneren Geistesreichthum zehrte, „thatenarm und gedankenvoll?"

Nun,

und eben dieser Kontrast der hohen und idealen Welt, die sich der deutsche Geist damals aufbaute, gegen all' daS kleinlich Dumpfe und Verkümmerte seiner

äußeren Zustände,

dieß ist auch der innerste Kern und Ursprung der Jean Paul'schen Dichtung und Anschauungsweise.

Auch sie ist

nichts als die in der mannigfachsten Weise wiederkehrende dich­ terische Darstellung jenes Kontrastes, in welchen das damalige deutsche Leben auseinanderfiel.

Der ganze Unterschied von un­

serer heutigen Anschauungsweise ist der, daß Jean Paul bei allem Gefühl und Bewußtsein jenes Kontrastes doch selbst noch in demselben gefangen blieb, ihn also nur in der schärfsten Weise vor Augen stellte, während unsere Zeit viel­ mehr eben damit beschäftigt ist, das, was jene frühere unterließ, auf dem Felde bürgerlicher und nationaler Thätigkeit, wie auf dem der realn Wiffenschaften hereinzuholen, und so jenes kläg­ liche Mlßverhältniß aufzuheben, das zwischen der Fülle univer­ seller geistiger Bildung und andererseits der bürgerlichen und politischen Schwäche und Dürftigkeit unserer Nation bestand. Wir haben hiermit sogleich den einfachen und ganz natür­ lichen Ursprung in das Auge gefaßt, aus welchem eine scheinbar so seltsame und wunderliche Erscheinung, wie die Jean Paul'sche Dichtung, von selbst sich erklärt, und durch welchen sie gerade für unsere Zeit ihr besonderes Interesse erhält.

Denn eben an

diesem einfachen und aufklärenden Gesichtspunkte, von welchem aus alle die verschiedenen Seiten in Jean Paul's Wesen sich

I. Paul als Ausdruck seiner Zeit.

erschließen,

schien es uns in der bisherigen Auffassung

Würdigung Jean Paul's zu fehlen.

3 und

Nur eine Zeit, wie die

damalige, in welcher der deutsche Geist vor Allem in Kunst und Wiffenschaft einen solchen Reichthum idealer, rein menschlicher und wellbürgerlicher Thätigkeit aus sich erzeugte, und doch po­ litisch in einen Trümmerhaufen unmächtiger Kleinstaaten zerrissen und in der ganzen Dumpfheit und Unfreiheit einer verkommenen kleinbürgerlichen Existenz gefangen war, konnte auch eine Dich­ tung hervorbringen, die so, wie die Jean Panische, überall, in ihrem schwärmenden Gefühls- und Phantasieleben, wie in all' den Wunderlichkeiten und Sprüngen ihres satirischen Hu­ mors, oder in ihrer derb realistischen Komik, von dem Kontraste jener beiden einander so scharf entgegengesetzten, und doch so unmittelbar neben einander vorhandenen und innerlich zusammen­ hängenden Welten zehrt. Hiebei ist also das Eigenthümliche Jean Paul's eben das, daß er nicht, wie Andere, und wie vor allem die Heroen unserer Dichtung, Goethe und Schiller, ganz in jener Welt der idealen Schöpfungen und Z'ele lebte, sondern daß er nirgends über dieser Seite die umgebende unmittelbare Wirklichkeit und den Gegensatz zu ihr vergessen kann, eben aus diesem Gegensatze den ganzen Inhalt seiner Dichtung entnimmt.

So

ist er die nothwendige Ergänzung zu der übrigen rein dichte­ rischen oder philosophisch schaffenden Thätigkeit jener Zeit; er ist so zu

sagen ein

treuer unbestechlicher Spiegel dessen,

was sie nach der äußeren Wirklichkeit, nach ihrem realen Dasein war.

Und nur deßhalb, weil in Jean. Paul dieß Ge­

fühl und Bewußtsein der umgebenden realen Zustände am schärfsten lebte, ist er auch zugleich der einseitigste Idea­ list unter den damaligen Dichtern.

An jener äußeren Armuth

4

I. Paul's bürgerliche u. häusliche Kleinmalerei.

schärft sich um so mehr das ideale Sehnen und Streben, und der schwärmende Enthusiast, wieder satirisch zersetzende Humorist, die in Jean Paul in so wunderlicher Weise verbunden sind, zeigen nur die entgegengesetzten Seiten eines und dessel­ ben Kontrastes.

Dieß haben wir jetzt zunächst an den her­

vorstechenden Eigenthümlichkeiten der Jean Panischen Muse über­ haupt nachzuweisen und zu verdeutlichen, um dann erst auch in dem ganzen Entwicklungsgänge des Dichters und seinen einzel­ nen Werken, so wie in seinem persönlichen Wesen, soweit es hiefür in Betracht kommt, die bestimmtere Bestätigung von dem allem zu finden. Die sämmtlichen Hauptdichtungen Jean Paul's, der Titan ebenso, wie die Flegeljahre, oder der Siebenkäs, der Hesperus, die unsichtbare Loge (dieser Erstlingsroman), der Quintus Fix­ lein u. s. w., alle wählen sich bekanntlich zu ihrem Schauplatze recht ausdrücklich die kleinen und dumpfen Zustände des dama­ ligen Deutschlands.

Es ist der ganze Jammer des Duodez­

staatenthums, seine Lächerlichkeit, wie seine Kläglichkeit, was in diesen „Scheerau, Flachsenfingen, Haar-Haar, Kuhschnappel" u. dgl. uns vorgeführt wird, von den blastrten und verwelkten Fürsten an, die eine so stehende Figur bilden, und an deren erneuerungsbedürftigen Stamm der Dichter so gern die Maschi­ nerie seiner Romane knüpft, sowie den entsprechenden übrigen Höflingsfiguren, bis zu den ebenso verkrümmten und verkomme­ nen Würdenträgern

der Reichsstädte

und Reichsmarktflecken,

einem „Heimlicher von Blaise, Venner Rosa" und andern, und bis herab auf die Kuhschnappelschen Stadtsoldaten und Schützen­ feste.

Mitten in diese kleinliche Welt mit all' ihren einengenden

Ecken und Winkeln werden dann im schärfsten Kontraste jene von einer idealen Welt erfüllten Helden und Heldinnen hinein-

Bürgerliche u. häusliche Kleinmalerei.

5

versetzt, deren schwärmendes Gefühls- und Phantasieleben den eigentlichen Kern dieser Dichtungen bildet. u.

A.

So Albano, Liane

im Titan, Walt und Wina in den Flegeljahren, Viktor,

Emanuel und Klotilde

im Hesperus, Gustav, Ottomar

Beate in der unsichtbaren Loge u. s. w

und

Kurz jene Gegensätze

werden in derselben Schärfe unmittelbar neben einander gestellt, in welcher sie auch im damaligen Leben der Nation selbst vor­ handen waren, als Gegensatz all' deö dichterischen, kritischen und philosophischen Schaffens und einer hievon erfüllten Geistes­ welt, und andererseits der kleinlichen politischen und bürgerlichen Zersplitterung, Eingeengtheit und Unfreiheit.

Wie eben das

Idealistische der deutschen Entwickelungsgeschichte an dieser Zer­ splitterung und Kläglichkeit die Schuld trug, so schärft und be­ stärkt sich wiederum an dem Unbefriedigenden dieser äußeren Umgebung jenes ideale Gefühlsleben mit seiner Sehnsucht und Wehmuth.

Zugleich aber wird der Kontrast dieser so entgegen­

gesetzten Welten zur fortwährenden Quelle deö halb lachen­ den, halb weinenden

Humors.

Und ebenso

erscheinen

zufolge jenes Gegensatzes die Zustände und Personen dieser um­ gebenden wirklichen Welt in desto schärferem satirischem und komischem Lichte. Nicht weniger aber liebt es Jean Paul bekanntlich, das Enge und Kleine der deutschen Häuslichkeit, das ja mit jenen bürgerlichen und politischen Zuständen der Nation unmittel­ bar zusammenhieng,

uns vorzuführen und auszumalen, theils

nach ihrem ironischen Kontraste mit jener hoch idealen oder weltbürgerlich gelehrten Geistesthätigkeit, die in diesen dürftigen vier Wänden eingeschlossen ist, theils ebenso nach dem positi­ ven inneren Zusammenhange beider Seiten, sofern ja eben jene Innerlichkeit und Idealität, und ihre Abkehrung von der

ß

Kleinwelt deutschen Schriftstellerthums.

praktisch bürgerlichen Aufgabe und Erwerbsthätigkeit, der Grund jener äußeren Armseligkeit ist.

In Siebenkäsens Wirthschaft

mit seiner Lenette vor Allem, von den bescheidenen Herrlichkeiten ihres Hochzeitmahles an bis zu dem nothgedrungenen heimlichen Attentate auf den Zinnvorrath und die geblümte Garderobe seiner Frau, oder den Konflikten seiner satirisch-schriftstellernden Kopsthätigkeit mit ihren nie ruhenden, auf Putzen und Waschen Hingerichteten Haushaltungstrieben, — in diesem fort­ währenden und unmittelbaren Zusammenstoße einer wuchernden Idealwelt mit all' den Nöthen und Störungen einer eng zu­ sammengepackten Häuslichkeit, hat Jean Paul's Humor gewiß das sprechendste und treueste Bild von den Zuständen deutschen Ge­ lehrten- und Schriftstellerthums gegeben. — Aber auch in all' den kleinen und verzückten Freuden seines Quintus Fixlein, in dem vergnügten Stillleben seines „Schulmeisterlein Wutz," in einzelnen Schilderungen aus dem Hesperus, den Flegeljahren und andern, oder in dem „Leben Fibels," ist es überall wieder dieselbe, gerade in ihrer Dürftigkeit und Kleinheit anheimelnde deutsche Häuslichkeit, welche das, was ihr an äußerer Fülle mangelt, aus ihrem innerlichen Reichthum, sei es nun univer­ salistisch gelehrter Bildung, oder einer ven Gefühl und Phan­ tasie zehrenden Idealwelt,

ersetzen muß.

Nur erscheint das

Enge und Kleine dieser Umgebung das eine Mal mehr im Lichte eines idyllisch versöhnten und verklärten Humors (wie im Quin­ tus Fixlein und Schulmeisterlein Wutz), das andere Mal mehr nach seinem schmerzlich scharfen oder satirisch humoristischen Kon­ traste, wie denn von dieser verschiedenartigen Behandlung im Späteren noch genauer die Rede sein wird. Der Art nun, wie Jean Paul jene äußeren Zustände auf­ faßt und aus ihnen den Schauplatz seiner Dichtung entnimmt,

I. Paul's Gefühls- u. Phantasiewelt.

7

entspricht auch umgekehrt der ideale Inhalt derselben, wie er ror allem in den Helden und Heldinnen des Dichters sich aus­ spricht.

Auch dieser ist in seiner Eigenthümlichkeit und Färbung

ganz bedingt durch den negativen Gegensatz gegen das Drückende und Kleinliche der äußeren Zustände.

Demgemäß

besteht die innerste Grundstimmung und Grundanschauung des Dichters (nach ihrer ernsten Seite) in dem negativen Hin­ wegstreben aus dieser einengenden äußeren Welt, in einer Flucht aus derselben und Hinwendung zu einer jenseitigen Welt des sehnsüchtigen Gefühls und der Phantasie. Dieß am vollständigsten da, wo diese Gefühlsweise in das Re­ ligiöse hinübergeht und auf eine rein jenseitige Welt sich hin­ richtet, in welcher überhaupt die Endlichkeit und all' das Drückende dieser gegenwärtigen abgestreift sein soll.

Und daher die große

Bedeutung, welche bei Jean Paul bekanntermaßen die Unsterb­ lichkeit und alles damit Verwandte einnimmt, wie ja einzelne seiner Schriften ausdrücklich diesem Gegenstände gewidmet sind. Aber auch da, wo jene Idealwelt einen von der Wirklichkeit weniger abgewandten, politischen und auf bürgerliche Große und Freiheit hingerichteten Inhalt hat, auch da bleibt sie doch im Ganzen eine gegen die Wirklichkeit einseitig negative Welt des bloßen Gefühles und der Phantasie. Und damit hängt von selbst auch das Ueberstiegene und so zu sagen einseitig Jüng­ lingshafte in Jean Paul's Sprache und Darstellungsform zusammen.

Denn der Gegensatz einer bloß idealistischen Ge­

fühls- und Phantasiewelt gegen die nüchterne Wirklichkeit ist ja etwas specifisch Jünglingshaftes. Hauptmangel

Und hiemit ist denn Der

in Jean Paul's Eigenthümlichkeit

Hauptschwäche seiner Dichtung

ausgesprochen.

und die

Denn nicht,

wie wir es erwarten würden, die positive Umgestaltung jener

8

Unterschied von Goethe u. Schiller.

kläglichen äußeren Zustände, nicht die unmittelbar gegenwär­ tige rein menschliche und bürgerliche Bestimmung ist es also, was Jean Paul's Dichtung als ihr erstes und beherrschendes Ziel vor Augen hat, sondern indem sie sich noch einseitig im innerlichen Gegensatz gegen jene ärmliche und drückende Wirk­ lichkeit bewegt, so wird ihr Ziel mehr oder weniger ein verschwimmendes

und

formloses

Jenseits.

Das

Ziel

Göthe's und Schillers dagegen war, (wenn auch bei beiden von entgegengesetztem Ausgangspunkte aus), das rein Menschliche und die wahrhafte Natur, als dasjenige, was in seiner vollen unverkümmertcn Erscheinung

auch das wahrhaft

Schöne ist.

Es war also ein wahrhaft Gegenwärtiges, Diesseitiges, wenn auch in den gegebenen Zuständen noch nicht Vorhandenes, was sie anstrebten und als ein künftiges Kulturziel vor Augen hatten, und dem gemäß sind Stoff und Charakter ihrer Dichtung.

Jean

Paul dagegen hat zwar das schärfere Bewußtsein der ungenü­ genden äußeren Wirklichkeit des damaligen deutschen Lebens (vor allem deö bürgerlichen) voraus, aber er bewegt sich ebendeßhalb überwiegend in der negativen Flucht aus derselben, ist nicht so auf die positive Ausprägung des gegenwärtigen, wahrhaft na­ türlichen und menschlichen Zieles hingerichtet, und hat sich das­ selbe nicht in solcher Reinheit zum Bewußtsein gebracht, sondern weist nach dieser Seite noch ungleich mehr auf die ältere idea­ listische Weltanschauung zurück. Allerdings gilt dieß alles, wie wir sehen werden, durchaus nicht in gleichmäßiger Weise von dem ganzen Jean Paul, d. h. von allen Perioden seiner Dichtung.

Wir werden vielmehr fin­

den, daß er gerade in seiner reiferen Periode selbst auf die handelnde bürgerlich-politische Bestimmung und auf die nüch­ tern-praktische Einigung mit den realen Aufgaben und Be-

9

Entwicklungsstufen I. Paul's selbst.

Dingungen des menschlichen Daseins hingewiesen hat, und daß so gerade seine zwei bedeutendsten Schöpfungen, der Titan und die Flegeljahre, die praktische Versöhnung mit der äußeren Wirklichkeit und deren Aufgaben als Ziel hinstellen.

Das sehn­

süchtig Sentimentale und schwärmend einem Jenseits Zugekehrte ist daher vorzugsweise einer etwas früheren und unreiferen Pe­ riode Jean Paul's eigen, und zeigt sich vor allem im HesperuS, während namentlich in den Flegeljahren mit bewußtem Humor die idealistische Schwäche hervorgekehrt wird, die jenem Gefühls- und Phantasieleben anhaftet.

Und in seiner allerletzten

Periode bewegt sich Jean Paul, eben weil er das Bedürfniß einer mehr realistisch

versöhnten Darstellung hatte, vielmehr

ganz im heiter komischen Gebiete.

Allein nichts desto weniger

bleibt auch in jenen beiden Hauptwerken das Ziel, auf das sie hinweisen, ein bloßes Ziel, d. h. es kommt nicht zur demgemäßen Darstellung eines mehr'praktisch versöhnten und nüch­ terneren Daseins selbst.

Auch nach der Seite, die doch am

meisten Beziehung auf die realen Zustände hätte, der des frei politischen Strebens, kommt es doch nirgends zur Schilderung eines dem entsprechenden handelnden Lebens und Wirkens, sondern es bleibt im bloßen Gegensatz zur Wirklichkeit bei zor­ nigen oder begeisterten Gefühlen, bei philosophirenden Re­ flexionen und Phantasiecn, es bleibt also, wie bei jenen in das Religiöse hinübergreifenden Gefühls- und Phanthasieergüssen, bei dem dichterisch Formlosen und Verschwommenen.

Und so ist

auch jenes versöhnte Ziel selbst bei weitem nicht in der Reinheit und Konsequenz erfaßt,, wie bei Göthe und Schiller, als Die volle und wahrhafte Natur und die ganz und wahrhaft gegen­ wärtige Ausprägung rein menschlichen Daseins.

Auch in die­

ser Beziehung, wie in der Darstellungsform selbst, bleibt bei

10

Formlosigkeit I. Paul's.

Jean Paul immer ein Rest von einseitiger und formloser In­ nerlichkeit, der nicht in die dichterische Darstellung aufzugehen vermag. Das Ideale bleibt sonach bei Jean Paul ein für die dich­ terische Gestaltung unerreichtes Jenseits, bleibt einseitig der innerlichen Welt des Gefühls und Gedankens angehörig. Sein Gebiet hat vielmehr Jean Paul nur im Gegensatz des idealen Strebens zu den wirklichen äußeren Verhältnissen. Darum hat er denn auch niemals zur idealen Kunstform, d. h. zur metrischen sich erhoben, sondern ist seiner ganzen Natur und Eigenthümlichkeit zufolge stets in der Prosa form stehen geblieben. Mit Göthe und Schiller verglichen aber ist er, zu­ folge ein und derselben Eigenthümlichkeit seines Wesens, theils einseitig realistisch, auf die unmittelbare, scharfe Wirklich­ keit hingerichtet, theils einseitig idealistisch, jünglingshaft von ihr abgekehrt. Und wenn wir also auch sehen werden, welche ganz verschiedene Entwickelungsstufen Jean Paul selbst durchlaufen hat, so ist doch der Grundcharakter seiner Dichtung der obige geblieben. Von jenen beiden Hauptseiten aus, deren Kontrast den inneren Kern von Jean Paul's Anschauungsweise bildet, erklären sich nun auch alle übrigen specielleren Züge und Eigenthümlich­ keiten. Den wesentlichen Ursprung seines Humors und seiner Satire haben wir bereits in jenem oben besprochenen allgemei­ nen Kontraste gefunden. Aber ebenso erklärt sich jetzt auch die oft so seltsame universalistisch gelehrte und künstliche Form dieses Humors, und jene Bilderhatz (ein Ausdruck, den Jean Paul selbst von sich gebraucht), die aus alleu Ecken und Enden, aus dem juristischen, medicinischen, naturwissenschaftlichen und technischen Gebiete, aus Geschichte und Völker-

Sein gelehrter u. künstlicher Humor.

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künde, Bergleichungen, Anspielungen u. dgl. herbeizieht, und durch ihre mannigfachen wunderlichen Absprünge nicht zum we­ nigsten an all' dem Störenden Schuld trägt, was Jean Paul's Schreibweise für den Leser hat. Wir dürfen uns ja nur daran erinnern, daß Ieau Paul's ganze Anschauungs- und Geistes­ weise in dem fortwährenden vergleichenden Gegeneinander­ halten jenes allgemeinen Kontrastes und seiner mannigfachen Seiten wurzelt, und daß er andererseits eben für die Enge und Dürftigkeit des äußeren Daseins, für diese „nestartige" Be­ schränktheit, um so mehr die Entschädigung und Ergänzung im Menschlich-Universalistischen, in der weltbürgerlich idealen Welt suchte. So war also die ganze Anschauungsweise Jean Paul's in besonderem Maße auf das Herausfinden von Gegen­ sätzen und Aehnlichkeiten angelegt, und zugleich lebte ebenso ein eigenthümlich universalistisches Streben in ihm, das für jene Vergleichungen den Stoff bot. Wie er daher in humoristischer Weise seinen „Wutz," der überhaupt so Vieles von seinem ei­ genen Wesen enthält, sich innerhalb seiner engen vier Wände selbst eine Bibliothek über alles Mögliche zusammenschreiben läßt, so ist auch von Jean Paul selbst bekannt, welche Maffe von ungeordneter Gelehrsamkeit er aus Lektüre der verschieden­ sten Art schon frühzeitig sich sammelte, und wie er in Excerpten und Zetteln eine Masse solchen Materiales für seine, schrift­ stellerischen Zwecke aufhäufte. Die universalistisch gelehrte Bil­ dung also muß den Apparat herleihen für den überall auf Ver­ gleichungen, auf humoristische und witzige Kontraste und Aehn­ lichkeiten Hingerichteten Dichter. Auch hier sehen wir wieder das specifisch Deutsche, und bestimmter den Charakter eben jener Periode, die äußerlich in die Enge ihres häuslichen und kleinstaatlichen Daseins eingesponnen, nur auf dem literarischen

12

Sein universalistisch - gelehrter Humor.

Gebiete, in Kunst und Wissenschaft, ein großartiges mit) weltbürgerlich ideales Gebiet ihrer Thätigkeit hatte. Jedoch eben das universell Gelehrte, sowie jene Sucht nach Ähnlichkeiten und Kontrasten, die überall Jagd auf Bilder und witzige Anspielungen macht, bringt natürlich auch so vielfach den Eindruck des störend Absprmgenden, oder des Gesuchten und Künstlichen, des Steifen und, wenn man so sagen toiö, gelehrt Pedantischen hervor. nur ein einzelnes Beispiel.

Wir wählen zur Verdeutlichung In einem der „Extrablättchen" der

unsichtbaren Loge wird die physiologische Thatsache, daß der menschliche Körper zufolge seines chemischen Stoffwechsels sich nach einer bestimmten Periode stofflich erneut habe, dazu benutzt, um daraus in satirischer und humoristischer Weise über die Ver­ bindlichkeit des Eheverhältnisses Konsequenzen zu ziehen, insbe­ sondere die ironische Vorstellungsweise durchzuführen, als ob die Laxheit und Untreue in den Eheverhältnissen der vornehme­ ren Stände eben eine wohlbegründete Konsequenz davon wäre, daß rein stofflich betrachtet die anverbundene Ehehälfte in Bälde schon eine ganz andere geworden ist.

Nun hat allerdings dieser

Spott auch der inneren Natur der Sache nach etwas Treffen­ des, weil ja in Ehen jener Art wirklich nur äußerliche und dem ganzen Wechsel der Zeit unterworfene Motive zu Grunde liegen. Allein sosehr auch jener Gedanke mit wirklichem Humor durch­ geführt sein mag, wer sieht nicht doch in dieser Benutzung einer nur der strengen Wissenschaft zugänglichen, dagegen aller An­ schauung sich entziehenden Thatsache, dergleichen jene physiolo­ gische Wahrheit ist,

auch wieder etwas von

unpoetisch steifer

und specifisch deutscher Gründlichkeit und Gelehrsamkeit? Der­ gleichen aber findet sich bei Jean Paul bekanntlich in Menge

Die Bilderjagd u. ihre Bedeutung.

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und aus allen möglichen Gebieten, und gar Manchem Haftel noch ungleich stärker der gelehrte Geschmack an. Indessen haben wir im Obigen überwiegend nur die Seite der Jean Paul'scken Bilderjagd hervorgehoben, wonach sie dem witzigen und humoristischen Streben dient. Allem wie überall an Paul, ist auch an ihr eine entgegengesetzte Seite zu unter­ scheiden, nach welcher sie zu dem schwärmend idealen und jünglingshaft überstiegenen Stile Jean Paul's gehört. Im Gegensatze zur dürren und unbefriedigenden Wirklichkeit muß hier das Bild als Mittel für den Aufschwung des Gefühls und der Phantasie dienen. Nach dieser Seite aber hat die Jean Paul'sche Bilderjagd offenbar etwas noch Störenderes und Zurückstoßenderes als nach jener ersteren, weil sie hier noch mehr zur bloßen überladenen Manier wird, die den dichterischen Geist nimmer ersetzen kann. Man fühlt, daß man hier im Gegeusatze zu jener engen und kleinen Realität in ein entgegen­ gesetztes Extrem, eine ungebundene und einseitige Phantasiewelt, versetzt wird. Uebrigens grenzt diese Seite der Jean Paul'schen Bllderjagd mit der anderen, der witzig-humoristischen, ganz nahe zusammen. Denn auch diese letztere beruht ja in dem Streben, der unbefriedigenden Beschränktheit und Enge ihres realen Stoffes durch em mehr universalistisches Bilder- und Witzspiel ein Gegengewicht zu geben Nirgends fühlt man dieß deutlicher, als gleich bei dem ersten Werke Jean Paul's, den „Grönländischen Processen," von denen weiter unten die Rede sein wird. Das fortgehende Spiel des Bilderwitzes dient hier eben dazu, um über die Dürftigkeit des realen Stoffes der Satire (z. B. die vielfach so ärmlichen und niedrigen Ver­ hältnisse deutschen Schriflstellerthums) hinwegzuheben, so wenig es dieß auch wirklich vermag. Wenn nun schon in der

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Entgegengesetzte Extreme in I. Paul.

satirischen Seite Jean Paul's das Bedürfniß sich regen mußte, der kleinen und ärmlichen Realität auf diese Weise ein ideelles und universalistisches Gegengewicht zu geben, wie viel mehr mußte dieß für seine ernst gefühlvolle Dichtung gelten, und wie kann man sich noch wundern, daß die Ueberschwenglichkeiten die­ ser ein ebenso wesentliches Element Jean Paul'S sind, und daß auch hier wieder sein Stil denselben Charakter trägt? Auch von dieser Seite her können wir also die Eigenthüm­ lichkeit Jean Paul's wieder kurz dahin zusammenfassen: gerade der Enge und dürftigen Beschränktheit des äußeren Bereiches, die bei Jean Paul so charakteristisch hervortritt, jenem Eingesponnensein in die eigene kleine und stille Welt, ent­ spricht auch andererseits das universelle Umherschwei­ fen des Wiffens, der Gefühls- und Phantasiethätigkeit. Das eine Extrem hängt mit dem anderen zusammen, sowie es auch in dem allgemeinen Charakter des damaligen deutschen Lebens der Fall war. Um das unmittelbare Zusammensein dieser Extreme in dem Dichter möglichst zu veranschaulichen, führen wir nur eine einzige Stelle aus dem „Wutz" und dessen Jugenderinnerungen an. Wutz erinnert sich, „wie er sonst Abends sich auf das Zuketten der Fensterladen freute, weil er nun ganz gesichert vor Allem in der lichten Stube hockte (daher er nicht gern lange in die von abspiegelnden Fensterscheiben über die Laden hinausgelagerte Stube hineinsah), und wie sie in dem aus dem unabsehlicben Gewölbe des Univer­ sums herausgeschnittenen oder hineingebauten Klo­ sett ihrer Stube so beschirmt waren, so warm, so satt, so wohl!" Die Worte, die wir in dieser Stelle besonders heraus­ gehoben haben, bezeichnen in der anschaulichsten Art das Cha­ rakteristische der Jean Paul'schen Denk- und Gefühlsweise. Dem

Die beiden Extreme in I. Paul.

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engen und gerade in dieser Abgeschloffenheit anheimelnden Raume der Stube wird unmittelbar das Universum ent­ gegengesetzt. Ein ähnlicher Sprung von einem Extreme zum andern findet sich kurz vorher, auch in der Einleitung des Wutz. Nachdem nämlich gesagt ist, Wutz habe sich schon in den Spie­ len seiner Kindheit „kindisch" gezeigt, indem er dabei nie etwas Anderes als einen Hasen oder eine Turteltaube u. dgl. gespielt habe, so heißt es: „glaubt mir, ein Seraph findet auch in unsern Kollegien und Hörsälen keine Geschäfte, sondern nur Spiele" u. s. w. Also wieder vom Kleinsten und Beschränktesten unmittelbar übergesprungen zum Höchsten und Idealsten, Beides unmittelbar einander gegenübergestellt! In dem Bewußtsein und Gefühle des Einen schärft sich für diese Sinnesweise zu­ gleich das Gefühl und Bewußtsein des Andern, und jedes führt ebenso im innerlich sachlichen Zusammenhange zu dem andern Extreme hinüber. Die Eingeengtheit und Stille des äußeren Daseins fördert das einseitig ideale und universalistische Geistes­ und Gemüthsleben, sowie umgekehrt das Ueberwiegen dieses letzteren zu der Beschränktheit und Kleinheit der äußeren bürger­ lichen Verhältnisse hingeführt hatte. Das ist eben das specifisch Deutsche, und darin liegen ebenso die Schattenseiten, wie die Vorzüge dieser früheren deutschen Entwickelung. Denn all' dem Hohen und Universellen, das sie in Kunst und Wissenschaft hatte, steht ebenso andererseits das kleinlich Partikularistische und Spießbürgerliche der politischen und gesellschaftlichen Zustände, das dumpf Beschränkte und Verrottete unserer älteren gewerb­ lichen Verhältnisse u. s. w. entgegen. — In jener zuerst an­ geführten Stelle des Wutz nun erscheinen die beiden Extreme allerdings in ihrem versöhnten und behaglich idyllischen Zu­ sammensein, (wie dieß überhaupt die Grundstimmung im Wutz

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Die beiden Extreme in I. Paul.

ist), allein sie müssen ebenso in ihrem scharfen Kontraste her­ vortreten, theils in humoristischer und satirischer Form, theils in Schmerz und Sehnsucht des idealen Gefühles und Phantasielebens. Durchweg also bewegt sich Jean Paul's Lebensanschauung und Darstellung in jenen entgegengesetzten Extremen, entweder satirisch und humoristisch im engen und beschränkten Horizonte damaligen deutschen Kleinlebens, mit seiner Unfreiheit und Dürftigkeit, wie seiner nestartig eingepuppten Genügsamkeit, oder in der innerlich universellen und idealen Geistes- und Ge­ fühlswelt, aus deren Vogelperspektive er auf jene kleine und enge Welt seiner Umgebung herunterschaut. Nirgends hat Jean Paul selbst dieß bezeichnender ausgesprochen, als in seiner ersten Vorrede zu seinem Quintus Fixlein.*) „Ich konnte," sagt er dort, „nie mehr als drei Wege, glücklich zu werden, auskund­ schaften. Der erste, der in die Höhe geht, ist: soweit über das Gewölke des Lebens hinauszudringen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern, von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht. — Der zweite ist: gerade her­ abzufallen in's Gärtchen, und da sich so einheimisch in eine Furche einzunisten, daß wenn man aus seinem warmen Lerchen­ neste heraussieht, man ebenfalls keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Aehren erblickt, deren jede für den *) In einer andern ebenso treffenden bezeichnet er später, in einem Briefe an Knebel, die beiden Pole seines Wesens: „Die zwei Brennpunkte meiner närrischen Ellipse, Hesperus' Rührung und Schoppe's Wildheit sind meine ewig ziehenden Punkte, und nur gequält geh' ich zwischen beiden, entweder bloß erzählend oder bloß philosophirend, erkältet auf und ab."

Die Extreme in I. Paul.

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Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenschirm ist. — Der dritte endlich, den ich für den schwersten und klügsten halte, ist der, mit den beiden andern zu wechseln." Und eben dieß ist also auch die Eigenthümlichkeit und das innerste Wesen der Jean Paul'schen Muse: sie weiß nur zwischen jenen entgegen­ gesetzten Extremen hin und her zu wechseln, bald jenem idyllischen „Nestmachen" und dem mikroskopischen Abschildern dieser kleinen Alltagswelt des damaligen deutschen Lebens, bald wieder jenem idealen Auffluge, welchem alle die schwärmenden menschheitlichweltbürgerlichen Gefühlsergüsse, die Träume und Visionen, die eine so wohlbekannte Lieblingsform der Jean Paul'schen Muse sind, und das universalistisch gelehrte Element angehören. Das dritte endlich ist eben das. schillernde sich hin und her Bewegen zwischen jenen so scharf entgegengesetzten Welten, das, was die Grundlage des Jean Paul'schen Humors ist. Von dem Wege hingegen weiß also Jean Paul (seiner eigenen' Aeußerung zufolge) nichts, auf welchen, wie Jeder sieht, der Mensch von Natur angewiesen ist, nämlich mit festem Schritte und frei um sich schauendem Blicke über die Erde hinzugehen, und in kräftig zugreifendem Handeln sie zu einer würdigen Wohnstätte für sich selbst zu machen, so daß sie aufhört, als eine Ansammlung von „Wolfsgruben, Beinhäusern" u. dgl. zu erscheinen. Deßhalb hat Jean Paul auch für das wahre Wesen großartig geschichtlicher, handelnder Charaktere und Ge­ stalten keinen rechten Sinn; er verkehrt sie in seiner Auffassung in seine einseitig ideale Geistesweise, wie wiederum eben jene Vorrede zeigt. „Der Held — der Reformator — Brutus — Howard — der Republikaner, den bürgerliche Stürme, das Genie, das artistische bewegen, — kurz jeder Mensch mit einem großen Entschlüsse oder auch nur mit einer perennirenden LeidenPlanck, Sf-i

Dickung.

2

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Sein Mangel an geschichtlichem Sinne.

schaft, alle diese bauen sich mit ihrer inneren Welt gegen die Kälte und Gluth der äußeren ein.--------- Jede fixe Idee, die jedes Genie und jeden Enthusiasten wenigstens periodisch regiert, scheidet den Menschen erhaben von Tisch und Bett der Erde, von ihren Hundgrotten und Stechdornen und Teufelmauern. — Gleich dem Paradiesvogel schläft er fliegend, und auf den aus­ gebreiteten Flügeln verschlummert er blind in seiner Höhe die unteren Erdstöße und Brandungen des Lebens im langen schö­ nen Traum von seinem idealischen Mutterland."

Man meint

wahrlich selbst zu träumen, wenn man in dieser Schilderung das Bild eines „Helden, Reformators" u. dgl. erkennen soll! Als ob nicht das thatkräftige Eingreifen in die wirklichen Zu­ stände, der scharfe Blick für die Bedingungen einer Umgestaltung, sowie in die Schäden der bestehenden Verhältnisse, das Erste wäre bei Helden, großen. Staatsmännern und Reformatoren u. dgl. Männern, während der gute Jean Paul sie nach seiner Weise in ideale Träumer verkehrt! So sehr also scheint von dieser Seite her die unpraktisch idealistische Sinnesweise, die unserer damaligen deutschen Entwicklung anhaftete, in Jean Paul inkarnirt, daß er sie selbst auf Geister von ganz anderer Art überträgt, auch ihnen jene einseitig ideale Entgegensetzung gegen die Verhältnisse des wirklichen Lebens unterschiebt.

Nach dieser

Seite ist Jean Paul freilich noch das rechte Gegentheil unserer jetzigen Zeit, die vielmehr ganz in die besonderen verständigen Aufgaben des eigenen bürgerlichen und nationalen Daseins sich hineinzuarbeiten strebt.

Allein wir werden auch andererseits se­

hen, wie Jean Paul gerade deßhalb, weil er das ideale Geistes­ leben seiner Zeit immer im unmittelbaren Gegensatz zu den umgebenden äußeren Zuständen faßte, sich zu diesen letzteren, zu den bürgerlichen und politischen Zuständen des damaligen

Sein Mangel an geschichtlichem Sinne.

19

Deutschlands, in eine ganz andere und eingehendere Beziehung setzte, als es von irgend einem der großen Dichter jener Pe­ riode gilt. Indessen nichts ist also für die Jean Paul'sche Geistesweise fremder, als eine Darstellung großartiger geschichtlicher Zustände, solcher vor allem, in welchen die ideale Kraft des Menschen in der unmittelbaren äußeren Gegenwart ihre Bethätigung und Erscheinung findet, wie also namentlich in den Zeiten des klassi­ schen Alterthums.

Aber überhaupt jeder großartigere geschicht­

liche Stoff, z. B. die dichterische Darstellung irgend eines her­ vorragenden Staatsmannes oder Kriegers, wäre es auch nur in der Form des Romanes, geschweige vollends in der des Dramas, wäre etwas für Jean Paul's dichterische Anschauung Unmög­ liches, da diese durchaus im Kontrast einer inneren Idealwelt gegen eine kleine und dumpfe Wirklichkeit wurzelt, mag nun diese letztere nach ihrem reinen Gegensatze zur ersteren aufgefaßt werden, oder von dieser aus eine humoristisch-idyllische Verklä­ rung erhalten. Da es nun also Jean Paul's Dichtung an dem großartig geschichtlichen Stoff fehlte, so mußte sie da, wo sie doch selbst Großartigeres anstrebte, also gerade in den Hauptromanen (ins­ besondere im Titan), einen anderweitigen relativen Ersatz dafür suchen.

Denn weder die lächelnd-idyllische Abspiegelung jener

kleinen Welt, noch andererseits jener scharfe Kontrast zweier Welten, in seiner theils satirisch-humoristischen, theils schmerzlich sehnsüchtigen Gestalt, kann für ein großartigeres Streben ge­ nügen.

Es bedarf vielmehr bei der Kleinheit und unfreien Be­

schränktheit des äußeren Schauplatzes noch eines anderweitigen äußeren Anhaltspunktes, an welchen sich das hohe und ideale Element der Dichtung, das erregte Gefühls- und Phantasieleben,

Phantastische Elemente bei I. Paul.

20 anlehnen kann.

So kommen denn in seltsamem Abstiche gegen

jene beschränkte und enge Alltäglichkeit die wunderlich phan­ tastischen Zuthaten herein, die in allen Hauptdichtungen Äean Paul's mehr oder weniger hervortreten.

Vor allem wird hier

jener gesammte Apparat in Bewegung gesetzt, den das vorige Jahrhundert selbst mit seinen sentimental spielenden oder seltsam barocken Liebhabereien dem Dichter darbot, alle die phantastischen und launenhaften Park- und Gartenanlagen, in denen sich der Geschmack jener Zeit gefiel, und die sich am Unmittelbarsten zu einem Anhaltspunkt und Ausdruck der erregten Gefühls- und Phantasiewelt eigneten, in die der Dichter uns hineinversetzt. Aber auch die sonstigen Wunderlichkeiten jener Zeit, die Auto­ maten und mechanischen Vexirkunststücke, die Nachbildungen in Wachssizuren u. dgl. müssen ihre Rolle spielen. unsichtbaren Loge finden sich die ersten Ansätze

Schon in der eines solchen

phantastischen Apparates, noch mehr im Hesperus mit seiner „Insel der Vereinigung;" aber bei weitem am ausgebildetsten ist dieß Element im Titan, da eben dieser wegen seines groß­ artigeren, hoch idealen Strebens auch am meisten das Bedürfniß eines solchen äußeren Gegengewichtes gegen die Kleinlichkeit und Beschränktheit der sonstigen Umgebung hervorrief, die auch hier wieder, zufolge des ganzen Gesichtskreises, in welchem nun ein­ mal der Dichter sich bewegt, zunächst den Schauplatz abgeben mußte.

Aber freilich kann im Titan selbst die Ergänzung durch

jenes phantastische Element noch nicht genügen; und so müssen denn die „Haar-Haar, Hohenflies" u. s. w., in welchen zunächst das Triebwerk des Romanes zu Hause ist, mit Schauplätzen von ganz entgegengesetzter idealer Art abwechseln, wie den Borromäischen Inseln, Rom, Neapel und Kapri, so daß in diesem wechselnden Kontraste des äußeren Schauplatzes der Kontrast der

Phantastische Elemente bei I. Paul.

21

beiden Welten, in denen der Dichter sich bewegt, unmittelbar vor Augen liegt. Neben jene vorhin genannten und aus dem Geiste des vorigen Jahrhunderts entlehnten Formen des Phantastischen tritt dann auch noch dasjenige bestimmter Personen, wie im Titan der wunderliche Kahlkopf mit seinem Bauchrednerthum und Wachsfigurenkabinet, seinem Geisterspuck u. dgl., freilich, wenn man will, auch wieder ein Seitenstück zu den Cagliostros und andern derartigen Erscheinungen des vorigen, mitten in seiner Aufklärung zugleich noch so geheimniß- und wundersüchtigen Jahrhun­ derts. Auch sonstige Seltsamkeiten und Abnormitäten benutzt Jean Paul gerne. Er nimmt es z. B. gar nicht schwer, zur Verstärkung irgend einer aufregenden, Gefühl und Phantasie steigernden Situation eine Mond- oder Sonnenfinsterniß herbei­ zuziehen. Amandus (in der unsichtbaren Loge) tnuß gerade wäh­ rend einer Mondsfinsterniß sterben, Liane (im Titan) wird während einer Sonnenfinsterniß wieder von ihrer Blindheit über­ fallen; Linda (gleichfalls im Titan) leidet an der Nachtblindheit d. h. gänzlicher Kurzsichtigkeit bei Nacht, was ein wesentlicher Umstand für die Herbeiführung der Katastrophe ist; im Hesperus muß bei Emanuel's Verzückung und vermeintlichem Sterben ein Pulverthurm springen, u. dgl. Es springt in die Augen, daß dergleichen Zuthaten, mit welchen der Dichter der Kleinheit und Beschränktheit seines äußeren Schauplatzes nachhilft, zu diesem letzteren, d. h. zu der engen und dumpfen Alltäglichkeit der damaligen deutschen Zustände, in demselben Kontraste stehen, wie das ideale Gefühls- und Phantasieleben der Helden und Heldinnen, dem sie zum erregenden Anhaltspunkt dienen. Sie sind also insofern nur eine Hineintragung dieses letzteren Ele­ mentes in die äußere Staffage selbst. Eben darum aber sind

Seine Naturschwärmerei.

22

sie gegen diese etwas fremdartig Abstechendes, und machen daher so vielfach den Eindruck des Wunderlichen und Gesuchten. Wie aber nach dem Obigen phantastische Elemente einen ergänzenden Ersatz geben müssen für die Kleinlichkeit und Dürf­ tigkeit der deutschen Verhältnisse, in denen der Dichter sich be­ wegt, so findet er auch noch einen andern idealen Ersatz in der Natur, und in den Empfindungen, die sie erregt.

Schilde­

rungen dieser Art, sammt all' den schwärmenden und sehnsüch­ tigen Gefühls- und Phantasieergüssen, die sich daran knüpfen, sind daher das unerschöpfliche Thema, das in allen Jean Pani­ schen Dichtungen (mit Ausnahme der rein komischen der letzten Periode) wiederkehrt.

Der Reichthum an immer neuen Wen­

dungen, der sich in diesen Schilderungen zeigt, wäre zu bewun­ dern, wenn er nicht doch im Ganzen von entschiedener Mono­ tonie begleitet wäre.

Denn überall nehmen diese Schilderungen

doch dieselbe zerfließend ideale Richtung auf das Unendliche hin; und die langen und kein Ende nehmenden Vordersätze, in denen diese überquellende Natur- und Gefühlsfülle sich so gerne aus­ zusprechen liebt, zeigen auch in der Form auf charakteristische Weise, wie sehr es Jean Paul an dem gerundeten und plastisch abgegrenzten Elemente dichterisch schöner Darstellung fehlte, und wie sehr bei ihm das Ideale in das Formlose hinüberneigt. Nichts ermüdet daher den gesunden Sinn früher, als gerade diese immer wiederkehrende Seite Jean Paul'schen Wesens und Dichtens, und nur die Ueberschwenglichkeiten

freudiger

oder

schmerzlicher Liebesschwärmerei, wie sie im Titan noch eine so große Rolle spielen, sind damit zu vergleichen.

Denn eben weil

Jean Paul so, wie kein anderer Dichter jener Zeit, das Klein­ liche und Klägliche der damaligen Zustände gefühlt und heraus­ gekehrt hat, so tritt auch andererseits das ideale Element, das

Das weibliche Element

in I. Paul.

23

für diese äußere Wirklichkeit entschädigen soll, hier in seiner ganzen Einseitigkeit auf, wie dieß nach einer anderen Seite hin schon weiter oben hervorgehoben wurde. Und darum sind Ge­ stalten, wie z. B. im Hesperus der Blinde mit seiner Flöte, oder der sterbenssüchtige und schon in einer andern Welt lebende Emanuel, oder noch im Titan die ätherische und erblindete Liane, die koncentrirteste Verkörperung der Gefühlsseligkeit jener Zeit. Doch ist allerdings auch hier nicht zu vergessen, daß diese einseitige und verschwimmende Idealität, wie wir sehen werden, noch vor­ zugsweise der früheren Entwickelungsperiode IeanPaul's angehört. Haben wir nun gesehen, wie fremd noch für Jean Paul, zufolge seiner ganzen Zeitverhältnisse, die Größe und Gesund­ heit einer thatkräftig handelnden Welt war, wie fern ihm eben deßhalb der große Schauplatz der Geschichte liegt, und wie er vielmehr nur in den Duodezzuständen des damaligen Deutsch­ lands und in der Beschränktheit häuslichen Stilllebens, oder andererseits in jenen idealen Gefühlsregionen zu Hause ist, so wird endlich mit dem allem theils das specifisch weibliche Ele­ ment in Jean Paul's Dichtung und Wesen, theils seine ganz besondere Vorliebe für die Kindheitszeit erklärlich, und die sehnsüchtige Erinnerung, mit welcher er sein ganzes Leben lang auf das Glück der Kindheit zurückschaute, und aus seiner eigenen Iugendgeschichte Stoff für seine Dichtung entnahm. Sowohl jene Kleinmalerei aus den beschränkten und engen äußeren Umgebungen, und insbesondere aus dem häus­ lichen Leben, als der ergänzende Gegensatz hinzu, das auf sich selbst verwiesene Gefühls- und Phantasieleben, — Beides greift vorzugsweise in das eigenthümliche Gebiet der weiblichen Na­ tur hinüber. Die Beschränkung auf das eigene subjektiv­ persönliche Dasein, der Mangel eines äußeren allgemeinen

24

Das weibliche Element in I. Paul.

und umfassenden Gebietes, in welchem sich die freie bürgerliche Thätigkeit entwickeln könnte, dieß ist es ja, was bei Jean Paul in so specifischer Weise hervortritt; und eben im subjektiv Per­ sönlichen, in Familie und Haus u. s. w., liegt auch das eigen­ thümliche Gebiet des Weibes.

Zugleich ist Jean Paulas dich­

terische Anschauungsweise und Thätigkeit, eben weil sie in jener negativen Beziehung auf die unmittelbare äußere Wirklichkeit und deren ungenügende Zustände wurzelte, in ganz anderer Weise als bei den sonstigen Dichtern jener Zeit, mit seinem unmittelbar persönlichen Leben und Wesen

verflochten,

und auch darin berührte er sich wieder specifisch mit der weib­ lichen Natur.

Jean Paul giebt überall entweder die kleine und

enge Wirklichkeit, in der er selbst lebt, oder sein eigenes, theils schmerzlich sehnsüchtiges, theils scharf satirisches oder idyllisch humoristisches Verhalten zu dieser Umgebung.

Daher hat er,

wie wir sehen werden, noch in ganz anderer Weise, als Göthe oder Schiller, in all' den verschiedenen Hauptgestalten seiner Dichtung sein eigenes Leben und Wesen, oft bis auf die klein­ sten äußeren Züge hinaus dargestellt; und ebenso hatte er in ganz anderer. Weise als jene auch das Bedürfniß, sich in un­ mittelbar persönlicher Weise im Verkehr mit Anderen aus­ zuströmen.

Darauf beruht die eigenthümlich große Bedeutung,

welche für Jean Paul seine begeisterten Freundschaftsbünde, mit A. v. Oerthel, Hermann, Ch. Otto, und dem Baireuther Emanuel halten; ganz ähnlicher Art war auch sein Verhältniß zu Herder u. A.

Und wenn nun zugleich die Art seiner Dich­

tung vorzugsweise bei dem weiblichen Publikum Vorliebe und Bewunderung wecken mußte, so ist es ganz natürlich, daß er in einem so tiefgreifenden,

auf seine Dichtung, wie auf sein

ganzes Wesen bezüglichen Verkehr mit hervorragenden weib-

Das weibliche Element in I. Paul.

25

lichen Naturen (Charlotte von Kolb, Emilie von Berlepsch u. s. w.) hineingezogen wurde, wie kein anderer Dichter jener Zeit. *)

In der Eigenthümlichkeit seiner Natur und Dichtung

lag es, daß bei ihm ein derartiger persönlicher Verkehr un­ gleich umfassendere Bedeutung erhalten mußte, eben weil seine Dichtung ganz anders auf die unmittelbare Wirklichkeit sich be­ zog, und also mit seinem persönlichen Leben unmittelbarer zusammenhieng.

Aus dem gleichen Grunde gab Jean Paul, wie

wir sehen werden, auch sonst seiner Denk- und Gefühlsweise weit mehr eine unmittelbar persönliche äußere Anwen­ dung, z. B. in politischer Opposition, oder im Gegensatz gegen die bestehende Sitte.

In allen diesen Beziehungen erscheinen

Göthe und Schiller weit mehr als objektiv schaffende und beschauliche, in diesem Sinne also mehr specifisch männliche Naturen, die weit mehr in der gegenständlichen Welt ihrer Schöpfungen lebten, und insofern ein von der unmittelbaren Wirklichkeit der damaligen Zustände abgezogeneres Dasein führ­ ten.

Denn indem z. B. Göthe's Streben auf die volle unver-

kümmerte Natur und deren schöne Erscheinung hingieng, so war er eben damit ganz

auf die Verkörperung und Ausprägung

dieses seines objektiven und über die damalige Welt noch hin­ ausliegenden Zieles hingerichtet.

Ueber diesem Streben nach

höherer wahrhafter Natur und Menschlichkeit ließ er, und in ähnlicher Weise Schiller, die Beziehung auf die umgebende un­ mittelbare Wirklichkeit und deren Zustände unter sich; sie lebten *) „Ich kenne keinen Schriftsteller

älterer oder neuerer Zeiten,"

sagt eine Verehrerin Jean Paul's „der so allgemein von den Weibern geliebt wurde, als Sie. Biograph einst nicht vergessen."

Dieß anzuführen darf Ihr

(E. Bernard, geb. Gad, in d.

„Denkwürdigkeiten aus Jean Paul's Leben," Bd. 3, S. 63.)

26

Die Kindheitserinnerungen.

in der idealen Welt

ihres eigenen Schaffens

und Strebens.

Wir werden im Späteren genauer sehen, was sie demzufolge vor Jean Paul voraus haben, und was wiederum dieser vor ihnen. Wie nun die

eigenthümlich weiblichen Berührungspunkte

der Jean Panischen Dichtung sich aus allem Obigen von selbst ergeben, so in gleicher Weise auch seine eigenthümliche Hinnei­ gung zur Kindheit und deren Erinnerungen.

In der Kind­

heit sind ja jene beiden Seiten, welche der gereifte Jean Paul in ihrem scharfen Kontraste fühlte, nämlich die Enge und Be­ schränktheit der äußeren Welt, und andererseits die Fülle und Unendlichkeit idealen Lebens, die in diese Schranken eingeschlossen ist, noch in unmittelbar versöhnter Weise vorhanden. Jene Enge und Dürftigkeit wird da noch nicht als solche em­ pfunden, sondern wird durch den jugendlichen Reichthum der Phantasie und ihrer Hoffnungen, und durch die Freuden und Entzückungen, welche tue Kinderwelt eben aus dem Kleinen schöpft, noch ausgeglichen und verklärt.

Deßhalb sind denn

auch bei Jean Paul alle jene idyllischen Darstellungen einer in sich vergnügten und aus Kleinem schon Entzückungen schöpfen­ den Glückseligkeit, wie vor allem im „Schulmeisterlein Wutz" und im Quintus Fixlein, nichts Anderes als Nachklänge jenes Kindheitseindruckes.

Und jenes „Nestmachen" und jene schnecken-

artig in sich zurückgezogene Genügsamkeit, welche Jean Paul dem geplagten Heere der gewöhnlichen Menschenkinder, „dem stehenden und schreibenden Heere beladener Staat-Hausknechte und allen im Krebskober der Staat-Schreibstube auf einander gesetzten Krebsen, die zur Labung mit einigen Brennnesieln über­ legt sind," anempfehlen will, ist nichts als eine grundsätzliche Uebertragung jenes kinderartigen Sinnes auf die Verhält­ nisse des späteren und ausgebüdeteren Lebens selbst.

In der

27

Die Kindheitserinnerungen.

Kindheit ist jene „mikroskopische" Auffassungsweise des Lebens zu Hause, für welche „ihr Tropfe Burgunder eigentlich ein ro­ thes Meer, der Schmetterlingstaub Pfauengefieder, der Schimmel ein blühendes Feld und der Sand ein Juwelenhaufe ist."

So

hat denn auch der Dichter in all' den idyllischen Schilderungen dieser Art ganz unmittelbar eigene Kindheitserinnerungen bis auf die speciellsten Züge hinaus benützt.

Die Spiele und alle

die Jugendreminiscenzen seines Wutz, die erste Abendmahlsfeier und die kinderartige Liebe seines Gustav zu einer Dorfschönen in der unsichtbaren Loge, die Kindheitserinnerungen Fixleins und die Schilderungen aus Walt'S Kinderzeit (in den Flegel­ jahren) u. s. w., alles dieß sind Stoffe, bei denen der Dichter möglichst an sein eigenes Leben und an die eingeschränkten Zu­ stände seiner Kindheit angeknüpft hat.

Ebenso überträgt er

diese seine Sinnesweise auf seine Helden.

Wutz saugt noch auf

seinem Sterbelager seine letzten Erquickungen aus den vergriffe­ nen und unscheinbaren Ueberbleibseln seiner Kindheit, und läßt so aus dem „Eise des Alters den grünen Rasen der überschnei­ ten Kindheit" wieder hervorschimmern.

Ueberhaupt spielt eben

aus diesem Grunde bei allen Helden Jean Paul's, auch noch bei Albano im Titan, die Kindheit und Jugendgeschichte eine so bedeutende Rolle.

Auch ist es, wie wir sehen werden, charak­

teristisch genug für den Dichter, daß das erste objektiv dichterische Gemälde, zu dem er sich nach seiner anfänglichen bloß satirischen Thätigkeit erhob, nur erst ein solches kindheitsartiges, idyllisch­ humoristisches ist, nämlich eben der Wutz, deßhalb weil er nicht sogleich den scharfen und feindlichen Kontrast der idealen Welt mit der wirklichen in dichterischer Schilderung darzustellen ver­ mochte, sondern erst durch jene idyllisch heitere, noch unmittel­ bar versöhnte Form,

in welcher

der Kontrast

der innern

28

Zusammenfassung.

Welt mit der engen und kleinen äußeren sich darstellt, sich den Uebergang zur ernst gefühlvollen Schilderung

bahnen mußte.

In seiner letzten Periode aber hat er, kann man sagen, den kinderartig versöhnten Standpunkt zur erneuten und ausschließ­ lichen Herrschaft gebracht, nämlich in der Form einer glücklichen Illusion, in welcher der Held lebt und sich selbst eine erträumte Wirklichkeit schafft.

Diese ist freilich gegenüber von der nüch­

ternen Realität der Dinge komisch, läßt aber doch den heiter versöhnten Eindruck zurück, und ist also wenigstens ein Surro­ gat für die äußere praktisch gereifte Versöhnung mit den realen Lebensaufgaben (denen des bürgerlichen und nationalen Daseins u. s. w.), in deren Verwirklichung unsere Nation jetzt erst be­ griffen ist. Äm wahren sachlichen Sinne also hat Jean Paul jenen Kontrast, der den Grundinhalt seiner ganzen Anschauungsweise und Darstellung ausmacht, allerdings nie überwunden.

Denn

das deutsche Leben selbst blieb damals noch in jenem Kontraste der einseitig idealen Geistesthätigkeit und Richtung, und ande­ rerseits der kläglichen bürgerlichen und politischen Zustände, ge­ fangen, und Jean Paul's Dichtung hatte ihrer Natur immer diese unmittelbare Wirklichkeit selbst vor Augen.

nach Aber

in seiner Weise hat Jean Paul doch immer vollständiger und konsequenter jenen unversöhnten Kontrast zu überwinden gestrebt, und in dem Reichthum von Entwickelungsstufen erst, den er hierin durchlaufen hat, wird seine ganze Bedeutung, und seine (vorläufig nur nach dem Gesammteindruck geschilderte) Eigenthümlichkeit vollkommen klar.

Damit gehen wir denn zu

der Entwickelungsgeschichte des Dichters einzelnen Schöpfungen über.

selbst und zu seinen

II.

Jean Paul's dichterischer Entwicklungs­ gang. Die erste Äugendgeschichte Jean Paul's enthält in beson­ derem Maße eben das, was auch in seinen Dichtungen so eigen­ thümlich hervortritt, einerseits Enge und eingezogene Dürftigkeit des äußeren Daseins, andererseits um so gesteigertere Innerlich­ keit und Fülle des Gefühls- und Phantasielebens, die in un­ bestimmter Sehnsucht und Hoffnung einer zukünftigen größeren und schöneren Welt entgegenharrt, und zugleich damit eine auf sich selbst zurückgewiesene und mit sich beschäftigte Reflexion. Die ländliche Abgelegenheit und Stille des Pfarrdorfes Joditz (in der Nähe von Hof), wo er bis in sein dreizehntes Jahr aufwuchs, eine strenge und eingezogene Erziehung, die durch den geistlichen Beruf des Vaters befördert dem Knaben selbst das gemeinsame Zusammensein in der Dorfschule entzog, und ihn für gewöhnlich in die Räume des Pfarrhofes einschloß, — dieß alles mußte jene Sinnesweise befördern, die nach außen hin gewohnt sich mit Wenigem und Kleinem zu begnügen, um so mehr sich in eine innere Gemüthswelt versenkt und von dieser aus auch dem Kleinen und Beschränkten ihres äußeren Daseins eine erhöhte Bedeutung verleiht. Dieß Letztere ist eben jene Denk- und Gefühlsweise, die Jean Paul später in so be­ wußter und charakteristischer Form im Wutz, im Quintus Fix­ lein, und insbesondere in der Vorrede zu demselben dargestellt

Kindheitszeit I. Paul's.

30

hat; und diese hohe Bedeutung, welche das

äußerlich Kleine

und Unbedeutende durch das daran geknüpfte ideale Leben er> hält, sowie der damit zusammmenhängende Zug zum anheimelnd Engen und Kleinen, zur idyllisch zufriedenen und kindesartigen Existenz, blieb bei Jean Paul bis in sein Alter. die

Wie ihm darum

Kindheitserinnerungen und Kindheitsfreuden immer zum

Höchsten gehörten, und wie wir schon oben aus dem Wutz eine Stelle hervorhoben, in welcher das traulich Heimliche der ringsum abgeschlossenen Stube geschildert wird, so finden wir noch eine ganz ähnliche Aeußerung aus dem Jahre 1818.

„Noch jetzt

kann der gute häusliche Narre im zugemachten Kutschkasten ganz vergnügt sitzen und in die Seitentaschen mit Sehnsucht hinein­ sehen und sagen: ein prächtiges, stilles, feuerfestes Stübchen." Ihre große Bedeutung für die spätere Zeit des Dichters halten nun jene Kindheitserinnerungen allerdings hauptsächlich deßhalb, weil er in ihnen noch die unmittelbare idyllische Ver­ söhnung des innerlichen und idealen Lebens mit der Beschränkt­ heit und Dürftigkeit des äußeren anschaute, im Gegensatz gegen die theils schmerzliche, theils satirisch-komische Schärfe, mit der sich seinem späteren Bewußtsein der Kontrast jener beiden Sei­ ten aufdrang.

Indessen ist damit nicht gesagt, daß jene Kind­

heitszeit diesen Gegensatz noch gar nicht gefühlt hätte.

Er

war vielmehr, theils zufolge der eigenthümlichen Anlage Jean Pauls, theils zufolge der fühlbaren äußeren Beschränkung selbst, in welcher er aufwuchs, schon damals vorhanden, nur daß die Sehnsucht, die hieraus entsprang, zugleich noch die Form un­ bestimmter Hoffnung und Erwartung hatte, also noch etwas Beruhigendes und Glückliches in sich schloß, während sie im späteren Leben erst als unerfüllte schmerzliche Sehnsucht hervor­ trat.

Wie sehr aber in Jean Paul schon von Anfang die An-

Eigenthümlichkeit seiner Kindheitszeit.

ZI

läge zu jener innerlichen Entgegensetzung gegen das ei­ gene äußere Dasein, und zur vergleichenden und beobachtenden Selbstunterscheidung von diesem letzteren vorhanden war, das zeigt eine eigenthümlich merkwürdige Erinnerung, die er selbst über den inneren Anfang seines Ichs und Selbstbewußtseins sich erhallen hatte, und die eben dadurch als eine wahre und faktische sich zu erkennen gibt, weil sie durchaus nicht an irgend etwas äußerlich Ausfälliges sich knüpfte, sondern umgekehrt eine ganz alltägliche und äußerlich unbedeutende Situation nur durch einen rein innerlichen ungewöhnlichen Vorgang sich in der Erinnerung erhielt. „An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Hausthüre und sah links nach der Holzlage, als auf einmal das innere Gesicht „ich bin ein Ich" wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seit­ dem leuchtend stehen blieb. Da hatte mein Ich sich selbst zum ersten Male gesehen und auf ewig." Wer sieht hier nicht die­ selbe Eigenthümlichkeit, die ja auch sonst eben in der scharfen Gegenüberstellung und Vergleichung des inneren und idealen Menschen und andererseits seiner äußeren Wirklichkeit ihr We­ sen hat, und für welche daher auch später das Räthsel des Ichs und seiner inneren Selbstunterscheidung von sich etwas unheim­ lich Anziehendes behielt? Denn auch im Hesperus (16. Hundpostt.) heißt es von Viktor, diesem Abbilde des Dichters selbst, (in Beziehung auf ein angefertigtes Wachsbild von ihm): „ihm schauerte vor diesem fleischfarbigen Schatten seines Ich. Schon in der Kindheit streiften Gespenstergeschichten von Leuten, die sich selber gesehen, am kältesten über seine Brust. Oft besah er Abends vor dem Bettgehen seinen bebenden Körper so lange, daß er ihn von sich abtrennte und ihn als eine fremde Gestalt so allein neben seinem Ich stehen und gestikuliren sah.

32

Anlage zur Reflexion auf sich selbst.

Dann legte er sich zitternd mit dieser fremden Gestalt in die Gruft des Schlafes hinein, und die verdunkelte Seele fühlte sich wie eine Hamadryade von der biegsamen Fleischrinde über­ wachsen. langen

Daher empfand er die Verschiedenheit und den Zwischenraum zwischen

seinem Ich

und

dessen

Rinde tief, wenn er einen fremden Körper, und noch tiefer, wenn

er seinen eigenen Körper anblickte. — — Ueber diese

Punkte kann ich

selbst nie ohne ein gewisies Beben

reden."

Wer nun weiß, wie sehr Jean Paul in Viktor nur sein eigenes Wesen sowohl nach der schwärmend idealen, als nach der hu­ moristisch satirischen Seite dargestellt hat, der sieht auch

ohne

jene letzten Worte, wo der Dichter in eigener Person sprich^ leicht ein, daß diese Schärfe der inneren Selbstunterscheidung des Ichs von dem eigenen äußeren Menschen unmittelbar mit dem ganzen Humor des Dichters und mit jenem Kontraste in seiner ganzen Weltanschauung und Geistesweise zusammen­ hängt.

Doch noch weit eingreifender und unmittelbarer ist ja

im Titan, in dem schließlichen Wahnsinn und Tode Schoppens, dieser Zusammenhang dargestellt, welcher zwischen jener scharfen inneren Selbstabscheidung

des Ichs von

seinem

eigenen

äußern Menschen, und dem alles zersetzenden, überall im Kon­ traste des Idealen und des wirklichen Daseins sich bewegenden Humor besteht.

In Schoppe führt die einseitige Herrschaft

dieses Humors, und das Quälende und Unbefriedigte, das ebendamit verbunden ist, schließlich dahin, daß ihm überhaupt die Selbstunterscheidung

seines inneren Ichs, und der Gegensatz

desselben zu seinem realen uud äußeren Dasein, ein Gegenstand des unheimlichen Grauens und Quelle des Wahnsinns wird. Wie Viktor sein Ich von seiner „Rinde" abtrennt, so fragt sich Schoppe im Gehen (anfangs noch halb komisch):

„wer läuft

Trübere Wendung seiner Jugendzeit.

33

denn da unten so mit?" bis endlich, bei dem unerwarteten An­ blicke seines Siebenkäs, das wahnsinnige Entsetzen vor dem ei­ genen doppelgängerischen Ich vernichtend auf den schon verstörten Geist hereinbricht.

Doch davon wird später noch an seinem

Orte kurz die Rede sein.

Hier handelt es sich für uns nur

darum, daß schon in dem Knaben, theils durch natürliche An­ lage, theils durch seine Erziehung, der reflektirende Gegensatz eines reichen innerlich idealen Lebens und eines beschränkten und engen

äußeren Daseins sich

ausbilden und befestigen mußte.

Und wenn diese beiden Seiten, aus dem oben bezeichneten Grunde, anfangs noch in einer glücklichen idyllischen Einheit beisammen waren, so mußte bald, mit der Entfernung von Joditz und dem geistigen Heranreifen des Jünglings, zumal aber mit der un­ günstigen Veränderung seiner ganzen Lage durch den Tod des Vaters, auch das scharfe und bittere Gefühl jenes Kontrastes und der Einfluß hievon auf die nächste Geistesrichtung des Jünglings sich geltend machen. Schon in Schwarzenbach a. d. Saale, wohin sein Vater versetzt wurde, begann, obgleich es den Knaben und angehenden Jüngling bereits mehr in die Welt hineinführte, doch ebendamit auch mehr die trübe Ernüchterung, als eine Erfüllung der früheren Kindheitsträume.

Eine (hauptsächlich vom Vater her­

rührende) Verdüsterung der häuslichen Verhältnisse, Mangel au genügenden Bildungsmitteln, sowie an Altersgenossen, die seinem tieferen Bedürfnisse hätten zusagen können, mußten den her­ anreifender Geist in sich zurückdrängen, und da Gefühl und Phantasie so wenig Nahrung fanden, ihn zunächst zu überwie­ gender Ausbildung des bloßen Wissens und Verstandes hintrei­ ben.

Jetzt schon begann der Jüngling, aus Mangel eines ge­

nügenden Bildungsganges, jene Lektüre der verschiedenartigsten Planck, Jean Paul':- rivMuiuv

3

34

Schwarzenbach und Hof.

Schriften, soweit er deren in seiner beschränkten Umgebung hab­ haft werden konnte, (hauptsächlich durch den befreundeten Pfar­ rer Vogel in Rehau), sowie das Anlegen ebenso mannigfacher Excerpte.

So führte ihn also der von außen her unbefriedigte

ideale Drang zu jenem universalistischen Wesen; und das, was int allgemeineren Sinne überhaupt deutsche Eigenthümlichkeit ist,

wurde durch jene einseitig gesteigerte Zurückweisung auf

sich selbst in ihm wieder zu einer specifischen Eigenthümlich­ keit, so daß dieses gleichzeitige Nebeneinandertreiben, Verbinden und Vergleichen des Verschiedenartigsten, (wie es ihm na­ mentlich die Deutsche Allgemeine Bibliothek bot), eine Grundlage für jenen seltsamen Humor wurde, der in wunderlichen Sprün­ gen das Heterogenste mit einander zusammenbringt.

Zugleich

sehen wir jetzt noch bestimmter, als es im Früheren möglich war, wie eben das, was auch der Quell seines Humors und der Kern seiner ganzen Geistesweise ist, nämlich der Gegensatz der beschränkten äußeren Wirklichkeit gegen das innere ideale Leben, ihn auch

in jenes

universalistische Wesen hineintrieb,

ihn in dieser Anhäufung der verschiedenartigsten Kenntnisse und Reflexionen eine Entschädigung suchen ließ. Indessen weit mehr noch, als die Knabenjahre in Schwar­ zenbach, war es die Gymnasialzeit in Hof und die Universitäts­ zeit zu Leipzig, welche den Entwickelungsgang des Jünglings in der bisher bezeichneten Richtung fortführten, indem zugleich mit der zunehmenden Reife auch der Konflikt mit den äußeren Verhältnissen hier erst immer schärfer sich ausbildete.

In

Hof kam zu dem Ungenügenden, das auch noch der dortige Un­ terricht für einen strebenden Geist dieser Art hatte, zugleich die sonstige Jsolirung, die Anfeindung von den Mitschülern, und später, als das freisinnige Element in der Denkweise des Jüng-

Die Noth in Leipzig.

35

lings allmählich heraustrat, auch bittere Anfeindung durch den beschränkten und kleinstädtischen Geist der Einwohnerschaft.

Jene

schon in Schwarzenbach begonnene Art von Selbstbildung gieng daher auch hier fort, während die Anknüpfung eines ersten Freund­ schaftsbandes mit dem (von der dichterisch-sentimentalen Seite her verwandten) Adam v. Oerthel, und später mit dem an Geist und Lebensverhältnissen Jean Paul weit ähnlicheren Hermann, (von dem unten erst die Rede sein wird), unter solchen Umstän­ den nur zur Befestigung der ganzen Sinnesweise und Geistes­ richtung des Jünglings dienen konnte.

Dazwischen aber ver­

schlimmerten sich noch die häuslichen Umstände der Familie; und als nun endlich in Leipzig Armuth und Noth in ihrer ganzen Bitterkeit über den Achtzehnjährigen hereinbrachen und den Ge­ danken in ihm reiften, durch eine erste schriftstellerische Arbeit sich die nöthigsten Mittel zu verschaffen, und überhaupt statt des theologischen Studiums sich der freien schriftstellerischen Thätig­ keit zuzuwenden, welche andere Form konnte da das erste Erzeugniß eines solchen Geistes annehmen, als daß der bittere Kontrast, der zwischen seinem geistigen Streben und Selbst­ bewußtsein und seiner äußeren Lage bestand, sich in herber Satire und in

ironischer Bitterkeit des Witzes ausprägte?

Und zwar ist wiederum der allererste und nächste Gegenstand dieser Satire ganz naturgemäß eben jener Kontrast, der zwischen der scheinbar so idealen Thätigkeit des Schriftstellers und den nüchtern materiellen Anlässen dieser Thätigkeit, vor al­ lem dem Bedürfnisse des Magens und des körperlichen Menschen besteht.

Allein indem er so zunächst diese seine eigene erste

Autorschaft, zu der ihn Noth und Hunger getrieben hatten, ver­ spottet, traf er ebendamit zugleich das allgemeine Mißverhältniß, das zwischen dem einseitig idealen Drange des deut-

3

*

Die „Grönländischen Processe?

36

schen Geistes, seiner wuchernden schriftstellerischen Thätigkeit, und andererseits der Dürftigkeit seiner materiellen und bürger­ lichen Zustände bestand.

Und indem dann in gleicher Ironie

noch eine Reihe anderer Schwächen und Gebrechlichkeiten, allzu große Jugend, Schwäche des Alters, Krankheit u. s. w., als Quellen und Anlässe der Schriftstellerei hingestellt werden, so wurde das Ganze ebendamit zu einer treffenden Satire alles schlechten Seribententhums der damaligen Zeit. Wir sehen also, daß wirklich schon in dem ersten Erzeug­ nisse Jean Paul's jener früher erörterte einseitige Gegensatz in unserer deutschen Entwicklung,

das Mißverhältniß zwischen

der innerlichen idealen Seite derselben und den äußeren Zustän­ den, den eigentlichen Kern bildet, und daß ihm dieser Kontrast, wie schon früher, so vor allem auch in seiner damaligen Lage, zunächst durch seine eigene Entwickelungsgeschichte sich auf­ drängte.

Nur hat also in dieser ersten Darstellung noch die

herbe reale Seite jenes Kontrastes das Uebergewicht, sie ist noch bloße Satire, in welcher der Verstand und Witz, noch nicht die Wärme, die Innerlichkeit und Tiefe des Gefühls und der Phantasie thätig ist.

Und dieß hat sonach theils in der harten

Jugendgeschichte Jean Paul's seinen Grund, indem die herbe und trotzige Stimmung

des mit dem Mißgeschicke ringenden

Jünglings nur erst als Satire sich ausprägen konnte, — theils erscheint es auch zufolge des allgemeinen und bleibenden Grunde inhaltes der Jean Paul'schen Dichtung als das Natürliche. Denn da diese immer in jenem scharfen Kontraste gewurzelt hat, so bedurfte es naturgemäß erst einiger Zeit und einer gereifteren Entwicklung, damit demungeachtet auch das ideale Bedürfniß des Herzens und der Phantasie, und der hieraus hervor­ gehende dichterische Schwung, sich sein Anrecht gegenüber von

Die „Grönländischen Processe."

37

dem andern (satirischen und humoristischen) Elemente erobern konnte. Indem wir hiemit schon an der ersten Schrift Jean Paul's sogleich den für sein ganzes Wesen charakteristischen HauptgesichtSpunkt hervorgehoben haben, so hat dieß natürlich durchaus nicht den Sinn, daß damit die anderweitigen bestimmteren Mittel­ glieder, aus denen dieser satirische Anfang seiner Schriftstellerthätigkeit zu

erklären ist,

unbeachtet bleiben

sollten.

Dahin

gehört theils der Einfluß eines andern geistesverwandten Schrift­ stellers, den er kurz vorher kennen gelernt hatte, nämlich Hip­ pels, theils noch mehr der Einfluß französischer und englischer Muster.

Denn theils hatten Rousseau, Voltaire und

andere

Geister der Aufklärungszeit, theils wiederum die Lektüre Swift's, Addison's, Pope's auf ihn eingewirkt.

Und es ist ebenso der

Geist freier Opposition gegen Schwächen und Thorheiten der Zeitzustände, als das Streben nach einer lebhaft bilderreichen und witzigen Schreibweise, was durch jene Einwirkungen erregt und befördert war.

Allein sowohl dieß, als die inneren Ueber-

gänge, durch welche die schriftstellerischen Versuche des Jünglings selbst erst hindurch gehen mußten, bis der erste Theil der Grön­ ländischen Processe entstand, ändern an der Wahrheit und inne­ ren Begründung des obigen Gesichtspunktes nichts. hatte nämlich, ehe er die

Jean Paul

„Processe" selbst schrieb, zuerst mit

einer unselbständigeren und

niedriger stehenden Art satirischer

Nachahmung, einem Lobe der Dummheit (bekanntlich einem schon von Erasmus behandelten Stoffe) begonnen, mußte aber, da er diese Schrift nicht an den Mann bringen konnte,

sie bei

Seite legen, und kam nun erst auf diese andere und selbstän­ digere Form der Satire. Der Titel dieses satirischen Erstlingsproduktes,

„Grön-

Die „Grönländischen Processe/

38

ländische Processe," (nach einer Notiz, daß die Grönländer bei Streitigkeiten ironische Lieder auf einander absingen), zeigt schon das wunderliche, universalistisch gelehrte Zusammenraffen von Vergleichungen, Anspielungen u. s. w. aus allen Ecken und Zonen.

Und ähnlich bewegen sich auch die Satiren selbst fast

fortwährend durch ein Witzspiel von Bildern und Gleichnissen, die aus den verschiedensten Gebieten her entnommen sind.

Die

Phantasie ist noch einseitig für die Verstandesthätigkeit des in Aehnlichkeiten und Kontrasten sich bewegenden Witzes in Anspruch genommen.

Allein sie strebt im Gegensatz zur Dürftigkeit ihres

realen Stoffes auch hier schon ebenso nach einem idealistisch freien und universellen Spielraum, wie dieß später in der Form einer idealen Gefühlswelt geschieht.

Die andern oben

noch nicht berührten Satiren, wie die über die Theologen, über den Ahnenstolz, über Weiber und Stutzer, haben zwar keinen so unmittelbar charakteristischen Gegenstand, wie jene erste und wichtigste über die Schriftstellerei; allein außerdem daß ihr In­ halt durch die eigenen bisherigen Lebensverhältnisse des Jüng­ lings an die Hand gegeben war, so zeigen auch sie jenen ge­ meinsamen Grundcharakter, nämlich den Kontrast zwischen einer idealen Bestimmung, oder einem idealen Anscheine, und anderer­ seits der niedrigen und kleinlichen Wirklichkeit, in die er sich auflöst.

Jean Paul selbst sieht sich durch die über Weiber und

Stutzer (bei der er sich auf seine Leipziger Anschauungen stützte) in der Vorrede zur 2. Auflage (fast um 40 Jahre später) zu der Frage veranlaßt: „und so etwas that und schrieb ein Neun­ zehnjähriger? einer, der in solcher Blüthezeit vielmehr Herz und Auge ganz voll haben sollte von trunkner Liebe für Alle? — kurz einer schrieb so satirisch über die Weiber, der in solchem Alter, zumal wenn man seinen späteren Hesperus, Titan und

Die „Grönländischen Processe?

39

Anderes erwägt, sich nichts Schöneres, Befferes, Holderes hätte denken sollen als ein Weib?" Er antwortet dann aber darauf: „die rechte Satire fomme so wenig aus dem Herzen, als die rechte Empfindung aus dem Kopfe. Gerade der Jüngling, der überall lyrisch sei, weil für ihn das Ideal noch am Horizont dieser Welt zu stehen scheint, werde sowohl Flecken als Lichter der Menschen zu breit sehen." Indessen ist klar, daß erst in den oben bezeichneten bestimmteren Verhältnissen die volle Er­ klärung jener scheinbar so ausfälligen Thatsache liegt. Indem die Welt dem Jünglinge bis jetzt noch einseitig die kalte und abstoßende Seite entgegengekehrt hatte, so konnte dieß auch in ilfnt zunächst nur die Kälte der Satire und des Witzes hervor­ rufen. Die Veröffentlichung des ersten Theils der Grönländischen Processe brachte dem Jüngling eine Hilfe, die zwar nur augen­ blicklich uud vorübergehend war, die aber doch den ersten Sonnen­ blick der Anerkennung und Aufmunterung zu weiterer Thätigkeit in seine Seele warf. Er fand diese Hilfe an demselben Orte, von dem aus er in der letzten Zeit auch eine bedeutende geistige Arrregung seiner eigenen Thätigkeit erhalten hatte, nämlich bei dem Verleger von Hlppel's Werken, Voß in Berlin. Aber diese Hilfe konnte nicht verhindern, daß nach kurzer Zeit die Noth von Neuem hereinbrach. Denn thells der Mangel an Stoff, an eigener reicherer Anschauung und Erfahrung, theils der Mangel an voller innerer Befriedigung, der mit dieser ein­ seitig satirischen Thätigkeit verbunden war, (indem schon jetzt, wenn auch noch ganz zurückgedrängt, die andere Seite, die des Gemüthes und seines inneren Bedürfnisses, sich regte), theils endlich das verfehlte Streben nach einer vermeintlich kunstgerech­ teren Form, — dieß alles wirkte zusammen, daß schon das

40

Opposition gegen die bestehende Sitte.

zweite Bändchen der „Processe" schwächer ausfiel, und die für kurze Zeit eröffnete Aussicht auf literarischen Erwerb sich wieder verschloß.

Um so charakteristischer ist es für die Geistesweise

Jean Paul'S, daß er in dieser noch so ganz prekären Lage, so­ gar noch ehe das erste Bändchen der „Processe" einen Verleger gefunden hatte, bloß kraft seines durch die schriststellerijche Ar­ beit gewonnenen Selbstbewußtseins, sich auch in seinem äuße­ ren Auftreten in schroffen Gegensatz zur herrschenden Sitte setzte, indem er plötzlich nicht nur Zopf und Puder abwarf, son­ dern auch mit bloßem Halse und offener Brust unter die modi­ schen Leipziger trat, und dadurch noch viel stärker den damaligen Anstandsformen Hohn sprach, auch ungeachtet aller Widerwärtig­ keiten und Anfechtungen, die ihm dieses Auftreten (namentlich in dem kleinstädtischen Hof) zuzog, diesen Kampf gegen die be­ stehende Sitte eine Reihe von Jahren fortführte.

Es zeigt sich

auch hierin wieder die Grundeigenthümlichkeit des Jean Paul'schen Wesens, daß nämlich das frei ideale Streben seines Geistes sich immer in unmittelbare Beziehung zur äußeren Wirklichkeit setzt,

theils überhaupt im unmittelbaren persönlichen Ergüsse

nach außen zeigt. Während selbst ein so frei aufstrebender Geist, wie Schiller, nicht an eine derartige äußerliche und persönliche Opposition gegen

die bestehenden Formen und Sitten dachte,

sondern ganz der Welt seiner idealen Schöpfungen, als einer für sich abgeschlossenen, zugewandt war, so gibt dagegen Jean Paul seinem Streben und Bewußtsein auch persönlich die gleiche unmittelbare Beziehung auf das äußere Leben selbst, wie er in seinen Dichtungen unmittelbar diese beschränkte und klein­ liche Wirklichkeit mit all' ihrem Kontraste gegen das ideale Gei­ stesleben hereinzieht.

Wir werden daher sehen, und haben es

früher schon kurz hervorgehoben, wie Jean Paul auch im persön

Flucht aus Leipzig; Armuth in Hof.

41

lichen Verkehre, im Gespräche mit ähnlich gestimmten Geistern, wie namentlich auch hervorragenden Frauen, weit mehr seine ganze Denk- und Empfindungsweise nach außen ergoß, als dieß na­ mentlich von Goethe und Schiller galt, und wie er eben hie­ durch namentlich auf Frauen einen großen Reiz übte.

So schien

ihm denn auch damals die freie Würde seiner Person und Ueber­ zeugung

so sehr

an ein beharrliches. Festhalten

jener Tracht

geknüpft, daß er selbst einem so hoch geachteten und wohlmei­ nenden Freunde

und Wohlthäter wie dem früher genannten

Pfarrer Vogel, den entschiedensten

Widerstand entgegensetzte,

und erst nach Jahren, nach reifer gewordenem Bewußtsein und mancher trüben Erfahrung, jene jünglingsariige Opposition ge­ gen die bestehende Sitte aufgab. Die Noth in Leipzig trieb den Dichter endlich im Novem­ ber 1784 zu einer Flucht, die ihrer äußeren Form nach halb komisch zu nennen war, und die nächstfolgenden Jahre in Hof, wo er inmitten der verarmten Familie, in einer Stube mit seiner schmerzlich duldenden Mutter und seinen verkommenden Brüdern, über den geliehenen Büchern oder seinen Manuscripten saß, konnten unmöglich schon eine wärmere und schwung­ vollere poetische Stimmung in ihm hervorrufen, wenn sie ihm gleich für alle jene Scenen, wie er sie später in seinem Sieben­ käs und anderwärts gab, und zufolge welcher man ihn schon den rechten „Dichter der Armen" genannt hat, für alle diese gemüthvolle und humoristische Kleinmalerei, den nächsten Stoff geliefert hat.

Seine Thätigkeit mußte daher immer noch auf

dem bloß satirischen Gebiete bleiben, wobei sie zwar allmählich jene gereiftere und freiere,

theilweise schon in die erzählende

Form übergehende Gestalt annahm,

welche sie in der endlich

1789 erscheinenden „Auswahl aus des Teufels Papieren"

42

„Auswahl aus des Teufels Papieren."

zeigte, allein freilich ohne damit irgend einen größeren Erfolg zu erringen.

Denn diese Form der Satire war wiederum zu

künstlicher und phantastisch barocker Art, auch ebendeßhalb viel­ fach zu versteckt und zu wenig in die Augen springend, so daß schon für das allgemeine Verständniß die Grönländischen Pro­ cesse ungleich näher lagen.

Wir erinnern hier nur z. B. an

„Habermann's große Tour," an das „Autodafe im Kleinen" u. dgl.

Insbesondere mußte gerade das, was dem Verfasser

selbst besonderes Vergnügen machte, nämlich die Freiheit der Bewegung, die in unbegrenztem Spielraume auf die verschieden­ artigsten Verhältnisse, Lokalitäten u. s. w. übersprang, und (um mit Jean Paul selbst zu reden) „das rechte Bein am arktischen Pol, das linke am antarktischen" hatte, — auf den Leser ganz anders wirken. Das Ganze erschien so als ein viel zu gesuchtes und künstliches Witzspiel, und es ist nicht zu verwundern, wenn Jean Paul selbst in seiner späteren Zeit diesem Jugendwerke am wenigsten Geschmack abgewinnen konnte.

So wenig daher

die satirische und humoristische Kraft, die sich im Einzelnen zeigt, zu verkennen ist, (wie z. B. in dem kleinen Stücke „die Him­ melfahrt der Gerechtigkeit" oder „wie ein Fürst seine Unter­ thanen nach der Parforcejagd bewirthen lassen"), so können wir doch nicht genauer auf diese Teufelspapiere eingehn, und weisen nur noch darauf hin, daß schon in ihnen, wie in andern satiri­ schen Aufsätzen aus dieser Zeit der achtziger Jahre, namentlich in der „scherzhaften Phantasie von Hasus" (später erst in der „Herbstblumine" abgedruckt), sehr entschieden das frei poli­ tische Element in Jean Paul, die scharfe und bittere Satire auf die Kläglichkeit deutscher Staats- und Regierungszustände hervortritt. — Um so mehr haben wir dagegen jetzt den für Jean Paul's ganzes Wesen so charakteristischen ersten Ueber-

Uebergang zur gefühlvollen Dichtung.

43

gang zur ernsten und idealen Dichtung in das Auge zu fassen. Schon das tiefere Bedürfniß des eigenen Gemüthes und seiner dichterischen Anlage, wie ein erheiterndes und erwärmen­ des Zusammentreffen äußerer Umstände, wirkte immer mehr dar­ auf hin, daß unter der kalten Eisdecke der Satire das ideale dichterische Gefühl und der Trieb zu positiver ernst dichterischer Gestaltung seine Schwingen entwickelte.

Der Aufenthalt in

Töpen (in der Nähe von Hof) vom Anfang des Jahres 1787 an, wo Jean Paul bei dem Vater seines Jugendfreundes, dem schmutzig geizigen Kammerrathe v. Oerthel, eine Hofmeisterstelle übernahm, war immer noch eine Fortsetzung jener harten uud unerfreulichen Durchgangsperiode gewesen.

Allein wie doch schon

damals die erste Idee eines pädagogischen Romanes (zum Theil auf äußere Anregung hin) sich bei Jean Paul regte, und dann der Tod jenes Jugendfreundes Adams v. Oerthel, der in Jean Paulas Armen starb, einen erschütternden Eindruck auf seine Phantasie machte, so kehrte er dann auch, als bald nachher jenes Töpener Verhältniß sich vollends auflöste, mit wesentlich ver­ änderten Gefühlen und Bedürfnissen nach Hof zurück.

Jenes

trotzige Freiheitsgefühl und die schroffe Opposition gegen die bestehende Sitte, womit von selbst das kalt satirische Verhalten zusammenhieng, wich jetzt auf einmal dem Bedürfnisse eines wär­ meren Anschließend an das gesellschaftliche Leben seines Heimats­ ortes, und vor allem regte sich in ihm das Streben nach den wohlthätig erregenden und belebenden Eindrücken eines edleren weiblichen Umganges.

Wie es ihm nun durch diese Anbe­

quemung an die bestehende Tracht und Sitte, und durch sein eigenes freundlicheres und heitreres Verhalten, auch insbesondere durch seine Gabe auf dem Klavier zu phantasiren, bald gelang

44

Uebergang zur gefühlvollen Dichtung.

den gewünschten Zutritt in die Familien zu erhalten, und vor allem in der weiblichen Welt sich Freundinnen zu gewinnen, so kam jetzt auch noch ein ebenso erheiterndes, wie für seine Sinnes­ weise anregendes und begeisterndes Verhältniß hinzu, das sich in seinem früheren Heimatsorte Schwarzenbach für ihn eröffnete, indem er für die Kinder mehrerer ihm innig befreundeter Män­ ner und Familien zum gemeinsamen Erzieher berufen wurde. Aber auch noch von der ernsten und trüben Seite her hatte er eine erschütternde Mahnung erhalten, durch welche ihm das Un­ befriedigende seiner bisherigen einseitig satirischen Richtung wie­ derum nahe gelegt wurde.

Es war dieß der Tod des schon

früher erwähnten, in Charakter und Schicksalen ihm ähnlichsten Freundes, I. B. Hermann, welcher dem trüben und angestrengten Ringen mit der Ungunst seiner äußeren Verhältnisse, die ihm einen

angemessenen wissenschaftlichen Wirkungskreis

endlich erlegen war.

versagte,

Und je mehr Jean Paul in der Geschichte

dieses Freundes Aehnlichkeit mit seiner eigenen fand, je mehr ferner in den letzten Jahren sein Verhältniß zu diesem Freunde an Tiefe und Innigkeit gewonnen hatte, desto tiefer mußte auch dieser Schlag auf ihn einwirken, und das Bedürfniß einer volle­ ren gemüthlichen Befriedigung auch von Seiten seiner schrift­ stellerischen Thätigkeit in ihm erregen.

Theils diese Eindrücke

also, welche die ernste und ideale Seite in ihm mächtiger an­ regen mußten, theils andererseits das Wohlthätige und Freund­ liche jener geselligen Verhältnisse, sowie die ideale und dichte­ rische Anregung, die gerade für ihn darin lag, eine Schaar empfänglicher und wohlgearteter Kinder ganz in seinem Geiste heranzubilden, — dieß Alles wirkte endlich zusammen, daß die lang zurückgehaltene Knospe ernster und positiver dichterischer Gestaltung mit einem Male aufbrach.

Jos. Freudel" und „Florian Falbel?

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Den ersten Uebergang hiezu bildeten theils ein paar kleinere komische Stücke von darstellender und erzählender, also bereits mehr poetischer Art, theils kleinere ernste Aufsätze, wie er denn mit einem solchen den ersten Zugang zu der späteren Verbindung mit Herder sich eröffnet hatte, und zwar charakteristisch genug dadurch, daß zunächst dessen Gemahlin Caroline aus Anlaß des überschickten Aufsatzes ein Interesse für ihn faßte.

Von je­

nen kleinen komischen Erzeugnissen aber ist das eine „des Amt­ vogts Josuah Freudel Klaglibell gegen seinen verfluchten Dä­ mon," worin verschiedene komische Situationen mit lebendigem Humor dargestellt werden (gleich dem anderen zuerst in dem Anhange zum Quintus Fixlein abgedruckt).

Das zweite, durch

feinen Stoff bedeutendere und wichtigere,

ist eine erzählende

Schilderung, in welcher er noch ein satirisches Gegenbild seiner eigenen pädagogischen Thätigkeit gibt, und welche also bereits jene auch den spätern Dichtungen Jean Paul's

so charakteristische

Eigenthümlichkeit theilt, daß sie mit der unmittelbarsten Bezie­ hung auf seine Verhältnisse und Umgebungen, auf die Gegen­ den,

in denen er vorzugsweise zu Hause war, u. s. w., geschrie­

ben ist.

Dieß gemäß jenem allgemeinen Grundzuge in Jean

Paul's Wesen, daß er überall, auch in seiner Dichtung, in der unmittelbaren Beziehung auf die ihn umgebende Wirklichkeit fest­ steht, sei es nun in satirischer und humoristischer Form, oder im Kontraste des höheren idealen Lebens gegen diese umgebende niedrige und beschränkte Wirklichkeit.

Die komische Erzählung,

die wir hier meinen, ist „des Rektors Florian Fälbel und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberge," wobei er diesen Schulpedanten ganz durch dieselben Gegenden kommen läßt, in denen er selbst sich damals befand, durch Schwarzen­ bach u. s. w., nur daß ganz im Gegensatz zur Jean Paul'schen

46

Anfänge der gefühlvollen Dichtung.

Naturschwärmerei dieser Rektor Falbel durch seine abgeschmackten Pedanterien seine Schüler ganz von dem Naturgenuß abzieht, und schließlich nicht einmal das Ziel der Reise mit ihnen erreicht. Allein obgleich also der Dichter hier zunächst noch ein satirisches Zerrbild seiner eigenen Stellung und Thätigkeit gegeben hat, so nähert sich doch diese Darstellung darin bereits den späteren, daß zwischen hinein nicht nur das entrüstete Gefühl des Dich­ ters über solche elende Verkümmerung des jugendlich idealen Sinnes sich Luft macht, sondern daß auch bereits in der Toch­ ter des Rektors (Kordula) das ernst gefühlvolle Element sich ein (wenn auch noch ganz bescheidenes) Plätzchen erobert hat. Auch hier nämlich ist es, nur in noch stärkerem Maße, das Mitleid mit der durch die gemeine Nothdurft des Lebens und durch die rohe Männerhand niedergedrückten Weiblichkeit, was zwischen der satirischen Schilderung selbst hervorbricht.

„O es

ist mir," ruft der Dichter, „als säh' und hört' ich in all' eure Häuser hinein, wo ihr Väter und Ehemänner mit vierschrötigem Herzen und dickstämmiger Seele beherrschet, ausscheltet, abhärtet und einquetschet die weiche Seele, die euch lieben will und hassen soll, — das zerrinnende Herz, das eure kothigen schwülen Fäuste handhaben — das bittende Auge, das ihr anbohrt vielleicht zu ewigen Thränen.-------- O ihr milden, weichen, unter schwerem finsteren Schnee gebückten Blumen, was will ich euch wünschen, als daß der Gram, ehe ihr mit besudelten, entfärbten, zerdrück­ ten Blättern verwest, euch mit der Knospe umbeuge und ab­ breche für den Frühling einer anderen Erde!"

Diese Stellen

sind schon vollkommen analog mit denen, die erst mehrere Jahre später in der „Geschichte seiner zweiten Vorrede zum Quintus Fixlein" (vom I. 1796) sich finden, wo er einer ähnlichen Ge­ stalt, wie jener Kordula, nämlich der „Pauline Oehrmann" (die

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Anfänge der gefühlvollen Dichtung.

auch in der Vorrede zum Siebenkäs erscheint) mit gleichen Empfin­ dungen über das Schicksal solcher Wesen in das Angesicht blickt, daß sie nämlich

„wie ihre meisten Schwestern gleich weichen

Beeren von der harten Manneshand

zugleich abgerissen und

zerdrückt würden, — daß die duftenden Blumenblätter ihrer Jugend sich nur zu geruchlosen Kelchblättern

zusammenzögen

zum Honiggefäße für den Mann, der von ihnen weder ein wei­ ches Herz, noch einen lichten Kopf, sondern nur rohe Arbeitsinger, Läuferfüße, Schweißtropfen, wunde Arme, und bloß eine ruhende paralytische Zunge fordere; daß ihnen die blaue Ro­ tunda des Universums zum Wirthschaftsgebäude,

zur Speck-

und Holzkammer und zum Spinnhaus, und an glücklichen Tagen zur Visitenstube einschrumpfe; — daß die reichste beßte Seele unter der Morgenröthe des Lebens mit dem unerwiederten Her­ zen, mit.den ungesättigten, verschmähten Anlagen eingesenkt werde in's übermauerte Burgverließ der Ehe."

Und wenn er

nun eben dort von sich selbst sagt, daß er darum vor einem solchen Wesen „ganz in Citronenblüthen der Dichtung ausge­ schlagen sei, so wie er vorher (im Grimm über den Kunstrath Fraischdörfer) eine Salzsäule aus satirischem Citronensalze gewesen," und daß er den Eltern und Männern „die gemalten Wunden zeige, damit sie die wahren heilten," so lassen sich diese Worte ebenso auf jene oben geschilderten Verhältnisse und die hiedurch erregten Empfindungen anwenden, die ihn zuerst zur ernst gefühlvollen Dichtung, sowie zur Umwandlung des Satirischen in den eigentlichen Humor hinführten.

Noch

ein weiteres Zeugniß ist ein gerade aus jener Uebergangszeit stammender zärtlich gefühlvoller Brief an eine der Freundinnen in Hof, und eine darin enthaltene allegorische Dichtung, die gleichfalls am Ende jener „Geschichte der zweiten Vorrede zum

Das „Schulmeistertem Wutz?

48

Quintus Fixlein" angefügt ist, und worin der Genius der Poe­ sie es ist, der die weiblichen Wesen bei ihrem Ueberlritt auf die Erde gegen alle die niederziehenden und verderblichen Ein­ flüsse derselben zu schützen verspricht. Theils die idealen Anregungen der Kindheit und Jugend also, theils das Hineinleben in weibliches Wesen und weibliche Bestimmung, die am unmittelbarsten auf den engen und be­ schränkten Kreis häuslicher Bedürfnisse angewiesen ist, und bei welcher daher am rührendsten der Kontrast zwischen idealer Anlage

und

Bestimmung und

andererseits der

niedrigen

Wirklichkeit sich darstellt, — dieß war es, was (gemäß allem schon früher Gesagten) dem ersten Auffluge von Jean Paul's höherer dichterischer Thätigkeit vorzugsweise den anregenden In­ halt gab.

Ihm selbst mußte daher in Bälde jenes Zerrbild, das

er in seinem Fälbel noch geschaffen hatte, widrig und drückend werden, wie er ja in der Erzählung selbst schon diesen Wider­ willen hervortreten läßt, und es drängle ihn sogleich ein rüh­ rendes und gemüthlich anregendes Gegenbild hiezu zu ent­ werfen, das wiederum aus dem Schulstande entnommen war, aber statt jener beschränkt pedantischen Verkümmerung

alles

Idealen vielmehr umgekehrt auch aus den kleinsten und beschränk­ testen Verhältnissen eine rührende kindlich ideale Befriedigung schöpft, und so selbst die seinem Stande anhaftenden Fehler, der Eitelkeit und Beschränktheit, nur in einem idyllisch-humoristischen Lichte schauen läßt.

Dies ist nun jenes schon mehrmals berührte

„Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz," welches Jean Paul selbst als den Uebergang zu seinen größeren Schöpfungen bezeichnet, und als den „Leithammel," der seinen späteren Helden, seinem „Gustav, Viktor" u. A. vorangezogen sei.

„Noch neun Jahre lang, nach seinen im 19. Jahre ge-

Das Schulmeisterlein Wutz.

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schriebenen Skizzen, arbeitete der Verfasser in seiner satirischen Essigfabrik, bis er endlich im December 1790 durch das noch etwas honigsaure Leben des Schulmeisterlein Wutz den seligen Uebertritt in die unsichtbare Loge nahm.

So lange also, ein

ganzes Horazisches Iahrneun hindurch, wurde des Jünglingö Herz von der Satire zugesperrt, und mußte Alles in ihm ver­ schlossen sein, was in ihm selig war und schlug, was wogte, lieble und weinte.

Als es sich nun endlich im 26. Jahre öffnen

und lüften durfte, da ergoß es sich leicht und mild, und wie eine warme überschwellende Wolke unter der Sonne."

Ihm

selbst erschien dieß später einerseits als ein Vortheil: „die Em­ pfindung verschloß ihr Heiligthum Jahrzehnte lang der DichtFeder; sie verdichtete sich eingesiegelt, und verrauchte nicht auf dem luftigen Weltmarkt," während er anderwärts wieder mit Schmerz auf jene kalte und dürftige Jünglingszeit zurückblickte, wo ein gleicher Reichthum von erwärmenden Anregungen, wie die später ihm zu theil gewordenen, ungleich früher seine dich­ terische Schöpfungskraft hätte befruchten können. Das Charakteristische des Wutz nun als dieser Uebergangsform ist also zunächst das, daß das rührende und gemüthvoll ideale Element doch nur erst in der Form des JdyllischHumoristischen, d. h. als ein solches aufzutreten vermag, das in Wirklichkeit auf einer dürftigen, kleinen und beschränkten Grundlage fußend immer zugleich auch einen komischen Ein­ druck macht, und eben durch diese Mischung des menschlich Rüh­ renden mit dem Komischen den Humor hervorbringt.

Erst gegen

den Schluß des Wutz hin, der nach einem Zwischenraum von einem Monat vollends abgefaßt wurde, wagt sich auch das ernst Rührende und Erhebende für sich hervor, bei der Schilderung von Wutzens Tod. P 1 a u cf , Icflii 'ImuiI'v

In derselben Weise also, wie Jean Paul

£ui'uu;.].

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DaS Schulmeisterlein Wutz.

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in seinem Leibgeber, diesem Abbilde seiner rein hunwriistischen und satirischen Seite, die rührende und ernstere Gefühlsregung nur verschämt und halb verstohlen hervortreten läßt, alS wagte sie sich nicht vor dem satirisch zersetzenden und spottenden Hu­ mor zu zeigen, so erscheint auch in Jean Paul's eigenem dich­ terischen Entwicklungsgänge das ernste und gefühlvoll erhebende Element zunächst nur in jener halb verschämten Weise.

Allein

doch ist es jetzt ein für allemal zum selbständigen Durchbruch gekommen, wenn es auch für immer sich mit dem andern, dem humoristischen und satirischen Elemente, in die Herrschaft theilen muß. des

Unmittelbar nach dem Wutz begann daher die Schöpfung ersten

seiner ernsten Romane, der

„unsichtbaren Loge."

Als die zweite Haupteigenthümlichkeit an Wutz aber, welche in dem Obigen schon mitenthalten ist, erscheint die, daß das ge­ müthlich ideale Element nur erst im unmittelbaren Anschluß an die kleine und enge Wirklichkeit selbst, als idyllisch kinderartige Zufriedenheit mit dieser, dagegen noch nicht als bewußte schmerzliche und ,trübe Entzweiung

mit

derselben hervortritt, wie in den nachherigen Romanen.

So

wie in der satirischen Periode noch ganz die verständig reali­ stische Seite, der Kontrast der gemeinen Wirklichkeit gegen den idealen Anschein u. s. w., das Herrschende war, so vermochte auch jetzt das ideale Gefühls- und Phantasieelement sich zunächst nur erst im Anschluß an die beschränkte und dürftige Wirklich­ keit selbst darzustellen, indem sie diese, mit all' ihrer Kleinheit und Enge, zu einer idyllisch

glücklichen erhebt.

Nach dieser

Seite ist der Wutz, wie schon früher bemerkt, nur ein Abbild der eigenen Kindheit des Dichters, so daß er geradezu eine Reihe specieller Züge aus dieser letzteren darein verwoben hat. Denn wenn z. B. Wutz Abends im Hofe barfuß als schreiende

Das Schulmeisterlein Wutz.

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Schwalbe herumfährt und Bettstroh und Bettfedern zu Neste trägt, oder wenn er später seiner Geliebten Potentaten, die er mittelst Fett und Ruß auf Papier abkopirt hat, und Pfeffer­ kuchen aus der Stadt zukommen läßt u. dgl., so sind dieß alles Dinge, die unmittelbar aus Jean Paul's eigener Kindheit ent­ nommen sind, wie er ja selbst auch auf diese Joditzer Zeit und ihre Freuden sich ausdrücklich in einer Stelle des Wutz beruft. Zugleich ist der Wutz, nur in einer schärfer ausgeprägten komisch humoristischen Form, ein Vorbild alles dessen, was der Dichter spater noch im Geiste dieser Kindheitserinnerungen ge­ schaffen hat, des Quintus Fixlein insbesondere, der ja auch ein solches idyllisches, aus beschränkten Verhältnissen Freude saugen­ des Glück darstellt, nur schon mit ungleich ausgebildeterem Her­ vortreten der idealen Empfindung und des Ernstes.

Aber auch

alle die andern Kindheitsscenen, in den größeren Romanen, den Flegeljahren u. s. w., so wie die andern Schilderungen, in wel­ chen Jean Paul seine Helden aus dem Schul stände entnommen hat, Fibel, der Rektor Seemaus, und Andere sind aus diesem Anschauungskreise hervorgegangen.

Daß der Dichter zu der­

artigem vor allem den Sch ul st and wählte, (im Wutz, Fix­ lein, Fibel, Seemaus), hat den natürlichen Grund, daß eben in diesem in besonderem Maße die überwiegend ideelle und universalistisch gelehrte Beschäftigung mit den beschränk­ ten und

dürftigen

äußeren Verhältnissen kontrastirt,

wie ja die hungrige Seite dieses Standes noch viel später im Rektor Seemaus mit so vielem Humor geschildert ist.

Aehn-

lich verhält es sich mit der Anknüpfung an den geistlichen Stand (im Fixlein, Hesperus, Jubelsenior).

War es ja schon

für Jean Paul's eigene Entwicklung von so wesentlicher Be­ deutung, daß sein Vater Landgeistlicher war, (nachdem er, wie

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Das Schulmeisterlein Wutz.

Fixlein, zuerst Lehrer gewesen); und selbst die rührenden Er­ innerungen an seinen Großvater wiesen zurück auf jene „Hunger­ quelle" des Schulamts. Ehe also Jean Paul's Muse ihren frei

idealen Aufflug

begann, hielt sie sich in ihrem ersten gemüthlich idyllischen Erzeugniß, dem Wutz, noch möglichst nahe am Boden hin, sie gibt noch nichts weiter als diese Schilderung eines kleinen „in sich vergnügten Dings."

Wie charakteristisch sticht gegen diesen

niedrig bescheidenen Anfang, schon dem unmittelbaren Titel nach, der Höhepunkt jenes idealen Strebens ab, der „Titan!" Und

eine ähnliche Bemerkung wird sich uns auch bei den an­

dern Romanen aufdrängen, die für das allmähliche Aufsteigen der Jean Paul'schen Dichtung vorzugsweise charakteristisch sind. Wie sehr nun Jean Paul's Gemüths- und Phantasieleben bei diesem ersten

Erwachen seiner höheren Schöpferkraft

an

Wärme gewonnen hatte, zeigt sich in merkwürdiger Weise auch darin, daß das Bedürfniß einer innigen Freundschaft und Mittheilung alles dessen, was in chm lebte und gährte, sich jetzt viel stärker und lebhafter äußerte, daher seit dieser Zeit erst (dem Sommer

1790) sein langdauernder Freuudschaftsbund mit

Christian Otto, dem Vertrauten aller seiner Entwürfe, Arbei­ ten u s. w. begann, obgleich er denselben schon seit seiner Schulund Universitätszelt gekannt hatte. ganz

Zugleich zeigt sich in diesem

eigenthümlichen Verhältnisse, bei welchem der schwächere

und untergeordnetere Geist dem mächtigeren seine selbständige Wirksamkeit und Existenz zum Opfer brachte, um desto mehr ihm leben zu können, wiederum jene schon früher hervorgehobene Seite an Jean Paul's Wesen, daß nämlich bet ihm der un­ mittelbar persönliche Erguß

seines

geistigen Lebens

und

Schaffens eine wesentlich andere und größere Bedeutung hatte,

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Die „unsichtbare Loge? als vor allem bei Goethe und Schiller.

Denn diese waren in

ganz anderer Weise in ihr eigenes objektives Schaffen und in dessen theoretische Beschaulichkeit versenkt, während Jean Paul, in welchem das ideale Leben sich immer nur nach seinem Gegen­ satze und Verhältnisse zu der unbefriedigenden unmittelbaren Wirklichkeit erfaßte, eben deßhalb weit mehr einer persönlichen Ergänzung

dieses

seines innern Lebens,

eines

Ergusses desselben nach außen, bedürftig war.

unmittelbaren

Ganz klar kann

dieser Unterschied freilich erst da werden, wo wir bestimmter auf das Verhältniß von Jean Paul's Streben und Anschauungs­ weise zu der Goethe's und Schillers eingehen können. .Während in dem Wutz das gemüthlich ideale Element sich noch - gar nicht

von der kleinen und. beschränkten Wirklichkeit

selbständig loszureißen vermag, sondern einer unfreien Wurzel gleich noch unmittelbar aus diesem Boden selbst die Befriedigung saugt, die es dann innerlich zu einer idealen umwandelt, so tritt es nun in der unsichtbaren Loge allerdings selbständig der kontrastirenden gemeinen und niedrigen Wirklichkeit gegenüber, es kommt in den Kampf mit derselben.

Der Plan der unsicht­

baren Loge ist nämlich kurz gesagt der, daß ein in aller Rein­ heit idealer Gefühle und Anschauungen erzogener und aufge­ wachsener Jüngling aus der engen und ländlich abgeschiedenen Welt, seiner Kindheit, an die sich bisher sein

geistiges Leben

knüpfte, nun in die größere Welt, (die freilich auch wieder nur in einem der kleinen deutschen Höfe besteht), und in alle die Anfechtungen

und

Versuchungen

dieser

gemeinen

Wirklichkeit

hineinversetzt wird, um im Kampfe mit diesen, aber auch zugleich an dem kräftigenden Halte idealer Freundschaft und Liebe, sich zum ideale

gereiften Manne heranzubilden, Sinn sich

zugleich mit der

in welchem

also

vollen Welterfahrung

jener und

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Die unsichtbare Loge.

Charakterstärke vereinigen soll.

Dieß ist sichtlich der allgemeine

Plan des Ganzen, der freilich hinsichtlich seiner genaueren Durchführung und seines Abschlusses noch ganz unbestimmt blieb. Auch bei dem eigenthümlich barocken Titel des Ganzen schwebte dem Dichter sicherlich noch nichts Bestimmteres vor,

als die

Vorstellung irgend eines idealen Bundes und Zusammenhaltes' gegenüber von dem Treiben der äußeren gemeinen Wirklichkeit, wie denn der Dichter selbst in brieflichen Aeußerungen der da­ maligen Zeit es ausspricht, daß er sich noch nichts Genaueres dabei gedacht habe.

Der Zusammenhang mit der sonstigen

Geistesweise jener Zeit, in deren Vorstellung das Geheimbund­ wesen eine so große Rolle spielte, (wie es ja auch in Goethes Wilhelm Meister hervortritt), ist freilich klar genug; allein erst ganz am Schluffe des Romans hat der Dichter noch einen schwachen und an diesem Orte fast komisch erscheinenden Versuch gemacht, jenen Titel ein wenig zu motiviren, indem er von Ent­ deckung einer geheimen Gesellschaft erzählt, der auch der Held angehört, und von einer drohenden Gefahr, in der er deßhalb schwebt.

Allein von irgend etwas Deutlicherem und Genauerem

ist keine Rede, da eben hier das Ganze abbricht. Die unsichtbare Loge ist also, als der erste Entwurf eines größeren ernsten Romanes, mit dem Wutz, dieser kleinen Idylle, freilich nicht mehr zu vergleichen.

Sie ist, wie aus dem Obigen

erhellt, ursprünglich zu einer Art von pädagogischem Roman angelegt, knüpft also wieder unmittelbar an den pädagogischen Beruf an, den der Dichter selbst damals noch in seinem Schwar­ zenbach zu versehen hatte. nach

dem Früheren

Die begeisternde Anregung, welche

gerade für Jean Paul's Gefühls-

und

Anschauungsweise seine Stellung in einem Kreise wohlgearteter Kinder haben mußte, gab jedenfalls den nächsten Anlaß zu all'

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Die unsichtbare Loge.

t>em Pädagogischen in den Anfangsabschnitten der unsichtbaren Loge, wie ja der Dichter dann geradezu sich selbst als Hofmei­ ster seines Helden einführt und als solcher pädagogische Ansich­ ten preisgibt.

Die eigenen Kindheitserinnerungen des Dichters,

an welchen er sein ganzes Leben hindurch mit so großer Innig­ keit hieng, sind mit den Anregungen seines damaligen pädagogi­ schen Berufes in Eins verwoben, wobei übrigens noch zu bemer­ ken ist, daß schon während seines Aufenthaltes in Töpen der erste Gedanke eines pädagogischen Romanes sich in ihm geregt hatte, obgleich seine dortige Stellung eine viel zu ungünstige war, als daß es damals schon für ihn möglich geworden wäre,

einen

solchen Plan dichterisch auszuführen. Zugleich lehnt sich nun aber die unsichtbare Loge trotz allen Unterschiedes doch darin noch an den Wutz an, daß das ideale Leben ihres Helden zunächst auch noch an einen entsprechen­ den äußeren Boden, an die abgeschiedene kleine Welt ge­ knüpft ist, in der er erzogen wurde, und daß er daher, sobald er aus dieser hinaus und in die so ganz widerstreitende gemeine Wirklichkeit eintritt, verhältnißmäßig noch schwach und unselb­ ständig

erscheint,

vorübergehend sogar

zum Falle

gebracht

wird, und erst zu größerer Selbständigkeit gegenüber von der niedrigen äußeren Welt herangezogen werden muß.

Der Held

hat also hier mit einem Worte noch etwas Kinderartiges, idyllisch Unreifes, was an den Wutz zurückerinnert.

So

sehr bei ihm von Anfang Alles idealer und tiefer angelegt ist, so wurzelt er doch ähnlich, wie Wutz, mit seinem idealen Leben zunächst noch in jenem anfänglichen äußern Boden. Wie Wutzens Leben eigentlich nichts als eine fortwährende glückliche Kindheit ist, so beginnt auch die unsichtbare Loge wieder mit dieser Schilderung der äußerlich höchst beschränkten, aber eben in dieser Beschränkung

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Die unsichtbare Loge.

um so idealeren Kindheitsperiode Gustavs, d. h. in Wahrheit deS Dichters selbst.

Aus dieser unselbständig idyllischen Weise nun,

in welcher hier das ideale Leben des Helden an die abgeschiedene Welt seiner Kindheit sich anlehnt, erklärt sich auch die eigen­ thümliche

phantastisch

erscheinende Einkleidung, welche

seiner

früheren Erziehung gegeben ist, daß er nämlich zuerst eine Reihe von Jahren unter der Erde

verborgen auferzogen toirb,

und während dieser Zeit nur unter dem Einflüsse des ihn er­ ziehenden

„Genius"

(einer herrnhuthischen Jünglingsnatur)

steht, so daß ihm dann auch die Erde, als er endlich auf sie hervortritt und seine Eltern kennen lernt, wie eine ideale Welt erscheint, und in der engen Umschränkung, in welcher er bei sei­ nen Eltern noch heranwächst, auch um so leichter dieser ideale Eindruck sich erhalten kann.

Jene Verborgenheit unter der Erde

aber erscheint so zunächst nur als ein recht scharf ausgeprägtes Symbol der abgezogenen und auf sich selbst beschränkten Kindheitsperiode des Dichters. Natürlich zeigt sich in dieser specifisch romanhaften Einklei­ dung auch noch etwas kinderartig Unreifes von Seiten des Dich­ ters, wie denn namentlich der erziehende „Genius"

noch eine

ganz unbestimmt ideale, aller Körperlichkeit entbehrende Gestalt ist.

Zugleich aber hat auch die Gefühls- und Denkweise deK

Helden, eben weil sie ursprünglich in einer solchen äußerlich abgeschiedenen Welt wurzelt, am meisten einseitig Ideales in jenem unreif idyllischen Sinne an sich, und ebendamit noch am meisten unpraktisch Schwaches und Unselbständiges gegen­ über von der gemeinen Wirklichkeit.

Die späteren Helden Jean

Paul's, schon der des Hesperus, stellen die ideale Sinnesweise ungleich mehr in ihrer selbständig gereifteren, zum Kampf mit der niedrigen und feindlichen Umgebung befähigten Gestalt dar.

Die unsichtbare Loge.

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d. h. sie sind aus dem Idyllischen schon mehr herausgetreten. Auch Beate, die weibliche Ergänzung zu Gustav, zeigt, obgleich sie zufolge ihrer weiblichen Natur sich in einer strengeren Reinheit erhält, doch gegenüber von der Klotilde im Hesperus diesen noch unreiferen, mehr kindlich idealen und noch nicht so zu selbstän­ diger Bewegung in der umgebenden Welt befähigten Charakter. Dem allem zufolge mußte der Dichter seine humoristische Seite, in welcher ja das ideale Bewußsein sich in seinem gereifteren und reflektirten Gegensatze zur wirklichen Welt erfaßt, noch getrennt für sich darstellen, im Doctor Fenk, während der gereiftere Held des Hesperus (Viktor) es in sich selbst aus­ genommen hat, und insofern schon die ganze Natur des Dich­ ters darstellt.

Aber auch nach der ernsten Seite hin konnte

dem Dichter im weiteren Verlaufe sein Held nicht ganz genügen; sondern obgleich er seiner eigenen dichterischen Entwicklung zu­ folge ihm zunächst noch jene unselbständigere kindlichere Form gegeben hatte, so mußte er doch auch seine eigene durchgebildetere und schmerzlich trübe Entzweiung mit der Wirklichkeit, diesen entschiedenen Bruch

seines

idealen Menschen

mit der

äußeren Welt, darstellen, und hat dieß in der Gestalt Otto­ mar's gethan, welchem er namentlich auch die merkwürdigen trüben Erlebnisse und Gefühle, die der Gedanke des Todes in ihm selbst schon hervorgerufen hatte, in poetisch umgestalteter Form geliehen hat.

Ottomar hat also zwar etwas

einseitig

Krankhaftes an sich, während Gustav die normale, zwischen Fenk und Ottomar in der Mitte liegende Entwicklung durchzumachen bestimmt ist.

Allein da Ottomar doch auch wieder eine selb­

ständig kräftigere Gestalt ist, als Gustav, so zeigt sich auch hierin wieder, wie der Dichter in diesem Erstlingsroman sich erst zur selbständig freieren Darstellung seines idealen Lebens

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Die unsichtbare Loge.

Herausringen mußte.

Ohne Zweifel gehört daher auch die Ge­

stalt Ottomar's noch nicht schon in die ursprüngliche Anlage des Romanes, sondern in die schon freier entwickelte Fortfüh­ rung desselben. Aber eben aus diesem Grunde, weil es den Dichter int weiteren Verlaufe über jene erste, noch unreife und unselbstän­ dige Gestalt seines idealen Helden hinausdrängen mußte zu einem entsprechenderen und kräftigeren Ausdrucke seines eigenen Geistes, so erklärt sich auch, weßhalb die unsichtbare Loge eine unvoll­ endete Ruine bleiben

mußte.

Der Held war wohl zu einer

höheren Entwicklung bestimmt, die ihn im selbstthätigen Kampfe mit der umgebenden niedrigen und kleinlichen Welt zeigen sollte; -allein ungleich besser Und entsprechender konnte der Dichter eine solche Darstellung dadurch geben, daß er wiever einen neuen Anlauf nahm, statt sich an jene ursprünglich noch so unreife und kinderartia unselbständige Gestalt seines anfänglichen Hel­ den zu binden.

Der Dichter wuchs also mit einem Worte im

weiteren Verlaufe selbst über seinen Helden hinaus, außer­ dem daß bei der Unbestimmtheit der ursprünglichen Anlage eine Fortführung und Vollendung und schwierig gewesen wäre.

des Planes zu weit aussehend Auch hätte Gustav in seiner spä­

teren und gereifteren Entwicklung nothwendig mit den beiden andern Nebengestalten, dem Fenk und Ottomar, sich immer mehr verschmelzen müssen, indem er ja selbst diesen bewußten Kontrast und Konflikt des idealen Menschen mit der äußeren kleinlichen Welt in sich aufgenommen hätte.

Und so sind ja auch in dem

Helden des nächstfolgenden Romanes (Viktor im Hesperus) jene drei Gestalten in eine einzige zusammengegangen, so daß er das Einseitige einer jeden in sich selbst ausgleicht. Wie also die Hauptfiguren der unsichtbaren Loge nur ver-

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Die unsichtbare Loge.

schiedene Seiten und Entwicklungsstufen des Dichters selbst dar­ stellen, so ist auch sonst der Stoff des Romanes eben aus sei­ nen Erlebnissen und Umgebungen

genommen.

In Gustavs

Kindheit sind wieder hervorragende Züge aus der eigenen des Dichters aufgenommen, nur im Unterschiede vom Wutz mehr die idealen,

seine erste kindische Liebe

zu

einem

blauäugigen

Bauermädchen, seine erste Abendmahlsfeier mit ihren Rührungen u. s. w.

In der Gestalt des Doktors Fenk hat er theilweise

seinen Freund Hermann vor Augen, der gleichfalls Mediciner war und

infolge seiner eigenthümlichen Verhältnisse

sich eine

ähnliche cynisch-derbe Außenseite angewöhnt hatte, über welchen indessen erst aus Anlaß des Leibgebers im Siebenkäs noch näher die Rede sein

wird.

Der Kommerzienagent Röper

entspricht

dem alten Oerthel, bei welchem der Dichter eine Zeit lang Hof­ meister gewesen war; in dem eifersüchtigen Amandus aber, mit welchem Gustav seinen Freundschaftsbund schließt, sind Züge aus dem Charakter des Ad. v. Oerthel und Chr. Otto's, dieser beiden Freunde des Dichters, verschmolzen.

Der Legationsrath

Oefel, der an Gustav psychologische Beobachtungen für einen Roman machen will, ist nur eine ironische Parodie des Dichters selbst, der ja gleichfalls seine eigene pädagogische Stellung und Thätigkeit zugleich in dieser poetischen Weise verwerthete.

Er

ist also ein ähnliches satirisch-humoristisches Gegenbild des Dich­ ters,

wie

jener Rektor Flor. Fälbel

mit seinen Primanern.

In Alt- und Neuscheerau, (einem Namen, der scherzhaft auf die früheren Scheerereien und Widerwärtigkeiten des Dichters in Hof anspielt), sind in satirischer Weise, und mit Persiflirung des deutschen Duodezstaatenthumes, Verhältnisse und Oertlichkeiten von Hof und Baireuth dargestellt u. s. w.

Um so we­

niger kann es auffallen, wenn sich der Dichter in eigener Per-

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Die unsichtbare Loge.

sott, als „Paul," in die Erzählung einflicht, und in humori­ stischer Weise sich als Klaviermeister (gemäß dem, was oben über seine Verhältnisse in Hof gesagt wurde), dann als Hof­ meister des Helden, entsprechend seiner wirklichen pädagogischen Thätigkeit einführt, zwischen hinein an geeignetem Orte die Er­ zählung mit der Darstellung seiner Töpener Hypochondrie unter­ bricht und endlich nach seiner Heilung, zusammen mit seinen Lieblingsfiguren,

die festliche

Zusammenkunft in „Lilienbad"

feiert d. h. der Sache nach nichts anderes als das heitere Ge­ burtsfest seiner eigenen Poesie,

die eben mit diesem Romane

erst zu freier und höherer Schöpfungskraft erwacht war. Diese eigenthümliche Einmischung des Dichters in seinen eigenen Roman, zufolge welcher er denselben scherzhaft als eine mit den Ereignissen

selbst

fortschreitende Biographie hinstellt

(ähnlich wie im Hesperus), hat indessen nicht bloß darin ihren Grund, daß der Dichter so, wie es von keinem anderen gilt, sein eigenes Wesen

und Leben in seinem Romane

dargestellt hat,

sondern es hat auch eben damit die humoristische Seite des Dichters erst ihr volles und durchgreifendes Anrecht, schon in der ganzen Anlage der Dichtung, durchgesetzt.

Denn obgleich

also diese ihrem Grundinhalt nach jetzt eine ernst ideale gewor­ den ist, und so eine ganz neue Periode des Dichters beginnt, so wird doch dieß ideale Gebiet der Dichtung nun selbst wieder in humoristischer Weise

zu der

unmittelbaren Wirklichkeit,

aus der sie entsprungen ist, zu dem realen Leben des Dich­ ters selbst, in Beziehung gebracht.

Der Dichter macht also

seine eigene dichterische Schöpfung wieder zum Gegenstände seines Humors, indem er zugleich die realen Wurzeln her­ vorkehrt, aus denen diese ideale Blüthe entsprossen ist, und schon hiedurch

(noch abgesehen von dem Spotte über seine eigenen

Die unsichtbare Loge.

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Schwächen) sich wieder auf den komischen Gesichtspunkt stellt. Auch sonst dient diese persönliche Einmischung des Dichters vor­ zugsweise dazu, humoristische Elemente, die sich sonst nicht an­ bringen ließen, hineiuzuschieben, wie dieß in den „erbettelten Extrablättchen" geschieht.

Indem nun in der unsichtbaren Loge

dieses humoristische Spiel mit der eigenen Thätigkeit und Per­ son des Dichters noch am stärksten hervortritt, während er sich im Hesperus schon in den Hintergrund des bloßen Historio­ graphen zurückzieht, so zeigt sich wiederum, wie die unsichtbare Loge noch am unmittelbarsten auf die erste (komisch-sati­ rische) Periode zurückweist.

Denken wir aber daran zurück, daß

der Dichter schon gleich anfangs, in seinen Grönländischen Pro­ cessen, mit einer Selbstironie auf seine vom Hunger hervor­ gerufene eigene schriftstellerische Thätigkeit begonnen hat, und daß er dort noch ausschließend in diesem verhältnißmäßig so dürf­ tigen satirischen Kontraste sich bewegt, so zeigt sich, welche ganz andere Macht das dichterisch ideale Element inzwischen in ihm gewonnen hat, und wie viel reicher damit seine ganze Dichtung geworden ist.

Denn dort war das ideale Element noch gar

nicht für sich entwickelt, es wurde noch in ausschließend sati­ rischer Weise die niedrig realistische Seite seines Daseins her­ vorgekehrt; jetzt dagegen ist es ungeachtet alles jenen humori­ stischen Spieles zum ernsten und gefühlvollen Mittelpunkte des Ganzen geworden. Mit der unsichtbaren Loge errang Jean Paul ebenso den ersten äußeren Erfolg, der für seine weitere Entwicklung nöthig war, wie er dichterisch darin sein Auferstehungsfest feierte. Gleich­ wie sein Gustav in der unterirdischen Höhle heranwächst, damit das Ideale in ihm gegen die Einflüsse der äußeren Welt be­ wahrt und herangezogen werde, so hatte dieses auch in dem

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Der „Hesperus oder 45 Hundposttage."

Dichter vor dem Drucke seiner dürftigen äußeren Lage jahrelang sich vergraben müssen.

Und wie nun für den hervortretenden

Gustav die Erde als eine ideale Welt erscheint, so feierte mit ihm auch der Dichter seine Auferstehung, durch die ihm diese ärmliche und dürftige Welt, der er vorher nur in feindlich sa­ tirischer Weise sich gegenübergestellt hatte, int verklärenden Lichte der dichterischen Empfindung erschien.

Wie er aber dichterisch

in der unsichtbaren Loge die frühere Periode überwunden hatte, so führte dieselbe also auch die äußere Wendung seiner Lage herbei, durch die er endlich von dem Drucke der Armuth befreit und auch nach dieser Seite hin in eine für seine dichterische Thätigkeit förderliche Stimmung versetzt wurde. Der Hesperus, den er schon 5 Monate nach Vollendung der unsichtbaren Loge begann, ist nun bloß das um eine Stufe hinaufgerückte und zugleich in einen bestimmteren und engeren Rahmen zusammengezogene Abbild dessen, was schon den In­ halt der unsichtbaren Loge gebildet hatte, und es läßt sich dies bis auf ganz specielle Analogien hinaus nachweisen.

An die

Stelle des unreiferen Gustav ist jetzt in Viktor ein Charakter getreten, dessen ideale Gemüthswelt durch die gegensätzliche Be­ rührung mit der äußeren Welt sich schon in einer selbständige­ ren Weise gestärkt hat, und demgemäß auch noch als weiteres, über die Härte jenes Gegensatzes hinüberhelsendes Element den Humor in sich aufgenommen hat.

Während Gustav's Wesen

deßhalb etwas Unselbständiges und unreif Einseitiges hat, weil es sich noch an jene äußerlich abgeschiedene Welt seiner Kind­ heit anlehnt, so ist dagegen Viktor zwar auch von einem ähn­ lichen Lehrer erzogen, — denn Emanuel (oder „Dahore") ist nur eine andere Form jenes Herrnhuthischen „Genius" —; allein er ist zugleich auf dem praktischen Boden Englands er-

Der Hesperus.

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wachsen, wo ebenso die Vorbilder des Humors zu Hause sind, an denen auch Jean Paul sich bildete, wie dort Viktor den idealen Freiheitssinn gestärkt hat, in welchem er sich über die Kläglichkeit und Unfreiheit seines heimathlichen KleinstaatenthumS erhebt.

So ist Viktor befähigt, sich selbständig und allein in

der höfischen Welt zu bewegen, in der sich für ihn einerseits all' das

niedrig Kleinliche und Abstoßende der äußeren Zustände

koncentrirt, wie er doch andererseits in dieser Nähe des Fürsten zu dem idealen Streben angeregt wird, einen veredelnden Ein­ fluß auf denselben und auf die bürgerlichen Verhältnisse zu er­ langen.

Während also der noch unreife Gustav der Verführung

unterliegt und sich von seinem Falle wieder erheben muß, so besteht dagegen Viktor die noch gefährlichere Anfechtung, die in der Scene mit der Fürstin auf ihn eindringt.

In ihm ist

überhaupt das Einseitige, was Gustav, Fenk und Ottomar an sich haben, zu einem Charakter ausgeglichen, der insofern das ganze Wesen des Dichters darstellt, während dasselbe in jenem unreiferen Anfange seine verschiedenen Seiten noch an verschie­ dene Personen vertheilen mußte. Viktor dagegen hat ebenso das kindlich Ideale, das sich so gern an eine kleine und beschränkte Welt anlehnt und aus ihr Freuden saugt, wie das schmerz­ lich Sehnsüchtige und mit der Welt Entzweite, und endlich das Humoristisch-Satirische. In ähnlicher Weise ist die Heldin (Klotilde) eine gereiftere und zu selbständigerer Stellung in der umgebenden feindlichen Welt befähigt, als Beate in der unsichtbaren Loge, obwohl sie einen ganz ähnlichen Kontrast schon zu ihrem eigenen elterlichen Hause bildet, wie Beate als Tochter des schmutzigen Röper. — Indem nun im Hesperus die ideale Sinnesweise ebenso in einer praktisch gereifteren, wie zugleich damit selbständigeren und durch-

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Der Hesperus.

gebildeteren Form erscheint, als in der unsichtöaren Loge, so erklärt sich jetzt auch, wie der Dichter dazu kommen konnte, das ideale Gemüthsleben in seinem einseitigen Extreme darzu­ stellen, als ein krankhaftes und sich selbst aufreibendes. Denn dieß ist die eigenthümliche Bedeutung des Emanuel, in welchem einseitig die schmerzlich sehnsüchtige Entzweiung mit der wirklichen Welt, die einseitige Hinwendung nach der oberen, sich darstellt. Deßhalb läßt ihn auch der Dichter nicht nur gerade in seiner höchsten Verzückung, wo er schon in einer andern Welt zu sein wähnt, auf furchtbare Weise durch einen Wahnsinnigen unterbrechen, der ein verzerrtes Gegenstück zu ihm selbst bildet, sondern er läßt ihn auch nachher selbst gestehen, daß er „die edlern Theile seines innern Menschen auf Kosten der niedern vollblütig gemacht, daß er die Erde nicht aus der Erde, sondern zu sehr aus dem Jupiter betrachtet" u. s. w. Der Dichter ist also weit entfernt, in seinem Emanuel ein Ideal darstellen zu wollen. Allein allerdings zeigt sich nichts desto weniger in die­ ser Gestalt auch eine Einseitigkeit des Dichters. Denn auch bei ihm, und in seinem Viktor, ist das ideale Ziel und Bewußt­ sein des Menschen zu einseitig nur im Gegensatz gegen die niedrige und unzulängliche äußere Wirklichkeit gefaßt, ist zu sehr von dieser abgekehrt. Und so wenig auch für Jean Paul daS Hohe und Begeisternde frei bürgerlichen Strebens und seiner Aufgaben fremd ist, so endigt er doch immer zuletzt mit jenem verschwimmenden und formlosen Jenseits, in dessen Räumen sein Gefühl und seine Phantasie sich ernt liebsten bewegt. Darin liegt ebenso ein Hauptmangel seiner Dichtung, wie seiner gan­ zen Weltanschauung. Der Hesperus aber ist gerade der Gipfel dieser schmerzlich sehnsüchtigen und thränenseligen Sentimen­ talität, wie denn außer Emanuel selbst auch der Blinde mit

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Der Hesperus.

seiner Flöte und Anderes dergleichen eine rechte Quintessenz die­ ses sentimentalen Wesens ist.

Die Stimmung der schmerzlich

trüben Entzweiung mit der

äußeren

Wirklichkeit ist im

Hesperus auf ihrem Höhepunkte, wie in keinem andern Werke Jean Paul's; und wenn in damaliger Zeit gerade dieß, vor allem bei dem weiblichen Publikum, besondere Sympathie und Begeisterung für den Hesperus erweckte, so wirkt er andererseits auf den gesunderen und unbefangenen Sinn gerade dadurch um so ungünstiger. Es bedarf, um den Hesperus nach dieser Seite zu charakterisiren, nur der Erinnerung an eine einzige wohlbekannte Sentenz aus demselben (die Emanuel zugeschrieben wird).

„Der

Mensch hat hier 2% Minuten, eine zu lächeln, eine zu seufzen, und eine halbe zu lieben, denn mitten in dieser Minute stirbt er."

Sowohl jene bis in das Extrem gehende ideale Vogel­

perspektive, aus der das Leben betrachtet wird, als die damit zusammenhängende sentimentale

Gefühlsseligkeit sind

hier

in

einer Spitze zusammengedrängt. Zufolge dieser Einseitigkeit seiner eigenen Gefühls- und Anschauungsweise weiß nun der Dichter auch die entgegenste­ hende

nüchtern realistische Denkweise nur im Extreme

darzustellen. So zeigt sie sich in dem Lord (Viktor's vermeint­ lichem Vater), in welchem unbeschadet der edlen und tiefen An­ lage seines Charakters

doch zufolge schmerzlicher Erfahrungen

der kalte und unbarmherzige Verstand alle Begeisterung des religiösen und sittlichen Ideales zerstört hat, und welcher, wie er an kein Jenseits glaubt, so überhaupt an allem Großen das Kleine hervorkehrt, aus dem es in Wahrheit bestehn soll.

Wäh­

rend aber in dem Lord diese trostlos realistische Denkweise nur nach ihrer intellektuellen und schmerzlichen Seite dargestellt werden soll, so erscheint sie dagegen im Junker „Matz" nach planes, _3cau

£uttr.u.i.

5

66

Der Hesperus.

ihrer praktischen und sittlichen Form, als rücksichtslos selbstsüch­ tige und boshaft schlaue Energie; und deßhalb hat der Dichter hier auch offenbar eine treffendere und drastischere Gestalt ge­ zeichnet, als in jener unnatürlichen und widersprechenden Mi­ schung, aus der er das Wesen des Lords bestehen läßt.

Die

Analogie mit der unsichtbaren Loge blickt aber auch hier wieder durch. Denn der Lord stellt nur die eine Seite in dem Wesen Ottomar's dar, die der schmerzlich düsteren Entzweiung mit dieser nichtigen, kalt und leer lassenden Welt, und deßhalb endigt ja auch der Hesperus Selbstmorde, wie

in

ähnlicher Weise mit einem

die unsichtbare Loge mit einem solchem

Versuche Ottomar's endigt.

Die andere Seite dieses letzteren

aber, die schmerzlich ideale Sehnsucht, ist in Emanuel dar­ gestellt.

Auch das ideale Freundschaftsband, das in der ganzen

Gefühlsweise des Dichters eine so große Rolle spielt, fehlt nicht, und

ebenso die Verwicklung mit dem

eifersüchtigen Freunde

(Flamin); und zwar ist dieselbe ebenso, wie es schon in der unsichtbaren Loge beabsichtigt war, daran geknüpft, daß der Freund ohne es zu wissen seine eigene Schwester liebt.

(Denn

auch der -eifersüchtige Amandus ist nach der deutlich sichtbaren ursprünglichen Anlage der Bruder Beatens).

Nur ist also auch

dieß wieder im Hesperus in einer gereifteren Weise ausgeführt, und namentlich in dem raschen und zum Handeln angelegten Flamin eine kräftigere Natur gezeichnet, als in dem kränklich nervösen Amandus. Indessen so sehr auch der Hesperus eine Weiterbildung der unsichtbaren Loge ist, so ist doch der große und weitaus­ sehende Plan, welcher wenn auch noch in ganz unreifer Gestalt der letzteren zu Grunde lag, in dem Hesperus nur sehr unvoll­ ständig und ungenügend ausgeführt, und weit mehr in das

Der Hesperus. Enge gezogen.

67

Ein ideal gehaltener Charakter, der auf

den

Höhen des Lebens (im äußeren wie im innerlichen Sinne) zur kräftigen Reife kommt, sollte jenem Plane zufolge dargestellt werden.

Allein

hiemit verglichen ist nun Biktor's Thätigkeit

und Stellung am fürstlichen Hofe nicht nur eine zu unbedeu­ tende und wenig besagende, sondern er ist auch seiner eigenen Natur nach nicht zu einer solchen Stellung gemacht.

Denn in

seiner ganzen Anlage, sowohl nach der rein humoristischen, als nach der schmerzlich sehnsüchtigen und idealen Seite, ist er viel zu sehr bloß beschaulicher Art, zu sehr blos ein Abbild des Dichters.

Wie daher die Anregung, die er auf den Fürsten

übt, eine viel zu schwache ist, so erscheint seine ganze Stellung am Hofe mehr nur als eine ausbildende Prüfung für seinen inneren Menschen, nicht aber als eine objektive, nach außen hin gerichtete Bethätigung und Entfaltung eines idealen Charakters. Dafür müßte er mehr von dem Wesen Flamins in sich haben, welchem letzteren der Dichter wieder eine zu beschränkt realistische Sinnesweise gegeben und bestimmt hat.

ihn so zu einer bloßen Nebenfigur

Deßhalb hat denn auch die ganze Maschinerie

des Romanes, die geheime Auferziehung und schließliche Zufüh­ rung der sieben unehelichen Söhne des Fürsten, etwas Unreifes und Halbes.

Denn wenn auch dadurch ein höheres und kräf­

tigeres Element

in die Nähe

des Fürsten gebracht wird, so

bleibt dieß doch ganz ungenügend, und man wird dabei den Kontrast mit dem Auch hat

diese

schlaffen und

ganze Erfindung

schwachen Fürsten nicht los. ebendeßhalb etwas

derartig

Abenteuerliches erhalten, daß der Dichter darin in humoristischer Weise wieder mit seiner eigenen Dichtung spielt, wie dieß in der direktesten Weise gegen den Schluß hin geschieht, mit der Einführung seiner eigenen Person unter die übrigen.

5*

Die höfischen Regionen bei Jean Paul.

68

Der Hesperus ist also wieder nur ein unreifer Ansatz (oder Vorstufe) zu dem Roman, welcher erst den in der unsichtbaren Loge vorschwebenden Plan zur Zeitigung bringen sollte, nämlich dem Titan.

Denn in dem Helden dieses letzteren erst soll zu­

gleich mit dem idealen Sinne auch der thatkräftig nach außen strebende Geist dargestellt werden, und hier erst ist der Held, statt in jener halben Weise bloß in die Nähe des Thrones zu treten, selbst für diesen bestimmt.

Weßhalb nun aber Jean Paul, so­

bald er sich zur ernsteren und höheren Dichtung erhob, mit der­ selben in so eigenthümlicher Weise den fürstlichen und höfi­ schen Regionen zustrebt, dieß

erhellt aus all dem Früheren

deutlich genug. Je mehr er nämlich seiner eigenthümlichen Natur und Entwicklungsgeschichte zufolge den scharfen Gegensatz fühlte und in sich selbst durchlebte, der zwischen dem geistig idealen Reichthum des deutschen Wesens und seinen kleinlich beschränkten und dürftigen äußeren Verhältnissen bestand, desto mehr mußte er, um einen freieren und höheren, nicht allzusehr durch jene äußeren Verhältnisse eingeengten und gedrückten Spielraum zu haben, denselben in jene höheren Regionen hinaufheben.

Wir

dürfen uns ja nur erinnern, wie Jean Paul überall, wo er in den niedreren Regionen geblieben ist, entweder nur idylli­ sche Gemälde geliefert hat, (wie im Quintus Fixlein und Wutz u. s. w.) oder auch trübselig gedrückte,

wie im Siebenkäs.

Insbesondere

idealeren

wählt er

ebendeßhalb seine

toetfc5

lichen Charaktere immer aus den höheren Ständen, während die aus den niedreren und gewöhnlicheren Verhältniffen auch immer verhältnißmäßig sind.

niedriger und unbedeutender

gehalten

Dieß ganz gemäß der Anschauungsweise in jenen früher

angeführten Stellen, wo er das traurige und niederdrückende Loos der großen Mehrzahl des weiblichen Geschlechtes beklagt.

Die höfischen Regionen bei Jean Paul.

69

Ein anderer Dichter freilich, mit ganz anderer Anschauungs­ und Gefühlsweise, wie z. B. Goethe, konnte auch ohne zu jenen höheren Regionen emporzusteigen, einen großen und idealen Le­ bensinhalt darstellen, wie z. B. im Werther oder zu einem gro­ ßen Theile im Wilhelm Meister, in Hermann und Dorothea u. s. w.

Allein für Jean Paul, dessen ganzer Gesichtskreis in

jenem scharfen Gegensatze der höheren idealen Welt gegen die kleinliche äußere sich bewegt, war es also eine Nothwendigkeit, daß er da, wo er hoher strebte, auch dem äußeren Schauplatze nach sich höher erhob, (wie wir dieß im Titan auch noch in Beziehung auf die äußere Natur finden werden, in welche die Handlung verlegt wird).

Deßhalb also wird schon in der un­

sichtbaren Loge nicht nur Gustav an den Hof gebracht, sondern auch in Ottomar ein freilich nur illegitimer Fürstensohn ein­ geführt. Indessen auch dieß ist nur die eine Seite der Sache. Denn ebenso wie der Dichter jene höheren Regionen als die nothwen­ dige Atmosphäre für seine idealeren Darstellungen nöthig hat, ebenso koncentrirt sich auch wiederum in jenem höfischen Leben all das Kleinliche und Klägliche der damaligen deutschen Verhältnisse. Und deßhalb finden wir immer in jenen Romanen auch diese entgegengesetzte Seite.

So sehr der Dichter in den

fürstlichen Umgebungen sich seinen Schauplatz wählt, so sehr bleibt er doch immer innerhalb des deutschen Duodezstaaten­ thums, der Scheerau, Flachsenfingen u. s. w.

Er wählt also

mit einem Worte diesen Schauplatz deßhalb, weil nur hier jener ganze Kontrast, innerhalb dessen er sich bewegt, sich in seiner höchsten Form koncentriren kann.

Denn wie dort

die äußere Möglichkeit und Anregung zu den höchsten idealen Bestrebungen und Lebensanschauungen gegeben ist, so erscheinen

70

Stoffwelt von Jean Paul's Romanen.

diese auch ebendaselbst in dem vollkommensten Gegensatz zu all' dem niedrig Kleinlichen und Gemeinen der bestehenden bür­ gerlichen und politischen Verhältnisse.

So ist denn das höchste

Ziel, das Jean Paul in seiner Dichtung anstrebt, für ihn na­ turgemäß dieses, mitten durch jene niedrig feindliche und ver­ dorbene Welt des Hofes hindurch einen kräftig idealen Charakter zu seiner hohen fürstlichen Bestimmung und Reife gelangen zu lassen.

Ganz aus dem gleichen Grunde, aus welchem

er so specifisch ein Dichter der Armen ist, (in seinem Wutz, Quintus Fixlein, Siebenkäs u. a.), treibt es ihn in seinen hö­ her strebenden Werken zu jenen fürstlichen Regionen empor. Nur hier findet er den nöthigen idealen Stoff, während ihm, sobald er weiter heruntergeht, sogleich, seiner ganzen Auffassungs­ weise zufolge, das Beschränkte der äußern Verhältnisse in zu gegensätzlicher Weise sich hervordrängt und ihn einengt, so daß er zum bloß Idyllischen u. s. w. herabsteigen muß. Höchst bezeichnend und ganz dem Obigen entsprechend ist daher auch die Art, wie Jean Paul selbst in seiner Vorschule zur Aesthetik die Romane eingetheilt hat, nämlich ganz nach der Art ihres stofflichen Gebietes, in die idealen (wie der Titan), die $r der Analogie wegen nach der italienischen Schule benennt, und für die er ausdrücklich „die größere Freiheit und Allgemein­ heit der höheren Stände," auch mehr ideale Gegenden, z. B. italienische, fordert, dann wiederum die, welche schon mehr in das mittlere Gebiet, in das der „Honorazioren" herabsteigen, (wie die Flegeljahre und der Siebenkäs), und welche er die der deutschen Schule nennt, und endlich die, welche in der kleinen und

engen Welt

sich

Schöpfungen, Wutz,

bewegen, wie seine eigenen Fixlein,

idyllischen

Fibel (niederländische Schule).

Auch wird dort ganz richtig darauf hingewiesen, wie der Wer-

71

Stoffwelt von Jean Paul's Romanen.

ther über seine (äußerlich betrachtet) auch nur mittlere und bür­ gerliche Stoffwelt dadurch sich in das Ideale hinaufhebe, daß wir in ihm unmittelbar die Gefühls- und Denkweise des Hel­ den vor uns haben.

Jean Paul weist hierin unbewußt auf

den Kern seines ganzen Unterschiedes von Goethe (und ähnlich von Schiller) hin, daß nämlich dieser unmittelbar sein ideales Ziel, die volle und unverkümmerte Natur, vor Augen hat, wäh­ rend bei Jean Paul überall die umgebende nackte Wirklichkeit im Vordergrund steht, und das ideale Streben immer nur in der kontrastirenden Entgegensetznng gegen diese erscheint. Gewiß wenn irgend etwas, so ist diese Art, wie Jean Paul in Bezug auf seine Stoffe gebunden und gebannt ist, etwas für sein ganzes Wesen Charakteristisches, und zugleich die vollste Bestätigung dessen, was wir von Anfang als den Kern dessel­ ben bezeichnet haben, daß er nämlich nirgends aus jenem all­ gemeinen Kontraste des deutschen Lebens, durch den vor allem jene Zeit sich auszeichnete, herauskommen konnte.

Oberflächlich

betrachtet sollte man freilich meinen, gerade deßhalb, weil er den Gegensatz der innern idealen Welt des Menschen zur Klein­ lichkeit seines äußeren Daseins so hervortreten läßt, so werde auch der erhebende Kampf des idealen Menschen mit der äuße­ ren Noth und Kleinlichkeit für

ihn ein

besonders anregender

Stoff fein, so daß er dadurch auch in äußerlich niederer stehen­ den Regionen, als jener obigen, doch einen hohen idealen Stoff gewonnen hätte.

Allein für Jean Paul ist ein praktischer

und thatkräftiger Kampf jener Art vielmehr ein ganz frem­ der Stoff, deßhalb weil er, gemäß der damaligen deutschen Entwicklung selbst, in dem unüberwundenen, neben ein­ ander bestehenden Kontraste jener Lebensseiten gefangen ist, also in ihrem Dualismus, so daß seine Helden nur inner-

72

Unvollendetes Streben im Hesperus.

lich, in ihrer idealen Welt, jenen Kampf durchmachen, nicht aber als praktische, nach außen hin wirkende Helden.

Und deß­

halb ist Jean Paul genöthigt, wenn er seinen Helden zu ein­ greifender und

hoher praktischer Bestimmung gelangen lassen

will, wie im Titan seinen Albano, ihm das schon äußerlich, als Crbtheil seiner Geburt,

mitzugeben.

Wir

können auch hier

wieder an früher Gesagtes erinnern, wie wenig es nämlich Jean Paul's Sache ist, handelnde geschichtliche Charaktere aufzufassen und darzustellen. Der Hesperus hatte nun

also das idyllisch Unreife

und

Schwache, was dem Helven der unsichtbaren Loge anklebte, ab­ gestreift.

Sein Held hat sich schon in ganz anderer Weise mit

der äußeren Welt auseinandergesetzt.

Allein indem dieß doch

nur auf innerliche Weise geschieht, nämlich in seiner theils humoristischen, theils sehnsüchtig idealen Sinnesweise, so haftet dem Ganzen doch wieder noch das Beschränkte und Kleine an, es fehlt an idealer Größe des Stoffes, und die Dichtung bleibt in dem unüberwundenen Gegensatze stehen, der zwischen der Denkweise des Helden und Wirklichkeit besteht.

der unbefriedigenden äußeren

Damit also der große ideale Stoss, der

dem Dichter vorschwebte, zur wirklichen Darstellung komme, be­ durfte es

zugleich schon

einer Ueberwindung jenes obigen

Gegensatzes, die theils durch die äußere Stellung des Helden, theils durch einen mehr auf das Handeln hingehenden Cha­ rakter desselben

möglich werden mußte.

Dichter für dieses Ziel,

Aber eben weil der

das er dann im Titan zu erreichen

strebte, eines höheren und größeren äußeren Stoffes be­ durfte, so fühlte er sich hiefür vorerst noch nicht reif.

Denn

bis jetzt war er ebenso in seinen äußeren Verhältnissen noch zu sehr beschränkt und eingeengt, wie er zugleich seiner geistigen

73

Der „QuintuS Fixlein?

Entwicklung

nach noch zu sehr an der beschränkteren,

idyllisch gefühlvollen Dichtungsform haftete.

bloß

Da nun der

Hesperus, wie die unsichtbare Loge, ihm nur erst aus der Zeit der Noth und Dürftigkeit hinaushalfen, dagegen noch nicht so­ weit reichten, um ihm eine glänzendere literarische Stellung zu schaffen, so war es natürlich, daß er vorerst die idyllisch-hu­ moristische Stimmung und Dichtung, in der er sich jetzt ganz zu Hause fühlte, noch weiter ausbildete, um so zugleich dieses Element, welches ihm für die Ausführung jenes höchsten Zie­ les nur störend werden mußte, vorher möglichst los zu werden und von sich hinwegzuschaffen.

So entstand zunächst sein Qu in­

tus Fixlein, dieser nur um eine Stufe hinaufgerückte, sowohl in seiner äußeren Stellung, als in seiner Bildung und Gefühls­ weise etwas höher gehaltene Wutz.

In ihm, insbesondere in

der Vorrede, hat daher Jean Paul in der bewußtesten und be­ zeichnendsten Weise über diese ganze Art von Lebensanschauung und Dichtung sich ausgesprochen, weßhalb wir auch schon im Früheren gerade auf diese Stellen Bezug genommen

haben.

Schon jenem Vorworte (zur 1. Ausl.) fühlt man an, wie Jean Paul bei dieser Schrift erst in seinem eigentlichen, ganz von ihm beherrschten Element ist; und das wohlthuend Warme einer solchen Darstellung hatte denn auch die natürliche Folge, ihm zum ersten Male eine größere Popularität zu verschaffen.

Wenn

er nun freilich in jenem Vorworte als ein Resultat seines Bu­ ches das bezeichnet, „der Nachwelt Männer zu erziehen, die sich an allem erquicken, an der Wärme ihrer Stuben und ihrer Schlafmützen — an ihrem Kopfkissen — an den abendlichen moralischen Erzäblungen ihrer Weiber" u. s. w., so tritt in die­ ser (wenn auch nur humoristischen) Aeußerung allerdings wieder der ganze Gegensatz hervor, den eine solche Denk- und Gefühls-

74

Quint. Fixlein.

„Biographische Belustigungen."

weise zu der unserer jetzigen Zeit bildet.

Denn wie könnte

die ganze Kläglichkeit des thatlos quietistischen, von allem bür­ gerlich-nationalen Streben noch abgekehrten Wesens jener Zeiten einen schärferen Ausdruck finden, als in jenen Worten? Allein theils haben wir ja hierin noch nicht den ganzen Jean Paul, welchem vielmehr ebenso die schmerzliche und die scharf satirische Entzweiung mit den bestehenden kläglichen Zuständen wesentlich ist; theils läßt auch schon jene idyllische Form seiner Dichtung, ndem sie ja als humoristische das Bewußtsein des Kontrastes in sich schließt, in charakteristischer Schärfe zugleich mit dem traulich Anheimelnden und Gemüthlichen auch die ganze Schwäche und Einseitigkeit jenes Stilllebens und ebendamit des deutschen Wesens überhaupt, so wie es in jener Zeit war, hervortreten. Inwiefern dann wiederum dieses letztere in dem Schulstand, aus dem Jean Paul seinen Helden entnommen hat, vorzugs­ weise seine Veranschaulichung findet, darüber war ja schon aus Anlaß des Wutz kurz die Rede. Je mehr indessen Jean Paul in seinem damaligen Streben diese idyllische Dichtungsform als eine Beschränkung empfin­ den mußte, und je mehr sie mit der verhältnißmäßigen Be­ schränktheit seiner äußeren Lage (in Hof) zusammenhieng, desto mehr mußte sich zwischen diese Beschränkung hinein das Be­ dürfniß der idealeren (und insoweit auch ernsteren) Dichtung, wenn auch nur in vorläufiger Weise, geltend machen.

Aus ei­

nem solchen Bedürfniß ist das scheinbar so seltsame Fragment einer ernst idealen Darstellung hervorgegangen, das er „bio­ graphische Belustigungen unter der Hirnschale einer Riesin" betitelt hat, indem er in humoristischer Veranschau­ lichung seines wellbürgerlich idealen, mit den Geschicken Euro­ pas, namentlich der französischen Revolution, beschäftigten Sin-

.Biographische Belustigungen."

75

nes, und mit satirischer Anknüpfung an die kostspieligen Lieb­ habereien deutscher Duodezfürsten, es darstellt, als hätte er das Ganze in dem Kopfe einer Kolossalstatue der Jungfrau Europa geschrieben.

Diese Vorstudie auf den Titan, die im Grunde

nur Gestalten aus dem Hesperus (nämlich den Lord Horion und seine Geliebte) in einem früheren Stadium ihrer Geschichte vorführt, kann nun zwar nichts weniger als einen befriedigenden Eindruck machen, wie denn der Dichter selbst, im Gefühl, daß er für eine solche Schreibweise noch nicht reif sei, bald genug derselben müde wurde.

Allein charakteristisch ist doch auch hier,

daß er diesen höheren idealen Versuch sogleich auch an einen anderen Ursprungsort verlegt,

nämlich im Gegensatz zu dem

beschränkten und trübseligeren Hof, in die freundlichere Gegend Baireuths, das durch die wohlthuenden persönlichen Anhalts­ punkte, die er dort gefunden hatte, für ihn zu einem idealen Anziehungspunkte geworden war, und welches er daher, wenn auch vorerst noch unter anderem Namen, zum Entstehungsorte jenes dichterischen Versuches macht.

Und ebenso bezeichnend ist,

daß er von diesem rein ernsten Versuche psychologischer Cha­ rakterdarstellung, der sich schließlich in ein überzartes und krank­ haft ideales Gebiet zu verlieren droht, wieder zum Humoristischen und Satirischen sich zurückwendet und sogar ausdrücklich in der „Vorrede zu dem satirischen Appendix" gegenüber von den em­ pfindsamen Leserinnen u. s. w. erklärt, daß es ihm unmöglich sei,

auf die Bocksprünge seines humoristischen und satirischen

Genius zu verzichten. Um so natürlicher war es, daß er endlich all' das Klein­ liche und Niederdrückende der äußeren Wirklichkeit, das auch ihn fortwährend unter die Herrschaft des niederen realistischen Ele­ mentes, in das beschränkt Idyllische oder in das Gebiet der

76

Ursprung des „Siebenkäs/

Satire und des Humors hinunterzog, ein für allemal von sich wegzuschaffen unternahm, indem er geradezu seine eigene trübe Jugendzeit, und die Auferstehung aus derselben zur frei idealen Dichtung, darzustellen unternahm, in seinem Sie­ bent äs.

Denu nichts Anderes ist in

„Armenadvokaten'

der Geschichte dieses

und seines häuslichen Lebens in dem

elenden Kuhschnappel dargestellt, als die eigene trübe Jugendzeit des Dichters in Hof, wie er in einer Stube mit Mutter und Geschwistern zusammenlebend in seiner „satirischen Essigfabrik" arbeitete, bis er sich endlich aus diesem geistigen Drucke heraus­ riß und

ein verklärtes dichterisches Leben begann.

So liegt

denn in Siebenkäsens Lenette theils die eigene Mutter des Dich­ ters zu Grunde, wie sie um ihn her mit den prosaischen Ge­ schäften ihres ärmlichen Haushaltes thätig war, theils eine ver­ fehlte Liebe des Dichters, mit welcher er sich vorübergehend in die für seinen wahren Werth doch nickt empfängliche Welt sei­ ner Hofer Bekanntschaften verirrt hatte.

Siebenkäs selbst aber

läßt er geradezu an der „Auswahl aus des Teufels Papieren" arbeiten, die er selbst während jener drückenden Zeit in Hof vollendete.

In Leib geb er ist ebenso die rein humoristische

und satirische Seite seines eigenen Wesens, wie zugleich die Eigenthümlichkeit seines schon früher genannten und schon in der unsichtbaren Loge benützten Freundes Hermann darge­ stellt, über welchen deßhalb hier noch Einiges nachzutragen ist. Sohn eines armen Handwerkers hatte dieser Jugendfreund Jean Paul's, im herben Ringen mit der Ungunst seiner äußeren Ver­ hältnisse, auch persönlich etwas herb Chnisches und Abstoßendes in seinem äußern Wesen angenommen, hinter welchem sich sein höheres ideales Streben und der innere Kern seines Wesens verbarg, und das auch zu dem Einnehmenden seiner natürlichen

77

Leibgeber im Siebenkäs. Erscheinung einen seltsamen Kontrast bildete.

In ihm also hatte

Jean Paul ein äußeres natürliches Vorbild seines LeibgeberS, der ja auch überall die mit dem Idealen kontrastirende Seite des unvollkommenen und endlichen Erscheinungswesens hervor­ kehrt, in Humor und Satire, und das tiefere gefühlvolle Element nur in ganz verschämter und verstohlener Weise hervortreten läßt.

Und wie an jenem Freunde und geistigen Doppelgänger

Jean Paulas

einseitig die herb realistische Seite hervor­

trat, ohne das mildernde Gegengewicht einer dichterisch idealen Phantasie, so daß

über dem herben Ringen nach einer ihm

versagten günstigeren Stellung und Wirksamkeit einen früh­ zeitigen Tod fand, so ist auch im Leibgeber einseitig jene rea­ listische Seite des Jean Paul'schen Wesens vertreten, welche eben daher, sobald Siebenkäs zu seinem neuen idealeren Leben auferstanden ist, sich von ihm trennen muß.

Allein da doch

eben in jener satirisch-humoristischen Kraft des Dichters zugleich die ideale Erhebung über die umgebende niedrige Wirklichkeit enthalten lag, so ist es auch

die Energie Leibgebers, welche

den niedergedrückten schmerzlich sehnsüchtigen Siebenkäs endlich aus der Verkümmerung herausreißt und ihm den Zugang in jene frei ideale Welt eröffnet. Und so hatte ja auch Jean Paul selbst während jener ganzen Zeit der achtziger Jahre nur eben durch seine satirisch-komische Kraft sich über dem Druck seiner äußeren Verhältnisse erhalten, hatte also nur hiedurch die ideale Macht in sich bewahrt, durch die er dann endlich zur vollen dichterischen Thätigkeit sich erhob, während die schmerzlich trübe und ernste . Seite in ihm nothwendig für sich allein ihn hätte niederziehen und aufreiben müssen. Indem nun aber der Dichter das zweite und neue Leben seines Siebenkäs doch wesentlich an die Trennung von Leibgeber

78

Siebenkäs.

knüpft, der jenem idealen Verhältnisse als ein störendes und heterogenes Element zur Seite gehen würde, so hat er in dem allen offenbar nicht bloß seine frühere Geschichte dargestellt, sondern zugleich ein symbolisches Vorbild jener vollkommenen frei idealen Dichterthätigkeit, die ihm als höchstes Ziel erst noch vorschwebte.

Allein so wenig sein Siebenkäs die schwächende

und trübende Spur seines früheren Daseins ganz los werden kann, so wenig war auch Jean Paul selbst fähig, die humori­ stisch-satirische Seite, die mit seiner ganzen Lebensanschauung und dem Kerne seines Wesens nun einmal unzertrennlich ver­ bunden war, je los zu werden und sich zur rein idealen Dar­ stellung zu erheben.

Und so sehr er also auch diese letztere als

sein höchstes Ziel noch anstrebte, so sehr täuschte er sich doch in diesem Ziele, wie thatsächlich sein Titan zeigen sollte. Haben wir in dem Obigen zunächst nur die Bedeutung hervor gehoben, welche der Siebenkäs für Jean Paul selbst hat, so tritt nun freilich seine Eigenthümlichkeit darin auch nach einer andern, für ihn keineswegs sehr günstigen Seite hervor.

Im

Gegensatz zu seiner Lenette nämlich, die zwar eine beschränkte, aber praktische Natur ist, erscheint der humoristisch-sentimen­ tale Siebenkäs als ein bloßer Idealist, der den praktischen Forderungen des äußeren Lebens, des haushälterischen Erwerbs u. s. w., durchaus nicht gerecht wird, sondern in seinem Theile sich einseitig darüber wegsetzt, und nur soweit die Noth und das Unglück seiner Lenette es*durchaus verlangt, auch für das praktische Bedürfniß zu sorgen sucht.

Daß zu diesem Zwecke

das Schützenfest dienen muß, erscheint gleichfalls wie eine Iro­ nie; es läßt die praktisch bürgerliche Erwerbsthätigkeit wieder wie etwas ganz Untergeordnetes, als einen Gegenstand des Humors erscheinen.

Wenn nun ein Mann von so einseitiger

Siebenkäs.

79

und in jener Hinsicht geradezu unmännlicher Art dennoch einer Lenette gegenüber als ein höher stehender und durch diese Ehe darniedergehaltener Geist erscheinen, und wenn durch dieses Mißverhältniß das Possenspiel seines Scheintodes

und

seine

Trennung von ihr gerechtfertigt werden soll, so hat dieß für eine gesundere Auffassung offenbar etwas tief verletzendes.

Es

zeigt sich darin die ganze Schwäche und Einseitigkeit dieser hu­ moristisch-sentimentalen Anschauungsweise, daß sie nämlich, bei allem Bewußtsein von der Kläglichkeit der äußeren Zustände, doch selbst noch so gar keinen wahrhaft praktischen Sinn und Trieb

für eine

handelnde Umgestaltung

dieser Zustände hat.

Von hier aus betrachtet erscheint daher vor allem Leibgebers Rath und Verhalten bei der Sache wie herzlos.

Aber auch

mit Siebenkäs sind wir durch die schmerzliche Empfindung, die er dabei hat, noch keineswegs versöhnt; und das Ganze kann daher nur dadurch in einem milderen Lichte erscheinen, daß wir in Wahrheit darin nur eine humoristische Symbolik der eigenen Entwicklungsgeschichte des Dichters vor uns haben.

Was

Lenette betrifft, so kam hier ohnedieß dem Dichter wieder jene fixe und einseitige Auffassungsweise in den Weg, zufolge der er auch int Weibe den häuslich praktischen Sinn mit dem höheren idealen wenigstens poetisch nicht zusammenzudenken wußte, son­ dern diese äußerlich niedrige Sphäre immer als niederzie­ hende Schranke empfand, und deßhalb seine Heldinnen immer aus den höheren und freier gestellten Regionen entnimmt, wäh­ rend seine häuslich praktischen Figuren immer mehr oder weni­ ger beschränkte Aschenputtel sein müssen. Der Siebenkäs hat also seine ganz besondere Bedeutung darin, daß er, wie keines der übrigen Werke, die eigene Ge­ schichte des Dichters, bis in die Gegenwart des Schreiben-

80

Siebenkäs.

Die Reise nach Weimar.

den, ja bis in eine erhoffte Zukunft hinein darstellt, näm­ lich sein Heraustreten aus der Periode der Entzweiung zu einer rein versöhnten hin.

Demgemäß läßt er auch seine da­

maligen persönlichen Verhältnisse hier so direkt, wie in keinem andern Romane, hervortreten.

Baireuth, welchem, wie wir schon

oben sahen, damals alle seine Hoffnungen und Wünsche zuge­ wandt waren, und das in seiner Anschauung wie eine Stätte des heileren Frühlings dem winterlichen Hof gegenüberstand, ist darum auch der Ort, wo Siebenkäs zu neuem Leben ersteht, und eine ganze Reihe von Auftritten, die der Dichter kurz vor­ her dort erlebt hatte, ist dabei benützt. Auch sollte jetzt wirklich das, was er in seinem Siebenkäs prophetisch ausgesprochen, sich in gewissem Sinne an ihm erfüllen: zum zweiten Male, und als eine neue und höhere Stufe, eröffnete sich ihm eine dichterisch ideale Welt, nicht die weit bescheidenere Baireuths, sondern der Mittelpunkt der damaligen geistigen Be­ wegung Deutschlands, Weimar und Jena, und der unmittelbare Verkehr mit all' den Heroen, die dort ihren Sitz hatten.

Denn

immer dringender riefen Einladungen bewundernder Freundinnen und Freunde ihn dorthin, und mit dieser Reise erst und all' dem Aehnlichen, was sich weiter daran knüpfte, trat er in den Höhe­ punkt seiner Thätigkeit, in diejenige Periode ein, in welcher er aus der verhältnißmäßigen Beschränktheit und Eingeengtheit seiner bisherigen Verhältnisse hinaus gehoben den weitesten und freiesten Gesichtskreis für das ideale Streben seiner Dichtung gewann. Indessen hier, wo nun auch das Verhältniß Jean Paul's zu Goethe und Schiller zur Sprache kommen muß, ist es ebendeßhalb nothwendig, zugleich das innere Verhältniß, in welchem sein Streben zu dem jener beiden stand, kurz zu erörtern. So sehr es ein idealer, über das Kleinliche und Unbefrie-

Die Weimarer Reise; Goethe und Schiller.

81

digende der damaligen deutschen Verhältnisse hinausstrebender Zug war, der in Goethe und Schiller, wie in Jean Paul lebte, so ganz verschiedener und entgegengesetzter Art war doch das Ziel Goethe's und Schillert gegenüber von dem Jean Paulas. Goethe's ganzes Streben gieng auf den vollen und unverkümmerten Ausdruck ächt menschlicher Natur, auf das Schöne und Große einer vollständigen Ausbildung ihrer natür­ lichen Anlagen, Triebe und Empfindungen hin. Weil er riesen vollen und ebendann wahrhaft schönen Ausdruck menschlicher Natur in der ihn umgebenden Welt nicht fand, trieb es ihn zur antiken Welt und nach Italien hin, und von hier aus kam er dann vollends um so abgeschlossener und kälter gegen seine nor­ dischen Umgebungen zurück, in denen er fortleben sollte. Aber ungeachtet dieses Gegensatzes gegen die umgebenden gesellschaft­ lichen Zustände und Anschauungen gieng also doch Goethe's Ziel seinem eigenen Inhalte nach ganz auf die gegenwär­ tige und natürliche Ausbildung des menschlichen Daseins und Wesens, so zu sagen auf die volle plastische Ausprä­ gung seiner natürlichen Bestimmung hin. Und deßhalb traten auch als Konsequenz dieses Zieles in den letzten Werken Goethe's, im zweiten Theile des Faust und in den Wanderjahren, die Ideen frei bürgerlichen Schaffens und freier socialer Gliederung hervor, während freilich die frühere noch rein dich­ terische Periode Goethe's sich jenes Ziel nur erst nach seiner ästhetisch beschaulichen und unmittelbar persönlichen Seite klar gemacht hatte, also zufolge ihrer noch unentwickelteren Anschauungsweise noch mehr idealistisch geblieben war. Zn dieser Goethe'schen Geistesweise nun bildet Jean Paul's Streben in doppelter Beziehung einen Gegensatz. Statt jener idealen Abkehrung von der unmittelbaren Gegenwart läßt er ja Planck, Jcan Paul'» Z'uthuuj.

6

82

Die Weimarer Reise; Goethe und Schiller.

dieselbe in ihrer vollen Kleinlichkeit und Kläglichkeit hervortreten, in welcher sie entweder nur für Satire und Humor, oder für jene idyllisch versöhnte Selbstbeschränkung und Zufriedenheit Gegenstand sein konnte. Indem so Jean Paul vom Ansang seiner Thätigkeit an recht geflissentlich diese klägliche äußere Rea­ lität hervorkehrt, die dem damaligen dichterischen und philosophischen Streben des deutschen Geistes anhaftete, gieng er in seinen Schriften auch weit mehr auf die frei bürgerlichen und pa­ triotischen Bestrebungen der unmittelbaren Gegenwart ein, wäh­ rend er seinerseits an Goethe und im Grunde auch an Schiller dieß vermißte, und gleich Andern in ihrem Verhalten eine kalte einseitig ästhetische Abgeschlossenheit erblicken mußte. Und nicht weniger scharf ist nun auch der Gegensatz nach der andern Seite hin, nach der des idealen Bewußtseins, das in Jean Paul lebte. Indem dieses nämlich durchaus in jenem scharfen Gegensatze gegen die kontrastirende äußere Wirklichkeit festgehalten ist, so schließt es zwar auch die frei bürgerlichen und politischen Ideen und Bestrebungen in sich, die bei Jean Paul ein so wesentliches Element bilden; allein noch weit mehr bewegt es sich überhaupt in der sehnsüchtigen Abkehrung von dieser endlichen und nichti­ gen Welt des menschlichen Daseins, und ist in verschwimmendem Gefühls- und Phantasieleben einem unerfaßbaren Jenseits zugekehrt. Nach dieser Seite gehört ja all' das schmerzlich Trübe und sehnsüchtig Sentimentale hin, das der Jean Paul'schen Dichtung so eigenthümlich ist. Nach dieser Seite nun bildete er einen noch schärferen Gegensatz zu dem Goethe'schen Wesen. Denn wenn schon jene scharf realistische Hervorkehrung des Kleinlichen und Beschränkten in den gegenwärtigen Zuständen dem nach dem rein Schönen und ächt Menschlichen hinstreben­ den Geist Goethe's ganz entgegen war, so war vollends jene

Die Weimarer Reise; Goethe und Schiller.

83

gefühls- und phantasieselige Hinkehrung nach einem ungreifbaren und verschwimmenden Jenseits das gerade Gegentheil des Goethe'schen auf wahrhaft gegenwärtige plastische Aus­ prägung und Abrundung Hingerichteten Wesens.

Denn selbst

in seiner schon weit zurückliegenden Werthers- und Jugeudperiode war doch Goethe's Sehnen und Streben ganz auf die volle Natur, auf die unverkümmerte und rein gegenwär­ tige Ausprägung

menschlichen Wesens hingerichtet, war also

schon hier jener Jean Paul'schen Weise ganz entgegengesetzt. Analoges Schiller.

aber gilt nun auch

von

dem Verhältnisse zu

Denn obgleich dieser im Gegensatze zu Goethe von

dem subjectiven, frei sittlichen und durch Begriffe thä­ tigen Pole des menschlichen Wesens ausgeht, nicht, wie Goethe, von der unmittelbaren objektiven Natur und Bestim­ mung desselben, so strebt er doch gleichfalls zur vollen Versöh­ nung und Einigung dieser frei sittlichen und unendlichen Seite des Menschen mit seinem gegenwärtigen und natürlichen Dasein hin. Er hatte also schließlich dasselbe Ziel, wie Goethe, wie dieß auch in seinem Bunde mit demselben und seinem entsprechenden Anknüpfen an die antike Welt und Kunst sich kund gibt; und demgemäß verhielt er sich auch ähnlich wie Goethe zur unmittel­ baren Gegenwart.

So sehr er in seinen Dichtungen das eigene

innerste Streben der Zeit, als frei bürgerliches und frei sittliches ausdrückt, so sehr war er doch, gerade in seiner reiferen Periode, zufolge jenes idealen Zieles, nämlich der schönen Einigung der frei sittlichen Seite des Menschen mit seiner natürlichen, von den Verhältnissen der Nächstliegenden Gegenwart, ihren bürgerlichen und nationalen Zuständen, verhältnißmäßig abgekehrt, und lebte vielmehr in der Welt seiner Schöpfun­ gen.

Obgleich er also durch jenes schärfere Hervortreten der

Die Weimarer Reise; Goethe und Schiller.

84

frei sittlichen und idealen Seite des Menschen eine nähere Berührung mit Jean Paul's Wesen hatte, so befand er sich doch im Ganzen zu ihm in gleichem Gegensatze, wie Goethe.

Um

es mit einem Worte zusammenzufassen: während diese beiden die volle und schöne Einigung des Menschen mit dem gegen­ wärtigen und natürlichen Dasein zum Ziele hatten, bewegte sich Jean Paul's Dichtung vielmehr in der ausgesprochen­ sten Entzweiung und Gegenüberstellung des innern Men­ schen und seines jenseitigen Zieles, und andererseits der beschränk­ ten und unbefriedigenden äußeren Gegenwart.

Darum erscheint

ja auch Jean Paul gegenüber von jenen Beiden gar nicht als ganzer und voller Dichter, so wie ihm zufolge desselben scharf dualistischen Kontrastes auch die

volle ideale Kunstform

jederzeit gefehlt hat, auf die Goethe uud Schiller in ihrer reiferen Zeit so großes Gewicht legten. Mit so hochklopfendem und freudig erregtem Herzen also auch Jean Paul seine erste Wanderung nach Weimar antrat, so konnte doch bei jenem tiefen Gegensatze ein näheres Verhält­ niß zu Goethe und Schiller nicht daraus hervorgehen.

Ohne

Zweifel war man sich von letzterer Seite über den vorhandenen Gegensatz noch klarer, als Jean Paul selbst; allein auch von Seiten dieses letzteren finden wir sehr bald Aeußerungen, die für jenen Unterschied charakteristisch genug sind.

„Eine Kühle

der Angst preßt ihm die Brust," wie er bei dem ersten Eintritte in Goethe's Haus „ ein Pantheon voll Bilder und Statuen" findet.

Es ist das instinktartige Gefühl des tiefen Gegensatzes

dieser plastischen Sinnesweise, die auf volle und harmonische Ausprägung des gegenwärtigen menschlichen Daseins hingieng, und andererseits seiner eigenen humoristisch entzweiten und sehnsüchtig einem Jenseits zustrebenden Innerlichkeit.

So

Die Begegnung

mit

Goethe und Schiller.

85

erscheint ihm auch Goethe selbst gleich seinen Statuen wie ein „kalter" abgeschlossener „Gott." bei dem im Verlaufe des Ge­ spräches erst „das Herz durch die Eiskruste die Flammen trieb;" d. h. er vermißte an dieser mit sich selbst und ihrem Ziele eini­ gen und insofern in sich geschlossenen Natur seine eigene Sinnesweise, die fortwährend an einer kleinlichen und dürftigen Wirklichkeit sich brechend um so mehr das Bedürfuiß nach einem schwärmend idealen Gefühlsaustausche und einem hierin liegenden Ersätze hatte. Nichts ist also charakteristischer als jene Vergleichung Goethe's mit einem „Gotte." Denn so unbefriedigend, auch für Goethe, die umgebende Welt der damaligen deutschen Verhält­ nisse war, so lebte er doch ebendeßhalb in der Mehrung hievon seinem eigenen Ziele wahrhafter Natur und Menschlichkeit, wäh­ rend Jean Paul, fortwährend auf jene klägliche äußere Welt hingerichtet, immer der dürstende Sterbliche blieb, der in dem halb weinenden, halb lachenden Spiele des Humors und in sehnsüchtiger Zuwendung nach einem Jenseits seiner inneren Entzweiung Luft machen muß. Aehnlich, wie mit Goethe, gieng es ihm mit dem „felsigten Schiller, an dem, wie an einer Klippe, alle Fremden zurück­ springen;"

er findet ihn „hart kräftig, voll Edelsteine,

scharfer schneidender Kräfte — aber ohne Liebe."

voll

D. h. er fand

auch ihn ähnlich, wie Goethe, gegen außen abgeschlossen, nur daß Schillert Natur zufolge ihres mehr aktiven Dranges, im Unterschiede von der empfänglich beschaulichen Natur Goethe's und dessen in sich zurückgezogener Ruhe, sich auch demgemäß mehr aktiv äußerte, sei es auch zunächst nur negativ und ableh­ nend gegen Dinge und Zeiterscheinungen, die seinem Bewußtsein widerstrebten. Seinerseits aber fand Schiller, wie er an Goethe schrieb, Jean Paul in seinem Wesen „fremd, wie einen, der

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Verhältniß zu Charlotte b. Kalb und Herder.

aus dem Monde gefallen ist, voll guten Willens und herzlich bereit, die Dinge außer sich zu sehen, nur nicht mit dem Or­ gane, mit dem man sieht."

Denn anstatt dessen, wonach Schiller

wie Goethe strebte, nämlich der einfach objektiven Auffassung der Dinge und Menschen, und dichterischer Herausgestaltung ihres wesentlichen Gehaltes, stand ja Jean Paul überall in jener subjectiven Beziehung fest, die er seiner ganzen Anschauungsweise ge­ mäß den Dingen und Zuständen gab, bald in der satirischen Weise, bald in jener idyllisch-humoristischen, bald in der ideal schwär­ menden und sehnsüchtigen.

Ueberall tritt jener Bruch oder Kon­

trast des inneren Menschen mit der äußeren Wirklichkeit hervor. Je entschiedener indessen der Gegensatz zu Goethe und Schil­ ler sich herausstellte, desto begeisterteres Entgegenkommen fand dagegen Jean Paul's überströmende und idealen Austausches be­ dürftige Seele bei Herder und Andern, und noch mehr bei der weiblichen Welt, vor allem der (auch als Schiller's Freundin) bekannten Charlotte von Kalb. Sie, die „Titanide," wurde ihm das Vorbild für seine IHttba im Titan, so wie er freilich später auch das Einseitige, das er an solchem genialischen Wesen bemerkt hatte, in dem Schicksale vor Augen stellen wollte, das jene Linda schließlich trifft. Indessen tiefer bezeichnend für die ganze Anschauungsweise Jean Paul's ist der dauernde Freundschaftsbund, den er mit Herder und dessen Familie schloß.

Herder nämlich stand da­

mals, wie überhaupt in der ganzen letzten Zeit seines Lebens, in scharfer, wenn auch höchst einseitiger Opposition zu Goethe und Schiller, wie andererseits zur Kantischen Philosophie, und namentlich zu deren ästhetisch-kritischen Grundsätzen, von wel­ chen

jene (namentlich Schiller) Verschiedenes adoptirt hatten.

So sehr Herder selbst einst, zu Anfang der siebenziger Jahre,

87

Herder's damalige Stellung.

durch Erweckung

des Sinnes

für das wahre und

lebendige

Wesen aller Dichtung (als Volksdichtung) auf Goethe befruch­ tend und erregend eingewirkt hatte, so sehr mußte im Verlaufe der Weg beider auseinandergehen.

Für Herder hatte jene Hin­

wendung zur Volkspoesie und zum unmittelbaren Natur quell aller Dichtung zunächst nur die allgemeinere und mehr formelle Bedeutung, daß er darin im Gegensatze gegen alles Künstliche und Schulmäßige vielmehr den unmitttelbaren Ursprung

der wahren Dichtung

Geiste eines Volkes hervorhob.

natürlichen

aus dem ganzen Leben und Und dabei wendete er sich in

gleichmäßiger Weise den verschiedensten Volksgeistern, vor allem auch der orientalischen und alttestamentlichen Geistesweise zu. Dieses Streben blieb also bei ihm in engem Zusammenhange mit dem theologischen und geistlichen Charakter seiner Denkweise und Persönlichkeit.

Für Goethe dagegen hatte jenes Bewußt­

sein noch einen ganz anderen, viel bestimmteren und konsequen­ teren Sinn. Er strebte zugleich auch dem ganzen Inhalte seiner Dichtung nach zur vollen unverkümmerten Natur und Menschlichkeit hin; von dieser sollte sie ein Ausdruck sein. Und je mehr sich dieses Ziel in ihm aus seiner ersten noch unvergohrenen Form zur ruhig schönen Natur abklärte, desto weniger fand er dasselbe in den umgebenden deutschen Zustän­ den und in den Bestrebungen seiner dichterischen Zeitgenossen wieder, desto mehr mußte es ihn daher schließlich nach Italien und zum Antiken hintreiben, und desto mehr mußte sein Stre­ ben ebendadurch zu einem von den praktischen Zuständen der Nation abgekehrten, einseitig ästhetischen und beschau­ lichen werden, bis er endlich in dem herangereisten Schiller eine bei allem Gegensatz der Naturen doch geistesverwandte Er­ gänzung und Anregung fand.

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Herders damalige Stellung. Sowohl jene Losscheidung Goethe's von den Bedürfnissen

und dem Geiste der übrigen Nation, als jener plastisch-ästhetische und

ganz auf gegenwärtige und rein menschliche Ab­

rundung hingehende und dem Antiken zugewendete Sinn, war nun Herder's Geistesweise ganz entgegen, und inwieweit mit Recht, erhellt von selbst aus dem Obigen.

Dazu kam nun noch

Herder's Abneigung gegen die Kantische Philosophie und insbe­ sondere ihre kritische Auffassung des Schönen, als eines solchen, das ohne anderweitiges Interesse durch Wohlgefallen errege.

seine bloße Form

Herder glaubte in Goethe's, und ebenso

in Schillert mit Goethe verbündetem und gemeinsamem Streben, eben jene einseitig ästhetische Hinrichtung auf die bloße Kunstform zu sehen, wozu ihm Schiller mit der Anknüpfung seiner ästhetischen Ideen an die Kantischen (namentlich in den Briefen „über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts") noch mehr Anlaß gab.

Dichtungen aber, wie z. B. Goethe's Braut

von Korinth und der Gott und die Bajadere, enlpörten Herder im Innersten, da er deren wahre und tiefere Bedeutung (den Gegensatz gegen eine das Recht der Natur verkümmernde, ein­ seitig religiöse und

ascetische Weltanschauung) nicht zu fassen

wußte, und in diesem, wie in Anderem, eine Entweihung des Heiligthumes des Volkslebens, einen verwerflichen Mißbrauch der bloßen Kunstform, erblickte.

Gegen diesen „Gräcismus,"

diese angeblichen „reinen Kunstprodukte," die unter solcher Form das Widrigste und Niedrigste dem Volke vorführen toollen, polemisirte er auf das heftigste in seiner „Adrastea" und ander­ wärts, und nannte solche „bloß in und für die Formen darge­ stellten Produkte Brunnen ohne Wasser."

Er meinte also in

solcher Polemik gegen Goethe und Schiller, gegen die Schlegel, Kant u. s. w., ganz seiner alten Anschauung über den lebendi-

Herder und Jean Paul; Freundschaft mit Jakobi.

gen Ursprung und Zweck aller Dichtung getreu zu sein.

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Allein

wie Herder von seiner mehr theologisch-religiösen Anschauungs­ weise aus für das wirkliche Ziel Goethe's und Schiller's keinen Sinn hatte, so fehlte ihm auch hinsichtlich dessen, was er mit. Recht vermißte, die Erkenntniß, daß die Natur der deutschen Zustände selbst es war, welche dem an sich wahren Streben Goethe's (und theilweise auch Schiller's) jene vom übrigen Leben der Nation abgelöste Einseitigkeit geben mußte, und daß dennoch auch ihre Dichtung aus einem liefen menschlich-praktischen Stre­ ben hervorgieng. Um so mehr aber mußte ein Dichter von so ganz entgegen­ gesetzter Art, wie Jean Paul, jener Geistesweise Herder's näher stehen, sowohl wegen seiner Anknüpfung an die unmittelbaren Zustände der Nation, als andererseits wegen seines Strebens, im scharfen Gegensatz zu diesen Zuständen den idealen Sinn in menschlich-sittlicher und religiöser, wie in bürgerlicher Hinsicht zu wecken.

In der Polemik gegen die einseitige ästhetische Form

aber theilte Jean Paul, wie wir noch sehen werden, seiner gan­ zen formlosen Eigenthümlichst zufolge wiederum Herder's An­ schauungsweise. — Aehnlich wie mit Herder verhält es sich auch mit Jean Paul's Freundschaft zu Fr. Jacobi, dem Philosophen, dessen Jugendverhältniß zu Goethe sich gleichfalls immer mehr löste.

Was im Gegensatze zu Goethe und Schiller diese Gei­

ster zu einander zog, das war (außer der Antipathie gegen die nüchterne

Kälte Kantischer

Philosophie)

zunächst wieder

der

idealistische, auf ein Jenseits hingehende Zug des religiösen Gemüths. Doch um zn jenem Weimarer Aufenthalt zurückzukehren: so unendlich Vieles auch Jean Paul in der ersten Erhebung seiner Gefühle durch diesen Weimarer Aufenthalt gewonnen zu

Folgen der Weimarer Reise.

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haben glaubte, so war damit doch nur der Zündstoff in ihn ge­ worfen, der ihn, um für jene höhere ideale Dichtung das gei­ stige Material zu sammeln, nun immer wieder in die größere Welt Hinaustrieb.

So kam er außer Weimar auch nach Leipzig,

Dresden, Berlin u. s. w., und gerieth auch hier wieder in ähn­ liche Verbindungen mit hervorragenden weiblichen Naturen, bis er endlich, nachdem er den wesentlichen Plan des Titan und ziem­ lich

gleichzeitig auch seine

bleibende Lebensgefährtin gefunden,

wieder zu einem ruhigeren und seßhafteren Schaffen übergieng. Während dieser ganzen Zeit (bis 1800), während welcher fortwährend ihm jene umfassendere und höhere Schöpfung vor Augen schwebte, war natürlich kein anderweitiges größeres Werk für ihn möglich, sondern nur kleinere Erzeugnisse, in welchen sein Produktionstrieb vorläufige Beschwicht'gung fand, also theils satirische, theils idyllische, theils, wie es meist der Fall war, aus Beidem gemischte.

Zunächst ist hier die schon anderweitig er­

wähnte Vorrede zur 2. Auflage des Qumtus Fixlein deß­ halb zu nennen, weil sie, kurz nqch dem ersten Weimarer Auf­ enthalt geschrieben, sehr bestimmt den Gegensatz ausspricht, in welchen sich Jean Paul zu der in antikem Geiste auf volle har­ monische Ausprägung und Abrundung hingehenden Sinnesweise Goethes und Schillert setzte.

Denn m dem „Kunstrath Fraisch-

dörfer," der Schönheit und Kunst einzig auf tue Form, im Gegensatz gegen allen Inhalt (Materie), zurückführt, ist zwar zunächst nur ein Extrem bekämpft, und an Einseitigkeiten der Schlegel'schen Anschauungsweise angeknüpft; allem zugleich geht Jean Paul's Polemik ebenso, wie die Herder's, überhaupt gegen jene Anschauung,

die in der vollen schönen Ausprägung des

natürlichen und gegenwärtig menschlichen Daseins ihr höchstes Ziel erblickt, und also ebendamit gegen die gemeinsame

Vorrede zur zweiten Auflage des Oitint. Fixlein.

Grundanschauung Goethe's und Schillers.

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Jean Paul ant­

wortet dort dem „griechenzenden Formschneider," der ihm die Wahl „solcher zweideutigen Materien, wie z. B. Gottheit, Unsterblichkeit der Seele u. s. w."

vorwirft,

mit innerlichem

Ingrimm: „Du elende frostige Lothsalzsäule!--------- Du sollst weder meine Reißfeder, noch mein Auge von dem Eisgebirge der. Ewigkeit abwenden, an dem die Flammen der verhüllten Sonne spielen, noch vom Nebelstern der zweiten Welt, und von allem, was die fliegende Hitze des fliegenden Lebens mildert, und was den in der Puppe zusammengekrümmten Flügel öffnet, und was uns wärmt und trägt!"

Und in solchem Sinne hatte ja

unter Anderen auch Herder Jean Paul's Dichtung als eine solche begrüßt, die wieder „neues Leben, Wahrheit, Tugend, Wirklichkeit in die verlebte und mißbrauchte Dichtkunst bringe." Denn allerdings hatte die Kluft, welche zwischen dem vollkommen wahren Ziele und Principe Goethe's und Schillers und ande­ rerseits den wirklichen Zuständen der Zeit und Nation bestand, die nothwendige Folge, daß namentlich Goethe in seinem verein­ samten Gange nur in einseitig theoretischer und ästhetisch beschaulicher Weise jenes Ziel zur Verwirklichung brachte, wäh­ rend es seiner Dichtung dabei an dem wahren und großen praktischen Gehalte fehlte.

Das gilt ja schon von dem Tasso,

dann von den römischen Elegien und Anderem; und auch Schil­ ler gerieth infolge jenes Mißverhältnisses zum Theil auf Ab­ wege, wie in seiner Braut von Messina. hiezu gieng

Und im Gegensatze

allerdings Jean Paul's Dichtung weit mehr apf

die wirklichen Zustände der Zeit und deren praktische und sitt­ liche Bedürfnisse ein.

Allein er vermochte dieß doch nur in der

Weise, daß er selbst einseitig im Bruche mit der gegebenen Wirklichkeit feststand, und sein höchstes Streben in dem Zuge

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Der Jubelsenior.

Das Kampanerthal.

nach einem ungreifbaren Jenseits gipfelte. Und so blieb er nicht nur unfähig, die Wahrheit jenes principiellen rein menschlichen Zieles zu fassen, das Goethe und Schiller vorschwebte, sondern vermochte namentlich auch nie zur reinen und vollen Dichtung sich zu erheben, während selbst Goethe in „Hermann und Do­ rothea" die Probe gab, wie wenig sein Ziel einen wahrhaft großen praktisch-bürgerlichen Inhalt ausschließe, und in welcher ganz anderen rein dichterischen Form er einen solchen darzustellen und an die Zustände der unmittelbaren Gegenwart anzuknüpfen vermöge. Wir können jetzt über die anderen Erzeugnisse dieser Vor­ periode des Titan kürzer hinweggehn. Der „Jubelsenior," seiner Hauptsache nach idyllisch, und so zu sagen nur mit ei­ nem satirischen Rahmen eingefaßt, steht dem Quintus Fixlein nahe, obgleich er schon wieder auf eine gehobenere Stufe ernster Rührung emporgerückt ist. Denn nicht nur der Senior selbst ist eine würdevollere Gestalt, als sie sich int Quintus Fixlein findet, sondern auch die Liebe Jngenuin's und Alithea's ist in einem höheren und mehr idealen Tone gehalten. — Recht im Mittelpunkte der idealen Gefühls- und Denkweise Jean Paul's bewegt sich aber das Kampanerthal, diese dichterische Ver­ theidigung des Unsterblichkeitsglaubens. Jedoch auch hier muß das Gehobene des Inhaltes und der Behandlung sich charakte­ ristisch genug wieder an eine entsprechende äußere Natur an­ lehnen. Der Dichter hat dazu die Erhabetcheit und Schönheit eines Pyrenäenthals nöthig; eine gewöhnlichere Umgebung würde ihm hier nicht genügen, sie würde für ihn einen hemmenden Kontrast bilden. Es ist also wieder dasselbe Bedürfniß, zufolge dessen er auch seine höher strebenden Romane in fürstliche Re­ gionen oder (wie im Titan) zum Theil auch noch in eine ideale

93

Das Kampanerthal.

Natur, nach Rom, Neapel u. s. w., verlegen muß. Die Beweis­ führung selbst aber faßt, bei aller Polemik gegen die Kant'sche Philosophie, doch in analoger Weise, wie diese, daS geistig sitt­ liche Wesen des Menschen, diese seine unendliche Bestimmung, als eine transcendente Wundererscheinung auf; sie stützt sich also auf eine gleiche dualistische Auffassung der Dinge, wie sie auch in der ganzen Dichtung Jean Paul's sich darstellt. Indem nun bei Jean Paul überall, und so in der ausgespro­ chensten Weise im Kampanerthal, als Höchstes das Hinaus­ streben über Natur und Wirklichkeit nach einem idealen Jeneits erscheint, so ist es ganz natürlich, daß dieses einseitige Hinausstreben über die Erde zuletzt auch äußerlich seine Befrie­ digung sucht und mit dem Besteigen einer Montgolfiere endigt, um so zu sagen auch physisch deu Sternen näher zu sein. diesen! äußerlichen Vehikel,

In

zu welchem die Sehnsucht greift,

wiederholt sich also nur dasselbe, was wir schon über den gan­ zen Schauplatz dieser Darstellung sagten.

Zugleich aber liegt

auch in diesem Schluffe, wie in dem ganzen Kampanerthal, so klar als nur möglich, jener Gegensatz Jean Paul's gegen Goethe und Schiller vor Augen, die statt jenes Hinausstrebens zu ei­ nem Jenseits vielmehr das wahrhaft Natürliche und Menschliche wollten. Neben diesem ganz idealen, wenn auch freilich nicht mehr rein dichterischen Stoffe zeigt sich nun aber zugleich das andere Element des Jean Paul'schen Wesens in einer möglichst närri­ schen und bizarren Beigabe, nämlich der „Erklärung der Holzschnitte unter den zehn Geboten des Katechis­ mus."

Den nächsten Anlaß zu diesem seltsamen Erzeugniß

gab zwar ohne Zweifel der von selbst zur Satire auffordernde Kontrast zwischen der religiösen Bestimmung dieses Anspacher

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„Erklärung der Holzschnitte unter den zehn Geboten" n. s. w.

und Baireuther Katechismus, und den ebenso unpassend gewähl­ ten, als plumpen Bildern desselben.

Dazu kam dann aber das

Gefallen des Dichters an einem närrisch humoristischen Phantasiespiel, das er an diese Bilder anknüpfen, und in welchem er ebenso ein komisches Gegenstück zu der bekannten Erklärung der Hogarth'schen Kupferstiche durch Lichtenberg geben, als eine parodirende Anspielung auf jenen ästhetischen Formkultus ein­ flechten konnte, den er schon früher (und nachher ebenso im Ti­ tan) in dem „Kunstrath Fraischdörfer" personificirt hatte. Denn auch dieser wird bei Erklärung Weise herbeigezogen.

ver Holzschnitte in ironischer

Unter allerlei künstlichem Witzspiel wird

dann aus jenen Bildern die Ehestandsgeschichte eines „Salzre­ visors" und seiner etwas leichtfertigen Frau herausgesponnen, die nach gewohnter Weise an einem der fürstlichen Duodezhöfe endigt.

Indessen mit welcher Erfindungsgabe auch dieser Plan

durchgeführt sein mag, ein Grundfehler, der dem Jean Paul'schen Humor überhaupt anhaftet, tritt vor allem auch an diesem Erzeugniß hervor, nämlich

das Künstliche, allzu Gesuchte

und Reflektirte, das keinen ruhigen und harmlosen Genuß zu­ läßt, sondern zugleich in einer ermüdenden und anstrengenden Weise wirkt.

Und je mehr der Stoff selbst, an den sich Alles

anknüpft, nämlich die einzelnen Bilder unv die scherzhaft um­ deutende Erzählung, die aus ihnen zusammengesetzt wird, ein untergeordneter und für sich selbst interesseloser ist, je mehr also Alles erst durch jenen satirischen Humor seine Bedentung er­ halten muß, desto mehr wird auch jener Mangel fühlbar. Vorwiegend satirische Bedeutung, theils nach politischer, theils nach philosophischer und ästhetisch kritischer Seite, haben auch die „Palingenesien" (oder „Jean Paulas Fata und Werke vor und in Nürnberg"), wie sie auch schon in ihrer Ent-

„Palingenesieen." „Briefe" und „bevorstehender Lebenslauf."

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stehung eine, der Hauptsache nach freilich ganz neue, Umarbei­ tung der älteren „Teufelspapiere" sein sollten.

Die ernst ge­

fühlvollen Elemente, im Anfang und Schluß, wenn auch nicht ohne Werth, sind doch zu sehr bloße Einkleidung für das kle­ brige, als daß sie gegen die anderen selbständigeren Schöpfungen dieser Art in Betracht kämen.

Die „Briefe" aber und „de?

bevorstehende Lebenslauf" stehen, abgesehen von einzelnen Parlieen und Einschiebseln, an dichterischer Bedeutung auch den „Palingenesien" nach, wie dieß schon ihr Mangel an einer durch­ geführten organischen Form

anzeigt.

Sie gehören

zu jenen

Nebenwerken Jean Paul's, die theilweise schon in die gewöhn­ liche reflektirende Prosa übergehen, und deren Werth insoweit auch nicht nach der dichterischen Seite hin liegt, welche Bedeu­ tung sie auch sonst als Ausdruck seiner geistigen Eigenthümlich­ keit haben mögen.

Wir heben daher hier nur noch die gleichfalls

in jene Zeit fallende kleine Arbeit über Charlotte Corday hervor, in welcher die ideale Begeisterung, mit welcher Jean Paul die edle und berechtigte Seite an den Erscheinungen der französischen Revolution aufnahm, so kühn und lebendig hervor­ tritt.

Wir werden sehen, wie in der Darstellung einer solchen

thatkräftig

idealen Gestalt dasselbe gereiftere Streben des

Dichters hervortritt, das er nun auch in seinem so lange schon verfolgten Ziele, in dem Titan und dessen Helden, verwirklichen wollte. Das Eigenthümliche des Titan nämlich, welcher jetzt mit dem Beginne des neuen Jahrhunderts erschien, und in welchem die schon im Hesperus und der unsichtbaren Loge zu Grunde liegende, aber noch unvollendet gebliebene Idee ihre Verwirk­ lichung finden sollte, läßt sich kurz dahin zusammenfassen, daß in ihm endlich der bloße Kontrast der idealen Gemüths- und

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Der „Titan" und sein Ziel.

Geisteswelt mit der kleinlichen und ungenügenden Wirklichkeit überwunden und die Heranbildung eines Helden dargestellt werden soll, der zur idealen That, zu handelndem und umgestaltendem Eingreifen in die äußeren Zustände befähigt und bestimmt ist.

Dadurch soll sich „ALbano" im Titan, und ebenso

die ihm zugedachte Heldin, von allen bisherigen, theils humori­ stischen, theils idyllischen, theils ernst idealen Helden und Hel­ dinnen des Dichters unterscheiden.

Mit einer vollständigen Ver­

wirklichung dieses Strebend, mit einer dichterisch ausgeführten Darstellung eines solchen Helden, hätte also Jean Paul eben das überwunden, was wir bis jetzt als die innerste Eigenthüm­ lichkeit und als den Grundmangel seiner ganzen Anschauungs­ weise und Dichtung erkannten, daß nämlich ihm, wie seinen Helden, gegenüber von der Dürftigkeit und Kleinlichkeit der wirk­ lichen Zustände (b. h. des damaligen deutschen Lebens) nichts Anderes übrig blieb, als sich in den Reichthum der eigenen inneren Welt, sei es nun in versöhnt idyllischer, oder humori­ stischer, oder schmerzlich sehnsüchtiger Weise zurückzuziehen.

Eben

dieser ungelöste Widerstreit und Kontrast führte, wie wir sahen, den Dichter nothwendig zu jenem Streben, sich darüber zu er­ heben.

Denn schon überhaupt eine große und ideale Dichtung,

die ihm schon so lange als Ziel vorschwebte, war ja gar nicht möglich, ohne daß sie sich aus jener einseitigen macht- und thatloseu Innerlichkeit befreite, und dem frei idealen Bewußtsein zu­ gleich den Zug zu kräftigem Handeln, zu kämpfender praktischer Verwirklichung der eigenen Ideale verlieh.

Ohne dieses mußte

immer jenes Kleinliche und Beschränkte bleiben, welches Jean Paul's Dichtung so oft und immer wieder in das bloß Idyllische oder Komische herunterzog. Und nicht bei diesem bloß dichterischen Bedürfniß

und

97

Eigenthümliche Bedeutung des Titan.

Streben dürfen wir stehen bleiben; sondern in ihm regt sich ja zugleich überhaupt das nothwendige Streben des

deutschen

Geistes, jenen unwürdigen Kontrast seines reichen idealen Le­ bens mit seiner kläglichen äußeren Wirklichkeit zu überwinden, dem frei idealen und rein menschlichen Bewußtsein, das er in sich trug, auch zu kräftig bürgerlicher und nationaler Verwirk­ lichung zu verhelfen.

Aber freilich ebenso weit, als unsere Na­

tion damals noch von der Verwirklichung dieser Aufgabe entfernt war, an der sie vielmehr jetzt erst arbeitet, ebenso weit mußte auch jene Dichtung Jean Paul's noch hinter dem zurückbleiben, was sie konsequenter Weise hätte sein müssen. nur das Bild

einer zu kräftigem Handeln

Sie gab wieder hin strebenden

idealen Jünglingsnatur, nicht aber das eines wirklich that­ kräftigen

und männlichen Bezwingens

äußeren Zustände.

und Umgestaltend

der

Demungeachtet aber, und obgleich es sich

dabei liitr um einen Roman handelt, und zwar um einen solchen, der hinter seinem eigenen letzten Ziele so weit zurückblieb, wird doch Niemand die prophetische Bedeutung verkennen, welche diese Dichtung Jean Paul's hatte, und mit welcher sie den Be­ ginn unseres Jahrhunderts eröffnete.

Denn so sehr sie auch

in anderer Hinsicht hinter den Hauptwerken Goethe's und Schiller's zurücksteht, so hatte doch von Anfang die Dichtung Jean Paul's, und demgemäß auch der Titan, eine weit direktere Be­ ziehung auf die wirklichen deutschen Zustände und auf das Ziel, um das es sich für diese handelte, wie dieß nun durch den gan­ zen Plan des Titan noch deutlicher werden wird. Wir haben schon früher gesehen, weßhalb Jean Paul, wo er einen

großen und idealen Stoff und einen dem gemäßen

Helden darstellen wollte, sich gleich in die fürstlichen Regionen und die höheren Stände erheben mußte, weil er nämlich sei'4.11.1 ii ff, 3cau Pmil'ö 2' id'hmfl.

7

98

Der Held des Titan.

ner ganzen Anschauungs- und Gefühlsweise zufolge andere Um­ gebungen sogleich als eine niederziehende und kleinliche Schranke gefühlt hätte.

Indem nun dieß vor Allem für den Titan und

dessen Helden gilt, so ist es natürlich, daß dieser, obgleich unter anderem Namen erzogen, doch nicht nur selbst Fürstensohn, son­ dern auch zum Throne bestimmt ist.

Damit theilt nun der Ti­

tan freilich, schon seiner ganzen Anlage nach, wieder denselben Grundmangel, in welchem wir die Eigenthümlichkeit Jean Paul's überhaupt fanden.

Denn so wird ja die Kleinlichkeit der Ver­

hältnisse auch hier wieder nicht durch thatkräftiges und realisti­ sches Handeln überwunden, sondern dieselbe bleibt auch hier als ein äußerlicher bloßer Gegensatz und Kontrast neben der idealen Sphäre des Helden stehen, und es ist daher von vorn herein zu erwarten, daß auch dieser nicht zum wirklichen und bestimm­ ten Handeln kommen, sondern nur in einer hierauf hinstreben­ den idealen Denk- und Gefühlsweise stehen bleiben werde. Innerhalb dieser Gränze aber ist allerdings Albano wesent­ lich anders angelegt, als die früheren Helden des Dichters; er gleicht nicht mehr dem Viktor im Hesperus, sondern er ist so zu sagen ein idealer Flamin, in welchem überall das kräftig Muthige, Feste und Selbstbewußte, mit einem Worte das aktiv Männliche, im Gegensatze gegen alles einseitig Beschauliche und Weiche hervortreten soll.

Deßhalb ist

auch alles Humoristi­

sche, das bei Viktor so wesentlich ist, von ihm ferngehalten; es würde ja ebensosehr dem männlich Thatendurstigen, wie dem großartig Idealen widerstreiten.

Dagegen hat der Dichter ein

ganz neues und bedeutungsvolles Element aufgenommen, jenes, das, wie wir sahen, ihm namentlich gegenüber von Goethe so sehr mangelte, die Hinwendung zum Antiken, zum plastisch ausgeprägten Geiste des Südens.

Schon in der Erziehung deö

Anlehnung des Titan an das Antike.

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Helden wirkt ein solches Element ein, in dem Griechen und Baumeister Dian; und noch weit unmittelbarer ist es nachher der Boden Italiens, Ronis und Neapels, der nicht von der bloß ästhetischen Seite her, sondern als ein für große Thaten und Männer begeisternder auf ihn einwirkt.

Aehnliche Bedeu­

tung hat schon die Verbindung des deutschen Fürstensohnes mit einem Spanischen. Granden als Pflegvater, und dann ohnedieß die Liebe zu dessen Tochter, in welcher wiederum gegenüber vom Deutschen schon mehr das südlich Stolze und Plastische hervor­ treten soll, u. f. to.

Kurz Jean Paul hat hier in seiner Weise,

analog wie Goethe und Schiller, und offenbar auch durch diese angeregt, die deutsche einseitige Innerlichkeit durch den auf han­ delnde Ausprägung Hingerichteten, und ebeudamit der antiken Welt und dem Süden annähernden Zug zu ergänzen gesucht, und aus dem Allem erklärt sich von selbst, weßhalb es für ihn erst jener längeren Vorbereitung bedurfte, bis er sich reif fühlte, dieses Werk zu schaffen. Den Helden des Titan also regt Rom mit seinen Denk­ malen und Kunstschätzen nicht zu ästhetisch genießender und be­ wundernder Beschaulichkeit au, sondern es spornt ihn im Gegen­ theil an, daß er alte und neue Kriegsgeschichte studiert und sich vornimmt theilzunehmen an dem gallischen Freiheitskrieg.

„Wie

in Rom ein Mensch nur genießen und an dem Feuer der Kunst weich zerschmelzen könne, anstatt sich schamroth aufzumachen und nach.Kräften und Thaten zu ringen, das begreif' ich nicht," so schreibt Albano

an seinen

Schoppe.

Und

gleichen Eindruck

macht auf ihn auch das plastisch Stolze des Südens überhaupt, der Gang und die Erscheinung der Römerin u. s. w.

Das

alles ist gewiß ein höchst behcrzigenswerther Gegensatz gegen den ganz in theoretische und genießende Beschaulichkeit versun-

7

*

100

Abermaliger Gegensatz zum Goethe'schen Wesen.

feiten Goethe, wie ihn seine italienische Reise uns zeigt. Weit näher berührt sich hier die Jean Paul'sche Gefühls- und Auf­ fassungsweise mit der des gleichzeitigen (sonst freilich so ganz verschiedenen) Hölderlin, welcher gleichfalls mehr noch, als das rein Schöne des griechischen Wesens, den freien und hohen praktischen Geist des Alterthumes, und seinen Ab­ stand vor allem gegen das Elend deutscher Zustände, hervorkehrt. Allein freilich ist bei dem allem nicht zu vergessen, daß Goethe, der das wahrhaft menschliche und natürliche Ziel der Neuzeit, und das Gemeinsame desselben mit dem antiken Wesen, weit reiner und vollständiger faßte, auch ebendeßhalb sür das letztere und dessen Schönheit noch eine ganz andere umfassendere Empfänglichkeit hatte, und so weit mehr in das ästhetische An­ schauen jenes idealen Zieles sich verlieren mußte (entsprechend dem Geiste seiner Dichtung), während zugleich die deutschen Zustände selbst ihm insoweit Recht gaben, als sie eine großar­ tige frei bürgerliche Thätigkeit noch unmöglich machten. So mußte denn jenes Goethe'sche Streben nach wahrhafter Natur und vollem menschlichem Dasein sich allerdings noch auf das Gebiet des ästhetisch Beschaulichen und der bloß persönlichen Ausbildung beschränken, und es blieb in diesem Sinn selbst noch einseitig idealistisch, so sehr es seinem letzten und konse­ quenten Ziele nach zugleich ein im wahren Sinne realistisches war. Erst in der späteren Entwicklung Goethe's, als er schon alternd seine rein dichterische Periode bereits hinter sich hatte, traten auch die praktisch bürgerlichen Konsequenzen seines ganzen Strebens für seine Anschauungsweise bestimmter hervor, und haben sich als solche im Schlüsse des Faust und in den Wan­ derjahren ausgesprochen. Aber wenn also nach dieser Seite hin Jean Paul allerdings vor der Goethe'schen Geistesweise eine

Entwicklung des Helden im Titan.

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wesentliche Wahrheit voraus hatte, so hängt dieß doch anderer­ seits unzertrennlich mit dem Mangel seiner ganzen Weltan­ schauung zusammen. Nur deßhalb, weil Jean Paul jenes rein menschliche und natürliche, und ebenbarin rein schöne Ziel nie ganz zu fassen vermochte, sondern immer in dem entzweiten Kontraste der kleinlichen äußeren Zustände und einer jenseitig idealen Welt stehen blieb, konnte er allerdings wiederum schär­ fer und männlicher jenen praktischen Antrieb hervorkehren, der in der Größe Roms und seiner Denkmale liegt. Und auch er selbst weiß ja für seinen Albano zunächst keinen andren gro­ ßen Inhalt dieser Art, als Theilnahme an dem gallischen Freiheitskrieg, weil die deutschen Zustände ihm noch gar keinen Spielraum dieser Art bieten! Der Dichter hat also hier in sei­ nem Albano wieder bloß seine eigenen freien Ideen und Sympathieen mit der französischen Revolution verkörpert. So zielt nun zwar die ganze Ausbildung, wie die Charakteranlage des Helden, auf handelnde Bethätigung hin, und selbst seine Liebesgeschichte mit ihren verschiedenen Phasen hat diese Bedeutung. Er greift zuerst fehl, indem er in Liane eine krank­ haft ideale Natur wählt, die unter der überwiegenden Macht ihres geistigen Gefühlslebens erliegt, und dem Ernste der wirk­ lichen praktischen Lebensaufgaben nicht gewachsen ist. Er liebt dann wiederum in Linda eine Natur, die zwar jenes südlich Kräftige und Stolze voraus hat, die aber in ihrer einseitig genialen Freiheit in den bestimmten und fest begränzten Kreis der praktisch bürgerlichen Aufgaben wieder nicht hineinpassen würde, (wie sie ja schon die Ehe als ein unfreies Band betrach­ tet), und daher selbst ein tragisches Opfer jenes überfreien ge­ nialen Sinnes wird. Er findet endlich in Jdoine diejenige Natur, welche mit dem hohen idealen Sinne zugleich den kräftig

102

Unvollendetes Streben des Titan.

praktischen und auf die bestimmten Aufgaben ihres Lebenskreises Hingerichteten Charakter verbindet, und welche daher für ihn und seine nun beginnende fürstliche Thätigkeit die wahre Lebensge­ fährtin ist.

Allein so sehr also auch hier wieder jener Fortschritt

des Dichters zu Tage liegt, zufolge dessen er sich über die ein­ seitig ideale und mit dem Leben und dessen bestehenden For­ men entzweite Sinnesweise erhebt, und vielmehr zu dem praktisch schaffenden Eingehen aus die realen Verhältnisse fort­ schreitet, so gibt doch seine eigene Darstellung von solcher prak­ tisch bürgerlichen Wirksamkeit des Helden noch nichts, sondern sie strebt nur in innerlich idealer Weise darauf hin, als zu ei­ nem über sie selbst hinaus lieg enden Ziel.

Insbesondere

ist es durchaus charakteristisch, daß der Dichter wohl von der Heldin, die schließlich seinem Albano bestimmt ist, einiges We­ nige aus ihrer Wirksamkeit zu erzählen weiß, (also Dinge, die doch nur in den Kreis der weiblichen Privatthätigkeit fallen), dagegen nichts von einer öffentlichen Wirksamkeit seines Hel­ den.

Ja der Held kommt mit all' seinen! innerlichen Drange

doch noch weniger znm wirklichen Handeln, als die Nebenfigu­ ren (besonders die feindlich entgegenstehenden), deßhalb weil für seinen Thatendrang, der auf höhere und allgemeine Ziele hin­ geht, innerhalb des Darstellungskreises, der für Jean Paul zu Gebote stand, sich noch kein Stoff vorfand.

Denn z. B. mit

einer wirklichen Theilnahme am Gallischen Freiheilskriege hätte der Dichter, wie aus dem Früheren erhellt, sein eigenthümliches Gebiet ganz überschritten.

Das Verhältniß des Helden zu den

verschiedenen Geliebten aber ist ein solches, tu welchem er selbst erst durch die innere Konsequenz der Verhältnisse vollends her­ angezogen und ausgebildet wird, nicht aber selbstthätig den An­ stoß seiner eigenen Fortbildung gibt.

Gegensatz des Pathetischen und Humoristischen im Titan.

103

Kurzum: Jean Paul's Dichtung bleibt, wie es nicht anders sein konnte, nur in der idealen Vorschule zu jenem praktisch bürgerlichen Ziele des deutschen Geistes stehen, sie kann noch nicht Bilder aus dieser Thätigkeit selbst geben, die ja sogar jetzt noch in ihren Anfängen steht. . Ebendeßhalb bewegt sich auch die ganze Darstellungsform des Titan wieder in jenem alten und

wohlbekannten Kontraste.

Die Darstellung

des

Helden

strebt freilich den kraftvoll hohen und idealen Stil an, und in diesem Tone ist vor allem schon seine erste Einführung gehalten. Allein schon dieser Ton selbst muß etwas einseitig Ideales und Pathetisches erhalten, weil er ja noch nicht etwas praktisch Reales, sondern noch einseitig ein über die bestehenden Zustände hinausgehendes Streben und Gefühl ausdrückt.

Diese Einsei­

tigkeit des kraftvoll pathetischen Tones, (der jetzt an die Stelle des verschwimmend sentimentalen getreten ist), würde daher schon an sich selbst eine entgegengesetzte Ergänzung fordern, sie würde sonst monoton und ermüdend wirken.

Allein sie kann auch den

sachlichen Verhältnissen nach gar nicht ohne die entgegengesetzte, humoristische Ergänzung sein, da ja auch hier die kleinlichen deutschen Verhältnisse noch fortbestehen, und eben auf dem Ge­ gensatze zu beruht.

ihnen jenes einseitig pathetische und ideale Wesen

So platzt denn gleich nach der ersten hoch pathetischen

Einführung des Helden wieder das niedrig realistische Ele­ ment des Humors herein, in dem beigegebenen Schoppe und dessen Reden und Thun.

Diese Beigabe des Schoppe-Leibgeber

ist also auch hier unvermeidlich, indem sie gleich von vorn her­ ein wieder den Kontrast der niederen Wirklichkeit mit dem idealen Wesen des Helden ankündigt und denselben zum Humor ver­ klären

muß.

Auf

den Höhepunkten

muß Schoppe zurückweichen.

der Darstellung freilich

Da, wo Albano seine höchsten,

104

Schoppe und sein Wahnsinn.

zu Thaten begeisternden Eindrücke erhält, und den Bund mit seiner Linda schließt, in Rom und Neapel, ist Schoppe ferne, er ist in Deutschland zurückgeblieben. Allein sein Ende findet er doch erst mit dem der Dichtung selbst. Die Zeit, wo die ver­ söhnte und schöne praktische Wirksamkeit Albano's begänne, wo für den innerlich entzweiten Schopve keine Stelle mehr wäre, liegt, wie wir sahen, über die Dichtung selbst hinaus. Auch so indessen ist es doch tief bedeutungsvoll, daß Schoppe, diese Verkörperung des satirischen Humors, gerade im Titan sein Ende findet; und es erinnert dieß von selbst zurück an das, was schon über das Verschwinden Leibgebers in der zwei­ ten Hälfte des Siebenkäs bemerkt wurde. Eben weil im Titan die praktische Versöhnung mit der Wirklichkeit als Ziel er­ scheint, muß hier die Entzweiung mit.dem äußeren Dasein, die sich im Humor ausspricht, in ihrem sich selbst aufreiben­ den Widerspruch dargestellt werden; sie ist hierin das ent­ sprechende negative Gegenstück zu dem Ziele, bei welchem der Held anlangt. In tiefsinniger Weise hat hier der Dicbter an die damals herrschende Fichte'sche Philosophie, diesen Gipfel des deutschen Idealismus, angeknüpft, indem er die unbefriedigte innere Entzweiung mit dem eigenen äußeren Dasein, wie sie sich im Humor ausspricht, diese fortwährende Reflexion und Ab­ scheidung von sich selbst, zu einer wahnsinnigen Furcht vor dem eigenen Ich und so zu sagen zu einer förmlichen Projektion desselben ausarten läßt, wie hievon früher schon die Rede war. Wie nämlich der satirische Humor Jean Paul's und seines Schoppe in dem quälenden Kontraste wurzelt, in welchem sich das hohe, aber noch einseitig ideale Leben des deutschen Geistes mit seinen äußeren praktischen Zuständen befand, so sprach sich analog auch in der Fichte'schen Philosophie, nur in einer um-

Schoppe und sein Wahnsinn. fafsenderen,

105

auf die ganze Weltanschauung bezüglichen Form,

noch die idealistische Entzweiung des Geistes mit seiner ursprüng­ lichen Naturgrundlage, die einseitige Losreißung von derselben aus, (wie hievon nachher, bei der „Clavis Fichtiana,“ noch kurz die Rede sein wird).

Und wenn also auch jener Humor zunächst

durch die unmittelbaren Zustände allem die

des deutschen Lebens,

vor

bürgerlichen Verhältnisse angeregt war und hierin

vom rein Philosophischen weit abzuliegen scheint, so wurde er ja doch eben durch jenen unbefriedigten Kontrast um so mehr in das eigene Ich und dessen reflektirende Innerlichkeit zurück­ getrieben, und verallgemeinerte von hieraus in ächt deutscher Weise jenen Gegensatz zu dem des Ich und der einschränkenden äußeren Welt überhaupt.

Das fortwährende nagende Reflek-

tiren, in welchem die Bitterkeit des satirischen Humors sich ihrem eigenen äußeren Dasein und der umgebenden Welt gegenüber stellte, ist also ganz verwandt mit jener auf die Spitze getrie­ benen Reflexion, in welcher das Fichte'sche Ich sich dem Nichtich (oder der ganzen gegenständlichen Welt) gegenüber stellte.

Und so

konnte das krankhaft Aufreibende, das in der einseitigen Herrschaft jenes Humors liegt, ganz treffend in der Form eines halb phi­ losophischen Wahnsinnes, einer Furcht vor dem eigenen sich selbst unterscheidenden und mit sich entzweiten Ich, dargestellt werden. Bei dem allem aber, und ungeachtet Albano selbst nichts von Humor in sich hat, schen diesem und Schoppe.

besteht

doch

ein

enges Band zwi­

Denn in Schoppe's satirischem Hu­

mor liegt, weil er fortwährend auf die unmittelbare Wirklich­ keit und deren praktische Zustände bezogen ist, gleichfalls etwas von thatkräftig idealem Grimme, wie er denn auch in der zweiten Hälfte in dieser Weise handelt; und dadurch ist er mit Albrno in ganz anderer Weise verwandt, als es der sehnend

106

Schoppe.

Roquairol.

weiche Viktor oder Siebenkäs wäre.

Darum nennt auch der

Dichter selbst ihn einen kräftig zürnenden und „brausenden," einen „strengen und festen" Geist.

Auch als Leibgeber ist er

ja aus demselben Grunde gegenüber von Siebenkäs der prak­ tische und energisch hilfreiche.

Wenden wir dieß Alles auf den

Dichter selbst an, so heißt es nichts anderes, als daß seine erste noch rein satirisch-humoristische Periode hinsichtlich ihrer mehr praktisch reellen Beziehung der Periode des Titan näher steht, als die mehr sehnend sentimentale Mittelperiode des Dich­ ters im Hesperus u. s. w.

Der Unterschied ist bloß der, daß

jene erste Periode noch die in sich entzweite realistische ist, während die des Titan das versöhnt realistische Verhalten, die handelnde Hineinbildung des frei idealen Inhaltes in die äußere Wirklichkeit zum Ziele hat. licher werden wir dieß

Noch vollständiger und deut­

bei den späteren Schöpfungen Jean

Paul's sehen. Wie Schoppe und sein Ende, so bildet nach anderer Seite Roquairol und sein Untergang ein Gegenstück zu Albano. So wie dieser nach Thaten, nach Hineinbildung des Idealen in die äußere Welt dürstet, so verwendet umgekehrt jener die Welt und Wirklichkeit für seine subjektive Gefühls- und Phantasieschwelge­ rei. In ihm hat sich das einseitig idealistische, in Dichtung und Phantasie Befriedigung suchende Wesen des damaligen deutschen Lebens, dessen Krankhaftigkeit (nur nach der edleren Seite hin) auch in seiner Schwester Liane hervortritt, zu einer egoistischen Phantasie- und Gefühlsschwelgere^ ausgebildet, die vor­ zeitig Alles, was die Wirklichkeit bringen könnte, vorausnimmt, sich so selbst innerlich aushöhlt, und für die wahre praktische Bestimmung unfähig macht.

So bleibt ihm schließlich nichts

mehr übrig, als der kitzelnde und raffinirte Wechsel zwischen nie-

Roquairol. Don Gaspard.

107

drigem Genuß und der stachelnden Reue seines besseren und idealen Bewußtseins; und diesem seinem Bedürfniß, und dem neidisch peinigenden Grimme über die eigene Verworfenheit ge­ genüber von seinem Gegenbilde Albano, bringt er rücksichtslos Andere, vor allem die arglos geniale Linda, zum Opfer. Das Widrige und Abstoßende dieses Charakters beruht eben in jener raffinirten Mischung mit einem höheren idealen Bewußtsein, in welchem sich um so mehr die eigene Schlechtigkeit abspiegelt, wie er denn konsequent, und seinem sich selbst bespiegelnden Phanlasieleben entsprechend, mit einer theatralischen Darstellung sei­ nes eigenen Frevels endigt. Offenbar aber hat Jean Paul in dieser Gestalt und dem Gerichte, das sich an derselben jvollzieht, einen noch ungleich bedeutungsvolleren Schritt gethan, als in der Hervorkehrung jener Einseitigkeit Emanuels im Hesperus. Denn er kehrt hier die moralisch entnervenden und ab­ stumpfenden Folgen hervor, die jene nur auf Kunst und Wissen­ schaft hingewendete Einseitigkeit des damaligen deutschen Lebens hatte, und er stellt derselben in Albano die Bestimmung zur gesunden Thätigkeit des öffentlichen und bürgerlichen Lebens entgegen. Albano's angeblicher Vater, Don Gaspard, erinnert von selbst an den Lord im Hesperus, Viktors angeblichen Vater, zu­ rück, wie denn auch die ganze Maschinerie des Romanes sich ebenso an ihn anknüpft, wie dort an den Lord. Die Aehnlichkeit der Intrigue liegt ohnedieß auf der Hand. Allein sie ist, der geistigen Bedeutung des Romanes gemäß, um eine Stufe höher gerückt, indem es sich jetzt um die Heranbildung eines Fürstensohnes zu wirklichem Herrscherberufe handelt, nicht bloß darum, durch natürliche Söhne eines Fürsten auf diesen einen wohlthätigen Einfluß zu üben. Ebenso ist Gaspard nicht mehr

108

Don Gaspard.

Liane; Linda.

bloß seiner intellektuellen Anschauungsweise nach Realist, wie der Lord, welcher letztere ja in seiner schmerzlich düsteren Ent­ zweiung mit dem Dasein sich noch an die idealistischen Helden des Dichters anschließt. Sondern Gaspard hat neben der kalt realistischen Auffassungsweise', die er mit dem Lord theilt, auch scharf realistische Zwecke und insoweit Leidenschaften; er ist Südländer, im Gegensatz gegen die nordische Innerlichkeit des Lords, und übt also auch demgemäßen Einfluß auf den Helven. So ist im Titan nicht bloß der begeisterte Sohn, sondern ent­ sprechend auch der ihm gegenüberstehende kalte Vater, mehr prak­ tisch realistisch gehalten, als es beide im Hesperus sind. Der gleiche Fortschritt zeigt sich nun, wie wir schon vor­ läufig sahen, auch in den weiblichen Charakteren. Die überzarte Liane, (die wieder in ähnlichem Gegensatze zu ihrem Vater steht, wie Klotilde oder Beate), leidet an den Folgen der un­ natürlichen und schwächenden Erziehung, wie sie in den höheren Ständen Deutschlands üblich ist, und ihres dadurch geförderten einseitig tbeateu Gefühlslebens. So fehlt es bei der gesteiger­ ten Empfindlichkeit ihres Wesens an einer kräftigen natürlichen Grundlage, und ebendamit au der Befähigung für den prak­ tischen Ernst des Lebens; im schweren und harten Konflikle mit diesem reibt sie sich auf. Nun wird Albano an Linda gewiesen, die ihrem südlichen Wesen gemäß sowohl körperlich als geistig weit mehr kräftige Natur und mehr Sinn für das wirkliche Leben in sich hat. Allein in ihr macht sich wiederum einseitig die geniale Natur und Persönlichkeit geltend gegen die be­ stimmten Forderungen des sittlichen Gesetzes und Rechtes Deß­ halb betrachtet sie insbesondere die Ehe als ein unfreies äußer­ liches Band, und hat einseitige Begriffe von der freien Hingebung der Liebe, und dem, was dieser erlaubt ist. Dagegen fehlt es

Linda und ihre Charakteristik.

109

ihr an Sinn für Albano's Thatendurst, dem sie wieder die per­ sönlichen Forderungen der Liebe entgegensetzt. So paßt sie allerdings nicht für die (bei aller Anlehnung an Südliches und Antikes) doch entschieden deutsche Bestim­ mung und Denkweise Albano's, und es ist an sich wohl psycho­ logisch gerechtfertigt, daß sie in jener einseitig genialen Hinge­ bung dem lügnerischen Spiele Roquairols zum Opfer fällt. Nur hat hier Jean Paul den unzweifelhaften Fehler begangen, diese Einseitigkeit für den Leser bei weitem nicht genug in dem ganzen Wesen Linda's hervortreten zu lassen. Denn zunächst bringt ja der Gegensatz gegen die krankhafte Liane vielmehr ein wohlthätiges und günstiges Interesse für das kräftig Gesunde und Stolze in Linda's Wesen mit sich, und um so nothwendiger wäre es also gewesen, auch jenes Einseitige stark und entschieden hervortreten zu lassen, damit die Katastrophe begründet erscheine. Allein Jean Paul, in der idealen Strenge seiner Anschauungs­ weise, glaubte mit jenen verhältnißmäßig noch zurücktretenden Zügen schon genug gethan zu haben, und schadete dadurch selbst in hohem Grade seiner Dichtung. Er zeigt hierin unwillkührlich, wie wenig in seiner unmittelbaren Natur die Darstellung einer derartigen mehr südlich plastischen Gestalt begründet war, und wie er erst durch die Konsequenz seiner Entwicklung und durch ergänzende äußere Anregung dazu hingeführt wurde. Auch haben wir ja schon früher gesehen, wie ihm dabei wirklich eine der stark genialen Naturen aus dem Weimarer Kreise vorschwebte, nämlich seine Freundin Charlotte v. Kalb, (die ihn selbst schließ­ lich hatte heirathen wollen, und von der er erst allmählig sich losgerissen hatte), mir ihren starkgeistigen Anschauungen von frei natürlicher weiblicher Bestimmung. Und ebenso enthält seine un­ gefähr gleichzeitige kleine Schrift „das heimliche Klagelied

110

„Das heimliche Klagelied der jetzigen Männer."

der jetzigen Männer" (in der Form einer Erzählung) eine dem Inhalt nach

verwandte Polemik gegen die falsch geniale

und widersittliche Freiheit im Verhältniß zum andern Geschlechte, wie sie allerdings int Zusammenhange mit dem dichterisch genia­ len Wesen jener Zeit aufgekommen war und bekanntlich selbst an hervorragenden Hauptpersönlichkeiten derselben ersichtlich ist. In einer Reihe der peinlichsten und demüthigendsten Konflikte, die ein früherer Fehltritt solcher Art über einen sonst edeln und geistreichen Mann heraufbeschwört, soll dort die tiefe Verwerf­ lichkeit dieser falsch

poetischen und genialen Anffassungsweise

vor Augen

gestellt werden.

wollte also

der Dichter auch an der einseitigen Gefühls- und

Und

eine

ähnliche Gerechtigkeit

Anschauungsweise seiner Linda sich vollziehen lassen, nur daß er leider nicht dafür gesorgt hat, dieß auch in der poetisch genü­ genden Weise zu thun, sondern die an sich selbst wahre und be­ rechtigte Strenge seiner sittlichen Anschauungsweise in einer für das poetische Gefühl verletzenden und halb barbarischen Härte hervortritt. Sachlich hat nun also Jean Paul allerdings Recht, wenn er im Gegensatze zum Südlichen schließlich das Deutsche wie­ der zu Ehren bringt, und so in seiner Jdoine erst dem Helden seine wahre Gefährtin zuführt, nämlich die bei allem idealen Sinne doch praktisch werkthätige und auf die bestimmten Auf­ gaben des Lebens Hingerichtete Natur.

Er hat auch hier wie­

derum gegen die einseitige Hinwendung zum Süden und zum Antiken, wie sie bei Goethe hervortritt, die tiefere praktische Bestimmung des deutschen Geistes geltend gemacht, ähnlich wie sie sein thatendürstender Albano in Rom gegen die einseitig be­ schauliche

und ästhetisch

verarbeitende Richtung

von Goethes

italienischer Reise oder seiner römischen Elegieen vertritt.

Und

Wahrheit und wiederum Mangel des Titan.

111

es ist eine zumal von unserer heutigen Anschauung aus nicht zu unterschätzende Thatsache, daß schon damals ein Geist, wie Jean Paul, jene Einseitigkeit bekämpfte, und

seine zwar be­

schränktere, aber starke und starre deutsche Natur ihr entgegen­ setzte.

Es ist dieß ebendeßhalb um so mehr anzuerkennen, als

er ja doch zu gleicher Zeit (eben in seinem Titan) die prak­ tisch realistische Wahrheit jenes Anlehnens an das plastisch Südliche und Antike sich anzueignen unternahm. Allein mit dem allem konnte er also doch, wie wir sahen, die Einseitigkeit seiner eigenen innersten Natur und Grundan­ schauung nicht überwinden. Der Fehler ist auch hier wieder, daß selbst jene praktische und kräftig handelnde Bestimmung, durch die sich Albano von den früheren Helden des Dichters unter­ scheiden soll, doch einseitig nur nach ihrer hoch idealen Seite, nach ihrem innerlichen Gegensatze gegen die kleinliche und unwürdige Gegenwart, gefaßt ist, und daß sich so überhaupt wieder zu viel überschwengliches Gefühls- und Phantasiewesen daran knüpft, statt daß jene Bestimmung in der vollen Anschaulichkeit und Greifbarkeit ihrer reellen und be­ stimmten Ausgaben vor Augen geführt wäre, und so das Ganze mehr nüchtern Gesundes, aber auch ebendamit mehr kräftige Schönheit erhalten hätte.

Zugleich will nun bei jenem mehr

heldenhaft idealen und in das kraftvoll Hohe hinüberstreifenden Tone jene gewohnte Zugabe der kleinlichen deutschen Ver­ hältnisse, und das hiemit verknüpfte humoristisch ausmahlende Element, ungleich weniger passen, als in den früheren Dichtun­ gen.

Zu

der weicheren, schmerzlich sehnsüchtigen Stimmung

im Hesperus und Siebenkäs fügen sich die beengenden kleinlichen Verhältnisse, sowie all' das Niedrige, was in satirisch humori­ stischer Weise vorgeführt wird, weit besser, als zu jenem pathe-

112

Widerstreitende Elemente im Titan.

tisch hohen Tone, mit welchem der Titan beginnt. Der Dichter hat ebendaher auch das Bedürfniß empfunden, sich über jenen kleinlichen Schauplatz zu erheben, und denselben wiederholt auf den Boden Italiens zu verlegen. Allein nur desto störender tritt dann der Gegensatz jener noch übrig bleibenden kleinlichen und niedrigem Elemente hervor. Selbst das idyllisch Kleine, namentlich in Albano's Jugendgeschichte, will zu jenem hoch ge­ haltenen Eingänge und zu der nachherigen Wiederaufnahme der pathetischen Darstellungsform nicht passen. Denn für den Zweck einer bloßen Episode, welche das Pathos der übrigen Darstellung in wohlthätiger Weise unterbräche, ist jene Kindheitsgeschichte theils zu groß, theils enthält sie Bestandtheile, welche jenem Grundtone der übrigen Dichtung zu entgegengesetzt sind. Die Sache ist vielmehr die, daß der Dichter zufolge seiner früher erörterten Eigenthümlichkeit, und aus demselben allgemeinen Grunde, aus welchem auch der ganze Roman nicht in die prak­ tischen Mann es jähre Albano's hineinreicht, seinen Helden nur dann recht zu schildern wußte, wenn er wieder (wie sonst so gerne) die Kindheitsgeschichte aufnahm. Eine Dichtung, welche nur in dem Ideale hoher praktischer Wirksamkeit stehen bleibt, ohne diese selbst in bestimmten greifbar anschaulichen Bildern vorführen zu können, hält sich ganz naturgemäß vor allem an die Kindheit und Jugend. Allein obgleich auch schon in Alba­ no's Kindheit die Anlage zum thatkräftig Idealen hervortreten soll, so paßt doch ein solcher int Ganzen nur idyllischer Inhalt wieder mehr zu jenem früheren sentimentalen und sehnsüchtigen Tone, als zu demjenigen, welcher das Unterscheidende des Titan sein soll. An jene einseitig pathetische Erregtheit des Gefühls und der Phantasie, die im Wesen des Helden vorherrscht, knüpft sich

Phantastisches im Titan.

Vergleich mit Goethe'schem.

113

dann noch ein anderes Element, mit welchem der Dichter auch in die äußere Wirklichkeit etwas Verwandtes hineinbringen wollte, nämlich jener phantastische Geisterspuk, mit welchem die In­ triguen des Spaniers Albano umgeben.

Allein obgleich also die­

ses Unwesen theils an der Stimmung des Helden, theils an dem entsprechenden Tone der Dichtung, theils endlich an den Künsten pfäffijchen Truges, wie sie im Süden bekanntlich häufig geübt wer­ den, einen Anknüpfungspunkt hat, so bildet doch dieser Hokus Pokus wieder einen unwürdigen und störenden Gegensatz in der Ge­ schichte eines Helden, dessen Sinnesweise und Bestimmung an das Großartige und Kraftvolle der antiken Welt anknüpfen soll; und ebenso erscheint es als ein unnatürlicher und gesuchter Gegensatz zu der nackten und alltäglichen Wirklichkeit der kleinen deutschen Ver­ hältnisse, die den sonstigen Hintergrund bilden. (Ueber die andern phantastischen Elemente im Titan war schon früher die Rede). Alles dieß, was wir an dem Titan zu tadeln haben, und was ihn trotz jener Fortschritte doch zu einer Schöpfung ohne wahre dichterische Einheit macht, kann nicht schlagender vor die Augen treten, als wenn wir damit eine Dichtung, wie Goethe's gerade vorher entstandene, „Hermann und Doro­ thea," zusammenhalten.

Wie nüchtern maßvoll erscheint hier

Alles, im Gegensatz gegen die idealen Ueberschwenglichkeiten des Titan! Wir haben einerseits noch ein entschiedeneres Herunter­ steigen in die kleinen bürgerlichen Verhältnisse des deutschen Le­ bens; wir haben keine fürstlichen und höfischen Regionen, son­ dern nur den Löwenwirth, Pfarrer und Apotheker u. s. w.

Wir

haben noch weniger einen Aufwand von idealen Schilderungen aus dem Süden, sondern nichts als die schlichten Verhältnisse des deutschen Bodens; wir haben endlich keinen schwärmenden Albano, sondern den einfachen und dem gewöhnlichen Eindrücke v 111. ii cf,

3'Mn

’ii.uii'v r ivi'tüu.v

8

114

Vergleichung des Titan mit „Hermann und Dorothea."

seines Auftretens nach unscheinbarem Wirthssohn; wir haben also rein deutsche Verhältnisse und Charaktere.

Und dennoch

zu welcher ganz anderen plastischen Schönheit und Anschau­ lichkeit hat der Dichter alles dieß erhoben, in welcher kräftig ein­ fachen Weise, namentlich gegen den Schluß hin, den festen und entschiedenen Willen ächten Bürgerthumes hervortreten lassen! Und wie hat er mit dem Allem antiken Geist in seine Dich­ tung hineingebracht, während der Titan mit allem Aufwand doch nur eine äußerlichere Anknüpfung an den Geist des Alterthums erreicht, innerlich aber ihm ungleich fremder bleibt.

Beide Dich­

tungen bilden in der That ein merkwürdiges Gegenstück zu ein­ ander, eben weil sie beide in so ausgeprägter Weise in die deut­ schen Verhältnisse und in die durch die französische Revolution angeregten Aufgaben sich hineinstellen, beide das praktisch reale Ziel vor Augen haben, und doch diesen gemeinsamen Grundge­ halt, durch den sie sich mit dem Antiken berührten, in so ganz entgegengesetzter Weise darstellen, nämlich Goethe in versöhnt realistischer und plastischer Durchbildung, Jean Paul da­ gegen auch hier wieder nach seiner Weise, in bloßer dualisti­ scher Nebeneinanderstellung jenes hohen praktischen Zie­ les und andererseits der kleinlichen Wirklichkeit. Wohl

ist es wahr, daß jene Goethe'fche Dichtung ihrem

Stoffe nach viel bescheidener angelegt ist, daß sie nur erst ein kleines, noch in die Beschränktheit des

damaligen

deutschen

Privatlebens gebanntes Vorspiel dessen ist, was einst unsere Dichtung nach der praktischen Umgestaltung des ganzen öffentlichen Lebens wird hervorbringen können.

Der Titan dagegen hat schon

seinem ganzen Stoffe und Entwürfe nach ein höheres und um­ fassenderes Streben.

Allein gerade das bescheiden Bürger­

liche (scheinbar Idyllische) des Goethe'schen Stoffes hängt, wie das

Vergleich mit „Herrn, u. Dorothea." D. „Luftschiffer Giannozzo."

115

Obige zeigt, mit dem Vorzüge der ganzen Dichtung zusammen; es ist die Bedingung, ohne welche jene gegenseitige vollkommene Durchdringung der realen Verhältnisse und des dichterisch idealen und männlich würdevollen Geistes nicht möglich wäre. Umge­ kehrt hängt bei Jean Paul, wie wir gleich anfangs gesehen, die Wahl jenes ganz entgegengesetzten, in fürstlichen Regionen spielenden Stoffes mit seinem allgemeinen Grundfehler zu­ sammen. Darum tritt gerade bei ihm erst, der sich doch darüber erheben will, der kleinliche Kontrast der deutschen Verhält­ nisse mit all' dem hohen und idealen Streben, dem Anknüpfen an das Antike u. s. w., recht hervor. Nirgends dagegen hat Jean Paul, so wie Goethe, den kleinen und scheinbar bloß idyllischen Stoff in das männlich Große und kraftvoll Schöne umzuwan­ deln gewußt, deßhalb weil er nie, wie Goethe und wie der reine Dichter, einfach die unverkümmerte Aeußerung und Darstellung rein menschlicher Natur (und ebendamit das wahrhaft Schöne) angestrebt, sondern immer, im Gegensatz zum reinen Dichter, die kontrastirende Wirklichkeit vor Augen hat. Ebendeshalb mußte nun auch selbst während der TitanPeriode das satirisch-komische Element, das hier verhaltnißmäßig so zurückgedrängt war, sich wenigstens nebenher Lust machen, und aus diesem Bedürfnisse ist der „komische An­ hang zum Titan," insbesondere der bedeutendste Theil dessel­ ben, „des Luftschiffers Giannozzo Seebuch" hervorge­ gangen. Dieser Anhang ist daher das ergänzende, wenn auch viel untergeordnetere Seitenstück zum Titan, mittelst dessen wir erst die ganze Eigenthümlichkeit des Dichters vor uns haben. Wie indessen das Eigenthümliche des Titan das tüfyu und kraft­ voll Strebende, der Drang nach thätiger Ueberwindung der ge­ meinen Wirklichkeit sein soll, so ist auch der eigenthümliche

H6

„Des Lustschiffers Giannozzo Seebuch."

Grundion in dem Luftschiffer Giannozzo

das zürnend Stür­

mische und Kühne, das in grimmig verächtlicher Weise das nie­ drige Treiben des Menschengezüchtes (d. h. vor allem wieder der kleinlichen deutschen Zustände) geißelt, und von ihm ange­ ekelt sich immer wieder in seine einsame Höhe emporschwingt. Am stärksten tritt dieß am Schluß hervor, wo bei dem Anblicke einer Schlacht, die der Luftschiffer unter sich sieht, das ganze Gefühl jener Jämmerlichkeit sich koncentrirt, und es in symbo­ lischer Weise die zürnenden Schrecken eines Gewitters sind, in welchen Giannozzo sein Ende sucht und findet.

Wie ganz Jean-

Paulisch schon überhaupt dieß Motiv einer Luftschiffahrt ist, die aus der satirischen Vogelperspektive auf die Erbärmlichkeit unter ihr herabschaut, dieß ergibt sich ja auch schon aus Früherem, da schon das Kampaner Thal in seiner Weise mit demselben Gedanken endigt, auch dort das ideale Hinausstreben über End­ lichkeit und Schwäche des Weise sich kundgibt.

menschlichen Daseins

in

derselben

Je mehr indessen der ganzen Anlage nach

in dem Tagebuche des Luftschiffers das zürnend Scharfe und Derbe der Satire sich hervorkehrt, desto mehr muß sie natürlich ungeachtet jenes kühnen Strebens an poetischer Reinheit verlie­ ren.

Nirgends wechselt in grellerem Kontraste das niedrig Klein­

liche und Verächtliche mit dem emporstrebend Idealen; und so läßt sich denn auch der phantastisch gemischte Gesammteindruck des Ganzen nicht besser vergleichen, als mit dem Unterschiede einer aufgeregten Weiubegeisterung von der ungetrübten Klar­ heit rein poetischer Weihe. In jenem idealen Ankämpfen gegen die einengende Schranke der äußeren Zustände, einem Streben, das doch (als ein selbst noch idealistisches) zur thätigen Ueberwindung derselben unfähig ist, erinnert Jean Paul, wie wir bereits sahen, von selbst an

Jean Paul und Fichte.

117

die gleichzeitige Fichte'sche Philosophie, deren Ich ja auch in diesem fortwährenden Ankämpfen gegen die anhaftende Schranke deS Nichtich begriffen ist, durch die es doch selbst erst bewußtes Ich ist.

Um dieß deutlicher zu machen, so war sich Jean Paul

zwar des Unbefriedigenden der deutschen Zustände, vor allem in bürgerlicher und nationaler Beziehung, scharf bewußt, aber ohne damit auch schon der wahrhaft natürlichen und realen Be­ dingungen und Aufgaben sich vollständig bewußt zu sein, die zur Ueberwindung dieses Zustandes, wie überhaupt zum ächt mensch­ lichen Dasein gehören.

Er war also vielmehr selbst noch in

der idealistischen Einseitigkeit seiner Zeit gefangen.

In analoger

Weise hatte Fichte, dem Geiste der bisherigen Entwicklung ge­ mäß, das Ich seinem Ursprünge nach noch einseitig als natur­ lose Thätigkeit gefaßt, und so wurde ihm das Nichtich, d. h. vor allem das eigene natürliche Dasein, sosehr es die Bedingung des Bewußtseins und der Geistigkeit sein sollte, doch zur bloßen Schranke, über die sich das Ich einseitig erheben, und die es in das Unendliche hinein durch seine Thätigkeit überwinden sollte, statt mit ihm als der natürlichen Grundlage seines eigenen Da­ seins

wahrhaft versöhnt

zu sein.

Wie sehr demgemäß Jean

Paul, eben zufolge des unüberwundenen Kontrastes, in welchem sich seine ganze Grundanschauung bewegte, und der hiemit ver­ bundenen nagenden Reflexion, sich Fichte verwandt wußte, dieß haben wir bereits bei seinem Schoppe-Leibgeber gesehen. nur um

so mehr

sträubte er

sich andererseits

gegen

Allein diese

Philosophie, deßhalb weil sie in logischer Konsequenz und Ein­ seitigkeit

einen Gegensatz hinstellte,

Versöhnung das dichterische und Paul's forderte.

dessen Ueberwindung und

gemüthliche Bedürfniß Jean

Aus diesem Gesichtspunkt ist seine satirische

„Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana“ zu fassen, (ur-

118

Uebergang zu den „Flegeljahren.'

sprünglich gleichfalls zum komischen Anhang des Titan gehörig), wenn auch ein näheres Eingehn auf dieselbe unserem Zwecke zu ferne liegt. Soviel ist klar, daß gerade in der Zeit des Titan, in welcher das Bedürfniß nach Ueberwindung und Versöh­ nung des früheren schmerzlichen Kontrastes sich bei Jean Paul immer mehr regte, auch das Unbefriedigende der Fichte'schen Anschauung von ihm um so mehr gefühlt werden mußte. Indessen auch die Jean Paul'sche Dichtung hat im Titan noch nicht ihre letzte Reife, sondern indem sie einmal die han­ delnde Einigung des Idealen mit der Wirklichkeit anstrebte, so war noch ein weiterer Schritt nothwendig. Im Titan stellt sich nur erst der ideale Thatendurst dar, ein Streben nach Ver­ wirklichung der idealen Aufgaben; dagegen wird der Held, wie wir sahen, nicht nur durchaus nicht in der realen praktischen Wirksamkeit selbst vorgeführt, sondern es fehlt ihm auch noch das Weitere und Letzte, daß der ideale Geistes- und Gemüthsdrang sich selbst zugleich mit dem nüchtern realistischen Sinne durchdränge und ergänze, und so erst zum wahr­ haft praktischen werde. Diese schließliche Bestimmung des deutschen Geistes, auf welche der widerstreitende Kontrast seines damaligen Lebens von selbst hinwies, ist erst in dem reif­ sten Werke Jean Paul's, das gleich auf den Titan folgte, zum Ausgangspunkte genommen, nämlich in den „Flegeljahren;" aber freilich konnte sie, wie schon von allem Bisherigen aus zu erwarten ist, nicht auch zu wirklicher Durchführung und Dar­ stellung kommen. Sogleich der Eingang der Flegeljahre, das Van der Kabel'sche (oder „Fr. Richter'"sche) Testament, kündigt in ewig denkwürdiger Weise diese Bestimmung des Helden, so zu sagen das Programm des Ganzen an. Der harmlose idealisti-

Grundidee der Flegeljahre.

119

sche Träumer, der bis jetzt nur in einer Welt der Dichtung und des Gedankens zu Hause, seiner äußern Lage nach aber ein armer Teufel ist, soll (bedeutungsvoll genug) der Univer­ salerbe werden; aber er soll vorher erst durch die Schule des praktischen Lebens und seiner bestimmten reellen Aufgaben hindurchgehn und hier recht tüchtig umhergeschüttell werden, soll also erst das ergänzende realistische Bewußtsein sich zu eigen machen, ehe er zu jener Bestimmung gelangen kann. Dieses Ziel, das dem Helden gesteckt wird, schließt also einen weit bestimmteren und entschiedeneren Fortschritt in sich, als das Streben Albano's im Titan; und wirklich hat auch Jean Paul nirgends den Grundmangel der damaligen deutschen Entwicklung, das unpraktisch Idealistische, das mit all' seinem innerlichen Werthe doch in der Welt überall zu kurz kommt, so scharf und treffend dargestellt, wie in dem Helden der Flegeljahre, in sei­ nem „Walt." Vor Allem eben jene Periode dichterisch idealen und philosophischen, dagegen von den bürgerlichen und natio­ nalen Aufgaben noch so abgekehrten Aufschwunges unserer Na­ tion, hat eben in Walt ihr unmittelbares individualisirtes Ab­ bild. Denn ebenso kinderartig harmlos, wie Walt inmitten der auflauernden Nebenerben, erscheint von unserem Bewußtsein aus, und mit der Geschichte anderer Nationen verglichen, jene Entwicklungszeit unseres Volkes, und vor allem gerade die rein­ sten und größten Erzeugnisse derselben. Es ist noch einseitig das rein Menschliche, und ebendamit das noch überwiegend Ideale und Weltbürgerliche, worauf sie hingerichtet ist, während alle die bestimmteren, vor allem rechtlich bürgerlichen und na­ tionalen Aufgaben darin noch verborgen liegen. Allein je vollständiger Jean Paul diesen Gegensatz zwischen der Sinnesweise seines Helden und andererseits dem Ziele

120

Walt und Bult in den Flegeljahren.

aufgefaßt hat, das demselben vorgesteckt ist, desto mehr erscheint die Erreichung desselben in einer unbestimmten und zweifelhaften Ferne, und desto weniger war von Anfang an eine wirkliche Durchführung bis zu diesem Ziele hin zu denken.

Statt dessen

tritt vielmehr zunächst etwas Anderes ein, was von der Eigen­ thümlichkeit des Dichters aus nahe genug lag.

Das verstän­

dig realistische Element nämlich, in welchen! der Held seine Ergänzung finden soll, hatte ja Jean Paul schon von An­ fang auch als ein Element seiner eigenen Dichtung, nämlich in der Form des satirischen Humors; und dieser war selbst die nothwendige Beigabe (so zu sagen der Zwillingsbruder) zu jener einseitig idealen Richtung, indem er nur eben den Kontrast derselben mit der kleinlichen äußeren Wirklichkeit aussprach. In­ dem nun die ganze Anlage der Dichtung eben dahin geht, daß auch der Held den nüchtern verständigen und praktischen Sinn in sich aufnehmen soll, so war für den Dichter der Gedanke natürlich, daß nun.zunächst der humoristische Zwillingsbruder den Helden zu seiner Sinnesweise herüberzuzie­ hen, in solchem Sinne auf ihn einzuwirken sucht.

Er, der

fortwährend die wirklichen Verhältnisse und ihre unzureichende und kleinliche Erscheinungsseite vor Augen hat, ist darum der welterfahrene und gewandte, der frühe schon in der Welt umhergereiste Bult, gegenüber von dem kinderartig uner­ fahrenen und unpraktischen Walt.

Und doch ist er der geistes­

verwandte Zwillingsbruder, der bei allem Gegensatze sich zu jenem hingezogen fühlt, da ja all' jener satirische Humor selbst das ideale Bewußtsein zu seinem inneren Hintergründe hat, nur durch den Kontrast zu diesem die Dinge im Lichte des satirischen Humors erblickt.

Aber freilich läßt er diesen Hintergrund der

tieferen idealen Gemüthswelt nie für sich hervortreten, er läßt

Walt und Bult in den Flegeljahren.

121

ihn immer nur verhüllt durchschimmern, während er zunächst die niedrige reale Erscheinungsseite hervorkehrt.

Und ebendeß-

halb, weil er diese einseitig realistische Auffassungsweise darstellt, kann und darf jenes Streben, den Bruder zu sich herüberzuziehen, sich nicht verwirklichen.

Ja Vult muß aus eben diesem Grunde

zuletzt noch die Demüthigung erleben, daß er, der weltgewand­ tere und äußerlich so überlegene, dem unpraktischen und unbe­ holfenen Bruder nachstehen muß.

Indem er in der Liebe zn

Wina, ohne es anfangs selbst zu wissen, Walt's Nebenbuhler wird, muß er zuletzt finden, daß dieser eben durch das ernst ideale und gemüthvolle Element, das in ihm vertreten ist, ihm den Vorrang abgelaufen hat.

Und er selbst trägt theils früher

schon, theils durch die Art, wie er zuletzt noch in seines Bru­ ders Maske sich jene Gewißheit verschafft, sogar dazu bei, daß Wina den idealen Eindruck, den sie von Waltos Geist und Ge­ müth erhalten hat, theilweise auch noch auf sein äußeres Wesen, überträgt, nämlich Vorzüge Vult's seinem Bruder beilegt.

Mit

all' seiner verständigen und weltgewandten Ueberlegenheit alsogewinnt hier Vult für sich selbst schließlich nur die innere De­ müthigung, während der Bruder mit all' der arglosen Unbehilftichkeit, in welcher er daneben steht, doch den Triumph über ihn davon trägt.

Um so weniger also kann von einem bleiben­

den Zusammensein beider die Rede sein; nach kurzem Zusammen­ wohnen, und nachdem keiner den andern umzubilden vermocht hat, muß der humoristische Bruder wieder seinen Abschied neh­ men, und den andern seiner höheren und ernsteren Bestimmung überlassen, soweit er auch von dem Ziele derselben noch ent­ fernt ist. Dieser Schluß der Flegeljahre hat also wesentlich den Sinn, daß trotz des nüchtern praktischen und realen Zieles, das dem

122

Der Schluß der Flegeljahre.

Helden gesteckt ist, doch der hohe und große Inhalt seines idealen Iugendstrebens darüber nicht verloren ge­ hen, sondern nur mit den nüchternen und vollständigen Be­ dingungen sich einigen soll, durch die er allein seine Wahrheit erhält. Aber eben deßhalb, weil dem Helden diese viel größere und schwerere Bestimmung zugedacht ist, schließt das Ganze bloß mit dieser unbestimmten und inhaltsschweren Aussicht. Der Dichter konnte den Helden, welcher in Wahrheit die Bestim­ mung seiner ganzen Nation versinnbildlicht, noch nicht nach sei­ ner vollständigen Geschichte darstellen, noch ehe die Nation selbst angefangen hatte, in ihre nüchtern praktische Periode überzutre­ ten. Vielmehr wird so jener Abschied Vult's, dem Dichter selbst unbewußt, ein unwillkührliches Symbol für die geschichtliche Be­ deutung seiner eigenen Dichtung. So wie Vult in seinem Hu­ mor das Leben bei aller Weltgewandtheit doch selbst nur spielend nimmt, und der leichtfüßige Flötenspieler ist, welcher den Bruder seiner ernsteren und tieferen Bestimmung überlassen muß, so gehört ja auch Jean Paul's ganze Dichtung mit ihrem Humor nur einem Durchgangspunkt im' Leben des deutschen Geistes an, der verschwindet, sobald derselbe in Wissenschaft und Leben zu seinen nüchterneren und praktischeren Aufgaben überzugehn be­ ginnt. Und so werden Vult's verhallende Flötentöne, unter denen er vom Bruder Abschied nimmt, zu einem Sinnbild des Abschieds, den auch der deutsche Geist von der spielenden und träumenden Jünglingszeit der Dichtung und Philosophie nehmen mußte, um überzugehen zum nüchternen und herben Ernste der Wirklichkeit. Es fällt uns nicht ein, mit den: allem irgend sagen zu wollen, daß der Dichter selbst eine derartige symbolische Absicht gehabt habe. Er schildert in seinem Walt zunächst diese Seite

Die Flegeljahre als Jean Paul's reifstes Werk.

123

seines eigenen Wesens, und ebenso in Vult die humoristische. Allein wie er sachlich in dem allem ein Typus des damaligen deutschen Geistes war, und seines Zusammenhanges mit dem innersten Wesen und Leben desselben sich bewußt war, so mußte ebendamit seine Dichtung sachlich ein solches Symbol werden. Und zwar sehen wir eben hiemit erst, warum die Flegeljahre Jean Paul's reifstes und bezeichnendstes Werk sind, weil er sich nämlich hier erst seines eigenen Wesens und Mangels, und zugleich damit des inneren Grundmangels der damaligen deutschen Entwicklung, vollkommen bewußt zeigt, und in dichterisch überlegener Weise über demselben steht. Wie ganz anders verhält sich hierin der Hesperus, und selbst noch der Titan! Dort fällt der Dichter mit seinem Viktor im Wesent­ lichen noch ganz zusammen, und auch in seinem Albano will er ja noch ein kräftiges Iünglingsideal darstellen, ohne der Schwäche sich bewußt zu sein, welche dem Hohen und Großen, das er darstellen will, in Wahrheit noch anhaftet. In den Flegeljahren dagegen ist nicht nur, wie wir sahen, das praktische Ziel selbst, um das es sich schließlich handelt, viel schärfer und vollständiger aufgefaßt als im Titan, sondern auch der Humor des Dichters erhebt sich ebendamit hier erst zu seiner vollen Höhe, in­ dem selbst an dem wahrhaft Edlen und Idealen, was der Held hat, doch die Schwäche hervorgekehrt wird, in welcher wirklich der Grundmangel des damaligen deutschen Lebens bestand, das kinderartig Unpraktische und Idealistische. Man wende hiegegen nicht ein, daß Walt gar nicht zu einer so kräftigen und hoch idealen Gestalt bestimmt sei, wie Albano. Gerade das, daß der Dichter jetzt darauf verzichtete, einen derartigen Helden noch ferner darstellen zu wollen, und daß er vielmehr im richtigen Bewußtsein jener Schwäche, welche ihm selbst, wie seiner gan-

124

Die Flegeljahre verglichen mit dem Titan.

zen Zeit anhaftete, auch seinen Helden trotz aller ernsten Theil­ nahme mit Humor behandelt, und auf das hinweist, was ihm noch fehlt, dieß ist der große Fortschritt der Flegeljahre. Frei­ lich fallen nun diese ebendamit wieder mehr in das Idyllische herunter, und der Titan hat dagegen das hohe und großartige Streben voraus, weßwegen ihn Jean Paul selbst immer als sein Hauptwerk betrachtet hat. Allein er ist doch gerade wegen dieses idealen Strebens noch nicht dasjenige, in welchem das reifste Bewußtsein vorhanden ist; sondern obgleich er mit den Flegeljahren schon das gemeinsam hat, daß er auf die praktische Versöhnung mit dem realen Dasein hinweist, so hat er dieses Ziel doch noch nicht in solcher realistischen Klarheit und Voll­ ständigkeit ausgesprochen, wie die Flegeljahre. — Die scheinba­ ren Einwürfe, welche sich gegen diese ganze obige Auffassung zu erheben scheinen, werden sich erledigen, indem wir, soweit es in Kürze möglich ist, nun auf die einzelnen Seiten genauer ein­ gehen. Jnrem das praktische und realistische Ziel, zu welchem sich der Held noch ergänzen soll, in den Flegeljahrcn ungleich nüch­ terner und schärfer gefaßt ist, als im Titan, so mußte dasselbe theils in schärferen Gegensatz zu der idealen Sinnesweise des Hel­ den treten, theils mußte es in das niedere Gebiet des bloßen bürgerlichen Privatdaseins herabgerückt werden. Denn eine noch höhere (d. h. realistischer durchgebildete) Potenz des Ti­ tan selbst zu geben, also einen Helden, in welchem gleichfalls idealer Thatendrang zu einer vollständigeren nüchtern praktischen Durchbildung käme, dieß lag ganz über Jean Paul's Gesichts­ kreis hinaus. Er hätte ja damit einen Helden darstellen müssen, der in den bestimmter erfaßten Aufgaben des öffentlichen Lebens sich bewegt hätte, in denen, welche erst die nachfolgende deutsche

Die Anlage der Flegeljahre.

125

Entwicklung durchzuarbeiten begonnen hat. Innerhalb seines Anschauungskreises also konnte Jean Paul jenes Ziel nur erst in der Form darstellen, daß es in einer dem gemäßen Durch­ bildung des persönlichen Charakters des Helden, in einer praktischen Ernüchterung desselben für die Verhältnisse des bür­ gerlichen Privatlebens, bestehen sollte. Und ebendamit erhält das Ganze die humoristische Wendung. Mit jenem Testa­ mente wird einerseits der innere ideale Werth des jugendlichen Helden anerkannt, andererseits aber soll er durch die verschiede­ nen Testamentsklauseln erst recht in der wirklichen Welt umher­ gestoßen, und hiedurch, sowie durch seinen eigenen Schaden, der nüchtern praktische Sinn in ihm geweckt werden. Die Neben­ erben vor allem, als seine „böse Sieben," sollen ihn recht tüch­ tig „schütteln, vexiren und chikaniren," damit er aufpassen lerne und in der wirklichen Welt zu Hause werde. Und obgleich die­ ses Ziel, das durch den Anfang des Romanes gesteckt wird, nachher durch Anderes, was Jean Paul's sonstiger Weise näher liegt, durch die idealen Liebesgefühle und was damit zusammen­ hängt, zunächst zurückgedrängt scheint, so tritt es doch immer wieder, und namentlich in dem Schlüsse, bei Bult's Abschied von seinem Bruder, entschieden genug hervor. Dieß Alles stellt nun also zwar zunächst nur eine persön­ liche und dem bloßen Privatdasein ungehörige Bildungsgeschichte dar; aber eben so sehr ist es doch zugleich sachlich ein vollstän­ diges Sinnbild dessen, was für den deutschen Geist im Gro­ ßen, und hinsichtlich seiner öffentlichen, rechtlich bürger­ lichen und nationalen Aufgaben galt. Und so wenig auch Jean Paul selbst je daran gedacht hat, in seinem Walt und dessen Bestimmung unmittelbar ein Sinnbild des deutschen Vol­ kes geben zu wollen, so gewiß war er sich doch bei diesen aus

126

Die Anlage der Flegeljahre.

seinem eigenen Wesen entnommenen Anschauungen bewußt, eine eigenthümlich deutsche und für die damalige Zeit bezeichnende Charakteristik zu geben. Aber freilich selbst innerhalb jenes bloß persönlichen und dem bürgerlichen Privatleben angehörigen Ge­ bietes konnte die Aufgabe doch nicht zur dichterischen Durchfüh­ rung gebracht werden. Denn theils umfaßt sie zu tief gehende Gegensätze, zwischen welchen zu viele und mannigfache Phasen und Wandelungen hätten liegen müssen, theils lag es auch ebendeßhalb über das Vermögen des Dichters hinaus, eine solche gegenseitige Durchdringung des nüchtern Praktischen und Reali­ stischen mit dem idealen Bewußtsein und Gemüthsleben zu schil­ dern, wie dieß schließlich hätte geschehen müssen. Auch hätte die Beschränkung auf das Gebiet des persönlichen Privatdaseins daun im wetteren Verlaufe nothwendig aufhören und vor einem Höheren weichen müssen. Denn die ideale Natur des Helden hätte nothwendig, indem sie mehr nüchtern Praktisches in.sich aufgenommen hätte, ihn über das bloß Poetische und über die Liebesgefühle hinaus und zu höheren praktischen Aufgaben hintreiben müssen, also zur bürgerlich-politischen Thätigkeit. Und schließlich liegt noch ein Grund, der jene Durchführung unmög­ lich machte, in der ursprünglichen Anlage des Helden selbst, sofern in demselben jenes allgemein Charakteristische des Deutschen und der damaligen Zeit zugleich in die Form einer besonde­ ren individuellen Anlage, nämlich einer specifisch dichterischen und unpraktisch idealen, gegossen ist, so daß der Held im Grunde von Anfang für eine wirklich praktische und nüchterne Durch­ bildung unfähig ist, und nur in einer ganz relativen und un­ vollständigen Weise sich dieselbe hätte aneignen können. Schon die Anlage der Flegeljahre brachte es also mit sich, daß sie bloß jenes Ziel (so zu sagen jenes Programm) auf-

Walt in den Flegeljahren.

127

stellen, nicht aber dessen wirkliche Durchführung geben konnten. Indem nun der Dichter insoweit wieder nur im gewohnten Kontraste zwischen dem idealen Gemüthsleben des Helden und der nüchternen Wirklichkeit sich bewegt, so hat er wieder nur Züge seines eigenen Wesens in dem Helden dargestellt. Ins­ besondere die naive und komische Art, in welcher der unerfahrene Walt für seine poetischen Zwecke die vornehmere Welt und ihre Lebensart kennen zu lernen strebt, ist ganz aus dem Leben des Dichters selbst, bis in seine Leipziger Studienzeit zurück, und aus seinen dahin gehörigen Bestrebungen entnommen. Wir wissen ja aus allem Früheren, welche Bedeutung für Jean Paul diese Region der höheren Stände hatte; und so gehört denn ,auch in den Flegeljahren wieder die Geliebte des Helden, Wina diesen Ständen an. Niemals hat Jean Paul vermocht, sich aus den einfacheren bürgerlichen Verhältnissen heraus eine ideale Heldin zu entnehmen, deßhalb weil vor allem bei der weiblichen Bestimmung jene Verhältnisse sich seiner poetischen Anschauung immer als eine niederziehende und einengende Schranke dar­ stellten. — Auch die schwärmende Freundschaftssehnsucht, in welcher der Notar mit seinem Nankingröckchen sich wieder bis zum vornehmen Grasen versteigt, ist in gleicher Weise aus des Dichters eigenem Wesen entnommen, und so noch eine Reihe anderer Züge, denen zum Theil ganz specielle aus des Dichters Leben zu Grunde liegen. Fassen wir indessen alle die verschiedenen Züge zusammen, die der Dichter in seinem Walt, diesem seinem charakteristischen Haupttypus, vereinigt hat, so ist es neben der idealistischen Jüng­ lingsnatur, die in all' den hohen Gebieten der Phantasie, der Gefühls- und Ideenwelt schwärmt, zugleich die harmlose Zu­ friedenheit mit dem Wenigen und Dürftigen, was ihm äußerlich

128

Walt in den Flegeljahren.

beschieden ist, dabei aber ein naiv kühnes sich Hinwegschwingen über die Schranken des Standes und andere äußere Schwierig­ keiten, da wo sich das Gefühl des gemeinsamen menschlich idealen Bandes regt (so gegenüber von dem vornehmen Chlmar und gegenüber von Wina); kinderartige Arglosigkeit und Unkenntniß der Welt, und dem entsprechende Unbehilflichkeit und Blödigkeit, sowie Mangel an allem dem, was zur äußerlich persönlichen Ausbildung deS Mannes, zu einer ritterlichen und gewandten Erscheinungsseite gehört; überfeines Zartgefühl und Rücksicht­ nahme auf Pudere (z. B. gegenüber von Neupeiers Töchtern, oder wie er den erhandelten Bettelstab aus Schonung erst nach­ her im Flusse abwäscht), größte Gutmüthigkeit und Mitgefühl mit fremden Leiden und Freuden, aber auch entschiedenster Ge­ rechtigkeitssinn und Festigkeit, wo es sich um die höheren idealen Zwecke (z. B. seinen eigenen poetischen Beruf) handelt.

Alle

diese Züge haben also zu ihrem gemeinsamen Kerne das ideali­ stisch Unpraktische und Innerliche des damaligen deutschen Lebens; sie fassen es nur in einem individuell-persönlichen Bilde zusam­ men, in welchem ebenso sein innerer Werth sich darstellt, wie freilich noch mehr seine äußere Schwäche.

Daß Walt dichte­

rische Anlage und Neigung hat, dient theils eben dazu, das Unpraktische in ihm noch anschaulicher hervortreten zu lassen, theils hat es seinen natürlichen Grund in dem unmittelbaren Hereinspielen der Persönlichkeit des Dichters.

Aber auch noch

in seinem dichterischen Streben zeigt Walt seine sonstige Unbe­ hilflichkeit und Formlosigkeit, oder das Uebergewicht des einseitig Innerlichen.

Erst Vult muß ihm ja dazu helfen, daß er zu

einer zusammenhängenden und größeren poetischen Schöpfung kommt; und seine kleineren Erzeugnisse sind immer nur „Streckverse" d. h. formlos, ein Abbild der Jean Paul'schen Dichtung

129

Dichterische Reise in der Darstellung Walt's. selbst.

Kurz Walt's Wesen beruht nach allen Seiten hin in

dem Kontrast des reichen inneren Lebens

und seiner äußeren

Schwäche und Dürftigkeit. Um nun den Fortschritt ganz zu erkennen, welchen der Dich­ ter mit der humoristischen Darstellung eines solchen Helden geniacht hat, so greifen wir auch noch in die schmerzlich sentimen­ tale Periode des Dichters zurück, und vergleichen seinen Walt mit Viktor im Hesperus.

Dieser letztere ist freilich Walt da­

durch überlegen, daß er selbst zugleich Humorist ist, daß er msofern den ganzen Jean Paul in sich darstellt, während Walt nur eine Seite desselben ist.

Allein aus eben diesem Grunde

steht um so mehr der Dichter, wie er sich im Hesperus zeigt, hinter der Reife des Bewußtseins zurück, zu der er sich in den Flegeljahren erhoben hat.

Mit seinem Viktor fällt der Dichter

noch ganz zusammen, er ist selbst noch ganz dieser sentimentale und idealistische Held, und der Humor ist nur die ergänzende Kehrseite und Eigenschaft dieses Subjektes selbst.

Dagegen in

den Flegeljahren erst hat der Dichter selbst über den idealisti­ schen Helden sich erhoben, hat eben in dem unpraktisch Idealisti­ schen den eigenen inneren Grund all' der äußeren Schwäche und Dürftigkeit erkannt, und es so selbst zum Gegenstände des Humors gemacht.

Nur deßhalb also kann Viktor selbst zu­

gleich noch der Humorist sein, weil dort der wahre Fehler noch gar nicht erkannt ist.

Der Humor bezieht sich dort noch

gar nicht auf die eigene innere Schwäche und Einseitigkeit der idealistischen Geistesrichtung,

er bezieht sich nur erst auf den

sachlich vorhandenen Kontrast mit den äußeren Zuständen, noch nicht zugleich auf den subjektiven Gr und desselben.

Sobald

dieser letztere zum Bewußtsein kommt und zum Gegenstand des Humors wird, so kann derselbe natürlich nicht mehr dem ideaPlanck, Jean Paul's Tuthm.j.

9

130

Dichterische Reife in der Darstellung Walt's.

listischen Helden selbst angehören, sondern er gehört theils nur dem Dichter, theils dem entgegengesetzten Zwillingsbruder des Helden an.

Der Held selbst muß also hier, bei all' seinem

Werthe und seiner Liebenswürdigkeit, zugleich in seiner vollen Schwäche erscheinen.

Darauf eben beruht die Ueberlegenheit

der Flegeljahre nicht bloß über den Hesperus und diese frühere Periode, sondern auch über den Titan, obgleich eben damit ge­ geben ist, daß sie dem Stoffe nach wieder in ein niedreres Ge­ biet heruntersteigen müssen.

Der Titan beruht zwar auch schon

auf dem Bedürfniß, die idealistische Schwäche durch das prak­ tisch Kraftvolle zu ergänzen; allein er will dieß selbst noch

in

unmittelbar idealistischer Weise, und der Dichter fühlt dort noch nicht, wie viel unpraktisch Schwaches auch seinem Atbano noch anhaftet.

Erst in den Flegeljahren ist das volle negative Be­

wußtsein der idealistischen Schwäche hervorgebrochen, die Erkennt­ niß von der Nothwendigkeit der nüchtern realistischen Er­ gänzung ; und damit mußte der Dichter es für immer aufgeben, etwas großartig Pathetisches (wie tut Titan) geben zu wollen, er bewegte sich gemäß der Schwäche und Kleinheit des damali­ gen deutschen Lebens von da an nur noch im komisch Humori­ stischen. Nun haben wir allerdings selbst schon oben gesehen, daß für den Dichter jenes Bewußtsein, das er in den Flegeljah­ ren ausspricht, noch bei weitem nicht die tiefgehende und um­ fassende Bedeutung hat, wie für uns. streckte

Seine Erkenntniß er­

sich noch nicht so auf die Einseitigkeit und Schwäche

der ganzen damaligen deutschen Entwicklung.

Allein auch so

bleibt doch der Umschwung in der dichterischen Grundanschauung Jean Paul's bedeutungsvoll genug.

nur

Denn während es früher

das Unbefriedigende der äußeren Zustände war, an was

Vult's Eigenthümlichkeit.

131

sich die schmerzliche Entzweiung und der Humor des Dichters knüpfte, und wenn sich dieß ebendeßhalb noch mit dem allgemei­ nen Gefühl der Unvollkommenheit und Endlichkeit irdischen Da­ seins verschmolz, oder wenn im Titan der Held noch unmittelbar von seinen Idealen aus zur That hinstrebt, so ist jetzt erst der Fehler des idealen Strebend selbst erkannt, sein Mangel an nüchtern praktischem und realistischem Bewußtsein.

Und nirgends

ist darum ein so treffendes Bild und Symbol des unreif Jüng­ lingshaften unserer damaligen Entwicklung, des Schwachen wie des rührend Erhebenden an ihr gegeben, als in diesen „Flegel­ jahren." Das Bewußtsein des Kontrastes nun, der in dem Helden selbst vorhanden ist, ist seinem Zwillingsbruder Bult zugetheilt, der aber doch ebendeßhalb, weil der tiefe und ernste Gehalt je­ nes Kontrastes nur in seinem Bruder vertreten ist, nur die zweite und untergeordnetere Nolle spielen kann. Darum hat er auch, bei aller Analogie mit Schoppe-Leibgeber, doch durch das eigenthümliche Verhältniß zu seinem Zwil­ lingsbruder eine andere Färbung erhalten.

Indem er nämlich

den Gegensatz zu dessen unpraktischem Idealismus bildet, und denselben zu seiner mehr realistischen Sinnesweise herüberzu­ ziehen sucht, so muß er gegenüber von dem ernst Sentimentalen mehr das leicht Heitere, und gegenüber von jenem Unprak­ tischen das Weltgewandte vertreten.

Und eben hiedurch un­

terscheidet er sich wesentlich von Schoppe-Leibgeber, bei welchem weit stärker die (durch den Humor bloß verhüllte) Entzweiung mit der wirklichen Welt, das zürnend satirische und in sei­ nem innersten Grunde schmerzliche Element, hervortritt, und ebendeßhalb auch die Weltgewandtheit noch nicht in gleicher Weise als charakteristische Eigenschaft erscheint, insbesondere nicht

132

Vult und Walt in ihrem gegenseitigen Verhältniß.

gegenüber von der weiblichen Welt.

Wie also Walt von den

früheren idealen Helden des Dichters sich dadurch unterscheidet, daß er in ein viel schärferes realistisches Licht gerückt ist, das Unpraktische (Idealistische) an ihm ganz anders hervor­ tritt,

so ist entsprechend auch Vult eine mehr realistische

Fortbildung Schoppe's und Leibgeber's.

Obgleich auch in

ihm das ernste Gesühlselement verborgen liegt, und als rührende Theilnahme an dem kindlichen Wesen und Ungeschicke des Bruders hervortritt, obgleich er ferner Satiriker und Humorist ist, und die „Grönländischen Processe" ihm zugeschrieben werden, wie dem Siebenkäs die „Teufels-Papiere," so ist er doch mehr, als jene Vorgänger, zugleich lebenslustiger Weltmann. Merkwürdig ist nun hiebei, wie zufolge von dem Allem die Natur und Bestimmung der beiden Brüder sich in gewissem Sinne gegenseitig umkehrt.

Walt nämlich ist einerseits der

idealistische Träumer, welcher insofern das Leben in kindlich spie­ lender Weise nimmt, von dem nüchternen Ernste desselben und von den realen Aufgaben noch nichts weiß.

Ihm gegenüber ist

also Vult der nüchtern praktische, wie er ja insbesondere zur Rettung der Erbschaft den unpraktischen Bruder zu leiten unter­ nimmt.

Allein andererseits ist Walt der tief innerliche und

ideale Held, welchem daher für seine praktische Durchbildung eine ernste und schwere Aufgabe bevorsteht.

Und umgekehrt

ist nun Vult mit seiner bloß humoristischen und weltgewandten Auffassung der Dinge derjenige, welcher das Leben bloß in Heil­ ler spielender Weise nimmt, gegenüber von der ernsten Auf­ gabe Walt's, und diesen so seiner tieferen Bestimmung überlassen muß.

Hierin liegt also die Berechtigung, zufolge welcher wir

schon oben das Verhältniß umkehrten, und in dem scheidenden Bult sachlich ein Sinnbild der humoristischen Dichtung Jean

Vult's uiib Walt'ö Verhältniß 31t einander.

133

Paul's erkannten, als eines bloß vorübergehenden Durchgangs­ punktes in der deutschen Entwicklung, wahrend Walt mit der ernsten Aufgabe, die ihm noch bevorsteht, als ein Sinnbild der Nation erscheint, die jene dichterische Periode hinter sich lassend zu den ernsteren und nüchterneren realen Aufgaben fortschreiten mußte.

Zunächst freilich stellt sich die Sache ganz entgegen­

gesetzt dar: idealistische

Walt als der unpraktische Träumer vertritt jene (dichterische und philosophische) Periode,

Vult auf die nüchtern praktische Bestimmung hinweist.

während Allein

indem Bult als Humorist selbst noch jener ältern Periode an­ gehört, und das nüchtern reale Element nur erst in der heiter spielenden Weise vertritt, so kehrt sich,

für den weitern

Verlauf, für die Durchführung des vorgesteckten Zieles, die Sache um: der Ernst der praktischen Aufgabe knüpft sich an Walt, während Bult, gleich der ganzen Dichtung Jean Paul's selbst, nur erst eine spielende Hinweisung auf jene Aufgabe, der bloße humoristische Vorläufer derselben ist. Wir begnügen uns unserem Zwecke gemäß damit, die innere Bedeutung der Flegeljahre, theils an sich selbst, theils in dem Entwicklungsgänge des Dichters, festgestellt zu haben, und wei­ sen nur noch darauf hin, wie gemäß dieser Eigenthümlichkeit gerade in den Ftegeljahren der Gegensatz der nüchternen Wirk­ lichkeit gegen die innere ideale Welt des Helden mit besonderer Kraft und Kunst hervortritt, wie z. B. dem weiblichen Ideal, das der Held in sich herumträgt, in der „Jakobine Pamsen" ein höchst treffendes realistisches Gegenstück von der heitersten Wirkung gegenübergestellt wird. — Im Ganzen betrachtet ist also das Van der Kabelsche Testament und die Bestim­ mung, welche dem Helden der Flegeljahre vorgezeichnet ist, sach­ lich nichts Anderes als ein humoristisches Sinnbild

134

Typische Bedeutung der „Flegeljahre."

der Bestimmung der deutschen Nation.

Was von dieser

im umfassenden allgemein geschichtlichen Sinne gilt, das stellt sich in den Flegeljahren humoristisch und im Kleinen als per­ sönliche Entwicklungsgeschichte und Bestimmung dieses Einzelnen dar, welcher in ausgeprägter Weise die Züge jener damaligen Entwicklungsperiode des deutschen Geistes an sich trägt. Die Flegeljahre sind also in ähnlicher Weise ein allgemein typisches und prophetisches Werk, wie dieß von dem Wilhelm Meister in den Lehr- uud Wanderjahren, oder im Sinne von dem Goethe'schen Faust gilt.

höchsten

Auch ist das Ziel der

Entwicklung in diesen so berschiedenen Werken der Hauptsache nach dasselbe.

Denn Wilhelm Meister verfolgt zuerst nur das

ideale Ziel harmonisch persönlicher Ausbildung, und langt dann in den Wanderjahren erst bei dem realen Ziele praktisch bürger­ licher und berufsmäßiger Wirksamkeit an.

Und ebenso schreitet

Faust von seinem anfänglichen noch unreif idealen Streben nach doller Natur und Menschlichkeit schließlich zu den bestimmten Aufgaben großartig bürgerlicher und politischer Thätigkeit fort. Was die Flegeljahre von diesen Dichtungen unterscheidet, und rvorin sie ihnen nachstehen, was sie aber auch andererseits vor­ aus haben, das erhellt, soweit es überhaupt hieher gehört, aus dem Früheren von selbst. Jene Goethe'schen Dichtungen bewegen sich von Anfang ganz in dem Entwicklungsstreben zur wahrhaften Natur und zur vollen rein menschlichen Ausbildung hin; sie stellen nur Stufen dieser Entwicklung selbst dar.

Die Flegeljahre dage­

gen, wie im weiteren Sinne die Darstellungsweise Jean Paul's überhaupt, lassen vor Allem die unpraktische und idealistische Schwäche hervortreten, welche jenem Entwicklungsstreben der damaligen Zeit gegenüber von den wirklichen Zuständen anhaf-

Allgemeine Bedeutung der „Flegeljahre?'

tete.

135

Sie enthalten also darüber allerdings ein weit schärferes

Bewußtsein, als wir es in der sonstigen Dichtung jener Zeit finden; allein sie lassen dafür andererseits das wahre und po­ sitive Ziel jenes idealen Strebens durchaus nicht in solcher Weise hervortreten, wie es bei Goethe und Schiller geschieht, und stehen eben darum auch an rein dichterischem Werthe hinter jenen Goethe'schen Schöpfungen zurück.

Wie Jean Paul selbst

in seiner früheren Periode gerade durch die Entzweiung mit den äußeren und bürgerlichen Zuständen, durch die realistische Her­ vorkehrung ihrer Schwäche, in eine desto einseitigere ideale Ge­ fühlswelt hineingetrieben wird und einem formlos verschwim­ menden Jenseits zustrebt, so tritt auch noch in den Flegeljahren einseitig das jünglingsartig Unreife und Schwärmende jener Zeit hervor, nicht aber das wahre und innerste Ziel dieses Strebens, wie es in Goethe's und Schiller's Schöpfungen sich feinen Ausdruck gab, und welches seiner letzten Konsequenz nach nichts Anderes als die vollständige Umbildung der bürgerlichen und nationalen Zustände selbst, ihre Durchdringung mit jenem Geiste menschlich schöner wahrhafter Natur (nach allen ihren mannig­ fachen Seiten) in sich schloß, — ein Ziel, dessen Inhalt selbst unsere Gegenwart sich noch bei weitem nicht vollständig klar gemacht hat.

Diese Seite der damaligen Zeit also, daß ihr

ideales Streben doch selbst (wenn auch nur erst in poetisch vorausgreifender

Weise) die

vollen gegenwärtigen und

realen Aufgaben des Menschen zum Ziele hatte, lernen wir bei Jean Paul überhaupt, und so auch in seinen Flegeljahren, bei weitem nicht so kennen.

Die Goethe'sche und Schiller'sche

Weltanschauung hat eben darin ihre große und ewige Wahrheit, daß sie bei aller Idealität doch ihrem konsequenten Ziele nach zugleich eine wahrhaft realistische, ein Hinstreben nach den

136

Allgemeine Bedeutung der „Flegeljahre."

wahrhaft gegenwärtigen und natürlichen Aufgaben des Menschen ist. Jean Paul dagegen kehrt vielmehr das idealistisch Unreife im Streben jener Zeit, das einseitige ^eben in einer Welt des Gedankens, des Gefühls und der Phantasie hervor, und stellt dem andererseits die scharfe nüchterne Wirklichkeit und die Her­ anbildung für diese entgegen. So ist er also, wie wir es von Anfang bezeichnet haben, auch in seinen Flegeljahren, nur die negativ e Ergänzung zu dem, was positiv Goethe und Schil­ ler vertreten. Er fühlte schärfer als sie, was auch ihnen und der ganzen Zeit noch fehlte; aber er fühlte es nur darum, weil er andererseits ihr eigenes positives Ziel nicht wahrhaft zu fassen vermochte, sondern das, was sie als volle Einheit erstrebten, nämlich das menschlich Ideale zusammen mit kräftiger Realität der äußeren bürgerlichen Zustände, für ihn mehr in einen Ge­ gensatz von Seiten, einer überwiegend innerlichen und religiösen, und wiederum einer realistisch bürgerlichen, auseinandergieng. Wenn übrigens Goethe's Wanderjahre, sowie der zweite Theil des Faust, eine weit entwickeltere Hinweisung auf die socialen und politischen Aufgaben unserer Zeit enthalten, so ist natürlich nicht zu vergessen, daß sie auch schon einer späteren Zeit ange­ hören. Für jene Zeit, in welcher die Flegeljuhre erschienest, nämlich schon in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts, ent­ hielten sie das klarste und reifste Bewußtsein des Grundniangels unserer damaligen Entwicklung, wenn auch dieses Bewußtsein nicht direkt auf die allgemein geschichtlichen Aufgaben der Zeit sich bezieht. Jean Paul war jetzt also auf der Stufe angelangt, welche er seiner ganzen Eigenthümlichkeit nach nicht mehr überschreiten konnte.. Denn statt des früheren einseitigen Kontrastes hatte er die Ueberwindung desselben, und zwar noch bestimmter die nüch-

137

Die Vorschule der Aesthetik.

tern praktische Versöhnung des Subjektes und seiner idealen Welt mit der äußeren Wirklichkeit, als Ziel ausgesprochen. folge dieser

selbstbewußten Reife,

Zu­

die er in den Flegeljahren

zeigt, erscheint es nun natürlich, daß er jetzt auch in denkender, halb wissenschaftlicher Form die Grundlagen seines eigenen Strebens und seiner Dichtung auszusprechen unternahm, theils nach der ästhetischen Seite,

theils nach der dcs praktischen Lebens,

und daß daher in diese nächste Zeit nach Vollendung der Flegel­ jahre seine Vorschule der Aesthetik (1. Ausl. 1804), und nachher seine Erziehungslehre, die Levana

(1806)

fällt.

Denn

eine nicht rein dichterische, sondern bei aller Gefühls- und Phantasieschwärmerei wesentlich reflektirende Natur war ja Jean Paul von Anfang an.

Und wenn selbst bei Schiller das philosophische

Element sich neben dem dichterischen in besonderer Weise für sich abschied, oder bei dem alternden Goethe die theoretische Na­ turbetrachtung für sich hei vortrat, in der Farbenlehre u. s. w., so gränzt ja bei Jean Paul schon die ganze Form seiner dich­ terischen Hervorbringung an Nebenthätigkeit au.

diese

reflektirend

wissenschaftliche

Allein während Schiller's Natur in unmit­

telbar philosophischer Weise auf allgemeine Principien hingieng, von denen aus

er

in

systematischer Weise eine Gesammtan-

schauung zu begründen strebt, so knüpft dagegen Jean Paul ganz dem entsprechend, was auch seine dichterische Grundeigenthümlichkeit ist, weit mehr nur in reflektirender Weise an Gege­ benes an.

Denn Schiller strebte auch als Dichter ein positives

allgemeines Ziel an, die schöne Versöhnung der frei geistigen und sittlichen Seite im Menschen mit seiner Naturseite irn en­ geren Sinne;

Jean Paul dagegen

geht ja seiner Grundan­

schauung nach nur von dem gegebenen Kontraste des inneren idealen Lebens und des dürftigen und ungenügenden äußeren

138

Die Vorschule der Aesthetik.

Daseins aus, bewegt sich also auch sonst überall nur in der vergleichend reflektirenden und gegensätzlich zerlegenden Auffas­ sungsweise. Schon von hier aus erklärt es sich, daß seine „Vorschule," wie er sie mit richtigem Bewußtsein nannte, nur fragmentarische Glieder zu einer Aesthetik geben konnte, nicht einen Aufbau der­ selben aus einem bestimmten Princip. Allein natürlich leidet auch die Fassung der Begriffe selbst, vor allem die Grundlage des Ganzen, an demgemäßen Mängeln. Jean Paulas ganze Grundanschauung ist, wie wir im Früheren sahen, eine duali­ stisch entzweite, die nicht etwa, wie Goethe und Schiller, in der vollen und wahrhaften Natur selbst ihr Ziel und Genüge findet, sondern über dieselbe, als über ein Reich der Endlichkeit und Unvollkommenheit, einseitig hinausstrebt. Es ist daher für ihn kein Begriff des Schonen möglich, der einfach in der natürlichen Erscheinungsform selbst, oder dem entsprechend in der beschau­ lichen (theoretischen) Natur- und Geistesanlage des Menschen als solchen läge. Sondern während er insbesondere gegen die Kantischen Begriffe polemisirt, (worüber ja in anderem Zusam­ menhang schon früher die Rede war) und es hinsichtlich einer bestimmten Formulirung dessen, was schön sei, nur zu negativen Resultaten bringt, so läuft seine eigene Anschauungsweise darauf hinaus, daß ihm das Schöne, wie analog das Sittliche im Men­ schen, ein gegen die wirkliche Natur selbst Transcendentes, ein Erscheinen derselben im Lichte des Unendlichen, Göttlichen wird. Am eingehendsten, originalsten und verdienstvollsten ist Jean Paul's Analyse natürlich auf seinem eigenthümlichen Gebiete, dem des Komischen, und des Humors insbesondere. Allein selbst in Betreff des Komischen kann er sich nicht von der einseitig subjektiven Ausfassungsweise frei machen. Neben dem rein ob-

Die Vorschule der Aesthetik.

139

jektiven und erscheinenden Kontraste, in welchem es besteht, fügt er noch eine angebliche Unterschiebung eines nur subjektiven Kon­ trastes ein, als ob wir der lächerlichen Handlung u. dgl. unsere Einsicht und Auffassung, und dadurch erst einen ungereimten Widerspruch aufbürden.

Allein in Wahrheit ist das Ergötzliche

hiebei einfach die Anschaulichkeit des Kontrastes selbst, zufolge dessen die Naturbedingtheit mit dem, was sonst über sie hinaus­ gestellt und frei erscheint, ein unschädliches (nur der Erscheinung angehöriges) Spiel treibt, wie in dem von Jean Paul selbst ge­ brauchten Beispiel Sancho Pansa's, der eine Nacht durch sich über einem seichten Graben in der Schwebe erhält, als wäre es ein Abgrund. Denn gerade der sinnlich anschauliche Kontrast, der hier zwischen der menschlichen Kraftanstrengung und dem wirklichen Sachverhalte besteht, dieß anschauliche Spiel also, das die Naturbedingtheit mit der menschlichen Anstrengung treibt, und das doch unschädliche bloße Erscheinung bleibt, nicht zu ei­ ner wirklichen Negation fortgeht, — dieß ist das komisch Er­ götzliche, ohne daß es irgend erst jener subjektiven Unterschiebung bedarf. Was noch die Form der Darstellung angeht, so bringt es die Natur Jean Paul's mit sich, daß hier, innerhalb des Wis­ senschaftlichen, der humoristische oder wiederum in das Enthu­ siastische übergehende Ton theilweise ebenso als eine störende Mischung wirkt, wie innerhalb der Dichtungen Jean Paul's der Wechsel des prosaisch reflektirenden und des gefühlvollen Ele­ mentes stört. Jener Kontrast, in welchem die ganze Anschauungs­ und Geistesweise Jean Paul's sich bewegt, führt es nun einmal mit sich, daß er weder in der Dichtung die reflektirende Prosa, noch umgekehrt in dieser letzteren die Mischung mit dem Poetischen je ganz los werden kann.

Höchst charakteristisch für ihn, was diese

140

Die Seörtita.

Mischung seines WesenS betrifft, ist z. B. eine Stelle in der „Vorschule," die er aus Anlaß einer unmittelbar vorhergehenden enthusiastischen Schilderung des alten griechischen Lebens macht. „Auch die Heftigkeit, womit wir Nordleute ein solches Gemälde entwerfen und beschauen, verräth das Erstaunen der Armuth." In solcher Weise hat sich bei Jean Paul überall, eben an dem scharfen Bewußtsein der armen und dürftigen Wirklichkeit, die ihn umgab, um so mehr auch das schwärmend ideale Gefühls­ und Phantasiestreben geschärft und gesteigert. Aehnliches hinsichtlich der Form gilt natürlich auch von der nur wenig späteren Levana, nur daß hier, wo es den lebendig praktischen Zweck der Erziehung gilt, jene eigenthümliche Doppelnatur. Jean Paul's, der scharf realistische Sinn in Verbindung mit dem entgegengesetzten idealen Streben, in einer'glücklicheren Weise zusammenwirken mußte. Denn für den Zweck einer zu­ gleich natürlich gesunden, wie kräftigend idealen Heranbildung sind ja eben jene beiden Seiten wesentlich. Daher ist auch na­ mentlich in dem, was über weibliche Erziehung gesagt ist, in ganz richtiger Weise dasjenige vereinigt, was Jean Paul in sei­ ner poetischen Darstellung niemals zusammenbringen konnte, nämlich eine kräftig realistische und praktische Häuslichkeit neben der Zartheit und Reinheit des sittlich-idealen Lebens. Wir sahen, wie Jean Paul poetisch jenes erstere Element immer als eine hemmende und niederziehende Schranke fühlte, und wie daher diejenigen seiner weiblichen Gestalten, in welchen diese realistische Seite vertreten sein soll, immer beschränkte und untergeordnete Figuren sind. Denn poetisch hat Jean Paul (auch in seinen männlichen Helden) überhaupt nie die entgegengesetzten Seiten zu verschmelzen vermocht, die seinem reifen praktischen Be­ wußtsein zufolge allerdings verbunden sein sollten, und deren

Die Levana.

141

Vereinigung er ja auch in den Flegeljahren als schließliches Ziel aufgestellt hat. Um so wesentlicher ist es, dieß gereifte praktische Bewußtsein Jean Paul's von der Einseitigkeit seines poetischen Schaffens und Auschauens zu unterscheiden. Was aber Jean Paul überhaupt zu jenem Gebiete hinzog, das die Levana behandelt, dieß haben wir ja im Früheren schon gesehen. Es ist jene allgemein^ Vorliebe für die Kindheit und Jugend, sofern in ihr die Enge und Beschränktheit der äußeren Welt und andererseits die Idealität des Gefühls- und Phanta­ sielebens, dieß, was für Jean Paul in so scharfem Kontraste einander gegenübertrat, noch unmittelbar versöhnt und in Ein­ heit sind.

Diese Einheit auch im sittlichen Sinne und für

die Zeit des gereiften Bewußtseins zu erhalten und auszubil­ den, so daß weder der ideale Sinn durch die eindringende nüch­ terne und gemeine Realität der Dinge erstickt werde, noch ihm umgekehrt die nöthige reale und nüchtern praktische Kraft fehle, — dieß ist es, was Jean Paul in seiner Levana als Ziel der Erziehung vorschwebt, so wie ja schon seine unsichtbare Loge ursprünglich zu einem pädagogischen Romane angelegt war und mit seiner damaligen pädagogischen Wirksamkeit zusammenhieng. Auch hat Jean Paul diese beiden Seiten in seiner praktischen Anschauungsweise jedenfalls besser zu vereinigen vermocht, als es ihm poetisch gelungen ist, wenn auch weder er selbst, noch seine Zeit schon dazu angethan war, Beides in einer demgemäßen und konsequent ausgebildeten Weltanschauung zu ver­ einigen.

Ein genaueres Eingehen indessen liegt sowohl hinsicht­

lich der Levana, als der Vorschule zur Aesthetik, außer unserer Aufgabe. Nachdem Jean Paul in bewußter Form die Ueberwindung der idealistischen Schwäche, die nüchterne praktische Versöhnung

142

Letzte Dichtungsperiode Jean Paul's.

mit der Wirklichkeit als das schließliche Ziel ausgesprochen hatte, mußte für ihn nothwendig die Darstellung eines in sich selbst versöhnten Daseins die letzte Stufe sein, auf der seine Dich­ tung anlangte. Allein da er seiner ganzen Natur und An­ schauungsweise gemäß, wie zufolge seiner ganzen Zeit, dieses Ziel doch nicht in seiner objektiven Verwirklichung darstel­ len, sondern selbst in seinen beiden Hauptdichtungen, im Ti­ tan und den Flegeljahren, es nur eben als Ziel aufstellen konnte, so vermochte er statt der wahren und realen Versöhnung, welche die Aufgabe einer weit fortgeschritteneren Zeit war, schließ­ lich nur ein humoristisches Surrogat derselben zu geben, eine solche Versöhnung nämlich, in welcher nur erst die Einbildung und das Gefühl des Subjektes die Wirk­ lichkeit zugleich zu einer idealen erhebt, und so in die­ ser vermeinten Einheit seines Ideales und der Wirklichkeit glück­ lich ist, während der sachlichen Wahrheit nach vielmehr wieder der komische Kontrast zwischen der Anschauungsweise des Subjekts und der Wirklichkeit bleibt. Natürlich kann nun aber dieses ideale Ziel, das in der Anschauung des Subjektes als ein wirklich erreichtes erscheint, gleichfalls kein wahres und ernstes mehr sein; denn 'für dieses ist eine derartige Versöh­ nung unmöglich. Jenes Ziel ist vielmehr an sich selbst schon ein komisches, das nur eben für das Subjekt jenen idealen Werth hat und ihm als ein erreichtes erscheinen kann. Hiemit ist also der Dichter in den Darstellungen dieser letzten Art wieder ganz in das komische Gebiet übergegangen, hat das ernst ideale und gefühlvolle Gebiet seiner früheren Haupt­ dichtungen wieder aufgegeben und ist wieder mehr zum nie­ drig realistischen Element zurückgekehrt. So namentlich in seinem „Fibel" und im Kometen, dem letzten größeren

Fibels Leben.

Werke Jean Paul's.

143

Wie sich diese Dichtungen von den hu­

moristisch-idyllischen der früheren Zeit unterscheiden, die ja im Wutz und Quintus Fixlein auch ein in sich glückliches Kleinleben schildern, werden wir erst nachher sehen, obgleich es bereits in dem vorhin Gesagten liegt. Das erste Werk, das hieher gehört, ist Fibels Leben, das in gewissem Sinne den Wutz und Quintus Fixlein wieder neu aufnimmt, und an welchem Jean Paul arbeitete,

weil er darin erst

besonders lange

den Uebergang zu

dieser letzten

Dichtungsperiode machte, und weil die der jugendlicheren Schö­ pfungskraft jetzt schon hinter ihm lag. Es toitibc daher erst irrt Jahre 1811 beendigt, nachdem es schon 1806 begonnen und die Idee dazu sogar noch früher gefaßt war.

Zum Inhalt hat es

kurz gesagt das in sich befriedigte Dasein eines Menschen, der in der Abfassung einer Fibel, d. h. eines Abcbuches mit Bildern und dazu gehörigen Bersen, und anderem Derartigen, eine große geistige That vollbracht zu haben sich bewußt ist, und mit glei­ cher humoristisch-ironischer Wichtigkeit selbst behandelt wird.

auch von dem Dichter

Daß aber diese Ironie zugleich eine tie­

fere und allgemeinere Bedeutung hat, indem sie auf schrift­ stellerischen Ruhm überhaupt, und insbesondere den des damaligen deutschen Geistes und des Dichters selbst in jener späteren und befriedigteren Zeit, sich bezieht, dieß ist klar.

Denn diese ganze

ideale Thätigkeit mit der Feder stand ja, wie wir schon zur Ge­ nüge sahen, gegenüber von der praktischen Realität der Dinge, vor allem gegenüber von den damaligen großen Zeitereignissen, nur all' zu sehr in ihrer Schwäche und Unmacht da, und Jean Paul selbst war es, der am ausdrücklichsten diese Schwäche des deutschen Lebens gerade in dem Höchsten, was es hervorbrachte,

herausgekehrt

hatte.

144

Fibels Leben.

Indessen wodurch unterscheidet sich nun diese Darstellung Don den früheren, dem Wutz und F.'xlein, in denen ja gleich­ falls das humoristische Bild einer idyllischen Zufriedenheit mit der kleinen und beschränkten äußeren Welt gegeben wird? Der große Unterschied ist der, daß Wutz und Fixlein einfach das Kleine und Beschränkte als solches zufrieden hinnehmen, und nur durch die specifisch deutsche Innerlichkeit

ihrer idea­

len Gemüthswelt diese Enge und Dürftigkeit doch zu ‘ einem glücklichen Zustande machen.

Ihre Zufriedenheit oder Versöh­

nung ist also noch eine rein idealistische, sie beruht noch nicht, wie bei Fibel darauf, daß sie in der Wirklichkeit ein großes (vermeintlich ideales) Ziel erreicht zu haben glauben. Sie wissen also nichts von einem solchen praktischen Stre­ ben, wie Fibel, und von der Erreichung eines solchen, sondern sie sind zufrieden, ob schon ihre Freuden äußerlich nur diese kleinen und so zu sagen mikroskopischen sind.

Nur die ideali­

stische Innerlichkeit ihrer Geniüthswelt bewirkt, daß sie das Dürftige und Enge ihrer äußeren Welt nicht als solches fühlen, sondern mit dem Kleinen, was sie ihnen bietet, zufrieden, sind. An sich aber ist also dort noch der volle Kontrast der einseitig idealen Geistesrichtung mit der äußeren kleinen Wirklichkeit vor­ handen, und deßhalb sind jene Schilderungen gleichzeitig mit der schmerzlich sentimentalen und sehnenden GefühlsPoesie Jean Paul's.

Es kommt in jener frühern Periode bloß

darauf an, welche Seite hervorgekehrt wird, ob die, nach welcher gerade die Innerlichkeit des eigenen Lebens auch dem äußerlich Kleinen und Dürftigen desselben eine höhere Bedeutung gibt, oder die umgekehrte, daß gegenüber von dem hohen Inhalte des eigenen Innern das Niedrige und Kontrastirende der äußern Welt um so schärfer empfunden wird.

Dagegen in jener letzten

Fibels Leben.

145

Periode, welcher Fibel angehört, ist also diese innere Entzweiung ein für allemal überwunden; es handelt sich um eine prak­ tische durch das eigene Streben erreichte Versöhnung mit der Wirklichkeit, wenn gleich in Ermanglung eines der­ artigen Zustandes der Nation, und infolge der ganzen Eigen­ thümlichkeit des Dichters, jene Versöhnung selbst nur eine ein­ gebildete ist und also der Sache nach vielmehr den komischen Kontrast in sich schließt. Daß der „Fibel" bei diesem Grundunterschiede doch man­ ches rein Idyllische (namentlich aus der Iugendgeschichte) mit den früheren Schilderungen dieser Art gemeinsam hat, und daß er andererseits als nochmalige Wiederaufnahme eines schon so ausgebeuteten Anschauungskreises, und als Erzeugniß des späte­ ren Alters, an dichterischer Frische jenen früheren Idyllen (we­ nigstens im Ganzen betrachtet) nicht mehr gleichkommt, dieß begreift sich von selbst. Allein seine große Bedeutung hat er also doch darin, daß er in ganz analoger Weise (nur in rein ironischer und humoristischer Form) die spätere behaglich versöhnte und schon auf ihren Lorbeeren ruhende Zeit des Dichters selbst darstellt und parodirt, wie früher der Sieben­ käs, der Wutz und Anderes die noch in sich entzweite Periode und Entwicklungsgeschichte des Dichters dargestellt hatten. Der Fortschritt zur Darstellung eines in sich versöhnten und er­ reichten Strebens hat zwar, wie wir gesehen haben, einen viel allgemeineren Grund, er ist die nothwendige letzte Konsequenz des unversöhnten und einseitigen Kontrastes, in welchem der Dichter sich in seinen früheren Schöpfungen bewegte. Allein dieser Fortschritt wäre doch nicht möglich gewesen, wenn nicht auch der Dichter selbst sich jetzt in einer dem entsprechenden Lage befunden hätte. Und dabei weist ja der „Fibel" auch schon seinem Planck, Jc,in Paul'c- 'Zhtt'.m.j.

10

146

Symbolische Bedeutung Fibels.

Stoffe nach in unmittelbarer Weise auf den schriftstellerischen und (in den Bersen seiner Fibel) auf dichterischen Ruhm hin. Er ist also mit einem Worte die humoristische Parodie auf die einseitig schriftstellerische und dichterische Größe jener Zeit des deutschen Geistes überhaupt, nur daß die­ selbe jetzt nicht mehr, wie in früheren Schilderungen (und schon in den Grönländischen Processen), nach ihrer äußeren Dürftig­ keit und Kläglichkeit, sondern eben nach der Seite ihres Glan­ zes zum Gegenstände des ironischen Humors geniacht ist.

Das

Abcbuch dient dabei in sehr einfacher und natürlicher Weise als ironischer Grundtypus für die Schriftstellerei überhaupt.

Auch

hier also bewährt sich wieder unsere anfängliche Grundausfassung Jean Paul's, daß er es ist, der allein unserer großen Literatur­ periode zugleich den Spiegel dessen vorgehalten hat, was sie ihrem realen Dasein nach war.

In dem ironischen Bilde von

Fibel's Ruhm spiegelt sich so zu sagen schon die Art, wie spä­ tere Zeiten, und wie bereits die unsrige (mit all' ihrem eigenen Jammer) auf jene geistige Heroenzeit zurückblickt, wie sie unbe­ schadet aller Bewunderung und Verehrung ihres rein mensch­ lichen und idealen Gehaltes doch in ähnlicher Weise noch als eine kinderartig schwache und spielende erscheint, wie Fibel mit seiner Abcbuchthätigkeit und mit dem Ruhme des Universa­ lismus, den er einfach dadurch erreicht, daß er auf die Titel­ blätter alter Werke und Scharteken seinen Namen hincindruckt. Ein für den Geist des Ganzen höchst treffender und dich­ terischer Gedanke ist hiebei noch der, daß so wie Fibel sein gan­ zes Leben eigentlich in einer kinderartigen Thätigkeit und in kinderartigem Glücke hingebracht hat, so auch sein Alter zu einer zweiten Kindheit zurückkehrt, die aber über jene Zeit des schriftstellerischen Glanzes sich insofern noch erhebt, als er

Fibels Leben. Katzenberger.

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auf diese künstlichere Periode bedauernd zurückschaut und nun vielmehr als „altes Herrlein" wieder ganz der einfachen Na­ tur lebt. Wer sollte nicht hoffen, daß auch unsere Nation, wenn einst all' die gesteigert ideale und wissenschaftliche Thätig­ keit ihr wesentliches Ziel erreicht hat, zur kräftigeren und gesun­ deren Natur zurückkehren werde, wenn sie auch dann nicht dem „alten Herrlein" gleich der Ruhe pflegen, sondern in kräftiger universell bürgerlicher Thätigkeit jenes Ziel wahrer menschlicher Natur finden und so erst das, was ahnend unsre Dichter ge­ schaut, zur Wahrheit machen wird? Auch Fibel's Leben also, und insbesondere noch jener Schluß desselben, hat etwas tief und ergreifend Symbolisches; es bestä­ tigt abermals, daß wir gerade in Jean Paul's Dichtungen, wie in keiner andern, einen Spiegel des damaligen deutschen Lebens haben, so wie es in Wirklichkeit und seinem innern We­ sen nach war, also zugleich mit all' seiner Schwäche, während wir in den Schöpfungen unserer beiden Hauptdichter zunächst nur das Große und Ideale des damaligen Entwicklungsstrebens haben, den tiefen Mangel desselben aber nur indirekt erkennen, daran, daß andere Seiten eines vollen und kräftigen Daseins darin noch nicht vertreten sind. Der realistisch komische, über alle schmerzliche Entzwei­ ung und Sentimentalität hinausgehobene Charakter spricht sich nun ebenso in demjenigen Werke aus, welches als das frischeste und kräftigste dieser letzten Periode betrachtet werden kann, näm­ lich in Katzenberger's Badereise, und in dem unterge­ ordneteren „Feldprediger Schmelzte und seine Reise nach Flätz," — Schriften, die beide zwischen die lange Arbeitszeit hineinfallen, welche der Fibel in Anspruch nahm. — Katzen­ berger in seinem derben Cynismus ist nicht bloß, wie Fibel,

148

Katzenberger's Badereise.

eine in sich selbst ganz einige Natur, sondern er ist auch eine noch stärker realistische Parodie auf das ideale Streben des deutschen Geistes. Er hat auch ein Ideal, aber ein solches, das zugleich das Gegentheil des Ideals ist, nämlich die Mißge­ burt. Während also Fibel in seinem Schriftstellerruhme, un­ geachtet der Parodie, die sich in ihm darstellt, doch noch etwas mehr Ideales hat, so ist im Katzenberger vollends auch dieses ganz in das derb Realistische hinübergezogen. Ein schärferes ironisches Gegenstück zu dem idealen Streben der damaligen Zeit kann es gar nicht geben. Allein noch nicht dieß ist eS, was Katzenberger zu einer eigenthümlichen Gestalt dieser letzten Periode des Dichters macht; denn auch früher schon finden sich bei ihm solche cynisch-komische Gestalten (Sphex im Titan, Fenk und Hoppeditzel in der unsichtbaren Loge). Sondern die volle Eigenthümlichkeit liegt erst darin, daß Katzenberger gleich Fibel in seinem Mißgeburtenstudium sich glücklich und befriedigt fühlt, für Wissenschaft und Menschheit darin Großes zu leisten sich bewußt ist. Es ist also wieder eine (nur noch stärker in das Realistische hinübergetragene) Versöhnung des komischen Subjekts. Auch im Uebrigen kommt im Katzenberger das nüchtern Reale und Praktische in höchst merkwürdiger Weise zu seinem Rechte gegenüber von dem einseitig Idealen. Denn „Theoda," Katzenberger's Tochter, wendet sich, obgleich sie dichterisch em­ pfindsam ist, doch von dem eitlen Dichter Nieß, den sie früher bewundert hat, ab und dem praktisch-männlichen und nüchternen, wenn auch in seiner Erscheinung idealeren Hauptmann „Theudobach" zu. Dieser ist also so zu sagen ein in das Nüchterne herübergezogener und um eine Stufe heruntergerückter Albano. Recht absichtlich wird seine nüchtern mathematische, aber praktisch

Katzenberger's Badereise.

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männliche Thätigkeit und Natur dem mit all' seiner Dichtung innerlich hohlen und eitlen Nieß gegenübergestellt, der auch in seinem persönlichen Aeußern gegen ihn zurückstehen muß. Wer sieht nicht wieder in dem Allem eine höchst treffende und für Jean Paul tief charakteristische Hinweisung darauf, daß gerade das so hoch ideale, dichterische und philosophische Leben deS deutschen Geistes zugleich eine sehr klägliche Realität mit sich führte, daß es nach dieser Seite also, nach seinem realen und praktischen Dasein, nichts weniger als ideal sei, und daß folglich nach dieser Seite betrachtet der geistig nüchterne, aber männlich praktische Charakter seinerseits weit mehr kräf­ tig Ideales in seinem äußeren Dasein und Auftreten habe? Diese völlige Umkehrung des Verhältnisses also ist in treffend sinnbildlicher Weise in den entgegengesetzten Gestalten von Meß und Theudobach vor Augen gestellt. Nun entspricht zwar dieß Alles ganz der allgemeinen Grundanschauung Jean Paul's, so­ fern dieselbe ja von Anfang eben den kläglichen Kontrast her­ vorhebt, in welchem die äußere Wirklichkeit und Erscheinung des deutschen Lebens zu dessen idealem Streben stand. Allein welchen Fortschritt Jean Paul's setzt dennoch diese Auffassungs­ weise im Katzenberger voraus, wenn wir sie mit früheren Hel­ den des Dichters, z. B. Viktor im Hesperus, vergleichen! Dort knüpft sich noch alles Interesse an den sentimental und humo­ ristisch dichterischen Charakter und an die ihm ähnlichen Ge­ stalten, während im Katzenberger der Dichter eine so erbärm­ liche Rolle spielt, und vielmehr der nüchterne Kriegsmann und Mathematiker gegenüber von ihm auf den Schild gehoben wird. Die inneren Gründe dieses Umschwunges aber hat ja das Bis­ herige bereits klar gemacht, insbesondere auch, wie das inner­ lich Einseitige und Schwache in der idealistischen Richtung des

150

Der „Feldprediger Schmelzte?

deutschen Geistes schon in den Flegeljahren so scharf (wenn auch in ganz anderer edlerer Gestalt, als in einem Nieß) hervorge­ hoben wird, und wie überhaupt die praktische Versöhnung mit der Wirklichkeit, dieß realistische Ziel, selbst mit Aufgabe des früheren idealen Empfindungsinhaltes, das Unterscheidende dieser Letzten Periode wird, wenn gleich immer noch in komischer Form. Den derb reellen Charakter zeigt auch der Feldprediger Schmelzte, der ganz kurz vor dem Katzenberger verfaßt, wenn auch freilich untergeordneter ist.

Auch hier wird der verhält-

nißmäßig Gelehrte und Gebildete mit seinem unpraktisch furcht­ samen Wesen zum Gegenstände der Komik gegenüber von den nüchtern derben gewöhnlichen Naturen, mit denen er zu thun hat, z. B. seinem Schwager, dem Dragoner u. s. w.

Aber

auch» hier ist ebendamit der Kontrast zwischen der unpraktischen innerlichen Phantasiewelt des Helden und der nüchternen Wirk­ lichkeit ganz in das niedrere, rein komische und realistische Ge­ biet herübergezogen.

Allerdings unterscheidet sich Schmelzte von

den zuletzt betrachteten Helden dadurch, daß er nicht in einer Welt glücklicher Einbildung, sondern umgekehrt in einer Phan­ tasiewelt der Furcht und Angst lebt.

Allein theils ist er hierin

überhaupt ein höchst natürliches und naheliegendes Gegenstück eines Helden, theils insbesondere auch ein naheliegendes Ge­ genbild zu jenen glücklichen und befriedigten Helden.

Außerdem

aber ist er eben aus jenem Grunde nicht, wie jene, zum Helden eines größeren Ganzen bestimmt, sondern hat nur untergeord­ netere Bedeutung, als Träger einer Reihe von komischen Bil­ dern.

Der Inhalt seiner Phantasiewelt aber ist ebenso realistisch

gewendet, wie bei Fibel und Katzenberger; denn er bezieht sich auf eine eingebildete Wirklichkeit voll Gefahren u. dgl., und so trägt auch dieser Schmelzte ganz die Eigenthümlichkeit dieser

Feldprediger Schmelzle. Vierneißels Nachtgedanken u. A. letzten Periode Jean Paul's.

151

Ja selbst das hat Schmelzle mit

den übrigen komischen Helden dieser letzten Periode gemein, daß er bei aller Noth, in die er durch seine eigene Furcht und Ein­ bildung kommt, doch von seiner eigenen ängstlichen Vorsicht und Umsicht fortwährend ganz befriedigt ist, und so vor allem auch in dieser Hinsicht eine

heiter komische Wir­

kung übt. Auch das aus derselben Periode stammende, zwar kleine, aber höchst originelle Stück „des Geburtshelfers Walther Vierneißel Nachtgedanken über seine verlorenen Fö­ tus ideale" zeigt in tief charakteristischer Weise den Umschwung aus dem früheren sentimentalen Humor in den derb komischen. Denn der an sich selbst sentimentale Kontrast zwischen den Ju­ gendidealen und der nachherigen enttäuschenden Wirklichkeit wird hier, in der cynisch derben Uebertragung auf den Fötus, ganz zum rein komischen, obwohl er auch so, infolge des Hindurch­ schimmernd jenes tief ernsten Gegensatzes, noch eine eigenthüm­ liche Kraft und tiefere Bedeutung behält.

Komisch wirkt u. A.

namentlich die entsetzliche Wichtigkeit, mit welcher der Erzähler den Moment seines beginnenden „Weltfeldzugs" (d. h. seiner Geburt) beschreibt, wie er „abdrückt zum Königsschuß seines Daseins." — In den beiden Stücken, die sich mit dem „Rek­ tor Seemaus" beschäftigen, ist gleichfalls statt der früheren idyllisch-humoristischen Behandlung, welche solche Stoffe im Wutz und im Fixlein erhielten, die rein komische eingetreten. Die ernste und rührende Empfindung kann nicht einmal mehr in jener Form deö idyllischen Humors sich eine Stelle erringen; sie ist von selbst dadurch ausgeschlossen, daß es der Rektor selbst ist, der über seine eigene ärmliche Lage sich in humoristischer Weise lustig macht. — Noch andere Stücke rein komischer Art,

152

Trennung der ernsten Thätigkeit von der komischen.

wie „die Doppelheerschau in Großlausau" und „die Belagerung der Reichsfestung Ziebingen" können wir um so eher übergehen, als sie nur Variationen aus der wohlbekannten satirischen Klein­ malerei, aus dem deutschen Duodezstaaten- und Spießbürgerthum sind, und nur durch veränderte Zeitbeziehungen wieder eine

eigenthümliche Bedeutung

erhalten.

Denn sie sind eine

Art Trost darüber, daß so manche kläglich verkommenen Theile und Formen des alten deutschen Reichs in der Napoleonischen Zeit mit Recht ihren Untergang fanden.

Im Uebrigen zeigt

sich auch hier wieder der rein komische Charakter dieser letzten Periode. Dagegen hat sich das ernst ideale Element vom dich­ terischen jetzt ganz abgetrennt, und tritt ebenso, wie nach anderer Seite in der Levana, als kräftig freimüthiges und patriotisches Streben für sich hervor, in der ,Friedenspredigt" (1808), den „Dämmerungen" (1809) und Ande­ rem, wie auch schon in dem „Freiheitsbüchlein" (1805), das an das eigenthümlich freie und für jene Zeit noch unerhörte (später freilich gleichfalls wieder aufgelöste) Verhältniß Jean Paul's zu dem Herzoge von Sachsen-Gotha anknüpfte.

So

sehr dieß kräftig patriotische Auftreten Jean Paul's während der Zeit Napoleonischer Herrschaft ihn als Menschen charakterisirt und zugleich auf das Streben in seinen früheren Haupt­ dichtungen ein Licht zurückwirft, so sehr es ferner als wesentliche Ergänzung zu der rein komisch dichterischen Thätigkeit Jean Paul's in seiner letzten Periode erscheint, so liegt doch ein nä­ heres Eingehen auf jene Schriften Jean Paul's nicht in unserer Aufgabe, die es ja nur mit dem Verständniß seiner dichterischen Entwicklung und Bedeutung zu thun hat. Es ist uns daher nur noch die letzte größere Dichtung Jean

Der Komet oder Nikolaus Marggraf.

153

Paul's, der Komet übrig, in welchem dasjenige, was wir schon bisher als die Eigenthümlichkeit dieser letzten Periode, deS Fibel u. s. w. erkannten, nur in einer noch ausgeprägteren Weise hervor­ tritt. Der glückliche Traum von einer großen und hohen Thä­ tigkeit nämlich, in welcher der Held sich befriedigt findet, obgleich es der Sache nach nur ein komischer Traum ist, — dieß bildet den gemeinsamen Grundzug des Kometen, wie des Fibel. Allein während in dem letzteren die Thätigkeit des Helden noch eine schriftstellerische ist, und hierin, wie wir sahen, eine Parodie der eigenen idealen Thätigkeit des Dichters, sowie jener einseitig schriftstellerischen Zeit des deutschen Geistes überhaupt ist, so ist dagegen der Komet auch in der Beziehung noch realistischer, daß der Traum deS Helden auf eine äußerlich praktische und materielle Wellbeglückung hingeht, und daß er hiefür die entsprechenden äußeren Anhaltspunkte findet. Sein Wahn bezieht sich also auf eine vermeintlich fürstliche Geburt und Be­ stimmung, kraft welcher er seine Umgebungen beglücken möchte, und Mittel für diesen Traum findet er darin, daß er als Apo­ theker und Chemiker die Kunst Diamanten zu machen erfindet. Wie nun der Held (Nikol. Marggraf) mit seinem Traume weit mehr auf etwas praktisch Reelles hingeht, als Fibel mit seinem Schriftstellerruhm, so sind demgemäß auch die übrigen Charaktere noch mehr realistisch gehalten, vor allem „Worble," der Jugendfreund des Helden und sein nachheriger Reisemar­ schatt, der seinem Wesen nach nichts als ein derb kräftiger und heiterer Genußmensch ist. Die magnetische Kraft, die ihm beigelegt wird, bildet freilich einen wunderlichen Abstich zu jener sonstigen derb sinnlichen Natur, wie denn auch dieser Zug nur daraus zu erklären ist, daß der Dichter selbst in seiner letzten Periode sich mit dergleichen Dingen beschäftigte. Allein auch diese

154

Der Komet.

magnetische Kraft wird doch durchaus nicht zu irgend welchem ernst gefühlvollen Zwecke, sondern nur zu einem wunderlich komischen benützt. Sie wird nämlich in höchst charakteristischer Weise dazu verwendet, den Kontrast eines bloß subjektiv und inner­ lich vorhandenen Zustandes und andererseits des realen und äußeren hervortreten zu lassen. So bildet in dem magnetischen Gastmahle Worble's der bloß psychische Genuß, der den Gästen zu Theil wird, einen komischen Kontrast zu dem materiellen, den Worble, der Magnetiseur, für sich allein hat. Umgekehrt tritt in dem magnetischen Zustand, in welchen „Kain der Leder­ mensch," (von dem sogleich noch die Rede sein wird), durch Worble versetzt wird, die eigentliche gesunde und nüchterne Na­ tur hervor, die für gewöhnlich durch den Wahnsinn dieses Men­ schen unterdrückt ist. Hieraus ist nun vollkommen klar, daß der magnetische Zustand dichterisch zu einem Spiegelbild eben dessen benützt ist, was der Grundinhalt des ganzen Ro­ manes ist, nämlich des menschlichen Wahnes, der sich im Gegensatz zur nüchternen Wirklichkeit eine andere er­ träumte schafft. Das magnetische Gastmahl erscheint ge­ radezu wie ein komisches Seitenstück des bloß erträumten Glückes des Helden, während umgekehrt der magnetische Zustand des Ledermenschen vor Augen stellt, wie hier (und ebenso bei dem Helden des Romanes) der Wahn sich an die Stelle des wirklichen Lebens gesetzt und dessen Kraft und Bedeutung sich zugeeignet hat, so daß das nüchterne Bewußtsein hievon nur noch außerhalb des gewöhnlichen Lebens hervortreten kann, als ein bloß innerlicher und äußerlich machtloser Zustand, so wie dieß eigentlich die Natur des Wahnes wäre. Offenbar nun soll also der Wahnsinn dieses „Kain" oder „Ledermenschen" nicht bloß das widrige Gegenstück zu dem gut-

155

Der Komet.

wüthigen und auf Beglückung Hingerichteten Wahne des Helden sein, sondern diese unmittelbare Gegenüberstellung kann auch keinen andern Zweck haben, als daß dem Helden schließlich sein eigener Wahn durch dieses Gegenbild zum Bewußtsein gebracht werden soll.

Deßhalb soll dieser Kain das direkte Gegentheil

zu dem Wahne des Helden darstellen.

Wie dieser auf Menschen­

beglückung hingeht, und wie ihm dem entsprechend in humori­ stischer Weise eine hie und da hervortretende Spur von einem elektrischen Heiligenschein zugeschrieben wird, so identisicirt sich jener Kain mit dem Erbfeinde der Menschen und hat auf seiner Stirne die sich ringelnde Schlange zum Abzeichen; er hat ferner in seiner Phantasie früher ebenso alles Böse und Unnatürliche durchlaufen, wie Marggraf umgekehrt sich in alle Heiligen, Hel­ den u. s. w. hineingeträumt und sich mit denselben identisicirt hat.

Allein die Art, in welcher nun diesem Plane gemäß die

Heilung des Helden geschehen sollte, und die Schwierigkeit, einen dichterisch befriedigenden und mit der sonstigen komischen Hal­ tung des Romans in Einklang stehenden Ausgang herbeizufüh­ ren, — dieß hat offenbar den Dichter an der Fortführung und dem Abschlüsse des Ganzen gehindert,

während zugleich

ein

schwerer Schlag, der ihn persönlich betraf, der erschütternde Tod seines einzigen Sohnes, ihm die Vollendung überhaupt unmög­ lich machte.

Wir können uns daher auch enthalten, auf die

Andeutungen einzugehen, die uns anderweitig über die von Jean Paul beabsichtigte Fortführung dieses Romanes erhalten sind. Fassen wir jetzt die allgemeine Bedeutung des Kometen zu­ sammen, so ist zwar auch in ihm wieder der Sache nach nichts Anderes dargestellt, als die idealistische (wenn man sagen will träumerische) Abkehrung des damaligen deutschen Lebens von der Wirklichkeit und deren nüchtern praktischen Aufgaben.

Allein

156

Der Komet.

die Beziehung auf den wirklichen Inhalt jener idealen Thätig­ keit des deutschen Geistes ist hier noch vollständiger fallen ge­ lassen als im Fibel, welcher wenigstens in seiner Schriftstellerthätigkeit, wenn auch nur in ganz ironischer Weise, noch auf jenen Inhalt hindeutet. Wir sahen ja auch schon früher, wie ein wirkliches Eingehen auf den ernst idealen Inhalt des damaligen deutschen Lebens (nach Art der vorausgegangenen Hauptdichtun­ gen Jean Paul's) mit dem heiter versöhnten und rein komischen Charakter dieser letzten Dichtungsperiode nicht zu vereinigen ge­ wesen wäre. Und indem nun also ein in seiner erträumten Welt glückliches Dasein geschildert werden soll, so war es auch ganz natürlich und im Geiste dieser letzten Periode, daß der Wahn des Helden nun ganz auf etwas äußerlich Reelles, auf fürstliche und weltbeglückende Thätigkeit hingerichtet ist. Nichts desto weniger aber, obgleich die direkte Beziehung auf den wirk­ lichen Inhalt der deutschen Dichtung und Philosophie hier ganz fallen gelassen ist, bleibt der Held des Romanes doch ein be­ deutungsvolles Abbild, theils von dem idealistischen Zuge des deutschen Geistes überhaupt, theils von dem Leben und Streben des Dichters selbst. Denn dieser, wie jene ganze Zeit überhaupt, hat ja doch gleichfalls im einseitigen idealen Schaffen, in der dichterischen Phantasiethätigkeit und in derartigem Streben, seine Befriedigung und sein Glück gefunden. Nur daraus, daß der Dichter also auch hier wieder in gewissem Sinne sein eigenes Abbild darstellte, erklärt sich darum auch, daß er geradezu sich selbst, den Kandidaten Friedrich Richter einführt, in der getreuen Erscheinung seines Auftretens in den achtziger Jahren, wie er mit fliegenden Haaren sich in der freien Natur umhertreibt, den Wetterpropheten machen lernt u. s. w., und so in humoristischer Weise sich selbst zu einem Gefährten Nikolaus

Der Komet; Vergleich mit dem Don Quixote. Marggraf's macht.

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Insbesondere ist auch die Kindheit deS letz­

teren, in welcher seine Phantasie sich in alle möglichen idealen Größen, berühmte Männer, Heilige, Helden u. s. w. hinein­ träumt, nach gewohnter Weise wieder ein Bild von der Kindheit des Dichters selbst. Sofern nun aber das Ziel, in das sich der Held hineinträumt, doch ein äußeres praktisches ist, und auch die deut­ sche Entwicklung, wie der Dichter selbst im Titan und den Fle­ geljahren ausgesprochen hat, auf die nüchtern praktische und han­ delnde Einigung mit der Wirklichkeit hingeht, so wird von hier aus betrachtet der Nikolaus Marggraf zur idealistisch träu­ merischen Parodie dieser praktischen Bestimmung des deutschen Geistes.

Denn da eine dichterische Darstellung dieser

letzteren selbst über den Anschauungskreis des Dichters noch ganz hinauslag, so war es ganz konsequent, daß er wenigstens jene Parodie derselben gab, da nun einmal die innere Konsequenz seiner Dichtung darauf Hintrieb, mit der heiter versöhnten und realistischen, nicht aber mit der früheren, schmerzlich ent­ zweiten und sehnsüchtigen Dichtungsform zu endigen. — Mit dem allem ist also nun vollkommen klar, wie Jean Paul zum Schluffe auf diese dem Don Quixote ähnliche Dichtung kom­ men mußte.

Denn nicht nur der Roman selbst, sondern auch

die Studien Jean Paul's auf denselben geben den Beweis, daß er selbst den Don Quixote dabei vor Augen hatte; und außer dem Helden selbst zeigt sich auch noch in anderen Figuren diese Analogie, wie z. B. der „Stößer Stoß" nur ein noch beschränk­ teres und niedreres Seitenstück zum Sancho Pansa ist, Worble dagegen wiederum eine geistig höher stehende und überlegenere Form desselben u. s. w.

An dichterischer Kraft und Lebendig­

keit muß freilich die Jean Paul'sche Dichtung bei diesem Ver-

158

Der Komet; Vergleich mit dem Don Quixote.

gleiche entschieden nachstehen, wie sie ja auch in die Periode ber naturgemäß abnehmenden Dichterkraft fällt.

Insbesondere hat^

abgesehen von allem Anderen, die Gestalt jenes „Ledermenschen" etwas zu sehr phantastisch Gemachtes, und erscheint zu sehr alsbloßes planmäßiges Gegenstück zu dem Helden; man sieht hier statt der lebendig dichterischen Phantasie schon die berechnende Verstandesthätigkeit.

Allein gewiß ist nichts desto weniger, daß,

die vorausgehende Entwicklung des Dichters von selbst zu die­ sem Ziele hinführte.

Schon Walt in den Flegeljahren erscheint

ja als unpraktischer Träumer, und ebendamit als komisch; und schon diese Hauptdichtung erhält dadurch, gegenüber von dem schmerzlich sentimentalen Wesen des Hesperus, Siebenkäs, und theilweise noch des Titan, den mehr heiteren und humoristischen Grundcharakter.

Für niedrig beschränkte und prosaische Welt­

menschen erscheint schon Walt so zu sagen als ein in einer Phan-tasiewelt lebender Don Quixote.

Allein gerade das, was den

Flegeljahren ihre hohe Bedeutung gibt, die Mischung jenes Hu­ mors mit dem tief Gemüthvollen, ächt Menschlichen und Rüh­ renden, das sowohl in der Natur des Helden, als in der ganzen Behandlungsweise des Romanes liegt, gerade dieß enthält doch immer noch ein Element des unversöhnten, ernsten Kontrastes.

Man sieht sich

schmerzlich

von Anfang auf ein

Ziel hingewiesen, das noch nicht erreicht ist; und da nun der Dichter dieses Ziel selbst, die Einigung jenes ächt menschlichen und idealen Sinnes mit den nüchternen praktisch bürgerlichen Aufgaben, noch nicht darstellen konnte, so blieb ihm schließlich nichts übrig, als dem träumerisch Idealistischen selbst eine solche Form zu geben, bei der es auch jenen letzten Anflug des schmerz­ lich Ernsten verlor, ihm nämlich die äußerlichere Richtung, auf eine eingebildete Wirklichkeit zu geben, in welcher es

Verhältniß der letzten Periode zu den früheren. nur noch heiter komisch wirkt.

159

Und hiemit erst also war

es nun ganz zur Don Quixoteartigen Gestalt geworden, hat aber freilich ebendamit, was es auf jener letzteren Seite gewann, wiederum an dichterisch tiefem Interesse verloren. Dieß also ist der ganz natürliche und in der Grundan­ schauung Jean Paul's begründete Entwicklungsgang, daß seine letzte Periode zwar der Konsequenz des dichterischen Stand­ punktes nach die reifste und höchste ist und die innerlich ver­ söhnteste Kunstform hat, daß sie aber ebendeßhalb an Tiefe und Größe des dichterischen Interesses hinter der zu­ nächst vorhergehenden Periode zurückstehen muß.

Denn

das Große und Tiefe ist nun einmal bei Jean Paul wesentlich an den Kontrast und die Entzweiung mit der gegebenen äu­ ßeren Welt geknüpft.

Deßhalb sind auch mit Recht und von

Anfang an nicht die Werke jener letzten Periode, sondern die Flegeljahre und der Titan als die Hauptschöpfungen Jean Paul's betrachtet worden, weil in jener letzten Periode zugleich mit dem ernsten und unversöhnten Kontrast auch der tiefere und allge­ meine Gehalt desselben und ebendamit des Humors selbst, das, was in den innersten Kern des damaligen deutschen Lebens ein­ drang, wegfallen mußte. Um so merkwürdiger ist es dagegen, von hieraus den Ent­ wicklungsgang des Dichters im Ganzen zu überblicken.

Mit

dem rein Komischen (als Satirischen) hat Jean Paul be­ gonnen, und mit dem rein Komischen hat er wieder auf­ gehört; aber wie ganz verschieden ist dieses Ende von dem An­ fang! Dieser letztere nämlich, oder jene satirische Erstlingsperiode, hält sich noch ausschließend an die niedrige reale Seite jenes allgemeinen Kontrastes, an die klägliche und gemeine Wirk­ lichkeit, die auch dem scheinbar Idealen anhaftet.

Aber diese

160

Jean Paul's Gesammtentwicklung.

einseitige Hervorkehrung der niedrigen und unbefriedigenden Seite konnte der Dichter selbst auf die Länge nicht ertragen; der ernste und ideale Inhalt des damaligen deutschen Strebend fordert sein Recht, und wenn dieß ernste Gefühlselement sich auch zu allererst nur in der humoristisch-idyllischen Form hervorwagt (t>. h. mit überwiegender Hervorkehrung der kleinen und engen Wirklichkeit, in der es zu Hause ist), so tritt es doch bald freier, als schwärmendes, schmerzlich entzweites und sehnen­ des Gefühls- und Phantasieleben hervor. Aber auch so kommt es noch nicht zu seinem vollen Recht: es strebt vielmehr empor zum kraftvoll Idealen, zum Geiste heldenhafter praktischer Erhebung über die gemeine Wirklichkeit, und es vollendet sich, indem es seiner nothwendigen geistigen Ergänzung durch die nüchtern praktischen Bedingungen des Daseins sich bewnßt wird. Allein indem auch dieß noch bloßes Ziel, bloße For­ derung bleibt, so kann schließlich das ideale Streben nur da­ durch als versöhntes und befriedigtes erscheinen, daß es auf ideelle Weise, in seinem eigenen Bewußtsein, auch schon die Wirk­ lichkeit (als eine eingebildete) in sich schließt. So hört es nun freilich auf ernst zu sein, wird selbst wieder komisch; allein dieß Komische entsteht also dadurch, daß das ideale Streben als in sich versöhntes und befriedigtes erscheinen soll, während das satirisch Komische der ersten Periode sich viel­ mehr ganz umgekehrt an die kontrastirende und niedrige Wirk­ lichkeit hielt. Oder anders ausgedrückt: das Komische der er­ sten Periode hat es noch ausschließend mit der niedrigen und unbefriedigenden Realität zu thun, während das der letz­ ten Periode ganz umgekehrt den in sich selbst befrie­ digten Wahn, das Glück des idealistischen Träumers dar­ stellt. Insofern also besteht der ganze Entwicklungsgang darin,

Jean Paul's Gesamrntentwicklung.

161

daß gegenüber von der unbefriedigenden und kleinlichen Realität das Ideale immer vollständiger Boden gewinnt, so daß es aber freilich ebendamit die Richtung auf die Wirklich­ keit hin zuletzt selbst in sich aufnehmen muß, zunächst in dem ernsten Sinne, in welchem wir dieß im Titan und dem in den Flegeljahren aufgestellten Zielpunkte sehen, und zuletzt, da auch hier die Versöhnung noch nicht vorhanden ist, in jenem komischen Sinne, in welchem das Ideelle selbst eine erträumte Wirklichkeit in sich schließt. Und obgleich es also damit wieder in das Niedrigere herabsteigt, so geschieht dieß doch ganz im Sinne der ideellen Befriedigung und Versöhnung. Wir können also auch sagen: nachdem Jean Paul zuerst den scharfen und schmerzlichen Kontrast im damaligen deutschen Leben, das Mißverhältniß des hoch idealen Inhaltes zu den kläglichen äußeren Zuständen, dargestellt und auf das noch un­ erreichte Ziel dieser Entwicklung hingewiesen hat, so sucht er zuletzt, weil dieß Ziel über seine Zeit und seinen An­ schauungskreis hinausliegt, jener damaligen Periode auch die rein versöhnte Seite abzugewinnen, die, wornach ihr eben ihr idealistisches Leben zugleich selbst auch eine Wirklichkeit war und dieselbe ersetzte. Es ist dieß der versöhnte Trost für die Schwäche und den Mangel der ganzen Zeit. In anderer Weise hat Jean Paul allerdings schon früher in jenen Schilderungen kleinen idyllischen Glückes (Quintus Fixlein u. s. w.) einen sol­ chen versöhnenden Trost gegeben. Allein hier besteht die Ver­ söhnung doch nur erst darin, daß dem Gemüthe, zufolge seiner rein innerlichen und idealen Richtung, diese äußere, an sich kleine und arme Welt mit ihren Freuden genügt. In jener letzten Periode dagegen ist das ideelle Leben des Hel­ den in sich selbst auf ein äußeres reales Ziel bezogen und Planck, Jean Panl'ü Dichtung. 11

162

Jean Paul's Gesammtentwicklung.

hierin als in einer erträumten Wirklichkeit befriedigt. Uut> Hie­ mil haben wir also ein Sinnbild davon, wie für den deut­ schen Geist damals seine Dichtung, Philosophie u. s. w. selbst die Stelle einer großen äußeren Wirklichkeit, eines kräftigen bür­ gerlichen und nationalen Daseins u. s. w., vertrat. Eine andere Betrachtungsweise der Entwicklung I. Paul's, die aber mit jener obigen vollkommen zusammenstimmt, wäre die, daß Jean Paul zuerst allmählich bis zum Gipfel des hoch Idealen aufsteigt, um dann ebenso allmählich wieder in das rein Komische herabzusteigen. Als jener Gipfel des hoch Idealen ist hiebei der Titan zu betrachten, der ja'die kraftvoll hohe, siegreich über die gemeine Wirklichkeit sich erhebende und zur idealen That hinstrebeude Sinnesweise zu seinem Grundton hat. Aber eben deßhalb, weil er auf die praktisch reale Bethätigung als Ziel hinweist, beginnt nun von hier aus nothwendig wieder die herabstergende Bewegung. Es wird jetzt als weitere Konsequenz die nothwendige nüch­ tern praktische Ergänzung des idealen Strebens hervorgekehrt. Dasselbe erscheint jetzt in seiner unpraktischen Schwäche, und wird so selbst Gegenstand des Humors, während es im Titan noch rein als kraftvolles und hohes auftreten wollte. Und endlich, weil auch diese nüchtern praktische Ergänzung noch bloße Forderung bleibt, so kann das ideale Streben nur dadurch in versöhnter befriedigter Form auftreten, daß ihm seine eigene ideelle Welt zu einer erträumten Wirklichkeit wird, ihm die Stelle derselben vertritt, womit es wieder ganz im Komischen ange­ kommen ist. Diese letztere Betrachtungsweise der Entwicklung I. Paul's ist die einfachste und übersichtlichste, indem sie zugleich den an­ gestrebten Höhepunkt seiner Dichtung als solchen heraushebt.

Der Höhepunkt Jean Paul's.

163

Dieser Höhepunkt von Jean Paul's Streben, in welchem er das Großartigste leisten wollte, ist und bleibt der Titan, ob­ gleich damit durchaus nicht gesagt ist, daß er auch das dichte­ risch vollendetste Werk sei. Vielmehr eben wegen der Einseitig­ keit, die zufolge des ganzen Wesens Jean Paul's jenem großartig idealen Streben anhaften mußte, ist er dichterisch nicht so vollendet, wie die schon wieder abwärts steigenden Flegeljahre. Denn mag man auch mit Recht sagen, daß in den Flegeljahren wieder das schwach Sentimentale und Träumerische des dama­ ligen deutschen Wesens in den Vordergrund trete, während der Titan allein die kraftvoll hohe und nach der That hindrän­ gende Konsequenz desselben darzustellen suche, so bleibt doch auch dieß wiederum bei dem bloßen Streben, bei einem sich Er­ gehen in idealen Gefühlen, welches ebendeßhalb in reichem Maße noch an jener überschwenglichen Sentimentalität und Schwäche Antheil hat. Indem dagegen die Ftegeljahre eben diese Schwäche als solche hervorkehren und zum Gegenstände des Humors ma­ chen, so haben sie freilich gegenüber vom Titan den kleineren und schwächeren Stoff; aber sie haben dennoch ebendarin die reifere und dichterisch überlegenere Anschauungs­ weise, indem sie jene Schwäche ihrer Natur gemäß mit Humor behandeln, während umgekehrt im Titan das Stre­ ben nach dem kraftvoll Idealen zugleich unbewußt noch in Schwäche umschlägt. Und ebenso wird hier die nebenher ge­ hende kleine Welt mit dem Satirischen und Humoristischen, daS sich an sie knüpft, als ein heterogenes und störendes Ele­ ment empfunden, während sie in den Flegeljahren ganz konse­ quent und entsprechend sich an den Mittelpunkt des Ganzen, anreiht. Wie also Jean Paul überhaupt seine dichterische Stärke 11

*

164

Der Höhepunkt Jean Paul's,

nicht sowohl in seinem idealen Streben, als vielmehr in der komischen und humoristischen Seite gehabt hat, so verhält es sich auch mit jenen beiden Hauptwerken. In dem, welches nach jener ersteren Seite hin fällt, tritt unbewußt und unwillkührlich das Schwache hervor, was dem idealen Leben jener Zeit, und bestimmter Jean Paul's selbst anhaftete; und dieß ebendeßhalb, weil ja jener ideale Inhalt bei Jean Paul durchweg in seinem ausdrücklichen Kontraste zur änßeren Wirk­ lichkeit aufgefaßt ist. Da erst, wo mit überlegenem und reifem Bewußtsein jene Schwäche selbst erkannt und mit Humor als solche hingestellt ist, tritt auch das Vollendetste dieser ganzen dichterischen Anschauungsweise hervor. Aber ebeudamit wird der Dichter durch die innere Konsequenz seiner eigenen Grund­ anschauung wieder immer mehr in das Komische hinübergetrieben. Weil dem Geistesleben jener Zeit, und vor allem des Dichters selbst, die reale (äußere) Versöhnung fehlte, in welcher es erst seine Kraft hätte bethätigen müssen, so blieb ihm zuletzt nur die Versöhnung in jenem komischen Sinne übrig, wornach das idealistische Leben und Streben in sich selbst als in eine zweite Wirklichkeit eingesponnen ist und sich darin genügt. Wir haben jetzt nur noch Jean Paul's Verhältniß zu den übrigen Richtungen unserer damaligen Literatur zu erörtern, (soweit dieß nicht schon zur Sprache gekommen ist), und dann seine Gesammtbedeutung für die deutsche Entwicklung zusammen­ zufassen. Mit der sogenannten romantischen Schule hat Jean Paul den Berührungspunkt gemeinsam, daß er im ausdrücklichen Kontraste zur gemeinen und nüchternen Wirklichkeit dieser eine ideale Phantasie- und Gemüthswelt entgegenstellt, und daß er daher auch als äußere Anhaltspunkte für solche Stimmungen

Jean Paul und die romantische Schule. und

Anschauungen öfters

165

phantastische Zuthaten

braucht.

Wie daher in seinen „Visionen" und „Träumen," dieser bei ihm so beliebten Form, verschiedene phantastische Elemente vor­ handen sind, so auch in den größeren Hauptwerken.

Im Titan

gehört dahin der Kahlkopf (oder Bauchredner) mit all' seinem halb in das unheimlich Grauenhafte, halb in das frazzenhaft Humoristische übergehenden Unwesen; ferner das Phantastische in den Parkanlagen zu Lilar, die wiederum an der „Insel der Vereinigung" im Hesperus ein Seitenstück haben.

Schon in

der unsichtbaren Loge zeigen sich die ersten Ansätze dieser Art, nanientlich in dem schon dort auftretenden Wachsfigurenwesen, das überall als ein Hebel en'.sprechender Stimmungen benützt wird (so dort von Ottomar als eine Verkörperung seiner schmerz­ lich düsteren Erinnerungen und Lebensanschauungen u. s. w.). Daß int Titan am meisten Aufwand von solchen Dingen gemacht ist, hängt, wie wir sahen, mit dem Bedürfnisse zusammen, für den hoch idealen Ton dieses Romanes auch mehr Anhaltspunkte zu haben.

äußerliche

Denn das Ideale besteht ja in diesem

Romane nicht mehr, wie z. B. im Hesperus, in der Innerlich­ keit einer jenseitigen Gefühlswelt, sondern es soll als hohes und kraftvolles in die Handlung des Romanes

und den äußeren

Gang desselben hinaustreten. An solche phantastische Elemente Jean Paul's haben nun auch unstreitig verschiedene Erzeugnisse der romanischen Schule angeknüpft, so vor allem das phantastisch-humoristische Streben des wohlbekannten E. Th. A. Hoffmann, der insoweit wie eine weiter ausgebildete Verzweigung dieser Seite Jean Paul's erscheinen könnte.

Namentlich wird man durch jenen Kahlkopf

im Titan und die ganze Art, wie sein Wesen geschildert wird, am unmittelbarsten an Hoffmann'sche Figuren erinnert.

Nichts

166

Jean Paul und die romantische Schule.

desto weniger ist eine tiefe Kluft zwischen Jean Paul und der romantischen Schule. Soweit wir uns nämlich daran halten, daß durch die romantische Schule die Bedeutung der mittelalter­ lichen Weltanschauung, das Große und Poetische derselben, wie­ der mehr zum Bewußtsein und zum Rechte kam, so ist dagegen Jean Paul's Streben und Anschauungsweise, ähnlich wie Goe­ thes und Schiller's, durchaus modern, wie dieß namentlich auch von der religiösen und politischen Seite in ihm gilt. Denn so sehr auch in Jean Paul's früheren Romanen und Dichtun­ gen das Sehnen nach einem idealen, über alle die Schmerzen und Mängel dieser Endlichkeit hinausgehobenen Jenseits hervor­ tritt, so theilt er doch im Wesentlichen ganz den Charakter der damaligen philosophischen (und rationalistischen) Anschauungsweise, nur daß sie mehr dem Bedürfnisse des Gemüths und der Phan­ tasie angepaßt ist, und hiedurch namentlich der einseitigen Kälte und Nüchternheit der Kantischen Philosophie entgegentritt. Al­ lein im Ganzen ist also Jean Paul auch in dieser Beziehung ein rechtes Kind des vorigen Jahrhunderts. Seine politische An­ schauungsweise aber, seine Sympathien mit den Ideen der fran­ zösischen Revolution, seine scharf satirischen Angriffe auf all' das Unwürdige, Kleinliche und Verrottete der politischen Zustände Deutschlands, dieß ist ohnehin etwas dem Streben der roman­ tischen Schule Fremdes. Aehnliches gilt auch, wenn wir die romantische Schule nach ihrer allgemeineren dichterischen und ästhetischen Bedeutung auf­ fassen. Was sie mit Goethe und Schiller gemein hatte, war der Gegensatz gegen die gemeine Wirklichkeit, gegen all' das Platte und Niedrige, was in der großen Masse der damaligen poetischen Literatur, im Roman, Drama u. s. w. herrschte, und gegen die ganze damit zusammenhängende Anschauungs- und

Jean Paul und die romantische Schule.

167

Geschmacksweise. Es war also der ideale Charakter der Kunst, den auch die romantische Schule jener platten Wirklichkeit ge­ genüber vertrat, sei es nun in mehr negativer satirisch-polemischer Weise, wie z. B. in den hieher gehörigen Dramen Tieck's, oder im Streben

nach eigenen positiven Schöpfungen.

Allein ihr

ebenso nothwendiger scharfer Unterschied von Goethe's und Schillert Streben war darin begründet, daß das Ziel wahr­ hafter und voller Natur u'.w rein menschlichen Daseins, das jene vertraten, von der übrigen Weltanschauung jener Zeit aus, vor allem auch von der wissenschaftlichen, noch nicht in seiner Reinheit erfaßt werden konnte.

Die ganze Zeit

kam vielmehr, so sehr auch das Streben nach freier Natur und Menschlichkeit in ihr erwacht war, doch von einer ganz ideali­ stischen Weltanschauung her, (wie sie ja am ausgeprägtesten im Mittelalter geherrscht hatte); und so mußte vor allem auch die philosophische Auffassung der Dinge noch eine ganz ideali­ stische bleiben, wie dieß ja vor allem in der Fichte'schen Philo­ sophie sich aussprach.

Es war daher auch für das dichterische

Streben der Zeit unmöglich, jenes Ziel festzuhalten, das Goethe und Schiller im Auge halten.

Ihr Streben war ein solches,

das bei allem Festhalten an den hohen idealen Aufgaben des Menschen doch

seiner Konsequenz

nach

eine

realistische

Weltanschauung in sich schloß, so wie auch unsere Gegenwart (wenn gleich noch in einer sehr einseitigen Weise) nach einer sol­ chen hinstrebt.

Allein eben indem sie so die rein gegenwärtige

und wahrhaft menschliche Ausbildung zu ihrem Ziele halten, griffen sie darin in dichterisch prophetischer Weise ihrer eigenen Zeit vor, da diese zu einer dem entsprechenden aus­ gebildeten und wissenschaftlichen Weltanschauung noch nicht fä­ hig war.

Auch das dichterische Streben der Zeit mußte also

168

Jean Paul und die romantische Schule.

zunächst wieder in die idealistische Weltanschauung zurück­ lenken, in eine solche, die (analog wie die Religion) einseitig vom subjektiven Bewußtsein und Gemüthe aus sich ihre Auffasiung und Anschauung der Dinge bildete.

Und indem so die

romantische Schule gegenüber von Goethe und Schiller eine ungebundenere Entfesselung der reinen Phantasiewelt brachte, glaubte sie damit einen Fortschritt zu thun, während sie in Wahrheit gegenüber von jenen beiden einen Rückschritt that.

Sie schloß sich zwar dabei an die zunächst nothwendige

Fortentwicklung des wissenschaftlichen und religiösen Bewußtseins jener Zeit an, und war insoweit auch eine Erweiterung und Bereicherung des poetischen Gesichtskreises.

Sie war insbeson­

dere eine dichterische Vorläuferin für die nun erst beginnende tiefere geschichtliche Würdigung der vorausgegangenen christ­ lichen Entwicklung, etwas, das für Goethe und Schiller noch ganz bei Seite lag.

Allein nichts desto weniger war die ro­

mantische Schule gegenüber von dem wahren Ziele aller Dich­ tung und Kultur, wie es anl reinsten von Goethe und Schiller erfaßt worden war, eine idealistische Abirrung, welche daher auch, (soweit sie nicht durch die Fremdherrschaft veranlaßt an die alten deutsch-patriotischen Erinnerungen anknüpfte), von den realen Aufgaben des deutschen Geistes großentheils abführte und recht in das bloß Literarische und Ideelle, diese Schwäche des deutschen Geistes, hinüberleitete. Dem allem zufolge hat nun das Streben der Romantiker vor Jean Paul insoweit etwas voraus, als es auf eine idealere Kunstform hingeht, während Jean Paul, immer auf die kleine und nüchterne Wirklichkeit hinblickend,

auch nach seiner ernst

idealen und sehnsüchtigen Seite es nie zu rein dichterischer Form bringt,

vielmehr gerade hier verhältnißmäßig am formlosesten

Jean Paul und die romantische Schule.

bleibt.

169

Allein andererseits hat Jean Paul gegenüber von den

Romantikern eben den gesunderen und kräftigeren realisti­ schen Sinn voraus, der als solcher auch den modernen Auf­ gaben und Anschauungen weit näher bleibt, vor allem in bür­ gerlicher und politischer Beziehung.

Insbesondere ist ja auch

der Roman, der sich in seinen phantastischen Elementen am meisten mit der romantischen Schule berührt, nämlich der Ti­ tan, in seiner Grundtendenz dem Geiste der romantischen Schule ganz sremd, knüpft weit mehr an die praktische Größe des klassischen Alterthums an.

In dem allem also steht Jean Paul

Goethes und Schillert Geiste ungleich näher als die Roman­ tiker; er steht weit mehr im Drange des modernen Strebens, wenn er auch bei weitem nicht so, wie jene beiden, das hohe und letzte Ziel dieses Strebens erfaßt hat.

Dagegen hat

die romantische Schule erst das Phantastische als eine objek­ tive Welt, als eine in diesem Sinn aufgefaßte Natur und Wirklichkeit, in die Dichtung eingeführt.

Jean Paul gibt also

zwar in der Hauptsache allerdings nur einen treuen Spiegel des damaligen deutschen Lebens nach seinen kontrastirenden beiden Seiten; aber er hat damit (bald mehr, bald weniger be­ wußt) doch auf die wirklichen und realen Aufgaben desselben hingewiesen.

Dagegen hat die romantische Schule erst,

statt

der Beziehung auf das rein und wahrhaft Menschliche, das vor allem der idealen Dichtung Goethe's und Schillert ihren In­ halt gab, vollends die einseitig poetische und literarische, von der Wirklichkeit ganz abgekehrte Richtung eingeführt; sie hat so eben jene idealistische Einseitigkeit und Schwäche vollen­ det, gegen welche Jean Paul's spätere Thätigkeit mit so bewuß­ tem Humor sich wendet. Anders verhält es sich nun freilich, wenn wir Jean Paul's

170

I. Paul's Gesammtverhältniß zu Goethe und Schiller.

Dichtung.mit der Goethe's und Schiller's zusammenstellen und hienach seine Gesammtbedeutung beurtheilen.

Auch hier

gehen wir davon aus, daß Jean Paul immer nur ein Spie­ gel des damaligen deutschen Lebens gewesen ist, und zwar das Klägliche und Unwürdige der äußeren Verhältnisse jener Zeit schon von Anfang zum Gegenstand der Satire und des Humors gemacht hat, allein den innerlichen Fehler, mit dem jene äußere Schwäche zusammenhieng, nämlich das Ideali­ stische der ganzen Denk- und Gefühlsweise, zunächst ganz theilte

und sogar in besonders einseitigem Maße darstellte.

Erst in der zweiten reiferen Hälfte seiner Laufbahn hat er dann auch diese innere idealistische Schwäche selbst mit Be­ wußtsein hervorgekehrt, und zum Gegenstand des Humors und der Satire gemacht, aber ohne über dieß Negative hinauszu­ kommen.

Dagegen haben Goethe und Schiller auf das ideale

Ziel hingewiesen, dem unsere deutsche Entwicklung zugehen soll, indem sie, wenn auch von ganz entgegengesetzten Ausgangspunk­ ten,'die wahrhafte Natur und das rein Menschliche anstrebten und zum Inhalt ihrer Dichtung machten.

So waren sie zwar

von den äußeren Verhältnissen ihrer eigenen Zeit verhältnißmäßig abgekehrt, und lebten in der Welt ihrer eigenen Schöp­ fungen und Anschauungen.

Allein indem diese nicht, wie bei

Jean Paul, eine jenseitige bloße Gefühls- und Phantasiewelt war, sondern auf die volle menschliche Erscheinung, auf eine höhere Erneuung dessen hingeht, was die antike Welt Wah­ res und Großes in sich schloß, so schließt Goethe's und Schiller's Dichtung, wenn auch gleich ' einem noch unentwickelten Kern, alle die großen Kulturziele, die der deutsche Geist noch vor sich hat, prophetisch in sich.

Das gilt z. B. schon von den An­

fangswerken Goethe's, dem Götz und Werther, wie noch von

I. Paul's Gesanimtverhältniß zu Goethe und Schiller.

171

denen seines Alters, den ihrem Ideengehalt nach so viel reife­ ren Wanderjahren, und dem prophetischen Schlüsse von Fauste Thätigkeit. Darin

also

steht Jean P.ml unbedingt nach.

auch in seinem Titan nicht, der noch

Niemals,

am meisten Annäherung

zeigt, hat er einfach und konsequent jenes Ziel wahrhafter Na­ tur und rein gegenwärtiger menschlicher Ausbildung zum Be­ wußtsein und zur Anschauung gebracht.

Immer bewegt er sich

im Kontraste der unmittelbaren niedrigen Wirklichkeit und ei­ nes darüber

hinausfliegenden

einseitig

idealen Gefühles

und

Strebens; und so hat er statt des rein Schonen, das Goethe's und Schiller's Ziel war, im Wesentlichen überall den ausein­ anderfallenden Gegensatz der beiden Elemente, die sich gegen­ seitig durchdringen sollten. Nichts desto weniger haben wir schon in Früherem gesehen, welche große Bedeutung Jean Paul auch Schiller noch bleibt

neben Goethe und

Ihr Streben, wenn auch in seinem Prin­

cipe das einzig wahre, mußte doch einseitig bleiben, weil es in noch unentwickelter und also bis zu einem gewissen Punkte unbewußter Weise alle tue verschiedenen und bestimmteren Auf­ gaben der rein menschlichen Durchbildung

in sich

schloß,

die

ganze rechtlich-bürgerliche und politische Umgestaltung, die wissen­ schaftliche Umbildung der ganzen Welt- und Naturanschauung, und erst als letzte Frucht von dem allem auch das wahrhaft Schöne in Leben und Kunst. und

Indem nun diese bestimmteren

durchgebildeteren Konsequenzen des

wahrhaft natürlichen

und menschlichen Strebens erst allmählich zum Bewußtsein kom­ men konnten und immer noch kommen müssen, indem z. B. bei Goethe die bürgerlichen und politischen Konsequenzen seiner An­ schauung erst spät, in den Wanderjahren und im Schlüsse des

172

I. Paul's Gesammtverhältniß zu Goethe und Schiller.

Faust, und auch hier als verhältnismäßig noch unentwickelte und sinnbildliche Ahnungen hervortreten, so mußte auch Goethes und Schillers Streben noch einseitig idealer Art bleiben, d. h. es war von den viel bestimmteren realen Aufgaben, die in ihm der Konsequenz nach verborgen lagen, noch abgekehrt. Es blieb also noch zu sehr ins subjektiv persönlichen und ästhe­ tisch beschaulichen Gebiete, wie z. B. Wilhelm Meister in den Lehrjahren noch ganz in diesem einseitig idealen Gebiete persön­ licher menschlich-harmonischer Ausbildung sich bewegt, und erst in den spät erschienenen Wanderjahren den Uebergang zu den bestimmteren bürgerlichen Berussausgaben nimmt. Also theils zufolge seines eigenen noch viel zu unentwickel­ ten Inhaltes, theils zufolge jener Abkehrung von der unmittel­ baren Wirklichkeit des damaligen Lebens, war das Streben Goethe's wie Schillert noch ein idealistisches.

Und hi eg egen

also hat nun Jean Paul seine ergänzende und tief eingrei­ fende Bedeutung.

Er allein ist der scharfe und treue Spiegel

dessen, was nicht nur das damalige deutsche Leben überhaupt, sondern was auch jenes höchste und geistigste Streben desselben seiner äußeren Wirklichkeit nach war, und worin seine innerste Schwäche bestand.

So ist er die wesentliche negative

Ergänzung zu dem positiven Ziele, das Goethe und Schiller vorschwebte.

Verniochte er auch die hohe und unterscheidende

Wahrheit ihres Strebens nicht vollkommen zu fassen, so fühlte er doch um so mehr den Mangel dieses Strebens gegenüber von der umgebenden Wirklichkeit.

So schlagend und eindringend,

wie an Walt in den Flegeljahren und andern Dichtungen Jean Paul's, ist dem deutschen Volke nirgends das unpraktisch Jüng­ lingshafte seiner früheren Entwicklung, die idealistische Schwäche und äußere Kläglichkeit jener Zeiten, vor Augen gestellt.

Nir-

173

Die dichterische Form Jean Paul's.

gends tritt ebenso das menschlich Rührende, in aller Beschränkt­ heit und Enge traulich Anheimelnde jenes Lebens vor Augen, zugleich die Wehmuth, wie der Humor, welchen der Rückblick auf diese Vergangenheit unseres Volkes erregt. Sicher ist allerdings, daß dieß, was Jean Paul uns gibt, sich in einer dichterisch viel vollendeteren und maßvolleren Form hätte geben lassen. Noch heute muß man jenes Wort wahr fin­ den, das Lichtenberg in seiner scharf nüchternen Weise über ihn ausgesprochen hat: „Jean Paul ist zuweilen kaum erträglich, und wird es noch weniger werden, wenn er nicht bald dahin gelangt, wo er ruhen muß.

Er würzt Alles mit Cayenneschem Pfeffer,

und es wird ihm begegnen, was ich einst S.. weißagte, er wird, um sich kalten Braten schmackhaft zu machen, geschmolze­ nes Blei oder glühende Kohlen dazu essen müssen.

Wenn er

wieder von vorne anfängt, wird er groß werden u. s. w."

Allein

für jene Zeit war nun einmal die Wahrheit, die in Jean Paul's Dichtung vertreten ist, in keiner andern als dieser dichterischen Form möglich.

Das einschneidende Gefühl der äußeren Kläg­

lichkeit und Schwäche mußte damals in einem ebenso einseitigen idealistischen Sehnen und Streben sein Gegengewicht suchen. Haftet doch, wie wir sahen, selbst der Satire und dem Humor Jean Paul's der idealistische Charakter an, wie viel mehr mußte dieß von der ernsten und gefühlvollen Seite seiner Dichtung gelten! Es hätte das überlegene Bewußtsein einer ungleich spä­ teren Zeit dazu gehört, um denselben Kontrast deutscher Zustände, den Jean Paul dargestellt hat, in einer dichterisch vollendeteren Form geben zu können.

Nicht eine angenommene Manier,

(wenn auch Manches mit der Zeit zu einer solchen wurde), son­ dern Jean Paul's ganze Denk- und Gefühlsweise ist es, die den letzten Grund all' seiner Fehler und Einseitigkeiten enthält.

174

Grund der idealistischen Entwicklung d. deutschen Geistes. Indessen je mehr wir den Kern von Jean Paul's ganzer

Anschauungsweise in jenem inneren Kontraste des deutschen Le­ bens erkannt haben, der aus seiner idealistischen und unprakti­ schen Schwäche hervorgieng, desto mehr drängt sich uns eine letzte Frage auf, ohne welche wir auch Jean Paul's geschichtliche Bedeutung nicht vollkommen

würdigen können, nämlich was

denn der letzte Grund jener Schwäche selbst war,

an

welcher wir Deutsche so lange gekrankt haben, und welche Jean Paul vor allem in so treffendem Bilde uns vor Augen gestellt hat? Denn erst indem wir dieß uns klar machen, erhält auch das Urtheil über Jean Paul und über seine ganze Bedeutung seine volle Bestimmtheit und Begründung.

Wir fassen die Ant­

wort auf jene Frage zunächst dahin zusammen: jene Schwäche lag nicht in der deutschen Natur als solcher, sondern in der noch unvollkommenen Form der christlichen Wahr heit selbst, in welcher sie die Grundlage ihrer Bildung überkommen hatte. Allerdings nämlich schloß schon das christlich-mittelalterliche Bewußtsein seiner entwickelteren Konsequenz nach die Berech­ tigung der vollen menschlich natürlichen, also auch bürgerlichen Ausbildung in sich.

In dieser menschlichen Gegenwart sollte

ja das volle göttliche Leben erschienen und offenbar geworden feilt; also erschien ebendamit auch die natürliche Ausbildung die­ ses gegenwärtigen menschlichen Daseins als eine im göttlichen Zwecke berechtigte,

und

machte sich

deßhalb gegen Ende des

Mittelalters immer mehr nach allen Seiten hin, in Wissenschaft, Kunst, Technik, wie in der Staatsordnung, geltend.

Allein die

religiöse Seite des Christenthums selbst, dieß allgemeine Cen­ trum der ganzen Entwicklung, war nun doch noch keineswegs so ausgebildet, daß sie dem frei natürlichen Bildungselemente, vor

Die bisherige Staats- und Gesellschaftsentwicklung.

175

allem dem bürgerlichen und nationalen, schon seine volle wür­ dige Gestalt hätte geben können.

Das sittliche Bewußtsein, statt

zur Vollständigkeit seiner bestimmten und mannigfachen mensch­ lichen Aufgaben entwickelt zu sein, war noch einseitig dogmatisch-religiöse Schale

in die

eingeschlossen, und noch unent­

wickelter war ebendeßhalb das Bewußtsein der vollen und natürlichen Rechtsbedingungen.

Das religiöse Centrum

also, (oder das jenseitig Göttliche), und wiederum die verschie­ denen Seiten der frei natürlichen Ausbildung als dieser äu­ ßeren Peripherie, sielen noch einseitig auseinander, und diese letztere mußte sich ebendeßhalb in einseitig natür­ licher, selbstisch materieller und weltlicher Art aus­ bilden.

Insbesondere konnte die Ausbildung der einzelnen Na­

tionen, wie der besonderen Gesellschaftstheile, zunächst nur das unmittelbar natürliche und geschichtlich

gewordene Sonder-

däse in und Sonderrecht dieser einzelnen Theile zur immer breiteren Entwicklung bringen.

Denn das allgemeine Centrum

selbst war ja noch nicht zum Bewußtsein der wahren und vollen Rechtsbedingungen entwickelt, durch die allein jene natürliche Ausbildung der einzelnen Theile ihre wahre menschliche Weihe und Schönheit hätte erhalten können.

Diejenigen Völker, welche

zufolge ihrer Natur und geschichtlichen Verhältnisse ein eigen­ thümlich besonderes Nationalstreben in sich trugen, bildeten sich zwar in sich selbst immer mehr zu einer eigenthümlichen starken Staatseinheit aus, (während diese im Mittelalter noch in ihren Anfängen war); allein im Großen und Ganzen traten sie ebendamit immermehr in scharf partikularistischer Weise auseinander, und ihre nationale Bildungsform erhielt immermehr das Uebergewicht über das gemeinsame religiöse Centrum, während dieses in der Höhezeit des Mittelalters die Völker noch in einer ge-

176

Die bisherige Staats- und Gesellschaftsentwicklung.

meinsamen Einheit, durch die Macht der Kirche und durch die analoge Idee des Kaiserthums, verbunden hatte.

Die einzelnen

Theile der StaatsgeseÜschaft aber verloren zwar im Interesse der gemeinsamen sichernden Staatsordnung jene politische Selb­ ständigkeit, durch welche sie früher den Staatszusammenhang zerrissen hatten; allein die Ausbildung der Staatseinheit hatte für sie doch nur die Bedeutung, daß sie innerhalb derselben alle um so gleichmäßiger ihr Sonder dasein und ihre Pri­ vatinteressen ausbilden konnten.

Darum knüpfte sich auch die

Ausbildung der gleichmäßigen Staatseinheit nicht an die beson­ deren Bestandtheile der bürgerlichen Gesellschaft, sondern eben weil diese zunächst

nur ihren

besonderen Rechtszwecken

lebten, so koncentrirte sich die Staatsgewalt im Absolutismus und Mechanismus der fürstlichen Regierung.

Ja selbst der

Durchbruch des frei natürlichen Rechtsprincips ;Ut der großen französischen Revolution änderte diese Form des Staatsmechanismus nicht, da auch dieses Rechtsprincip doch nur das freie Eigenrecht Aller, ihr Anrecht auf freien Erwerb u. s. w. zum Inhalte hatte, auch jetzt also die bürgerliche Gesellschaft zunächst nur ihren Privatzwecken und Sonderinteresseu hin­ gegeben blieb, und ihren Charakter als bloße Erwerbsgesell­ schaft nur noch gleichmäßiger und vollständiger ausbildete. Auf diese Weise mußte auch das konstitutionelle Recht der Staats­ bürger auf Mitregierung doch immer gegen ihr gewöhnliches und sonstiges Rechtsleben etwas Fremdes und Extraordinäres bleiben, und jener unfreie Charakter der Staatsregierung, wornach sie den Staatsbürgern als bloßen Privatpersonen in der Form eines äußerlichen Mechanismus gegenüber­ steht, mußte auch hier sich forLerhalten; er bilvete

sich nur

noch gleichmäßiger aus zum büreaukratischen Staate.

Charakter der deutschen Geschichte.

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Dieser Gang der neueren Gesammtentwicklung nun hat sich in der deutschen Geschichte nur vollständiger vollzogen, als anderwärts. Sie unterscheidet sich von der anderer Natio­ nen dadurch, daß in ihr das frei natürliche Bildungselement nicht die einseitige Form eines besondern Nationalgeistes an­ genommen und nicht das allgemeine Centrum der neueren Bildung überwuchert und zurückgedrängt hat, sondern beide Seiten der Entwicklung, das allgemeine Centrum nicht we­ niger als die besondern Gebiete der uatürlichen Ausbildung, fortwährend ihr Recht behalten haben. So wie die deutsche Nation schon im Mittelalter den universellen Kern christlicher Gesittung am lebendigsten erfaßte, und deßhalb auch zum Trä­ ger des Kaiserthums und seiner universellen Idee wurde, so hielt sie auch später fortwährend das religiöse Centrum selbst und seine allgemeinen Aufgaben, seine kirchliche wie seine wissen­ schaftliche Weiterentwicklung u. s. w., als den beherrschenden Inhalt ihrer Gesammtgeschichte fest, und machte von dieser Entwicklung die eigene nationale Geschichte abhängig. Darum wurde vor allem dem religiösen Kampfe, der mit der Reforma­ tion ausbrach, die Einheit und Macht des Reiches vollends ge­ opfert. Aber freilich nicht bloß dieß Festhalten an den allge­ meinen Aufgaben christlicher Bildung, sondern ebenso auch die einseitige Form, welche die frei natürliche Ausbildung, vor allem also die bürgerliche, annehmen mußte, wurde der Grund der deutschen Zerrissenheit. Denn neben jenen aus dem all­ gemeinen Centrum entspringenden Aufgaben mußte doch, wie bei den übrigen Nationen, auch die unmittelbare Ausbildung des eigenen natürlichen Sonderdaseins einhergehen. Und da nun das deutsche Leben als Ganzes betrachtet keinen solchen unmittelbar natürlichen Nationalgeist hatte, wie andere Planck, 3