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German Pages 272 [274] Year 2016
JbUG 18 (2015)
Jahrbuch für Universitäts geschichte Wissenschaftsgeschichte
Franz Steiner Verlag
Herausgeber: Rüdiger vom Bruch und Martin Kintzinger
Jahrbuch für Universitätsgeschichte Band 18
JAHRBUCH FÜR UNIVERSITÄTSGESCHICHTE Schwerpunkt (S. 35–247): Transnationale Universitätsgeschichte Gastherausgeber: Heike Bungert und Charlotte Lerg
JUG 18 (2015)
FRANZ STEINER VERLAG
jahrbuch für universitätsgeschichte Herausgeben von Rüdiger vom Bruch und Martin Kintzinger Beirat: Robert Anderson, Michael Borgolte, Marian Füssel, Notker Hammerstein, Akira Hayashima, Walter Höflechner, Konrad H. Jarausch, Dieter Langewiesche, Charles E. McClelland, Sylvia Paletschek, Hilde De Rider-Symoens und Rainer C. Schwinges Redaktion: Prof. Dr. Martin Kintzinger / Stefan Hynek Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster E-Mail: [email protected], E-Mail: [email protected] www.steiner-verlag.de/jug
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 1435-1358 ISBN 978-3-515-11613-8 (Print) ISBN 978-3-515-11614-5 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Martin Kintzinger Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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AUFSÄTZE Bodo V. Hechelhammer Eine akademische Karriere im Auftrag der Geheimdienste. Der universitäre Werdegang des KGB-Spions Heinz Felfe: vom Studenten des SD und MI 6 zum Professor für das MfS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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THEMENSCHWERPUNKT Heike Bungert und Charlotte Lerg Transnationale Universitätsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Emily J. Levine Nützlichkeit, Kultur und die Universität aus transatlantischer Perspektive . . . . .
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Christine von Oertzen Universitärer Nationalismus versus akademische Verständigung. Zur Wirkungsmacht weiblicher Netzwerke, 1918–1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Christoph Ellßel Universitäten und imperiale Strategie im Kalten Krieg. Der Colombo-Plan und die transnationale Universität in der Auseinandersetzung um „Hearts and Minds“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Heather Ellis Motivation, Identity and Collaboration in the Scholarly Networks of the British Empire, 1830–1930. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Tomás Irish National Survival and International Expansion. French Universities and the First World War . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Helke Rausch Akademische Vernetzung als politische Intervention in Europa. Internationalismus-Strategien US-amerikanischer Stiftungen in den 1920er Jahren . . . . . . . . . 163
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Inhaltsverzeichnis
Ana Belén García Timón Bildung nach deutscher Art. Die Lehrerseminare in Chile im 19. Jahrhundert 187 Veronika Keller Die Wurzeln US-amerikanischer Musikausbildung in Deutschland am Beispiel des Leipziger Konservatoriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Anja Werner US-amerikanische Medizinstudenten an den Universitäten in Halle und Leipzig, 1843 bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
BERICHTE UND REZENSIONEN Walter Höflechner Die Geschichte eines schwierigen Faches. Aus Anlass der Vollendung von Wolfgang Brezinkas Geschichte der „Pädagogik in Österreich“ als Element einer Wissenschaftsgeschichte Österreichs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Michael Jung und Michele Barricelli Technische Hochschulen in der Zeit des Nationalsozialismus. Konferenz an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover 11./12. Mai 2015 . . . . . . . . . . . . 261
ANHANG Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
EDITORIAL Martin Kintzinger
Mit dem vorliegenden Band 18 wird ein zweiter Band des Jahrbuchs für Universitätsgeschichte im Jahr 2016 vorgelegt. Für das folgende Jahr avisieren wir ebenfalls die Herausgabe von zwei Bänden, sodass der Rückstand in den Veröffentlichungen mit Band 20 ausgeglichen sein wird. Ab Band 21, der 2018 erscheinen wird, soll dann wieder nur noch ein Band innerhalb des Kalenderjahres publiziert werden, dessen Zählung er trägt. Der THEMENSCHWERPUNKT im vorliegenden Band nimmt mit der transnationalen Perspektive einen neuen und aktuellen Diskurs in den historischen Wissenschaften auf, der das Jahrbuch als Forum für Methodendiskussionen zur Universitätsund Wissenschaftsgeschichte profiliert. Auch der eigenständige AUFSATZ zur Verbindung von universitärer Karriere und geheimdienstlicher Tätigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert behandelt ein selten untersuchtes Thema im Grenzbereich zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft und von besonderer gesellschaftlicher Brisanz. Unter BERICHTE UND REZENSIONEN erscheinen ein Literatur- und ein Tagungsbericht, die über aktuelle Felder der universitätshistorischen Forschungsarbeit informieren. Das Jahrbuch soll auch künftig neben Beiträgen zur Grundlagenforschung aktuelle Forschungstendenzen abbilden und Forum des kritischen, interdisziplinären Dialogs auf dem Feld der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte sein. Die Herausgeber sind, wie stets, dem Verlag für die konstruktive Zusammenarbeit und Stefan Hynek (Münster) für die sorgfältige redaktionelle Betreuung des Bandes dankbar.
AUFSÄTZE EINE AKADEMISCHE KARRIERE IM AUFTRAG DER GEHEIMDIENSTE Der universitäre Werdegang des KGB-Spions Heinz Felfe: vom Studenten des SD und MI 6 zum Professor für das MfS* Bodo V. Hechelhammer
Heinz Felfe (1918–2008) zählt zu den bekanntesten Spionen der Nachkriegsgeschichte.1 Am 6. November 1961 wurde der Mitarbeiter des deutschen Auslandsnachrichtendienstes, des Bundesnachrichtendienstes (BND), in dessen Zentrale in Pullach verhaftet. Der frühere Kriminalkommissar, SS-Obersturmführer und Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD) im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), hatte seit 1951 unerkannt den BND beziehungsweise dessen organisatorischen Vorgänger, die „Organisation Gehlen“, für den sowjetischen Geheimdienst Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti (KGB) ausspioniert. Pikanterweise war Felfe in seiner letzten BND-Funktion für die gegen die Sowjetunion gerichtete Spionageabwehr und Gegenspionage zuständig gewesen: Der Verrat von
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Folgende Abkürzungen werden verwendet: BND = Bundesnachrichtendienst; BRD = Bundesrepublik Deutschland; BStU = Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik; DDR = Deutsche Demokratische Republik; GVS = Geheime Verschlusssache; HA = Hauptabteilung; KGB = Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti; KPD = Kommunistische Partei Deutschlands; MdI = Ministerium des Inneren; MfS = Ministerium für Staatssicherheit; NS = Nationalsozialismus, nationalsozialistisch; NSDAP = Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; MI 6 = Military Intelligence, Section 6; MVVO = Mitarbeitervergütungsverordnung (Hochschulen); OibE = Offizier im besonderen Einsatz; RSHA = Reichssicherheitshauptamt; SD = Sicherheitsdienst des Reichsführers SS; SED = Sozialistische Einheitspartei Deutschlands; SS = Schutzstaffel der NSDAP; V-Mann = Verbindungs-, Vertrauensmann. Heinz Felfe hat über seine Tätigkeit für den KGB im BND ein autobiographisches Buch geschrieben, welches 1986 zuerst in der Bundesrepublik und zwei Jahre später in der DDR veröffentlicht wurde: Heinz Felfe, Im Dienst des Gegners. 10 Jahre Moskaus Mann im BND, Hamburg/Zürich 1986. Vgl. zu Heinz Felfe u. a.: Helmut Müller-Enbergs, Art. „Felfe, Heinz“, in: Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, hg. v. Helmut MüllerEnbergs, Bd. 1, Berlin 5 2010, S. 314; Susanne Meinl und Bodo Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach. Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND, Berlin 2014, S. 218–221; Norman J. W. Goda, The Gehlen Organization and the Heinz Felfe Case: The SD, the KGB, and West German Counterintelligence, in: David A. Messenger und Katrin Paehler (Hg.), A Nazi past: recasting German Identity in postwar Europe, Lexington 2015, S. 271–294. Voraussichtlich 2018 wird eine umfassende Biographie des Autors über Heinz Felfe erscheinen.
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Bodo V. Hechelhammer
Heinz Felfe war der größte Spionagefall im BND.2 1963 wurde er wegen Landesverrats zu vierzehn Jahren Haft verurteilt, doch schon im Februar 1969 gegen westliche Spione in die DDR ausgetauscht.3 Ost-Berlin wurde seine politische Heimat und die dortige Humboldt-Universität seine neue berufliche Wirkungsstätte. Im Auftrag des sowjetischen Geheimdienstes verhalf das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) dem „Kundschafter des Friedens“, entsprechend dem euphemistischen DDR-Terminus für einen östlichen Agenten, im Eiltempo zu einer akademischen Vorzeigekarriere mit sozialistischem Antlitz. In kürzester Zeit wurde Heinz Felfe, früher überzeugter Nationalsozialist und Antikommunist, vom westdeutschen Geheimdienstmitarbeiter ohne Hochschulabschluss zum promovierten „Genossen Professor“ aufgebaut. Unmittelbar nach seinem Hochschuldiplom wurde ihm zur Promotion und anschließend zu einer außerordentlichen Professur in Kriminalistik an der Humboldt-Universität verholfen. Die Position des Extraordinarius sollte er bis kurz nach der deutschen Wiedervereinigung bis 1991 bekleiden. Felfe hatte einige Semester an deutschen Universitäten studiert. So war er 1941/42 beziehungsweise von 1947 bis 1950 als ordentlicher Student für Staats- und Rechtswissenschaften an den Friedrich Wilhelms-Universitäten in Berlin beziehungsweise Bonn immatrikuliert gewesen. Einen Studienabschluss konnte er gleichwohl nicht erlangen, da er sowohl vor dem Zweiten Weltkrieg als auch danach an den Universitäten vorrangig nachrichtendienstlich gewirkt hatte: als Spitzel für den SD in Berlin und für den britischen Geheimdienst, die Military Intelligence Section 6 (MI 6), in Bonn. So waren symptomatisch für Heinz Felfe auch seine Universitätszeiten zeitlebens mit einem Geheimdienst verwoben. Die bisherigen Studien über die BND-Geschichte, in denen auch auf den Fall Felfe kursorisch Bezug genommen wurde, haben Heinz Felfe als Doppelagenten für BND und KGB vor der Folie seiner NS-Vergangenheit stets repliziert. Der folgende Beitrag betrachtet seine Vita aus dem Blickwinkel eines anderen Transformationsprozesses und skizziert seinen rund 30 Jahre andauernden akademischen Werdegang. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den MfS-Planungen, an deren Ende die Etablierung Felfes als sozialistischer Professor an der Humboldt-Universität stehen sollte, und analysiert die geheimdienstlichen Hintergründe sowie persönlichen Motivationen.
SD-ZUTRÄGER: HEINZ FELFE ALS NATIONALSOZIALISTISCHER STUDENT Heinz Felfe kam am 18. März 1918 in Dresden zur Welt und wuchs in einer kleinbürgerlichen Beamtenfamilie auf. Seine Persönlichkeitsentwicklung wurde maßgeblich 2
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Vgl. zum Verratsfall den Schadensbericht der Central Intelligence Agency (CIA): CIA, KGB Exploitation of Heinz Felfe. Successfull KGB Penetration of a Western Intelligence Service, 1978, Washington, National Archives and Records Administration (NARA), RG 236, Entry ZZ-19392, Felfe, Heinz, RC Box 34 und 35. Vgl. zum Thema Agentenaustausch von Heinz Felfe: Dokumente zur Deutschlandpolitik. „Besondere Bemühungen“ der Bundesregierung, Bd. 1: 1962 bis 1969. Häftlingsfreikauf, Familienzusammenführung, Agentenaustausch, bearb. von Elke-Ursel Hammer, München 2012, S. 287–695.
Eine akademische Karriere im Auftrag der Geheimdienste
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von seinem Vater Johann Felfe (1863–1945) geprägt. Der Kriminalbeamte war bildungshungrig, bibliophil und strebte für seinen einzigen Sohn einen gymnasialen Bildungsabschluss an. Doch dieser war in der Schule schlichtweg faul. Auch der Besuch der reformpädagogischen Dürerschule in Dresden änderte daran wenig.4 So verließ Heinz Felfe mit sechzehn Jahren die Schule und begann 1934 eine dreijährige Lehre als Feinmechaniker. Doch die nationalsozialistische Bewegung eröffnete ihm die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs auch ohne Abitur und Studium. Bereits 1931 engagierte sich Heinz Felfe im Alter von dreizehn Jahren im NS-Schülerbund, kam ein Jahr später zur Hitlerjugend (HJ), trat 1936 auf eigenen Wunsch in den Motorsturm der Allgemeinen-SS (SS-Nr. 286.288) und in die NSDAP (Mitglieds-Nr. 3.710.348) ein. Aufgrund seines nationalsozialistischen Engagements erlangte er nach Abschluss seiner Lehre im September 1937 eine Verwendung als hauptamtlicher Funktionär bei der NSDAP-Gauleitung Sachsen: er wurde Registerführer und stieg zum Geschäftsstellenleiter im Gaugericht in Dresden auf.5 Durch die Zeit am Parteigericht wurde, angetrieben von seinem Wunsch sozial aufzusteigen und gesellschaftliche Anerkennung zu finden, sein persönlicher StatusEhrgeiz geweckt und sein elitäres Denken verfestigt. Ab Mitte der dreißiger Jahre, so Felfe selbst, hätte er das Interesse an geistiger Arbeit und Leistung entwickelt und sei zu der Überzeugung gekommen, dass der juristische Beruf besonders für ihn geeignet sei. Nach Heinz Felfe galt eine juristische Ausbildung als Schlüssel zu vielen beruflichen Möglichkeiten: Richter, Staatsanwalt, Bürgermeister, Diplomat, Syndikus, Rechtsanwalt. Alle mussten Jura studiert haben.6 Dafür benötigte er ein abgeschlossenes Studium und musste zuvor seine Reifeprüfung ablegt haben. Heinz Felfe hatte auf die richtige Karte gesetzt. Sein breites Engagement in den NS-Organisationen, speziell seine Tätigkeit am Dresdner Gaugericht, sollte sich für ihn bezahlt machen, denn er wurde für das 1934 eingerichtete Langemarck-Studium vorgeschlagen.7 Dieses Studium ermöglichte kampfbewährten Nationalsozialisten, die über keine abgeschlossene höhere Schulbildung verfügten, sich im Rahmen einer NS-Sonderausbildung für ein Hochschulstudium zu qualifizieren. Felfe qualifizierte sich für einen Lehrgangsplatz im November 1939, konnte diesen jedoch aufgrund seiner Teilnahme als Wehrmachtssoldat am Polen-Feldzug nicht wahrnehmen. Jedoch erkrankte er in Polen an Pneumonie und Pleuritis, zog sich also eine schwere Lungenund Rippenfellentzündung zu. So wurde Heinz Felfe mit 21 Jahren aus gesundheitlichen Gründen zunächst aus der Wehrmacht entlassen und Ende Februar 1940 in
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Vgl. allgemein Dresden, Hauptstaatsarchiv, 11.125, Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts, Nr. 12881/240: Dürerschule, Bd. 1: 1922–1926; Felfe, Im Dienst des Gegners (Anm. 1), S. 12; Dorothea Dietrich, Die Dresdner Dürerschule – eine bemerkenswerte pädagogische Einrichtung des höheren Schulwesens, in: Beiträge zur Sächsischen Schulgeschichte, Dresden 1987, S. 44–50. Vgl. Übersicht zu Heinz Felfe, Pullach, Archiv des BND (BND-Archiv), 5.157-OT, Personalakte Heinz Felfe, fol. 27 f. Vgl. Felfe, Im Dienst des Gegners (Anm. 1), S. 21. Laut Felfes Schreiben an den Reichsminister der Justiz vom 31. März und seinem Lebenslauf vom 7. Juli 1941 wurde er vom Vorsitzenden des Gaugerichts in Dresden 1939 zum Studienbeginn im November 1939 vorgeschlagen.
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Bodo V. Hechelhammer
die Ersatzreserve II überstellt. Felfe nutzte die Chance, um seinen Berufswunsch anzugehen. Er nahm seinen Lehrgangsplatz im Langemarck-Studium wahr, für das er sich ein Jahr zuvor bereits qualifiziert hatte.8 Was Heinz Felfe in all seinen späteren biographischen Angaben verschwieg: Vor Aufnahme des Studiums begann er für den SD zu arbeiten. Am 31. Juli 1940 wurde er für diesen verpflichtet, er wurde also ein Verbindungs- bzw. Vertrauensmann (V-Mann) des SS-Geheimdienstes.9 Heinz Felfe beobachtete als SD-Zuträger nun seine Kommilitonen und den Lehrkörper der Ausbildung. Im Frühjahr 1941 schloss Heinz Felfe erfolgreich das Langemarck-Studium mit der Gesamtnote „gut“ ab. Er entschloss sich als „Anwärter für den leitenden Dienst“ der Sicherheitspolizei und im SD im RSHA zu bewerben und zog von Dresden nach Berlin. Im Rahmen der Laufbahnausbildung gehörten auch begleitende Studien der Rechts- und Staatswissenschaften dazu. Seit 1940 galt im Sinne des RSHA und des Reichserziehungsministeriums die Einigung, dass die Ausbildung durch die Einbindung der Universität als vollwertiges Universitätsstudium anzuerkennen sei.10 Im April 1941 immatrikulierte sich Heinz Felfe als ordentlicher Student für den Fachbereich der Rechts- und Staatswissenschaften an der Berliner FriedrichWilhelms-Universität.11 Insgesamt drei Semester, vom Sommersemester 1941 bis 1942, sollte Heinz Felfe die Berliner Universität besuchen. Für seinen Lebensunterhalt erhielt er unter anderem ein monatliches Stipendium von 180 Reichsmark, vollen Gebührenersatz bei der Einschreibung sowie Büchergeld.12 In einem Interview von 1986 gab er an, dass er, inzwischen Professor für Kriminalistik an der HumboldtUniversität, sein Büro genau in jenen Räumen gehabt habe, in denen er früher als Student verkehrt sei.13 Neben seinen Rechtsfächern besuchte er nach eigenen Angaben unter anderem auch Veranstaltungen über Kriminologie, Gerichtsmedizin und Psychologie. Er schilderte, dass er als Angehöriger des RSHA verpflichtend an von SS-Juristen geleiteten Sondervorlesungen und Mittwochs-Kolloquien habe teilnehmen und Pflichtsport, besonders Reiten und Fechten, belegen müssen. Felfe schreibt in seiner Biographie: An jene Zeit denke ich gern zurück. Frei von jedem äußeren und inneren Zwang bot das Leben als Student in Berlin unendlich viele Möglichkeiten, sich zu entfalten und seinen Interessen nachzugehen.14
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Vgl. Schreiben Brückner an Uhlig, Langemarck-Studium, Lehrgang Dresden, im sächsischen Ministerium für Volksbildung vom 6. März 1941, Dresden, Hauptstaatsarchiv, Dresden, 11.125, Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts Nr. 15778, fol. 14. Vgl. Übersicht zu Heinz Felfe, Pullach, BND-Archiv, 5.157-OT, Personalakte Heinz Felfe, fol. 29; Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerkes am Beispiel Sachsens, München 2008, S. 72. Vgl. Jens Banach, Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936– 1945, 3., durchgesehene und erweiterte Auflage, Paderborn et al. 2002, S. 319. Vgl. Übersicht Lebenslauf Heinz Felfe, Pullach, BND-Archiv, 5.157-OT, Personalakte Heinz Felfe, fol. 2. Vgl. Felfe Manuskript 1977, Berlin, Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU), MfS, HA II, 41.308, fol. 24. Vgl. Interview von Heinz Felfe vom 18. Mai 1986, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.142, fol. 19. Felfe Manuskript 1977, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.308, fol. 24.
Eine akademische Karriere im Auftrag der Geheimdienste
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Allerdings besuchte er nur wenige Vorlesungen wirklich intensiv, da das von der Ausbildungsabteilung des RSHA vorgeschriebene und überwachte Ausbildungsprogramm Lehrgänge sowie Perioden informatorischer Dienstleistungen (im Falle von Heinz Felfe an Berliner und Dresdner Sicherheitspolizeistellen) umfasste, die ein ernsthaftes Studium vergleichbar mit regulären Studenten ausschlossen. Was er dabei vor allem unterschlug, ist, dass der eigentliche Zweck dieser universitären Pflichtveranstaltungen darin lag, alle Studenten, die für den SD an der Universität tätig waren, zusammenzufassen und weiter zu schulen. Aufgrund des weiteren Kriegsverlaufs wurde Anfang 1942 das Ausbildungsprogramm der Anwärter des leitenden Dienstes eingestellt. Heinz Felfe musste seine Ausbildung und sein Studium der Rechtswissenschaften mit Wirkung zum 28. Februar 1942 abbrechen.15 Er setzte seine kriminalpolizeiliche Ausbildung, unter Anrechnung seiner bisherigen Ausbildungszeiten, in Form des Besuchs des neunmonatigen 32. Kriminalkommissar-Anwärterlehrgangs für den gehobenen Kriminalpolizeidienst an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg fort. Heinz Felfe wurde Kriminalkommissar.
„AGENT PROVOCATEUR“ DES MI 6: HEINZ FELFE IN DER LEGENDE DES KOMMUNISTISCHEN STUDENTEN Ende 1943 wurde Heinz Felfe als Kriminalkommissar zum RSHA in das Amt VI, zuständig für den Auslandsnachrichtendienst, versetzt und am 20. April 1944 zum SSObersturmführer befördert.16 Anfang 1945 kam er zum Bereich des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (BdS) für die besetzten niederländischen Gebiete in die SD-Außenstelle nach Enschede. In den Niederlanden geriet er nach Kriegsende in kanadische beziehungsweise britische Kriegsgefangenschaft und wurde von britischen Geheimdienstmitarbeitern über Monate hinweg verhört. Er gab umfänglich Informationen über seine Tätigkeiten im SD und im RSHA preis. Dezidiert tat er sein Interesse kund, in einer neu aufzustellenden deutschen Polizei nur allzu gerne Verwendung zu finden.17 Zugleich bejahte er rückhaltlos eine perspektivische Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst.18 Nach seiner Freilassung aus britischer Kriegsgefangenschaft Anfang November 1946 in Münster verblieb Felfe in der britischen Besatzungszone und zog nach Rhöndorf nahe Bonn. In seine geliebte Heimatstadt Dresden, in die sowjetische Besatzungszone (SBZ), wollte er als ehemaliger SS-Obersturmführer und SD-Mitarbeiter unter keinen Umständen zurückkehren: Seine Angst vor Verfolgung, erneuter Inhaftierung
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Vgl. Übersicht Lebenslauf Heinz Felfe, Pullach, BND-Archiv, 5.157-OT, Personalakte Heinz Felfe, fol. 29. 16 Vgl. Meinl/Hechelhammer, Geheimobjekt Pullach (Anm. 1), S. 219. 17 Vgl. Lebenslauf Felfe, Pullach, BND-Archiv 5.157-OT, Personalakte Heinz Felfe, fol. 130; Felfe, Im Dienst des Gegners (Anm. 1), S. 50. 18 Vgl. Bericht Heinz Felfe über Helmut Proebsting vom 14. Oktober 1948, Pullach, BND-Archiv, 100.225-OT, fol. 166.
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Bodo V. Hechelhammer
und Repressalien durch die sowjetische Militärregierung und deren Geheimdienst war berechtigterweise zu groß.19 Nach seiner Freilassung bemühte sich Heinz Felfe verzweifelt um Einstellung bei einer Polizeidienststelle in der britischen Besatzungszone. Aber all seine Anstrengungen blieben auch nach Monaten erfolglos. So nahm er wieder Kontakt zum britischen Geheimdienst in der Besatzungszone auf und bat um Unterstützung.20 Der Leiter der Intelligence Section in Bonn vermittelte ihn aber nicht zur deutschen Kriminalpolizei, sondern bot ihm eine nachrichtendienstliche Tätigkeit als V-Mann an. Felfe nahm aus Mangel an beruflichen Alternativen und angesichts seiner finanziellen Notsituation an.21 Ursprünglich als Übergangslösung gedacht, dauerte seine Tätigkeit für den britischen Dienst fast drei Jahre: vom Tage seiner Anmeldung als nachrichtendienstliche Quelle am 4. Juli 1947 bis zum Ende seiner Verwendung am 14. April 1950.22 Bei der nachrichtendienstlichen Aufklärung griffen die Briten in ihrer Besatzungszone weitgehend auf deutsche V-Männer zurück.23 Die dortige britische Militärregierung kontrollierte den Transformationsprozess der ehemaligen nationalsozialistischen Gesellschaft zur Demokratie. Ein Schwerpunkt bildete dabei die Bildungspolitik.24 Seit Anfang 1947 war die Verantwortung für Bildung an Universitäten mehrheitlich an die deutschen Behörden übergegangen, weshalb das Informationsinteresse und der Kontrollbedarf der Briten über die politischen Aktivitäten an Universitäten entsprechend groß waren.25 Da Heinz Felfe schon vor dem Krieg einige Semester Rechtswissenschaften an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin studiert hatte, konnte er unter der Studenten-Legende überzeugend auftreten. Sein Auftrag: Er sollte die mit kommunistischen Ideen sympathisierenden Studenten an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn erfassen.26 19 20
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Vgl. Lebenslauf von Heinz Felfe, Pullach, BND-Archiv, 5.157-OT, Personalakte Heinz Felfe, fol. 131. Vgl. Übersicht Bekanntenkreis in der britischen Besatzungszone von Heinz Felfe vom 4. März 1949, Pullach, BND-Archiv, 100.225-OT, fol. 198; Übersicht der Lebensdaten von Heinz Felfe vom 3. Juli 1961, Pullach, BND-Archiv, 5.157-OT, Personalakte Heinz Felfe, fol. 90. Über die Tätigkeit von Heinz Felfe ür den britischen Geheimdienst vgl. Bodo Hechelhammer, „On His Majesty’s Secret Service“: Heinz Felfe und seine nachrichtendienstliche Tätigkeit für den britischen Geheimdienst gegen die KPD (1947–1950), in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2016, S. 75–96. Vgl. Übersicht der Lebensdaten von Heinz Felfe vom 3. Juli 1961, Pullach, BND-Archiv, 5.157OT, fol. 90. Vgl. Lutz Niethammer (Hg.), Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Geheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik, Wuppertal 1976, S. 115; Wolfgang Buschfort, Geheime Hüter der Verfassung. Von der Düsseldorfer Informationsstelle zum ersten Verfassungsschutz der Bundesrepublik (1947–1961), Paderborn et al. 2004, S. 28 f. u. S. 50 f. Vgl. Christian George, Neubeginn in Trümmern. Die Universität Bonn von ihrer Zerstörung bis zur Absetzung des ersten Nachkriegsrektors Heinrich M. Konen, in: Thomas Becker (Hg.), Zwischen Diktatur und Neubeginn: Die Universität Bonn im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, S. 223–244, hier S. 232. Vgl. Report 808 HQ CCG (BE) to HQ Military Government Land North-Rhine-Westphalia Dusseldorf vom 29. Dezember 1947, London, National Archives (NA), FO 1013/2210, (unpaginiert). Vgl. Walter Markov, Zwiegespräche mit dem Jahrhundert, Berlin/Weimar 1989, S. 129; Christian George, Studieren in Ruinen: Die Studenten der Universität Bonn, Göttingen 2010, S. 277.
Eine akademische Karriere im Auftrag der Geheimdienste
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Im Wintersemester 1947/48 immatrikulierte sich Heinz Felfe als Student der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Bonn beziehungsweise in Bad Godesberg.27 Zur Festigung seiner Legende als kommunistischer Student trat er im Frühjahr 1948 auch in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) in Bonn ein.28 Da sein Studium und Parteieintritt ausschließlich zum Aufbau seiner Legende als kommunistischer Student im britischen Auftrag erfolgt waren, stellte er seinen Auftraggebern die damit verbundenen Kosten auch monatlich als Spesen in Rechnung: zum Beispiel für Oktober 1948 die Universitätsgebühr in Höhe von 27 DM beziehungsweise den Parteibeitrag von 1 DM.29 Heinz Felfe äußerte sich später öffentlich zu seinem kommunistischen Engagement während seiner Bonner Studentenzeit: Wie die Studenten überall, so stritten auch wir uns leidenschaftlich über Politik und bildeten entsprechend unseren Ansichten verschiedene Interessensgruppen. Ich fühlte mich jenen zugehörig, die ehrlich gewillt waren, Lehren aus der bitteren Vergangenheit zu ziehen.30
Die Wahrheit hinter Felfes Politikinteresse war jedoch eine andere. Um die einzelnen mit dem Kommunismus sympathisierenden Studenten in Bonn leichter beobachten zu können, gründete er eine kommunistische Studentengruppierung, die als Sammelbecken politisch Gleichgesinnter dienen sollte. Als im Juni 1948 der Marxistische Studentenzirkel ins Leben gerufen wurde, zählte Heinz Felfe neben Sigurd Binski (1921–1993) und Robert Klesper (* 1924) zum Gründerausschuss.31 Laut Gründungssatzung wollte sich die Gruppe bewusst nicht als parteipolitisch eng begreifen, sondern sich kritisch mit dem Marxismus als Idee auseinandersetzen.32 Am 16. Juni 1948 stellte die Studentengruppe beim Rektor der Universität einen Antrag auf Zulassung, der von der britischen Militärregierung – auf Anraten Heinz Felfes – sowie von der Universitätsleitung am 14. Dezember 1948 bewilligt wurde.33 Felfe gehörte dem Vorstand des Zirkels als dritter Vorsitzender an – neben dem ersten Vorsitzenden Robert Klesper sowie dessen Stellvertreterin Alma Jakobi-Brohmann. Zugleich übte er die Funktionen des Schriftführers und Kassenwartes aus, was für seinen nachrichtendienstlichen Auftrag zur Informationsbeschaffung äußerst vorteil-
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Vgl. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Personal- und Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1947, Bonn 1947, S. 50 f. In der Personalakte des Ministeriums für Hoch- und Fachhochschulwesen in der DDR ist Heinz Felfes KPD-Parteizugehörigkeit sogar ein Jahr früher datiert: von 1947 bis 1950. Vgl. Personalbogen Heinz Felfe, Berlin, Berlin, Bundesarchiv (BArch), DR/3/B/195, Ministerium für Hochund Fachschulwesen – Berufsakten, fol. 4. Vgl. Kostenabrechnung vom 15. Oktober 1948, 9. Juni u. 8. Juli 1949 von Heinz Felfe, Pullach, BND-Archiv, 100.225-OT, fol. 158, 160 u. 224. Felfe, Im Dienst des Gegners (Anm. 1), S. 149. Vgl. Schreiben Gründerausschuss des Marxistischen Studentenzirkels an den Rektor der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität vom 16. Juni 1948, Bonn, Archiv der Universität Bonn, UV 69, 428, (unpaginiert). Bericht des Universitätsrichters Prof. von Weber vom 21. Juli 1948, Bonn, Archiv der Universität Bonn, UV 69, 387, (unpaginiert). Vgl. Schreiben der Universitätsverwaltung an Robert Klesper vom 15. Dezember 1948, Bonn, Archiv der Universität Bonn, UV 69, 387, (unpaginiert).
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haft war.34 Dadurch gelangte Felfe problemlos an Interna über den Marxistischen Studentenzirkel, dessen geplante Aktionen, einzelne Mitglieder, Gäste sowie Beziehungen zur KPD. In der DDR berichtete Heinz Felfe später voller Stolz von seinem damaligen kommunistischen Freundeskreis aus Bonner Universitätszeiten. Exemplarisch nannte er die Professoren Karl Günter Bönninger (1925–2000) und Heinz Engelbert (* 1925), hatten doch beide später Lehrstühle in Leipzig beziehungsweise Ost-Berlin inne.35 Was er dabei verschwieg: Beide Personen wurden von ihm zur Bonner Zeit nachrichtendienstlich erfasst.36 Generell informierte Heinz Felfe regelmäßig seine britischen Auftraggeber über sämtliche relevanten Kommilitonen und Dozenten, die er näher kennenlernte.37 Immer wieder diente die kommunistische Studentenvereinigung als Ausgangspunkt seiner Informationsbeschaffung. So berichtete Heinz Felfe am 27. Juni und 18. Juli 1949 über Veranstaltungen des Studentenzirkels, führte Teilnehmer und Gastredner auf.38 Jedoch unterrichtete er den britischen Dienst nicht nur deskriptiv. Er analysierte auch die Erfolgsaussichten der Bemühungen der Studentenvereinigung und kam zu dem Ergebnis, dass kein anwesender Student durch diese Veranstaltung für den Kommunismus gewonnen wurde.39 Zu Beginn des Wintersemesters 1948/49 wurde der Name des Marxistischen Studentenzirkels in „Studentenzirkel zum Studium des Marxismus“ umgeändert.40 Dadurch sollte eine parteipolitisch offenere Ausrichtung stärker zur Geltung gebracht werden, um einen größeren Interessentenkreis innerhalb der Studentenschaft anzusprechen. Zu diesem Zeitpunkt zählte der kommunistische Zirkel neben dem Vorstand um Klesper, Jakobi-Brohmann und Felfe nur noch vier weitere aktive Mitglieder. Das Grundproblem des Studentenzirkels, die geringe Mitgliedschaft und das fehlende politische Engagement für die kommunistische Sache innerhalb der Studentenschaft, blieb bestehen: Die Veranstaltungen der Studentengruppe waren schlichtweg sehr schlecht besucht, wie Felfe am 17. Dezember 1948 meldete.41 Anfang November 1948 fand daher eine Mitgliederbereinigung unzuverlässiger und inaktiver Mitglieder statt. Detailliert übermittelte 34 35
36 37
38 39 40 41
Vgl. Brief von Heinz Felfe an Mr. Cutter vom 22. Oktober 1948, Pullach, BND-Archiv, 100.225OT, fol. 175. Vgl. Felfe, Im Dienst des Gegners (Anm. 1), S. 149; Ralph Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999, S. 344; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4: 1945–1990, München 2012, S. 596. Vgl. Bericht von Heinz Felfe über Karl Günter Bönninger vom 8. u. 17. Dezember 1948, Pullach, BND-Archiv, 100.225-OT, fol. 187 u. 194r . Vgl. Eintrag Studentenzirkel Studenten des Marxismus, Bonn, Archiv der Universität Bonn, UV 69–428, Kartei Studentischer Vereinigungen A–Z (gelöschte Vereinigungen und zurückgezogene Anträge), (unpaginiert). Vgl. Wolfgang Horn, Kulturpolitik in Düsseldorf: Situation und Neubeginn nach 1945, Düsseldorf 1981, S. 146. Vgl. Bericht von Heinz Felfe an Mr. Cutter vom 18. Juli 1949, Pullach, BND-Archiv, 100.225-OT, fol. 226. Vgl. Schreiben von Heinz Felfe an Mr. Cutter vom 25. November 1948, Pullach, BND-Archiv, 100.225-OT, fol. 180. Vgl. Bericht von Heinz Felfe an Mr. Cutter vom 17. Dezember 1948, Pullach, BND-Archiv, 100.225-OT, fol. 193.
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Felfe die Mitgliedernamen und dazugehörige Anschriften.42 Zur politischen Aktivierung und ideologischen Schulung der Studentengruppe fanden nun alle zwei Wochen immer dienstags um 19:15 Uhr bei der KPD-Parteileitung in der Meckenheimer Straße in Bonn Schulungs- und Diskussionsabende statt, an denen Felfe im britischen Auftrag teilnahm. Aber auch mit Hilfe dieser speziellen Gesprächsrunden konnten keine neuen Mitglieder innerhalb der Studentenschaft gewonnen werden. So konstatierte Felfe im Wintersemester 1949/50 die Ineffektivität des Studentenzirkels, dessen Basis in der Studentenschaft nie sonderlich groß war, und kam zu dem Ergebnis, dass dieser bisher über einen embryonalen Zustand nicht hinausgekommen sei.43 Im Sommersemester 1950, am 25. Juni, wurde der „Studentenzirkel zum Studium des Marxismus“ schließlich aufgelöst, weil er über zu wenige Mitglieder verfügte.44 Zu diesem Zeitpunkt hatte Felfe sein Studium an der Bonner Universität allerdings bereits aufgegeben. Aufgrund zweier Kontaktaufnahmen mit ehemaligen Dresdner SD-Kameraden, die beide dringend verdächtigt wurden, mit anderen Geheimdiensten in Verbindung zu stehen, wurde Heinz Felfe 1950 schließlich als V-Mann des britischen Geheimdienstes nicht weiter in Anspruch genommen. Seine Loyalität wurde von britischer Seite ernsthaft bezweifelt.
INTERMEZZO: FELFE ALS KGB-SPION IN DER „ORGANISATION GEHLEN“ UND IM BND Heinz Felfe, der 1949/50 zeitgleich auch als V-Mann für die sogenannte „Informationsstelle“ in Düsseldorf, der Vorgängerorganisation des „Landesamtes für Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen“ (LfV NRW) gearbeitet hatte, befragte von Juli 1950 bis Ende September 1951 für das „Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen“ in Flüchtlingslagern bestimmte Flüchtlingsgruppen aus der DDR, insbesondere Angehörige der Volkspolizei. Mit Beendigung seines Vertrages befand er sich erneut in einer ernsten finanziellen Zwangslage, da er für seine inzwischen vierköpfige Familie sorgen musste. Eine neue Perspektive ergab sich zu dieser Zeit zufällig über seinen ehemaligen Dresdner SD-Kameraden Hans Clemens (1902–1976). Dieser war Ende 1949 aus italienischer Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückgekehrt und über seine Ehefrau im März 1950 vom sowjetischen Geheimdienst angeworben worden. Zu diesem Zeitpunkt versuchte Felfe sogar noch von diesem Wissen zu profitieren und meldete dem britischen Geheimdienst sowie dem Bundesinnenministerium im April 1950 den Anwerbungsversuch des KGB, was dort aber nicht weiterverfolgt wurde. Aus Mangel an konkreten Alternativen, wohl auch
42
Vgl. Schreiben von Heinz Felfe an Mr. Cutter vom 25. November 1948, Pullach, BND-Archiv, 100.225-OT, fol. 181. 43 Vgl. Bericht von Heinz Felfe über Unterredung mit Peter Meter vom 26. Oktober 1949, Pullach, BND-Archiv, 100.225-OT, fol. 151. 44 Vgl. Eintrag Studentenzirkel Studenten des Marxismus, Bonn, Archiv der Universität Bonn, UV 69–428, Kartei Studentischer Vereinigungen A–Z (gelöschte Vereinigungen und zurückgezogene Anträge), (unpaginiert); George, Studieren in Ruinen (Anm. 24), S. 310.
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im anfänglichen Irrglauben, den sowjetischen Geheimdienst zu seinen Gunsten nutzen zu können, ging auch Heinz Felfe im September 1951 auf das Angebot einer Zusammenarbeit ein. Clemens und Felfe erhielten den Auftrag, in die neu gegründete „Organisation Gehlen“ einzudringen. Wie Clemens verschaffte sich auch Felfe Zugang zum Kontaktmann der Organisation. Im November 1951 fing er an, unter dem Decknamen (DN) Hans Friesen für die „Organisation Gehlen“ im Bereich der Spionageabwehr und Gegenspionage in einer Außenstelle in Karlsruhe zu arbeiten. 1953 wurde er in die Zentrale nach Pullach versetzt. Bis 1961 konnten beide unerkannt als sowjetische Spione arbeiten. Obwohl zahlreiche Verdachtsmomente gegen Felfe aufkamen, wurden er und Clemens erst durch einen sowjetischen Überläufer endgültig als Verräter identifiziert. Am 6. November 1961 wurde Heinz Felfe in Pullach verhaftet und am 22. Juli 1963 vom Bundesgerichtshof zu vierzehn Jahren Haft verurteilt. Doch anders als Clemens sollte Felfe auch nach seiner Enttarnung seinen sowjetischen Auftraggebern gegenüber treu bleiben. Er sollte für seine Standhaftigkeit und Loyalität belohnt werden. Wie eingangs erwähnt, wurde er schon am 14. Februar 1969 gegen 21 politische Häftlinge in die DDR ausgetauscht, nachdem zuvor Moskau erheblichen politischen Druck ausgeübt und die DDR zeitweise mit der Einstellung des Häftlingsaustausches gedroht hatte.
LOHN FÜR DEN STANDHAFTEN „KUNDSCHAFTER DES FRIEDENS“: DIE KONSTRUKTION EINES AKADEMIKERS Nach seinem Austausch in die DDR musste für Heinz Felfe eine neue Existenz in Ostdeutschland aufgebaut werden. Auf persönliche Weisung des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke (1907–2000), und in enger Abstimmung mit der KGB-Zentrale in Moskau, war innerhalb des MfS die Abteilung 2 der Hauptabteilung II (HA II/2), der Bereich zur Durchführung offensiver Maßnahmen im Operationsgebiet (Bundesrepublik Deutschland), besonders gegen den BND, von nun an für die Betreuung des neuen „Genossen Heinz Felfe“ zuständig. Die HA II/2 erhielt den komplexen Auftrag, Felfes BND-Kenntnisse abzuschöpfen, perspektivisch zu nutzen und zugleich Maßnahmen einzuleiten, um die Lebensgrundlage des neuen DDR-Bürgers Felfe unter Spionageabwehraspekten zu sichern und ihn in das gesellschaftliche Leben der DDR zu integrieren.45 Durch seine notwendige gesellschaftliche Eingliederung als Staatsbürger der DDR sollte auch eine propagandistisch nutzbare, positive Ausstrahlung auf aktive „Kundschafter des Friedens“ und potentielle künftige Agenten im „Operationsgebiet“ erreicht werden: Heinz Felfe als leuchtendes Beispiel. Für den früheren nationalsozialistischen Kriminalkommissar und hauptamtlichen BND-Mitarbeiter musste eine neue, mit der sozialistischen Ideologie kompatible Existenz entworfen werden. Heinz Felfe wurde über das MfS reichlich mit materiellen und finanziellen Privilegien ausgestattet, erhielt einen BMW, später einen Mercedes als Fahrzeug 45
Vgl. Schreiben der HA II vom 19. November 1976, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.303, fol. 137– 144.
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und ein Haus in Berlin-Weißensee. Selbstbewusst formulierte er für sich daher auch potentielle berufliche Einsatzfelder in der DDR, darunter auch wissenschaftlichadministrative Bereiche des Bibliotheks-, Archiv- oder Dokumentationswesens.46 Die erste konkrete MfS-Planung für ihn sah dann aber vor, ihn im Bereich des DDR-Außenhandels beruflich einzusetzen. Dieses scheiterte allerdings nicht zuletzt am Widerstand des Wirtschaftsministeriums. So musste ein neues Verwendungskonzept für ihn konstruiert werden. Nach der HA II/2 sollte Felfe mit einer maximalen propagandistischen Außenwirkung im „Klassenkampf“ gegen die Bundesrepublik Deutschland und ihre Sicherheitsorgane eingesetzt werden.47 Auf höchster geheimdienstlicher Ebene wurde im Mai 1970 zwischen KGB und MfS vereinbart, dass der frühere Kriminalkommissar eine Universitätskarriere im Fachbereich Kriminalistik einschlagen solle. Im ersten Schritt musste er den akademischen Grad eines Diplomkriminalisten erhalten. Da Heinz Felfe aber über kein abgeschlossenes Studium verfügte, wurde ihm der notwendige akademische Titel kurzerhand durch das MfS verliehen. Diese Verleihungspraxis akademischer Weihen durch „Handauflegung“ wurde mit einer Mischung von anerkennungswürdigen vergangenen Taten Felfes als „Kundschafter des Friedens“ und seinen zukünftig zu erwartenden akademischen Leistungen begründet. Er hatte, so die Begründung für die Verleihung des akademischen Grades im Wortlaut [. . .] an hervorragender Stelle im Lager des Feindes außerordentliche Verdienste im Kampf um Frieden und Sozialismus erworben [und] durch seine praktische operative Arbeit, Wissen und Fähigkeiten unter Beweis gestellt, die von einem akademisch gebildeten Kundschafter der sozialistischen Sicherheitsorgane gefordert [werden. Zudem hat er] zu verschiedenen Zeitpunkten, insgesamt 9 Semester, ein staats- und rechtswissenschaftliches Studium betrieben und Prüfungen abgelegt sowie eine kriminalistische Ausbildung absolviert [. . .].48
Die Praxiserfahrung als Spion wurde dem Diplomstudiengang faktisch gleichgesetzt. Was man unter der in Zukunft zu erwartenden Leistung Felfes verstand, wurde explizit benannt. Denn ausdrücklich wurde seine Diplomwürde mit seiner operativen Arbeit in der Zentrale des BND und seines noch zu schreibenden Buches begründet.49 Darunter wurde nicht etwa seine künftige Dissertationsschrift verstanden, sondern vielmehr seine Memoiren über seine Zeit als BND-Mitarbeiter. Allerdings sollte es noch rund sechzehn Jahren dauern, bis Heinz Felfe tatsächlich mit Moskaus Hilfe seine Lebenserinnerungen fertigstellte und publizierte. Dezidiert gab Moskau vor, dass Heinz Felfe als „leuchtendes Beispiel“ eines standhaften „Kundschafters des Friedens“ zu nutzen sei, weshalb dieser zuerst mit einzelnen Vorträgen an der MfS-eigenen Hochschule, der Juristischen Hochschule
46 47
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Vgl. Schreiben von Heinz Felfe (undatiert von 1969), Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.305, fol. 302 u. 306. Vgl. Hannah Labrenz-Weiß, Die Hauptabteilung II. (Spionageabwehr), Berlin 1998, S. 41–52; Hubertus Knabe, West-Arbeit des MfS. Das Zusammenspiel von „Aufklärung“ und „Abwehr“, Berlin 1999, S. 196 f.; Roland Wiedmann, Die Diensteinheiten des MfS 1950–1989. Eine organisatorische Übersicht, Berlin 2008, S. 254–263. Hinweise zur Begründung der Diplomübergabe an den Kundschafter Felfe, Heinz (undatiert), Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.305, fol. 275. Vermerk HA II zu Heinz Felfe vom 22. Mai 1970, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 230.
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Potsdam (JHS) in Potsdam-Eiche betraut wurde.50 Bis zum Sommer waren die KGB-Vorgaben umgesetzt.51 Am 15. Juli 1970 erwarb Felfe als „Externer“, als nicht immatrikulierter Student, an der Humboldt-Universität im Fachbereich für Kriminalistik den akademischen Grad des Diplom-Kriminalisten: mit der Bestnote „sehr gut“.52 Die Verleihung seiner Diplomwürde fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem feierlichen Rahmen an der Universität statt. Heinz Felfe hatte es geschafft und einen Hochschulabschluss erlangt. Symptomatisch für seinen gesamten Lebensverlauf: mit Hilfe eines Geheimdienstes.
AN DER SEKTION KRIMINALISTIK: HEINZ FELFE WIRD ALS WISSENSCHAFTLICHER MITARBEITER SOZIALISIERT Der Besitz des akademischen Grades von einer Universität oder Hochschule der DDR war Voraussetzung, wenn man sich im Rahmen der in der DDR üblichen Promotion (A), also die Erlangung eines Doktorgrades eines Wissenschaftszweiges, wissenschaftlich weiterqualifizieren wollte.53 Der frisch gebackene Diplomkriminalist Heinz Felfe sollte ohne Zeitverlust anfangen, an der Humboldt-Universität zu arbeiten und zu promovieren. Hier wurde er mit Prof. Dr. Hans-Ehrenfried Stelzer (1932–2010), dem Direktor der dortigen Sektion Kriminalistik, zusammengeführt.54 Dieser hatte vom MfS explizit den Auftrag erhalten, Felfe als Akademiker zu integrieren und ihm dazu eine wissenschaftliche Stelle in seiner Sektion einzurichten.55 50 51
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54
55
Ebd.; vgl. allgemein Günter Förster, Die Juristische Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Sozialstruktur der Promovenden, Münster/Hamburg/London 2001. Vgl. Günter Förster, Bibliographie der Diplomarbeiten und Abschlussarbeiten an der Hochschule des MfS, Berlin 1998, S. 10 f.; Dieter Voigt (Hg.), Die Gesellschaft der DDR. Untersuchungen zu ausgewählten Bereichen, Berlin 1984, S. 55. Vgl. Personalbogen Heinz Felfe, BArch, DR/3/B/195, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Berufsakten-, fol. 9 u. 13. Vgl. Dieter Voigt, Zur Fragwürdigkeit akademischer Grade und Titel in der DDR. Der Primat der kommunistischen Ideologie von der Wissenschaft. Eine Analyse von Doktorarbeiten und Habilitationsschriften der Jahre 1950 bis 1990, S. 236 u. 243. 1952 wurde das kriminalistische Institut an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität gegründet, woraus sich 1968 unter Zusammenlegung weiterer Institute unter Stelzers Leitung die Sektion Kriminalistik herausgebildet hatte. Von 1961 bis 1990 blieb Stelzer Direktor des Instituts, welches in einem vierjährigen Studiengang insgesamt über 3 000 Diplomkriminalisten ausbilden sollte. Vgl. Rainer Leonhardt und Frank-Rainer Schurich, Die Kriminalistik an der Berliner Universität. Aufstieg und Ende eines Lehrfachs, Heidelberg 1994, S. 103; Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Humboldt-Universität zu Berlin und das Ministerium für Staatssicherheit, in: Geschichte der Universität Unter den Linden. Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945–2010, Konrad H. Jarausch, Matthias Middell und Annette Vogt (Hg.), Berlin 2012, S. 437–555, hier S. 537 f.; Rolf Ackermann, KriminalistikWissenschaft-Gesellschaft, in: Heiko Artkämper und Horst Clages (Hg.), Kriminalistik gestern – heute – morgen. Festschrift zum 10-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik, Stuttgart 2013, S. 21–48, hier S. 29; Frank-Rainer Schurich und Ingo Wirth (Hg.), Die Kriminalistik an den Universitäten der DDR, Berlin 2015, S. 57–82. Vgl. Vorlage HA II/2 zur gegenwärtigen Situation in der Betreuung des Felfe, Heinz vom 21. September 1970, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 267.
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Die Sektion Kriminalistik war ein besonderer Fachbereich an der HumboldtUniversität mit Forschung und Ausbildung von Diplomkriminalisten für drei Bedarfsträger: das Ministerium des Inneren (MdI), die Zollverwaltung und vor allem für das MfS. Da die Sektion die wissenschaftliche Ausbildung in Kriminalistik für die MfS-Mitarbeiter gewährleistete, wurde diese vom MfS inhaltlich koordiniert.56 Die Steuerung erfolgte hierbei über den Sektionsleiter Stelzer. Dieser war 1958 in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) eingetreten und arbeitete ab 1. Januar 1962 auch als MfS-Offizier im besonderen Einsatz (OibE), zuletzt im Rang eines Obersts.57 Stelzer war die prägende Figur der „sozialistischen Kriminalistik“, Mitglied des Wissenschaftlichen Rates für Kriminalistik und wurde daher als der „Erste Kriminologe“ der DDR angesehen. Mehrfach wurde er für seine Arbeit vom MfS ausgezeichnet und umgangssprachlich „Professor Mord“ genannt. MfS-intern wurde der Kriminalistik-Bereich als „Sektion K“ geführt, als eigenständige Untergliederung des Bereichs Schulung der Hauptabteilung „Kader und Schulung“.58 In den achtziger Jahren standen über die Hälfte der Studenten auf der Gehaltsliste des MfS, welches prozentual den stärksten Studenten-Anteil im Vergleich mit dem MdI und dem Zoll einbrachte.59 Sowohl die Gründung als auch die weitere Entwicklung des Fachbereichs waren stets an den Bedürfnissen des MfS ausgerichtet. Die Universitätsverwaltung hatte de facto keinen Zugriff auf den Bereich, was sich darin ausdrückte, dass sie weder auf die internen Abläufe, noch auf die Auswahl der Studenten oder, entscheidend im Falle der späteren Berufung von Heinz Felfe zum Extraordinarius, auf die Hochschullehrer Einfluss hatte.60 Im Sommer 1970 begann Heinz Felfe seinen vorgezeichneten akademischen Karriereweg zunächst als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sektion Kriminalistik.61 Er konnte zwar problemlos zum Mitarbeiter ernannt werden, blieb jedoch ein Fremdkörper an der Humboldt-Universität. Er hatte sich nicht über Jahre hinweg parteikonform als Student für diese Position qualifiziert und hochgedient. Auch waren ihm weder die allgemeinen universitären Gepflogenheiten, noch die speziellen politischen und geheimdienstlichen Beziehungsgeflechte der Sektion Kriminalistik 56
57 58
59 60
61
Vgl. Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Berlin 1996, S. 38; Roland Wiedmann, Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989 (MfS-Handbuch), Berlin 2010, S. 83. Vgl. Berlin, BStU, Diszi, 6227/92, fol. 3. Die Zusammenarbeit von Prof. Dr. Stelzer mit dem MfS begann 1961 im Kontext der Ausbildung von MfS-Angehörigen auf dem Gebiet der Kriminalistik. Januar 1962 erfolgte seine Einstellung als OibE vorgenommen. In der Sektion Kriminalistik wurden zwischen 1962 und 1975 rund 380 MfS-Angehörige ausgebildet. Vgl. Berlin, BStU, ZA, KS 19716/90, Bd. 1, fol. 54–56, Bd. 2, fol. 183–189; Berlin, BStU, ZA, Diszi 7707/92; Diszi 5278/92; Diszi 6227/92; ZMA 3590. Vgl. Rainer Eckert, Die Berliner Humboldt-Universität und das Ministerium für Staatssicherheit, in: Deutschland Archiv 7 (1993), S. 770–785, hier S. 778. Vgl. Konrad H. Jarausch, Matthias Middell und Annette Vogt, Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, Berlin 2012, S. 539. Vgl. Ebd. Trotz Abstimmungen mit der Universitätsleitung, der SED-Kreisleitung, dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen (MHF), bestimmten die Personalentscheidungen in letzter Konsequenz das MfS. Vgl. Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Berufsakten-, Personalbogen Heinz Felfe, Berlin, BArch, DR/3/B/195, fol. 27.
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vertraut. So musste der ehemalige westdeutsche BND-Mitarbeiter, so schnell wie möglich an die institutionellen Gepflogenheiten herangeführt werden. Es galt, im wahrsten Sinne des Wortes, ihn im und durch den MfS-Studiengang der Kriminalistik fachlich und als DDR-Bürger zu „sozialisieren“. Heinz Felfe wurde wie ein Studienanfänger an die Hand genommen, musste etwa an der Eröffnungsveranstaltung des 1. Direktstudienlehrgangs der Sektion am 22. September 1970 teilnehmen und im Anschluss daran die Lehrveranstaltungen von Prof. Dr. Stelzer besuchen. Er war Zeit seines Lebens Mitarbeiter eines Geheimdienstes beziehungsweise Spion gewesen und hatte davon die letzten sechs Jahre im Gefängnis verbracht. Er galt zwar als äußerst wissbegierig, beflissen und intelligent, war jedoch weder Akademiker noch Teamplayer. Vor allem kannte er die spezifischen Arbeits-, Denk- und Lehrweisen einer ostdeutschen Universität nicht. Auch dem Sektionsleiter waren diese Defizite bewusst und er musste darüber sehr verunsichert gewesen sein. So versicherte sich Stelzer vorsorglich nochmals bei der HA II/2, ob Felfe tatsächlich in die wissenschaftliche Arbeit der Humboldt-Universität einbezogen werden solle. Doch es blieb bei der von Moskau vorgegebenen Entscheidung. Und so wurde der zweiundfünfzigjährige Felfe zu Beginn der ersten Lehrveranstaltung im Wintersemester 1970/71 in der Sektion Kriminalistik den Studenten als neuer freier wissenschaftlicher Mitarbeiter offiziell vorgestellt. Knapp zwei Monate später, am 16. Dezember 1970, sollte schließlich die begonnene Umsetzung des Konzeptes zur gesellschaftlichen Eingliederung Heinz Felfes in die DDR auch dem Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, vorgelegt und von diesem für gut befunden werden. Heinz Felfe, der Spion und Praktiker aus der Bundesrepublik Deutschland, sollte in der DDR nun zum sozialistischen Wissenschaftler und Theoretiker transformiert werden. Der akademische Karriereweg Heinz Felfes wurde in enger Abstimmung mit dem Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen an der Humboldt-Universität Berlin vollzogen. Denn als nächster Schritt hatte seine Promotion an der HumboldtUniversität zu erfolgen, um ihn anschließend zum außerordentlichen Professor ernennen zu können.62 In Abstimmung mit dem sowjetischen Geheimdienst, mit dem Leiter der HA II, Generalmajor Werner Grünert (1924–2012), und mit Prof. Dr. Stelzer wurde entschieden, dass sämtliche Schritte und Maßnahmen in Bezug auf die berufliche Förderung und Weiterbildung von Heinz Felfe an der Humboldt-Universität ausschließlich durch den Sektionsleiter persönlich durchzuführen seien.63 Dieser war nicht nur für die Umsetzung der wissenschaftlichen Förderung Felfes verantwortlich, sondern auch für dessen Integrierung in die universitäre Umgebung zum Zwecke der weiteren Eingliederung in die Gesellschaft der DDR. Allerdings wurde ihm gegenüber sogleich kritisiert, dass Felfes Status als freier Mitarbeiter für diesen nicht repräsentativ genug und nicht standesgemäß sei. So wurde der Rektor der HumboldtUniversität Karl-Heinz Wirzberger (1925–1976) durch den stellvertretenden Minister für Hoch- und Fachschulwesen, Prof. Dr. Gregor Schirmer (* 1932), angewiesen, Heinz Felfe nun hauptamtlich zu beschäftigen.64 62 63 64
Vgl. Schreiben der HA II vom 30. März 1972, Berlin, BStU, MfS, HA II, 34.363, fol. 96. Ebd. Vgl. Bericht über Dr. Heinz Felfe vom 23. Mai 1972, Berlin, BStU, MfS HA II, 41.304, fol. 241.
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PROMOTION UND SPION: DIE HELFENDEN HÄNDE DES GEHEIMDIENSTES Auch mit den klaren Vorgaben des MfS blieb das grundsätzliche Problem bestehen, einen aufgrund fehlender wissenschaftlicher und ideologischer Vorausbildungen nicht promovierbaren Kandidaten in kürzester Zeit zur Promotion zu führen. Daher berieten noch im Dezember 1970 Prof. Dr. Stelzer und die Direktorin für Kader und Qualifizierung, Dr. Irene Wilde (1900–1986), die für die Personalführung der Universität zuständig war, organisatorische Schritte zur Realisierung der akademischen Karriere Heinz Felfes.65 Um das Projekt umsetzten zu können wurde Felfe zunächst formal Mitglied einer Promotionsgruppe. Genau betrachtet, wurde die „Gruppe zur Erforschung der imperialistischen Kriminalistik“ eigens für ihn eingerichtet.66 Diese hatte zunächst den Sinn, ihn zur Promotion zu führen. Im nächsten Schritt musste Heinz Felfe angemessen beschäftigt werden und die Stellung eines Oberassistenten (mit Zulagen) einnehmen. Der Rektor der HumboldtUniversität, Wirzberger, schrieb an den stellvertretenden Minister für Hoch- und Fachschulwesen Schirmer am 1. Dezember 1970: Sehr geehrter Herr Minister. Auf Grund ihrer Anregung habe ich durch den Direktor der Sektion Kriminalistik und den Direktor für Kader und Qualifizierung einen hauptamtlichen Einsatz für Heinz Felfe prüfen lassen. Herr Felfe sollte ab 1. 1. 1971 an der Sektion Kriminalistik als wissenschaftlicher Oberassistent eingesetzt werden. Die Sektion bearbeitet die volle Einbeziehung des Herrn Felfe in den Lehr-, Ausbildungs- und Erziehungsprozess vor.- Heinz Felfe wird in Gemeinschaftsarbeit mit jüngeren Wissenschaftlern durch die Sektion Kriminalistik zur Promotion geführt werden. In Anbetracht der Ihnen bekannten außerordentlich hohen Verdienste von Herrn Felfe bitte ich Sie, Herr Minister, den 10. Steigerungssatz der Vergütungsgruppe III der MVVO zu bestätigen.67
Das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen bestätigte am 18. Dezember 1970 den Ernennungsvorschlag zur Oberassistenz mit Steigerungssatz.68 Am 1. Januar 1971 wurde Heinz Felfe zum wissenschaftlichen Oberassistenten ernannt.69 In dieser Funktion erhielt er nun ein monatliches Bruttogehalt von 1 800 Mark.70 Aber auch diese universitäre Stellung sollte nur vorübergehend sein. Der Status eines Oberassistenten wurde für Felfe auf Dauer nicht als angemessen erachtet, zumal diese Position 65
66 67
68 69 70
Ebd.; vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Humboldt-Universität und das Ministerium für Staatssicherheit, In: Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 3: Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie - die Humboldt-Universität zu Berlin 1945–2010, Berlin 2012, S. 437–553, hier S. 544; Thomas Schulz, „Sozialistische Wissenschaft“: Die Berliner Humboldt-Universität (1960–1975), Köln et al. 2010, S. 213. Vgl. Vorlage HA II/2 zur gegenwärtigen Situation in der Betreuung des Felfe, Heinz vom 21. September 1970, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 267. Schreiben Prof. Dr. Schirmer an den Minister für Hoch- und Fachschulwesen vom 1. Dezember 1970, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 244; Schreiben vom 1. Dezember 1970, Berlin, Archiv Humboldt-Universität, Personalakte Heinz Felfe, (unpaginiert). Ebd. Vgl. Berlin, BArch, DR/3/B/195, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Berufsakten-, Personalbogen Heinz Felfe, fol. 5. Vgl. Schreiben Leiter HA II an Generalleutnant Beater vom 13. Januar 1971, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.305, fol. 249.
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eher eine Durchgangsstation für jüngere Wissenschaftler darstellte.71 Und Heinz Felfe befand sich zum Zeitpunkt der Berufung zum Oberassistenten bereits im 53. Lebensjahr. Laut seinem Personalbogen an der Humboldt-Universität sollte er im Rahmen seiner wissenschaftlichen Beschäftigung bis Ende 1971 auch Lehrverpflichtungen übernehmen, Vorlesungen im Umfang von 30 Stunden pro Studienjahr im Fach Kriminalgeschichte sowie 30 Stunden Lehrveranstaltungen im Fach Spezielle Kriminalistik abhalten.72 Die Humboldt-Universität diente Heinz Felfe aber nicht allein als legale Tarnung und offizielle Erwerbstätigkeit in der DDR. Seine ganzheitliche Einbindung in die Sektion Kriminalistik war berechtigterweise als eine Art von betreuter und bewachter Integrationsmaßnahme angedacht. Denn in den knapp zwei Jahren, in denen sich Heinz Felfe nun schon in der DDR aufhielt, hatte er nicht gerade ein vorbildliches sozialistisches Verhalten im Sinne des MfS an den Tag gelegt. So hatte seine Teilnahme an den Lehrveranstaltungen der Humboldt-Universität und seine Einbindung in die Sektion Kriminalistik zugleich auch die integrative Aufgabe, [. . .] das Zugehörigkeitsgefühl zu den Organen der DDR und seine Eingliederung in das gesellschaftliche Leben weiter zu fördern, und damit sein nach wie vor ausgeprägtes und vorhandene Interesse an den Westverbindungen weiter zurückzudrängen.73
In einer Ministervorlage für Erich Mielke zum Sachstand der gesellschaftlichen Eingliederung in die DDR von Heinz Felfe, treten diese sozio-politischen Motive deutlich hervor, wobei seine Eingliederung in die Sektion Kriminalistik besonders positiv betont wird. Demnach liefe alles nach Plan: Heinz Felfe würde bis Ende 1971 seine Promotion fertig gestellt haben, um danach Professor werden zu können. Explizit wurde die befürwortende Auffassung Felfes zu seiner akademischen Karriere an der Humboldt-Universität wiedergegeben: Diese berufliche Perspektive entspricht den Vorstellungen und Bedürfnissen Felfes, zum anderen brachte er zum Ausdruck, dass er die fachliche und persönliche Atmosphäre in diesem Kollektiv als sehr angenehm empfindet.74
Doch die vorgezeichnete Karriere diente noch einem weiteren geheimdienstlichen Zweck. Im Vordergrund des KGB-Interesses an dem Fall Felfe stand, dass dieser so schnell wie möglich seine Memoiren, seine Erinnerungen an die Zeit als BND-Mitarbeiter, zum Zwecke der „Klassenkampf-Propaganda“ schreiben sollte. Dieses war eine elementare sowjetische Grundforderung. Doch das Projekt, Heinz Felfe in kürzester Zeit zu einer Dissertation zu führen, konnte erst in der HA II konkret in Angriff genommen werden, nachdem dieser auch praktisch, das heißt wissenschaftlich-publizistisch, unterstützt wurde. Denn in der HA II war man sich
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Vgl. Bericht über Dr. Heinz Felfe vom 23. Mai 1972, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 241. Vgl. Personalbogen Heinz Felfe, Berlin, BArch, DR/3/B/195, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Berufsakten-, fol. 15. Vorlage HA II/2 zur gegenwärtigen Situation in der Betreuung des Felfe, Heinz vom 21. September 1970, Berlin, BStU MfS, HA II, 41.304, fol. 268 f. Vorlage Leiter HA II an Minister Mielke vom 29. März 1971, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 224.
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absolut sicher, dass Felfe mit beiden Themen überfordert wird.75 So erhielt er zur Realisierung der Vorgaben Moskaus letztendlich von zwei Seiten Unterstützung. Innerhalb der Sektion Kriminalistik wurde Felfes Dissertation von Prof. Dr. Stelzer persönlich und von dessen Mitarbeiter Dr. Dieter Petzold fachlich „eng“ betreut.76 Nach Aussage Stelzers von 1972 arbeitete Felfe dabei überraschenderweise [. . .] außerordentlich intensiv und gewissenhaft [und] betrachtete das Promotionsverfahren keineswegs als eine Angelegenheit, die ihm wegen seiner früheren Verdienste etwa erleichtert würde. Er musste im Gegenteil oft gebremst werden, wenn er, im Interesse größter Vollständigkeit und Detailtreue, noch fehlende Einzelbelege aufspüren wollte, die für die Beweisführung in der Arbeit und für ihre Geschlossenheit gar nicht erforderlich waren.77
Allein der explizite Hinweis auf die Vermutung, dass er nicht intensiv und gewissenhaft hätte arbeiten können, und die Vermutung, er könne auf Vergünstigungen hoffen, belegt, dass solche Überlegungen in seinem Umkreis vorhanden waren. Selbstverständlich war die Stellungnahme Stelzers, seine offizielle Erfolgsmeldung, eine geschönte Sachstandsdarstellung gegenüber den universitären Gremien, denn es handelte sich ja um eine massiv durch den Geheimdienst geförderte Promotion. Doch Heinz Felfe benötigte neben der engen fachlichen Hilfe durch die Humboldt-Universität noch eine weitere „helfende Hand“: das MfS. Er war mit der Erstellung seiner Doktorarbeit in kürzester Zeit und dem zeitgleichen Schreiben seiner Memoiren einfach überfordert. In einer Vorlage der HA II/2 vom 16. Dezember 1970 wurden als Grundprobleme dafür die nicht existenten wissenschaftlichen Grundlagen und sozialistischen Kenntnisse bei Heinz Felfe identifiziert. Nüchtern wurde attestiert: Im Zusammenhang mit der geplanten Promotion des Felfe ist es nach unserer Meinung erforderlich, dass ein Mitarbeiter des MfS ihn aktiv wissenschaftlich unterstützt. Da sich das Thema in der Grundtendenz mit der Entwicklung der imperialistischen Geheimdienste befassen soll, wäre es zweckmäßig, einen geeigneten Mitarbeiter der HA II/7 mit dieser Aufgabe zu betrauen.78
Erich Mielke notierte handschriftlich neben der geforderten aktiven Unterstützung durch die HA II einverstanden! So hat die am Ende einer Dissertation übliche und auch von Heinz Felfe abgegebene eidesstattliche Erklärung, dass die Arbeit durch den Autoren selbständig verfasst worden sei und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel verwendet worden seien, nicht der Wahrheit entsprochen.79 Die nächsten neun Monate dienten offiziell der Fertigstellung der Doktorarbeit des ehemaligen BND-Mitarbeiters. In einem Sachstandsbericht zu seinem Promotionsprojekt der HA II vom 23. September 1971 wurde erneut attestiert, dass dieser tatsächlich „intensiv“ an seiner Dissertation schreiben und diese voraussichtlich im November beenden würde.80 Allerdings benötigte Felfe weitere geheimdienstliche
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Schreiben Leiter HA II an Generalleutnant Beater vom 13. Januar 1971, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.305, fol. 250. Bericht über Dr. Heinz Felfe vom 23. Mai 1972, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 242. Ebd., fol. 241. Vorlage HA II/2 vom 16. Dezember 1970, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 253. Vgl. Dissertation von Heinz Felfe, Berlin, BStU, MfS, HA II, 42.219, fol. 189. Vgl. Vermerk HA II/2 vom 23. September 1971, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 69–70.
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Unterlagen seitens des MfS, darunter eine allgemeine Studie über den BND sowie Luftaufnahmen beziehungsweise einen Lageplan der BND-Zentrale in Pullach.81 Heinz Felfe selbst scheint zu diesem Zeitpunkt nicht umfassend in die MfS-Pläne eingeweiht gewesen zu sein, beispielsweise wie mit seiner DDR-Dissertation weiter zu verfahren sei. Üblicherweise gehört die Publikation der Qualifizierungsarbeit zur Voraussetzung der Erlangung eines akademischen Grades. In diesem Glauben bat Felfe darum, die übliche Anzahl von Pflichtexemplaren von fünfzehn Stück zeitnah drucken und vervielfältigen zu lassen. Offenbar sah er „sein“ Werk über den BND bereits in den entsprechenden Fachbibliotheken liegen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Kenntnis davon, dass seine Arbeit nie für die Öffentlichkeit vorgesehen war.
„GEHEIME VERSCHLUSSSACHE“: EINE KLEINE DISSERTATION ÜBER DEN BND Am 1. November 1971 wurde die Doktorarbeit des Diplom-Kriminalisten Heinz Felfe zum Thema „Zur Kontinuität der Politik des deutschen Imperialismus. Entstehung und Aufbau des Bundesnachrichtendienstes“ fertiggestellt und zur Begutachtung an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät des Wissenschaftlichen Rates der Humboldt-Universität eingereicht.82 Seine eingereichte Dissertation beschreibt auf 188 Seiten, abzüglich der Einleitung und des Anhangs auf 150 Textseiten, den BND in drei Hauptkapiteln: „Imperialistische deutsche Geheimdienste und Abwehrorgane bis 1945“, „Die Organisation Gehlen von 1946 bis 1956“ und „Bundesnachrichtendienst“.83 Der erste Abschnitt skizziert den Zeitraum vor 1945, umfasst 38 Seiten mit 42 Fußnoten und stellt die verschiedenen geheimdienstlich arbeitenden Organisationen zur Zeit des Dritten Reiches vor. Der Schwerpunkt liegt dabei insbesondere auf den Bereichen von Ausland/Abwehr, des SD, des Amtes VI des RSHA sowie von Fremde Heere Ost (FHO). Das zweite Kapitel umfasst mit 74 Seiten, bei 22 Fußnoten, den quantitativ umfangreichsten Abschnitt. Er beschreibt die Entstehungsgeschichte der unmittelbaren Vorgängerorganisation des BND, der „Organisation Gehlen“, ihren Auftrag, Personal, Finanzbereich, organisatorische Gliederung, ND-Methodik, Perspektiv-Planungen wie die Legalisierung, den Ernstfall und das sogenannte Juno-Programm sowie die Zusammenarbeit mit anderen Behörden und Diensten auf nationaler und internationaler Ebene.84 Das dritte und letzte Kapitel über den BND selbst handelt Heinz 81 82
Ebd. Die Dekanin der Fakultät war zu dieser Zeit die Romanistin Prof. Dr. Rita Schober (1918–2012). Vgl. Dissertation von Heinz Felfe, Berlin, BStU, MfS, HA 981, fol. 1–188; Berlin, Dissertation von Heinz Felfe, Berlin, BStU, MfS HA II, 42.219, fol. 1–191; Personalbogen Heinz Felfe, Berlin, BArch, DR/3/B/195 Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Berufsakten-, fol. 3. Felfe, Heinz: [. . .] Humboldt-Univ. Berlin (Ost) Diss. A 1972. So lautet die titellose Angabe in einer Liste aller an der Sektion Kriminalistik verteidigten Dissertationen als auch in einer Aufstellung an der Humboldt-Universität angenommenen Arbeiten, die heute im Universitätsarchiv verwahrt werden. 83 Vgl. Dissertation von Heinz Felfe, Berlin, BStU, MfS, HA II, 42.219; Dissertation von Heinz Felfe Berlin, BStU, MfS, HVA, 981, fol. 1–188. 84 Dissertation von Heinz Felfe, Berlin, BStU, MfS, Hauptverwaltung Aufklärung 981, fol. 49–124.
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Felfe in schlanken 36 Seiten ab, für die er gerade einmal vier Fußnoten benötigte. Wesentlich für ihn war die Herausstellung der anfänglich „illegalen“ Existenz der Organisation, die nach seiner Ansicht widerrechtliche Fortführung des „imperialistischen Geheimdienstapparates“. Insgesamt blieb die Arbeit auf einem nur sehr oberflächlich wissenschaftlichen Niveau. Sie war nur in den Abschnitten detailliert, in denen Felfe Wissen aus seinen persönlichen Erfahrungen einfließen lassen konnte. Im Vergleich zu der ebenfalls 1971 erschienenen Spiegel-Serie „Pullach intern“, die in fünfzehn Folgen vom 8. März bis zum 14. Juni 1971 den identischen „Untersuchungsgegenstand“ offen legte, brachte die Arbeit aber kaum neue oder gar geheime Informationen hervor und scheint bei einzelnen Themen eindeutig die Spiegel-Serie als Vorlage herangezogen zu haben. In seinem Anmerkungsapparat verwies Felfe bei 20 von insgesamt 69 Fußnoten auf entsprechende Artikel zur „Organisation Gehlen“ beziehungsweise zum BND im Spiegel, vor allem auf die Serie „Pullach intern“.85 Im Rahmen des Promotionsverfahrens an der Humboldt-Universität konnten weitere Prüfungen und Examen dem Kandidaten erlassen werden, wenn „besondere Verdienste“ vorlagen. Von dieser Klausel wurde bei Heinz Felfe als „Kundschafter des Friedens“ Gebrauch gemacht. Prof. Dr. Stelzer befolgte konsequent seinen MfS-Auftrag und begutachtete, dass die Dissertation Felfes für die Verleihung des Doktorgrades vollkommen ausreichen würde.86 Heinz Felfe musste sich keinen weiteren „zeitraubenden“ Examensprüfungen mehr stellen. Auch weitere Vergünstigungen wurden ihm gewährt. So wurde er von dem vorgeschriebenen Kenntnisnachweis in Fremdsprachen, aufgrund „seines Alters“, befreit; nicht ohne zuvor die Falschbehauptung aufgestellt zu haben: Ich beherrsche perfekt die Fremdsprachen Englisch und Holländisch.87 Und auch vom Nachweis der marxistisch-leninistischen Kenntnisse, über die er fraglos nicht verfügte, nahm man ihn aus. Die offizielle Begründung: aufgrund seiner Tätigkeit in Westdeutschland für Frieden und Sozialismus und durch seine Standhaftigkeit während jahrelanger Einkerkerung.88 Insgesamt fand das Promotionsverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Sogleich nach Einreichung der Dissertation wurde diese als Geheime Verschlusssache (GVS) eingestuft, einem Geheimhaltungsgrad für Staatsgeheimnisse. Die Doktorarbeit, die in der DDR nie öffentlich bekannt und zugänglich werden sollte, erhielt die GVS-Nummer 009/746/71, auch wenn der Titel später unter Weglassung des konkreten Bezuges zum BND in Felfes Autobiographie genannt wurde.89 Die Dissertation sollte eine von insgesamt drei Dissertationsprojekten bleiben, die als GVS in der Sektion Kriminalistik eingestuft wurden. Neben dem früheren
85 86 87
Vgl. Dissertation von Heinz Felfe, Berlin, BStU, MfS, HA II, 42.219, fol. 186–181. Vgl. Vorlage HA II vom 29. November 1971, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 233. Vgl. Antrag von Heinz Felfe vom 27. Oktober 1971 von Stelzer, Berlin, Archiv der HumboldtUniversität, Promotionsakte zu Heinz Felfe, fol. 48. 88 Vgl. Antrag von Heinz Felfe vom 27. Oktober 1971 von Stelzer, Berlin, Archiv der HumboldtUniversität, Promotionsakte zu Heinz Felfe, fol. 49. 89 Vgl. Dissertation von Heinz Felfe, Berlin, BStU, MfS, HA II, 42.219, fol. 2; vgl. Lothar Mertens, Wissenschaft als Dienstgeheimnis: Die geheimen DDR-Dissertationen, in: Dieter Voigt und Lothar Mertens (Hg.), DDR-Wissenschaft im Zwiespalt zwischen Forschung und Staatssicherheit, Berlin 1995, S. 101–131, hier S. 119 f.
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BND-Mitarbeiter Heinz Felfe wurde nur noch die Doktorarbeit des ehemaligen BfV-Mitarbeiters Hansjoachim Tiedge (1937–2011), der 1985 in die DDR überlief, ebenso hoch eingestuft.90 Die Akte über das Promotionsverfahren Felfes verblieb bei der Humboldt-Universität, enthielt aber neben der GVS-Nummer und den Namen des Promotionskandidaten und der Promotionsgutachter keine weiterführenden Informationen über den Gegenstand der Arbeit sowie Teilnehmer des Verfahrens. Entsprechend der Promotionsordnung (A) für die Verleihung des akademischen Doktorgrades an der Humboldt-Universität vom 21. Januar 1969 mussten zur Eröffnung des Promotionsverfahrens mindestens vier Exemplare der Arbeit beim Leiter der für die Durchführung der Promotion zuständigen Institution eingereicht werden. Aufgrund des hohen Geheimhaltungsgrades der Felfe-Arbeit wurde nur die Mindestanzahl vervielfältigt und für das Promotionsverfahren an einen sehr ausgewählten Empfängerkreis des KGB und MfS verteilt. Es erhielten Exemplare: der Direktor der Sektion Kriminalistik und MfS-Mitarbeiter Prof. Dr. Stelzer, der Abteilungsleiter der HA II, Oberstleutnant Günther Kratsch (1930–2006), sein Stellvertreter, Oberstleutnant Rudolf Emilius (1919–1987), der verantwortliche Direktor des KGB in der DDR, Oberstleutnant Michail „Micha“ Skorik, der seitens des KGB für Heinz Felfe verantwortlich war, und Heinz Felfe selbst.91 Die Promotionsordnung sah vor, dass drei Gutachter über die wissenschaftliche Qualität der Arbeit zu befinden hatten, wobei mindestens zwei von ihnen Angehörige der Universität beziehungsweise der Institution sein mussten, an der das Verfahren durchgeführt wurde. Von der Humboldt-Universität waren diese der Sektionsdirektor Prof. Dr. Stelzer, sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Dieter Petzold und der für Heinz Felfe zuständige MfS-Mitarbeiter, der HA II-Hauptmann Klaus Kummer (* 1939).92 Alle drei Gutachten wurden in einer allgemeinen Form gehalten. Exemplarisch für den mehrheitlich ähnlich lautenden Wortlaut sei das Gutachten von Hauptmann Kummer zitiert: Die vorliegende Dissertationsschrift behandelt ein wichtiges Thema politischen Charakters, ein in aktueller und zeitgeschichtlicher Hinsicht bedeutendes Problem der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus der BRD. Es wird sichtbar, dass der Verfasser eine wichtige Klassenposition einnimmt. Er geht bei der Bearbeitung des Stoffes vom Standpunkt des dialektischen und historischen Materialismus aus und erzielt damit Ergebnisse, die in völliger Übereinstimmung mit den Prinzipien marxistisch-leninistischer Betrachtungsweise gesellschaftlicher Prozesse stehen. Es ist dem Autor in eindrucksvoller Weise gelungen, im Gegensatz zu offiziellen Darstellungen von imperialistischer Seite den Nachweis zu führen, dass die Einschätzungen des VIII. Parteitages der SED auch für den Gegenstand der vorliegenden Dissertationsschrift in vollem Umfang zutreffend sind. Die Arbeit ist außerordentlich reich an bisher nicht in vollem Umfang bekannten Fakten über authentische Vorgänge und Ereignisse und zeugt von der sorgfältigen Bearbeitung
90
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Vgl. Mertens, Wissenschaft als Dienstgeheimnis (Anm. 89), S. 119 f.; Wilhelm Bleek und Lothar Mertens, DDR-Dissertation. Promotionspraxis und Geheimhaltung von Doktorarbeiten im SED-Staat, Wiesbaden 1994, S. 123 f.; Leonhardt/Schurich, Die Kriminalistik an der Berliner Universität (Anm. 54), S. 122. Vgl. John O. Koehler, Stasi. The untold story of the East German Secret Police, Oxford 1999, S. 89. Der MfS-Mitarbeiter Kummer konnte als Fachgutachter zugelassen werden, entsprechend der geltenden Promotionsordnung (A) vom 21. Januar 1969, § 5 Abs. 3c, als entsprechend qualifizierter Vertreter aus der Praxis.
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umfangreicher Materialien. Es werden dadurch neue Seiten der Betrachtung und Einschätzung einer Reihe zeitgeschichtlicher und aktuell-politischer Ereignisse sichtbar gemacht. Besonders hervorzuheben ist, dass mit großem Fleiß und wissenschaftlicher Akribie ein umfangreiches Quellenstudium betrieben worden ist. Eine gleiche Beurteilung ist auch für die eigentliche Anfertigung der Arbeit zutreffend, wobei der Verfasser eine Anzahl komplizierter Umstände und schwieriger Bedingungen zu meistern hatte. Auf der Grundlage der erwähnten Vielfalt an Fakten und ausgewerteten Materialien entwickelt der Autor eine Reihe von wissenschaftlichen Verallgemeinerungen und theoretischen Erkenntnissen. Diese Schlussfolgerungen, wie auch die gesamte Dissertationsschrift, sind für die Belange der Praxis von echtem Interesse und stellen eine wertvolle Bereicherung des vorhandenen Wissens- und Erfahrungsschatzes dar.93
Die Prüfungskommission unter dem Vorsitz Seltzers bewertete schließlich Felfes Doktorarbeit über den BND mit „magna cum laude“, vergab jedoch nicht die Bestnote. Abschließend hatte sich Heinz Felfe „nur noch“ wissenschaftlich zu verteidigen. Und natürlich fand auch diese „Disputatio“ in einem geheimen Rahmen statt. Am 30. November 1971 wurde anstelle einer öffentlichen Verteidigung seiner Doktorarbeit mit Felfe in einem nicht öffentlichen Promotionserfahren (A) ein zweistündiges Kolloquium von 15:00 bis 17:00 Uhr zu dem allgemein gehaltenen Thema „Zu einigen Aspekten der Vorgeschichte des 2. Weltkrieges“ durchgeführt.94 An diesem Kolloquium nahmen auch Vertreter des sowjetischen Geheimdienstes persönlich teil, die sich ihr eigenes Bild von der „wissenschaftlichen“ Leistungsfähigkeit Felfes machen wollten beziehungsweise ihre Notenerwartungen unmittelbar vor Ort besser formulieren konnten. Felfe referierte 45 Minuten zum Thema und beantwortete dann Fragen.95 Auch die Teilleistungen Felfes in seinem Prüfungskolloquium wurden mit „magna cum laude“ bewertet, ebenso wie seine marxistisch-leninistischen Kenntnisse, die alleine durch seine „Praxiserfahrungen“ als Spion erbracht wurden. Dennoch wurde Heinz Felfe als Gesamtnote der Promotion „summa cum laude“ verliehen.96 Nach Abschluss des Promotionsverfahrens wurden alle ausgeteilten Exemplare wieder eingezogen und bei der HA II unter Verschluss gehalten. Ein Exemplar wurde später der KGB-Spitze in Moskau überreicht. Nach rund eineinhalb Jahren hatte das MfS seine Planungen umgesetzt und Heinz Felfe zur Promotion an der HumboldtUniversität verholfen.
„GENOSSE PROFESSOR“ Nachdem der ehemalige KGB-Spion offiziell zu „Dr. Heinz Felfe“ geworden war, galt es, ihn abschließend noch zum Professor zu ernennen. Schon bevor seine Dissertation fertig gestellt, eingereicht und beurteilt war, wurde am 2. September 1971 93 94 95 96
Vgl. Gutachten zur Dissertationsschrift GVS 009/746/71 vom 25. November 1971, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 235 f. Vgl. Vorlage HA II vom 29. November 1971, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 230. Vgl. Protokoll der mündlichen Prüfung vom 1. Dezember 1971 von Stelzer, Berlin, Archiv der Humboldt-Universität, Promotionsakte zu Heinz Felfe, fol. 10. Vgl. Bericht über Dr. Heinz Felfe vom 23. Mai 1972, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 242. Nach der Promotionsordnung wurde nur denjenigen Kandidaten die Prädikatsnote verliehen, der in allen zu bewertenden Teilgebieten, also in der Regel der schriftlichen Arbeit, dem Nachweis marxistisch-leninistischer Kenntnisse und der Verteidigung die Bewertung „sehr gut“ erhielt.
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die Erteilung der Lehrbefähigung, der Facultas docendi für das Fachgebiet Kriminalgeschichte, für Heinz Felfe beantragt. Am 1. Dezember 1971 wurde der Antrag durch die Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät des Wissenschaftlichen Rates der Humboldt-Universität befürwortend beraten.97 Es vergingen daraufhin keine zwei Wochen und für Felfe wurde planungsgemäß ein Antrag für die Berufung auf eine außerordentliche Professur gestellt. Der Berufungsantrag wurde von der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät des Wissenschaftlichen Rates schließlich ohne Erörterung verabschiedet und vom Sekretariat der SED-Kreisleitung der HumboldtUniversität sowie vom Kollegium des Rektors bestätigt. Auch das Ministerium für Fach- und Hochschulwesen stimmte zu. Für das Berufungsverfahren von Heinz Felfe zum Professor wurden wiederum Fachgutachter eingesetzt. Diese waren Prof. Dr. Stelzer sowie sein Fachkollege Prof. Dr. Karl-Martin Böhme (1927–1983).98 Stelzer beurteilte Felfe im Hinblick auf seine Berufung am 13. Dezember 1971 wie folgt: Der bisherige Lebensweg des Herrn Dr. Felfe wurde durch außergewöhnliche Leistungen im Kampf um Frieden und Sozialismus und ihm daraus erwachsene Verfolgung durch die Unterdrückungsorgane des westdeutschen Staates geprägt. Die Sektion Kriminalistik ist außerordentlich stolz darauf, einen solchen im Klassenkampf erfahrenen Menschen zu ihren Mitarbeitern zu zählen [. . .] Durch seine bisherigen wissenschaftlichen und praktischen Leistungen hat Dr. Felfe unbedingt unter Beweis gestellt, dass er über die Voraussetzungen für eine Berufung zum außerordentlichen Professor verfügt.99
Von Prof. Dr. Stelzer war das Fach Kriminalgeschichte für Heinz Felfe, der weit entfernt von einer wissenschaftlichen Eignung war, bewusst ausgewählt worden, weil es eine allmähliche Einarbeitung in den Stoff erlaubt, keinerlei aktuell-operative Bezüge enthält und mit dem bisherigen akademischen Werdegang des Genossen Felfe [. . .] in Einklang steht.100 Die Aufgabe von Dr. Heinz Felfe bestand zunächst nun darin, sich erst einmal grundsätzlich in die Materie seines Lehrstuhls einzuarbeiten. Ausgehend von seinen Literaturrecherchen beschäftigte er sich bis Mitte 1972 mit den Disziplinen der Kriminalgeschichte, der Geschichte des Beweisrechtes und der Kriminalistik. Aber nicht nur seine fachwissenschaftlichen Grundlagen mussten im Schnellverfahren angelegt, geschaffen beziehungsweise verfestigt werden, vor allem die marxistisch-leninistischen Weiterbildung hatte parallel zu erfolgen. Aus diesem Grunde nahm er zu dieser Zeit auch an Parteilehrgängen der SED teil und studierte nach einem besonderen Plan von Prof. Dr. Stelzer systemkonforme sozialistische „Klassiker“, beginnend mit Friedrich Engels „Zur Lage der arbeitenden Klasse in England“. Dazu besuchte er ebenso die Vorlesungen von Stelzer. Er selbst hielt zunächst keine Vorlesung ab.101 Langsam fügte sich Felfe im Bereich der Kriminalistik ein, was an der intensiven Betreuung von Stelzer und Petzold lag. Dennoch war man nicht überall mit den akademischen Leistungen sowie den Fähigkeiten 97
Vgl. Personalbogen Heinz Felfe, Berlin, Berlin, BArch, DR/3/B/195, Ministerium für Hochund Fachschulwesen – Berufsakten-, fol. 26. 98 Vgl. Personalbogen Heinz Felfe, Berlin, BArch, DR/3/B/195, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Berufsakten-, fol. 17 f. 99 Ebd. 100 Bericht über Dr. Heinz Felfe vom 23. Mai 1972, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 241. 101 Vgl. ebd., fol. 242.
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Felfes und vor allem seinen politischen Ansichten einverstanden. So erhob der Leiter der MfS-Rechtsstelle, Hans Filin (1929–2007), Bedenken, ob Felfe geeignet wäre, in Erziehung und Ausbildung eingesetzt zu werden. Sein Einsatz sollte vielmehr verstärkt auf dem Gebiet der „Forschung“ (Geschichte der Kriminalistik und Kriminalgeschichte) liegen: also Forschung ohne Lehre.102 Mit Wirkung zum 1. September 1972 wurde Heinz Felfe im Alter von 54 Jahren zum außerordentlichen Professor von der Sektion Kriminalistik der HumboldtUniversität berufen.103 Eine Woche später, am 8. September 1972, erhielt er seine Berufungsurkunde zum Professor vom Minister für Hoch- und Fachhochschulwesen, Hans-Joachim Böhme (1931–1995), auf einer Festveranstaltung persönlich überreicht.104 In einer Übersicht der HA II über Prof. Dr. Heinz Felfe von 1976 wird seine durch das MfS veranlasste berufliche Karriere in der DDR prägnant zusammengefasst: Mit Unterstützung des MfS erwirbt er 1970 das Diplom als Kriminalist; 1971 den Titel des Dr. jur.; 1972 den Titel als außerordentlicher Professor durch Berufung des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen mit 1.600,-- M/Netto Gehalt.105 Am 13. September 1972 berichtete schließlich die Berliner Zeitung über Heinz Felfe als neuernannten Professor an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin.106
„STARTRAMPE FÜR SPIONE“: HEINZ FELFE ALS AUSSERORDENTLICHER PROFESSOR Heinz Felfe durfte nun den Titel außerordentlicher Professor an der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität führen. Aufgrund der von Beginn an herrschenden Vorbehalte gegenüber seiner wissenschaftlichen Befähigung in der sozialistischen Forschung und Lehre, erhielt er am Institut eine Sonderstellung. Felfe, der ehemalige „Kundschafter des Friedens“, wurde zu einer Art „Grauer Eminenz“.107 Offiziell wurde er am Institut mit einem langfristigen Forschungsthema aus dem Bereich der Imperialistischen Kriminalistik und mit der Aufbereitung des Fachgebietes Kriminalgeschichte betraut. Inoffiziell erarbeitet er für das MfS Gutachten und Studien, etwa über Verfolgung und Kriminalisierung der ostdeutschen Opposition, sowie Lehrund Schulungsmaterialien und schrieb zugleich an der Diffamierungsschrift gegen
102 Vgl. ebd.; Roger Engelmann et al., Das MfS-Lexikon: Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit in der DDR, Berlin 2006, S. 92. 103 Vgl. Personalbogen Heinz Felfe, Berlin, BArch, DR/3/B/195, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Berufsakten-, fol. 17 f. 104 Vgl. ebd., fol. 30. 105 Schreiben der HA II vom 19. November 1976, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.303, fol. 137–144. Er verdiente damit, gegenüber der Stelle als Oberassistent, 200 Mark monatlich mehr, vgl. Vorlage HA II/2 vom 16. Dezember 1970, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.305, fol. 253. 106 Vgl. Berliner Zeitung vom 13. September 1972, S. 4. 107 Vgl. Zeitzeugeninterview Bodo V. Hechelhammer mit einem ehemaligen Studenten der Sektion Kriminalistik vom 24. März 2015, der dem Autor persönlich bekannt ist, zwecks Wahrung der Persönlichkeitsrechte aber nicht genannt wird.
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den BND im Auftrag Moskaus weiter.108 Innerhalb der Sektion wurde für Felfe eine Forschungs- und Arbeitsgruppe Imperialistische Kriminalistik geschaffen und Felfe, der dieser Gruppe vorstand, beaufsichtigte in den folgenden Jahren wenige ausgewählte Diplom- und Doktorarbeiten mit Bezug zu den Polizei- und Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik.109 So betreute er beispielsweise 1975 die Arbeit des OibE Reinhard Gelbhaar (* 1950) zum Thema „Die Funktionen und Aufgaben des Bundesgrenzschutzes im Rahmen der Unterdrückung der demokratischen Kräfte in Westdeutschland“.110 Felfe nahm an der Seite Stelzers an den wöchentlichen Institutsbesprechungen teil, ebenso wie an den SED-Sitzungen der Universität, reiste mit ihm aber auch vereinzelt zu auswärtigen Terminen. So fuhr er mit dem Sektionsleiter mehrfach nach Moskau an die staatliche Lomonossow-Universität, etwa im März 1975 oder im April 1987, wo er an der juristischen Fakultät einen Vortrag hielt.111 In einem Bericht von 1975 der HA II wurde die wissenschaftliche Leistung Felfes innerhalb der Sektion entsprechend der Idiomatik solcher Berichtsformen aber nur sehr nüchtern beurteilt: Er leistet im Kollektiv der Sektion Kriminalistik eine nutzbringende Arbeit und tritt insgesamt positiv in Erscheinung.112 Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters wurde unmittelbar nach seiner Berufung zum Professor seitens des MfS schon an seine Emeritierung und die Regelung seiner Berentung gedacht.113 Schließlich sollte der ehemalige „Kundschafter des Friedens“ auch im Alter finanziell nicht schlechter gestellt sein. Seine Professorenbezüge, am Ende seiner Dienstzeit zusammen 2 300 Mark, sollten ihm bis zur Pensionierung weiter gezahlt werden, danach, entsprechend einer Ministerweisung, der identische Betrag als „MfS-Rente“.114 Im März 1983 erreichte Heinz Felfe mit 65 Jahren das Rentenalter, blieb allerdings entsprechend den MfS-Weisungen als außerordentlicher Professor an der Sektion Kriminalistik weiterhin formell tätig. Er betreute noch einzelne ausgewählte MfS-Studenten am Institut und musste vor allem seine Lebenserinnerungen im Auftrag des sowjetischen Geheimdienstes fertigstellen, die drei Jahre später unter dem Titel „Im Dienst des Gegners“ veröffentlicht wurden.115 Auch durch Fachaufsätze trat Heinz Felfe öffentlich nicht in Erscheinung. Bezeichnenderweise veröffentlichter er erst nach der Wendezeit in kurzem Zeitabstand einzelne kriminalhistorische Beiträge in der westdeutschen Fachzeitschrift „Kriminalistik“.116
108 Vgl. Personalbogen Heinz Felfe, Berlin, BArch, DR/3/B/195, Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen – Berufsakten-, fol. 9; Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013, S. 202. 109 Vgl. HU, Kaderentwicklungsprogramm der Sektion Kriminalistik 1983–1990, Berlin, BStU, MfS, HA II, 34.258, fol. 140–178; Mertens, Wissenschaft als Dienstgeheimnis (Anm. 89), S. 120. 110 Vgl. Übersicht (undatiert), Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 52. 111 Vgl. Glückwunschschreiben von Prof. Stelzer an Heinz Felfe vom 18. März 1988, Berlin, BStU, MfS, HA II, 37.295, fol. 188. 112 Vorlage HA II vom 27. August 1975, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 213. 113 Vgl. Übersicht HA II vom 24. April 1974, Berlin, BStU MfS, HA II, 41.304, fol. 216. 114 Vgl. Vorlage HA II vom 27. August 1975, Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.304, fol. 214. 115 Vgl. Heinz Felfe, Gespräch mit Heinz Felfe, in: Forum der Kriminalistik 24 (1988), S. 17. 116 Vgl. Heinz Felfe, Eine schwere Geburt. Das Reichskriminalpolizeigesetz vom 21. Juli 1922 – Geschichte und historische Lektion, in: Kriminalistik 8–9 (1990), S. 421–429; Ders., Ideen muß man haben. Die erste internationale Plakatfahndung, in: Kriminalistik 3 (1991), S. 159–162;
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Durch die „Wende“ und die deutsche Wiedervereinigung änderte sich die gesamte Lebenssituation für den inzwischen 72-jährigen Heinz Felfe. Die DDR hörte auf zu existieren und mit ihr ging auch das für seine spezielle Betreuung zuständige MfS unter. An der Humboldt-Universität sollte die Sektion Kriminalistik Ende 1994 aufgelöst werden.117 Doch zu dieser Zeit gehörte Felfe dem Institut schon nicht mehr an. Denn Ende Januar 1991 hatte Der Spiegel die Beschäftigung des „KGB-Agenten“ Heinz Felfe thematisiert und in dem Artikel „Startrampe für Spione“ deutlich Kritik an dem „speziellen“ Personalbestand der Humboldt-Universität geübt. Pointiert wurde zu Heinz Felfe gesagt: Mit dem Gehalt eines „Oberassistenten ohne Lehrauftrag“ darf sich der KGB-Spion ganz der Forschung widmen.118 Einen Monat später, am 8. März 1991, schrieb in einem Eil-Einschreiben der Leiter der Personalabteilung der Humboldt-Universität, Dr. Meltzer, an Felfe.119 Darin wurde ihm mit Bezug zum deutschen Einigungsvertrag mitgeteilt, dass das Arbeitsverhältnis mit der Universität mit Eintritt des Rentenalters für Mitarbeiter endet, die vor dem 3. Oktober 1990 bereits das Rentenalter erreicht hatten. Es wurde ihm offenbart, dass auch sein Arbeitsverhältnis an der Humboldt-Universität zum 31. März 1991 enden würde. Kurz und bündig wurde ihm noch für seine Leistung gedankt und ihm für seinen weiteren Lebensweg alles Gute gewünscht. Mit Wirkung zum 1. April 1991 stellte die Humboldt-Universität endgültig ihre Zahlungen an Heinz Felfe ein.120 Ohne Unterstützung der Geheimdienste fand die Universitätskarriere von Heinz Felfe ihr Ende.
FAZIT Sein gesamtes Leben lang arbeitete Heinz Felfe im Auftrag von Nachrichten- bzw. Geheimdiensten. So war auch seine zu Beginn der siebziger Jahre erlangte Stellung als außerordentlicher Professor an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin kein Ergebnis einer von ihm über Jahre hinweg stringent verfolgten akademischen Karriere. Der ehemalige „Kundschafter des Friedens“ wurde zum Professor mit Unterstützung der Geheimdienste aufgebaut. Initiiert durch den KGB und durchgeführt vom MfS wurde eine für ihn geeignete Arbeits- und Existenzlegende in der DDR geschaffen, hinter der er weiterhin von östlichen Nachrichtendiensten gegen die Bundesrepublik und den BND genutzt werden konnte. Als ehemaliger Student der Rechtswissenschaften und ausgebildeter Kriminalist erschien die Legende seiner Karriere als Professor für Kriminalistik geradezu als logisch und naheliegend. Felfe profitierte somit von seinen ebenfalls im geheimdienstlichen Auftrag absolvierten
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Ders., Der Mord an Vera „Sara“ Korn. Dargestellt anhand der Akten der Berliner Mordkommission, in: Kriminalistik 3 (1992), S. 153–173; Ders., Protokoll einer Hinrichtung. Ein Beitrag zur deutschen Justizgeschichte, in: Kriminalistik 8–9 (1992), S. 569–577. Vgl. Maike Sutor, Begründung: Kein Bedarf, in: Berliner Zeitung (06. 10. 1994). Vgl. Startrampe für Spione, in: Der Spiegel vom 28. Januar 1991, S. 50 f. Vgl. Schreiben Dr. Meltzer an Heinz Felfe vom 8. März 1991, Berlin, Archiv HumboldtUniversität, Personalakte Heinz Felfe, (unpaginiert). Vgl. Änderungsmeldung [zu Heinz Felfe], Berlin, Archiv der Humboldt-Universität, Personalakte Heinz Felfe (unpaginiert).
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Bodo V. Hechelhammer
Universitätszeiten, als nationalsozialistischer Student vor und unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges als studentischer V-Mann für den britischen Geheimdienst. Für Nachrichten- beziehungsweise Geheimdienstmitarbeiter, deren Tätigkeiten aufgrund der systemimmanenten Geheimhaltungspflicht nicht in der Öffentlichkeit honoriert werden können, stellen Amtsstellungen und -titel zum Teil eine wichtige psychologische Bedeutung für ihre subjektiv wahrgenommene gesellschaftliche Reputation dar. So müssen die von Felfe errungenen Doktor- und Professorentitel zugleich auch als eine Art von sozio-psychologischer Kompensation bewertet werden, um seinen Verlust an persönlicher Reputation in der Bundesrepublik auszugleichen. Unmittelbar nach seiner Ankunft in der DDR argumentierte Heinz Felfe in entsprechender Weise gegenüber dem MfS. Nach Felfe sei in Europa das persönliche Ansehen eines Menschen vom seinem Titel oder seiner Berufsbezeichnung abhängig. Daher erklärte er, bedingt durch seinen Einsatz als Kundschafter für den KGB, den für ihn wichtigen und angesehen Amtstitel eines Beamten verloren zu haben: Gelänge es mir, in der DDR einen akademischen Grad zu erwerben (Dr.-Titel), so wäre in jeder Hinsicht das diskriminierende Urteil des Bundesgerichtshofes paralysiert.121
Die in der DDR erreichte akademische Karriere Heinz Felfes stellte weniger sein „Beruf“ oder gar seine wissenschaftliche „Berufung“ dar, sondern war vielmehr eine im Auftrag der Geheimdienste aufgebaute „berufliche Legende“. Abgesichert hinter dieser realen Abdeckung konnten die östlichen Dienste weiterhin sein Wissen und seine Person nutzen. Felfes akademische Karriere diente zugleich als propagandistisch nutzbares Vorbild für andere „Kundschafter des Friedens“ und für ihn selbst – als gesellschaftliche Kompensation für seinen langjährigen KGB-Einsatz. Noch 2008 gratulierte die KGB-Nachfolgeorganisation ihm deshalb öffentlich zu seinem 90. Geburtstag. Wenige Wochen später, am 8. Mai 2008, verstarb Prof. Dr. Heinz Felfe in Berlin.
ABSTRACT Heinz Felfe is considered to be the biggest spy case in the German Foreign Intelligence Service “Bundesnachrichtendienst” (BND). The former chief inspector, NSDAP member, SS-Obersturmführer and staffer at Reichssicherheitshauptamt worked for the BND and its predecessor organization “Organisation Gehlen” for ten years, at last in a senior position in charge of counter intelligence against the Soviet Union, while also spying for the Soviet secret service against the BND. In 1963, Felfe was sentenced to 14 years in prison for high treason and, in 1969, exchanged for other Western agents. He moved to the GDR, where he was finally awarded a professorship for criminal science in East Berlin in 1973. The essay describes the academic career stages of Heinz Felfe from a student in Berlin, working for the SD, to a graduated Professor by order of the KGB, working for the Ministry of State Security (MfS). His entire academic career is explained as a result of his lifelong cooperation with Intelligence Services. 121 Vgl. Schreiben von Heinz Felfe (undatiert 1969), Berlin, BStU, MfS, HA II, 41.305, fol. 295.
THEMENSCHWERPUNKT TRANSNATIONALE UNIVERSITÄTSGESCHICHTE Heike Bungert und Charlotte Lerg
Das frühneuzeitliche Ideal der Gelehrtenrepublik verstand sich als transnational, zum einen weil der Nationalstaat zunächst noch nicht als Referenzrahmen individueller Identitäten – etwa von Wissenschaftlern – fungierte, zum anderen aber auch, weil der Ideenaustausch als Grundlage wissenschaftlicher Arbeit galt. Es überrascht also kaum, dass in der Wissenschaftsgeschichte zu Mittelalter und Früher Neuzeit der transnationale Ansatz geradezu selbstverständlich ist.1 Anders sieht es jedoch aus, sobald wir das 19. und 20. Jahrhundert ins Auge fassen, traditionell das Zeitalter der Nationalstaaten. Im internationalen (eben nicht transnationalen) Wettbewerb wurde Wissen(schaft) zu wertvollem Kapital, das es national zu binden und zu forcieren galt. Das Ideal der grenzübergreifenden Gelehrtenrepublik jedoch hielt sich – bis heute. Den sich daraus entwickelnden Konflikt zwischen nationalen und übernationalen Loyalitäten hat die Forschung auf unterschiedliche Weise zu fassen gesucht. Für das 19. Jahrhundert bietet sich etwa der Vergleich mit dem „olympischen Internationalismus“ an, ein freundlicher Wettbewerb unter Gleichgesinnten.2 Auch für viele Zeitgenossen mag dies eine Legitimation
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Mordechai Feingold und Victor Navarro-Brotons (Hg.), Universities and Science in the Early Modern Period, Dordrecht 2006; Arjan Van Dixhoorn und Susie Speakman Sutch (Hg.), The Reach of the Republic of Letters. Literary and Learned Societies in the Late Medieval and Early Modern Europe, Leiden 2008; Jürgen Renn, The Globalization of Knowledge in History, Berlin 2012; Wolfgang Eric Wagner, Von der natio zur Nation? Die nationes-Konflikte in den Kollegien der mittelalterlichen Universitäten Prag und Wien im Vergleich, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20 (2000), S. 141–162. Geert J. Somsen, A History of Universalism. Conceptions of the Internationality of Science from the Enlightenment to the Cold War, in: Minerva 46 (2008), S. 365–379; Martin H. Geyer und Johannes Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism. Culture, Society, and Politics from the 1840s to the First World War, New York 2001. In der jüngeren Forschung hat sich der Begriff „coopetition“ durchgesetzt, der vor allem in der Wissenschaftssoziologie Anwendung gefunden hat, aber auch für die historische Analyse nützlich ist. Er beschreibt das zielorientierte Aushandeln kooperativer Strategien in einem kompetitiven Umfeld und kann auf unterschiedlichen Ebenen angewandt werden, national wie transnational oder (über-)regional, aber auch innerhalb einer Disziplin oder Institution. Siehe z. B. Kalie Strydom, Globalization, Regional Responsiveness and a Developing South African Higher Education System, in: Higher Education in a Globalizing World. International Trends and Mutual Observations, hg. von Jürgen Enders und Oliver Fulton, Dordrecht 2002, S. 159–172, hier: S. 162; Markus Tauschek (Hg.), Kulturen des Wettbewerbs. Formationen kompetitiver Logiken, Münster et al. 2013.
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ihrer geteilten Loyalitäten geboten haben,3 doch schon um die Jahrhundertwende und insbesondere im konfliktreichen 20. Jahrhundert nahm der Wettbewerb deutlich problematischere Formen an, und Wissenschaftler sowie Universitäten stellten sich in den Dienst nationaler Interessen.4 Nichtsdestotrotz, selbst zu Kriegs- und Krisenzeiten wollte man das Ideal einer grenzübergreifenden Gemeinschaft der Wissenschaft nicht völlig aufgeben, wie auch mehrere der hier präsentierten Aufsätze zeigen (von Oertzen, Irish, Levine). Nicht selten war es gerade die internationale Vernetzung, die den Wissenschaftler für die nationale Sache so wertvoll machte. Man denke etwa an den Aufruf „An die Kulturwelt!“, den 93 deutsche Wissenschaftler 1914 an ihre Kollegen im Ausland richteten, oder an die Bedeutung von Wissenschaftlern in der amerikanischen Kulturdiplomatie während des Kalten Kriegs (siehe auch Ellßel in diesem Band).5 Vor diesem Hintergrund scheinen die Wissenschaften international, ihre Institutionen (und auch die Akademiker selbst) hingegen national. Lange Zeit bezog sich die Universitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts daher primär auf die Hochschulsysteme und -entwicklungen innerhalb einzelner Nationen oder zumindest Bundesstaaten. Oft verharrte sie in der Institutionengeschichte einzelner Universitäten oder gar spezieller Disziplinen innerhalb einer Universität.6 Wissenschaftliche Diskurse finden jedoch weder abgekoppelt von der Gesellschaft noch in einem klar begrenzten nationalen Rahmen statt. Eine verengte 3
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Die Rhetorik im Umfeld von Weltausstellungen lässt beispielsweise auf ein Verständnis in diesem Sinne schließen. Siehe z. B. Klaus Dittrich, Deutsche Berichterstattung über die Bildungssektionen der Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts. Ein Literaturüberblick, in: Transnationale Bildungsräume. Wissenstransfer im Schnittfeld von Kultur, Politik und Religion, hg. von Esther Möller und Johannes Wischmeyer, Göttingen 2012, S. 137–156. Michael Grüttner et al. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; Ralph Jessen und Jakob Vogel (Hg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt a. M. 2002, S. 263–284. Zum „Aufruf an die Kulturwelt!“ siehe etwa Jürgen von Ungern-Sternberg und Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996. Zur Kulturdiplomatie im akademischen Kontext während des Kalten Kriegs z. B. Sigmund Diamond, Compromised Campus. The Collaboration of Universities with the Intelligence Community, 1945–55, New York 1992; Oliver Schmidt, Towards an Atlantic Society. US Cultural Diplomacy, German-American Visitor Programs, and the Return of Transnational History after 1946, in: The Cultural Turn. Essays in the History of US Foreign Relations, hg. von Frank Anthony Ninkovich und Liping Bu, Chicago 2001; Christopher Simpson, Universities and Empire. Money and Politics in the Social Sciences during the Cold War, New York 1998. Sheldon Rothblatt, The Writing of University History at the End of Another Century, in: Oxford Review of Education 23 (Juni 1997), Nr. 2, S. 151–167; Matthias Asche und Stefan Gerber, Neuzeitliche Universitätsgeschichte in Deutschland, in: Archiv für Kulturgeschichte 90 (2008), S. 159–201; Roger L. Geiger, David B. Potts und W. Bruce Leslie, Symposium Report. Exploring Our Professional Backyards. Toward Writing Recent History of American Colleges and Universities, in: History of Higher Education Annual 20 (2000), S. 79–92; John A. Douglass, The California Idea and American Higher Education. 1850 to the 1960 Master Plan, Stanford 2000; Richard M. Freeland, Academia’s Golden Age. Universities in Massachusetts, 1945–1970, New York 1992; James Axtell, The Making of Princeton University. From Woodrow Wilson to the Present, Princeton 2006; Dirk Alvermann und Stephanie Irrgang, Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums, Berlin 2007; Pablo Buchbinder, Historia de las Universidades Argentinas, Buenos Aires 2005; Enno Bünz, Hartmut Zwahr und Ulrich von
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Perspektive droht daher, entscheidende Aspekte zu übersehen und wichtige Stränge abzuschneiden. Eine transnationale Universitätsgeschichte ist somit unerlässlich. Der Begriff „transnational“ wird inzwischen regelmäßig in der Geschichtswissenschaft verwandt, ist jedoch keineswegs klar definiert. Schwerpunkte und Bezeichnungen des (schon gar nicht mehr so) neuen Ansatzes werden nach wie vor kontrovers diskutiert. Die Rede ist etwa von transnationaler Geschichte, von vergleichender Geschichte, Transfergeschichte, Globalgeschichte, Weltgeschichte, Entangled Histories, Shared Histories oder Histoire Croisée.7 Einig sind sich aber alle, dass es um ein Aufbrechen des Fokus’ auf den Nationalstaat geht. Vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung trans-„national“ nicht unumstritten, da sie das Nationale zu zementieren scheint; doch ebenso lässt sich argumentieren, dass das Nationale nicht zwingend vom Transnationalen ersetzt oder überlagert wird, sondern es vielmehr ergänzt und nuanciert.8 Die meisten Verfechter und Verfechterinnen sehen ihren Ansatz daher nicht als neues Paradigma, sondern lediglich als neue Perspektive.9 Dabei behandelt die transnationale im Gegensatz zur internationalen Geschichte weniger die Beziehungen zwischen Regierungen als Verflechtungen zwischen Gesellschaften und Individuen.10 Im Sinne des „Translokalen“ oder des „Glokalen“ wird die transnationale Geschichte jedoch nicht nur global gedacht, sondern auch regional und lokal.11 Dies muss auch für die Universitätsgeschichte gelten, da Universitäten mit der voranschreitenden Institutionalisierung und Professionalisierung der Wissenschaft im 19.
Hehl, Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Leipzig 2009; G. R. Evans, The University of Oxford. A New History, London/New York 2010; Leo Haupts, Die Universität zu Köln im Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik, Köln 2007; Peter Lundgreen, Die Universität Lemberg und ihre Historiker (1784–1914). Eine vergleichende Perspektive zur deutschen und österreichischen Entwicklung, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 8 (2005), S. 157–184; Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001. 7 Siehe z. B. Jürgen Osterhammel, Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte, in: Weltgeschichte, hg. von Jürgen Osterhammel, Stuttgart 2008, S. 9–32; Bruce Mazlish, Comparing Global History to World History, in: Journal of Interdisciplinary History 28 (1998), Nr. 3, S. 385–395, hier: S. 388; Michael Werner und Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire Croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636; Michael Werner und Bénédicte Zimmermann, Beyond Comparison. „Histoire Croisée“ and the Challenge of Reflexivity, in: History and Theory 45 (2006), Nr. 1, S. 30–50. 8 Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel, Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2006; Ian Tyrrell, Transnational Nation. United States History in Global Perspective since 1789, Basingstoke 2007. 9 Michael Geyer und Charles Bright, World History in a Global Age, in: The American Historical Review 100 (1995), Nr. 4, S. 1034–1060, hier: S. 1044; William Clarence-Smith, Kenneth Pomeranz und Peer Vries, Editorial, in: Journal of Global History 1 (2006), Nr. 1, S. 1 f. 10 Kiran Klaus Patel: Transnationale Geschichte - Ein neues Paradigma?, in: connections, 02. 02. 2005, (05. 06. 2015). 11 Ulrike Freitag, Translokalität als ein Zugang zur Geschichte globaler Verflechtungen, in: connections, 10. 06. 2005, (01. 10. 2016); Roland Robertson, Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Perspektiven der Weltgesellschaft, hg. von Ulrich Beck, Frankfurt a. M. 1998, S. 192–220.
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Jahrhundert zu Knotenpunkten avancierten, an denen regionale, nationale und globale Netzwerke ineinandergriffen. Basierend auf dieser Prämisse ist ein erweiterter Blick auf das Transnationale und Translokale geradezu zwingend. Präsentiert wird im Folgenden ein neuer Blick auf die verschiedenartigen Netzwerke, Verflechtungen und Transfers von institutionalisierter Wissenschaft (Universitäten, Forschungsinstitute, Kliniken, Akademien, Fachgesellschaften, Kommissionen, Bibliotheken) in einem transnationalen Kontext. Dabei ergeben sich unterschiedliche Perspektiven, die mal Akteuren, mal Ideen und mal Praktiken den Vorrang geben. So werden innovative Ansätze der letzten Jahre aufgenommen, die neben der einst dominanten Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte neue Formen der Universitätsgeschichte entwickelten und Universitäten (und vergleichbare Formen institutionalisierter Wissenschaft) im 19. und 20. Jahrhundert als soziale, ideelle und politische Kontakt- und Verhandlungsräume verstanden.12
ANSÄTZE DER TRANSNATIONALEN UNIVERSITÄTSGESCHICHTE: NETZWERKE UND VERFLECHTUNGEN – AGENCY – TRANSFER Für transnationale Fragestellungen erweisen sich netzwerktheoretische Herangehensweisen als fruchtbar, denn auf diese Weise können alternative, veränderbare und weniger streng (national) begrenzte Strukturen identifiziert, nachvollzogen oder auch definiert werden.13 Auch hier waren die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte Vorreiter14 – nicht zuletzt die Gelehrtenrepublik selbst lässt sich so kartographie12
Asche/Gerber, Neuzeitliche Universitätsgeschichte in Deutschland (Anm. 6), S. 159–201; Ulrich Rasche, Seit wann und warum gibt es Vorlesungsverzeichnisse an den deutschen Universitäten?, in: Zeitschrift für Historische Forschung 36 (2009), Nr. 3, S. 445–478; Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft im Gehäuse. Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 37–49. Besonders im Zuge des so genannten „spatial turn“ hat sich eine umfangreiche Forschung zum universitären Raum entwickelt, die sich auch der sich räumlich manifestierenden sozialen Rolle von Bildung widmet. Siehe etwa Catherine Burke, Peter Cunningham und Ian Grosvenor, „Putting Education in Its Place“. Space, Place and Materialities in the History of Education, in: History of Education 39 (2010), Nr. 6, S. 677–680. 13 Berthold Unfried et al. (Hg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Leipzig 2008; darin besonders: Christoph Boyer, Netzwerke und Geschichte. Netzwerktheorien und Geschichtswissenschaften, in: ebd., S. 47–58. 14 Martin Kintzinger, Gelehrte Autorität. Das späte Mittelalter und die Anfänge der europäischen Wissensgesellschaft, in: Autorität und Akzeptanz. Das Reich im Europa des 13. Jahrhunderts, hg. von Hubertus Seibert, Werner Bomm und Verena Türck, Ostfildern 2013, S. 203–222; Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 39), Köln/Weimar/Wien 2011; Claudia Schnurmann, Brücken aus Papier. Atlantischer Wissenstransfer in dem Briefnetzwerk des deutsch-amerikanischen Ehepaars Francis und Mathilde Lieber, 1827–1872, Berlin 2014; Sven Dupré, The Circulation of News and Knowledge in Intersecting Networks, Oxford 2008; Sita Steckel, Niels Gaul und Michael Grünbart (Hg.), Networks of Learning. Perspectives on Scholars in Byzantium and the Latin West, c. 1000–1200, Münster 2014.
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ren.15 Netzwerke vermögen dynamische Prozesse abzubilden. Sie lassen sich sowohl synchron als auch diachron beschreiben, während die konstituierenden Parameter an die Gegebenheiten angepasst werden können. Bruno Latour spezifiziert im Zuge der Actor-Network-Theory (ANT), dass neben Individuen, die in der klassischen Netzwerktheorie Agency besitzen, auch andere Einheiten als Schnittstellen und Sammelpunkte im Netzwerk fungieren können und dass durch das Zusammenspiel von unterschiedlichen Akteuren neue Entitäten im Netzwerk geschaffen werden (die selbst als Netzwerke konstituiert sind). Dazu gehören unter anderem Institutionen jeglicher Art wie Vereine, Regierungseinrichtungen, Privatunternehmen und andere organisatorische Einheiten, wie zum Beispiel Städte, Interessensvertretungen, oder auch Nationen oder supranationale Organisationen, aber beispielsweise auch Ideen und Diskurse. Angelehnt an den „neo-institutional“ Ansatz, wie ihn die makrosoziologische Dynamik global vernetzter Bildungsgeschichte nahelegt,16 gilt es daher stets, auch bei transnationalen Vernetzungen die Institutionen als strukturierende Elemente mitzudenken. Es ergeben sich Überlappungen und unterschiedliche Ebenen, die jedoch – der Actor-Network-Theory zufolge – auch untereinander verknüpft sind.17 Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Universität einerseits als eigenständiger Akteur, andererseits aber auch als ein Fluchtpunkt (unter vielen) für andere Akteure. Dem nationalen Kontext, in den Bildungsinstitutionen weltweit spätestens ab dem 19. Jahrhundert klar eingebunden waren, werden damit eine Vielzahl zusätzlicher Referenzrahmen zur Seite gestellt und damit die Möglichkeit transnationaler Fragestellungen eröffnet. Aus den Postcolonial Studies kam der Impuls, Netzwerke und transnationale Konstrukte auch auf hegemoniale Dynamiken hin zu untersuchen. Hierbei gilt es, den Schwerpunkt vom Zentrum weg zu verlagern und den Austausch zwischen Zentrum und Peripherie, die verflochtenen und geteilten Geschichten zu analysieren und das Verhältnis von Zentrum und Peripherie als Ordnungsmuster zu erschließen und zu hinterfragen. Dies kann zum einen bedeuten, nicht nur in nationale Zentren zu schauen, sondern auch in die Regionen/Provinzen, so von Paris nach Montpellier (Irish) oder von der amerikanischen Ostküste in den Mittleren Westen (Keller, Levine). Zum anderen geht es auch darum, den Blick wegzulenken von Hauptstädten, vor allem im Kontext von Empire, sprich neben London auch nach Bombay (Ellis), neben Wien auch nach Prag oder Budapest zu schauen.18 Sowohl die Subaltern Studies als 15
Stanford University, Mapping the Republic of Letters, (06. 07. 2015). 16 Eckhardt Fuchs, Transnational Perspectives in Historical Education Research, in: Comparativ 22 (2012), Nr. 1, Transnationalizing the History of Education, S. 7–14, hier: S. 8; Eckhardt Fuchs, Networks and the History of Education, in: Paedagogica Historica. International Journal of the History of Education 43 (2007), Nr. 2, S. 185–197. 17 Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005. Zu „Actor-Network-Theory“ in den Sozialwisssenschaften und besonders in der Bildungsgeschichte siehe John Law und John Hassard (Hg.), Actor Network Theory and After, Oxford 1999; Tara Fenwick und Richard Edwards (Hg.), Researching Education through Actor-Network Theory, Oxford 2012. 18 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im
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auch die vor allem in Großbritannien betriebene History of Empires arbeiten mit diesen Konzepten, jedoch aus unterschiedlichen Blickwinkeln.19 Aber auch in der Wissenschaftsgeschichte finden sich entsprechende Ansätze.20 Neben den Verflechtungen, Verbindungen, Interaktionen und Austauschbeziehungen betont vor allem die postkoloniale Tradition die Bedeutung von Agency.21 Verbindungen jeglicher Art sind in den seltensten Fällen Einbahnstraßen. Abgesehen davon können etwa nationale Peripherien durch transnationale Vernetzung auf anderer Ebene eine neue Rolle als Zentrum anstreben, wie nicht zuletzt mehrere Beiträge in diesem Band zeigen (Levine, Keller, Werner, Irish, Ellßel). Der Fokus auf verflochtene (entangled) und geteilte (shared) Geschichte(n) lässt hybride Identitäten, lokale Adaptionen und partielle Aneignungen erkennbar werden. In der Migrationsgeschichte sind derartige Phänomene schon lang etablierte Forschungsfelder mit transnationaler Ausrichtung.22 Für die Wissenschaftsgeschichte war zunächst vor allem die Wechselwirkung von Ideen interessant etwa im Zuge der New Intellectual History.23 Zunehmend erhielten aber auch Formen, Wege und Akteure des Austauschs forscherische Aufmerksamkeit. Mit dem sogenannten
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Deutschland des 20. Jahrhunderts, hg. von Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas, Stuttgart 2002, S. 32–51; Jan Surman, The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire (1848–1918), Basingstoke 2012. Ian Tyrell, Making Nations/Making States. American Historians in the Context of Empire, in: Journal of American History 86 (1999), Nr. 3, S. 1015–1044; Simone Bignall, Postcolonial Agency. Critique and Constructivism, Edinburgh 2010; Gyan Prakash, Subaltern Studies as Postcolonial Criticism, in: The American Historical Review 99 (Dezember 1994), Nr. 5, S. 1475–1490; Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Marxism and the Interpretation of Culture, hg. von Cary Nelson und Lawrence Grossberg, Urbana, IL 1988, S. 271–313. Tamson Pietsch, Empire of Scholars. University Networks and the British Academic World 1850–1939, Manchester 2013; Kris Manjapra, Age of Entanglement. German and Indian Intellectuals across Empire, Cambridge 2014; Thomas Schott, Jun Kanamitsu und James F. Luther, The U. S. Center of World Science and Emulating Centers. Japan and Western Europe, in: American Culture in Europe. Interdisciplinary Perspectives, hg. von Mike-Frank G. Epitropoulos und Victor Roudometof, Westport, CT 1998, S. 15, 38; Andreas Eckert (Hg.), Universitäten und Kolonialismus (Jahrbuch für Universitätsgeschichte 7), Stuttgart 2004; Robert S. Anderson, Nucleus and Nation. Scientists, International Networks, and Power in India, Chicago 2010. Zum Bsp. Gunilla Budde, Sebastian Conrad und Oliver Janz (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006; Sebastian Conrad und Shalini Randeria, Geteilte Geschichten. Europa in einer postkolonialen Welt, in: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, hg. von Sebastian Conrad und Shalini Randeria, Frankfurt a. M. 2002, S. 9–49; Dipesh Chakrabarty, Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: ebd., S. 283–312. Ludger Pries, Transnationale soziale Räume. Theoretisch-empirische Skizze am Beispiel der Arbeitswanderungen Mexiko-USA, in: Zeitschrift für Soziologie 25 (1996), S. 437–453; Peter Kivisto, Theorizing Transnational Immigration. A Critical Review of Current Efforts, in: Ethnic and Racial Studies 24 (2001), Nr. 4, S. 549–577; Dirk Hoerder, Transkulturelle Lebensformen. Menschen in Lokalen – (Post)Nationalen – Globalen Welten, in: Sozial.Geschichte 20 (2005), Nr. 1, S. 11–29. Anthony Grafton, Worlds Built of Words. Scholarship and Community in the Modern West, Cambridge, MA 2009
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Cultural Turn hatten Untersuchungen zum Kulturaustausch Konjunktur. Frühe Studien zum „steam age of the Republic of Letters“24 widmeten sich unter anderem der steigenden Zahl internationaler Kongresse zum Ende des 19. Jahrhunderts sowie ersten institutionalisierten Austauschprogrammen25 und vergleichbaren explizit grenzübergreifenden Kooperationen in der akademischen Welt.26 Schnell wurde konstatiert, dass die zu beobachtenden Mechanismen entschieden komplexer waren als der Begriff „Austausch“ es zu fassen vermochte, und Konzepte wie Transfer, Akkulturation, Übersetzung oder Aneignung traten an seine Stelle.27 Transferforschung beschäftigt sich dabei mit den Prozessen zumeist kulturellen Transfers in allen beteiligten Ländern oder Regionen und legt den Fokus auf die selektiven und produktiven Aneignungs- und Abwehrprozesse, aber auch
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Peter Burke, From the Disputation to the Power Point. Staging Academic Knowledge in Europe 1100–2000, in: Inszenierung und Gedächtnis. Soziokulturelle und ästhetische Praxis, hg. von Herman Blume et al., Bielefeld 2014, S. 119–131, hier: S. 129. 25 Liping Bu, US Cultural Exchange and Cultural Diplomacy in the Cold War, in: The Diplomacy of Ideas. U. S. Foreign Policy and Cultural Relations, 1938–1950, hg. von Frank Anthony Ninkovich, Cambridge 1981, S. 9–28; Ragnhild Fiebig-von Hase, Die politische Funktionalisierung der Kultur. Der sogenannte „deutsch-amerikanische“ Professorenaustausch 1904–1914, in: Zwei Wege in die Moderne. Aspekte der Deutsch-Amerikanischen Beziehungen 1900–1918, hg. von Ragnhild Fiebig-von Hase und Jürgen Heideking, Trier 1998, S. 45–88; Whitney Walton, Internationalism, National Identities and Study Abroad. France and the United States 1890–1970, Stanford 2010. 26 Paul A. Kramer, Is the World our Campus? International Students and U. S. Global Politics in the Long Twentieth Century, in: Teaching America to the World and the World to America. Education and Foreign Relations since 1870, hg. von Richard Garlitz und Lisa Jarvinen, Basingstoke 2012, S. 11–50; Eckhardt Fuchs, The Politics of the Republic of Learning. International Scientific Congresses in Europe, the Pacific Rim, and Latin America, in: Across Cultural Borders. Historiography in Global Perspective, hg. von Eckhardt Fuchs und Benedikt Stuchtey, New York 2002, S. 205–244; Sylvia Kesper-Biermann, Kommunikation, Austausch, Transfer. Bildungsräume im 19. Jahrhundert, in: Möller/Wischmeyer (Hg.), Transnationale Bildungsräume (Anm. 3), S. 21–41; Andrej Andreev, Die „Göttinger Seele“ der Universität Moskau. Zu den Wissenschaftsbeziehungen der Universitäten Moskau und Göttingen im frühen 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 15–27, 83–101; Gabriele Lingelbach, Cultural Borrowings or Autonomous Development. American and German Universities in the Late Nineteenth Century, in: Travelling between Worlds. German-American Encounters, hg. von Thomas Adam, Arlington 2006, S. 100–123. 27 Barnita Bagchi, Eckhardt Fuchs und Kate Rousmaniere (Hg.), Connecting Histories of Education. Transnational and Crosscultural Exchanges in (Post)Colonial Education, Oxford 2014; Esther Möller und Johannes Wischmeyer, Transnationale Bildungsräume. Koordinaten eines Forschungskonzepts, in: Möller/Wischmeyer (Hg.), Transnationale Bildungsräume (Anm. 3), S. 7–20, hier S. 8 f.; Thomas Adam, Intercultural Transfer and the Making of the Modern World, Basingstoke 2012; Guy P. Marchal, Europäische Kulturen – Mobilität, Kunst- und Bildungstransfer. Zusammenfassung und Kommentar, in: Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur, hg. von Rainer C. Schwinges, Christian Hesse und Peter Moraw, München 2006, S. 569–590; Milos Rezník, Grenzraum und Transfer. Perspektiven der Geschichtswissenschaft in Sachsen und Tschechien, Berlin 2007; Rainer C. Schwinges, Migration und Austausch. Studentenwanderungen im Deutschen Reich des späten Mittelalters, in: Migration in der Feudalgesellschaft, hg. von Gerhard Jaritz und Albert Müller, Frankfurt a. M./New York 1988, S. 141–155.
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auf Intentionen und Abwandlungen.28 Diese flexiblere Lesart von transnationalen Verknüpfungen erweist sich gerade für den Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert als notwendig. Steigende Mobilität und vereinfachte Kommunikationswege brachten wortwörtlich Bewegung in die statischeren Verflechtungsstrukturen vorangegangener Jahrhunderte. Der Kreis der bewusst und unbewusst partizipierenden Akteure erweiterte sich erheblich, zu den Professoren und Studierenden kamen akademische Administratoren, Wissenschaftsorganisatoren und Bildungspolitiker hinzu, neben nationale oder kommunale Regierungen traten philanthropische Organisationen, Interessensvereinigungen sowie informelle und formalisierte Sub- und Supranetzwerke. Kontakte wurden einfacher, häufiger und planbarer, und der Transfer verstärkte sich. Untersuchungen im Sinne der Transferforschung haben sich im Laufe der letzten Jahre zu einem dynamischen neuen Forschungsbereich innerhalb der Universitätsund Wissenschaftsgeschichte entwickelt. Die Themen reichen von der Entwicklung der Forschungsuniversität und anderen bildungsorganisatorischen Konzepten – vor allem im transatlantischen Kontext während des 19. Jahrhunderts – über die Verbreitung und Etablierung neuer Disziplinen und Praktiken bis hin zu Kulturdiplomatie und Austauschprogrammen ab der Jahrhundertwende oder globalen Vernetzungen innerhalb der Studierendenbewegungen während der 1960er Jahre.29 Nach wie vor sind nationale Vertreter und Regierungen wichtige Akteure, vor allem wenn es um 28
Michel Espagne, Die anthropologische Dimension der Kulturtransferforschung, in: Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, hg. von Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 75–93; Hartmut Kaelble, Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt?, in: connections, 08. 02. 2005, (01. 10. 2016); Michel Espagne und Michael Werner (Hg.), Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand, Paris 1988; Wolfgang Schmale, Kulturtransfer, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 31. 10. 2012, (01. 08. 2015); Matthias Middell, Kulturtransfer und Historische Komparatistik. Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ 10 (2000), S. 7–41; Johannes Paulmann, Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien. Einführung in ein Forschungskonzept, in: Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien, hg. von Rudolf Muhs, Johannes Paulmann und Willibald Steinmetz, Bodenheim 1998, S. 21–43; Thomas Adam, New Ways to Write the History of Western Europe and the United States. The Concept of Intercultural Transfer, in: History Compass 11 (2013), S. 880–892; Gabriele Lingelbach, Intercultural Transfer and Comparative History. The Benefits and Limits of Two Approaches, in: Traversea 1 (2011), S. 46–59. 29 Zu Transfer und Austausch Hermann Röhrs, The Classical German Concept of the University and Its Influence on Higher Education in the United States, Frankfurt a. M. 1995; Rainer C. Schwinges (Hg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001; Marc Schalenberg, Humboldt auf Reisen? Die Rezeption des „deutschen Universitätsmodells“ in den französischen und britischen Reformdiskursen (1810–1870), Basel 2002; Jürgen Heideking, Marc Depaepe und Jürgen Herbst (Hg.), Mutual Influences on Education. Germany and the United States in the Twentieth Century (Sonderband Paedagogica Historica 33), Gent 1997; Karl-Heinz Füssl, Deutsch-Amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung, Wissenschaft, Politik, Frankfurt a. M. 2004; Stefan Paulus, Vorbild USA? Amerikanisierung von Universität und Wissenschaft in Westdeutschland 1945–1976, München 2010; David Easton und Corinne S. Schelling (Hg.), Divided Knowledge. Across Disciplines, across Cultures, Newbury Park, CA 1991; Hinrich Seeba, Cultural History. An American Refuge for a German Idea, in: German Culture in Nineteenth-Century America. Reception, Adaptation,
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das Wechselspiel von Wissenschaft und Politik geht. Auch der komparative Ansatz bleibt präsent,30 dennoch sehen wir zunehmend auch multilaterale Fragestellungen. Der vorliegende Band nimmt diese Tendenzen auf und geht in verschiedenerlei Hinsicht über die bisherige Forschung hinaus.
THEMENKOMPLEXE Allen Beiträgen liegt mit einer gewissen Selbstverständlichkeit die Existenz von transnationalen Netzwerken, Verflechtungen und Transfers in der akademischen Welt zu Grunde. Es geht jedoch nicht nur darum, diese Strukturen zu identifizieren, sondern auch die vielschichtige Nutzung der so geschaffenen Verknüpfungen durch die unterschiedlichen Akteure zu untersuchen und die möglichen Formen institutionalisierter Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen dem Nationalen und dem Transnationalen in den Blick zu nehmen. Dabei kann es um die Förderung bestimmter Disziplinen gehen (Werner, Keller, Rausch) oder um Diskurse über Bildungsorganisation selbst (Levine, García Timón). Gleichzeitig blieb der Nationalstaat relevant, wenn der von Universität und Wissenschaft betriebene, grenzübergreifende Austausch von Ideen, Studierenden und Dozierenden (national-)politisch aufgeladen wurde, sei es bilateral (Levine) oder bündnispolitisch (Irish, Ellßel, Rausch). Allerdings gilt es hier, das in der Forschung dominante, monodirektionale Instrumentalisierungsnarrativ zu nuancieren, also nach den Motivationen der Universitäten selbst zu fragen und auch dort Agency anzusiedeln. Administratoren und akademische Akteure vor Ort wussten durchaus, das politische Interesse an Universitäten zu nutzen, mit ihrem kulturellen Kapital im eigenen Interesse zu handeln und aus diesen Verknüpfungen für das eigene wissenschaftliche und öffentliche Profil Gewinn zu ziehen (Ellis, Irish, Rausch, Ellßel, Levine). Die bewusste und gezielte Schaffung und Forcierung akademischer Netzwerke „von außen“ war in der Regel politisch motiviert. Vor allem im Kalten Krieg traten diese Praktiken hervor (Ellßel), sie sind aber durchaus auch schon früher erkennbar (Oertzen, Levine, Rausch). Die Netzwerke nutzend, gelang es akademischen Akteuren zuweilen jedoch auch, sich gegen eine Instrumentalisierung zur Wehr zu setzten und ihre eigene Identität als Akademiker zu akzentuieren (Ellis). Transnationale Vernetzungsbestrebungen, die von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen selbst ausgingen, verfolgten unterschiedliche Zielsetzungen. Karriereplanung war dabei nicht irrelevant (Werner, Keller, Ellis, Oertzen). Die Stärkung der eigenen Position im lokalen Kontext durch eine überregionale und translokale Gemeinschaft machten sich Frauen ebenso zunutze (Oertzen, Keller) wie Wissenschaftsstandorte, die sich gegen ein dominantes
Transformation, hg. von Lynne Tatlock und Matt Erlin, Rochester, NY 2005, S. 3–20; Nancy L. Ruther, Barely There, Powerfully Present. Thirty Years of U. S. Policy on International Higher Education, New York 2002; Martin Klimke, The Other Alliance. Student Protest in West Germany and the United States in the Global Sixties, Princeton 2010. 30 Siehe z. B. Sandra Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank. Die 68er und das Establishment in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M. 2010.
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Zentrum zu behaupten suchten (Irish, Levine). Austausch- und Kooperationsvarianten waren vielschichtig und lassen sich keineswegs auf wissenschaftliche oder politische Ziele und Inhalte reduzieren, nicht zuletzt da sich die Akteure nicht immer eindeutig einem Milieu (Politik oder Universität) zuschreiben lassen (Ellis, Levine, Irish, García Timón, Rausch). Vielmehr müssen beide Bereiche als „Ressourcen“ füreinander gesehen werden.31 Im Sinne einer modernen transnationalen Geschichte untersuchen die Beiträge in diesem Band Überlappungen und Verwerfungen in den unterschiedlichen Verflechtungsebenen: Lokale Akteure wie Universitäten, Studierende oder Dozierende etwa in Leipzig und Halle (Keller, Werner, Levine), Oxford, London oder Melbourne (Ellis, Ellßel), Montpellier oder Paris (Irish), interagierten in regionalen und nationalen Kontexten. Mal dienten Sachsen, Preußen, Wisconsin oder Indochina (García Timón, Levine, Ellßel) als Referenzrahmen und Transferquelle, mal Serbien, Frankreich (Irish), die USA (Rausch), Deutschland (Keller, Werner) oder Chile (García Timón). Meist bewegten sich die handelnden Akteure gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen. Hinzu kommen multilaterale Organisationsstrukturen (Rausch, Ellßel) und supranationale wissenschaftliche Gesellschaften (Ellis, Oertzen). Die transnationale Universität wird zum Brennglas, um die komplexen und dynamischen Strukturen der entgrenzten akademischen Welt historisch zu fassen.
1) Netzwerke Selbst wenn Netzwerke als natürliches strukturelles Phänomen der akademischen Welt gelten dürfen, können sie doch in der historischen Perspektive unterschiedliche analytische Funktionen erfüllen. Gemeinhin als Mittel zum Zweck konzipiert, konnten vor allem die transnationalen Vernetzungen auch selbst erklärtes Ziel sein. Gerade in einem kompetitiven Kontext, sei es um Ressourcen und Anerkennung, um politischen Einfluss oder um berufliche Perspektiven, erhielt die Vernetzung an sich schon einen Wert. Die drei Beiträge im ersten Teil des Bandes legen Beispiele dieser bewusst geknüpften, öffentlich gepflegten und – mit unterschiedlichem Erfolg – gezielt genutzten Netzwerke vor. Emily LEVINE nimmt transatlantische Verflechtungen als Ausgangspunkt ihres Beitrags. Allerdings stehen weniger die nationale Motivation im Mittelpunkt ihrer Fragestellung als vielmehr lokale und regionale Interessen. Levine geht davon aus, dass Wettbewerb keineswegs ausschließlich zwischen unterschiedlichen Nationen stattfand, sondern zuweilen mit noch größerer Intensität innerhalb einer Nation, was wiederum transnationale Allianzen beförderte. So stärkte der Wettbewerb die lokale Position, sei es im Fall von Karl Lamprecht, der sich in Leipzig gegen die Dominanz des Berliner Wissenschaftsstandorts stellte und dabei strategisch seine Verbindungen in die USA auszuspielen suchte, oder bei der University of Wisconsin, die sich
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Ash, Wissenschaft und Politik (Anm. 18), S. 32–51; Sybilla Nikolow und Arne Schirrmacher (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2007.
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von den Ostküsteneliten abzusetzen suchte. Levine untersucht, wie um die Jahrhundertwende in den Diskursen über die Bedeutung von Praxisorientierung nationaler Wettbewerb zu transnationaler Vernetzung und Verflechtung führte. Hier fanden die sächsische „Provinz“ des Deutschen Reichs und der akademisch „periphere“ Mittlere Westen der USA einen gemeinsamen Nenner, von dem sie sich beide im jeweils nationalen Kontext Vorteile erhofften. Durch die Einbeziehung regionaler Agenden im Rahmen der Netzwerkbildung hinterfragt dieser Beitrag darüber hinaus das etablierte Narrativ von der deutschen Theorieliebe und dem US-amerikanischen Pragmatismus. Christine von OERTZEN untersucht in ihrem Beitrag die Bedeutung von übernationaler Vernetzung für deutsche Akademikerinnen während der Zwischenkriegszeit. Anhand der International Federation of University Women (IFUW), einer angloamerikanischen Initiative mit internationalistischen Idealen, und ihren deutschen Mitgliedern gelingt es Oertzen, das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Identität und Organisation auf nationaler Ebene einerseits, und geschlechterspezifischen Herausforderungen und Chancen im transnationalen Netzwerk andererseits herauszuarbeiten. Lokale Bedürfnisse von Akademikerinnen – sei es die Einrichtung eines Studienhauses oder die Verbesserung von Karrierechancen – erhielten Rückhalt durch ihre Einbindung in eine supranationale Organisationsstruktur. Gleichzeitig bedeuteten Engagement und Akzeptanz der deutschen Akademikerinnen in diesem internationalen/transnationalen Forum auch die Rückkehr der deutschen Wissenschaft in die Reihen der globalen Gelehrtenrepublik nach der selbstverschuldeten Isolation der Kriegsjahre. Oertzens Beitrag verdeutlicht somit, wie bewusst vernetztes Handeln auf unterschiedlichen Ebenen Wirkung zeigte. Die Konsequenzen können lokal, national und international nachvollzogen werden, sind aber ebenso institutionsintern und milieuprägend relevant. Im Kalten Krieg erfuhr die weltweite Kulturdiplomatie der USA einen Professionalisierungsschub. Inzwischen waren akademische Netzwerke zu einem festen Bestandteil dieser Politik geworden. Christoph ELLSSEL geht in seinem Beitrag der Auseinandersetzung um „Hearts and Minds“ an Universitäten einmal nicht im europäischen Kontext nach, sondern richtet seinen Blick auf Australien und Südostasien und analysiert die akademischen Programme des Colombo-Plans auf politische Zielvorgaben und Umsetzung. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Art und Weise, wie die USA versuchten, an australischen Universitäten durch Stipendien für Studierende aus Südostasien die (zukünftige) Politik der Region indirekt zu beeinflussen. Netzwerkbildung war dabei erklärtes Ziel einer hegemonialen Machtsphärenpolitik, die – wie der Auswahlprozess der Stipendienkandidaten nahelegt – eindeutig die Eliten des nicht-kommunistischen Südostasiens im Auge hatte. Allerdings unterschätzte man die notwendige aktive Förderung einer dauerhaften Vernetzung, gerade weil man im universitären Kontext eine nachhaltig verflochtene Strukturbildung fast selbstverständlich erwartete. Angesichts der nicht immer klaren Kontrollstrukturen auf Seiten der USA, so weist Ellßel ebenfalls nach, nutzten australische Universitäten das geopolitische Interesse an ihrem Standort für ihre eigenen Zwecke, von finanzieller Unterstützung für Campuserweiterungen bis zur Durchsetzung eines akademischen Selbstbewusstseins gegen die ehemaligen Zentren in London, Oxford
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und Cambridge. Die Universitäten in Sydney, Melbourne und Adelaide gerierten sich als Schaltstelle in der akademischen Welt Ozeaniens mit Washington und nicht mehr London als Bezugspunkt. Damit lässt sich in diesem Beitrag auch die diachrone Überlappung von Netzwerken nachvollziehen, sowie die Umdeutung von Peripherie in der akademischen Welt.
2) Agency Eine qualitative Netzwerkanalyse, wie sie vor allem im Zuge des Cultural Turn üblich wurde, legt besonderes Augenmerk auf die Akteure, die innerhalb der verflochtenen Strukturen wirken und diese somit schaffen, nutzen, formen und verändern.32 Die drei Beiträge in Teil zwei legen dar, dass Agency in der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte unterschiedlich konzipiert und untersucht werden kann; von Individuen über Institutionen bis hin zu Organisationen. Fokussiert auf die Dynamik zwischen Netzwerk und Agency untersucht Heather ELLIS in ihrem Beitrag, wie einzelne Gelehrte es durchaus vermochten, Strukturen, hier etwa das (wissenschaftliche) Netzwerk des britischen Empire, für ihre eigenen Zwecke nutzbar zu machen. Dabei wird auch die Gleichzeitigkeit von regionaler, nationaler und transnationaler/internationaler Ausrichtung sichtbar. Für den Zeitraum zwischen 1830 und 1930 analysiert Ellis die Identitäten und Motivationen britischer Akademiker, die zunächst an einer britischen Universität lehrten, bevor sie in den Dienst der britischen Kolonialverwaltung traten. Die imperialen Verflechtungen nutzten sie im Laufe ihrer Karriere für Forschungs- und Austauschzwecke. Nicht alle von ihnen waren jedoch deshalb zwingend Imperialisten. Einige trieben auf diesem Wege ihre Disziplin voran; andere nutzten die etablierten transnationalen Kontakte gar, um anti-imperialistische Einstellungen zu verbreiten und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und zu vernetzen. Ellis zeigt in ihrem Beitrag, dass gerade im Bericht der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte die Unterscheidung von Struktur und Inhalt, sowie ein geschärfter Blick auf die Akteure bei der Analyse transnationaler Netzwerke gewinnbringende neue Einblicke liefern. Die französischen Universitäten demonstrierten eigenständige Agency selbst während der sonst von der Nationalregierung dominierten Phase des Ersten Weltkriegs. Tomás IRISH zeigt, wie gerade die kleineren Institutionen an der Peripherie es verstanden, die Krise zu nutzen, um ihre gesellschaftliche Position zu zementieren. Durch öffentlichkeitswirksame Beteiligung an der landesweiten Kriegsanstrengung wollten sie ihre Rolle als intellektuelle Vertreter der Republik bestätigen. Angesichts des kriegsbedingten Rückgangs von Studierenden und finanziellen Mitteln wurde diese Selbstinszenierung jedoch zunehmend schwierig. Stattdessen ging man dazu über, die französischen Kriegsbündnisse an den Universitäten sichtbar zu machen
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Betina Hollstein, Qualitative Methoden und Netzwerkanalyse – Ein Widerspruch?, in: Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen, hg. von Betina Hollstein und Florian Straus, Wiesbaden 2006, S. 11–36.
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und in Zeremonien zu zelebrieren. Serbische Gaststudenten füllten die vom Wehrdienst geleerten Hörsäle, belgische Dozenten erhielten Asyl und US-amerikanischen Vertretern verlieh man akademische Ehrenwürden. So wurde die Inszenierung von internationalen Verbindungen zum nationalen Patriotismusbeweis, der es darüber hinaus gerade den Universitäten in den Provinzen ermöglichte, sich neben dem Pariser Zentrum zu behaupten. Auch unmittelbar nach Ende der Kriegshandlungen blieb das transnationale Selbstverständnis der Universitäten handlungsleitend (im Rahmen bündnispolitischer Parameter), sei es die Ausrichtung des Curriculums auf eine multinationalere Studierendenklientel oder die Vereinfachung von Immatrikulationsregularien für demobilisierte Soldaten verbündeter Nationen – vor allem aus den USA, wo man eine neue, finanzstarke Wissenschaftsmacht aufsteigen sah. Irish legt dar, wie die Universität ihr besonderes Potential zur Sichtbarmachung grenzübergreifender Kooperationen den nationalen Bedürfnissen von Krieg und Bündnispolitik anpasste und so ihre eigene Position in mehrfacher Hinsicht zu konsolidieren vermochte. An der Schnittstelle von Politik und Wissenschaft agierten ab der Jahrhundertwende verstärkt auch Stiftungen und vergleichbare nicht-staatliche Institutionen. Helke RAUSCH widmet sich in ihrem Beitrag zwei der dominantesten Einrichtungen dieses Bereichs. Das Carnegie Endowment for International Peace (CEIP) und die Rockefeller Foundation (RF) wurden beide von den USA aus geführt, waren jedoch weltweit aktiv. Während der Zwischenkriegszeit wirkten sie, entsprechend ihrer unterschiedlichen Missionen, in verschiedener Weise auf die (Re-)Institutionalisierung von Wissenschaft in Europa, obgleich sich beide gleichermaßen am Ideal des „scientific internationalism“ ausrichteten. Das Carnegie Endowment hoffte, mit wissenschaftlichen Grundlagen den Völkerbund zu stärken, und setzte sich durch Konferenzen und Symposien vor allem für eine bessere Vernetzung von Völkerrechtsexperten ein. Gleichzeitig versuchte man, das Fach „International Relations“ zu etablieren. Die Rockefeller Foundation hingegen wollte gezielt Lösungen für gesellschaftspolitische Herausforderungen forcieren. Als besonders interessant galten vor diesem Hintergrund die Sozialwissenschaften und jene Institutionen, die darin brillierten, wie etwa die London School of Economics, die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin oder das französische Institut Scientifique de Recherches Économiques et Sociales. In Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, so auch in Bibliotheken und außeruniversitären Forschungsstellen, ließ sich das ideelle und finanzielle Engagement der Förderapparate konkretisieren und sichtbar machen. Abstrakte Ideale erhielten auf diese Weise eine institutionelle Manifestation. Schlüsselfiguren in beiden Stiftungen standen der US-amerikanischen Regierung nahe, waren zum Teil selbst Mitglieder, etwa im Kongress. Für sie waren ihre Bemühungen auch eine Art Quasidiplomatie angesichts der gescheiterten Ratifizierung des Völkerbunds in den USA. Rausch vergleicht die Strategien der beiden philanthropischen Vereinigungen und wägt ab, inwieweit sie – trotz des dezidiert US-amerikanischen Motivationshintergrunds – für den europäischen Kontext der Zwischenkriegszeit als Agenten der Transnationalisierung gelten können.
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3) Transfer Analysen von transnationalem Wissenstransfer aus ideengeschichtlicher Perspektive legen den Fokus vorwiegend auf disziplininterne Theoriebildung und fachspezifische Fragestellungen. Oft wird dabei übersehen, dass auch in der Bildungsorganisation ein reger Austausch stattfand.33 Die drei Beiträge im dritten Teil widmen sich daher vor allem dem Transfer von institutionellen Konzepten und bildungspolitischen Praktiken. Ana Belén GARCÍA TIMÓN analysiert die Adaptionen und Aneignungen deutscher Bildungskonzepte in Chile während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Sie weist nach, dass diese sowohl für organisatorische Fragen bei der Gründung neuer Institutionen als auch in der Formierung des Kanons eine Rolle spielten. Allerdings waren es die chilenischen Eliten, die Spezialisten entsandten, um vor allem in Preußen und Sachsen nach Entwürfen und Konzepten zu suchen. García Timón konzentriert sich in ihrer Untersuchung auf die Professionalisierung der Lehrerausbildung, bei der es aus Sicht der Oligarchen weniger um Wissenschaft als um Machterhaltung, aber auch um die Ausbildung eines Nationalbewusstseins ging. Gleichzeitig sollte die Lehrerausbildung landesweit für ein besseres Bildungsniveau sorgen. Die Untersuchung geht sowohl dem „Ideenimport“ als auch dem tatsächlichen Transfer preußischer und sächsischer Lehrer nach Chile nach. Das Zusammenspiel von Theorie und praktischer Durchführung war jedoch keineswegs problemlos, da die Motivationen der Lehrer einerseits und der politischen Eliten andererseits unterschiedlichen Parametern folgten. Während die einen primär machtpolitische Zielsetzungen verfolgten, ging es den anderen um eine Reform und Erweiterung des Bildungssystems. Der Beitrag verdeutlicht damit die Bedeutung transnationaler Transfers für nationale Bestrebungen. Gleichzeitig werden jedoch die Konflikte erkennbar, die eine machtpolitische Aufladung des Bildungsbegriffs mit sich bringen, wenn man die Einstellungen und Motivationen der nicht-staatlichen Akteure in die Analyse mit einbezieht. In Leipzig gesammelte Erfahrungen waren für die Entwicklung amerikanischer Musikkonservatorien relevant, wie Veronika KELLER in ihrem Beitrag darlegt. Keller kann insbesondere zeigen, dass ein Studium in Leipzig Frauen, die in Musik oft fast die Hälfte der US-amerikanischen Studierenden ausmachten, eine Ausbildungsmöglichkeit bot, bevor dies in den USA in größerem Umfang möglich war. Die Karriereoptionen für Frauen als Musiklehrerinnen in den USA beförderten die Gründung regional bedeutender Konservatorien wie etwa des Oberlin College. Dabei wurden Teile des Ausbildungsprogramms aus Deutschland übernommen. Gleichzeitig aber galten Transfer und Vernetzung über den Atlantik auch als Gütesiegel für die jungen Institutionen, vor allem in den Anfangsjahren. Keller zeigt in ihrer Analyse, wie die transatlantischen Biographien der Musikstudentinnen zur Stärkung regionaler Institutionen und geschlechterspezifischer Identitäten beitrugen. Anja WERNER beschäftigt sich mit US-Amerikanern, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Medizinstudium nach Halle und Leipzig kamen. Mit Blick 33
Eine Ausnahme bildet Möller/Wischmeyer (Hg.), Transnationale Bildungsräume (Anm. 3).
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auf die Karrierewege stellt sie fest, dass, wer nach Halle ging, später eher als niedergelassener Arzt arbeitete, während Leipzig eine stärker medizinwissenschaftliche Bedeutung hatte, vor allem für die Entwicklung der Physiologie. Durch die sich so entwickelnden Netzwerke wurden empirische Praktiken, aber auch die dafür nötigen Geräte über den Atlantik transferiert. US-amerikanische Absolventen aus Leipzig trugen entscheidend zum Aufbau der medizinischen Forschungslabore in Harvard und vor allem an der Johns Hopkins University bei. Bisherige Untersuchungen in diesem Themenfeld haben sich überwiegend auf Netzwerke zwischen deutschen Lehrern und US-amerikanischen Schülern konzentriert. Werner hingegen geht vor allem den Vernetzungen der Amerikaner untereinander nach, die sich innerhalb der amerikanischen Enklaven an den deutschen Universitäten formten und später für Karrieren, Forschung und Transfer in den USA relevant wurden, als Medizin sich dort von einem Ausbildungsberuf zu einer Wissenschaft entwickelte. Werners Beitrag konzeptualisiert so die deutsche Universität – als Ort – in einer neuen Rolle für die Konstituierung früher Transfernetzwerke US-amerikanischer Mediziner.
ABSTRACT The introduction contemplates the tension caused in and for universities by their position between transnational entanglements and national responsibilities. The authors unfold the theoretical framework that underpins the volume, which hinges on three parameters: networks, agency, and transfer. Traditionally, the network approach has had much influence in the history of universities and the history of science. Combining it with new emphasis on agency, enables us to bring the institutions back into the picture without losing the many advantages provided by network theory for analysing and conceptualizing entanglements and processes of transfer. The introductory thoughts draw lines and parallels between the different contributions and tie together the key strands emerging from the research presented. Besides the overarching questions, a number of recurring themes may be identified. For example, notions of space – in its actual sense or socially constructed – prove to be a defining factor in academic relations. Cultural diplomacy features prominently in a number of the chapters, but its traditional role and interpretation is challenged by paying more attention to the individual agency of academic institutions themselves. Finally, the notion of cultural transfer in a transnational world holds much promising potential for a new university history that takes seriously the unique position of institutions of research and higher learning – at the intersection of the public and the private; the social, the cultural, and the political; and, most of all, the regional, the national, and the transnational.
NÜTZLICHKEIT, KULTUR UND DIE UNIVERSITÄT AUS TRANSATLANTISCHER PERSPEKTIVE* Emily J. Levine
Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein eigenes Inneres voller Schlacken ist? und was, ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber uneins bin? (J. W. von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, V. Buch, 3. Kapitel, 1795) Is it not a curious fact that in a world steeped in irrational hatreds which threaten civilization itself, men and women – old and young – detach themselves wholly or partly from the angry current of daily life to devote themselves to the cultivation of beauty, to the extension of knowledge, to the cure of disease, to the amelioration of suffering, just as though fanatics were not simultaneously engaged in spreading pain, ugliness, and suffering? (Abraham Flexner, The Usefulness of Useless Knowledge, 1939)
In seinem Vortrag mit dem Titel „Vergleich deutscher und amerikanischer Universitäten“, den er im Oktober 1911 beim IV. Deutschen Hochschullehrertag zu Dresden hielt, stellte Max Weber eine Reihe von Überlegungen angesichts der ersten Krise im transatlantischen Hochschulwesen an. Weber artikulierte hier die von vielen deutschen Akademikern geäußerte Furcht vor dem US-amerikanischen Element, das im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts auf das deutsche Hochschulwesen übergriff: Die deutschen Universitäten verhielten sich zunehmend wie amerikanische Unternehmen. So stellte Weber fest: Dieses System von Mitteln hat die Gefahr erzeugt, dass bei uns ein akademischer Nachwuchs entsteht, der nicht mehr die alten Universitätstraditionen hoch hält, auch nicht mehr in sie hineinpasst, sondern der dem Typus eines Amerikaners gleicht, aber nicht eines Amerikaners an der Universität, sondern an der Börse.1
Der Hauptschuldige an dieser Entwicklung war der preußische Kultusminister Friedrich Althoff, der während seiner Amtszeit für die Verdopplung des Universitätsbudgets verantwortlich war, aber auch für die sehr strenge Herrschaft über jene Finanzen.2 Als ein Proto-„Wissenschaftsmanager“ trieb Althoff nicht nur neue Disziplinen *
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Großer Dank gebührt Friederike Simon für die Übersetzung des englischsprachigen Beitrages ins Deutsche. Außerdem danke ich Claudia Sternberger und Steffen Kaupp für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags für die Publikation auf deutsch sowie Charlotte Lerg für ihr wertvolles Feedback. Max Weber, Vergleich deutscher und amerikanischer Universitäten, in: Verhandlungen des IV. Deutschen Hochschullehrertages zu Dresden am 12. und 13. Oktober 1911 Bericht erstattet vom geschäftsführenden Ausschuss, Leipzig 1912, S. 66–77, 85 f. Siehe auch John Dreijmanis (Hg.), Max Webers vollständige Schriften zu wissenschaftlichen und politischen Berufen, Bremen 2012, S. 128. Roger Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life, 1856–1915, Leiden/Boston 1993, S. 85; Bernhard vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907. Das „System Althoff“, in: Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, hg. von Peter Baumgart, Stuttgart 1980, S. 37, 104, 107.
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Emily J. Levine
voran, einschließlich der Kulturgeschichte in Leipzig, sondern förderte auch die historischen Stärken bestimmter Universitäten, wie beispielsweise die Mathematik in Göttingen. Gleichzeitig pflegte er ein enges Netzwerk von loyalen Akademikern, die im Gegenzug seine Politik und Einstellungsentscheidungen unterstützten.3 Nach Webers Einschätzung wurde nicht nur Deutschland durch solche Methoden amerikanisiert, auch amerikanische Universitäten erfuhren eine Europäisierung. Es war also ein gegenseitiger Austausch, nicht nur ein Transfer amerikanischer Ideen nach Deutschland. Gewiss, Amerika hat seinen Althoff an jeder Universität, stellte Weber ironisch fest, [d]er amerikanische Präsident ist eben ein solcher.4 In der zunehmend transatlantischen – und auch globalen – Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sahen wissenschaftliche Reformer und Wissenschaftler nicht nur ihre Ideen, sondern auch ihre Institutionen im Lichte einer zunehmenden Vernetzung. In der Ideengeschichte zeichnete man in den letzten sechs Jahren den speziellen Weg nach, den europäische, und insbesondere, deutsche Ideen nahmen, als sie über den Atlantik getragen wurden. Amerikanische Interpretationen von Ranke, Nietzsche, Weber und Heidegger spiegelten dabei die Prioritäten, Politik und Bedürfnisse des amerikanischen Kontextes wider.5 Dasselbe gilt für Ideen, die in die entgegengesetzte Richtung wanderten. Wie James T. Kloppenberg im Hinblick auf William James argumentiert, dessen Arbeiten 1908 erstmals auf Deutsch veröffentlicht wurden, war die deutsche Wahrnehmung dieses Pragmatikers unglücklicherweise die einer typical American expression of the commercial mentality that was „inimical to all philosophy and science“.6 Während die Deutschen jedoch in James die Verkörperung des amerikanischen Utilitarismus sahen, machte James die gleiche Beobachtung über die Deutschen: Deren Voreingenommenheit mit akademischen Titeln stehe für eine Art Professionalismus, die in James’ Augen das Gegenteil seines wissenschaftlichen Ideals war. Sogar während andere amerikanische Wissenschaftsreformer im letzten Quartal des 3 4
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Peter Burke legt Althoff als einen neuen sozialen Typus fest, siehe Peter Burke, A Social History of Knowledge, Bd. 2: From the „Encyclopédie“ to Wikipedia, Cambridge 2012, S. 228. Max Weber, Vergleich deutscher und amerikanischer Universitäten (Anm. 1), S. 123, 129. Althoff erhielt 1906 einen Ehrendoktor der Harvard Universität. In der Convocation wurde er beschrieben als Leader of the Prussian universities, a man, energetic, unable to tire, sharp, wise, and brave, the most important personality in the German university system, s. Art. „Der Ehrendoktor der Harvard-Universität“, in: National-Zeitung (12. 07. 1906), S. 423. Zum Import deutscher Vorstellungen zur historischen Profession im 19. Jahrhundert siehe Peter Novick, That Noble Dream. The „Objectivity Question“ and the American Historical Profession, Cambridge 1988, S. 31. Zur Übertragung der Psychoanalyse auf den amerikanischen Kontext siehe Nathan G. Hale, Jr., The Rise and Crisis of Psychoanalysis. Freud and the Americans, 1917–1985, Oxford 1995, S. 3–5. Für jüngere Studien zu Wissenschaftlern in diesem Feld siehe Lawrence A. Scaff, Max Weber in America, Princeton 2011, S. 223–26, bes.: S. 223; Martin Woessner, Heidegger in America, Cambridge 2010; Jennifer Ratner Rosenhagen, American Nietzsche. A History of an Icon and His Ideas, Chicago 2012. In ihrer amerikanischen Reinkarnation erscheinen in allen diesen Werken die deutschen Ideen demokratischer und zugleich weniger intellektuell. James T. Kloppenberg, The Reciprocal Visions of German and American Intellectuals. Beneath the Shifting Perceptions, in: Transatlantic Images and Perceptions. Germany and America Since 1776, hg. von David E. Barclay und Elisabeth Glaser-Schmidt, Cambridge 1997, S. 166.
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19. Jahrhunderts fleißig daran arbeiteten, das Modell der deutschen Forschungsuniversität auf Amerika zu übertragen, sträubte sich James und blieb skeptisch. In einem Artikel mit dem Titel „The Ph. D. Octopus“, der 1903 in The Harvard Monthly veröffentlicht wurde, beklagte James die jüngste Faszination der Amerikaner für akademische Titel als eindeutig unamerikanisch. It is indeed odd to see this love of titles – and such titles – growing up in a country of which the recognition of individuality and bare manhood have so long been supposed to be the very soul. The independence of the State, in which most of our colleges stand, relieves us of those more odious forms of academic politics which continental European countries present.7
James sah die amerikanische Beschäftigung mit dem deutschen Modell der Forschungsuniversität als Teil eines ungesunden Trends zugunsten genau jener Nützlichkeit, derer sie die Amerikaner anklagten. Dieser Artikel argumentiert im Folgenden, dass: 1. das Forschungsfeld der Universitätsgeschichte in Deutschland und den USA von einer durch und durch wechselseitigen transatlantischen Geschichtsschreibung, die sowohl Ideen als auch insbesondere Institutionen auf beiden Seiten des Atlantiks, auch auf regionaler Ebene, miteinbezieht, profitieren könnte, 2. eine solche transatlantische Geschichtsschreibung einen stärkeren Fokus auf das Lokale und Regionale legen sollte, da in diesen Bereichen ein Wissenstransfer stattgefunden hat, anstatt sich mit dem nationalen oder gar globalen Kontext zu beschäftigen und 3. eine transatlantische Betrachtung der Debatte bezüglich der Nützlichkeit von Forschung und Lehre in unterschiedlichen Kontexten – pädagogisch, wirtschaftlich und militärisch – unerwartete Strukturen und Vergleiche aufzeigt, die noch heute von Bedeutung sind.
I. HISTORIOGRAPHISCHER KONTEXT Untersuchungen zu Biographien und Ideen im globalen Kontext haben weitgehend die Universitäten ignoriert, die oftmals die Grundlage für diesen Austausch schafften. Historiker haben begonnen, den Einfluss der Auslandserfahrungen auf die „transnationalen“ Biographien von Persönlichkeiten zu ermitteln; darunter W. E. B. Du Bois, der afroamerikanische Historiker und Bewunderer von Bismarck, und Kuwata Kumazo, der japanische Historiker, der zusammen mit einem Kollegen 1896 in Japan einen Verein nach dem Modell des Vereins für Sozialpolitik gründete, in Berlin, Susan Sontag in Paris, Angela Davis in Frankfurt, und Malcolm X in Oxford.8 Kwame Anthony 7 8
William James, The Ph. D. Octopus, in: The Harvard Monthly (März 1903), S. 8. Zu Du Bois in Deutschland siehe Kenneth Barkin, W. E. B. Du Bois and the Kaiserreich. Introduction, in: Central European History 31 (1998), Nr. 3, S. 155–170, bes.: S. 157, 161. Zu Kuwata siehe Kenneth P. Pyle, Advantages of Followership. German Economics and Japanese Bureaucrats, 1890–1925, in: Journal of Japanese Studies 1 (1974), Nr. 1, S. 127–164, bes: S. 147. Des Weiteren Stephen Tuck, Malcolm X’s Visit to Oxford University. U. S., Civil Rights, Black Britain, and the Special Relationship on Race, in: American Historical Review (Febr. 2013), S. 76–103 sowie weitere Beiträge in dem Heft Transnational Lives. Siehe auch Alice Kaplan, Dreaming in French. The Paris Years of Jacqueline Bouvier Kennedy, Susan Sontag, and Angela Davis, Chicago 2012.
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Appiah hat kürzlich die faszinierenden deutschen „lines of descent“ im Du Bois’schen Denken nachgezeichnet, wobei er Herder als Inspiration für den „Volksgeist“ in The Souls of Black Folk aufzeigt und die Spuren des Humboldt-Modells in Du Bois’ Hingabe zur humanistischen Bildung erkennt.9 Allerdings ist Appiahs Interpretation ein Beispiel dafür, wie die Fokussierung auf Einzelpersonen die weitreichenden Veränderungen vernachlässigt, von denen diese Biographien ein Teil waren, und im Besonderen den tiefgreifenden Einfluss, den diese Erfahrungen auf die Organisation von Wissen und die transatlantische Anpassung der Forschungsuniversität hatten.10 Von den Biographien zu wissenschaftlichen Methoden und Institutionen zu wechseln, erfordert von der primären Beschäftigung mit Einfluss und „Missverständnis“ abzukommen. Die Forschungsuniversität beispielsweise wurde bewusst neu gedacht, als sie über den Atlantik wanderte.11 Das Wiederaufleben des Interesses an der Wissenssoziologie und Netzwerktheorie hat geholfen, dieses Desiderat anzugehen. Historiker wie Joseph Ben David, der geschickt die Weberianische, Mannheimersche und Mertonsche Schule der Soziologie verband, lieferten erste Ansätze in diese bisher vernachlässigte Richtung. Allerdings setzt sich Davids erfolgreiches Werk aus bruchstückhaften Fallstudien zusammen.12 Durch Pierre Bourdieu und Fritz Ringer beeinflusste Wissenschaftler stellten überzeugend die These auf, dass die zwei Elemente – Institutionen und 9
Kwame Anthony Appiah, Lines of Descent. W. E. B. Du Bois and the Emergence of Identity, Cambridge 2014, S. 10 f., 46, 69. 10 Eine ähnliche Kritik ließe sich auch gegen William A. Koeltschs Studie zu Freud und Jung an der Clark Universität anbringen. Der Autor räumt selbst ein, es sei „perhaps more biographical than institutional [. . .] it may be that we have spent too much time arguing over the lines of influence of the event“, siehe William A. Koeltsch, „Incredible Day-Dream“. Freud and Jung at Clark, in: The Fifth Annual Paul S. Clarkson Lecture with Photographs and an Exhibition Catalog, Worcester 1984, o. S. Im Gegensatz dazu vernachlässigen jene Studien, die Institutionen in den Mittelpunkt stellen, häufig die Perspektive der individuellen Akteure. Siehe z. B. den Sammelband Henry Geitz, Jürgen Heideking und Jurgen Herbst (Hg.), German Influences on Education in the United States to 1917, New York/Cambridge 1995. 11 James T. Kloppenberg spricht davon, dass „prevailing stereotypes of American thought poisoned the German reception of the most important philosophical development of this century, and it is only within the last two decades that efforts to correct this misunderstanding have begun“, siehe Kloppenberg, The Reciprocal Visions of German and American Intellectuals (Anm. 6), S. 167. „Misunderstanding“ war auch das Thema der klassischen Arbeit Walter P. Metzgers zur Übertragung deutscher Konzepte von akademischer Freiheit; während Deutschland sowohl „Lehrfreiheit“ als auch „Lernfreiheit“ betonte, war für die Amerikaner vor allem letzteres von Bedeutung, siehe Walter P. Metzger, The German Contribution to the American Theory of Academic Freedom, in: Bulletin of the American Association of University Professors 41 (1955), Nr. 2, S. 217; Walter P. Metzger, Academic Freedom in the Age of the University, New York 1955. 12 Ben-Davids Festhalten an einer strukturalistischen, funktionalistischen Analyse und seine Weigerung, Biographisches einzubeziehen, sowie seine triumphalistische Sicht auf Großbritannien und die USA gilt es zu revidieren, siehe Gregory Mann, Institutional Dynamics of Scientific Change. Ben-David’s Legacy, review of Joseph Ben-David and Gad Freudenthal, Scientific Growth. Essays on the Social Organization and Ethos of Science, in: Social Studies of Science 23 (1993), S. 757–763. Der gegenwärtige Fokus auf Netzwerktheorie versucht diese Lücke zu füllen. Allerdings hat der quantitative Ansatz dieser Studien seine Grenzen, da er gezwungenermaßen narrative und konzeptionelle Fragen vernachlässigen muss, siehe z. B. Claudia Kemper, Das „Gewissen“ 1919–1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen, München 2011.
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Ideen – eng verbunden sind.13 Deutsche Wissenschaftler standen an der Spitze der Netzwerktheorie, allerdings blieben diese Arbeiten weitgehend innerhalb eines nationalen Rahmens verhaftet.14 Das Gleichgewicht zwischen Netzwerken und institutionellen Verbindungen schwindet, sobald man Universitätsgeschichte auf einen globalen Kontext ausweitet.15 Stattdessen verwenden deutsche und amerikanische Historiker Begriffe wie „soft power“ und „cultural diplomacy“ ebenso wie den derzeitig favorisierten, multilateralen „Kulturtransfer“, für den Literatur nicht nur zu den traditionellen Themen der Amerikanisierung – Taylorismus und Fordismus –, sondern auch zu Rock ’n’ Roll, Architektur, Design, Unternehmensorganisation und Militarismus existierten.16 Trotz des Aufrufes, einen „two way street“-Ansatz für den Wissenstransfer anzunehmen, konzentrieren sich solche Untersuchungen häufiger auf eine Seite der Entwicklungen, ohne die Partner (und Archive) auf der anderen Seite des Atlantiks zu berücksichtigen.17 Wissenschaftler, die über Universitäten im internationalen Kontext schreiben, tendieren größtenteils zu wirtschaftlichen Metaphern, wie an der Literatur zum „Export“ des deutschen Universitätsmodells ersichtlich wird.18 Bedauerlicherweise
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Pierre Bourdieu, The Genesis of the Concept of Habitus and Field, in: Sociocriticism 2 (1985), S. 11–24, bes.: S. 12–14; Fritz Ringer, The Intellectual Field, Intellectual History, and the Sociology of Knowledge, in: Toward a Social History of Knowledge. Collected Essays, hg. von Fritz Ringer, New York 2001, S. 4–25. Levke Harders nutzt auf innovative Weise Gender-Diskurse für ihre Analyse von AmerikaStudien, ihre Arbeit bleibt jedoch im amerikanischen Kontext verhaftet, siehe Levke Harders, American Studies. Disziplingeschichte und Geschlecht, Stuttgart 2013. Jürgen Schriewer (Hg.), Weltkultur und kulturelle Bedeutungswelten. Zur Globalisierung von Bildungsdiskursen (Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich 2), Frankfurt a. M./New York 2007. Zur frühesten Verwendung des Konzepts „cultural transfer“ siehe Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999. Jüngere Überblicksarbeiten zum Thema sind z. B. Renate Mayntz et al. (Hg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer. Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Bielefeld 2008. Zum „cultural turn“ in den Internationalen Beziehungen siehe Jessica C. E. Gienow-Hecht, On the Diversity of Knowledge and the Community of Thought. Culture and International History, in: Culture and International History, hg. von Jessica C. E. Gienow-Hecht und Frank Schumacher, New York 2003, S. 3–26. Spezifische Studien in diesem Forschungsfeld z. B. Uta G. Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and America, Berkeley 2000; Wade Jacoby, Imitation and Politics. Redesigning Modern Germany, Ithaca 2000; James C. van Hook, Rebuilding Germany. The Creation of the Social Market Economy, 1945–1957, Cambridge 2004. Für erhellende neue Arbeiten zum Konzept des „business transfer“ siehe Jonathan Zeitlin und Gary Herrigel (Hg.), Americanization and Its Limits. Reworking US Technology and Management in Post-War Europe and Japan, Oxford 2004. Akira Iriye konstatiert, dass viele Arbeiten, die behaupten „transnational“ zu sein, tatsächlich „uniarchival“ seien, eine Einschränkung, die meine Arbeit vermeidet, indem sie deutsche Archive nutzt, um eine amerikanischen Geschichte zu erzählen bzw. vice versa, siehe Akira Iriye, Internationalizing International History, in: Rethinking American History in a Global Age, hg. von Thomas Bender, Berkeley/Los Angeles 2002, S. 47. Anja Werners fundiert recherchierte Studie The Transatlantic World of Higher Education. Americans at German Universities, 1776–1914, New York 2013, konzentriert sich beispielsweise auf Amerikaner in Deutschland und schließt Deutsche in Amerika aus. Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Humboldt international. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001; Marc Schalenberg, Humboldt auf
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suggeriert diese Tendenz, dass die Universität ein Gut wie jedes andere war, weil diese Metapher in den meisten Fällen versäumt, die Ambivalenz abzubilden, mit der die Universität in die Weltwirtschaft integriert war und ist. Technologische Konzepte eröffnen aussagekräftigere Vergleiche von Universitäten. Bekanntlich gilt für die Wissenschafts- und Technologiegeschichte, dass die „diffusion of innovations“ eine Kombination aus Wettbewerb und Kooperation darstellte, die die Institutionen und Ideen für ihre Umsetzung benötigten.19 Der Weber-Althoff Schlagabtausch spiegelte ein wachsendes Unbehagen mit der Marktrelevanz der Universitätsausbildung wider – ein Unbehagen, das nicht auf Deutsche und Amerikaner beschränkt war.20 Denn wenn die Amerikaner der Nachahmung würdig waren, dann stellten sie auch eine potentielle Konkurrenz dar.21 Hinter der Fassade der Kooperation, die diese Austausche vorgaben, arbeitete der preußische Kulturminister daran, eine Reihe von Initiativen zu entwerfen, um die Überlegenheit der preußischen akademischen Einrichtungen zu sichern. Als Althoff Weber und andere bei deren Reisen nach St. Louis finanziell unterstützte, geschah dies ebenso in dem Bestreben, die amerikanische Konkurrenz zu taxieren, wie auch mit dem Vorsatz to promote Goethe in the world.22 Wissenschaftsmanager wie Althoff buhlten um die Rolle des Zentrums des Geisteslebens, und ihre Universitäten wollten Modelle der Bildungsexzellenz bieten. Gleichzeitig arbeiteten sie mit anderen Einrichtungen in einem Prozess des Wettbewerbs und der Kooperation zusammen, der sich wohl am besten mit dem wirtschaftlichen Begriff „co-opetition“ beschreiben lässt.23 Im Gegensatz zur „Export-Metapher“ schließt „co-opetition“ auch das menschliche Element von wissenschaftlicher Kooperation in seiner oft nicht greifbaren Beschaffenheit ein.
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Reisen? Die Rezeption des „deutschen Universitätsmodells“ in den französischen und britischen Reformdiskursen 1810–1870, Basel 2003. Everett Rogers, Diffusion of Innovations, New York 2003. Obgleich sie den Terminus „diffusion“ verwenden, bringen Edward Shils und John Roberts Institutionen, Biographien und Ideen nicht in vollem Maße zusammen, siehe Edward Shils und John Roberts, The Diffusion of European Models Outside Europe, in: Universities in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, hg. von Walter Rüegg, New York 2004, S. 163–230. In ganz Europa grassierten Minderwertigkeitsängste in Bezug auf Kultur und Wissenschaft, siehe Harry W. Paul, The Issue of Decline in Nineteenth-Century French Science, in: French Historical Studies 7 (1972), Nr. 3, S. 416–450; Robert Wohl, The Generation of 1914, Cambridge 1979, S. 130–134. Ragnhild Fiebig-von Hase, The United States and Germany in the World Arena, 1900–1917, in: Confrontation and Cooperation. Germany and the United States in the Era of World War I, 1900–1924, hg. von Hans-Jürgen Schröder, Oxford 1993, S. 33–68. Deutsche Rundschau, April 1907, zitiert in: Hugo Münsterberg, Das Studium der Amerikaner an deutschen Universitäten, 23. 07. 1908, Bl. 8, VI. Schmidt-Ott 474, Geheimes Archiv Preußischer Kulturbesitz. Peter Paret attestiert dem Deutschen Reich einen „anxious imperialism“ in Bezug auf Kunst bei der Weltausstellung in St. Louis 1904; siehe Peter Paret, Art und the National Image. The Conflict over Germany’s Participation in the St. Louis Exposition, in: Central European History 11 (1978), S. 173–183. Das von Spieltheoretikern entwickelte Konzept „co-opetition“ bietet sich an, um das Verhältnis von Universitäten untereinander sowohl im nationalen als auch im internationalen Kontext zu verstehen; siehe Adam M. Brandenburger und Barry J. Nalebuff, Co-opetition, New York 1997, S. 23–27.
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Selbst wenn Wissenschaftler diese kulturellen Debatten, wie jene hinsichtlich der Nützlichkeit von Bildung, in einem transatlantischen Kontext betrachtet haben, bleiben die Koordinaten dennoch meist auf nationaler Ebene verhaftet. Diese nationale Einseitigkeit zeigt sich zum Beispiel in der traditionellen Auffassung, dass die kulturelle Vorgeschichte des Krieges eine wachsende Debatte zwischen den kulturorientierten Deutschen und der „Zivilisation“, vertreten durch die anglofranzösische Allianz, gewesen sei.24 Jene Diskussionen neigen jedoch dazu zu ignorieren, dass kulturelle Einrichtungen historisch nicht den politischen und wirtschaftlichen Vorgaben des Staates folgten. Es ist bekannt, dass dies in der frühen Neuzeit der Fall war, wie Fernand Braudel beobachtet: Inside any world-economy [. . .] the cultural and economic maps might differ considerably, even contrast with each other, as the respective centers of gravity of economic zones and cultural zones significantly demonstrate. In the thirteenth, fourteenth and fifteenth centuries, the cultural center of Europe was neither Venice nor Genoa, the two queens of trade, which dominated western civilization, but Florence.25
Da die Welt immer globaler wurde, waren die Koordinaten dieser „co-opetition“ nie nationaler als in dieser früheren Zeit. Um Braudel noch einmal zu zitieren: When Amsterdam replaced Antwerp, when London took over from Amsterdam, or when in about 1929, New York overtook London, it always meant a massive historical shift of forces, revealing the precariousness of the previous equilibrium and the strengths of the one which was replacing it.26
Universitäten konstituierten sich lange vor und lange nach dem „nationalen“ 19. Jahrhundert lokal und regional, möglicherweise mehr als irgendwelche anderen kulturellen Einrichtungen. In meiner Argumentation liegt der Fokus stärker auf der lokalen als auf der nationalen Dimension von Wissenstransfer oder Wissensaustausch. Hinzu kommt der zwangsläufig ambivalente Charakter des „Zentrums“ im Gegensatz zur „Peripherie“, der entscheidend ist, um zu verstehen, wie Wissenschaftler und Reformer auf jene Globalisierung reagierten. Wenn man sich von diesem traditionell nationalen Ansatz der Kulturgeschichte löst, lässt sich ein noch komplexeres Netzwerk von Ideen, Institutionen und Individuen offenlegen, die sich an Diskussionen über Nützlichkeit und Kultur beteiligten. In ihrem Werk „World Republic of Letters“ bezieht sich Pascale Casanova auf Braudel – ebenso wie Valérys Konzept des „great market of human affairs“ –, um aufzuzeigen, wie das Geschäft der Literaturwelt funktionierte. Um im 19. Jahrhundert literarisch ernst genommen zu werden, musste man in Paris „gesegnet“ worden sein. Trotz der zentralen Rolle, die Paris in Casanovas brillanter Analyse spielt, steht sie dennoch in Distanz zur urbanen Tendenz der globalen „Gelehrtenrepublik“ und geht vielmehr konform mit einer traditionell nationalistischen Betrachtungsweise der Kulturgeschichte. „The particular case of Paris“, schreibt sie, „[the] denationalized 24
Siehe z. B. Modris Eksteins, Rights of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age, New York 2000. 25 Fernand Braudel, Civilization and Capitalism. 15th –18th Century, Bd. 3: The Perspective of the World, Berkeley 1992, S. 67. 26 Ebd., S. 32.
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and universal capital of the literary world, must not make us forget that literary capital is inherently national“.27 In ähnlicher Weise kristallisierte sich die Forschungsuniversität in ihrer modernen Form heraus, in einer zunehmend globalen Welt, in der Wissenschaftler auf die Ängste reagierten, die durch den neuen Druck der wirtschaftlichen Nützlichkeit hervorgerufen wurden. Drängende Fragen nach dem Zweck von Forschung und Lehre, der Beziehung zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften, und dem wirtschaftlichen Druck auf unsere akademischen Einrichtungen betreffen uns heute auf beiden Seiten des Atlantiks. Folglich erscheint es angebracht, diese Debatten in einem transatlantischen, wenn nicht sogar globalen Kontext mit einem regionalen Schwerpunkt zu historisieren.28
II. NÜTZLICHKEIT UND „REINE“ FORSCHUNG Dass die Universität zu einer Einrichtung werden würde, die sich sowohl der wissenschaftlichen Forschung als auch der Lehre widmete, war nicht unausweichlich. Die Entwicklung der Wissensorganisation lässt erkennen, dass diese zwei Aktivitäten vor dem 19. Jahrhundert weitgehend voneinander getrennt waren.29 Zur Zeit der Romantik glaubten die Deutschen, dass echte Bildung von der Institution der Universität untrennbar sei. In seiner klassischen Studie „German Romanticism and Its Institutions“ legte Theodore Ziolkowski dar, wie bei Schiller, Fichte und Schelling die Vorstellung von der Einheit des Wissen, die in einzigartiger Weise sowohl die Verbreitung als auch den Fortschritt des Wissens umfasste, zu einer Vision für die deutsche Universität beitrug. Sie bestand das gesamte 19. Jahrhundert fort.30 Diese Verbindung löste sich jedoch im Verlauf des 20. Jahrhunderts sukzessive auf, gerade als das so genannte „Humboldtsche Bildungsideal“ Deutsche wie Besucher in seinen Bann zog. Bezüglich seiner Umsetzung ergaben sich zwei Paradoxa: die schwierige Koexistenz von Forschung und Lehre in einer einzigen Institution und die Beziehung zwischen einer reinen Form der Forschung und Selbst-Kultivierung durch Anwendung der Forschung. Beide Formen blieben bestehen und bestehen bis heute fort.
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Obgleich Casanova einräumt, dass der Charakter von Kulturgeographie komplexer ist: „as against the national boundaries that give rise to political belief and nationalist feeling, the world of letters creates its own geography and its own divisions“, siehe Pascale Casanova, World Republic of Letters, Cambridge 2007, S. 23, zu Paris S. 34. 28 Japans Modernisierung fiel in die 1890er und Chinas folgte in den1920ern. Es waren größtenteils Reaktionen auf europäische und amerikanische Institutionen, siehe dazu überblicksartig Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Diskurse, die in den Sozialwissenschaften mitunter als „glocal“ bezeichnet werden, bleiben letztlich unhistorisch und auf Fallstudien begrenzt, siehe z. B. Barbara Czarniawska, A Tale of Three Cities, Or the Glocalization of City Management, New York 2002. 29 Joseph Ben-David, Academy, University, and Research Institute in the 19th and 20th Centuries. A Study of Changing Functions and Structures, in: Das Forschungsinstitut. Formen der Institutionalisierung der Wissenschaft, hg. von Erwin K. Scheuch und Heine von Alemann, Erlangen/Nürnberg 1978, S. 27–45. 30 Theodore Ziolkowski, German Romanticism and Its Institutions, Princeton 1990, S. 220–308.
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Kaum war im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die deutsche Forschungsuniversität auf amerikanischem Boden vervollkommnet worden, da erklärten Bildungsreformer jenseits des Atlantiks sie nicht länger für tragbar. Die sich ihrer Meinung nach in einer „Krise“ befindliche Universität und die deutsche Vorstellung von Wissenschaft, die idealerweise wissenschaftliche Untersuchungen und geistiges Vorwärtskommen zusammenführte, erschienen ihnen unter einem Dach nicht mehr vereinbar. Jenseits von hochtrabenden Bedenken hinsichtlich der „Entzauberung“ der modernen Welt, war der praktisch-orientierte Max Weber ebenso tief erschüttert von der Überfüllung der Seminarräume, dem Mangel an realisierbaren Karrierewegen für junge Wissenschaftler und der Monetarisierung des akademischen Berufes. Einhundert Jahre nachdem die Universität zu Berlin gegründet wurde, kündigte der Kaiser die Schaffung eines Fonds für einen neuen Verbund von Forschungseinrichtungen an. Der Entwurf priorisierte Naturwissenschaften und fußte auf der Grundlage des weltweit erfolgreich aufgenommenen amerikanischen Carnegie Institutes.31 Die Kaiser-Wilhelm-Institute (die nach dem Zweiten Weltkrieg als Max-Planck-Institute neu gegründet wurden) können entweder als eine kreative Lösung des „Universitätsproblems“ gelten, die Deutschlands Wettbewerbsvorteil in den Naturwissenschaften zur Jahrhundertwende retteten oder aber als ein Zeichen der Resignation; das Eingeständnis, dass die Universität, wie man sie gekannt hatte, ihr Ende gefunden hatte. Im Zentrum dieser „ersten“ Krise der Forschungsuniversität stand die Debatte über die Nützlichkeit sowohl der Wissenschaft als auch der Bildung. Rückblickend können wir den Verlauf dieser Entwicklung als dreigleisig beschreiben: pädagogisch, ökonomisch, und militärisch. Es folgt nun eine Auseinandersetzung mit vier entscheidenden historischen Momenten, um die Effektivität einer transatlantischen Herangehensweise bezüglich der Nützlichkeitsdebatte zu verdeutlichen: 1. Die Pädagogikdebatten der Aufklärung im 18. Jahrhundert; 2. die Nützlichkeitsdebatten des 19. Jahrhunderts, in Folge derer die Land Grant Institutions in den USA gegründet wurden; 3. die Verwendung von Privatkapital in Deutschland zur Gründung außeruniversitärer Institute im frühen 20. Jahrhundert und 4. die Bemühungen der Wissenschaftler und Reformer Fritz Habner und Abraham Flexner nach Ende des Ersten Weltkriegs auf die Realität der Nachkriegsgesellschaft mit neuen Institutionen und Konzepten zu reagieren, die erneut eine Fokussierung auf Nützlichkeit in Gang setzten.
III. PÄDAGOGISCHE DEBATTEN ÜBER DIE NÜTZLICHKEIT In Bezug auf den ersten Punkt erscheint das Schreckgespenst der Nützlichkeit bereits in der Aufklärung während des 18. Jahrhunderts, als eine rege Debatte über den Sinn von Bildung – Berufsausbildung oder Selbstkultivierung – sowohl
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Kurt Düwell, Die deutsch-amerikanischen Wissenschaftsbeziehungen im Spiegel der KaiserWilhelm-und der Max-Plank-Gesellschaft, in: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft, hg. von Rudolf Vierhaus und Bernhard vom Brocke, Stuttgart 1990, S. 750.
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institutionelle Gründungen als auch große literarische Überlegungen auslöste. Als Benjamin Franklin 1749 die University of Pennsylvania gründete, brachte er die Wichtigkeit der Vermittlung von „nützlichem“ Wissen in seinen „Proposals Relating to the Education of Youth in Pennsylvania“ klar zur Sprache: [I]t would be very well if they [students] could be taught everything that is useful, and everything that is ornamental: but art is long, and their time is short. It is therefore proposed that they learn those things that are likely to be most useful and most ornamental, regard being had to the several professors for which they are intended.32
Franklins Beschäftigung mit der Nützlichkeit war wahrscheinlich beeinflusst durch seine britischen Zeitgenossen John Locke, Richard Steele und Joseph Addison, deren Magazine „The Tatler“ und „The Spectator“ nützliches Wissen für das Allgemeinwohl bewarben. So hieß es in einem Artikel: If all our days were usefully employed, and we did not set out impertinently, we should not have so many grotesque professors in all the arts of life.33
Franklins Wiederholung dieser Art von Bildungsphilosophie setzte den amerikanischen geschäftstüchtigen Pragmatismus der Kolonialzeit voraus.34 Tatsächlich ging Franklins Abneigung gegenüber „grotesken Professoren“ so weit, dass er sich erfolgreich dafür einsetzte, Philadelphia von den „toten Sprachen“ zu befreien. Unter Berufung auf den schottischen Denker der Aufklärung George Turnbull, vertrat Franklin folgende Auffassung: The Greeks, perhaps, made more early advances in the most useful sciences than any youth have done since, chiefly on this account, that they studied no other language but their own.35
Franklins Aversion gegen jegliche Studien, die kein eindeutiges Ziel verfolgten, reflektierten eine generelle Tendenz der Aufklärung. Bekanntermaßen erzählte Locke selbst, wie er schockiert feststellen musste, dass ihm an seinen Untersuchungen, die er nur um ihrer selbst willen verfolgte, jede Freude fehlte.36 Wie das Zitat zu Beginn dieses Artikels zeigt, griffen deutsche romantische Klassiker wie Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ bekanntlich ein ähnliches Thema auf und warnten vor den Gefahren utilitaristischer Wissensansätze. Die kritischste institutionelle Reaktion auf
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Benjamin Franklin, Proposals Relating to the Education of Youth in Pennsylvania, in: Franklin. The Autobiography and Other Writings on Politics, Economics, and Virtue, hg. von Alain Houston, New York 2004, S. 203–214, hier: S. 207. Nach Raymond E. Wanner blieben Franklins Vorbilder trotz der Ähnlichkeiten mit Claude Fleury britisch utilitaristisch, siehe Raymond E. Wanner, Claude Fleury (1640–1723) as an Educational Historiographer and Thinker, Den Haag 1975, S. 253. Siehe auch Sir Richard Stelle, Selections from the Tatler, Spectator and Guardian, Oxford 1885, S. 272. Lawrence A. Cremin, American Education. The Colonial Experience, 1617–1783, New York 1970, S. 367. Benjamin Franklin, The Works of Benjamin Franklin: Containing Several Political and Historical Tracts Not Included in Any Former Edition, and Many Letters, Official and Private, Not Hitherto Published, hg. von Jared Sparks,. Boston, Mass., 1882, Bd. 2, S. 136. John Locke, Some Thoughts Concerning Education, in: English Philosophers of the Seventeenth and Eighteenth Centuries. Locke, Berkeley, Hume (Harvard Classics Bd. 37), New York 1910, S. 9–183.
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den Bildungsutilitarismus kam jedoch von einem Wissenschaftler, welcher in Oxford studiert hatte, kürzlich zum Katholizismus übergetreten war und an der Gründung einer Bildungseinrichtung nach einem neuen Modell arbeitete: John Henry Newman. In einer Reihe von Vorträgen, die er im Mai 1852 hielt, um die neue Katholische Universität in Dublin zu eröffnen, vermied Newman den Begriff der Nützlichkeit. Stattdessen erläuterte er die Wichtigkeit von Wissen um seiner selbst willen und die Verbindung zu der Bildungsgemeinschaft einer Universität – Gedanken, die heute weltweit weiterhin Einfluss haben.37 In der fünften Abhandlung des Bandes „The Idea of the University“, in dem er diese Aufsätze sammelte und kontinuierlich überarbeitete, verdeutlicht Newman seine Argumentation unter dem Titel „Knowledge its Own End“: I consider, then, that I am chargeable with no paradox, when I speak of a Knowledge which is its own end, when I call it liberal knowledge, or a gentleman’s knowledge, when I educate for it, and make it the scope of a University. And still less am I incurring such a charge, when I make this acquisition consist, not in Knowledge in a vague and ordinary sense, but in that Knowledge which I have especially called Philosophy or, in an extended sense of the word, Science; for whatever claims Knowledge has to be considered as a good, these it has in a higher degree when it is viewed not vaguely, not popularly, but precisely and transcendently as Philosophy. Knowledge, I say, is then especially liberal, or sufficient for itself, apart from every external and ulterior object, when and so far as it is philosophical, and this I proceed to show.38
Nützlichkeit war Newmans vorrangiges Angriffsziel: The Philosophy of Utility, you will say, Gentlemen, has at least done its work; and I grant it,– it aimed low, but it has fulfilled its aim.39
Newman bewarb unverhohlen den Erkenntnisfortschritt zugunsten seiner Verbreitung. Eine Gemeinschaft von Lernenden, die für dieses Projekt zusammenkamen, war Selbstzweck. Jeder andere Zweck brachte engstirnige Individuen und Ansichten hervor. Der Historiker und frühere Präsident der University of California, Clark Kerr, argumentiert, dass das der Realität und den Anforderungen der Welt entzogene „goldene Zeitalter“ der Selbstkultivierung ein Trend gewesen sei, der, aus globaler Perspektive, bis Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend überholt war.40 Nachwirkungen seien hier und da in der Nachkriegszeit wieder aufgetreten.41 Doch als Kardinal Newman die Katholische Universität von Irland gründete, hatte die deutsche Forschungsuniversität ein anderes Modell vor Augen: die reine Wissenschaft. Allerdings
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Jaroslav Pelikan, The Idea of the University. A Reexamination, New Haven 1992; Kein Uno, Newman and Modern Japan. The Reception of Educational Ideas and Activities of J. H. Newman in Japan, Tokyo 2010. Frank M. Turner (Hg.), The Idea of a University. John Henry Newman, New Haven 1996, S. 83. Ebd., S. 87. Clark Kerr, The Great Transformation in Higher Education, 1960–1980, New York 1991, S. 50. Sowohl das Black Mountain College in North Carolina als auch das Great Books Programm an der University of Chicago unter Robert Maynard Hutchins können als Beispiele gelten; zum Black Mountain College, siehe Martin Duberman, Black Mountain. An Exploration in Community, New York 2009; zu Hutchins siehe Robert M. Hutchins, Education. The Learning Society, in: Britannica Perspectives 2 (1968), S. 649–742.
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blieb, wie erwähnt, selbst in Deutschland ein Paradoxon bestehen, wie Humboldt 1810 bemerkte: Es ist ferner eine Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu thun hat und lernt. Das Verhältniss zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, Beide sind für die Wissenschaft da.42
Wie wir heute wissen, wurde dieses Dokument erst um 1900 entdeckt; insofern sind die internen Widersprüche umso signifikanter. Die Verfechter des Humboldt-Modells hielten nur mühsam die verschiedenen Fäden Selbstkultivierung und Nützlichkeit zusammen, bis im Krisenmoment der späten Kaiserzeit die Brüchigkeit der Formel deutlich zu Tage trat.43
IV. DIE LAND GRANT INSTITUTIONS Diese deutsche Debatte über den Zweck der Bildung wird noch verworrener, wenn wir unseren Blick auf eine transatlantische Perspektive ausweiten. Die traditionelle Erzählung, die die Geschichte der Forschungsuniversität in einer transatlantischen Perspektive betrachtet, konzentriert sich auf die amerikanische Adaptation der deutschen Forschungsuniversität gerade aufgrund ihres nicht-utilitaristischen Schwerpunktes.44 Bekanntermaßen gelang es Daniel Coit Gilman, die deutsche Auseinandersetzung zu seinem Vorteil zu nutzen, um 1876 mit der Gründung von Johns Hopkins eine neue Art des amerikanischen Hochschulwesens zu schaffen.45 Allerdings stellte der Präsident von Harvard, Charles Eliot, zunächst fest, dass a German University would suit the 150 young men who enter Freshman [at Harvard] every year, about as well as a barn-yard would suit a whale [. . .].46 Er selbst konzentrierte seine Reformbestrebungen auf das Wahlsystem, dessen Struktur es Studierenden erlaubte, Kurse zu belegen, die ihrem persönlichen Ziel und Talent entsprachen.47 Erst 42 43
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Wilhelm von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, Berlin 1810, S. 256. Sylvia Paletschek hat nachgewiesen, dass Wilhelm Humboldts Traktat in den 1890ern entdeckt und erst 1903 veröffentlicht wurde, siehe Sylvia Paletschek, The Invention of Humboldt and the Impact of National Socialism. The German University Idea in the First Half of the Twentieth Century, in: Science in the Third Reich, hg. von Margit Szöllösi-Janze, Oxford 2001, S. 37 f. Laurence Veysey, The Emergence of the American University, Chicago 1970. Hugh Hawkins, Pioneer. A History of the Johns Hopkins University, 1874–1889, Ithaca 1960. Siehe auch Roger Geiger, To Advance Knowledge. The Growth of American Research Universities, 1900–1940, New York 1986, bes.: S. 8. Siehe Brief an seine Mutter vom 30. Oktober 1864, in Henry James, Charles William Eliot. President of Harvard University, 1869–1909, Bd. 1, Boston 1930, S. 136. Unter Eliots epochaler Präsidentschaft (1869–1909) wurden in Harvard eine Summer School eingeführt (1871), das Arnold Arboretum (1872) und das Radcliffe College eröffnet (1879), aber er blieb den Graduate Schools gegenüber skeptisch, siehe Jonathan R. Cole, The Great American University. Its Rise to Preeminence, Its Indispensable National Role, Why It Must Be Protected, New York 2009, S. 21; Edward I. Pitts, The Profession of Philosophy in America, State College, PA 1979, S. 81.
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nachdem klar wurde, dass sich das Hopkins-Modell etablierte, fühlte er sich gezwungen, seine Haltung zu ändern.48 US-amerikanische Bildungsreformer starteten einen Wettkampf des Wissens, um ein Modell der Forschungsuniversität zu erschaffen, das auf der einen Seite vom deutschen Modell inspiriert war, aber auf der anderen Seite zeigen wollte, dass dieses deutsche Modell altmodisch und überholt war. Bildungsreformer beriefen sich auf die deutsche Idee auch in ihrer Verteidigung von Einrichtungen, die wegen ihrer Nützlichkeit und Anwendung gefördert wurden. Diese Position hatte seitens der Regierung schon mit dem Morrill Act von 1862 Unterstützung erhalten. Die vom US-Kongress sanktionierte Maßnahme gewährte jedem Bundesstaat ein beachtliches Stück Land zu dem Zweck, mindestens ein College zu unterhalten, where the leading object shall be, without excluding other scientific and classical studies, [. . .] to teach such branches of learning as are related to agriculture and the mechanic arts.49 Wenngleich in deutschen Auseinandersetzungen die „reine Wissenschaft“ essentiell blieb, wurde es von Bildungsreformern auch bei der Gründung der neuen staatlichen Universitäten in den USA herangezogen, was sich letztlich in einer Mischform beider Ansätze niederschlagen würde. So war die von Henry T. Tappen gegründete Land Grant University in Michigan für ihr Bemühen um die angewandten Wissenschaften bekannt, während Tappen selbst den Ruf besaß, „no friend of pure vocationalism“ zu sein.50 Andrew D. White, den Tappen in Michigan einstellte, hatte eine beträchtliche Zeit in Deutschland verbracht, bevor er in die Staaten zurückkehrte, um die Cornell University zu gründen, eine Einrichtung, die eine Forschungsuniversität mit einer deutschen Technischen Hochschule verbinden würde.51 In Madison, Wisconsin, nahm das Land Grant-Gesetz von 1862 einen anderen Verlauf. Bekannt für die „Wisconsin-Idee“, die Forschung und Staatsdienst vereinte, verdeutlicht Madison ebenfalls den „wechselseitigen“ transatlantischen Reformaustausch.52 Ein zentrales Element der „Wisconsin-Idee“ war die populistische Tradition, die ein Schlüsselelement der Politik des Progressivismus der Epoche darstellte. Professoren in Madison förderten die conviction that the University belongs to the people and should render service to it.53 Unter Präsident Thomas C. Chamberlain 48
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Im selben Jahr lud Gilman, inzwischen in Baltimore, Eliot ein, seine Einsichten zur höheren Bildung dem neuen Vorstand der Hopkins Universität mitzuteilen. Als zukünftiger Präsident der Institution und fleißiger Spender soll Gilman später geprahlt haben J. H. U. is often quoted to Pres. Eliot, & by him; & he has now announced that the chief topic of discussion in the Faculty next year is to be „Graduate instruction“, zitiert in Francesco Cordasco, Daniel Coit Gilman and the Protean Ph. D., Leiden 1960, S. 96. Zitiert in Geiger, To Advance Knowledge (Anm. 45), S. 5. Frederick Rudolph, The American College and University. A History, Athens 1990 [1962], S. 234. Cornell war noch hybrider, da dort Privatgelder mit dem deutschen Forschungsmodell kombiniert wurden, siehe Philip Dorf, The Builder. A Biography of Ezra Cornell, New York 1952; Carl L. Becker, Cornell University. Founders and the Founding, Ithaca 1943; Walter P. Rogers, Andrew D. White and the Modern University, Ithaca 1942. Zur transatlantischen Dimension von sozialen Reformen siehe Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, MA 1998; Axel Schäfer, American Progressives and German Social Reform, 1875–1920. Social Ethics, Moral Control, and the Regulatory State in a Transatlantic Context, Stuttgart 2000. David Boroff, On Wisconsin!, in: The Harpers Monthly (1959), Nr. 10, S. 33–40, hier: S. 34.
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wollten Wissenschaftler wie der amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner Wisconsin zu einem Pionier unter den Staaten des Mittleren Westens machen, um die Sozialwissenschaften zu fördern. Turner war am bekanntesten für seine „Frontierthese“, die dem Mittleren Westen eine besondere Rolle in der amerikanischen Geschichte verlieh. Dasselbe könnte man von der Universität an sich behaupten. In Madison grenzte man sich von anderen Land Grant Universities ab, indem man die Bemühungen betonte, Studierende für die Verwaltung sowie Bürgerrechte und -pflichten auszubilden, also den Wert des öffentlichen Dienstes in das Ethos der Universität einzubinden.54 Als der Progressivist Robert M. La Follette 1900 zum Gouverneur gewählt wurde, stellte er großzügig Absolventen der University of Wisconsin ein. Der Erfolg dieser Partnerschaft führte zur Bildung zweier „Hauptstädte“ im Staat.55 Doch diese Mischung aus Sozialwissenschaften und öffentlichem Dienst gestaltete sich alles andere als harmonisch. Von Beginn an besaß Wisconsin eine gespaltene Identität, die sowohl Angst und Stolz zugleich verursachte. Für einen New Yorker Journalisten wie Lincoln Steffens war es nicht ungewöhnlich, über Wisconsins „Humanism and Cheese“ zu scherzen.56 Präsident Charles R. Van Hise, der 1903 sein Amt antrat, verwandte viel Energie darauf, ein seriöseres Image für seine Universität zu entwickeln, die sowohl ein liberales geisteswissenschaftliches Herzstück besaß, aber doch utilitaristischer und demokratischer als der Osten war. Als Verfechter der „reinen Wissenschaft“ und des Lernens um seiner selbst willen, beschwichtigte der in Wisconsin geborene Van Hise geschickt die Furcht der Utilitaristen vor Wissenschaftlern, pottering around making experiments the ultimate use of which cannot be foreseen – in a state university.57 In diesen Debatten erlangte die Universität in Madison aufgrund ihrer deutschen Verbindungen Bekanntheit. Die Hälfte aller im Ausland geborenen Studenten kam aus Deutschland – eine Tatsache, die sich auf das soziale Leben des Colleges im Herzen einer Region mit starker deutscher Einwanderung auswirkte. So bemerkte ein Besucher um 1910: In the University of Wisconsin there are some evidences of Teutonic influence, although the most conspicuous is the abundance of beer.58
Es gibt jedoch Anhaltspunkte dafür, dass selbst die Einbeziehung der Landwirtschaft – die heute oft als uramerikanisches Element gilt – nicht allein eine amerikanische Innovation war, sondern vielleicht das Ergebnis eines deutsch-amerikanischen Austauschs.59 Darüber hinaus blieb das deutsche Modell an der Spitze dieser Debatten verortet. The German statesman regards it as a matter of course, so Steffens, that 54 55 56 57 58 59
Merle Curti und Vernon Carstensen, The University of Wisconsin. A History, 1848–1925, Bd. 2, Madison 1949, S. 88. Boroff, On Wisconsin! (Anm. 53), S. 33. Lincoln Steffens, Sending a State to College. What the University of Wisconsin Is Doing For Its People, in: The American Magazine 67 (1909), Nr. 4, S. 349–364, hier: S. 349. Ebd., S. 351. Edwin E. Slosson, Great American Universities, New York 1910, S. 282, Zitat S. 262. Karl-Heinz Füssl hat nachgewiesen, dass Justus Liebig, dessen Seminare an der Universität Gießen im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts viele Amerikaner hörten, der Entwicklung der Landwirtschaft besondere Bedeutung zumaß, siehe Karl-Heinz Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung, Wissenschaft, Politik, Frankfurt a. M. 2004, S. 55.
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the production of scholars and investigators at the university is a necessity to the nation. To them, he believes is largely due the position Germany has taken during the last half century.60 Van Hise fuhr mit der Förderung der Forschung fort, auch wenn seine Landsleute ihren Einfluss nicht unmittelbar ausmachen konnten. Gleichzeitig führte er Fakultäten für angewandtes Wissen (schools of applied knowledge) ein, einschließlich juristischer und medizinischer Fakultäten, Ingenieurwissenschaften, Landwirtschaft und Handel, welche die Basis für das System der University of Wisconsin bildeten.61 Die University Extension-Abteilung in Wisconsin ging über das Informelle hinaus, the broadening of the college into the university which makes and sells the Latin professor’s cheese. Während dieser Austausch von Gütern Weber beunruhigte, betrachte Van Hise ihn als essentiell für die weitere Demokratisierung der Universität, in der jeder alles lernen könne.62 1906 gegründet, zählte die Abteilung der University Extension bis September bereits 1 200 Studierende. Das Farmer’s Institute von Hise war ebenso erfolgreich. Selbst Sohn eines Landwirts, hatte Van Hise das Ziel, nicht nur die junge Generation von Bauern zu erreichen, sondern auch die „alten Landwirte“.63 Private business, run for profit, drums up its trade; why shouldn’t public business?, fragte Van Hise. Breweries plant saloons at seductive corners where the people pass; why shouldn’t the university seize every crossroads?64 Für Van Hise war der Druck wirtschaftlicher Nützlichkeit nicht zwingend der Feind der Wissenschaft, vielmehr motiviere sie zum Lernen. In diesen Entwicklungen, so glaubte Van Hise, stand Wisconsin nicht allein, sondern näherte sie sich den europäischen Ländern immer mehr an, notably Denmark and Belgium, [with which Wisconsin is] approaching complete co-operation. Wisconsin is a leading example of the [European] drift in America.65 Deutsche Besucher waren weniger geneigt, diese „Strömung“ des europäischen Geistes zu bemerken. Trotzdem waren sie vom Niveau der Studenten beeindruckt. Nachdem er im Sommer 1899 einen Vortrag zu deutschen Romantikern gehalten hatte, stellte der deutsch-amerikanische Kunsthistoriker Kuno Francke beeindruckt fest, dass die Studierenden auf dem gleichen Niveau waren wie jene in Harvard. Die koedukative Ausrichtung war ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu Universitäten im Osten.66 Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts war nicht Europa, sondern die Ostküste sowohl Referenzpunkt im Nacheifern wie auch im Wettbewerb. Dass Kuno Francke in Deutschland geboren war, war unbedeutender, als dass er Professor in Harvard war. Es war sicherlich eine Genugtuung für die Madison University,
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Steffens, Sending a State to College (Anm. 56), S. 351. Curti/Carstensen, The University of Wisconsin (Anm. 54). Steffens, Sending a State to College (Anm. 56), S. 352. Ebd., S. 357. Zitiert in ebd., S. 359. Ebd., S. 364. Kuno Francke, Deutsche Arbeit in Amerika. Erinnerungen von Kuno Francke, Leipzig 1930, S. 36 f.
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als sie Harvardpräsident Charles Eliot nach seinem Besuch 1908 als die leading state university bezeichnete.67 Ein Berichterstatter bemerkte zwei Jahre später: As the State universities develop their graduate schools, the number of those who go East for advanced work will decrease relatively, and perhaps actually, just as the number of American students in Germany has fallen off since the rise of true universities in the United States. Three years ago there were 200 American students in Berlin. Now there are only 68 men and 27 women.68
Angesichts der Tatsache, dass die University of Wisconsin oft als ur-amerikanisch angepriesen wurde, erscheint es beachtlich, dass die Wissenschaftler und Reformer vor Ort kaum in nationalistischen Begriffen dachten. Selbstverständlich blieben nationale Denkmuster grundsätzlich präsent. Ein amerikanischer Journalist etwa bemerkte noch 1959: A final paradox: UW is in the heartland of America, but its personality is ineradicably European. The University has sturdy departments of Germanic and Scandinavian studies, and its new President, Conrad Elvehjem, is a proud member of the Ygdrasil Norwegian Literary Society.69
Van Hise und seine Kollegen waren aber letztlich nur insofern an nationaler Identität interessiert, als dass sie ihrer lokalen Einrichtung ein bestimmtes Image verlieh. Als die Madison University Mitte des Jahrhunderts drohte, von konkurrierenden Staatsuniversitäten, vor allem von der University of California, verdrängt zu werden, verschaffte ihr genau diese Eigenschaft, die europäischste aller Universitäten zu sein, einen entscheidenden Vorteil. Für den Wissenstransfer fand Van Hise europäische Partner in Städten wie Leipzig, das begieriger darauf war, neue Ideen aus dem Ausland zu übernehmen. Von der als peripher wahrgenommenen Position aus wollte man an der Universität Leipzig seine Stellung im nationalen und internationalen Wettbewerb verbessern – diese Motivation hatte Priorität über die Zielvorgabe Althoffs, die Grundsätze Goethes in der Welt zu verbreiten. So lud der Kulturhistoriker Karl Lamprecht im Wintersemester 1911/1912 Paul Samuel Reinsch als Roosevelt-Professor nach Leipzig in der Hoffnung ein, den Schwerpunkt dieses Professorenaustauschs von der Hauptstadt in die Peripherie zu verlagern. Obwohl es ihm nicht gelang, einen langfristigen Austausch zu schaffen, der es mit demjenigen zwischen Berlin und Cambridge oder New York hätte aufnehmen können, glaubte Lamprecht, in einer regionalen Einrichtung wie der University of Wisconsin einen Partner zu haben.70 Angesichts des deutschen Modells wurden einige Annahmen zur Nützlichkeit angepasst, um das zu erzielen, was Kerr als die „American mixture“ bezeichnet.71 Jedoch blieb die Madison University für den Wissenstransfer ein regionaler und kein nationaler Bezugspunkt. 67 68 69 70
Zitiert in Steffens, Sending a State to College (Anm. 56), S. 350. Zitiert in Slosson, Great American Universities (Anm. 58), S. 2. Zitiert in Boroff, On Wisconsin! (Anm. 53), S. 34. Karl Lamprecht, Rektoratserinnerungen, Gotha 1917, S. 13. Die Carl Schurz Memorial Professur war aus genau demselben Grund an der University of Wisconsin etabliert worden: um deutsche Wissenschaftler nach Madison zu bringen und vor allem regionalen – statt nationalen – Austausch zu fördern, siehe Madison, University of Wisconsin, University Archives, Gen. Files, Carl Schurz Memorial Professorship, Box 1. 71 Clark Kerr legt dar, dass amerikanische Institutionen entgegen dem ersten Eindruck nicht so einfach als „privat“ oder „öffentlich“ kategorisiert werden können. Vielmehr verfügen sie in der
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V. ÖKONOMIE UND PHILANTHROPIE Dass Präsident Van Hise sich nicht nur mit Pädagogik befasste, sondern auch mit dem „Geschäft der Bildung“ weist auf den zweiten Referenzrahmen hin, in dem der Druck der Nützlichkeit spürbar wurde: der ökonomische Ansatz. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begannen Bildungsreformer, Staatsbeamte und ihre Unterstützer in der Industrie, das ökonomische Potential der Wissenschaft zu erkennen. Sie drängten darauf, aus diesem Potential von Ressourcen und Infrastruktur Kapital zu schlagen. Ebenso wie Verteidiger des Status quo sich auf die neu entdeckte Humboldt-Abhandlung beriefen, griffen auch viele der deutschen Bildungsreformer, die die Veränderung durch die Industrialisierung begrüßten, auf eben diesen Text zurück, um den Wandel zu rechtfertigen – und sie verwiesen mit derselben ambivalenten Haltung des Nacheiferns und des Wettbewerbs ebenfalls auf amerikanische Institutionen. Durch einen Fokus aus transatlantischer Perspektive auf die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und andere außeruniversitärer Institute kann eine gleichermaßen widersprüchliche Haltung von Nachahmung von und Konkurrenz mit US-amerikanischen Institutionen auf Seiten der Deutschen aufgezeigt werden. Die Frage war, ob die Universität in dem Bestreben gescheitert war, die miteinander verbundenen Ziele von Forschung und Lehre, Selbstkultivierung und Nützlichkeit, unter einen Hut zu bringen, und falls dem so war, ob und welche neuen Einrichtungen benötigt wurden, um die eine oder andere Aufgabe anzugehen. Die Entwicklung dieser neuen Räume für die Wissenschaft wäre nicht möglich gewesen ohne die aktive Rolle der Philanthropie. Hier wiesen die amerikanischen „Robber barons“ den Weg. 1887 veröffentlichte Andrew Carnegie „The Gospel of Wealth“, worin er mahnte, the man who dies rich dies in shame. Carnegies Ausspruch setzte nicht nur ein Zeichen für die Praktiken des Spendens in den USA, sondern bedeutete damit auch gleichzeitig eine Bedrohung für die Europäer. Sie mussten befürchten, aufgrund der neuen finanziellen Ressourcen für wissenschaftliche Entwicklungen jenseits des Atlantiks selbst ins Hintertreffen zu geraten, sollten sie dem Beispiel nicht folgen.72 Im selben Jahr wurde die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Berlin gegründet, eine neue Form von Forschungsinstitut, in der sich private und öffentliche Gelder miteinander vermischten. Der Theologe Adolf von Harnack nahm die philanthropische Konkurrenz aus den USA ernst, und doch argumentierte er, die Rechtfertigung der Gründung außeruniversitärer Institutionen finde sich im Selbstverständnis des deutschen Universitätsmodells. In seiner Mitteilung an den Kaiser im November 1909, erörterte Harnack,
Regel über komplexe Geschichten, die den amerikanischen Fall einzigartig machen, siehe Clark Kerr, The American Mixture of Higher Education in Perspective. Four Dimensions, in: Higher Education 19 (1990), S. 1–19. 72 Carnegies „Gospel of Wealth“ wurde auf Deutsch als „Das Evangelium des Reichtums“ 1892 herausgegeben. Siehe auch Adolf von Harnack, Carnegies Schrift über die Pflicht der Reichen, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (June 13, 1903); Adolf von Harnack, Das Carnegie Institut in Washington, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik (May 4, 1907), S. 163–166. Siehe auch Adolf von Harnack, Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 1, Gießen 1911, S. 167–171.
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dass Humboldt vor hundert Jahren vorausgesehen habe, dass die Nachfrage sowohl nach Forschung als auch nach Lehre „Hilfsinstitute“ erforderlich machen würde, das heißt, Forschungseinrichtungen, die „in der Nähe“, aber nicht in der Universität angesiedelt seien.73 Wie Harnack bemerkte, hatten andere Nationen bereits Ausgaben getätigt, um dieser Herausforderung zu begegnen. Deutschland zog kurz darauf nach, als die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ein erstes Institut, das sich ausdrücklich der Chemie widmete, gegründet wurde.74 Indem man auf private Gelder zurückgriff, um die steigenden Kosten der reinen Wissenschaft zu decken, wurde das Institut sowohl nach dem Vorbild des Carnegie Institute in Amerika als auch des Institut Pasteur in Frankreich gestaltet.75 Bekannte deutsche Industrielle wie Friedrich Alfred Krupp und sein Schwiegersohn Gustav Krupp begriffen instinktiv die Bedeutung von Philanthropie für die Wissenschaft. Sie waren auf eine Nutzung der Wissenschaft bedacht, um gleichzeitig soziale Probleme zu lösen und ihre eigenen Industrien zu verbessern.76 Allerdings erforderte die Rechtfertigung dieser Entwicklung gegenüber einer skeptischen deutschen Öffentlichkeit ein gewisses Geschick. Einigen bereitete es Sorge, den wissenschaftlichen Betrieb aus der Universität auszulagern und ihn stattdessen in einer entlegeneren Einrichtung zu platzieren. Bekannte Sozialisten wie Karl Liebknecht sorgten sich um den nachteiligen Einfluss, den die Privatwirtschaft ausüben könnte.77 Die verschiedenen Ängste sollten beschwichtigt werden mit einer Rechtfertigung, die für diese Art des „Pro-Utility“-Denkens exemplarisch werden würde. Die Praxis hat die reine Wissenschaft nötig, beharrte Harnack.78 Unter der Voraussetzung, dass Anwendung das höchste Ziel sei, rechtfertigte diese Formulierung gleichzeitig wissenschaftliche Abgeschiedenheit – vorerst. Die Maßgabe von „angewandter“ Forschung wurde zur Prämisse sinnvoller Wissenschaft, löste jedoch die Spannungen innerhalb der Debatte nicht auf. „Angewandte“ Forschung konnte tatsächlich eine Vielzahl an Bildungs- und Wissenschaftsvorhaben bedeuten. Tatsächlich bezog sich der Begriff „angewandt“ bis zur Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1910 auf Geisteswissenschaften, die auf den hauswirtschaftlichen Zweck und Design ausgerichtet waren, was sowohl künstlerische als auch technische Leistungen umfasste. Anders als auf dem Gebiet der Kunstgeschichte, bewegten sich jene Wissenschaftler, die sich auf die „angewandte“ Kunst spezialisierten, oftmals zwischen dem Museum und der Universität.
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Denkschrift von Harnack an den Kaiser (21. November 1909), in: 50 Jahre Kaiser-WilhelmGesellschaft und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 1911–1961. Beiträge und Dokumente, hg. von der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., Teil 2, Göttingen 1961, S. 80–94, hier: S. 80. Ebd., S. 87. Kristie Macrakis, Surviving the Swastika. Scientific Research in Nazi Germany, New York 1993, S. 12. Harold James, Krupp. A History of the Legenday Firm, Princeton 2015, S. 89–96. Karl Liebknecht, Kunst und Wissenschaft im Dienste des Kapitals. Preußens Universitäten – ein Kapital preußischer Unkultur. Reden im preuß. Abg. Haus zum Kultusetat am 15. und 16. 3. 1911, in: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 4, Berlin 1961, S. 236–274. Denkschrift von Harnack an den Kaiser (Anm. 73), S. 83.
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Ebenso kamen jene Mathematiker, die sich in das Feld der „angewandten“ Mathematik vorwagten, welches sich bald auf dem Gebiet der Ingenieurwissenschaften herauskristallisieren würde, zunehmend in einer wachsenden Anzahl an technischen Schulen zusammen, in denen diese ingenieurwissenschaftlichen Fähigkeiten gelehrt und verfeinert wurden.79 Die meisten deutschen Universitätswissenschaftler bewerteten diese Entwicklung nicht positiv. Jene Deutschen hingegen, die nach Amerika gereist waren, hatten eine andere Perspektive. Franz Reuleaux von der Bau- und Gewerbeakademie in Berlin war beschämt angesichts des Mangels deutscher Designprodukte auf der Weltausstellung 1876 in Philadelphia und gründete nach seiner Rückkehr nach Deutschland einen neuen Lehrstuhl für Design der Maschinen und Werkzeuge in Berlin.80 Der deutsche Mathematiker Felix Klein, bekannt für seine bahnbrechende Arbeit in der Geometrie, wurde zum Verfechter von Anwendung und Anwendbarkeit. Nachdem er 1893 zur Weltausstellung in Chicago nach Amerika gereist war, begriff Klein die Bedeutung anwendungsorientierter Institute für Lehre und Ausbildung und sprach sich für die Einbindung dieser Einrichtungen in die Universität aus.81 Der ambitionierte Kultusminister Friedrich Althoff unterstützte Klein und andere gleich gesinnte, innovative und mobile Wissenschaftler als eine Erweiterung seines kontroversen Managements kultureller Angelegenheiten. Kleins Voreingenommenheit bezüglich der Rolle Amerikas für die deutsche Wissenschaft komplementierte die Politik Althoffs: Kein Zweifel, dass eben nun und für die nächste Zukunft Amerika für uns das größste mögliche und glücklichste Object wissenschaftlicher Colonisation vorstellt. Amerikaner haben ja auch schon in den letzten Jahren in großer Zahl auf deutschen Universitäten studiert. Aber es ist das bisher ohne besondere Initiative von unserer Seite geschehen. Meine Reise bedeutet ersichtlich eine Änderung des Systems [. . .].82
Das System wandelte sich stärker, als Klein oder Althoff es hätten ahnen können. Erfahrungsberichte wie der, den Klein nach seiner Rückkehr aus den USA an Althoff sandte, bieten wertvolle historische Einblicke in die Komplexitäten interkultureller Eindrücke. Sie schufen jedoch auch die Basis für Wissenstransfer. Die imperialistischen Untertöne, die in Kleins früheren Darstellungen zu Amerika noch vorhanden waren, wichen der Ver- und Bewunderung angesichts der amerikanischen Vorstöße etwa in der Ingenieurausbildung, dem Frauenstudium, und hinsichtlich der privaten Finanzierung von Wissenschaft. In seinen Aufzeichnungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges reflektierte Klein: 79
Reinhard Rürup, Die Technische Universität Berlin 1879–1979. Grundzüge und Probleme ihrer Geschichte, in: Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin 1979, S. 3–50. 80 1884 gründete er die American-German Association of Technical Engineers, siehe Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch (Anm. 59), S. 56. 81 Reinhard Siegmund-Schultze, Felix Kleins Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die Anfänge deutscher auswärtiger Wissenschaftspolitik und die Reform um 1900, in: Sudhoffs Archiv 81 (1997), S. 21–38. 82 Klein an Althoff, 11. 10. 1893, Entwurf, in: Stadt und Universitätsarchiv Göttingen (hiernach NL Klein), Amerikareise, Cod. Ms. F. Klein 1 C, Bl. 1–3. Teilw. zitiert in Siegmund-Schultze, Felix Kleins Beziehungen zu den Vereinigten Staaten (Anm. 81), S. 27.
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Emily J. Levine Bei der Rückkehr brachte ich die lebhafte Überzeugung mit, dass es die dringendste Forderung sei, unmittelbare Beziehung unseres Unterrichtsbetriebes zu den massgebenden Potenzen des praktischen Lebens, in erster Linie zur Technik, dann aber auch zu den drängendsten Fragen des allgemeinen Unterrichtswesens herzustellen.83
Zurück in Deutschland forcierte Klein Beziehungen zu Partnern in der Industrie. Auf diese Weise gelang ihm die Gründung der Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik im Jahre 1898.84 Im gleichen Jahr, nicht zuletzt dank Kleins engagierter Lobbyarbeit, wurde in Deutschland den technischen Hochschulen das Promotionsrecht zugesprochen.85 Althoff förderte weitere Amerikareisen mit dem Ziel, nutzbare Ergebnisse über die Arbeit der dortigen Einrichtungen zu erlangen. Dabei spielten die Ingenieurund Naturwissenschaften – heute gern als MINT-Fächer zusammengefasst – eine besonders große Rolle. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) war wahrscheinlich die Inspiration für Kleins Anstrengungen in Göttingen.86 Die Organisation der Wissenschaft und Forschung blieb auch keineswegs immun gegen die neuen Geschäftspraktiken wie das „Shop-Management“, das etwa mit dem Taylorismus herüberschwappte; Institute wie die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft übernahmen einige dieser Praktiken aus der Wirtschaft – sehr zu Webers Verdruss.87 Der deutsche Emigrant und Historiker Fritz Ringer argumentiert, dass die Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Wissenschaft in ihrem Kern ebenso ideologischer wie ökonomischer Natur war. Ringers Auffassung nach widerstand die überwiegende Mehrheit deutscher Wissenschaftler, die er „Mandarine“ nennt, diesem Trend und suchte Zuflucht im Elfenbeinturm der Universität nicht nur vor den wirtschaftlichen Anforderungen der Welt außerhalb der Universität, sondern auch, was 83
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Felix Klein, Entwicklungsgang meiner Vorlesungen und Arbeiten (1913), in: NL Klein, Bl. 4, 22.L.3. Siehe auch Siegmund-Schultze, Felix Kleins Beziehungen zu den Vereinigten Staaten (Anm. 81), S. 26. Eine Karikatur, die 1908 zum 10-jährigen Jubiläum mit den Einladungen versandt wurde, bildete die Dreiecksbeziehung ab: Klein repräsentiert die Forschung, Böttinger die Industrie und Althoff überwacht die Verhandlungen von oben herab. „The Image of the Göttingen Association for the Advancement of Applied Physics and Mathematics“ reproduziert in: Lewis Pyenson, Mathematics, Education, and the Göttingen Approach to Physical Reality, 1890–1914, in: Europa 2 (1979), S. 118. Dass Klein dazu noch jüdisch war, wird die Bedenken angesichts dieser neuen Partnerschaft zwischen Wissenschaft und privatem Geld zusätzlich verschärft haben, obgleich die meisten Arbeiten zur Angst vor der „Judaisierung“ der Mathematik die wirtschaftliche Dimension nicht thematisieren, siehe auch David E. Rowe, „Jewish Mathematics“ at Gottingen in the Era of Felix Klein, in: Isis 77 (1986), S. 422–449. Zur Bedeutung Amerikas in Kleins institutionellen Leistungen für die Mathematik siehe Siegmund-Schultze, Felix Kleins Beziehungen zu den Vereinigten Staaten (Anm. 81), S. 34. Zur Rolle der USA in Kleins institutionellen Leistungen auf dem Gebiet der angewandten Mathematik siehe ebd. Rüdiger Hachtmann hat überzeugend gezeigt, wie der Management-Stil die Organisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft beeinflusste, siehe Rüdiger Hachtmann, „Die Begründer der amerikanischen Technik sind fast lauter schwäbisch-allemannische Menschen“. Nazi-Deutschland, der Blick auf die USA und die „Amerikanisierung“ der industriellen Produktionsstrukturen im „Dritten Reich“, in: Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, hg. von Alf Lüdtke, Inge Marßolek und Adelheid von Saldern (Transatlantische Historische Studien 6), Stuttgart 1996, S. 37–66.
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viel entscheidender war, vor den politischen Gegebenheiten.88 Ringers Betrachtung ignoriert jedoch den politisch fortschrittlichen Nutzen, den diese neu gegründeten halbprivaten Räume für Wissenschaftler boten, die bislang ausgeschlossenen Gruppen angehörten. Ein Drittel des Geldes, das für das Kaiser-Wilhelm-Institut und die Universität Hamburg gespendet wurde, kam von deutsch-jüdischen Unternehmern, die inspiriert worden sein könnten von der Kombination einer religiösen Ethik des Gebens und der gesellschaftlichen Teilhabe, die ihre Spenden ihnen einbringen konnte.89 Während das Thema der „privaten Gelder“ heute gemeinhin Vorstellungen einer ökonomisierten Wissenschaft nährt, galt dieser neue, halbprivat finanzierte Bereich der Wissenschaft damals als fortschrittlich: Jüdische Forscher und Wissenschaftler stellten eine unverhältnismäßig große Anzahl der Mitarbeiter in den Instituten, genauso wie Frauen, Dissidenten, Sozialisten und andere „Außenseiter“ der traditionellen Hochschule.90 Darüber hinaus suggeriert Ringers Ansatz, dass die Wissenschaftler in dieser Industrialisierung der Forschung nur eine passive Rolle spielten. Tatsächlich jedoch beabsichtigten viele – wie etwa Klein, Warburg und Lamprecht – aus diesen Veränderungen Kapital zu schlagen – nicht für Deutschland, sondern für ihre jeweilige Stadt. Die Einführung der Nützlichkeit, welche sich in der Zwischenkriegszeit verstärkte, als ein Maßstab für wissenschaftlichen Erfolg sollte im Lichte dieser ambivalenten Zusammenhänge betrachtet werden.
VI. REGION UND STADT Bildungsreformer in anderen europäischen Hauptstädten versuchten fast panisch, die Konsequenzen der deutschen Entwicklungen für ihr eigenes Ansehen zu verstehen. Die Fortschritte der Deutschen ließen sich kaum abstreiten, schon allein da amerikanische Studenten weiterhin deutsche Universitäten dem Studienort Paris vorzogen. Angesichts dieser Tatsache könnte man die französischen Universitätsreformen der 1890er Jahre, unter Federführung des Philosophen und Verwaltungsbeamten Louis Liard, als Bemühungen deuten, jenen ausländischen Markt endlich zu erobern. Wie jedoch Harry Paul zeigt, behalfen sich viele französische Wissenschaftler auf andere
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Fritz Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890–1933, Hanover, NH/London 1990; siehe auch Fritz Ringer, Review. Science, Society, and Ideology in France: I. The University, The Emergence of Modern Universities in France, 1863–1914 by George Weisz, in: Isis 74 (1983), Nr. 4, S. 566–568, hier: S. 567. 89 Christoph Kreutzmüller, Zum Umgang der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit Geld und Gut. Immobilientransfers und jüdische Stiftungen 1933–1945 (Ergebnisse. Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“, hg. von Rüdiger Hachtmann, 27), Berlin 2005. 90 Siehe z. B. Caspar Andersen, Jakob Bek-Thomsen und Peter C. Kjaergaard, The Money Trail. A New Historiography for Networks, Patronage, and Scientific Careers, in: Isis 103 (2012), Nr. 2, S. 310–315. Dieses sehr interessante Heft widmet sich nicht den sozialen Folgen dieses Umbruchs in der Wissenschaftsorganisation. Zu Frauen in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft siehe Annette Vogt (Hg.), Wissenschaftlerinnen in Kaiser-Wilhelm-Instituten. A-Z (Veröffentlichungen aus dem Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft 12), Berlin 2008.
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Weise und „admitted German superiority in areas that could be measured, claiming that French superiority could not be measured“.91 Trotz der Unsicherheit der Franzosen in Bezug auf den angeblichen „Niedergang“ der französischen Wissenschaft in den 1890er Jahren waren die Amerikaner nicht nur von deutschen Universitäten, sondern ebenso von den Franzosen begeistert, insbesondere von deren Berufsschulen.92 Henry James zufolge dürfte Charles Eliot, später der berühmte Präsident von Harvard, durch den Besuch von Frankreich 1863 seine eigenen Vorstellungen von einem Praktikum entwickelt haben.93 Der amerikanische Wissenschaftler und Gründer von John Hopkins Daniel Coit Gilman stimmte zu, obwohl er für die südeuropäischen Länder weniger Sympathien hegte. In einem Bericht, den er im Anschluss an eine Reise nach Europa für die pädagogische Zeitschrift „Barnard’s American Journal of Education“ anfertigte, schrieb er: It is not necessary to refer to Spain, Portugal, and Italy, where scientific education, although commenced, is still far behindhand.94
Am Vorabend des Ersten Weltkrieges tobte eine Auseinandersetzung zwischen José Ortega y Gasset und Unamuno über die Bedeutung des wissenschaftlichen Rufes Spaniens in der internationalen Welt. Letzterer warnte seine Landsleute davor, die Deutschen zu imitieren. Let the others invent, verkündete er 1914 in einer provokativen Rede in Madrid und verwandte viel Energie darauf, eine einzigartige Art spanischen Mystizismus zu bewerben anstatt einer „soulless science“.95 Falls es nicht möglich sein sollte, die Deutschen in ihrer Entwicklung, die Meister der wissenschaftlichen Anwendung oder Technik zu werden, aufzuhalten, dann würden die Spanier die wahren Überbringer der Selbstkultivierung bleiben. Jedoch wurden, wie so oft, nationale Stereotypen durch regionale Abweichungen verkompliziert. Zunächst wirkten starke regionale Zentren in Lyon und Nancy unterschiedlich am internationalen Wettbewerb mit. Tatsächlich beriefen sich diese politisch unbedeutenden Städte oftmals auf das amerikanische Modell der Philanthropie, um Partnerschaften mit lokalen Wirtschaftsführern und der Industrie im Dienste der regionalen Wissenschaft zu begründen.96 Wenn man den Blick auf die Peripherie richtet, sind noch weitere Argumentationen zu sehen. Von Leipzig aus riet 91 92 93
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Harry W. Paul, The Sorcerer’s Apprentice. The French Scientist’s Image of German Science, 1840–1919, Gainesville 1972, S. 78. Paul, The Issue of Decline in Nineteenth-Century French Science (Anm. 20), S. 416–450. „I can’t but think that a thorough knowledge of what France has found useful for the development of her resources, may some day enable me to be of use to my country“, siehe Henry James, Charles William Eliot (Anm. 46), S. 130. Daniel Coit Gilman, Scientific Schools in Europe, in: Barnard’s American Journal of Education 1 (1855), S. 317–328, hier: S. 317. Carol Hess nennt dies eine Debatte über den national inferiority complex. Hess’s Arbeiten reagieren auf Robert Wohl, der – wenn man so will – die vermeintliche Vorreiterstellung Deutschlands im Zentrum des Fortschritts historiographisch rekapituliert. Hess fügt Spanien wieder in die Geschichte des Modernismus ein, siehe Wohl, The Generation of 1914 (Anm. 20), S. 130–34; Carol A. Hess, Manuel de Falla and Modernism in Spain, 1898–1936, Chicago 2001. Terry Shinn errechnete, dass die naturwissenschaftliche Fakultät von Lyon zwischen 1885 und 1900 5 Mio. Francs aus privaten Spenden erhielt, während die naturwissenschaftliche Fakultät von Toulouse 3,5 Mio. verbuchen konnte, siehe Terry Shinn, The French Science
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der Kulturhistoriker Karl Lamprecht seinen Landsleuten, den Erfolg seines Instituts für Kultur- und Universalgeschichte, eine der ersten halbprivaten Forschungseinrichtungen in Deutschland, zu nutzen, um die lokale Identität der Stadt zu stärken. Vor allem in Abgrenzung zu Berlin, das die Absicht erklärt hatte, sich auf die Naturwissenschaften zu konzentrieren (am Vorabend des Zweiten Weltkriegs würde es 26 naturwissenschaftliche Institute geben), solle sich Leipzig auf seine Stärken konzentrieren: die Geisteswissenschaften. Lamprecht schlug vor, dass die Stadt in ihrer Rolle als Schirmherrin der Institute neben der Kulturgeschichte neue Disziplinen wie Psychologie, Sprachwissenschaften, und Soziologie ausbauen solle.97 Durch die Ausnutzung ihrer Besonderheit in diesen so genannten „Grenzwissenschaften“, könne Leipzig seine benachteiligte Position im Bereich der Naturwissenschaften nutzen, um eine urbane Hochburg der Geisteswissenschaften im Allgemeinen zu werden, eine Vorstellung, die zweifelsohne als Gegenentwurf zu Berlin entwickelt wurde, aber auch im Hinblick auf internationale Beispiele.98 In Hamburg führte eine langwierige Debatte hinsichtlich der Gründung einer Universität in der Stadt zu unterschiedlichen Vorstellungen von deutscher Wissenschaft, die eher lokal und regional waren als national.99 Wissenschaftler wie Aby Warburg und Albrecht Mendelssohn Bartholdy plädierten in Hamburg für die Förderung einer intellektuellen städtischen Identität, die an die Stärke der Hafenstadt als kosmopolitisch, kaufmännisch und innovativ anknüpfen solle.100 Lamprecht beriet Wissenschaftler in Hamburg und später in Frankfurt in einer ähnlichen Richtung wie seine Agenda in Leipzig. In einem Leserbrief, der 1909 veröffentlicht wurde, forderte Lamprecht Frankfurt dazu auf, seine Stärken zu vermarkten und sich auf die Geisteswissenschaften zu konzentrieren, anstatt vergeblich zu versuchen, sich mit dem Engagement für die Naturwissenschaften zu messen, das zu jener Zeit in Berlin im Gange
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Faculty System, 1808–1914. Institutional Change and Research Potential in Mathematics and the Physical Sciences, in: Historical Studies in the Physical Sciences 10 (1979), S. 271–332, hier: S. 310–12; George Weisz, The Emergence of Modern Universities in France, 1863–1914, Princeton 1983, S. 170. Siehe Gerald Wiemers, Karl Lamprecht und die Staatliche Forschung, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 64 (1993), S. 141–150, hier: S. 141. „Grenzwissenschaften“, ein Terminus, der um die Jahrhundertwende gang und gäbe war, bezeichnete Bereiche, die zwischen Disziplinen lagen, siehe Walter Herzog, Wissenschaft und Wissenschaftstheorie. Versuch einer Neubestimmung ihres Verhältnisses am Beispiel der Pädagogik, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 18 (1987), S. 134–164. Im Gegensatz zu Berlin, wo die Institute keine Verbindung zur Universität hatten, sollten jene in Leipzig auch universitäre Institute sein: „for which there existed a more secure and faster progress to new results“, Lamprecht an Unbekannt, 06. 05. 1913, in: Bonn Universitäts- und Landesbibliothek, 2713 UL 10. Zum Wettbewerb zwischen Berlin und Leipzig siehe Matthias Middell, Konfrontation auf Augenhöhe? Die Universitäten Leipzig und Berlin im Wilhelminischen Deutschland, in: Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910 (Schriften des Historischen Kollegs 76), hg. von Rüdiger vom Bruch, München 2010, S. 189–212. Siehe auch Emily J. Levine, Dreamland of Humanists. Warburg, Cassirer, Panofsky, and the Hamburg School, Chicago 2013, S. 81–92. Ebd., S. 72–92.
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war.101 So gesehen wurde die Spannung zwischen Lehre und Forschung, Selbstkultivierung und Nützlichkeit, kontinuierlich neu verhandelt, angesichts der ständigen Verlagerung auf dem Feld des regionalen, nationalen und internationalen Wettbewerbs.
VII. DAS MILITÄRISCHE ELEMENT Das dritte Merkmal, das es in jeder transatlantischen Geschichte der Nützlichkeit zu untersuchen gilt, ist die Auswirkung des Krieges auf wissenschaftliche Beziehungen und Prioritäten. Zunächst war die Sorge, die etwa Althoff umtrieb, größtenteils kultureller und wirtschaftlicher Natur. Die Intensität seiner Bestrebungen leitete sich jedoch weitgehend von den militärischen Ansprüchen ab, die eine zentrale Dimension jeglicher Rivalität zwischen Nationen darstellt. Die Franzosen hatten diese Lektion allzu bitter erfahren müssen. Ihre verheerende militärische Niederlage gegen die Deutschen 1870/71 betrachteten viele französische Wissenschaftler und Politiker als einen Ausdruck des grundsätzlichen „Niedergangs“ der französischen Wissenschaft. Sie gelobten daher, in Zukunft der Zeit stets voraus zu sein.102 Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Bedrohung des Krieges, könnte man annehmen, dass sich keine Nation je an dem oben beschriebenen produktiven Kooperationswettbewerb beteiligen würde. Länder, die mit anderen Ländern kooperierten, riskierten schließlich so ihren geopolitischen Status zu gefährden. Doch selbst in der militarisiertesten aller Wissenschaften war dies, wie die Arbeit von Dirk Bönker zeigt, nicht der Fall: Sogar in der Marinegeschichte, so Bönker, beteiligten sich Historiker und Politiker aus Deutschland und den USA in einer zunehmend globalen Welt aktiv an Austausch und wissenschaftlicher Gemeinschaft.103 Jedoch ist auch (insbesondere) hier der Wettbewerb, der hinter der Bewunderung steckte, klar erkennbar. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ließ diese Rivalität auf das Gewaltigste aufbrechen. Während des Krieges dienten wissenschaftliche Erfolge nicht länger allein dem kulturellen Stolz, sondern waren ein konkreter Aspekt der militärischen 101 Karl Lamprecht, Die Universität Frankfurt, in: Kleine Presse (December 24, 1909), 11125, 10281/203, Dresden Hauptstaatsarchiv. 102 Paul, The Issue of Decline in Nineteenth-Century French Science (Anm. 20), S. 416–450. 103 So schrieb etwa der US-Armeeoffizier Emory Upton 1875 bewundernd über das europäische Offizierskorps und drückte den Wunsch aus, die amerikanischen Streitkräfte im Sinne des idealisierten europäischen Modells zu erneuern. Das berühmte Werk des Historikers Alfred Thayer Mahan, „The Influence of Sea Power upon History“, dessen erster Band 1890 veröffentlicht wurde, war augenscheinlich beeinflusst von Theodor Mommsens „History of Rome“ und prägte wiederum seinerseits die deutsche Marineausbildung. Um 1893 drängte das Kaiserliche Oberkommando der Marine alle Offiziere, Mahan zu lesen, von dessen Buch auch der Kaiser behauptete, es „verschlungen“ zu haben. Tatsächlich war ausgerechnet der führende Marinestratege, Admiral von Tirpitz, bekannt für seine aggressive Flottenrüstungsstrategie und Weltpolitik, maßgeblich beteiligt an der deutschen Übersetzung und Verbreitung dieses amerikanischen Werks. Dirk Bönker analysiert wie Atlantic crossings in der Progressive Era die amerikanische Flottenpolitik beeinflussten, siehe Dirk Bönker, Admiration, Enmity, and Cooperation. US Navalism and the British and German Empires before the Great War, in: Journal of Colonialism and Colonial History 2 (2001), Nr. 1; Dirk Bönker, Militarism in a Global Age. Naval Ambitions in Germany and the United States before World War I, Ithaca 2012, S. 255 f., zum Zitat Wilhelm II.: S. 256.
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Mobilisierung. Was ein Ideenaustausch innerhalb eines „freundlichen“ Wettbewerbs um die Weltmacht gewesen war, eskalierte nun in eine tödliche Auseinandersetzung. Während die Marinestrategen diese notwendige Verschiebung von Kooperation und Wettbewerb begriffen, waren andere Wissenschaftler von der raschen Abkehr ihrer amerikanischen Kollegen und Gesprächspartner, insbesondere Charles Eliot und Nicholas Murray Butler, enttäuscht. Sie fühlten sich verraten von der raschen Verhärtung in der Haltung ihrer einstigen Freunde,104 obgleich viele von ihnen sich selbst voll Überzeugung dem deutschen Kriegszweck zur Verfügung stellten, etwa im „Aufruf an die Kulturwelt“. Während der 1920er Jahre lebte die Internationalität in der Wissenschaft zwar in einer Reihe von Organisationen, insbesondere dem International Institute of Education, wieder auf, der Boykott der deutschen Wissenschaft zwischen 1922 bis 1924 rief jedoch Unmut hervor. Was an Austausch stattfand, war größtenteils vom Staat gefördert und entsprechend gekünstelt.105 Ein Großteil der Literatur zur Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges konzentriert sich auf die Mobilisierung der Wissenschaft für den Krieg und den schädlichen Einsatz wissenschaftlicher Entdeckungen.106 Dieser Fokus auf die nationale Ebene spart jedoch die gescheiterten Versuche aus, Partnerschaften fortzuführen, und verdeckt die zerbrochenen Beziehungen, welche ein ebenso berechtigter Teil jeder transatlantischen Geschichte des Krieges sind, und welche die Voraussetzungen für eine Erneuerung im Jahr 1919 schufen. Nach dem Krieg glaubten deutsche Bildungsreformer, dass sich Universitäten mehr bemühen müssten, um ausländische Studenten willkommen zu heißen und die Erforschung fremder Gebiete voranzutreiben. Diese doppelte Mission entwickelte sich zu einem entscheidenden Bestandteil etwa des Auftrages der Universität Hamburg, einer der drei neuen deutschen Universitäten der Weimarer Zeit, die 1919 gegründet wurde.107 Die Gründer der Universität stellten sich einen Ort für die Stadt – nicht nur innerhalb Deutschlands – in dem neuen Europa vor, das sich aus dem Ersten Weltkrieg heraus entwickelte.108 Der Verband der Deutschen Hochschulen traf eine ähnliche Entscheidung, als er die kulturell wichtige, aber politisch periphere Stadt Dresden damit beauftragte, Standort eines neuen, im amerikanischen Stil zu entwerfenden Colleges zu werden. In den früheren Schlössern von Prinz Albrecht von Preußen in Dresden gelegen,
104 Der Historiker Eduard Meyer aus Berlin war schockiert, dass Eliot und Butler ihn so rasch fallen ließen, siehe Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch (Anm. 59), S. 56. 105 Zum Boykott der deutschen Wissenschaft in den 1920er Jahren siehe auch Brigitte SchroederGudehus, Internationale Wissenschaftsbeziehungen und auswärtige Kulturpolitik, 1919–1933. Vom Boykott und Gegen-Boykott zu ihrer Wiederaufnahme, in: Vierhaus/vom Brocke (Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft (Anm. 31), S. 858–885. 106 Siehe auch Carol Gruber, Mars and Minerva. World War I and the Uses of the Higher Learning in America, Baton Rouge, LA 1975; Martha Hanna, The Mobilization of Intellect. French Scholars and Writers during the Great War, Cambridge 1996. Beide zeigen detailliert den engagierten Einsatz von Wissenschaftlern im Krieg. 107 Die anderen beiden waren die Universität Frankfurt (1914) und die Wiedergründung der Universität zu Köln (1919). 108 Einer der Vorreiter war Albrecht Mendelssohn Bartholdy, der 1923 das Institut für Auswärtige Politik gründete zusammen mit der dazugehörigen Zeitschrift „Europäische Gespräche“. Siehe auch Levine, Dreamland of Humanists (Anm. 99), S. 205.
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sollte das „Castle College Dresden: An American College for Undergraduates“, eine koedukative Universität mit zweihundert amerikanischen und deutschen Studenten sein und unter der Schirmherrschaft der amerikanischen und deutschen Bildungsbehörden stehen.109 Genauso wie Lamprecht es am Vorabend des Ersten Weltkrieges getan hatte, glaubten diese Reformer, dass Innovation aus Vermischung hervorgehen würde: in diesem Fall der amerikanischen Verschmelzung des englischen Residential College und der deutschen Forschungsuniversität. Das Hauptaugenmerk, das in der Zwischenkriegszeit auf Dresden und Hamburg, Randstädte mit starken internationalen Verbindungen und Geschichten, gerichtet war, unterstreicht, in welchem Ausmaß der Glaube an die Nützlichkeit des Wissenstransfers nach den durch den internationalen Konflikt verursachten Verlusten auf lokaler Ebene in kleineren Randstädten bestehen blieb oder gar verstärkt wurde.110 Der Krieg bot zusätzlich neue Möglichkeiten, Argumente für Abgelegenheit und für Wissen an sich vorzubringen, und veränderte die Gewichtung und Auslegung der Kernbegriffe in der Nützlichkeits- und Kulturdebatte. Die Veränderungen sollten nachhaltige Konsequenzen auf beiden Seiten des Atlantiks mit sich bringen. In Deutschland war der Chemiker Fritz Haber, der erste Direktor des Kaiser-WilhelmInstitutes für physikalische Chemie und Elektrochemie, der Meinung, dass die militärischen Ansprüche, die an das Institut während des Krieges gestellt wurden, in einen allgemeineren Anwendungsforschungsanspruch in der Zwischenkriegszeit übergegangen seien. In einem Vortrag mit dem Titel „Über Wissenschaft und Wirtschaft“, den er im November 1920, als gerade die Inflationskrise begonnen hatte, im Reichstag hielt, kritisierte Haber die Öffentlichkeit für ihre unbeständige Haltung gegenüber der Wissenschaft. Man könne nicht nur dann das Positive sehen, wenn es eindeutige Erfolge gebe. Als Teil einer verstärkten Bemühung, die Unterstützung für die „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft“ zu mobilisieren, erinnerte Haber seine Zuhörerschaft an die zentrale Bedeutung der Wissenschaft für den Aufschwung. So wahr Unternehmungsgeist und Arbeitstüchtigkeit der Bevölkerung die Kräfte sind, auf die sich der Wiederaufbau unserer Wirtschaft in erster Linie gründen muß, ebenso wahr ist, daß nur die Wissenschaft das tragende Fundament unserer wirtschaftlichen Zukunft abgeben kann.111 109 Eines der Vorstandmitglieder gab zu bedenken, dass Berlin zu sehr mit politischen Angelegenheiten beladen sei, um sich hier an die Spitze zu setzen. Die Entwürfe von 1927 stipulierten: „Castle College will be the natural link between the old seats of learning and of scientific research as represented by the German Universities and Technical Colleges, and the modern aggressive American College or University with its great resources in men and material, methods and manners and its more intimate contact between faculty and student body on the one side, and college and public on the other“, in: Berlin, Hochschule 1 Deutschland, Hochschulwesen und Studium in Deutschland, Ausländerstudium, Politisches Amt, R 64011, 09.1927–11.1927. 110 Ein ähnlicher historischer Ansatz zeigt, wie gerade nationalistische Zeiten den lokalen Wissenstransfer weiterhin ermöglichten. Rüdiger Hachtmanns Arbeiten zum Einfluss des amerikanischen Fordismus auf die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Europäisierung der deutschen Geschichte und die Lokalisierung von Wissenstransfer selbst zu jener Zeit vereinbar schien, siehe Rüdiger Hachtmann, „Die Begründer der amerikanischen Technik“ (Anm. 87), S. 37–66. Zur Europäisierung der deutschen Geschichte siehe Ute Frevert, Europeanizing Germany’s Twentieth Century, in: History and Memory. Studies in Representation of the Past 17 (2005), Nr. 1, S. 87–116. 111 Fritz Haber, Über Wissenschaft und Wirtschaft, S. 254, Vortrag gehalten auf dem parlamentarischen Abend im Reichstag am 23. November 1920. Haber-Sammlung, Va, Rep 5, 734, Max
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Allerdings rekurrierte Haber selbst in seiner leidenschaftlichen Verteidigung auf das Paradoxon, das Harnack einst formuliert hatte, und erklärte: Reichtum der Erfindung aber erwächst nur aus dem Reichtum um ihrer selbst willen betriebener Wissenschaft. Natürlich könne man sich nicht nur auf anwendungsorientierte Ergebnisse beschränken, so Haber weiter. In den USA habe diese Vorgehensweise lediglich engstirnige Experten erzeugt. Vielmehr müsse die Gesellschaft ihre Wissenschaften – und hier schloss er die Geisteswissenschaften großzügig mit ein – in der Gegenwart zur Sicherung der zukünftigen Wirtschaft pflegen.112 Zumindest ein Amerikaner, der Wissenschaftler und Reformer Abraham Flexner, teilte Habers Sensibilität für das Verhältnis zwischen reiner Wissenschaft und Anwendung. Eine erneute Auseinandersetzung mit Flexners gleichartigen Bemühungen zeigt, dass trotz des Versuchs, zwischen der angeblichen deutschen Forschungsuniversität und amerikanischer Selbstkultivierung zu unterscheiden, zeigt ein ähnliches Paradoxon während der Zwischenkriegszeit. Der Sohn armer deutsch-jüdischer Einwanderer in Louisville, Kentucky, verwandte viel Energie auf die Anpassung des deutschen Modells an amerikanische Gegebenheiten. Flexner besuchte mit der Unterstützung seines Bruders für zwei Jahre die Johns Hopkins Universität, wo er einen Bachelor of Arts in Altphilologie erwarb und dann nach Louisville zurückkehrte, um eine experimentelle Schule zu gründen. An der Universität kam er in Kontakt mit dem deutschen Bildungsmodell und reiste daraufhin selbst nach Deutschland, wo er Anregungen für amerikanische Einrichtungen zu sammeln gedachte. Aus Notizen, die er sich im Sommer in Heidelberg gemacht hatte, veröffentlichte er 1908 „The American College“.113 Der Bericht brachte ihm die Aufmerksamkeit der kürzlich gegründeten Carnegie Foundation ein, die ihn einstellte, um einen Bericht über die Medizinerausbildung in Nordamerika auszuarbeiten. Flexners wachsendes Ansehen als sorgfältiger und gewissenhafter Berater führte 1913 zu seiner Berufung in das General Education Board der Rockefeller Foundation. Für dieses Board erstellte Flexner 1921 ein Memorandum, das er später zu einer Ansprache weiterentwickelte, „The Usefulness of Useless Knowledge“. In dieser Abhandlung, die im Oktober 1939 im „Harper’s Magazine“ erschien, erklärte Flexner klar seine Einstellung zum Abgeschiedenheitspostulat für die Wissenschaft. Es war für ihn das Phänomen, durch welches men and women – old and young – detach themselves wholly or partly from the angry current of daily life to devote themselves to the cultivation of beauty, to the extension of knowledge.114
Planck Institut Archiv. Zu Fritz Haber siehe Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber (1868–1934). Eine Biographie, München 1998. 112 Haber, Über Wissenschaft und Wirtschaft (Anm. 111), S. 257. 113 Thomas Neville Bonner, Iconoclast. Abraham Flexner and a Life in Learning, Baltimore 2002, S. 61. Siehe auch Thomas Neville Bonner, Abraham Flexner and the German University. The Progressive as Traditionalist, in: Mutual Influences on Education. Germany and the United States in the Twentieth Century, hg. von Jürgen Heideking, Marc DePaepe und Jurgen Herbst, Gent 1997, S. 99–116. 114 Abraham Flexner, The Usefulness of Useless Knowledge, in: Harper’s Magazine 179 (1939), S. 544–552, hier: S. 544. Später hielt er die Vorlesung in ähnlicher Version auch am Bryn Mawr College, siehe Bonner, Iconoclast (Anm. 113), S. 279.
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Als Flexner diese Gedanken für das Board niederschrieb, war ihm noch nicht klar, welche institutionelle Form diese Denkweise annehmen würde.115 1933 wurde das Institute for Advanced Studies gegründet, das auch zur Heimat für eine Reihe von Wissenschaftskoryphäen wurde, darunter Albert Einstein, Kurt Gödel und Erwin Panofsky, viele von ihnen Flüchtlinge aus Hitlers Europa.116 Betrachtet man das Memorandum vor dem Hintergrund seiner Anfänge in der Zwischenkriegszeit, während der Haber „Über Wissenschaft und Wirtschaft“ schrieb, dann wird klar, dass ein Großteil des Gedankenguts zur Beziehung zwischen Anwendung und Selbstkultivierung 1933 bereits lange Bestand hatte. Die Flexner-Brüder arbeiteten abwechselnd, um sich gegenseitig bei der Finanzierung ihrer Ausbildung zu unterstützen. Sie waren niemals immun gegen den Druck der „realen“ Welt, und ebenso wenig waren sie naiv, was die materiellen Voraussetzungen betraf, die der Einsatz für die Wissenschaft erforderte. Abraham Flexner arbeitete unermüdlich für die zwei Hauptorgane der Philanthropie – die Rockefeller und Carnegie Foundations –, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts neue Rahmenbedingungen für die Wissenschaft schufen. In einer Zeit, in der Forschuung von den aufblühenden Sozialwissenschaften zunehmend im Sinne der Anwendung und nicht im Sinne der „reinen Forschung“ definiert wurde, schwamm Flexner gegen den Strom.117 Als er 1927 die Inglis Lecture in Cambridge hielt, kritisierte Flexner das ungleiche Tempo, wenn nicht sogar den heimtückischen Effekt dieser Finanzierung für die Wissenschaft. There are in the United States just 20 institutions that might conceivably be said to be properly financed [. . .]. Of the 769 institutions with which we are dealing, 750 are, on the face of the papers, more or less poverty stricken.
Dieses Problem schrieb er der Geringschätzung zu, mit der die Amerikaner, im Gegensatz zu Frankreich oder Deutschland, Professoren im Allgemeinen bedachten.118 Trotz (oder gar aufgrund) seiner Einbindung in die Mechanismen der Finanzierung von Hochschulbildung, interessierte sich Flexner brennend für das Humboldtsche Bildungsideal der Universität, das den Druck der Anwendung für eine autonome Einrichtung des Lernens abzulehnen schien. Diese Dualität ist in seinen Schriften spürbar. Einerseits sperrte er sich weiterhin gegen den Gedanken der „Anwendung“.
115 Als er jedoch acht Jahre später von einem Anwalt und einem Buchhalter im Auftrag der Philanthropen Louis und Caroline Bamberger angesprochen wurde, bekam er seine Chance. Die Bambergers waren aufgrund seiner Studie zu Medizinausbildung auf ihn aufmerksam geworden, denn ihnen schwebte eine medizinische Hochschule in Newark, New Jersey, vor. 116 Zur frühen Geschichte des Instituts siehe auch Beatrice M. Stern, A History of the Institute for Advanced Study 1930–1950 („Unveröffentlichtes zweibändiges Manuskript, 1964. Eine Mikrofilmkopie des Manuskripts ist Teil der J. Robert Oppenheimer Papers der Library of Congress, Washington, DC. Eine Schreibmaschinenkopie des Originalmanuskripts ist zugänglich in der Hoover Library des Western Maryland College, Westminster, Maryland“, Quelle: Ed Regis (Hg.), Einstein, Gödel & Co. Genialität und Exzentrik – Die Princeton-Geschichte, Basel/Boston/Berlin 1989, S. 304). 117 Christian Fleck, Transatlantic History of the Social Science. Robber Barons, the Third Reich and the Invention of Empirical Social Research, London 2011. 118 Abraham Flexner, Do Americans Really Value Education?, Cambridge 1927, S. 5, 19.
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I am not for a moment suggesting that everything that goes on in laboratories will ultimately turn to some unexpected practical use or that an ultimate practical use is its actual justification. Much more am I pleading for the abolition of the word “use”, and for the freeing of the human spirit.119
Andererseits spickte er seinen Artikel stets mit Beispielen und Belegen vieler unantastbarer Experimente, die zu transformativer Wissenschaft führten, einschließlich Michael Farradays Erfindung der Elektrizität und Paul Ehrlichs Entdeckung der Bakteriologie.120 Das Paradoxon im Kern der Rechtfertigung, dieses „Paradoxon der Nützlichkeit“, findet sich in Harnacks und Habers früheren Formulierungen auf der anderen Seite des Atlantiks wieder: die reine Forschung erfordere Isolation, jedoch bringe Isolation praktische Anwendung hervor – auf lange Sicht. So wie der Erste Weltkrieg, drohte auch der Zweite Weltkrieg, neue Anforderungen an Wissenschaft und Forschung zu stellen. Vielleicht war es unter diesem bevorstehenden Druck, dass Flexner, nachdem Hitler in Polen einmarschiert war, die Formulierungen seiner Zielvorgaben abänderte. Die Abgeschiedenheit der Wissenschaft – und damit ihre vermeintliche Nutzlosigkeit – wurde letztlich durch die Nützlichkeit, die in dieser Abgeschiedenheit erzeugte wurde, gerechtfertigt. From a practical point of view, intellectual and spiritual life is, on the surface, a useless form of activity, in which men indulge because they procure for themselves greater satisfactions than are otherwise obtainable. In this paper I shall concern myself with the question of the extent to which the pursuit of these useless satisfactions proves unexpectedly the source from which undreamed of utility is derived.121
Auf diese Weise legitimierte die praktische Anwendung außerdem den Rückzug von Wissenschaftlern und Forschern aus Gemeinschaft und Gesellschaft, um sie in das neue Institut zu integrieren.
VIII. FAZIT Dieser historische Abriss stellte Momente der Debatte heraus, in denen der Druck der Nützlichkeit – sei er pädagogischer, ökonomischer oder militärischer Natur – die empfindliche Balance im Kern der Forschungsuniversität zu zerstören drohte. Ebenso wie die Geschichte der Forschungsuniversität eine wahrhaft transatlantische Perspektive erfordert, so gilt dies es auch für die Geschichten der damit verbundenen und darin wahrgenommenen Krisen. Im Falle der Nützlichkeit offenbart diese Geschichte einige Überraschungen. Zunächst unterscheiden die Linien, wie wir gesehen haben, nicht klar zwischen wirtschaftlichen Opportunisten und den sogenannten „Mandarinen“. Der Trend zu „angewandter“ Forschung hatte unerwartete Gewinner, die Außenseiter. Insofern hatte der Übergriff außeruniversitärer Interessen eine weitaus progressivere Wirkung als in heutigen Debatten angenommen. Dennoch ist ebenso klar, dass die Art und Weise, 119 Flexner, The Usefulness of Useless Knowledge (Anm. 114), S. 547. 120 Ebd., S. 546. Interessanterweise sind dies die gleichen Beispiele, auf die Harnack sich 100 Jahre vorher schon berief, siehe Denkschrift von Harnack an den Kaiser (Anm. 73), S. 83. 121 Flexner, The Usefulness of Useless Knowledge (Anm. 114), S. 544.
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wie wir Wissen organisieren, das Resultat einer Kombination aus ideologischen, wirtschaftlichen und militärischen Zielen ist. In den USA hingegen verursachte das Streben nach einer neuen geopolitischen Stellung in der Zwischenkriegszeit, neue Ausformungen des alten Paradoxons von Abgeschiedenheit und Nutzen, wie etwa in Flexners Institute for Advanced Study. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Deutschland gemäß den Bedingungen der Besatzung zur Abrüstung verboten, „angewandte“ Forschung zu betreiben. Das Jahr 1933 sollte für die Wissenschaft zukunftsweisender werden, als zunächst angenommen. Zusätzlich zum Institute for Advanced Study entstanden weltweit neue Institutionen in Istanbul, London und Black Mountain in North Carolina, die sich den Zuwachs an intellektuellen Flüchtlingen zu Nutze machten, um ihre eigenen intellektuellen Kulturkreise durch das ehemals prestigeträchtige deutsche Universitätssystem zu bereichern. Diese Institutionen läuteten eine neue Ära der Globalisierung der Universität ein, in der sich die lange Debatte zwischen Humboldt und Newman über den wahren Nutzen von Bildung im lokalen Bereich abspielte.122 Eine Fokussierung auf die Ausbreitung – Wettbewerb und Kooperation – zwischen Lokalitäten kann dazu beitragen, die Untersuchung der Biographien, Ideen und Institutionen in eine neue, ganzheitliche Wissenschaftsgeschichte einzubinden, die ihre transnationalen Elemente besser beleuchtet. Dies könnte uns dabei helfen, die aktuelle Debatte über die Frage der Nützlichkeit weiterzubringen, mit der sich Wissenschaft und Bildung auf beiden Seiten des Atlantiks konfrontiert sehen.
ABSTRACT At the turn of the last century, university reformers and scholarly managers around the world felt the pressure of the utility on the so-called “Humboldt model” of the German university that unified research and teaching. In response to this challenge, a number of institutions were founded, on the one hand, to galvanize the resources for research that were not possible in the university, and on the other hand, to continue providing students with excellence in teaching that prepared them for both life and work. A host of institutions not normally considered together, including the 19th century American Land Grant Movement in the US, the institutes that belong to the Kaiser Wilhelm Gesellschaft, and the Institute for Advanced Study founded in 1933 by Abraham Flexner, should be seen as part of the evolving response to this dual challenge. In considering this thematic chapter in the history of the university, the contribution makes three arguments: 1. The field of university history could benefit from a truly “two-way” transatlantic history that combines both ideas and institutions. – 2. Such a transatlantic history should focus more on localities and regions, where “Wissenstransfer” occurred, rather than on nations and the global. – 3. A transatlantic examination of the debate concerning the utility of research and teaching in a variety of contexts, including the pedagogical, economic, and military, reveals surprising patterns and comparisons that resonate today. 122 Newman war besonders bedeutend für den Bildungsreformer und Präsident der University of Chicago Robert Maynard Hutchins, siehe Hutchins, Education (Anm. 41), S. 653.
UNIVERSITÄRER NATIONALISMUS VERSUS AKADEMISCHE VERSTÄNDIGUNG Zur Wirkungsmacht weiblicher Netzwerke, 1918–1933 Christine von Oertzen
Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts waren Universitäten zumindest in Deutschland Orte, die sich dezidiert national oder gar nationalistisch definierten. Der wissenschaftliche Internationalismus, der vor 1914 eine Blüte erlebt hatte, zerbrach an der enthusiastischen nationalen Selbstverpflichtung der akademischen Eliten im Ersten Weltkrieg, eine Entwicklung, auf die in Deutschland während der Weimarer Jahre eine Phase selbstgewählter akademischer Isolation folgte. Durch die Nazifizierung ab 1933 nochmals erheblich verstärkt, überdauerte die akademische Provinzialität die 1950er Jahre und brach – was Westdeutschland anbetrifft – erst Ende der 1960er Jahre wirklich auf.1 Dies bedeutet nicht, dass Bestrebungen, Universität transnational zu gestalten, in dieser Zeit gar nicht existiert hätten; sie standen allerdings stets in einem konfliktreichen Spannungsverhältnis zwischen universitärem Nationalismus auf der einen und internationaler akademischer Zusammenarbeit auf der anderen Seite. Im Folgenden werde ich dieses Spannungsfeld aus geschlechterhistorischer Perspektive am Beispiel der Netzwerke und Aktivitäten der International Federation of University Women (IFUW) und ihrer deutschen Mitglieder ausleuchten. Die IFUW, eine anglo-amerikanische Initiative, trat 1919 mit der Mission an, Akademikerinnen aller Nationen unter ihrem Dach zu vereinen, für internationale Verständigung und gleichzeitig für das bessere wissenschaftliche und berufliche Fortkommen weiblicher Hochschulabsolventen zu sorgen. David Livingstones Appell folgend, den wissenschaftlichen Internationalismus als soziale Errungenschaft und nicht als die
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Die betont nationale Selbstverortung der deutschen Universitäten fand ihren Ausdruck unter Anderem in der „Erfindung der Humboldt’schen Universität“, d. h. der neoidealistischen Konstruktion einer im frühen 19. Jahrhundert wurzelnden deutschen Universitätstradition, die um 1900 Aktualität gewann und lang anhaltende Wirkungsmacht entfaltete. Auch die sogenannte „Weltgeltung der deutschen Wissenschaft“ wurde in diesem Zusammenhang als Ergebnis der erfolgreichen nationalen Einigung des Deutschen Reiches angesehen, siehe Sylvia Paletschek, Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183–205, hier: S. 190 f. Einen informativen Überblick über die ganz überwiegend national orientierte Politisierung der Universitäten im 20. Jahrhundert geben Michael Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; für die Zeit nach 1945 vor allem Bernd Weisbrod (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002.
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notwendige Folge wissenschaftlichen Arbeitens anzusehen,2 zeichnet mein Beitrag im ersten Teil nach, wie die IFUW ihre Mission auf internationaler Ebene umsetzte. Im zweiten Teil beleuchte ich die Auswirkungen dieser Initiativen insbesondere für deutsche Akademikerinnen und Studentinnen. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf den 1920er und 1930er Jahren.
I. DIE BILDUNGSDIPLOMATIE DER IFUW NACH 1918 Noch zu Kriegszeiten als zunächst gegen Deutschland gerichtete Allianz von amerikanischen und britischen Professorinnen konzipiert, erhob die IFUW bei ihrer Gründung im Jahr 1919 den wissenschaftlichen Internationalismus zur verbindlichen ethischen Maxime. Die Organisation griff damit auf ein Konzept zurück, das Elizabeth Crawford im Hinblick auf die großen transnationalen wissenschaftlichen Organisationen als Kriegsverlust des Ersten Weltkriegs bezeichnet hat. Was ihrer Meinung nach den sogenannten Großen Krieg überlebte, waren internationale Organisationen und wissenschaftliche Kooperationen, nicht aber der Geist des wissenschaftlichen Internationalismus, wie ihn die Akademien in der Vorkriegszeit propagiert hatten.3 Das Beispiel der IFUW belegt, dass der wissenschaftlich begründete Internationalismus nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gleichwohl erneut und mit Erfolg beschworen wurde. Denn die führenden Vertreterinnen des Verbandes erklärten sich und die in der IFUW versammelte weibliche Bildungselite wegen ihres Geschlechts für besonders geeignet, nun ihrerseits im Namen objektiver Wissenschaft für die allgemeine internationale Verständigung einzutreten. Das mit der IFUW entstehende, historisch neue weibliche Netzwerk verstand sich im Unterschied zu den bestehenden internationalen Frauenorganisationen als dezidiert akademische Vereinigung. Sie war jedoch keine rein wissenschaftliche Organisation, sondern zielte darauf ab, Frauen im neu entstehenden Feld der internationalen Bildungspolitik sichtbar zu vertreten. Folglich verortete sich die IFUW mit ihrer Vision weniger allein im Umfeld wissenschaftlicher Institutionen, sondern vielmehr in einer bunt gemischten Ansammlung weiblicher und männlicher Intellektueller, Literaten, Wissenschaftler und Politiker, die den Völkerbund unterstützten und erfolgreich dafür eintraten, dass dieser sich nicht nur für politische und wirtschaftliche,
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David N. Livingstone, Putting Science in Its Place. Geographies of Scientific Knowledge, Chicago/London 2003, S. 82 f. Siehe Elizabeth Crawford, The Universe of International Science, 1880–1939, in: Solomon’s House Revisited. The Organization and Institutionalization of Science, hg. von Tore Frängsmyr (Proceedings of the Nobel Symposium 75), Canton, MA 1990, S. 251–269, hier: S. 261; ähnlich auch Roy MacLeod, Der wissenschaftliche Internationalismus in der Krise. Die Akademien der Alliierten und ihre Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, in: Die Preussische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1914–1945, hg. von Wolfram Fischer, Berlin 2000, S. 317–349. Zu den Kontinuitäten der internationalen Kooperationen siehe Eckhardt Fuchs, Wissenschaftsinternationalismus in Kriegs- und Krisenzeiten. Zur Rolle der USA bei der Reorganisation der internationalen „scientific community“, 1914–1925, in: Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, hg. von Ralph Jessen und Jakob Vogel, Frankfurt a. M. 2002, S. 263–284.
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sondern auch für geistige und wissenschaftliche Belange zuständig erklärte.4 So drängte der Kreis dieser Internationalisten 1922 erfolgreich auf die Gründung des Völkerbund-Komitees für Geistige Zusammenarbeit und begrüßte emphatisch das wenig später in Paris entstehende Institut für Geistige Zusammenarbeit, wobei die IFUW erfolgreich dafür eintrat, auch Frauen in die neuen akademischen Positionen dieses Instituts zu berufen.5 Die IFUW als eine auf wissenschaftliche Universalität gegründete und zugleich weltbürgerliche Instanz innerhalb des neuen internationalen Geflechts um den Völkerbund zu platzieren, war ein erstes Ziel, das die Gründerinnen verfolgten. Caroline Spurgeon, Professorin für englische Literatur am Londoner Bedford College und erste Präsidentin des neuen Verbandes, sah die IFUW dabei als „idealistische Bewegung mit praktischen Zielen“ an.6 Es gehe in erster Linie darum, internationale Verständigung zu befördern; dies sei am besten durch „personal intercourse“ der geistigen Eliten zu bewerkstelligen. Genaue Kenntnis nationaler Ähnlichkeiten und Respekt und Schätzung von Unterschieden entstehe in kleinen Schritten und vor allem durch persönliche Begegnung, möglichst an denjenigen Orten jedes Landes, an denen Wissen erzeugt und vermittelt werde. Es gebe keinen besseren Ansatzpunkt für die internationale Verständigung als den, Studierende, Lehrende und Forschende über die Universitäten miteinander in Kontakt zu bringen und darauf zu setzen, dass sie aufgrund ihrer positiven Erfahrungen später im eigenen Land zu Botschafterinnen eines auf objektivem Wissen (um nationale Unterschiede) gegründeten Internationalismus würden.7 Wie ehrgeizig das Vorhaben Anfang der 1920er Jahre war, den wissenschaftlichen Internationalismus zur bindenden Maxime des Verbandes zu erheben, wird vor dem Hintergrund deutlich, dass sich die Funktionärinnen der IFUW durchaus des großen Gegensatzes bewusst waren, der zwischen dem Ethos internationaler akademischer Kooperation und Forschung auf der einen und den Realitäten nationalistisch indoktrinierter Wissensvermittlung auf der anderen Seite herrschte. Die Genetikerin und Gründerin des norwegischen Akademikerinnenverbandes, Kristine Bonnevie, eine der insgesamt drei weiblichen Delegierten beim Völkerbund, brachte diese Diskrepanz auf den Punkt:
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Zum intellektuellen und politischen Umfeld der Unterstützer des Völkerbunds in Großbritannien siehe Helen McCarthy, The British People and the League of Nations. Democracy, Citizenship, and Internationalism, 1918–1945, Manchester 2011. Eine dieser Positionen wurde mit der Historikerin Margarete Rothbarth besetzt, die Mitglied des Deutschen Akademikerinnenbundes (DAB) war. Zu Rothbarth siehe Peter Schöttler, Margarete Rothbarth, in: Historikerinnen. Eine biobibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum, hg. von Hiram Kümper, Kassel 2009, S. 182 f.; Ute Lemke, La femme, la clandestine de l’histoire. Margarete Rothbarth – ein Engagement für den Völkerbund, in: Lendemains. Etudes camperées sur la France 37 (2012), Nr. 146/147, S. 45–59. Siehe auch Joyce Goodman, Women and International Intellectual Cooperation, in: Paedagogica Historica 48 (2012), Nr. 3, S. 357–368. IFUW, Report of the First Conference, London 1920, S. 15. Ebd., S. 13.
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Christine von Oertzen While scientists (are) basing their work upon the interchange of knowlegde between nations, the university life, with its characteristic customs and traditions, might mean for the student a development not only in a national but in a nationalistic direction.8
Die Satzung der IFUW verpflichtete ihre Mitglieder zu akademisch geprägtem internationalem Engagement. Dieses Ziel sollte mit der Vernetzung der IFUW im Geflecht der internationalen Organisationen, dem Austausch von studierenden, lehrenden und forschenden Frauen, dem Ausbau eines Netzes von internationalen Clubhäusern, einem wissenschaftlichen Fellowship Programm und der systematischen Pflege internationaler Gastfreundschaft auf privater Ebene erreicht werden.9 Darüber hinaus sollte die IFUW als internationales Forum des Vergleichs und Austauschs dienen, um zentrale professionalisierungspolitische Forderungen zu diskutieren und gemeinsam Strategien zur Überwindung nationaler Beschränkungen für Frauen in Hochschule und Profession zu entwickeln. Die Zuversicht, durch expliziten und systematisch vergleichenden internationalen Austausch im eigenen Land kenntnisreicher, inspirierter und damit effizienter Druck ausüben zu können, war groß. Euphorisch äußerte die Präsidentin des amerikanischen Frauencollege Bryn Mawr, Carey Thomas, die Hoffnung, auf diese Weise die Professionalisierung von Frauen in allen akademischen Bereichen entscheidend voranzutreiben: By working together I believe we can anticipate by several centuries the progress of University women.10 Von 1919 bis 1922 wuchs die IFUW von 8 auf 22 nationale Mitgliedsverbände, und 1930 vereinte die IFUW 24 000 Akademikerinnen aus 30 Ländern. In nahezu keinem europäischen Land hatte es bis dahin nationale Vereinigungen von Akademikerinnen gegeben. Das rasche Wachstum der IFUW kam durch gezielte Korrespondenz- und Reisetätigkeit der amerikanischen und britischen Gründungsmitglieder zustande. Die schnelle Konstituierung des Verbandes machte deutlich, dass an den Universitäten Europas und der USA seit den späten 1880er Jahren eine transnationale weibliche akademische Elite herangewachsen war, die sich bislang nur nicht als solche definiert und zusammen geschlossen hatte. Die meisten Vertreterinnen dieser Gründergeneration hatten – unabhängig von der Fachrichtung – zumindest einige Zeit außerhalb ihres Heimatlandes (meist in Deutschland, Amerika, Kanada, Frankreich oder England) studiert, auch um institutionelle Zugangshürden im eigenen Land zu umgehen.11 Sie teilten Erfahrungen, Werte und Ansichten
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Kristine Bonnevie, The Development of the International Mind in the Universities, in: IFUW, Report of the Third Conference, Oslo 1924, S. 76–79, hier: S. 76. Ganz in diesem Sinne weist auch die gegenwärtige Forschungsliteratur darauf hin, dass „transnational forms of knowledge have to be understood against a background of profoundly national structures of scholarly work“, siehe Peter Wagner, Introduction to Part I, in: Transnational Intellectual Networks. Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identities, hg. von Christophe Charle, Jürgen Schriewer und Peter Wagner, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 17–26, hier: S. 20. 9 Siehe hierzu Christine von Oertzen, Strategie Verständigung. Zur transnationalen Vernetzung von Akademikerinnen, 1917–1955, Göttingen 2012, S. 72–108. 10 IFUW, Report of the First Conference (Anm. 6), S. 56. 11 Anders als die männlichen deutschen Professoren dieser Generation, von denen die meisten keine Auslandserfahrung während des Studiums hatten, siehe etwa Gabriele Metzler, Internatio-
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und fühlten sich darüber hinaus dem „westlichen“, anglo-amerikanisch geprägten liberalen Ethos der IFUW verpflichtet. Der Council der IFUW, in den alle Mitgliedsverbände ein Mitglied entsandten, tagte zwischen 1920 und 1939 jährlich, wobei fast jeder europäische Verband die Gelegenheit erhielt, den Council einmal an einer Universität des eigenen Landes zu empfangen.12 Alle Verbände versuchten, diese intensiven dreitägigen Arbeitstreffen so prächtig, würdig und öffentlichkeitswirksam zu gestalten wie nur irgend möglich, und den Mitgliedern der IFUW gleichzeitig Wesentliches über ihre Situation im eigenen Land zu vermitteln. Ganz besondere Glanzpunkte waren die acht großen Gesamtmitgliederversammlungen, die in Großbritannien (London 1920, Edinburgh 1932), Frankreich (Paris 1922), Norwegen (Oslo 1924), Holland (Amsterdam 1926), Spanien (Madrid 1928), Polen (Krakau 1936) und Schweden (Stockholm 1939) stattfanden. Die wenigen Photographien, die aus dieser Zeit erhalten sind, verweisen darauf, wie sehr diese Anlässe auch ganz explizit dazu genutzt wurden, das akademische Gewicht der in der IFUW versammelten weiblichen Bildungselite sichtbar zu machen. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1922 zeigt mehr als einhundert Frauen in vollem akademischen Ornat versammelt vor dem mächtigen Hauptportal der Pariser Sorbonne; auf einer Fotografie von 1932 zieht die akademisch dekorierte Spitze der IFUW feierlich in die Universität von Edinburgh ein, begleitet von den männlichen Würdenträgern der Stadt und ihrer Alma Mater. Für die jeweils rund 250 bis 500 Delegierten und Mitglieder der IFUW aus Europa, den USA und den ehemaligen britischen „Dominions“, die an den Kongressen der IFUW teilnahmen, stellten die Treffen einzigartige und euphorisierende Gelegenheiten der Begegnung und des Austauschs dar: In ihren Schlussworten am Ende der dritten Vollversammlung 1924 in Oslo beschrieb Virginia Gildersleeve diese Veranstaltungen als a kind of power house of energy für ihre Mitglieder, die diese nun im eigenen Land for the highest
nale Wissenschaft und nationale Kultur. Deutsche Physiker in der internationalen Community, 1900–1960, Göttingen 2000. Eine systematische Untersuchung zur Geschichte des Auslandsstudiums von Frauen in Europa und den USA liegt noch nicht vor. Über die Situation in Deutschland siehe etwa Sandra L. Singer, Adventures Abroad. North American Women at German Speaking Universities, 1868–1915, Westport, CO 2003. Den besten Überblick über die Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland bietet Patricia Mazón, Gender and the Modern Research University. The Admission of Women to German Higher Education, 1865–1914, Stanford 2003. Zur Situation in Großbritannien siehe Carole Dyhouse, Students. A Gendered History, London 2006; zur Situation in den USA nach wie vor die wegweisende Studie von Margaret Rossiter, Women Scientists in America, Baltimore 1982. 12 Nur ein einziges Mal fand 1931 ein Counciltreffen in den USA statt. Obgleich die Amerikanerinnen den Verband zahlenmäßig dominierten, nahmen sie die weiten Reisen mit Rücksicht auf die viel bescheideneren finanziellen Verhältnisse ihrer europäischen Kolleginnen in Kauf und nutzten die Arbeitstreffen und Konferenzen zu ausgedehnten Rundreisen durch Europa, sieh IFUW, Report of the Third Conference, Oslo 1924, (International Federation of University Women. Bulletin; 6), S. 91. Die deutschen Delegierten ihrerseits nutzten das Treffen in den USA 1931 zu einer dreimonatigen Vortragsreise quer durch die Staaten, um über die politische, kulturelle und wirtschaftliche Situation in Deutschland, insbesondere aber über die Not der Studentinnen. Mehrere Amerikanerinnen fanden sich daraufhin zu persönlichen Beihilfen an ausgesuchte Studentinnen bereit fanden. Bericht über die Tätigkeiten des DAB vom 1. 6. 1930 bis 1. 10. 1932, LAB, B Rep. 235-5, 1/1, HLA 3633, S. 12.
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type of work on the various lines [. . .] and especially for good citizenship in the world of nations einsetzen könnten.13 Viele der so zahlreich anreisenden Delegierten und Mitglieder der IFUW nutzten ihren Auslandsaufenthalt auch, um anschließend an einer der vom Gastgeberverband organisierten Bildungsreisen teilzunehmen, eigene Kontakte zu knüpfen oder weiteren persönlichen Einladungen zu folgen.14 An der Ausrichtung und Arbeit der Komitees der IFUW lässt sich erkennen, dass der Verband seine Agenda bis 1933 in vielen Bereichen umzusetzen verstand. Der Erwerb und Ausbau von Clubhäusern in Washington, Paris und London, die bald als wohlbekannte Orte internationaler und intellektueller Begegnung funktionierten, wie auch der Aufbau eines angesehenen internationalen Fellowship-Programms für Wissenschaftlerinnen gehören zu den erstaunlichen und wissenschafts- wie kulturhistorisch bedeutsamen, jedoch kaum mehr bekannten Erfolgen der IFUW in den 1920er Jahren. Sie machten das weibliche Netzwerk national und international sichtbar, waren darüber hinaus aber vor allem für Wissenschaftlerinnen von unschätzbarem konkretem Nutzen, weil diesen noch weit weniger als ihren männlichen Kollegen Möglichkeiten offen standen, Forschungsaufenthalte im Ausland finanziert zu bekommen. Für etliche der von der IFUW Geförderten brachte das Forschungsjahr im Ausland den entscheidenden Durchbruch zu einer wissenschaftlichen Karriere.15 Im Kontext dieses Beitrags sind darüber hinaus die Aktivitäten des IFUW Committee of Intellectual Cooperation aufschlussreich. Es stellte die engste Verbindung der IFUW zum Völkerbund dar, konkret durch die bereits erwähnte Norweger Professorin und Vererbungsforscherin Kristine Bonnevie, die als eine von insgesamt drei Frauen ein Mandat im Völkerbund innehatte und zusammen mit Marie Curie, Albert Einstein und elf anderen renommierten Wissenschaftlern in die Kommission für Geistige Zusammenarbeit berufen worden war.16 Das Gremium führte Umfragen
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Virginia Gildersleeve, Schlusswort, in: IFUW, Report of the Third Conference (Anm. 8), (International Federation of University Women, Bulletin 6), S. 95. 14 So hielten die deutschen Delegierten Agnes von Zahn-Harnack und Anna Schönborn im Anschluss an die Vorstandssitzung in Wellesley College in den USA auf die Einladung der American Association of University Women hin Vorträge in Milwaukee, Chicago und Bloomington über die soziale und wirtschaftliche Lage Deutschlands und die Tätigkeit des DAB. Sie trafen deutsche Ausstauschstudentinnen und arrangierten Besprechungen mit dem Direktor des International Bureau of Education in New York, Stephan Duggan und dem Leiter der Carl Schurz Memorial Foundation, einer Stiftung, die sich um die Verbesserung der deutsch-amerikanischen Kulturbeziehungen bemühte. Aus diesem Treffen ergab sich eine Einladung zu einer dreimonatigen Vortragsreise durch die USA, die Elisabeth Schlüter-Hermkes in Vertretung von Zahn-Harnack wahrnahm. Schlüter-Hermkes sprach über die politische, kulturelle und wirtschaftliche Situation in Deutschland, insbesondere aber über die Not der Studentinnen mit dem Erfolg, dass sich mehrere Amerikanerinnen zu persönlichen Beihilfen an ausgesuchte Studentinnen bereit fanden. Siehe Bericht über die Tätigkeiten des DAB vom 01. 06. 1930 bis 01. 10. 1932, S. 12, in: Landesarchiv Berlin (hiernach LAB), B Rep. 235-5, 1/1, HLA 3633. 15 Zu den Gästehäusern, zur Wissenschaftsförderung der IFUW und zu den Karrierewegen von Wissenschaftlerinnen, die in den Genuss dieser Förderungen kamen siehe von Oertzen, Strategie Verständigung (Anm. 9), S. 59–108. 16 Margarete Rothbarth, Internationale geistige Zusammenarbeit. Sonderdruck Nr. 25 der Deutschen Liga für den Völkerbund, S. 1–12, entnommen aus: Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 3: Internationale geistige Zusammenarbeit, Berlin 1928. Zur Geschichte des
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unter den eigenen Mitgliedsverbänden zur schulischen Aufklärung über den Völkerbund und zur sozialen Bedeutung von Kinderbibliotheken durch, beteiligte sich an Bemühungen, den Austausch von wissenschaftlichem Personal voranzubringen und die internationale Forschung durch die Einführung einer „Travel Card for Intellectual Workers“, einer Art europäischen Leseausweis für Bibliotheken und Archive, zu erleichtern.17 Ein verbandseigener, multinationaler Service für Übersetzungsarbeiten wissenschaftlicher Spezialliteratur wie auch die mit Nachdruck betriebene Vorarbeit für den Austausch von weiblichem, wissenschaftlichen Personal in Bibliotheken und Archiven scheiterten an verwaltungstechnischen Hürden, unsicheren politischen Verhältnissen und der wirtschaftlichen Depression am Ende der 1920er Jahre.18 Die aufwendigste und ergiebigste Arbeit, die das Komitee in der Zwischenkriegszeit unter der Leitung der Pariser Historikerin Marie Monod zustande brachte, war eine 800 Seiten dicke Synopse akademischer Begriffe in Europa und den USA, die der schnellen Orientierung in den verschiedenen nationalen Hochschulsystemen dienen und den Vergleich der jeweils möglichen Abschlüsse erleichtern sollte. Das allseits hoch gelobte „International Glossary of Academic Terms“ erschien 1939 kurz vor dem Beginn des II. Weltkriegs, gleichsam als Nachhall des gescheiterten Versuchs, den Frieden durch transnationale Vernetzung nationaler Wissenssysteme zu erhalten.19
II. AUSWIRKUNGEN IN DEUTSCHLAND Die Aufnahme Deutschlands in die IFUW stand während der ersten Nachkriegsjahre nicht zur Diskussion. Die Gründerinnen der IFUW griffen bezüglich ihrer deutschen Kolleginnen zunächst nicht auf ihre bewährte Methode zurück, persönliche Kontakte aufzubauen, um die Bildung eines deutschen Akademikerinnenverbandes anzuregen und in Gang zu bringen. Dass die Akteurinnen der IFUW die Vertreterinnen der ehemaligen Mittelmächte und insbesondere Deutschlands außen vor ließen, ist der
Komitees siehe auch Jan Kolasa, International Intellectual Cooperation. The League Experience and the Beginnings of UNESCO, Warschau 1962. 17 Siehe IFUW, Report of the Eleventh Council Meeting, Vienna 1927, (International Federation of University Women, Bulletin 9), S. 24; IFUW, Report of the Seventh Conference, Cracow 1936, (International Federation of University Women, Bulletin 18), S. 91. 18 So gab es kaum Anfragen für Übersetzungen, und die ungeklärte Frage, wie die soziale Absicherung von Austauschpersonal im Ausland gesichert und im Inland fortgeführt werden sollte, machte den längerfristigen Austausch praktisch unmöglich. Von der IFUW ging daraufhin die Losung an die Mitglieder, ihren Urlaub zu kurzfristigen Aufenthalten in einer ausländischen Partnerorganisation zu nutzen, siehe IFUW, Report of the Sixth Conference, Edinburgh 1932, (International Federation of University Women, Bulletin 14), S. 105; IFUW, Report of the Seventh Conference (Anm. 17), S. 92. 19 Siehe International Glossary of Academic Terms, London 1939. Ein ausführlicher Bericht über Zustandekommen und Arbeit an diesem Werk befindet sich in: IFUW, Report of the Eighth Conference, Stockholm 1939, (International Federation of University Women, Bulletin 21), S. 56–58.
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weit über das Kriegsende hinausreichenden interalliierten Ausrichtung ihrer Initiative geschuldet.20 Die IFUW unterschied sich in dieser Hinsicht zunächst nicht von den wissenschaftlichen Akademien und anderen internationalen Wissenschafts- und Fachverbänden. Als sich – unter amerikanischer Federführung – zwischen Oktober 1918 und dem Frühjahr 1919 der neue International Research Council (IRC) konstituierte, um die im Krieg begonnene Intensivierung interalliierter wissenschaftlicher Kooperationen fortzusetzen, geschah dies ebenfalls unter Ausschluss Deutschlands. Der IRC hatte bereits in der Gründungsphase 1918 eine Resolution verabschiedet, auch nach Ende des Krieges weder offiziellen noch privaten Kontakt zu den Mittelmächten zu unterhalten. Als Voraussetzung für deren Wiederaufnahme in die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft stellte der IRC die Bedingung: The Central Powers must renounce the political methods which have led to the atrocities that have shocked the civilized world.21 Die hierauf folgende Verweigerung und Gegenforderung deutscher Wissenschaftler und ihrer Organisationen, überhaupt nur dann zur internationalen Gemeinschaft gehören zu wollen, wenn diese die Deutschen bedingungslos in ihren Kreis bitten würde, führte zu einem Krieg der Akademien22 , der nach Meinung der deutschen Historikerin Margarete Rothbart auch zu Beginn der 1930er Jahre noch andauerte, als „schon fast alle sozialen Gruppen sich wieder über die Grenzen hinaus gefunden hatten, als sich sogar die ehemaligen Kriegsteilnehmer bereits auf Kongressen trafen“. Für Rothbarth, die seit 1926 am Pariser Institut für Geistige Zusammenarbeit beschäftigt war und den Prozess der politischen und wissenschaftlichen Annäherung von dort aus verfolgte, hatte der Krieg für Deutschland „auf kaum einem Gebiet [. . .] solche Verheerungen angerichtet [. . .] wie in der Zusammenarbeit der Gelehrten“.23 Studien aus jüngster Zeit bestätigen Rothbarths zeitgenössische Einschätzung.24 Sie
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Dabei sahen die britischen und amerikanischen Vertreterinnen bis 1922 auch im Interesse der französischen und belgischen Kolleginnen von einer offiziellen Kontaktaufnahme mit den deutschen Akademikerinnen ab, siehe von Oertzen, Strategie Verständigung (Anm. 9), S. 115 f. Mit „atrocities“ waren die deutschen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung in Belgien und Frankreich gemeint. Zu deren historischer Analyse siehe John Horne und Alan Kramer, German Atrocities, 1914. A History of Denial, New Haven 2001. Der Wortlaut der Londoner Resolution ist abgedruckt in: International Scientific Organization, in: Science 48 (1918), Nr. 1247, S. 509 f., hier: S. 510. Zur Politik des IRC Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur (Anm. 11), S. 121 f. Eckardt Fuchs ist der Ansicht, dass sich auf dem Treffen „auf Grund der anglo-amerikanischen Anstrengungen und der Haltung der neutralen Länder eine relativ gemäßigte Position durchsetzen konnte“. Die erneute Einbeziehung in die Wissenschaftsinternationale sei von „Veränderungen der Politik der Mittelmächte, nicht aber vom persönlichen Abschwören einzelner Wissenschaftler verlangt worden“, siehe Fuchs, Wissenschaftsinternationalismus (Anm. 3), S. 276. Margarete Rothbarth, Die deutschen Gelehrten und die internationalen Wissenschaftsorganisationen, in: Volkstum und Kulturpolitik. Eine Sammlung von Aufsätzen, gewidmet Georg Schreiber zum 50. Geburtstage, hg. von Heinrich Konen und Johann Peter Steffes, Köln 1932, S. 143–157, hier: S. 143. Ebd. Aus der Perspektive der internationalen Wissenschaftsorganisationen siehe Fuchs, Wissenschaftsinternationalismus (Anm. 3); Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur (Anm. 11), insbes. S. 138 f. Metzler zufolge war Einstein der „einzige in Deutschland tätige
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fügen ihrem Urteil allerdings hinzu, dass die Deutschen für die so lang anhaltenden „Verheerungen“ zum großen Teil selbst verantwortlich waren. Die unter deutschen Professoren besonders ausgeprägte Haltung selbstgewählter Isolation führte dazu, dass der Versöhnungsprozess in der Wissenschaft deutlich später als in der Politik begann und sich bis 1933 nicht verfestigte.25 In ihrer überwiegenden Mehrheit, so das Urteil von Gabriele Metzler, lösten sich deutsche Wissenschaftler und Universitäten bis 1933 auch nicht aus ihren einschränkenden „kulturnationalen“ Prioritäten; die Chance des wissenschaftlichen Internationalismus blieb daher ihrer Meinung nach in der Weimarer Zeit für die Deutschen „insgesamt vertan“.26 Demgegenüber zeigt die Rekonstruktion der Gründung des Deutschen Akademikerinnenbundes (DAB) und seiner Aufnahme in die IFUW einen etwas anderen Verlauf. Die Verständigung zwischen der neuen weiblichen „international academic community“ und ihren deutschen Kolleginnen begann 1923 und führte in der Mitte der 1920er Jahre zur Aufnahme der Deutschen in das anglo-amerikanisch dominierte Netzwerk.27 Unmittelbar nach seiner Gründung im Jahr 1926 wurde der DAB in die IFUW aufgenommen. 1932 war die Stellung des deutschen Verbandes innerhalb der IFUW soweit gestärkt, dass die Mitgliederversammlung in Edinburgh Deutsch als dritte Verhandlungssprache neben Englisch und Französisch akzeptierte, ein Zugeständnis, das der IRC den deutschen Wissenschaftsorganisationen zu deren tiefer Verstimmung niemals machte. Wie gefestigt demgegenüber die Bindungen deutscher Akademikerinnen zu Beginn der 1930er in der IFUW waren, zeigt sich darüber hinaus daran, dass der internationale Dachverband in Edinburgh eine Einladung nach Berlin annahm; die sechste internationale Zusammenkunft der IFUW sollte 1936 in der deutschen Reichshauptstadt stattfinden. Zwar verlief dieser Prozess der Annäherung keineswegs ohne Spannungen und nahm mit dem Beginn der NS-Diktatur 1933 einen radikal anderen Verlauf als geplant.28 Dennoch scheint es legitim, in Bezug auf das Verhältnis von IFUW und DAB zu betonen, dass Akademikerinnen während der Weimarer Republik im Gegensatz zu vielen anderen ihrer Kollegen und deren
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Physiker, der die internationale Isolation durchbrechen wollte und konnte“, siehe Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur (Anm. 11), S. 141. Zu Ausgrenzung und Selbstisolation der deutschen Physiker siehe auch Michael Desser, Zwischen Skylla und Charybdis. Die „Scientific Community“ der Physiker, 1919–1939, Wien 1991, S. 11–25. „Zu stolz, die politischen Irrtümer der Kriegszeit zu widerrufen, und zu selbstsicher, was die Bedeutung und die Stellung ihrer wissenschaftlichen Arbeit anging, wiesen die Deutschen die Versöhnungsangebote schroff zurück“, siehe Gabriele Metzler, Nationalismus und Internationalismus in der Physik des 20. Jahrhunderts, in: Jessen/Vogel (Hg.), Wissenschaft und Nation (Anm. 3), S. 285–309, hier: S. 292. Die deutschen Physiker blieben bis 1927 von den wichtigsten internationalen Fachkonferenzen ausgeschlossen, siehe Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur (Anm. 11), S. 139. Die Dynamik einzelner anderer Fachwissenschaften mochte von dieser Entwicklung abweichen. Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur (Anm. 11), S. 164. Diese Annäherung kam wesentlich durch die Vermittlung der internationalen Frauenorganisationen zustande, siehe von Oertzen, Strategie Verständigung (Anm. 9), S. 119–125. Die für Berlin geplante Veranstaltung fand stattdessen im polnischen Krakau statt. Zu den Auseinandersetzungen zwischen DAB und IFUW in der Folge der Gleichschaltung des deutschen Verbandes und des Ausschlusses seiner jüdischen Mitglieder siehe von Oertzen, Strategie Verständigung (Anm. 9), S. 182–213.
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Organisationen die Chance des wissenschaftlichen beziehungsweise akademischen Internationalismus über ihre Mitgliedschaft in der IFUW sehr wohl nutzten und von ihm profitierten. Die internationale akademische Vernetzung, so wird dabei deutlich, hatte in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur herausragende kulturpolitische Bedeutung nach außen hin. Sie stieß auch neuartige Initiativen nach innen an, die dem Begriff „transnationale Universität“ in der Zwischenkriegszeit eine konkrete geschlechterpolitische Ausprägung gaben: als Versuch, ein angloamerikanisches Modell weiblicher akademischer Traditionspflege, wie sie in Nordamerika und auch in Großbritannien bereits seit mehreren Jahrzehnten existierte und in der IFUW zum Tragen kam, auf deutsche Verhältnisse zu übertragen und dieser an den überaus männlich geprägten Universitäten einen Platz zu verschaffen. Die Ausstrahlung der internationalen Organisation auf die Selbstreflexion und Neuorientierung deutscher Akademikerinnen ist dabei kaum zu überschätzen. Nicht nur der Anstoß, einen Verband zu schaffen, der alle Akademikerinnen des Landes unter einem Dach vereinen und deren Interessen in der IFUW repräsentieren würde, spricht für die enge Verflochtenheit von internationaler und nationaler Dynamik. Die nachhaltige Strahlkraft der IFUW fand auch darin Ausdruck, dass sich in Deutschland ein Großteil der an den Hochschulen lehrenden Dozentinnen unter der Ägide des DAB zusammenschlossen und sich damit erstmals als Teil der Frauenbewegung in der akademischen Landschaft positionierten.29 Die von der IFUW angestoßene Aufbruchstimmung unter deutschen Akademikerinnen bezog sich zudem auf eine Neubestimmung, was ihr Verhältnis zum akademischen Nachwuchs an den Universitäten anbetraf. Wie zentral dieses Anliegen gerade denjenigen Akademikerinnen war, die zentrale Funktionen in der Frauenbewegung wahrnahmen, wird an dem von Gertrud Bäumer 1923 publizierten Grundsatzartikel über „Die Not der geistigen Arbeiterinnen“ deutlich. In diesem Essay regte die Nationalökonomin, liberaldemokratische Reichstagsabgeordnete, neu ernannte Ministerialbeamtin und Doyenne der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland einen Disziplinen und Generationen übergreifenden Zusammenschluss aller Hochschulabsolventinnen nach dem Beispiel der IFUW an. Bäumers Appell war kein Lamento über die schwierige Lage berufstätiger Akademikerinnen und die Notwendigkeit, mit einem Dachverband deren berufliche Interessen nachdrücklicher zu vertreten.30 Er bot vielmehr eine scharfsinnige und in seiner Anteilnahme bewegende Analyse der gerade für den weiblichen akademischen Nachwuchs so zwiespältigen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Situation in den frühen Jahren der Weimarer Republik. Die Zuerkennung des Wahlrechts und die mancherorts ermöglichte Habilitation einzelner Wissenschaftlerinnen sollten, so Bäumer, nicht darüber hinwegtäuschen, dass Studentinnen nach dem Ersten Weltkrieg im Grunde wieder bei Null hätten anfangen müssen. Bäumer bezeichnete es als unabsehbares Unglück für das Schicksal der deutschen Frauen in geistigen Berufen,
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Dem 1925 gegründeten Verband der Hochschullehrerinnen gehörten mit 20 ein Großteil der insgesamt 25 habilitierten Wissenschaftlerinnen an. Bis 1929 stieg die Zahl auf 36 (von insgesamt 42) an, siehe von Oertzen, Strategie Verständigung (Anm. 9), S. 161 f. 30 Getrud Bäumer, Die Not der geistigen Arbeiterinnen, in: Die Frau 30 (1923), Nr. 7, S. 204–210.
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dass schon die zweite Generation nach der Erschließung des Frauenstudiums in eine Zeit hineingeboren sei, die ihr so außerordentliche wirtschaftliche Hemmungen entgegensetze. Die allgemeine Erschütterung sowohl des Kulturbewusstseins, des Zusammenhangs mit der Vergangenheit wie des Glaubens an die Zukunft erschwere ihre Lage zusätzlich. Dabei sei die Eroberung ihres Stücks des geistigen Kosmos für Frauen in Deutschland keineswegs gesichert oder abgeschlossen. Obgleich zahlreicher als vor dem Krieg, waren die Studentinnen der Nachkriegszeit Bäumers Ansicht immer noch Pionierinnen, insofern als dass an ihnen, nicht an der ersten Generation, [. . .] die Berechtigung des Frauenstudiums für bewiesen oder nicht bewiesen gelten werde.31 Bäumer, die 1904 an der Berliner Universität promoviert hatte und sich ohne Zweifel der Speerspitze der ersten Stunde zurechnete, vermittelte ihrer Leserschaft eindringlich, dass sich vor der weiblichen Studentenschaft seit dem Ende des Krieges enorme Schwierigkeiten auftürmten, einen solchen Beweis tatsächlich zu erbringen. In ihrer oftmals erbärmlichen finanziellen Lage stünden die Studentinnen wie ihre Vorgängerinnen noch immer ohne weibliche Lehrer und Vorbilder, zusätzlich nun aber ohne wirtschaftlichen und sozialen Rückhalt da. Bäumer hielt es für wenig verwunderlich, dass viele junge Frauen unter diesen Bedingungen entmutigt das Handtuch warfen. Auch die Erwartungen der Älteren an die Jungen, nun in den geistigen Berufen heimisch zu werden und diese organisch mit der weiblichen Geistigkeit zu verknüpfen, könnten von Letzteren oftmals nur als Zumutung empfunden und feindselig abgewehrt werden. Bäumer rief die gesamte Frauenbewegung auf, die junge Generation jetzt nicht im Stich zu lassen, sondern sich der sozialen, geistigen und wirtschaftlichen Notlage der Studentinnen anzunehmen. Insbesondere sah sie hier Akademikerinnen in der Pflicht. Diese sollten sich geschlossen für ihren geistigen Nachwuchs interessieren. Bäumer sprach ihrer eigenen Generation von Hochschulabsolventinnen eine Mitschuld an den gegenwärtigen Verhältnissen zu. Schon immer hätte es ihre Aufgabe sein müssen, die soziale und geistige Kluft zwischen Studentinnen und Universität zu schließen und eine Verbindung zwischen den Generationen aufzubauen. Gerade dies, so meinte Bäumer, lasse sich nicht über akademische Berufsorganisationen erreichen: Sondern nur über einen Verband der deutschen Akademikerinnen als Gesamtheit, der ja als Kartell bestehender Organisationen sich bilden könnte, und der unter seine wichtigsten Aufgaben die Fürsorge für die Studentinnen aufnähme: Unterkunft, Mittagstische vermittelte, Klubräume schüfe und dergl. mehr. Wenn einmal die Akademikerinnen als Gesamtheit zum gemeinsamen Handeln käme, würde das zeigen, dass sie doch eine ziemlich große und leistungsfähige Schicht sind.32
Die Sorge um den studentischen Nachwuchs war neben der Vertretung der deutschen Akademikerinnen in der IFUW eine der zentralen Aufgaben, welcher sich der 1926 gegründete Deutsche Akademikerinnenbund annahm. Die deutschen Akademikerinnen knüpften mit ihrer Initiative damit an eine Strategie der Vernetzung und Traditionsbildung an, die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA ihren Anfang 31 32
Ebd., hier: S. 207. Von dort auch die folgenden Zitate. Ebd., hier: S. 209 f.
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genommen hatte und über die IFUW 1919 internationale Vorbildfunktion bekam. Eine überregionale und vor allem intergenerationelle Organisation von Frauen mit College- und Hochschulbildung war 1881 in den USA mit Gründung der Association of Collegiate Alumnae (ab 1919 American Association of University Women, AAUW) und 1907 in England mit der nach amerikanischen Vorbild ins Leben gerufenen British Federation of Women Graduates (BFWG) erfolgt.33 Sie war erfolgreich genutzt worden, um die Bildungschancen von Mädchen zu verbessern, Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen und vor allem für die breite gesellschaftliche Anerkennung weiblicher Akademiker einzutreten. Bei diesen Bemühungen hatten die Frauencolleges eine zentrale Rolle gespielt. Denn die Frauencolleges hatten die Erfindung und gesellschaftliche Verankerung eines akademischen Weiblichkeitsbildes ermöglicht, das mit überkommenen Vorstellungen opportunen „Frauseins“ vereinbar schien. Entscheidend waren hierfür weniger die Lehrinhalte der betreffenden Institutionen, als die Repräsentation dessen gewesen, was Sophie Forgan in ihrer Untersuchung über die historische Bildungsarchitektur in Großbritannien auf den Begriff der „akademischen Häuslichkeit“ gebracht hat.34 Margeret Vickery zufolge trug der gefällige „Queen Anne“ Baustil der Frauencolleges entscheidend dazu bei, die Kritik am Frauenstudium in Großbritannien abzuschwächen, weil er wirkungsvoll dem Eindruck entgegentreten konnte, die Bildungsinstitutionen würden Frauen entweiblichen und oder zu widernatürlichen „blue stockings“ machen.35 Die solcherart sowohl in Großbritannien als auch in den USA seit dem 19. Jahrhundert architektonisch inszenierte akademische Häuslichkeit fand ihre Entsprechung in der Innenausstattung der Universitäten auch dort, wo junge Männer und Frauen gemeinsam unterrichtet wurden. Denn britische und mehr noch amerikanische Universitäten hatten im späten 19. Jahrhundert auch an koedukativen Institutionen „women’s rooms“ oder „women’s halls“ eingerichtet. Während männliche Studierende sich in gemeinschaftlichen Raucherzimmern mit Spucknäpfen, Billardtischen und unverwüstlichem Mobiliar verlustieren konnten, demonstrierte die Ausstattung der „common rooms“ ihrer Kommilitoninnen den gleichen Charme akademischer Häuslichkeit, wie ihn die Außenansichten von Frauencolleges zum Ausdruck brachten. Frische Blumen, filigrane Korbmöbel, gute Teppiche, teure Teeservice und große Spiegel, Pianos und weitere Musikinstrumente machten deutlich, dass die akademische Bildung, die jungen Frauen in den Anstalten höherer Bildung zuteil wurde, nicht zum Verlust an 33
Zur Gründungsgeschichte der AAUW siehe Marion Talbot und Lois Kimball Mathews Rosenberry, The History of the American Association of University Women, 1881–1931, Boston/New York 1931. 34 Siehe Sophie Forgan, Eine angemessene Häuslichkeit? Frauen und die Architektur der Wissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Theresa Wobbe, Bielefeld 2003, S. 137–157. 35 Als Beispiel führt Vickery Girton College an, eines der ältesten Frauencolleges in Cambridge. Erst in den 1890er Jahren, als Girton College eine akzeptierte Institution war, wurden die architektonischen Verweise auf Häuslichkeit deutlich schwächer, und die Gebäude nahmen mehr den Charakter klassisch „männlicher“ Bildungsarchitektur an, siehe Margaret Birney Vickery, Buildings for Bluestockings. The Architecture and Social History of Women’s Colleges in Late Victorian England, Newark/London 1999, S. 34 f.
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Weiblichkeit führte.36 Das akademisch-häusliche Eigenleben in den Frauencolleges und „women’s halls“ in koedukativen Einrichtungen ermöglichte weiblichen Studierenden die Ausbildung eines geschlechtsspezifischen, akademischen „corporate life“ an den jeweiligen Universitäten.37 Dies war Studentinnen in Deutschland nicht einmal im Ansatz möglich. Einen festen Ort in der Nähe der Universität zu schaffen, wo Studentinnen sich zwischen ihren Veranstaltungen aufhalten, lesen, sich austauschen, möglichst noch preiswert essen und von Rat, Erfahrung und Kontakten der älteren Generationen von Akademikerinnen profitieren konnten, wurde zur konkreten Vision einer intergenerationellen weiblichen akademischen Traditionsbildung nach anglo-amerikanischem Vorbild, welcher sich der DAB und insbesondere seine Berliner Ortsguppe verschrieben. Die Berliner Akademikerinnen kamen damit auch einem ausdrücklichen Bedürfnis von Seiten einiger Studentinnen nach. Aufgefordert, den 1926 erstmals versammelten Mitgliedern des DAB ihre Wünsche zu unterbreiten und zu erläutern, wie eine intergenerationelle Unterstützung – und damit die Weitergabe an Werten, Erfahrungen und persönlichen Verbindungen – unter Akademikerinnen zu gestalten sei, führte die angehende Nationalökonomin Irmgard Rathgen als ersten Punkt die Schaffung von Klubs an den Hochschulorten an, die eine wirkliche Sammelstelle, ein Zentrum der Akademikerinnen werden.38 Insbesondere in Berlin sah sie großen Bedarf an einer Einrichtung, die Studentinnen nahe der Universität häusliche Rückzugsund Ruhemöglichkeit, praktische Hilfe und intellektuelle Anregung bot. Rathgen ergänzte: Ein solcher Ort könne auch die Bude entlasten von Geselligkeit, die die Vermieterin nicht erlaubt. Er macht bei schmalem Wechsel – und in der kommenden Zeit wirtschaftlicher Depression wird er noch schmaler – ein ganz einfaches Zimmer erträglich, weil man in seine Behaglichkeit flüchten kann. Er schafft menschliche Berührungen, er bringt die Fakultäten durcheinander, in ihnen ist Rat und Hilfe zu finden in Sachen des Studiums und des persönlichen Lebens. Er kann mit Büchern, Zeitschriften ausgestattet sein.39
Derartige Clubs, wie sie an britischen und amerikanischen Colleges und Universitäten gang und gäbe waren, gab es in Deutschland nicht. Es existierten lediglich einzelne, 36
Forgan, Eine angemessene Häuslichkeit? (Anm. 34), S. 146 f. Siehe auch Carol Dyhouse, No Distinction of Sex? Women in British Universities, 1870–1939, London 1995; Pauline Adams, Somerville for Women. An Oxford-College, 1879–1993, Oxford 1996. 37 An den meisten koedukativen Universitäten wurden „Women’s Deans“ mit der Betreuung der weiblichen Studierenden betraut, wie etwa auch die Gründerin der späteren AAUW, Marion Talbot, die 1893 zum „Women’s Dean“ der University of Chicago ernannt wurde. Zu Talbot siehe auch Andrea Glauser, More than a watchdog. Marion Talbot und die Chicago-Soziologie, Bern 2003. 38 Irmgard Rathgen, Praktische Aufgaben des Deutschen Akademikerinnenbundes, in: Die Studentin 2 (1925), Nr. 7/8, S. 57 f., hier: S. 57. Als zweiten Vorschlag führte Rathgen die Schlagworte an: Stipendien, Auslandsstudium. Der DAB solle für die Berücksichtigung von Frauen bei der neuen staatlichen Mittelvergabe sorgen, und er solle Aufklärung unter den Studentinnen betreiben, damit sie diese Förderung auch in Anspruch nähmen. Systematische Aufklärung sei da gefordert. Auch beim Auslandsstudium ginge es völlig zufällig her, und der DAB mit seinen vielfältigen Auslandsbeziehungen habe hier eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, um das Auslandsstudium möglichst vielen Studentinnen bekanntzumachen, siehe ebd. 39 Ebd.
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privat gestiftete Wohnheime für Studentinnen. Das erste und wohl auch bekannteste Wohnheim dieser Art war das mit Spenden der Frauenrechtlerin Otilie von Hansemann in Berlin Charlottenburg errichtete und 1915 in Betrieb genommene stattliche Viktoria Studienhaus.40 Es bot 95 bis 100 Frauen in Einzel- und Doppelzimmern Platz, war jedoch mit 135–200 RM für Zimmer sowie Frühstück und Mittagsmahlzeit im Monat für die allermeisten Studentinnen der Nachkriegszeit unbezahlbar.41 Auch hatte es bereits vor dem Ersten Weltkrieg Versuche gegeben, ein mit öffentlichen Geldern finanziertes Studentenhaus in Berlin zu etablieren, das Männern wie Frauen als Wohnheim dienen und darüber hinaus auch Aufenthalts- und Ruheräume für Studentinnen bieten sollte. Derartige Pläne waren jedoch am behördlichen Einspruch gegen die studentische Selbstverwaltung gescheitert; nach dem Krieg wurde es praktisch unmöglich, bezahlbare Räumlichkeiten im nahen Umkreis der Universität zu finden.42 Beim erneuten, und nun erfolgreichen Versuch des DAB, in Zusammenarbeit mit dem 1923 gegründeten Studentenwerk Berlin ein Studentinnentagesheim in Berlin zu etablieren, ist unverkennbar, dass die internationalen Verbindungen zur IFUW und die Ausstrahlung des internationalen Gästehauses der IFUW in London namens Crosby Hall dem Berliner Vorhaben politische Stoßkraft gaben und als Vorbild dienten. Konkret bezog sich der DAB bei den Planungen des Studentinnenwohnheims auf die von IFUW-Mitgliedern betriebenen Wohnheime und Gästehäuser in Madrid, Paris und London.43 Crosby Hall, das prächtige Anwesen in London Chelsea, war am 1. Juli 1927 in Anwesenheit der Königin, zahlreicher britischer Würdenträger aus Hochschule und Politik, diplomatischer Vertreter aus mehr als 20 Ländern, 21 Delegierter der IFUW und etlicher Gäste eröffnet worden, die zum Teil Tausende von Kilometern zurückgelegt hatten, um den Feierlichkeiten beizuwohnen, wie die
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Die Gründung des Studentinnenwohnheims ging aus einer Auseinandersetztung der Stifterin mit der Berliner Universität über die Zulassungsbedingungen von Studentinnen hervor. Von Hansemann hatte das Geld ursprünglich der Universität als Spende angeboten unter der Bedingung, dass diese die 1908 gewährte rechtliche Zulassung von Frauen auch gegenüber denjenigen Professoren durchsetzte, die Studentinnen weiterhin den Zutritt zu ihren Vorlesungen verweigerten. Die Weigerung des Präsidenten, auf diese Bedingung einzugehen, beantwortete von Hansemann mit dem Rückzug ihrer Spende und der Investition in das Heim, um das Frauenstudium auf diese Weise zu unterstützen. Der prächtige Bau wurde konzipiert und ausgeführt von Deutschlands erster selbständiger Architektin, Emilie Winkelmann, siehe Despania Stratigakos, A Women’s Berlin. Building the Modern City, Minneapolis 2008, S. 53–96. 41 Margot Melchior, Deutschlands Studentinnenheime, in: Die Frau 36 (1928/1929), S. 586–592. Ansonsten gab es seit 1922 in Leipzig ein als „Sondereinrichtung der Wirtschaftshilfe für Studentinnen“ gegründetes kleines Studentinnentagesheim, das jedoch nur „menschlich und wissenschaftlich besonders Empfohlenen“ Zulass gewährte und lediglich 11 Studentinnen Platz bot. Katholische Studentinnenheime waren üblicher, es gab Mitte der 1920er Jahre 550 Plätze insgesamt für etwa 16 % aller katholischen Studentinnen. Alle der etwa 10 Heime wurden von Ordensschwestern geleitet, siehe ebd. 42 An den Vorbereitungen für dieses Studentenhaus war Marie-Elisabeth Lüders als Studentin beteiligt gewesen, siehe 1 Jahr Studentinnentagesheim (Helene-Lange-Heim), 1928–1929, hg. vom Studentenwerk Berlin, Berlin 1929, S. 7. 43 Siehe Bericht über die Tätigkeit des DAB von Juni 1928 bis Juni 1929, in: LAB, B Rep. 235-5, 1/1, HLA 3634.
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stellvertretende DAB-Vorsitzende Ilse Szagunn in der Zeitschrift Frau berichtete.44 Gemeinsam mit vier weiteren Vertreterinnen des DAB hatte Szagunn dem aufwendigen Festakt und dem folgenden Empfang beigewohnt, der wohl auf alle Deutschen tiefen Eindruck gemacht hatte. Die Veranstaltung hatte der IFUW und vor allem ihren britischen Delegierten erneut Gelegenheit gegeben, sich in akademischem Ornat zu präsentieren und in ihrer öffentlich zur Schau getragenen Würdentracht ihren wissenschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Führungsanspruch zur Geltung zu bringen. Szagunn urteilte über das Ereignis: Wenn diese Feier als Sinnbild der engsten Verbindungen von Frauenbewegung und Akademikerinnentum gelten konnte, so zeigte die glänzende Versammlung, die sich zur Eröffnung von Crosby Hall eingefunden hatte, welche bedeutende Rolle die englischen Akademikerinnen und mit ihnen der Britische und der Internationale Akademikerinnenbund in der Öffentlichkeit spielen.45
Der DAB konnte aus der Eröffnung von Crosby Hall jedoch auch für seine eigene Bedeutung in Deutschland Kapital schlagen. Das Auswärtige Amt in Berlin spendete anlässlich der Eröffnung für die Möblierung eines Raumes im neuen Wohntrakt des internationalen Clubhauses 200 Pfund.46 Die deutsche Regierung unterstrich damit offiziell die Bedeutung des DAB und seiner internationalen Vernetzung. Eine ähnliche Bereitschaft von offizieller Seite, den DAB und seine Vorhaben in Berlin zu unterstützen, zeigte sich auch bei der Etablierung des ersten Berliner Studentinnentagesheims. Der DDP-Reichstagsabgeordneten Marie-Elisabeth Lüders, der Ärztin Ilse Szagunn und der Studiendirektorin Anna Schönborn, die in Komitees der IFUW mitarbeiteten und über ausgezeichnete Verbindungen zu Behörden und Ämtern in Berlin verfügten, gelang es 1926, hochrangige Unterstützung und beträchtliches Spendengeld für das Projekt zu erlangen. Kurz vor der Eröffnung von Crosby Hall hatte sich das Kultusministerium bereit erklärt, eine weitläufige Wohnung mit acht großen Zimmern, einer Küche und etlichen zusätzlichen Wirtschaftsräumen im sogenannten Apothekerflügel des Berliner Schlosses kostenlos zur Verfügung zu stellen. Sowohl von der Universität „Unter den Linden“ wie auch von der Berliner Handelshochschule gegenüber der Berliner Börse in der Burgstraße, an denen Mitte der 1920er Jahre die meisten der etwa 1 000 Studentinnen Berlins studierten, war das Schloss in wenigen Minuten zu erreichen.47 Die unmittelbare Nähe zur Mensa, die sich im Erdgeschoss des Apothekerflügels befand, war ein zusätzlicher Vorteil dieser zentralen Lage. Zur Finanzierung des erforderlichen Umbaus und der Einrichtung des Heims ließen die Organisatorinnen einen öffentlichen Aufruf kursieren, der den Spendenappellen für Crosby Hall glich48 ; und auch der Erfolg der Aktion, welche die erforderlichen 20 000 Mark entgegen aller Erwartungen binnen drei Monaten zusammenbrachte, weil Minister und Ministerien, Professorengattinnen, Kammerpräsidenten, 44 45 46 47 48
Ilse Szagunn, Crosby Hall, ein internationales Clubhaus für Akademikerinnen, in: Die Frau 34 (1926/1927), S. 720 f., hier: S. 721. Ebd. Ebd. Charlotte Lorenz, Wieviel Frauen studieren in Deutschland?, in: Die Frau 34 (1926/1927), S. 239–241, hier: S. 240. Errichtung eines Studentinnen-Tagesheims in Berlin. Spendenaufruf, o. D. (Sommer 1927), in: Ort, Archiv (hiernach BAK), N 1151, Nr. 284.
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Staatssekretäre und Vertreterinnen der Frauenbewegung, aber auch etliche Berliner Großfirmen und Kaufhäuser sich in überaus entgegenkommender Weise engagierten, erinnerte – wenn auch in kleinerem Rahmen – an die begeisterte Unterstützung, die sich für die Errichtung des Londoner Clubhauses hatte mobilisieren lassen.49 Am 4. Mai 1928 wurde das Berliner Studentinnentagesheim in Anwesenheit etlicher Würdenträger, der Spenderinnen und Spender eröffnet und seinem Zweck übergeben, den Studentinnen der Reichshauptstadt eine Heimstätte zu werden, wie sie bisher nach Art und Ausführung an keiner anderen deutschen Hochschule bestand.50 Auch die 80-jährige Lehrerin und Grande Dame der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung, Helene Lange, deren Namen die Einrichtung fortan tragen sollte, wohnte der Feier bei. Eine Büste der so Geehrten, die dort am 27. November 1928 enthüllt wurde, stiftete die Berliner Abteilung des 1908 gegründeten Deutschen Philologinnenverbandes.51 Das Heim, so machen diese Inszenierungen deutlich, war mehr als ein Ort, der praktischen Erfordernissen diente. Es sollte ähnlich wie Crosby Hall und die in Paris und Washington, D. C. geschaffenen Gästehäuser der IFUW zudem der Verbindung von Frauenbewegung, Akademikerinnen und weiblicher Studentenschaften verschiedener Generationen dienen und auf diese Weise auch in Deutschland eine weibliche akademische Tradition an der Universität verankern.52 Das Studentinnen-Tagesheim (Helene-Lange-Heim) im Berliner Schloss verfügte über drei große Aufenthaltsräume mit 14 Tischen, 48 Sesseln und 10 Bänken, zahlreichen Zeitschriften und einer kleinen, aber stetig wachsenden Bibliothek; es hatte einen Baderaum, eine Küche und eine Abstell- und Vorratskammer; die meiste öffentliche Aufmerksamkeit zogen die drei Ruheräume mit ihren 31 Tagesliegen auf sich, die Studentinnen bei Bedarf einen Mittagsschlaf erlauben sollten. Das Heim war wochentags von 10 bis 22 Uhr geöffnet und bot etwa 70 Studentinnen Platz. Der Zutritt zum Heim kostete zwei Mark pro Semester, für Getränke und Bäder wurde zusätzlich ein geringer Unkostenbeitrag erhoben.53 Das Berliner Studentinnenheim war von Beginn an ein Erfolg: Von den insgesamt 2 495 Berliner Studentinnen, die im Wintersemester 1928/1929 an den Universitäten eingeschrieben waren, erwarben 350 eine Semesterkarte für das Heim, und
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Siehe Spenderliste I (Barspenden) und II (Sachspenden), zu den Spendern gehörten: AEG, Bewag, die Berliner Blindensanstalt, wie auch die Kaufhäuser Israel, Herzog, Tietz, Wertheim und andere, siehe 1 Jahr Studentinnentagesheim (Anm 42), S. 25–27. 1 Jahr Studentinnentagesheim (Anm 42), S. 11. Ebd. Der ursprüngliche Name des Verbandes lautete „Verband akademisch gebildeter und studierender Lehrerinnen“ und fasste anfänglich in der Hauptsache diejenigen sogenannten „Oberlehrerinnen“ zusammen, die auf der Basis von zwei Jahren Berufserfahrung im Lehrberuf und dem Besuch einer Seminarklasse ohne Abitur an der Universität studieren konnten. Erst nach dem ersten Weltkrieg überwogen die „Studienrätinnen“, die höhere Schule, Abitur, Studium und ein Referendariat durchlaufen hatten. Der Verband wurde dementsprechend 1925 in Verband Deutscher Philologinnen umbenannt, siehe Claudia Huerkamp, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945, Göttingen 1996, S. 209–213. So Gertrud Bäumer in ihrem Grundsatzreferat anlässlich der Gründung des DAB 1926, siehe Bäumer, Die Akademikerin und die Volkskultur. Zur Gründung des Verbandes Deutscher Akademikerinnen, in: Die Frau 33 (1926), Nr. 9, S. 513–517. 1 Jahr Studentinnentagesheim (Anm. 42), S. 8.
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zusätzlich gab die Heimleiterin mehrere hundert Tageskarten aus. Zu den Stoßzeiten von 12 bis 16 Uhr hielten sich täglich über 100 Frauen in den Räumen des Heims auf, wobei vor allem im Winter erhöhter Bedarf bestand.54 Rasch entwickelte sich das Heim zum Treffpunkt verschiedener studentischer Arbeitsgruppen. Auch die Zusammenarbeit mit den sogenannten Altakademikerinnen gestaltete sich erfreulich: Agnes von Zahn-Harnack, die 1926 als Vertreterin des DAB als einzige Frau in den Vorstand der 1925 gegründeten Studienstiftung des Deutschen Volkes berufen worden war, veranstaltete abends mehrere Treffen mit Stipendiatinnen im Heim, wobei sie nicht versäumte, diese über die Arbeit der IFUW zu informieren; auch fanden die Advents- und Weihnachtsfeiern regen Zuspruch von über 80 Teilnehmerinnen.55 Über die ersten drei Jahre seines Bestehens nahm die Zahl der abendlichen Veranstaltungen so deutlich zu, dass die Heimleiterin in ihrem Bericht von 1931 vermerkte, es habe sich hier gerade im letzten Jahr ein geistiger Mittelpunkt durch die Veranstaltung von Vorträgen, Diskussionsabenden etc. herausgebildet, der eine starke Wechselwirkung zwischen den Studentinnen und den schon im praktischen Leben stehenden Altakademikerinnen mit sich brachte.56 Auch erfüllte das Heim eine wichtige transnationale Funktion für den gesamten DAB bei der Kontaktpflege und Betreuung ausländischer Kolleginnen, die insbesondere in Berlin gegen Ende der 1920er Jahre so an Umfang gewann, dass sie die Kräfte der Berliner Vorstandsmitglieder stark in Anspruch nahm.57 Empfänge und Tees zur Begrüßung ausländischer Gäste fanden in der Regel im Helene-Lange-Heim statt. So waren im Anschluss an die Prager Mitgliederversammlung der IFUW im Jahr 1930 zahlreiche Delegierte aus Norwegen, Spanien, Jugoslawien und Griechenland im Berliner Studentinnenheim zu Gast, wie auch eine Gruppe von Bulgarinnen, für die der DAB-Vorstand dort eine kleine Tagung zur Frauenfrage in Deutschland veranstaltete. Zusätzlich gab man der holländischen Vizepräsidentin der IFUW, Professor Johanna Westerdyk, zu Ehren einen Empfang und begrüßte bei anderen Gelegenheiten Gäste aus Australien, Indien, Argentinien, England, Polen, Schweden, Österreich und der Schweiz.58 Das Berliner Studentinnenheim trug auf diese Weise mit dazu bei, dem gesamten DAB politisches Gewicht zu verleihen. Denn ausdrücklich wegen der regen Gästebetreuung in Berlin habe das Auswärtige Amt die in kulturpolitischer Hinsicht so bedeutungsvolle Arbeit des DAB anerkannt und gelegentlich finanziell gefördert.59 So positiv sich das Leben im Studentinnentagesheim auch gestaltete, stellten die wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen der frühen 1930er Jahre die Existenz
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Ebd., S. 9. Ebd., S. 19. Helene-Lange-Heim, Bericht der Heimleiterin über das Wintersemester 1931/2, in: BAK, N 1151, Nr. 284. Bericht über die Tätigkeiten des DAB von Juni 1930 bis Juni 1931, S. 9, in: LAB, B Rep. 235-5, HLA 3630. Bericht über die Tätigkeiten des DAB von Juni 1928 bis Juni 1929, in: LAB, B Rep. 235-5, 1/1, HLA 3634; Bericht über die Tätigkeiten des DAB vom Juni 1929 bis Juni 1930, in: LAB, B Rep. 235-5, 1/1, HLA 3630. Bericht über die Tätigkeiten des DAB von Juni 1930 bis Juni 1931, S. 9, LAB, B Rep. 235-5, HLA 3630, S. 10.
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dieses Ortes zunehmend in Frage. Ursprüngliche Pläne, das Tagesheim möglichst zu einem Wohnheim für Studentinnen zu erweitern, ließ man fallen. Als Folge der wirtschaftlichen Krise kamen weniger Studentinnen, weil sie sich selbst den geringen Preis einer Semesterkarte für das Heim nicht mehr leisten konnten.60 Zwar blieb das Heim bis 1933 ähnlich betriebsam wie in den ersten Semestern seines Bestehens, aber es zeichnete sich ab, dass die Zahl derer, die das Heim nutzten, insgesamt abnahm. Das geringe Kapital, das zur Deckung der Ausgaben vorhanden war, schmolz bis Anfang 1933 auf den kleinen Rest von 311,74 Reichsmark. Die Weiterfinanzierung wurde umso fraglicher, als die zahlreichen jüdischen Mitglieder des Fördervereins kein Geld mehr spenden konnten.61 Ob und in welcher Form das Berliner Studentinnentagesheim über den Sommer 1933 fortbestand, ist ungewiss. Andere derartige Initiativen, wie das kleinere Studentinnenwohnheim der „Bettinen“ in Marburg etwa, wurden von der nationalsozialistischen Studentinnenschaft übernommen. Eine Bewertung des Experiments, eine weibliche akademische Tradition in Deutschland über einen Ort in der Nähe der Universität zu etablieren, an dem Studentinnen ungestört lernen, diskutieren, ruhen, kochen, und zudem mit älteren Akademikerinnen zusammenkommen konnten, ist angesichts der kurzen Blütezeit des Berliner Studentinnentagesheims schwierig. Für einige zentrale Persönlichkeiten des DAB-Vorstands traf es zu, dass sie besondere Anstrengungen unternahmen, Veranstaltungen im Helene-Lange-Heim zu organisieren und präsent zu sein. Doch beklagten die Rechenschaftsberichte der Heimleitung auch, dass die Berliner Wissenschaftlerinnen sich entgegen ihrer angekündigten Bereitschaft, sich für den weiblichen studentischen Nachwuchs zu engagieren, dies nicht in die Tat umsetzten. Die Physikerin Lise Meitner etwa und die Medizinerin Paula Hertwig gehörten zwar dem Förderverein des Heims an und bezeugten durch ihre Spenden, dass sie die Initiative guthießen, als Mentorinnen hingegen engagierten sie sich nicht.62 Die Funktionärinnen des DAB in Berlin schufen mit dem Tagesheim jedoch eine Insel des intergenerationellen Dialogs, über den die Verständigung zwischen den Generationen bis 1933 noch zu funktionieren schien. Dies stand dem allgemeinen Trend der Entwicklung deutlich entgegen. Insgesamt, so zeigen die stark sinkenden Zahlen von organisierten und insbesondere politisch liberal gesinnten Studentinnen zu Beginn der 1930er Jahre, vermochte der DAB die allseits beklagte Abwendung weiblicher Studierender von der Frauenbewegung und ihre Zuwendung zu rechten und nationalistischen Idealen nicht abzuwenden. Die dem DAB angeschlossenen liberalen Studentinnenvereine büßten zu Beginn der 1930er Jahre einen Großteil ihrer Mitglieder ein.63 Trotz aller Anstrengungen, Studentinnenheime zu schaffen und in Betrieb
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Bei insgesamt steigenden Studentenzahlen erhöhte sich der Frauenanteil an den Studierenden zwischen 1925/26 und 1931/32 zwar von 11,5 % auf 18,9 %, und im Wintersemester 1931/32 studierten 20 000 Studentinnen (gegenüber 80 000 Studenten) an deutschen Universitäten. Zu einem krassen Einbruch kam es erst 1934 nach der Einführung eines Numerus Clausus durch die Nationalsozialisten, siehe Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (Anm. 51), S. 76 f. Studentenwerk Berlin an Marie-Elisabeth Lüders v. 07. 04. 1933, in: BAK, N 1151, Nr. 284. Siehe 1 Jahr Studentinnentagesheim (Anm. 42), S. 17. Beide Wissenschaftlerinnen sind in der Spendenliste wie auch als Mitglieder des Fördervereins geführt, siehe ebd. Siehe Huerkamp, Bildungsbürgerinnen (Anm. 51), S. 145.
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zu halten, und trotz des Zuspruchs, den insbesondere das Helene-Lange-Heim in Berlin von zahlreichen Studentinnen erfuhr, war die generelle Distanz zwischen den im DAB vertretenen älteren Akademikerinnen und der großen Mehrheit von Studentinnen der späten Weimarer Republik nicht zu überbrücken. Als der DAB 1930 in Dresden einen „dies academicus der Frau“ veranstaltete, wurde in mehreren Referaten auf den tiefgreifenden Typenwandel der Studentin verwiesen, den Marianne Weber bereits 1917 registriert hatte. Es scheint so, stellte eine der Berichterstatterinnen fest, als führe von der Studentin der ersten zwei Jahrzehnte zu der Studentin von heute keine Überlieferung. [. . .] Die Studentin fühlt sich nicht herausgehoben aus den Reihen der nichtstudierenden Altersgenossinnen.64 Frauen erwarteten nun von der Hochschule die bestmögliche Vorbereitung für den in Aussicht genommenen Beruf. Dieser wird durchaus nicht mehr in allen Fällen als innere Berufung empfunden, hieß es wiederholt.65 Die Idee, einer transnationalen weiblichen Elite anzugehören, oder, wie die Studentin Hildegard Gallmeister sich ausdrückte, einen weithin reichenden, gemeinsamen akademischen Frauengeist und Frauenwillen heranzubilden, ließ sich den meisten Studentinnen zu Beginn der 1930er Jahre nicht mehr vermitteln.66 Über diese Entwicklung, der sie nicht viel entgegenzusetzen hatten, reflektierten etliche Vertreterinnen des DAB zu Beginn der 1930er Jahre. Vor dem Hintergrund der mit recht hohem Aufwand betriebenen Studentinnenfürsorge, für die sich Akademikerinnen nicht nur in Berlin, sondern auch in den anderen Universitätsstädten des Deutschen Reiches engagierten, sollten diese Überlegungen jedoch nicht nur als Ausdruck einer Krise verstanden werden. Die vielfachen Ausführungen über die „Krise des Frauenstudiums“, die gegen Ende der Weimarer Republik immer mehr Raum in den Publikationen der Frauenbewegung einnahmen, dokumentieren zwar ohne Zweifel, dass unter dem Druck der sich zuspitzenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse die Auffassungen und Werte des weiblichen akademischen Nachwuchses sich so schnell veränderten, dass sie für die Hoffnungen und Ideale der liberalen, transnational orientierten Frauenbewegung nur noch schlecht zu erreichen waren. Gleichzeitig jedoch waren die vielfachen Klagen hierüber Ausdruck eines durch die IFUW geschärften Bewusstseins, eine weibliche akademische Tradition in Deutschland etablieren zu müssen, deren Kernstück die Sorge um den akademischen Nachwuchs war. Nicht nur die intergenerationelle Allianz, sondern auch die transnationale und am Ethos des wissenschaftlichen Internationalismus der IFUW orientierte Ausrichtung des DAB zerbrach im Frühjahr 1933, als die liberal gesinnten Vertreterinnen des Weimarer Vorstands zurücktraten und an deren Statt neu gewählte nationalkonservative und nationalsozialistische Mitglieder die Gleichschaltung des Verbandes vorantrieben. Diese erfolgte 1934 und war gefolgt vom Austritt der Deutschen aus 64
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Gertrud Jung, Dies academicus der Frau, in: Die Frau 37 (1929/1930), S. 611–614, hier: S. 614. Zitat in: Angelika Schaser, Die „undankbaren“ Studentinnen. Studierende Frauen in der Weimarer Republik, in: Frauen auf dem Weg zur Elite. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte, hg. von Günther Schulz, München 2000, S. 97–116, hier: S. 115. Hildegard Gallmeister, Die Studentin im akademischen Leben, in: Die Frau 37 (1929/1930), S. 623–630, hier: S. 625. Ebd., hier: S. 629. Siehe auch Schaser, Die „undankbaren“ Studentinnen (Anm. 64).
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Christine von Oertzen
der IFUW im Jahr 1936, der anschließenden Auflösung des DAB und der Übernahme der verbliebenen Mitglieder in das Deutsche Frauenwerk.67 Was von dem durch den Einfluss der IFUW verwirklichten Projekt der „transnationalen Universität“ nach 1933 erhalten blieb, waren die Verbindungen ins Ausland. In Reaktion auf die Entlassungswelle jüdischer Hochschulangehöriger, die bereits im Herbst 1933 auch einem Großteil der Wissenschaftlerinnen in Deutschland die Existenzgrundlage entzog, rief die IFUW ihre Mitgliedsverbände zur schnellen Hilfe auf. Die akademische Fluchthilfe der IFUW erwies sich für viele verfolgte Akademikerinnen als rettende Hand, um aus Deutschland und seinem wachsenden Machtbereich zu entkommen und sich in der Emigration neu zu etablieren.68
ABSTRACT Throughout much of the twentieth century, German universities were quintessentially national, often fervently nationalistic, places. The rapid embrace of nationalist feeling immediately following the outbreak of the First World War shattered an ethos of scientific internationalism that had flourished prior to 1914, and the isolation imposed on the defeated nation after 1918 led Germany’s male university elite to redouble efforts to cordon off “their” institutions of higher learning from foreign impulses, alleged or real. The Nazi seizure of power in 1933 added still greater fury to German nationalist feeling, with the groundswell of identification with all things purportedly German ascending to new heights – and moral and ethical depths. Following defeat, division, and occupation, the identification of university life with the nation ebbed but by no means disappeared: in western Germany, the self-imposed provincialism of university life was not seriously challenged until the 1960s. Nationalism, a major part of any account of university life in Germany across the twentieth century, does not capture the full story of higher learning in Central Europe. In Germany as elsewhere, efforts to define universities in transnational terms persisted across the entire twentieth century. My contribution places one set of such initiatives within the larger context of university-fed nationalism outlined above. Working from a gendered perspective, my essay explores the networks and activities created by the International Federation of University Women (IFUW). Established in 1919, one of the IFUW’s first challenges was to strike a balanced response between the needs and demands of its ostracized former German members and the myriad wishes of those who had battled against the scourge of nationalism and German expansionism. The dialectic of internationalist feeling not only framed the IFUW’s response to Germany; overtures to German academic women in turn shaped how educated women within the Weimar Republic came to regard their own position in higher learning, stimulating new initiatives to forge a female academic tradition based on international principles, as witnessed by multinational interactions in special clubhouses established for female students in Berlin and other cities. 67 68
Zur Gleichschaltung des DAB siehe von Oertzen, Strategie Verständigung (Anm. 9), S. 182–214. Siehe von Oertzen, Strategie Verständigung (Anm. 9), S. 245–332.
UNIVERSITÄTEN UND IMPERIALE STRATEGIE IM KALTEN KRIEG Der Colombo-Plan und die transnationale Universität in der Auseinandersetzung um „Hearts and Minds“ Christoph Ellßel
DER KALTE KRIEG IN SÜDOSTASIEN UND DIE TRANSNATIONALE UNIVERSITÄT Der Colombo-Plan war ursprünglich ein zur Re-stabilisierung der aufgrund des Krieges und der Sterling-Krise in Schwierigkeiten geratenen Commonwealth-Gemeinschaft gedachtes Vertragswerk.1 Es sollte ab Anfang 1950 unter dem Dach eines gemeinsamen Abkommens bilaterale Wirtschafts- und Entwicklungshilfe der verschiedenen Commonwealth-Länder2 untereinander ermöglichen und sah dabei sowohl direkte Finanzzuschüsse wie auch indirekte Hilfe durch Entsendung oder Weiterbildung von Experten vor. Dabei war das Vertragswerk unmittelbar auf einen Einstieg der finanzkräftigen USA hin ausgelegt, wozu man bereit war, den amerikanischen Unterhändlern hinsichtlich deren Erwartungen an ein solches Projekt sehr weit entgegenzukommen.3 Das für die hier folgende Analyse im Fokus stehende Stipendien- und Förderprogramm des Colombo-Planes war zu einem Gutteil Ergebnis dieses Entgegenkommens und entstand aus den Verhandlungen um den Beitritt der USA im Herbst/Winter 1950. Es sollte im Rahmen vollfinanzierter Stipendien4 jungen Menschen aus Süd- und Südostasien die Möglichkeit geben, an australischen Universitäten (und anderen Hochschulen der Mitgliedsstaaten, jedoch nicht der USA selbst) im Rahmen von BA-Studiengängen zu studieren, um anschließend in ihre Heimatländer zurückzukehren. Dabei hatte diese Ausbildung eine Doppelfunktion: Einerseits sollte sie tatsächlich deklaratives Wissen um Abläufe und Infrastruktur in die Region transferieren, andererseits – und das erscheint für diese Arbeit bedeutsamer – sollte sie zukünftige Multiplikatoren und Eliten gegenüber dem Kommunismus „impfen“ und zu „Change Agents“ im Sinne westlich-liberaler
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Ursula Lehmkuhl, Kanadas Öffnung nach Asien. Der Colombo-Plan, das „New Commonwealth“ und die Rekonstruktion des Sterlinggebietes 1949–52, Bochum 1990, S. 161–172. Anfangsmitglieder waren neben Australien und Großbritannien noch Indien, Pakistan, Ceylon, Malaya, Singapur, Nord-Borneo, Sarawak und Brunei. National Archives, Kew, London, Großbritannien (hiernach NA), DO 35/2724. Aufgrund der bilateralen Anlage des Vertrages wurden diese Stipendien im Gegenzug zu sicherheitspolitischen Zusagen der USA durch Australien eigenständig finanziert.
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Politik machen.5 Ergänzt wurde das Förderprogramm für die Studierenden durch den Ausbau von privaten wie öffentlichen Angeboten der USA für Hochschullehrende aus Australien zu Lehr- und Studienaufenthalten an amerikanischen Hochschulen. Nach ihrer Rückkehr sollten dann in einer Art „Politik über die Bande“ die amerikanisch qualifizierten Dozenten auf asiatische Studierende an einem dritten Ort – Australien – treffen und dort amerikanische Vorstellungen an die Studierenden als lokale Multiplikatoren weitergeben. Damit war das Stipendienprogramm des Colombo-Planes auch ein Bestandteil imperialen Wandels in Süd- und Südostasien,6 das angesichts der geopolitischen Machtverschiebungen in Festlandchina nach 1948/49 sowohl von Großbritannien
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Das Thema des Colombo-Planes ist dabei in der Forschung aus verschiedenen Blickrichtungen untersucht worden. Für einen Blick auf das kanadische Engagement im Vertragswerk vor allem aus ökonomischer Perspektive siehe auch Lehmkuhl, Kanadas Öffnung nach Asien (Anm. 1), für das australische und die damit verbundene Hinwendung nach Asien insbesondere Daniel Oakman, Facing Asia. History of the Colombo Plan, Canberra 2004, dessen polarisierte Darstellung die transformativen Elemente des Colombo-Plans in ihrer Langfristigkeit zu kurz kommen lässt, sowie Daniel Oakman und David Lowe, Australia and the Colombo Plan, 1949–1957, Canberra 2004. Eine zeitgenössische Interpretation der Grundlagen sowie des Verlaufs der Verhandlungen findet sich bei Charles S. Blackton, The Colombo Plan, in: Far Eastern Survey 20 (1951), Nr. 3, S. 27–31. Zum Wandel der amerikanischen Universitätslandschaft im Kalten Krieg sei auf Rebecca S. Lowen, Creating the Cold War University. The Transformation of Stanford, Berkeley 1997, hingewiesen, für den dort als „Amerikanisierung“ beschriebenen Prozess der Internationalisierung der australischen Universität auf Sally Ninham, A Cohort of Pioneers. Australian Postgraduate Students and American Postgraduate Degrees, 1949–1964, Ballan 2011, sowie Sally Ninham, Australian Postgraduates in the United States, 1949–64, in: Journal of Australian Studies 34 (2010), Nr. 2, S. 209–224. Zur Frage des imperialen Wandels in Australien liegen unzählige Veröffentlichungen vor, hier sei überblicksweise auf Deryk M. Schreuder und Stuart Ward, Epilogue. After Empire, in: Australia’s Empire, hg. von Deryk M. Schreuder und Stuart Ward (Oxford History of the British Empire), Oxford 2009, S. 390–402 verwiesen, im Kontext des Colombo-Planes zur Transformation imperialer Ordnungen auch auf den aktuellen Sammelband The Transformation of the International Order of Asia. Decolonization, the Cold War, and the Colombo Plan, hg. von Shigeru Akita und Gerold Krozewski, New York 2015. Zum Problem der Asienorientierung in Australien bei gleichzeitiger Beibehaltung der „White Australia Policy“ siehe vor allem Lyndon Megarrity, Regional Goodwill, Sensibly Priced. Commonwealth Policies towards Colombo Plan Scholars and Private Overseas Students, 1945–72, in: Australian Historical Studies 38 (2007), S. 88–105. Zu Begrifflichkeiten der hegemonialen Erschließung und imperialer Räume sowie der Peripherie sei auf Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Reinbek bei Hamburg 2007 verwiesen. Die vorliegende Arbeit beruht auf meiner im Druck befindlichen Dissertation zu Dynamiken imperialer Prozesse in Südasien im Rahmen des Colombo-Planes. Mein Dank gilt der Gerda-Henkel-Stiftung, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst DAAD, dem Deutschen Historischen Institut Washington sowie den National Archives of Australia für die Ermöglichung der notwendigen Archivaufenthalte sowie meinen Interviewpartnern für ihre Gesprächsbereitschaft (die Interviews wurden per Email geführt, teilweise auch unter Hinzunahme Dritter, z. B. Verwandte, Sekretariate). Der Colombo-Plan war nur einer unter verschiedenen Repräsentationen dieser strategischen Neuausrichtung auf andere Mittel der Einflussnahme insbesondere in kulturell-akademischen Milieus, so auch unter anderem der Kongress für Kulturelle Freiheit oder auch die „Schools for the Americas“ in Südamerika.
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wie den USA7 als Ort der zukünftigen Auseinandersetzungen zwischen beiden konkurrierenden Gesellschaftsordnungen gesehen wurde.8 Großbritannien sah in der ökonomischen Kooperation des Planes eine Möglichkeit, sein unter Druck geratenes Empire zu erneuern, benötigte dafür aber aufgrund der massiven eigenen wirtschaftlichen Schwäche amerikanisches Geld.9 Für die USA ging es in der Folge darum, die fragil gewordenen britischen und in Grenzen auch niederländischen und französischen Imperialherrschaften im Sinne einer antikommunistischen, westlichen Politik zu stabilisieren, ohne dabei selbst als koloniale Macht wahrgenommen zu werden.10 Australien suchte im Bildungsprogramm seine eigenen sicherheitspolitischen Bedenken nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine im Gegenzug für ein australisches Engagement durch die USA zu leistende Beistandsverpflichtung zu lindern.11 Die Länder Süd- und Südostasiens bemühten sich dagegen um dringend benötigte Gelder, um die sozial prekär gewordene Lage nach dem Zweiten Weltkrieg zu stabilisieren.12 Der Begriff des imperialen Wandels bezeichnet dabei hier einen Transformationsprozess an der Peripherie zweier Imperien – sowohl des sich in der Krise befindenden britischen Empires als auch des aufsteigenden „American Empire“. Für die australischen Universitäten bedeutete dies einen fundamentalen Wandel ihrer Aufgaben. Anders als in den USA fand diese Veränderung aufgrund des Kalten Krieges aber weniger im Rahmen konkreter Wissensproduktion im akademischen Kontext (zum Beispiel der Atombombe) statt,13 als vielmehr mittels der Universität als institutionellem Raum der Begegnung und des persönlichen Kennenlernens. Insbesondere in zweiter Hinsicht suchte man am vorliegenden Beispiel 7
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Insbesondere ist hier auf eine immer wieder in der amerikanischen Außenpolitik referenzierte (siehe auch die australische Zeitschrift des Kongresses für Kulturelle Freiheit (The Quadrant, CCF, Ausgaben 1952–54 in National Library of Australia, Collection of Oral History, Canberra, ACT, Australien (hiernach NLA) 79554) angebliche Aussage Stalins zu verweisen, dem dort nachgesagt wurde, dass der Weg zur Weltrevolution entweder über Europa oder über Asien führe. Besonders hervorgehoben wurde dabei, dass insbesondere koloniale und spätkoloniale Gebiete ideale Vorbedingungen für den Kommunismus böten (siehe National Security Council (hiernach NSC) 48–5, Annex 2, 17. Mai 1951, Fredrick Aandahl, Foreign Relations of the United States 1951 VI, Washington 1977, S. 42). Geoffrey Warner, The Geopolitics and the Cold War, in: The Oxford Handbook of the Cold War, hg. von Richard H. Immerman und Petra Goedde (Oxford Handbooks), Oxford 2013, S. 67–85, hier: S. 68. NA: DO35/2724. National Archives and Records Administration, Washington DC, Vereinigte Staaten von Amerika (hiernach NARA), 59 250/41/11/5, Box 5523; Oakman, Facing Asia (Anm. 5), S. 48–88. Richard G. Casey und Theodore Millar, Australian Foreign Minister. The Diaries of R. G. Casey, 1951–60, London 1972, S. 49. Prasenjit Duara, Introduction. The Decolonialization of Africa and Asia in the Twentieth Century, in: Decolonization, hg. von Prasenjit Duara (Rewriting Histories), London/New York 2004, S. 1–18, hier: S. 15, für Indonesien siehe Andrew Roadnight, United States Policy Towards Indonesia in the Truman and Eisenhower Years, New York 2002, S. 1–55. John Krige, Die Führungsrolle der USA und die transnationale Koproduktion von Wissen, in: Macht und Geist im Kalten Krieg, hg. von Bernd Greiner, Hamburg 2011, S. 68–86. Zur Frage der Rolle der australischen Hochschulen in der Atombombenforschung siehe Wayne Reynolds, Australia’s Bid for the Atomic Bomb, Melbourne 2000, S. 55–81.
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der Stipendien innerhalb des Colombo-Plans in den Anfangsjahren der Ost-WestAuseinandersetzung von den USA aus in einem aufwändigen Programm australische Universitäten zur Drehscheibe amerikanischer Imperialpolitik in Südostasien zu machen. Somit sollte einer befürchteten sowjetischen Expansion bei gleichzeitigem Verblassen imperialer Stärke durch Großbritannien antizipierend entgegengetreten werden.14 Die Dynamiken amerikanischer Außenpolitik lassen sich dabei insbesondere an diesem Übergang „zwischen Empire und Empire“15 , also der Transformation von britischem zu amerikanischem Einflussgebiet an der Rolle von Universität und Wissenschaft als tragenden Säulen einer regionalen, transnationalen Strategie festmachen. Bei dieser Entwicklung, einhergehend mit einer sehr deutlichen Aufwertung der Universität, handelt es sich um das Ergebnis einer neuen Geopolitik des Kalten Krieges.16 Im Folgenden wird der Untersuchungsgegenstand von zwei Seiten her beleuchtet. Zunächst soll das außenpolitische Konzept des akademischen „Spiels über die Bande“ in seiner Struktur erfasst werden, ehe dann auf die konkrete Implementierung dieser Politik und damit verbundene Probleme an den Universitäten vor Ort eingegangen wird. Hierbei stehen Fragen der Zielkonkurrenz und der Selbstverortung der Universität im Zentrum. Abschließend wird nochmals perspektivisch auf Fragen der Imperialpolitik über die Universität eingegangen. Aus Sicht der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte erscheint dabei neben den Veränderungen für die Universität durch ein solches Projekt auch der Plattformcharakter der akademischen Institution durch die implizit angestrebte, transnationale Netzwerkstabilität akademischer Kooperation über den eigentlichen Kernbereich wissenschaftlichen Arbeitens hinaus von Interesse. In Abgrenzung zum Beispiel zu den gut erforschten Wissenschaftsnetzwerken des 19. Jahrhunderts, die sich unter anderem mit Botanikernetzwerken in der aktiven Forschung und der Diffusion von Wissen innerhalb solcher Strukturen beschäftigen,17 ging es bei der geopolitischen Strategie des Colombo-Plans um die Universität als konkreten Ort, wo die Begegnung von Individuen in Lebensabschnitten der Persönlichkeitsbildung und unter flachen Hierarchien zur Netzwerkbildung in einer politisch „sicheren“ Region führen sollte.18 Davon ausgehend hoffte man auf 14
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Sowohl Großbritannien wie die USA identifizierten in Strategieanalysen Asien als zukünftiges Expansionsfeld der Sowjetunion (Warner, The Geopolitics and the Cold War (Anm. 8), S. 68). Dabei ist die amerikanische Beteiligung am Colombo-Plan wohl maßgeblich mit Blick auf die Entwicklung in China und den (aus amerikanischer Sicht unerwünschten) geopolitischen Konsequenzen einer sehr offensichtlichen Unterstützungspolitik in Asien zu sehen (Nicholas Tarling, The United Kingdom and the Origins of the Colombo Plan, in: The Journal of Commonwealth and Comparative Politics 24 (1986), Nr. 1, S. 3–34, hier: S. 5). Vergleiche hierzu auch NARA, 250/46/04/05, Box 5. James Curran und Stuart Ward, The Unknown Nation. Australia After Empire, Carlton 2010, eigene Übersetzung. Im Folgenden ist mit „Empire“ die britische Vorherrschaft in formeller und informeller Machtausübung („British World System“, siehe John Darwin, The Empire Project. The Rise and Fall of the British World-System, 1830–1970, Cambridge/New York 2009, S. XI) in seiner Ausprägung bis in die 1960er Jahre gemeint. Warner, The Geopolitics and the Cold War (Anm. 8), S. 67–85. Siehe Regina Dauser, Wissen im Netz (Colloquia Augustana 24), Berlin 2008. Siehe hierzu im Vergleich innerwissenschaftliche Netzwerke, die langfristig in Form von Korrespondenzen Erkenntnisse transportierten, Christophe Charle, Jürgen Schriewer und Peter
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die extraakademische Wirksamkeit der intraakademisch geschlossenen Netzwerke von Individuen ähnlicher Ausbildung im Nachgang. Diese sollten in einer Art „informeller Bürokratie“ von Multiplikatoren die Sicherung des imperialen Raumes etablieren. Eine solche Politik zielte notwendigerweise auf außeruniversitäre Ergebnisse ab, die sich der Universität in ihrer spezifischen Zusammensetzung und Verortung im Lebenslauf bedienten. Hierfür griffen die geopolitischen Ambitionen einer Erschließung des Raumes auf die besonderen und einmaligen Eigenschaften der Universität zurück. Eine im Vergleich zu anderen Berufsgruppen erhöhte Mobilitätsbereitschaft und Disposition zu transnationalen Lebensläufen ihrer Mitglieder, die Vorselektion durch Hochschulzulassungsvoraussetzungen und Studieneingangstests sowie der hohe Grad von Verbundenheit der Alumni und nicht zuletzt die angloamerikanische Society- bzw. Club-Kultur machte neben der unmittelbaren Wissensvermittlung die Universität als „Katalysator“ prospektiver Eliten attraktiv.19 Andere Eigenschaften der Institution machten dagegen eine erfolgreiche Implementierung der imperialen Strategie an der Peripherie über die Universität problematisch: Einerseits bestanden hinsichtlich der akademischen Infrastruktur und der gesellschaftlichen Verortung der jeweiligen Institutionen in London, Washington und Canberra ganz verschiedene Vorstellungen. Darüber hinaus zeigte sich auch die Universität mit ihren Unabhängigkeitstraditionen und ihrer Funktion als Selektionsinstitution aus Sicht der Politiker als nicht unproblematischer Ort der Umsetzung.
DIE GRUNDLAGEN DES COLOMBO-PLANS – VON DER BEGEGNUNG VON AUSSENPOLITIK UND UNIVERSITÄT Die US-amerikanische Version des Studienförderprogrammes des Colombo-Planes basierte auf einem Memorandum, welches die Idee der Universität als eine Art „liberale Multiplikatorenschule“ zunächst als amerikanisches Konzept in den Blick fasste. Diese hier vorgenommene Komplexitätsreduktion des Konzeptes „Universität“ auf eine Art höhere Schule sollte sich später zu einem der entscheidenden Probleme in der Durchführung des Programmes entwickeln. Durch eine – anfangs noch als tatsächlich eine physische Einrichtung gedachte – Universität Südasiens sollte ein intellektuelles Bollwerk gegen kommunistische Machtbestrebungen errichtet werden, welches angesichts der extremen Kosten für die Besatzung im Zweiten Weltkrieg auch einen Kostenvorteil bieten sollte: The thought occurs to me that the cost of establishing and maintaining such an institution [the University of South-Asia], including all of its physical properties, would cost the U. S. far less than the cost of fully equipping and maintaining one division of its soldiers. Thus, we could establish an organization which would serve as a magnet for the youth of the area and would have the equivalent of a division of men and women (10,000–12,000) continually in training as
Wagner, Transnational Intellectual Networks, Frankfurt/New York 2004; Dauser, Wissen im Netz (Anm. 17). 19 Siehe auch Qiongqiong Chen und Jill Koyama, Reconceptualising Diasporic Intellectual Networks. Mobile Scholars in Transnational Space, in: Globalisation, Societies and Education 11 (2013), Nr. 1, S. 23–38.
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Christoph Ellßel intellectual soldiers for freedom and democracy with their influence extending through many generations.20
Vorbedingung für diesen neuen Ansatz der Erschließung war die Annahme, dass über das deklarative Wissen hinaus die sogenannten „formative years“ von Bedeutung für das spätere Weltbild und daraus hervorgehende Entscheidungen seien und die gemeinsame Weiterbildung von potentiellen Führungskräften in Jahren der Formbarkeit ein Mittel zur Erreichung dieses Zieles sei. Aufgrund der Vorbehalte gegenüber eigenem imperialen Handeln (was die Gründung einer eigenen Universität fraglos gewesen wäre), nahm man im State Department daher den „Umweg“ des ColomboPlanes und richtete daher den Fokus auf die Universitäten Australiens als Träger einer solchen Strategie.21 Der als Vehikel ausgemachte „Colombo Plan for Cooperative Economic and Social Development in Asia and the Pacific“ (vormals „Commonwealth Plan for Cooperative Development“22 ) umfasste dabei in bilateralen Hilfen einzelner Geberund Empfängerländer neben den hier untersuchten Stipendien für Studierende aus ganz Südostasien an Universitäten in Kanada, Australien und (mit Einschränkungen) Indien23 vor allem auch Sachlieferungen (zum Beispiel Düngemittel, Eisenbahninfrastruktur) und einen institutionalisierten Expertenaustausch von Berufstätigen vornehmlich im Bereich des Berg-, Hoch- und Tiefbaus sowie der Agrarwirtschaft. Die Untersuchung fasst aus diesem breiten Feld lediglich das vergleichsweise kleine Programm zur Studienförderung in den Blick, das abseits der ökonomischen Überlegungen des übrigen Vertrages eine dezidiert politische Agenda hatte. Aus diesem politischen Fokus auf prospektive „Change Agents“ ergibt sich auch die Fächerzusammensetzung der Geförderten. Nicht zufällig waren die 1950–1958 am häufigsten geförderte Studiengänge unter den Stipendiaten die der Public Administration (11,7 Prozent) sowie der Education (11,6 Prozent).24 Gemeinsam war beiden Fächern die Perspektive, damit entscheidende Multiplikatoren und Führungsfiguren einer idealisierten öffentlichen Verwaltung auszubilden und damit im Rahmen einer transnationalen Ausbildung lokal verwurzelte Eliten mit einer Zugehörigkeit zum Westen für die Region zu schaffen. Dies ist auch als Gegenpol zum britischen „Imperialverwaltungsmodell“25 zu sehen, dem gegenüber diese Administrationen informell
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NARA, 59 250/41/11/6, Box 5525; Hervorhebung durch den Autor. NARA, 59 250/41/11/6, Box 5524. Der Verzicht auf die Denomination „Commonwealth“ sollte es den USA leichter machen, dem Plan beizutreten. 23 Rein formal konnte auch an anderen Universitäten aller Teilnehmerländer studiert werden, jedoch blieb die Anzahl von Studierenden die nach Südostasien gingen, sehr überschaubar. Diese Maßnahme sollte (post-)kolonialen Vorbehalten entgegentreten, kam dabei jedoch über den gewünschten symbolischen Anteil nicht hinaus. National Archives of Australia, Canberra, ACT, Australien (hiernach NAA), A694, B824 Part 3. 24 Zahlen für die Australian National University, Canberra 1951–1958, eigene Berechnung nach NAA, A816, 11/301/720 und Archives of the Australian National University, Canberra, ACT, Australien (hiernach ANUA), 53, Box 830. Die Daten sind aufgrund der nur fragmentarisch erhaltenen Dokumente nur Annäherungen. 25 Darwin, The Empire Project (Anm. 15), S. 66.
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transnational verschränkt waren.26 Ausgeblendet wurden für diese Überlegungen hierbei die weit verbreitete fragile Staatlichkeit in vielen der Entsendestaaten, in denen eine funktionierende Bürokratie nur rudimentär vorhanden war, sowie die nur fragmentarisch mögliche Kontrollfunktionen einer derart informellen Strategie. Das Studienprogramm des Colombo-Planes war in seiner transnationalen Anlage, der infrastrukturellen Anordnung und dem Grad der Institutionalisierung und vor allem dank der zugrundliegenden Idee der geopolitischen Erschließung über die Universität eine tragende Säule der dem gesamten Vertragswerk zu eigenen Politikambitionen. Der Anspruch war immerhin – wie es der australische Außenminister und Verhandlungsführer Percy Spender ausdrückte – „to educate the youth of Asia“27 . Dass dabei Asien in dieser Lesart vornehmlich auf den südlichen und (noch) nicht-kommunistischen Teil beschränkt war und mit Jugend vornehmlich prospektive Eliten gemeint waren, spiegelte die tatsächliche geopolitische Ausrichtung wider. Unterstrichen wurde dies durch die Ausgestaltung des Stipendiums. Die vereinbarte Förderung umfasste dabei relativ großzügige Lebenshaltungskosten sowie Flugoder Schiffspassage nach und von Australien28 , verbunden allerdings mit vergleichsweisen harten Auflagen, deren Kernelement darin bestand, unmittelbar nach dem Studium zurückzukehren und dann im jeweiligen Heimatland für mindestens fünf Jahre eine Beschäftigung aufzunehmen, häufig auch verpflichtend zunächst im Staatsdienst.29 Für die USA bestand allerdings in der Konstruktion eines Studienaufenthalts in Australien (anstatt der USA) im Rahmen des Colombo-Plans der entscheidende Vorteil nicht (nur) in den vergleichbar günstigen Lebenshaltungskosten, einer gar vermuteten akademischen Exzellenz oder der kürzeren Flugdistanz.30 Vielmehr fand das Studium in Australien einerseits geographisch nahe, in einem zweifelsfrei westlichen Umfeld, aber andererseits – ideologisch gerade angesichts der Vorbehalte in der Region von Bedeutung – im mit Symbolik geradezu überfrachteten Kalten Krieg eben nicht in den USA selbst statt: In this regard however, the Colombo Plan [with Australia] is generally better regarded by Indonesians than United States aid which suffers in the popular mind from its earlier link with the American security programme, from ungenerous suspicions of American foreign policy as a whole, and from what is regarded as an inconsistency between United States foreign aid policy and alleged attempts to keep down the prices of raw materials (e. g. rubber), on which the Republic’s export trade depends.31
Für diese Überlegungen war die Universität als abstraktes Konzept essentieller Bestandteil einer neuen Außenpolitik zur Erschließung Süd(ost)asiens. Die Universität sollte als tolerante, rationale und neutrale Institution dargestellt werden und
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NAA, A816, 11/301/720. Richard G. Casey, Australia’s Role in the Colombo Plan, in: France-Asia 12 (1953), S. 14–21, hier: S. 16. Bzw. die anderen Geberländer, hier soll aber Australien im Zentrum der Untersuchung stehen. Interview mit Datuk Taib Mahmud, in Geoffrey Sauer, The Colombo Plan for Cooperative Economic Development in South and Southeast Asia 1951–2001, Adelaide 2001, S. 27. Siehe auch NSC 48/5 (17. 5. 1951), Attachment I, „Strengthening of Southeast Asia“, NARA, 273 250/7/27/1. NAA, A816, 11/301/720.
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es dadurch erst ermöglichen, eine solche Außenpolitik der Westerschließung und -bindung durchzuführen. Neben der tatsächlichen Eignung als Infrastruktur ging es aber auch um die Außenwirkung. Eine Plattform für eine solche Netzwerkbildung musste selbst nach außen den Eindruck erwecken, nicht Bestandteil einer politischen Lagerbildung des Westens oder des Ostens zu sein. Als Voraussetzung hierfür durfte aber die Universität auch kein Mitspracherecht in der Ausgestaltung des Rahmens der wissenschaftlichen Netzwerkbildung haben. Sie wurde als neutrale Infrastruktur mit einem als „universal“ wahrgenommenen Bildungsauftrag benötigt, nicht als eigenständiger Akteur mit Gestaltungsrecht. So rückte die Universität in das Zentrum einer Imperialpolitik in der Peripherie.
DIE UNIVERSALIE UNIVERSITÄT? Dabei war in Australien universitäre Ausbildung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine gesellschaftliche Randerscheinung und die (ausschließlich männlichen) Professoren nahezu durchwegs zumindest in Teilabschnitten ihrer Qualifikationsstufen in „Oxbridge“, also an den britischen Eliteuniversitäten, ausgebildet; selbst der Campus der Universität in Sydney befand sich vergleichsweise abgelegen außerhalb des Stadtzentrums.32 Und auch, wenn die Vorkriegs-Universitäten Australiens in das Netzwerk der Empire-Universitäten eingebunden waren und die „Congresses of the Universities of the British Empire“ für eine beständige Rückkopplung und ideelle Verwurzelung im Empire sorgten, war Australien einerseits nahezu größtmöglich weit entfernt und andererseits nur wenig akademisch geprägt.33 So zählte die Universität Sydney als älteste des Kontinents noch 1943 lediglich gut 3 000 Studierende, damit ungefähr so viele wie bereits vierzig Jahre vorher, 1903.34 Diese geringe Zahl ist auch der Kriegssituation geschuldet, weil viele Soldaten ihr Studium verschoben; dennoch lässt sich die nach wie vor geringe Größe australischer Universitäten deutlich erkennen. Dennoch, auch wenn der unmittelbare Einfluss Londons überschaubar blieb, so war fraglos die Kontextualisierung im Empire konstitutiv für die Vorstellung von Universität in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Mit den anderen Universitäten im Empire verband sie dabei auch die auf die Reformdebatten in Großbritannien (und in Teilen in den USA) zurückgehende Festlegung auf drei grundlegende Prinzipien: – Öffentliche Universitäten sind frei von religiösem oder konfessionellem Einfluss
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University of Sydney Archives, Sydney, NSW, Australien (hiernach USyd), 2/1943–12/24 sowie Report of the Australian Commission on Australian Universities 1958–63, in: NAA, A1203, 379/16/AUS. Tamson Pietsch, Out of Empire. The Universities’ Bureau and the Congresses of the Universities of the British Empire, 1913–36, in: Universities for a New World, hg. von Deryk M. Schreuder, London 2013, S. 90–109. USyd, 25943–12.
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– Der Zugang wird allein durch akademische Leistungen und öffentliche Prüfungen ermöglicht (im Gegensatz zu familiären Traditionszugängen) – Die Universitäten sind Bestandteil einer selbstbewussten Kolonialgesellschaft und werden sowohl öffentlich wie auch privat gefördert.35 Diese idealtypischen Eigenschaften der australischen Universitäten nach britischem Vorbild machten sie zu einer idealen Basis für die oben angeführten Überlegungen. Gleichzeitig stellten sie mit dem hohen Grad der Autonomie eine Außenpolitik über die Universität vor Probleme. So schlossen zum Beispiel die Zugangsvoraussetzungen eine Aufnahme nach politischen Erwägungen zumindest der Theorie nach aus. Für die Universitäten bedeutete dies, sich daher entweder an politische Anforderungen anzupassen und damit konstitutive Elemente ihrer Existenz zu verändern, oder den politischen Wünschen (mit den damit verbundenen finanziellen Möglichkeiten) zu widerstehen.36 Die australische Vorkriegsuniversität als Typ in der Peripherie des Empires war mit ihren nach britischem Vorbild gestalteten Traditionen in Melbourne, Sydney und Adelaide präsent.37 Ebenso waren die Netzwerke aus Akteuren – vornehmlich Professoren – überschaubar. Man kannte sich aus gemeinsamen Studienzeiten auf den britischen Inseln (neben Oxford und Cambridge auch London sowie mit Einschränkungen noch Edinburgh und St. Andrews) und blieb auch darüber hinaus in Kontakt. Neu berufene Professoren stammten nahezu ausschließlich aus diesem gemeinsam akademisch sozialisierten Pool.38 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu ersten, fundamentalen Veränderungen, ehe mit dem Colombo-Plan eine weitere Phase der Veränderung und Internationalisierung angestoßen wurde. Zunächst wuchs bereits 1946, als die Kriegsheimkehrer in großen Zahlen ein kriegsbedingt „verschobenes“ Studium aufnahmen, die Zahl der Studierenden an den Universitäten. Das „Commonwealth Reconstruction Training Scheme“ brachte auf Seiten sowohl der Studierenden als auch der Lehrenden große Veränderungen mit sich. Die bis dahin vergleichsweise homogene Alters- und Qualifikationsstruktur in der Studierendenschaft der Universitäten veränderte sich, die regionale Herkunft der Studierenden innerhalb Australiens wurde diverser.39 Die bestehenden Immatrikulationshürden wurden durch die Einführung 35
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Nach Geoffrey Sherington und Julia Horne, Empire, State and Public Purpose in the Founding of Universites and Colleges in the Antipodes, in: History of Education Review 39 (2010), Nr. 2, S. 36–51, hier: S. 44 sowie Julia Horne und Geoffrey Sherington, „Dominion“ Legacies. The Australian Experience, in: Schreuder, Universities for a New World (Anm. 33), S. 284–307, hier: S. 285. Für den dritten Punkt lassen sich für Australien nur wenige Zustiftungen vor 1960 finden. University of Melbourne Archives, Melbourne, VIC, Australien (hiernach UMel), 1990/0160, Gregory A 1/2. Etwas aus dem Rahmen fällt die University of Western Australia (1912 gegründet), die sich vornehmlich dem Konzept der „Rural University“ verschrieben hatten. Eine Modellierung nach dem Oxbridge-Modell lehnte sie dezidiert ab (siehe auch Horne/Sherington, „Dominion“ Legacies (Anm. 35), S. 287). Tamson Pietsch, Empire of Scholars. Universities, Networks and the British Academic World, 1850–1939, Manchester 2013, S. 83. UMel, Farrago Files, 1951/10/1.
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eines „war matriculation status“, also einer Zulassung nach Militärdienst, deutlich abgesenkt und flexibilisiert.40 Auch unter den Professoren änderte sich das Bild. Waren bis dahin nahezu alle Karrieren erfolgreicher wissenschaftlich Lehrender durch das Zentrum des Empires verlaufen, so konnte durch den hohen zeitlichen Vorlauf einer solchen Ausbildung der Bedarf aufgrund der gestiegenen Studierendenzahlen kurzfristig nicht mehr gedeckt werden. Verschärft wurde das Problem durch die Colombo-Plan-Stipendiaten ab 1951/52, die bestehende Lücken in der akademischen Lehre noch vergrößerten. Angesichts des wachsenden Drucks bestanden nach den innerakademischen Diskussionen grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Einerseits wurden die bestehenden Qualifikationsebenen gesenkt,41 andererseits wurden die bestehenden akademischen Netzwerke britischer Natur aufgebrochen und auch Master und Promotionen außerhalb des oben umrissenen Universitätskanons als gleichwertig akzeptiert.42 An letzteren Überlegungen setzte ein zum Colombo-Plan komplementärer Ansatz der Wissenschaftsförderung mit dem Ziel der transnationalen Verflechtung an: Ein „Spiel über die Bande“.
POLITIK UND UNIVERSITÄT IM WETTSTREIT? Vor dem Studium in Australien stand zunächst die Auswahl von geeigneten Kandidaten. Dieses Verfahren stand beständig im Spannungsfeld zwischen den akademischen und politischen Verständnissen des Colombo-Plans. So zeugt es zunächst von den außenpolitischen Ambitionen, in denen fachliche Qualität als nur ein nachgeordnetes Merkmal von Belang war, genauso wie es die impliziten Annahmen über die Institution Universität auf Seite der Planer offenlegt. Erst um 1958, angesichts drängender Beschwerden von Seiten der Universitäten und als die rasch wachsenden Zahlen von überforderten Studienabbrechern den Gesamterfolg des Projektes gefährdeten, wurden Fragen der Autonomie der Hochschule und der Charakteristik des australischen Hochschulstudiums überhaupt Thema.43 Die Universitäten hatten mit dem Colombo-Plan eine über die bestehende Ausbildungsfunktion hinausgehende Sozialisierungsfunktion zugewiesen bekommen. Hinsichtlich des schon angesprochenen Problems der Doppelverpflichtung der akademischen und politischen Eignung der zu fördernden Studierenden war anfangs ein starker Fokus auf die politische Verlässlichkeit festzustellen. 1953 waren in den Fragebögen der entsendenden Staaten von Seiten der unterstützenden Regierungen zunächst umfangreiche Angaben zu politischer Zuverlässigkeit und Loyalität verbunden mit der Rückkehrbereitschaft zu machen – der Fragebogenteil zur akademischen Eignung fiel demgegenüber mit zwei Fragen denkbar kurz aus. Die Verschränkung politischer und akademischer Ausrichtung des Programms machte das Verfahren zur Förderung vergleichsweise kompliziert, da es auf administrativer Ebene ausschließlich durch die Auslandsvertretungen Australiens betrieben wurde, für die eine 40 41 42 43
Horne/Sherington, „Dominion“ Legacies (Anm. 35), S. 293. UMel, PB Minute Files 26, Roll 1. UMel, Council Minute Files 31, Roll 1. NAA, A1838, 250/9/8/4, Part 3.
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Zusammenarbeit mit den Universitäten und deren Strukturen Neuland war – nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass ein eigenes australisches Außenministerium in Canberra erst 1942 gegründet worden war.44 Um die Komplexität des Verfahrens zu verdeutlichen, soll hier exemplarisch für Indochina der Ablauf 1953 dargestellt werden. Das Entsendeland (hier: Australien) schrieb mehrere Stipendien an Schulen bzw. Universitäten aus45 , die prospektive Kandidaten ansprechen sollten, welche sich mit Zeugnissen, Empfehlungsschreiben und Lebenslauf in einem Vorstellungsgespräch vorstellen sollten. Die aus dem Bewerberfeld ausgewählten Kandidaten wurden dann – über das Colombo-Plan-Büro in Ceylon (heute Sri Lanka) – dem australischen Außenministerium für eine Förderung vorgeschlagen. Nach Annahme durch letzteres entschieden sich die Geförderten für eine lokale Universität, mussten die dortigen Zulassungsvoraussetzungen für eine Einschreibung erfüllen und eine Stipendienvereinbarung unterzeichnen.46 Erst dann konnte das Studium aufgenommen werden. Der zeitliche Vorlauf für dieses Verfahren betrug gerade in der Anfangszeit bis zu eineinhalb Jahre, was den Dynamiken sowohl von Bildungslebensläufen sowie den allgemeinen politischen Entwicklungen in der Region nicht gerecht werden konnte.47 Es überrascht daher nicht, dass aus Gründen der Vereinfachung des umfangreichen Prüfprozesses der Auslandsvertretungen nach den ersten Jahren zunehmend Kinder der bestehenden Verwaltungseliten als Stipendiaten vorgeschlagen wurden – vielmehr erstaunt es, dass tatsächlich in der Anfangszeit die Förderung sehr breit gestreut wurde.48 In diesem Kontext bleibt bedauerlicherweise der soziale Hintergrund vieler der Studierenden im Colombo-Plan ungeklärt, da die erhaltenen Bewerbungsbögen und deren Bearbeitungsunterlagen zunächst lediglich fragmentarisch und ausschließlich von erfolgreichen Bewerbungen vorliegen. Dennoch fällt auf, dass nach den ersten Verfahren eine Vielzahl der Stipendiaten aus den Städten des Regierungssitzes des Entsendelandes stammten. Einerseits erscheint dies naheliegend, da das – auf Druck Australiens relativ hoch gewichtete – Kriterium der politische Zuverlässigkeit (und damit des Antikommunismus)49 so relativ leicht im Rahmen des persönlichen Auswahlgesprächs in der Auslandsvertretung geprüft werden konnte. Andererseits wurden die doppelte Rolle der Universität und damit verbundenen Zielkonflikte auch hier wiederum deutlich. Begünstigt durch die von den Außenministerien getragenen Auswahlprozesse trat die akademische Eignung der prospektiven Studierenden in den Hintergrund. Noch deutlicher wird diese Problematik, die in der konzeptionellen Ausblendung der Universität als Selektions-, Prüfungs- und Zertifizierungsort 44 45 46 47 48 49
NAA, A4529, 65/1/4/1952–1955. Hier insbesondere der Abschnitt zur Entwicklung der Selektionskritierien. Zur Geschichte des Außenministeriums siehe NLA, ORAL, TRC, 2981/6. Leider erschließt sich weder aus Archivbeständen noch aus Berichten ehemaliger Studierender der genaue Ablauf und Umfang der Ausschreibungen. Nach NAA, A4529, 65/1/4/1952–1955. NAA, A4529, 65/1/2/1955, Part 1. NAA, A694, B824, Part 1. Australien verbot bereits 1940 die kommunistische Partei CPA, die bis dahin vergleichsweise stark war. Eine breite Furcht vor einem Wiederaufflammen der kommunistischen Bewegung durch ausländische „Provokateure“ war dabei in Kreisen der Administration weit verbreitet, siehe auch Casey/Millar, Australian Foreign Minister (Anm. 11), S. 83–90.
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begründet liegt, schließlich anhand der Auswahlpraxis an den Universitäten, die im Bewerbungsprozess wiederum gerade in der Anfangszeit nicht zu streng bei der Bewertung der akademischen Eignung sein wollten, um den politischen Zielen im globalen Ost-West-Konflikt nicht zu sehr im Wege zu stehen. Das aufgrund der fehlenden Vergleichbarkeit von Abschlusszeugnissen eingeführte Einstufungsgespräch mit einem Hochschullehrer legte dabei die Problematik einer Auswahl anhand extra-akademischer Kriterien offen: [The candidate’s knowledge] is somewhat below the entry requirements of Australian Universities. [. . .] As the first Colombo Plan scholarship candidate from the Associated States [of Indochina] I think there is an impatience at[t]ached to this application as a test of Australia’s goodwill.50
Die in diesem Bericht eines solchen Auswahlgespräches gezeigte Priorisierung außenpolitischer Erwägungen vor schulischen Leistungen als Zugangskriterium steht dabei in Widerspruch zu den Universitätsvorstellungen der Vorkriegszeit. Die Selbsteinordnung der Universität in der globalen Ost-West-Auseinandersetzung führte dazu, dass zunächst die politischen Argumente stärker wogen. Die im Stipendienprogramm des Colombo-Planes indirekt mit vorgesehene funktionale Reduktion der Universität auf einen Ort der persönlichen Begegnung bei schulähnlichen Ausbildungsvorgaben wurde daher von den Universitäten – zumindest in den Anfangsjahren – im Rahmen einer Selbstausrichtung im globalen Ost-West-Konflikt auch umgesetzt.51 In der Sache erscheint dies in Abgrenzung zu den bereits erwähnten innerakademischen Netzwerken der Wissenschaft durchaus zielführend – da das akademische Netzwerk außeruniversitäre Folgen haben sollte, war die akademische Qualifikation in der Zulassung zum Beitritt nicht mehr das primäre Entscheidungskriterium und auch für die Universität funktional zunächst kein Problem. Sie wurde ja nicht als Zertifizierungsinstitution gesehen.52 In Konsequenz dieser Auffassung blieben folgerichtig im Übrigen auch sämtliche schriftlichen Anfragen der Universitäten mit Vorschlägen zur verbesserten Umsetzung an das Außenministerium53 als nationaler Träger des Colombo-Plans bis 1958 in den ersten Jahren des Programms unbeantwortet, soweit die Quellen diesen Schluss zulassen. Erst als die Konsequenzen der Vernachlässigung akademischer Eingangsvoraussetzungen sich in erhöhten Prüfungsfehlschlägen oder deutlich steigenden Studienabbrüchen äußerten, wurden ab 1957/58 auf politischer Ebene die Nachteile einer zu sehr von außenpolitischen Erwägungen dominierten Zulassungspolitik erkennbar. Daneben rückte gleichzeitig auch die Frage nach den strukturellen
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NAA, A4529, 65/1/4/1952–1955. Finanziell waren Colombo-Stipendiaten zunächst für die Universitäten im Übrigen nicht attraktiver als inländische Studierende – erst später erhielten die Universitäten auch hier Auslandszuschläge. 52 Natürlich ist sie nicht vollkommen unerheblich, dennoch rückt die bis dahin vorhandene ausschließliche Fokussierung auf die akademische Eignung zumindest in den Hintergrund. 53 Bis ca. 1960 war das Außenministerium für die Umsetzung des Colombo-Planes zuständig, anschließend das „Prime Minister’s Department“, ehe diese Verantwortung 1966 an das neu geschaffene „Department of Education“ überging, siehe NAA, A1361, 1/4/13.
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und inhaltlichen Unterschieden zwischen amerikanischen und australischen Universitäten und die Rolle der Universität in das Blickfeld und den mit der impliziten Gleichsetzung einhergegangenen Problemen. Die im Vergleich zu den amerikanischen Colleges weniger ausgeprägte schulähnliche Struktur erwies sich als ein Hindernis für die angestrebte Sozialisierungsfunktion im westlichen Kontext.
DAS „SPIEL ÜBER DIE BANDE“ – DIE USA, AUSTRALIEN UND SÜDOSTASIEN Die Studienaufenthalte und akademischen Stipendien in Australien waren nur eine Seite des Versuchs, Südasien zu sichern. Ohne Bestandteil des Colombo-Plans zu sein, wurde das Stipendien-Programm zeitgleich durch mehrere umfangreiche, sowohl privat wie staatlich finanzierte Förderprogramme für australische Graduierte ergänzt, die sich – relativ unkompliziert – erstmals statt wie bisher für eines der Auslandsstudienjahre in Großbritannien nun in vergleichsweise großen Zahlen für geförderte Postgraduiertenstudiengänge (MA bzw. Doktorate) an amerikanische Universitäten bewerben konnten.54 Nach der Rückkehr arbeiteten die Geförderten häufig als Tutoren und „Junior Lecturers“ an australischen Universitäten, wo auf Grund der gestiegenen Studierendenzahlen viele Stellen neu geschaffen wurden, auch wenn zunächst Qualifikationen aus den USA oder anderen Ländern außerhalb des Commonwealth vor Ort mit gewisser Skepsis betrachtet wurden.55 Wie Sally Ninham gezeigt hat, war das Phänomen gerade in der Anfangszeit für die australischen Universitäten geradezu exotisch.56 Diese zurückgekehrten Akademiker veränderten das Gesicht der Hochschulen, weil sie einerseits institutionell weniger stark auf britische Traditionen rekurrierten und andererseits personell neue transnationale Verbindungen in die USA mitbrachten.57 Gedacht war, dass sie dabei als Lehrende in den Folgejahren auch in großer Zahl Colombo-Plan-Studierende unterrichten sollten und somit akademische Bildung amerikanischer Lesart formell und informell „über die Bande“ Australien nach Südostasien bringen sollten. So wurde das anfänglich beschriebene Konzept einer einzigen, großen, von den USA betriebenen „University of East Asia“ durch eine Vielzahl von bereits bestehenden Universitäten in Australien mit jeweils nur einem gewissen Anteil asiatischer Studierender ersetzt.58 Der amerikanisch-australische Wissenschaftleraustausch wurde – bevor andere Programme hinzukamen – zunächst hauptsächlich durch das Australian-American
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Für eine umfangreiche Darstellung zu den sozialen und wissenschaftlichen Konsequenzen dieser Förderung durch Fulbright- und Ford-Foundation-Programme siehe Ninham, Australian Postgraduates in the United States (Anm. 5). Tamson Pietsch, Empire of Scholars (Anm. 38), S. 172. Ninham, A Cohort of Pioneers (Anm. 5), S. 56–69. Ebd., S. 122. Die Dezentralisierung der „University of East Asia“ war dabei ein besonders positiv wahrgenommener Aspekt dieses Modells, glaubte man doch, sich somit leichter gegen sowjetische Kritik zur Wehr setzen zu können.
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Fulbright Committee ermöglicht. Dieses wurde bereits im November 1949 durch Vertragsschluss gegründet und sollte erstmals institutionalisiert sowohl Gastaufenthalte amerikanischer Wissenschaftler in Australien als auch Studienaufenthalte in den USA fördern sowie die langfristigen Chancen und Möglichkeiten amerikanischen Bildungsengagements prüfen. Die wohl deutlichste personelle Verknüpfung zwischen beiden Förderprogrammen lag in der Person Percy Spenders – er war sowohl Mitglied und zeitweilig Vorsitzender der Australian Branch of the United States Educational Foundation als auch verhandlungsführender Außenminister des Colombo-Plans und späterer australischer Botschafter in Washington.59 Wie sich jedoch bald herausstellte, gingen all diese Überlegungen einer Imperialpolitik über die Universität in verschiedenerlei Hinsicht von fundamentalen Fehlannahmen über die infrastrukturellen Gegebenheiten australischer Universitäten, von realitätsfern geplanten Aufwuchsraten, Unverständnis gegenüber eigenen Zielen der Stipendiaten sowie dem zeitlichen Rahmen eines solchen Förderprogrammes aus. Exemplarisch soll daher an einigen Beispielen gezeigt werden, wie sich der Colombo-Plan in der Umsetzung darstellte, und auf welche Schwierigkeiten der „Soft Power“-Ansatz einer solchen neuen regionalisierten Geopolitik stieß.
RESSOURCENPROBLEME – GEBÄUDE UND STIPENDIATEN Nicht nur die personellen Ressourcen der australischen Universitäten wurden durch die neuen Studierenden, deren Zahl durch Kriegsheimkehrer und asiatische Stipendiaten entscheidend anstieg, über ihre bisherigen Grenzen hinaus belastet, ebenso bedeutete das Anwachsen auch eine Überforderung der bestehenden baulichen Infrastruktur. Sowohl universitäre Verwaltungs- und Lehrgebäude wie auch campusnahe Unterkünfte – bisher üblich – waren durch das rasche Wachstum über die Maßen ausgelastet. Die Colombo-Mittel, die in der Anlage ursprünglich zweckgebunden im Sachmittelüberhang für die südostasiatischen Studierenden an die Universitäten verteilt worden waren, weckten daher auch anderweitige Begehrlichkeiten der unterfinanzierten Hochschulen. Die University of Melbourne versuchte so ab 1951 nahezu monatlich zu erreichen, dass die Mittel für den Bau eines neuen Wohnheimes verwendet werden durften, und sagte dafür im Gegenzug zu, möglichst viele Stipendiaten aufzunehmen.60 Möglich wurde diese Umwidmung aber erst dadurch, dass die angestrebten Wachstumsraten der Studierendenzahlen im Colombo-Plan – es waren zeitweilig für 1957 immerhin zeitgleich jeweils 10 000 Studierende in Australien in der Förderung geplant61 – angesichts der knapp 100 geförderten Studierenden 1952 nicht
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David Lowe, Percy Spender. Minister and Ambassador, in: Ministers, Mandarins and Diplomats. Australian Foreign Policy Making, 1941–1969, hg. von Joan Beaumont, Melbourne 2003, S. 70–103, hier: S. 81–85. 60 Siehe o. A., Critic Says Colombo Fund „Too Small“, in: The Age (22. 10. 1954), S. 6. 61 Das erste Jahr nach dem ersten Fünfjahresplan, man beachte die Ähnlichkeit zur Stärke einer Division.
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einmal ansatzweise erreicht wurden. Eine genaue Angabe der Studierenden oder gar der Bewerber insgesamt ist aufgrund der fragmentarisch erhalten gebliebenen Statistiken bedauerlicherweise nicht möglich, dennoch ergibt sich eine Tendenz. Denn für einzelne Universitäten lassen sich Zahlen zumindest in groben Zügen nachvollziehen. So lässt sich für die Australian National University in Canberra von 1950 bis einschließlich 30. Juni 1958 eine Gesamtzahl von Absolventen und (damals) aktuell eingeschriebenen Studierenden im Colombo-Plan von insgesamt etwa 2 200 Personen sowie mit Stand der Erhebung 803 im Jahr 1958 eingeschriebenen Studierenden feststellen – also weit weniger als ursprünglich geplant und offensichtlich dennoch mehr als infrastrukturell ohne größere Probleme zu bewältigen waren. An allen australischen Universitäten studierten damit 1958 insgesamt etwa 2 800–3 200 Colombo-Plan-Studierende, wobei die Zahl durch das begrenzte Archivmaterial nur eine Schätzung darstellen kann. Auch das Verhältnis der Geschlechter innerhalb der Förderung überrascht. Waren in den Anfangsjahren noch weit überwiegend männliche Studierende als Stipendiaten in Australien (um 80 Prozent), so veränderte sich das Verhältnis ab 1954 hin zu einer nahezu paritätischen Verteilung; die zusätzlichen Studierenden waren vor allem weiblich.62 Darüber hinaus erscheint die geplante Zahl der Steigerung nicht auch nur halbwegs realistisch. Die Gesamtkapazität aller australischen Universitäten dürfte um 1945 maximal 8 000 Studienplätze, um 1950 etwa 10 000 Studienplätze betragen haben63 – die politischen Ambitionen der Außenpolitiker standen im deutlichen Missverhältnis zu den realen Gegebenheiten an den Universitäten. Für das State Department liegt die Annahme nahe, dass die handelnden Akteure dabei von Vorstellungen amerikanischer Universitäten ausgingen und den Entwicklungsstand des australischen Hochschulsystems deutlich überschätzten, während die australische Seite versuchte, die systematischen Unzulänglichkeiten nicht zu thematisieren, um die erhofften sicherheitspolitischen Garantien der USA nicht zu gefährden.64 Faktisch blieb bis in die frühen 1960er Jahre hinein die Infrastruktur in der Entwicklung der Hochschullandschaft auch angesichts veränderter Auswahlverfahren ein limitierender Faktor.65 Diejenigen Studierenden, die tatsächlich vor Ort waren, konnten jedoch von einer vergleichsweise intensiven Förderung und Betreuung profitieren, die das Außenministerium eingerichtet hatte. Sowohl durch eigene Colombo-Plan-Beauftragte in Form der sogenannten „liaison officers“ an den Hochschulen wie durch die Einbettung in organisierte Strukturen aus zentralen Regierungsmitteln genossen sie im Vergleich zu ihren Kommilitonen, die sich mit den limitierten Möglichkeiten der Hochschulen zufrieden geben mussten, deutlich stärkeren Beistand.66
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Eigene Berechnungen aus ANUA, 53, Box 830 sowie NAA, A816, 11/301/720; zusammen mit der University of Adelaide stellte die Australian National University die meisten Studierenden im Colombo-Plan in Australien. Eigene Berechnung, ebd. NAA, A1838, 250/9/8/4/2, Part 4. NAA, A1203, 379/16/AUS. Siehe unten, S. 117.
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AM NETZ KNÜPFEN Im Folgenden soll – in Abgrenzung von den Ansätzen der unmittelbaren akademischen Netzwerkforschung – weniger der individuelle Erfahrung der Netzwerkbildung als vielmehr der infrastrukturellen Grundlagen nachgegangen werden, zeigt sich doch hier deutlich stärker der Versuch, die Dynamiken westlicher Außenpolitik im Sinne einer Gesamtstrategie an der Universität umzusetzen, innerhalb derer spezifische Eigenschaften der Einrichtung „Hochschule“ jedoch nahezu vollkommen ausgeblendet wurden. Dabei ist zunächst aus Perspektive imperialer Politik im Blick zu behalten, dass die Vorkriegsuniversität trotz ihrer Einbettung in das imperiale Gesamtkonzept nur ein Fragment unter vielen der britischen Erschließung und Sicherung des Raumes war. Gegenüber den Überlegungen des Colombo-Plans bestanden nicht in vergleichbarem Maße Herrschafts- und Geopolitikprojektionen. Es ging vielmehr darum, vor Ort in bereits imperial erschlossenen Räumen lokale Eliten auszubilden. Im Gegensatz hierzu war die Universitätskonzeption der Stipendiaten des Colombo-Plans eine andere: Die wohnortnahe aber nicht vor Ort stattfindende Ausbildung von zukünftigen Multiplikatoren einer liberalen, antikommunistischen Weltordnung in einem „westlichen“ Umfeld. So wurden die Studierenden an den Hochschulen nach der Anreise von eigens entsandten Verbindungsbeamten des Außenministeriums intensiv betreut. Die „liaison officers“ hatten dabei eine doppelte Rolle – einerseits dienten sie der tutoriellen Begleitung und Betreuung, andererseits fungierten sie als hochschulexterne Kontrollund Überwachungsinstanzen. Im Rahmen ersterer Tätigkeit fanden regelmäßige Veranstaltungen statt, die dem zwanglosen Kennenlernen der Teilnehmer dienen sollten, bisweilen sogar im privaten Umfeld der Verbindungsbeamten.67 Die Kosten für diese – vergleichsweise üppigen – Veranstaltungen wurden zunächst vom australischen Außenministerium, dann vom Prime Minister’s Department übernommen.68 Die USA – in deren politischen Interesse das Programm lag – beteiligten sich durch eigene Zahlungen aufgrund der bilateralen Struktur des Colombo-Planes nicht. Erklärtes Ziel all dieser Aktivitäten war die Förderung des Austauschs und das aktive Kennenlernen der Stipendiatinnen und Stipendiaten untereinander – kurzum: Die Schaffung eines der Netzwerkbildung förderlichen Klimas. Dem gegenüber standen umfangreiche Berichtpflichten der Verbindungsoffiziere. So mussten über die für die Studierenden verbindlichen monatlichen (anfangs sogar zweiwöchentlichen) Gespräche umfangreiche Reporte angefertigt und an das Außenministerium übersandt werden, wo sie ganz offensichtlich auch gelesen und in Fragen – zum Beispiel der Verlängerung der Förderung oder beim Umgang mit Fehlverhalten – herangezogen wurden.69 Die in diesen Gesprächen behandelten Themenfelder waren enorm umfangreich.70 In den erhaltenen Dokumenten findet sich vieles von
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NAA, A1838, 2045/9, Part 2. Ebd. Ebd. NAA, A1362, 1960/79, Part 1.
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privaten Familienangelegenheiten71 bis zu zukünftigem (politischen) Engagement. Auch wurden bei auffälligem Verhalten – insbesondere bei Verstoß gegen das Verbot politischer Äußerungen – unmittelbar Ermahnungen oder Sanktionen ausgesprochen. Dabei wurden für den Wiederholungsfall auch die Aberkennung des Stipendiums und eine sofortige Rückreise angedroht, in jedem Fall die Information der Regierung des jeweiligen Entsendestaates.72
SOZIALES NETZ Auch ermunterten die Verbindungsoffiziere auf Anweisung des Außenministeriums die Studierenden, eigenverantwortlich gemeinsame, mehrtägige bis zweiwöchige Ausflüge zu unternehmen, und stellten in mindestens einem Fall sogar ein aus Colombo-Plan-Mitteln gesondert erworbenes Auto hierzu bereit.73 Darüber hinaus förderte man die Gründung von studentischen Vereinigungen von Colombo-PlanStudierenden unter anderem durch die Druckkostenübernahme für die Mitgliederzeitungen sowie die Finanzierung von Buffetkosten für wöchentliche Treffen.74 Thematische Hochschulgruppen – bekannt als „societies“ und „clubs“ – spielten im australischen Universitätssystem eine essentielle Rolle für das Campusleben sowie die akademische Sozialisation. In solchen Gruppierungen unter dem Dach der Student’s Union, deren Ausrichtung ein breites Feld abdeckte, trafen sich Studierende als Gleichgesinnte zum Austausch und zu gemeinsamen Aktivitäten.75 Gruppen dieser Art bildeten sich auch bald für die Studierenden im Rahmen des Colombo-Plans, so unter anderem an der University of Adelaide, wo sich die Geförderten in einer eigenen Colombo Plan Students Society zusammenfanden. Bezeichnenderweise scheint es in diesem Kontext innerhalb der Gruppe dabei keinerlei Differenzen in Bezug auf die Herkunftsländer gegeben zu haben. Mehrfach berichteten die kleinen Gruppierungen gemeinsam über kritische Themen ihrer Heimatländer, sprachen von sich selbst in Veröffentlichungen ausschließlich als von den Colombo-Plan-Studierenden und setzten sich als solche auch gegen Vorwürfe gegenüber Einzelnen sehr geschlossen zur Wehr.76 Ebenso artikulierten sie Positionen Asiens in öffentlichen Diskussionen, in denen allerdings eine sehr generalisierte Auffassung von Asien auffällt – selbst innerhalb der heterogenen Gruppe der Colombo-Stipendiaten.77 71
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Inwiefern hier auch auf eine mögliche spätere Einflussnahme durch eventuell kompromittierendes Material oder aber zumindest Wissen um die persönlichen Hintergründe im Sinne eines „social engineering“ abgezielt werden sollte, bleibt dabei unklar – es ist lediglich festzustellen, dass das umfangreiche personale Berichtswesen mit der Übernahme der Verantwortung durch das Bildungsministerium ab 1966 nahezu vollständig abgeschafft wurde, nachdem es schon ab 1960 deutlich reduziert worden war. NAA, A1838, 2045/9, Part 2. Dabei war Auflage, dass mindestens vier Stipendiaten gemeinsam auf Reise gehen sollten (NAA, A1838, 2045/7). NAA, A1838, 2045/9, Part 2. Siehe UMel, Farrago Files 1951–1952. University of Adelaide Archives, Adelaide, SA, Australien (hiernach UAdel), 200, 1955/296, Box 1. UMel, Farrago Files 1954/7/20.
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Im Gegensatz zu den ursprünglichen Intentionen fungierte dieses Forum aber zunehmend auch als Rahmen für hochgradig kritische Diskussionen über die Absichten des Colombo-Planes selbst. In Berichten an das Außenministerium meldeten die Verbindungsbeamten immer häufiger, dass sie hinsichtlich der Frage der Stipendiatinnen und Stipendiaten, warum die vielzitierte „freie Welt“ sie zu einer Rückkehr zwinge und keine weitergehenden Visa zum Beispiel für Studienaufenthalte in den USA ermögliche, um weitergehende Argumentationshilfen bitten würden. Die individuellen Möglichkeiten der Studierenden, die sich durch ihre Teilnahme am Förderprogramm deutlich erweiterten, wurden durch den außenpolitisch bedingten, restriktiven Rahmen konterkariert, auch wenn einige Stipendiaten versuchten, mögliche Schlupflöcher zu nutzen.78 Die Aktivitäten am Hochschulort der Colombo-Studierenden variieren dabei beträchtlich. An der Universität Adelaide mit ihrer vergleichsweise großen Gruppe (es lassen sich einzelne Veranstaltungen mit über 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern nachweisen) wurden neben den regelmäßige Treffen auch öffentliche Podiumsdiskussionen und Bälle veranstaltet und mindestens zwanzig, wahrscheinlich aber sogar noch deutlich mehr Ehen gingen aus der Gruppe hervor.79 Demgegenüber ist an der University of Sydney – mit der wahrscheinlich kleinsten Gruppe aller Colombo-PlanStudierenden der großen australischen Universitäten – kaum Engagement überliefert, lediglich Hinweise auf eine Monatszeitschrift von 1954 an legen nahe, dass auch über die verpflichtenden Treffen hinaus eigenständige Aktivitäten der Gruppen stattfanden.80 Für die Universität bedeutete dieser Fokus auf das soziale Leben eine Veränderung ihrer Aufgabe. Statt die Universität als Bildungs- und Selektionsinstitution wahrzunehmen, lag der Schwerpunkt auf einer informellen Vernetzung der Teilnehmer.
RÜCKKEHR Nach dem Aufenthalt in Australien im Rahmen des Colombo-Plans kehrten nahezu alle Studierenden in ihre Herkunftsländer zurück – wo sich in vielen Fällen zunächst ihre Spur verliert. Ganz im Gegensatz zum organisierten Aufenthalt an den Studienorten war zunächst keinerlei langfristige organisierte Verbindung oder gar eine Nachverfolgung der Aktivitäten geplant. Und so musste die Universität Adelaide auf eine Rückfrage des Außenministeriums ein Jahr nach der Rückkehr der ersten Stipendiaten ernüchtert konstatieren:
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Ein Studierender buchte das bereits ausgestellte Rückflugticket nach Pakistan heimlich gegen ein Ticket in die USA für ein weiteres Studium an der Universität Harvard um, was erst nach seiner Ausreise auffiel. Dies führte dazu, dass in der Folgezeit die Tickets nur noch am Flughafen direkt ausgegeben und mit dem Vermerk „nicht umbuchbar“ versehen wurden – der dokumentierte, intensive Briefwechsel mit Qantas Airways zeugt vom großen Aufwand, der betrieben wurde, um eine Wiederholung des Vorfalls zu vermeiden (NAA, A1362, W1961/122, Part 1). 79 NAA, A1362, 1960/79, Part 1; sowie UAdel, 200, 1955/296, Box 1. 80 USyd, Honi, Soit, 6/1956–5.
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We seem to have lost the connection [. . .] with them. I had hoped for a club [. . .] of former students or any other activity, but nothing has happened so far to my knowledge. Unfortunately we cannot get hold of their current contact [details . . .] any longer.81
Auch in den Akten der Administration findet sich kein Hinweis auf im Sinne einer langfristigen Ausrichtung geplante Maßnahmen, die einen weiteren Kontakt ermöglichen sollten. Für die Absolventen begann nach der Rückkehr die Normalität. Bezüglich der geplanten Rolle als „intellektuelle Soldaten für die Demokratie“82 ging man ganz im Sinne liberaler Überlegungen augenscheinlich von einer Selbstständigkeit der ehemaligen Studierenden als Multiplikatoren und Systempenetratoren aus. Darüber hinaus wurden auch nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nur die wenigsten der ehemaligen Studierenden Mitglieder der Alumni-Clubs ihrer jeweiligen Universität. Nachdem in den 1990er Jahren allerdings eine beachtliche Zahl von ehemaligen Colombo-Stipendiaten in einflussreiche Positionen in Asien aufgestiegen war, bemühte man sich mittels groß angelegter Treffen von ehemaligen Stipendiaten in Asien (zum Beispiel 2001 in Kuala Lumpur auf Einladung der Universität Adelaide) darum, diese in die bestehenden Alumni-Netzwerke einzugliedern. Dabei stieß man wiederum auf das Problem, dass es nahezu keine Unterlagen über den Verbleib der Studierenden gab.83 Dies erscheint umso bedeutsamer, weil die in der Konzeption angedachte „informelle Erschließung“ gerade durch die Alumninetzwerke hätte stattfinden sollen. Man ging davon aus, dass die ehemaligen Stipendiaten weiter untereinander in Kontakt blieben und so zumindest mittelbar eine Art „informelle Bürokratie“ schaffen würden, deren Mitglieder wenn auch nicht explizit, zumindest durch eine gemeinsame Ausbildung ähnliche Werte verinnerlicht hätten.84
DAS ENDE DES PLANS Ab 1965 intervenierten die USA zunehmend direkt und militärisch in Vietnam und Südostasien85 und beendeten damit auch den Versuch des informellen Kampfes um die sogenannten „hearts and minds“. Jedoch hatten der Colombo-Plan und die Idee, über die transnationale Universität Einfluss zu gewinnen, schon früher ihre Unterstützung verloren. Bereits ab 1961/62 überwogen in der Diskussion in Australien die Argumente hinsichtlich der Kosten, hinzu kam eine innenpolitische Debatte, ob die aufgewendeten Gelder nicht sinnvoller im 1958 vereinbarten Commonwealth
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UAdel, 253, Box 12/2. Was genau der Grund für die Unmöglichkeit einer Adressermittlung war, bleibt leider unklar – es scheint aber so, dass keinerlei Adressdaten mehr zur Abreise angegeben werden mussten. NARA, 59 250/41/11/6, Box 5525. Sauer, The Colombo Plan for Cooperative Economic Development (Anm. 29), S. 6. NARA, 59 250/41/11/6, Box 5524. Sascha Helbardt und Rüdiger Korff, Staatenbildung in Südostasien, in: Erbe des Kalten Krieges, hg. von Bernd Greiner, Tim Müller und Klaas Voß (Studien zum Kalten Krieg), Hamburg 2013, S. 428–446, hier: S. 428.
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Scholarship and Fellowship Plan (CSFP) angelegt wären, der im Haushalt im Verhältnis zu der Zahl der Geförderten deutlich geringere Aufwendungen verursachte.86 Doch den größten Einfluss dürfte das Erreichen des außenpolitischen Ziels durch die Schaffung der SEATO als NATO-Pendant in der Region ab 1954 gehabt haben. Durch die Einbindung in das amerikanische Sicherheitssystem schwand die australische Bereitschaft, das mit innenpolitischen Kosten verbundene Stipendiensystem weiter zu unterstützen.87 Neben den außenpolitischen Überlegungen trug zu dieser veränderten Perspektive auch bei, dass das Modell der sehr lockeren, informellen Bürokratie ganz offensichtlich zu wenig direkten Einfluss bot – die bürokratischen Verhandlungsführer und Planer in Washington hatten neben der langen zeitlichen Perspektive, die die Etablierung eines solchen Systems benötigte, auch den unmittelbaren Einflussrahmen überschätzt und offensichtlich in Unkenntnis der infrastrukturellen und personalen Realitäten der Universität vor Ort gehandelt.88 Die als Produkt angelegte „universale Universität“ war auch bei den Architekten der Planung universal aufgefasst worden und hatte Unterschiede innerhalb der westlichen Universitäten ignoriert. Vor allem der geringer ausfallende Grad hinsichtlich des im Abkommen vorgesehenen Umfanges der „Verschultheit“ im BA-Studium blieb bis die späten 1950er Jahre unausgesprochen. Als weiteres Problem erwies sich, dass die überwiegend amerikanischen Planungsakteure vielfach wohl eigene Erfahrungen von akademischer Sozialisation und Alumnibindung und nachgelagerter Loyalität generalisierten. Diese informationelle Asymmetrie zwischen den Planern und den Akademikern (im Sinne von an Universitäten wissenschaftlich Tätigen, also nicht den Studierenden) als Umsetzende führte schließlich zu einem Fehlschlag im unmittelbaren Sinne der ursprünglich angedachten Konstruktion. Die Hoffnung, über die Multiplikatoren Südund Südostasien binnen weniger Jahre fest an „den Westen“ und die USA zu binden, erfüllten sich nicht. So musste man bereits 1960 ernüchtert konstatieren, dass man einen Erfolg des Programmes bisher nicht feststellen könne.89 Die Vorteile eines informellen Systems (vergleichsweise leichte Systempenetration, geringere Kosten sowie eine erhöhte Flexibilität) schienen die Nachteile (vor allem die unkontrollierbar wirkenden Dynamiken vor Ort sowie den langen zeitlichen Versatz zwischen Aufwand und möglicher Reaktion) nicht (mehr) aufzuwiegen.90 Hinzu kamen die 86
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Hilary Perraton, International Student Mobility. Lessons from the Commonwealth Scholarship and Fellowship Plan, in: Schreuder, Universities for a New World (Anm. 33), S. 176–196, hier: S. 177. Siehe auch Second Report of the Australian Universities Commission 1961–1966 on the Committee on the Future of Tertiary Education in Australia, in: NAA, A1838, 2008/6/1/2. Besonders durch den Wegfall des aufwändigen Auswahlverfahrens über die Außenministerien sowie die kürzere Förderdauer (statt eines ganzen Studiums nur einzelne Semester) war der CSFP deutlich günstiger. Auch war durch die erfolgte Zusage der USA, Australien im Falle eines Angriffs nuklear zu schützen (SEATO), das gefürchtete Bedrohungsszenario, welches innenpolitisch die Kosten rechtfertigte, weggefallen. NAA, A1838, 250/9/8/2, Part 4. NARA, 59 250/41/11/6, Box 5525. Zur Problematik der zeitlichen Perspektive siehe auch NARA, 250/50/01/01, Box 7. there [. . .] seems to be not the slightest change [. . .] or improvement [. . .], NARA, 59 250/41/25/7, Box 1742. Perraton, International Student Mobility (Anm. 86), S. 181.
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Veränderungen im politischen Klima sowohl in den USA als auch in Australien, die eine Verschiebung der geopolitischen Strategie nahelegten. Damit ging spätestens in den 1960er Jahren die breite politische Unterstützung für die akademische Seite des Colombo-Plans verloren – zeitgleich mit den in der Wahrnehmung von tatsächlich handelnden Zeitgenossen in den verantwortlichen Positionen vor Ort ersten Erfolgen des Plans. Ein erfolgreicher Studienaufenthalt in Australien wurde zunehmend als hochwertige Qualifikation angesehen.91 Wenngleich die mit dem neuen Colombo-Plan verknüpften geopolitischen Ambitionen so unmittelbar nicht erreicht wurden, ergaben sich doch auf anderen Eben nachhaltige Konsequenzen. Neben dem kostenfreien Studium für hunderte von Stipendiaten sowohl in Australien wie in den USA profitierten langfristig auch die australischen Universitäten. Dass heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts akademische Bildung in Australien das zweitwichtigste Exportgut ist, liegt unter anderem in der Öffnung nach Asien durch den Colombo-Plan begründet.92 Für den mit dem Förderprogramm einhergegangenen substantiellen Wandel der britisch geprägten Universität bedeutete diese Einpassung in ein solches „Spiel über die Bande“ auch innerhalb der Institution einen Wandel. Die Universitäten Australiens entwickelten für Colombo-Plan-Stipendiaten aufgrund ihrer spezifischen Verortung eine gesonderte Behandlung. Sie waren eben – im Sinne einer funktionalen Auffassung von Universität – nicht nur Studierende, die im üblichen Rahmen unterrichtet und geprüft werden mussten und am System Universität partizipieren durften, sondern Multiplikatoren zur Erschließung und Sicherung einer ganzen Region, deren Kosten direkt vom Staat übernommen wurden und mit deren Bildungserfolg auch unmittelbar politische Ziele verknüpft waren. Diese Veränderung vor der Folie einer sicherheitspolitischen Dimension lässt sich am Ende auch an einem veränderten Bild der Studierenden ablesen, wenn 1958 der Senat der Australian National University in Canberra feststellte: Since there are presumably political considerations to Colombo Plan educational programmes I should point out [. . .]: [. . .] (b) In as much as it produces these failures [at exams] it sends back dissatisfied customers who are presumably not brimming over with goodwill to this country.93
Hier lässt sich für Australien am Beispiel des Colombo-Planes der beginnende Wandel des Selbstverständnisses der Hochschule nachzeichnen, die Bildung – hier im Auftrag des Außenministeriums – zum Ergebnis eines zu vermarktenden Produkts für zufriedene Kunde transformierte und damit das Exportgut akademische Bildung erst begründete. Ebenso ablesen lässt sich aber auch das wohl fundamentale Missverständnis der angedachten Förderung und das beklagte Ausbleiben unmittelbaren Erfolges94 – lag doch dem Bildungsverständnis der Planungen zunächst das Mo-
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NLA, ORAL, TRC, 2794. Australian Government. Commonwealth of Australia: Why Study in Australia? Facts and Figures, (30. 05. 2015). 93 ANUA, 53, Box 830; Hervorhebung durch den Autor. Man beachte, dass nicht die Entsendestaaten, sondern tatsächlich die Stipendiaten als Kunden bezeichnet werden. 94 NARA, 250/50/01/01, Box 7.
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dell des so genannten „Nürnberger Trichters“95 zugrunde. Neben der allgemeinen Transformation vom Studenten der alten Universität zum Kunden einer australischen Hochschule während der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war damit auch für die Stipendiaten des Colombo-Planes ein langsamer Wandel vom Objekt zum Subjekt erfolgt. War in der Planung den Stipendiaten jegliche eigene Agency abgesprochen worden, beanspruchten sie im Verlauf der Umsetzung durch die Artikulation eigener Interessen und Anliegen ab 1954 einen eigenen Platz in der Universität. Im Vergleich zur Betrachtung der Vorjahre, in denen es hauptsächlich um die politischen Interessen der Entsendestaaten ging, macht sich hier die Wahrnehmung des Individuums bemerkbar, welches mit eigenen Erfahrungen und Werturteilen zurückkehrte.96 Zuletzt lässt sich aber nochmals über die im Colombo-Plan97 geplanten Maßnahmen eine intendierte Transformation an der imperialen Peripherie mittels der Universität nachzeichnen. Durch die spezifischen Mittel der Hochschule sollte eine ganze Region aus einem neutralen Raum in den eigenen Einflussbereich unter Anverwandlung98 eines westlichen Weltbildes mittels akademischer Ausbildung überführt werden.99 Dabei machte die Universität das „Heranrücken“ von benachbarten Regionen in der imperialen Peripherie an das Zentrum ohne größere antiimperialistische Vorbehalte durch ihre einzigartige Struktur erst möglich und damit mittelbar auch die Transformation des Raumes. Im Rahmen der Stipendien des Colombo-Planes sollte die imperialer Struktur im Ost-West-Konflikt mittels der Universität als Plattform verschoben werden. Durch tausende von „intellektuellen Freiheitskämpfern“100 , ausgebildet an Universitäten als „Kasernen“ des Wissens, sollte der westliche Einfluss gesichert und ausgebaut werden. Nicht zuletzt an der Langfristigkeit eines solchen Vorhabens sowie an Fehleinschätzungen zur eigenen Agency der geförderten Studierenden und dem traditionellen Selbstbewusstsein des Modells Universität blieb das Vorhaben im dynamischen Prozess des Kalten Krieges weit hinter den gesteckten Erwartungen zurück.101 Angesichts der Tatsache, dass um 1990 sowohl in Wirtschaft wie in Politik in Südostasien ein überproportional hoher Anteil der Führungsschicht mit akademischen Abschlüssen australischer Universitäten zu finden waren,102 erscheint diese 95
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Solchermaßen wird sprichwörtlich ein vergleichsweise simples Input-Output-Modell bezeichnet, welches dem Lerner jegliche eigene Agency abspricht, siehe Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg 1994, S. 1103. Siehe UMel, Farrago Files 1954–1955. Anzumerken sei noch, dass der Colombo-Plan tatsächlich bis heute existiert, allerdings das Stipendienprogramm und der damit verbundene „Soft Power“-Ansatz nach 1963 weitestgehend beendet wurden. Heute ist der Colombo-Plan vorwiegend ein Forum der technischen Kooperation zur Steigerung der Produktivität in Süd- und Südostasien. Der Begriff wurde maßgeblich in Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, geprägt. Siehe hierzu auch Bradley Klein, Machtprojektion durch „ausschwärmende Abschreckung“. Zur strategischen Kultur der Vereinigten Staaten, in: Amerikanische Mythen, hg. von Frank Unger, Frankfurt/New York 1988, S. 113–129. Vergleiche NARA, 59 250/41/11/6, Box 5525, eigene Übersetzung. NARA, 250/50/01/01, Box 7. Inwiefern sie dabei tatsächlich als Colombo-Stipendiaten studiert haben, lässt sich bedauerlicherweise in einer Vielzahl der Fälle nicht mehr zweifelsfrei belegen. Da aber ca. 90 Prozent der
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zeitgenössische Einschätzung eines Fehlschlages allerdings aus heutiger Perspektive zumindest zu kurz gegriffen. So überrascht es nicht, dass Australien 2013 den „New Colombo Plan“ ausrief – nahezu zeitgleich mit Barack Obamas politischem „Turn to the Pacific“.103 Diese Revitalisierung einer Außenpolitik über die Universität steht dabei allerdings, trotz des Endes des Ost-West-Konflikts, wohl vor den ähnlichen Herausforderungen wie gut sechzig Jahre zuvor.
ABSTRACT This essay delivers a coherent approach to the dynamics of the fellowship scheme of the Colombo-Plan, a co-operative aid program at the beginning of the Cold War in the Commonwealth and the U. S. Its specific aim was to secure the region of South and South-East Asia from the geopolitical influence of communism through funding prospective elite student’s education at Australian universities. The university therefore became an essential place of imperial transformation processes, which long-standing effects last until today. The essay, which is based on a broad variety of sources, analyses the dynamics and the complex interplay between the academic and political stakeholders under the conditions of the early Cold War and its intense focus on symbolic achievements. It introduces the idea of an “informal bureaucracy” as the idealized result of an academic education at a “neutral” (thus liberal) university while deconstructing the over-generalizing assumptions of the actual setting of academic education on a global scale as the key element for the lack of success of the program. The essay opens new perspectives for the early stages of Cold War in South and Southeast Asia in the field of “soft power” and the understanding of academic education as a tool for political expansion in the global race for hegemony. The analysis is based on theories of Herfried Münkler and Michael Mann, expanding them to the field of academic education.
asiatischen Studierenden australischer Universitäten zu der Zeit Stipendiaten waren, liegt der Schluss zumindest sehr nahe. Siehe hierzu insbes. auch Sauer, The Colombo Plan for Cooperative Economic Development (Anm. 29), S. 23–55. 103 Siehe Australian Government. Department of Foreign Affairs and Trade: New Colombo Plan (30. 05. 2015) sowie Kenneth Lieberthal, The American Pivot to Asia, 21. 12. 2011, (30. 05. 2015).
MOTIVATION, IDENTITY AND COLLABORATION IN THE SCHOLARLY NETWORKS OF THE BRITISH EMPIRE, 1830–1930 Heather Ellis
THE BRITISH EMPIRE, SCHOLARLY NETWORKS AND THE “SPATIAL TURN” In recent years, under the influence of the so-called “spatial turn” in historiography and the development of transnational and global history, historians have shown a growing interest in conceiving of the British Empire as a space of knowledge production and circulation.1 During the nineteenth and early twentieth centuries, developing networks between scholars2 trained in and based at British universities and those located in the wider empire have been identified and shown to have increased significantly in number and complexity. These connections assumed a number of different forms from the migration of students and scholars to the exchange of publications and correspondence. Indeed, some historians have felt able to describe the existence of a “British academic world” during this period, consisting chiefly of the British Isles and those parts of the empire mainly settled by white British emigrants known as the “settler colonies” – Canada, Australia and South Africa.3 On the one hand, the influence of the “spatial turn” and of global history as an approach has brought with it many advantages for the study of scholarly activity in the British Empire, most significantly perhaps, the acknowledgement of previously unidentified networks, connections and exchanges; however, it has arguably also
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Heike Jöns, Academic Travel from Cambridge University and the Formation of Centres of Knowledge, 1885–1954, in: Historical Geography 34 (2008), pp. 338–362; Tamson Pietsch, Wandering Scholars? Academic Mobility and the British Academic World, 1850–1940, in: Historical Geography 36 (2010), pp. 377–387; Tamson Pietsch, Many Rhodes. Travelling Scholarships and Imperial Citizenship in the British Academic World, 1880–1940, in: History of Education 40 (2011), pp. 723–739; Tamson Pietsch. Empire of Scholars. Universities, Networks and the British Academic World, 1850–1939, Manchester 2013. For the purposes of this article, a “scholar” is defined either as someone who worked at a university in a teaching or research capacity or someone who received an academic appointment at a university following the conclusion of their undergraduate studies before subsequently pursuing an alternative career, e. g. in colonial administration. Many of those who officially left academia nevertheless continued to pursue scholarship during their subsequent careers. Examples of these may be found among the “scholar-administrators” referred to later in this article. Pietsch, Many Rhodes (Ann. 1); Pietsch, Empire of Scholars (Ann. 1).
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led to the privileging of network tracing and identification over equally important questions of motivation and identity formation. Over the last few decades, historical scholarship has tended to be characterized by two divergent developments, broadly represented by the sub-disciplines of global history, on the one hand, and the “new cultural history” on the other. As Merry Wiesner-Hanks explains, global history has been largely concerned with exploring “connections within the global human community [. . .] the crossing of boundaries and the linking of systems in the human past.” It is, she writes, citing David Northrup, the story of the “great convergence”. The new cultural history, by contrast, has “spent much more time on divergence, making categories of difference ever more complex” and highlighting the importance of an increasingly varied array of cultural and identity markers including “race”, gender, class, age-group, religion and nationality.4 As a result, global history has tended to neglect, or, at least, side-line questions of identity formation and the vital role of networks and exchanges in constructing identities and motivations. Insofar as historians have been concerned with the motivations driving the participation of scholars in British imperial networks, many have continued to assume that scholarly cooperation between individuals and institutions within the empire had the effect (and often also the aim) of strengthening imperial ties and promoting an overarching imperial loyalty.5 This has been particularly noticeable when referring to the fields of geography6 , ethnology7 , and anthropology8 . This tendency, in turn, seems closely related to another trend within the historiography of higher education institutions in Britain (and arguably across the world), namely to assume a close relationship between the flourishing of universities and the growth of the nation state and nationalism.9 If we consider how frequently imperialism is treated as closely related to (even as an extension of) nationalist sentiment, it comes 4 5 6
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Merry Wiesner-Hanks, World History and the History of Women, Gender and Sexuality, in: Journal of World History 18 (2007), no. 1, pp. 53–67, here: pp. 53 f. Carl Bridge and Kent Fedorowich (eds.), The British World. Diaspora, Culture, Identity, London 2003; Pietsch, Wandering Scholars? (Ann. 1); Pietsch, Empire of Scholars (Ann. 1). Brian Hudson, The New Geography and the New Imperialism, 1870–1918, in: Antipode 9 (1977), pp. 12–19; Gerry Kearns, The Imperial Subject. Geography and Travel in the Work of Mary Kingsley and Halford Makinder, in: Transactions of the Institute of British Geographers 22 (1997), pp. 450–472. Jon Anderson, Colonial Ethnography in British Afghanistan, in: Writing the Social Text. Essays on the Poetics and Politics of Social Science Discourse, ed. by Richard Harvey Brown, New York 1992, pp. 91–116; Richard Harvey Brown, Cultural Representation and Ideological Domination, in: Social Forces 71 (1993), no. 3, pp. 657–676. Stefan Feuchtwang, The Colonial Formation of British Social Anthropology, in: Anthropology and the Colonial Encounter, ed. by Talal Assad, London 1973, pp. 71–100; Henrika Kuklick, The Sins of the Fathers. British Anthropology and African Colonial Administration, in: Research in Sociology of Knowledge. Sciences and Art 1 (1978), pp. 93–119; Charles Morrison, Three Styles of Imperial Ethnography. British Officials as Anthropologists in India, in: Knowledge and Society 5 (1984), pp. 141–169; Mark Francis, Anthropology and Social Darwinism in the British Empire. 1870–1900, in: Australian Journal of Politics and History 40 (1994), pp. 203–215. Konrad Jarausch, Higher Education and Social Change. Some Comparative Perspectives, in: The Transformation of Higher Learning, 1860–1930. Expansion, Diversification, Social Opening, and Professionalization in England, Germany, Russia, and the United States, ed. by Konrad Jarausch, Chicago 1983, pp. 9–36; John Craig, Scholarship and Nation-Building. The Universities of
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as little surprise that many historians have assumed that Oxford, Cambridge (and, to a lesser extent, also the Scottish and provincial English universities) promoted the idea of empire. The universities are likewise often perceived to have been enthusiastic supporters of nationalist identities over the course of the nineteenth century.10 As a consequence, relatively few historians have questioned the assumption that most university scholars would be in favour of empire and would identify both personally and professionally with the imperial project.11 What I would like to introduce here, by contrast, is a distinction between imperial networks and the geographical space of empire, on the one hand, and the meanings and identities bound up with them, on the other. Conceiving of the British Empire in purely spatial terms (as David Lambert and Alan Lester have done in their 2006 study of imperial “careering” in the long nineteenth century)12 ought actually to decouple it from any automatic association with imperial sentiment, allowing rather for the possibility that many different motivations drove those individuals who travelled within its borders and made use of its networks. Lambert and Lester highlight “the complexity, varied scale, constitutions and compositions of personal imperial spaces and networks.”13 If this can be said of those who were directly connected with British imperial institutions such as the colonial civil service, then how much more must it apply to scholars working for universities, connected, only indirectly with the imperial project? Another advantage of conceptualizing the British Empire primarily in spatial terms, and decoupling it from an automatic connection with empire as idea or ideology, is that it encourages us to treat it in a comparative light, alongside other spatial frames of reference such as the local, the regional, the national, and the global, which also helped to shape the experiences and identities of scholars at the time. As Frederick Cooper has written in his study, “Colonialism in Question”: The spatial imagination of intellectuals [. . .] from the early nineteenth century to the midtwentieth century was [. . .] varied. It was neither global nor local, but was built out of specific lines of connection and posited regional, continental and transnational affinities.14
In other words, the challenge is to ask how important (relative to other spatial frames) the empire was to those who traversed its networks, and under what specific conditions it emerged as especially relevant. Here, we should heed the call of Robin
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Strasbourg and Alsatian Society, 1870–1939, Chicago 1984; Jussi Välimaa, Nationalization, Localization and Globalization in Finnish Higher Education, in: Higher Education 48 (2004), no. 1, pp. 27–54, here: pp. 31–36. Robert Anderson, European Universities from the Enlightenment to 1914, Oxford 2004, p. 149; Robert Anderson, British Universities. Past and Present, London 2006, p. 47. Important exceptions include Bernard Porter and Richard Symonds, see Bernard Porter, Critics of Empire. British Radicals and the Imperial Challenge, London 1968; Richard Symonds, Oxford and Empire. The Last Lost Cause?, Oxford 1991. David Lambert and Alan Lester, Colonial Lives Across the British Empire. Imperial Careering in the Long Nineteenth Century, Cambridge 2006. Robin Butlin, Geographies of Empire. European Empires and Colonies c. 1880–1960, Cambridge 2009, p. 5. Frederick Cooper, Colonialism in Question, Berkeley 2005, p. 109.
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Butlin to pay more attention to “the dynamics and spatial scales of cultural circuits” in the nineteenth and early twentieth centuries.15 As we will see, many scholars were able to travel and work within the networks of the British Empire without attaching themselves to the ideal of empire or imperial expansion. Indeed, the “spatial turn” with its emphasis on competing geographical frames of reference demands that we treat the British Empire as but one of a set of interlocking and overlapping globespanning spaces within and between which individual (and groups of) scholars lived, worked and travelled. Indeed, many academics continued to see themselves as participating in an international “republic of letters” of which the British Empire was only one part. International relationships in university study, declared the educationalist Michael Sadler, in his introduction to the 1906 English translation of Friedrich Paulsen’s work on the German universities, are closer today than at any previous time since the beginning of the sixteenth century.16 Traditionally, the nineteenth century has been seen by historians as an era of nationalism and imperialism; however, in recent scholarship, it has been increasingly recast as a period of growing globalization.17 This argument gains strength from the fact that many commentators at the time remarked on the growing interconnectedness of the various parts of the world, particularly in the field of scholarship. As Benedict Stuchtey and Peter Wende have argued in their study of British and German historiography between 1750 and 1950, the great European res publica litteraria still existed, that international community which, in the Middle Ages, had been attached to the church of Christ, and which, since the Renaissance and especially during the Enlightenment, had become a transnational congregation of men of letters. Out of this tradition, still vigorous in [the] nineteenth-century, grew numerous contacts, mutual perceptions, and transfers which contributed to the formation of modern university education in the age of nationalism.18
Writing in the “Contemporary Review” in 1886, the German scholar and Professor of Comparative Philology at Oxford, Friedrich Max Müller, remarked upon the continuing vitality of what he described as a universal republic of letters encompassing not only Europe but the entire globe: The whole world seems writing, reading, and talking together [. . .] Newton’s “Principia” are studied in Chinese, and the more modern works of Herschell [sic], Lyell, Darwin, Tyndall, Huxley [and] Lockyer, have created in the far East the same commotion as in Europe. Even books like my own, which stir up no passions, and can appeal to the narrow circle of scholars only, have been sent to me, translated not only into the principal languages of Europe, but into Bengali, Mahratti, Guzerathi, Japanese – nay, even into Sanskrit.19
Indeed, he described eloquently how such an ideal could quite happily co-exist with a hearty love of nation and empire. It does not follow, he wrote, 15 16 17
Butlin, Geographies of Empire (Ann. 13), p. 41. Friedrich Paulsen, The German Universities and University Study, London 1906, p. vii. See e. g. Roland Wenzlhuemer and Isabella Loehr (eds.), The Nation State and Beyond, Governing Globalization Processes in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, Heidelberg 2012. 18 Benedicht Stuchtey and Peter Wende (eds.), British and German Historiography, 1750–1950. Traditions, Perceptions and Transfers, Oxford 2000, p. 3. 19 Friedrich Max Mueller, Goethe and Carlyle, in: Contemporary Review 49 (1886), p. 790.
Motivation, Identity and Collaboration in the Scholarly Networks of the British Empire 129 that because our Imperial patriotism is keen, our hearts are incapable of larger sympathies [. . .] We want patriotism, just as we want municipal spirit, nay even clannishness and family pride. But all these are steps leading higher and higher till we can repeat with some of the greatest men the words of Terence, “I count nothing strange to me that is human.”20
Moreover, it is important to remember that the British Empire furnished networks and resources accessed by a wide range of scholars from different countries, who worked with each other, as well as with the British. While we should certainly recover historical evidence for a “British academic world”, this should not be achieved at the expense of recognizing vital ties which continued to exist between British (and colonial British) scholars and their counterparts based in other (especially European) countries who also made profitable use of the spaces and networks of empire.21 With a view to reconstructing a clearer picture of the motivations driving scholars who made use of British imperial networks in their work and the identities which they fashioned in relation to their participation in these networks, this article is divided into three distinct sections: first, an examination of those scholars, for whom an identification with imperialism and the ideal of empire was indeed an important factor; second, a section exploring alternative reasons for participating in imperial networks and the multiple loyalties and attachments which frequently co-existed in individual scholars who traversed them; and finally, a section which focuses upon the development of discourses directly hostile to the concept of empire, and the construction of identities based upon alternative geographical scales such as regionalism and internationalism.
MOTIVATIONS DRIVING SCHOLARLY NETWORKING WITHIN THE BRITISH EMPIRE: THE IMPERIALISTS A variety of motivations drove scholars attached to universities in Britain to travel across the empire and engage in a range of collaborative projects with colleagues working in the colonies. There is no doubt that a desire to deepen imperial ties and promote imperial unity lay behind the actions of some scholars. One well-known example would be Sir Bartle Edward Frere, who rose through the ranks of the Indian Civil Service (I. C. S.) to become Governor of Bombay in 1862. Alongside his career in the Indian Civil Service, he was active in linguistic, geographical and historical scholarship of the peoples of India and held a number of academic appointments, most importantly, as Chancellor of the University of Bombay also from 1862. In addition, he was elected President of the Royal Asiatic Society on three occasions, a fellow of the Royal Society and President of the Royal Geographical Society in 1873–74. For Frere, geographical study of the empire was inseparable from a desire
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Ibid., 789 f. Heather Ellis and Ulrike Kirchberger (eds.), Anglo-German Scholarly Networks in the Long Nineteenth Century, Leiden and Boston 2014; Heather Ellis, Review of Pietsch, Empire of Scholars (Ann. 1), in: History of Education 44 (2015), no. 1, pp. 115–117.
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to promote the imperial project, and, in his own words, to replenish the vital springs of national life.22 In the last decades of the nineteenth century, the University of Oxford as an institution showed some evidence of an increasingly imperialist stance. In 1895, the Oxford Magazine, one of the official publications of the university, declared, We are all Imperialists nowadays,23 and published a range of patriotic poetry including a poem written by A. G. Butler, tutor of classics at Oriel College, who numbered the imperialist diamond magnate, Cecil Rhodes, among his pupils. His poem began: The little Englander is dead and gone There lives a greater England far away Behind the rising of the Eastern day Beyond the setting of the Western sun24
In 1908, the university hosted a lavish celebration of Empire Day together with the Mayor and city council in Oxford’s cathedral during which a children’s choir sang appropriately patriotic and imperial hymns. A few years later, Sir Herbert Warren, Oxford’s Professor of Poetry, spent his lectures comparing the merits of Virgil and Tennyson as poets of empire.25 In the edition of the Oxford Magazine which was published the week in which the Great War came to an end, its editor expressed his views about the great importance of the empire for his university and how the promotion and extension of the imperial ideal must lie at the heart of all that Oxford and her scholars did. Oxford, he declared, is a national and Imperial asset, and has Imperial responsibilities [. . .] we have received a great heritage which we hold in trust for mankind. To spread that inheritance more widely is the task laid upon us.26 It is possible, indeed, to find similar language expressed at Oxford right from the beginning of the period of the so-called “new imperialism”, dating back to the late 1860s and early 1870s. As part of his Inaugural Lecture as Slade Professor of Fine Art in 1870, John Ruskin spoke passionately about the inseparable nature of Oxford’s educational and imperial mission, linked, in his mind, to the peculiar superiority of the Anglo-Saxon race: There is a destiny now possible to us, the highest ever set before a nation to be accepted or refused. We are still undegenerate in race; a race mingled of the best northern blood. We are not dissolute in temper, but still have the firmness to govern and the grace to obey. This is what England must do or perish. She must found Colonies as fast and as far as she is able, formed of her most energetic and worthiest men, seizing every piece she can get her feet on and teaching these Colonists that their chief virtue is to be fidelity to their Country [. . .]27
In a number of ways, Oxford scholars heeded this clarion call as they travelled the length and breadth of the empire, promoting the imperial ideal and Britain’s 22
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Quoted in John Benyon, Art. “Frere, Sir (Henry) Bartle Edward, first baronet (1815–1884)”, in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004, (23. 09. 2014). [Anonymous], Oxford Magazine 13 (1895), p. 196. [Anonymous], Oxford Magazine 13 (1895), p. 213. Symonds, Oxford and Empire (Ann. 11), p. 16. Quoted in ibid., p. 19. John Ruskin, Collected Works, vol. 20: Lectures in Art, London 1903, p. 41.
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special mission to rule. Some did so as colonial Bishops, clergymen and religious missionaries. Long before Ruskin’s lecture, Daniel Wilson, who had been VicePrincipal of St Edmund Hall, Oxford, was appointed Bishop of Calcutta in 1832 and the first Metropolitan of India. A later example would be Thomas Valpy French, a Fellow of University College, who became the first Bishop of Lahore in 1877; others traversed the networks of empire with a deliberate view to promoting the goal of imperial federation. James Bryce, Regius Professor of Law, from 1870 to 1893 was also Chair of the Oxford branch of the Imperial Federation League and travelled across the empire advocating the federal ideal. In the early 1900s, an influential group of Oxford academics, politicians and civil servants founded the informal dining club known as the Pollock Committee. The club’s chair was the Corpus Professor of Jurisprudence at Oxford, Sir Frederick Pollock, and the group’s chief purpose was to discuss ways of improving future imperial cooperation. Among other places, Pollock and members of the Committee visited Canada to promote the group’s ideas and proposals.28 Following brief academic appointments as college fellows, other Oxford scholars went out to different parts of the empire as colonial administrators, dedicated to pursuing the ideal of empire in that capacity. Among the most famous was George Curzon, who, following a career as a Balliol undergraduate and an All Souls Fellow, served as Under Secretary for India and ultimately went out to the subcontinent as Viceroy. While still an undergraduate, he declared to his friend, Rennell Rodd, There has never been anything so great in the world’s history as the British Empire, so great an instrument for the good of humanity.29 Reflecting many years later on his undergraduate years at Oxford, he wrote that he could not understand how anyone educated at Oxford at that time could not be an imperialist. Alfred Milner was a similarly grand example of a scholar-administrator and dedicated servant of the imperial ideal. After a glittering undergraduate career at Balliol College, Oxford, during the course of which he won almost every university prize in existence, he obtained an Open Fellowship at New College. Soon after he went into colonial administration, travelling to Egypt as the Director General of Accounts in 1889. After this, he moved on to India as Finance Member of the Viceroy’s Council before taking up the powerful position of High Commissioner in South Africa and Governor of Cape Colony. Writing at the end of his life in 1925, he looked forward to a time when Imperialism [. . .] should become an accepted faith of the whole nation. In another twenty years, he continued, it is reasonable to hope that [. . .] all Britons, alike in the Motherland or overseas, will be Imperialists.30
28 29 30
See Symonds, Oxford and Empire (Ann. 11), pp. 69 f. Rennell Rodd, Social and Diplomatic Memories, vol. 3, London 1925, p. 393. Alfred Milner, Key to My Position, in: Alfred Milner. Questions of the Hour, London 1925, p. 211.
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MULTIPLE LOYALTIES AND ATTACHMENTS However, by no means all scholars shared Milner’s view. It is possible to find many academics who travelled widely in the British Empire and collaborated with a range of colleagues at colonial universities, for whom the empire itself and the furtherance of its interests were not of prime importance. Such individuals have not as yet received the attention they deserve from historians. More recently, however, scholars have become more sensitive to the multiple motivations driving those actors moving within the sphere of empire. In particular, there have been calls for a more nuanced understanding of the figure of the explorer who has traditionally been viewed as a “tool” of empire. As Felix Driver has argued, “the idea of exploration was freighted with multiple and contested meanings, associated variously with science, literature, religion, commerce and empire.”31 In his work on the imperial fashioning of Vancouver Island, Daniel Clayton has likewise identified a variety of motivations driving explorers including humanitarian sentiments and a scientific and philosophical agenda.32 When examining the lives and trajectories of individual scholars, we must, of course, think in terms of a sliding scale when it comes to the relative importance of imperial loyalty and the imperial project vis-à-vis other motivations driving them to travel across imperial networks. Chief among these other motivations would have been the goals of their particular discipline. For many, we must visualize the relationship in terms of a partnership, with the interests both of the individual disciplines and of the empire being served. Representative here might be the career of Roderick Impey Murchison, a military man by training, but who went on to serve as Director-General of the Geological Survey from 1855 and President of the Royal Geographical Society from 1843 until 1871. Personally, Murchison was an imperialist who wanted to deepen imperial ties; however, at the same time, his involvement with the Geological Survey saw university-trained geologists sent out to nearly every colony of the empire, which in turn produced an unprecedentedly detailed picture of geology in these regions. Indeed, T. G. Bonney has written of “the mutually beneficial bargain [. . .] struck by Murchison” in which “science helped take an inventory of, develop, and justify the empire, while the empire offered science access to invaluable overseas data.”33 The discipline of geography offers a comparable case in the figure of Halford Mackinder. Traditionally, scholars have tended to interpret the career of the first reader in Geography at the University of Oxford and father of the “new geography” as a classic example of an academic serving the interests of empire.34 Mackinder, however, denied this late in life, 31 32 33
34
Felix Driver, Geography Militant. Cultures of Exploration and Empire, Oxford 2001, p. 2. Daniel Clayton, Islands of Truth. The Imperial Fashioning of Vancouver Island, Vancouver 2000, pp. 8 f. Thomas George Bonney, Art. “Murchison, Sir Roderick Impey, baronet (1792–1871)”, rev. Robert A. Stafford, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014). James Ryan, Visualizing Imperial Geography. Halford Mackinder and the Colonial Office Visual Instruction Committee, 1902–11, in: Ecumene 1 (1994), pp. 157–176; Kearns, The Imperial Subject (Ann. 6).
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declaring that the interests of geography as a science had always been uppermost in his mind. At the very least, we ought to give equal weight to his academic interests in assessing his career. “In truth,” his biographer, Brian Blouet, has written, “his political and geographic aims were inseparable; he wanted to create a new scientific geography which could be pressed into the service of imperialism.”35 There were other scholars such as John Holland Rose, appointed Reader in Modern History at the University of Cambridge in 1911, who, while interested in, and enthusiastic about, the empire, nevertheless pursued work in a wide range of research areas which frequently caused them to work both within and outside the networks of empire. Thus, on the one hand, Rose joined together with A. P. Newton and E. A. Benians to edit successive volumes of the “Cambridge History of the British Empire” (1925–36) and founded the “Rose studentship for Imperial History” in 1932; however, in the main, his research focused on the history of continental Europe from 1780 to the present day with a particular interest in the life and career of Napoleon. Like many of his contemporaries, Rose had huge respect for the achievements of German historians and worked hard to promote friendship and collaboration between the scholarly communities in Germany and Britain on the eve of the First World War. In addition to winning a high reputation within Britain and the empire, he received honorary degrees from extra-imperial universities in America and Poland.36 Far more numerous though, than these enthusiasts of empire, were those scholars who made use of imperial networks in the late nineteenth and early twentieth centuries with little or no concern for the imperial project. A useful early example of such a career is that of the astronomer Sir John Herschel. Educated at Cambridge and elected to a fellowship at St John’s College in 1813, Herschel engaged in a wide range of collaborations with scholars in the empire in order to further his astronomical research. Thus in 1833, he travelled to the Cape of Good Hope so he could view stars from the southern heavens, which he had already observed in England. In this task, he worked closely with the London-trained doctor Thomas Maclear, who had been appointed Director of Britain’s Royal Observatory at the Cape. Maclear was likewise assisted by the Australian-born astronomer James Dunlop and his catalogue of nebulae, which he had observed from Parramatta in New South Wales. During his stay at the Cape, between 1833 and 1838, Herschel served as president of the South African Literary Association and Scientific Institution and corresponded from there with several leading British scientists, in particular, Charles Lyell, professor of Geology at King’s College, London, although there is very little evidence that he held any strong views about the British Empire or Britain’s imperial mission. Herschel’s research enjoyed worldwide renown, several of his works being translated into Chinese and Japanese.37
35
Brian Blouet, Mackinder, Sir Halford John (1861–1947), in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014). 36 Thomas Otte, Art. “Rose, John Holland (1855–1942)”, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014). 37 Michael Crowe, Art. “Herschel, Sir John Frederick William, first baronet (1792–1871)”, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014).
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Many similar cases could be mentioned such as the entomologist, William Sharp Macleay, educated at Trinity College, Cambridge. Despite having a Colonial Secretary of New South Wales, Australia, for a father, in both his published and private writings, Macleay expressed few strong views about the empire. In terms of his academic contacts, he was deeply embedded in the world of continental European science, corresponding at length with German and French natural philosophers on various topics of physiological entomology. He was likewise in regular contact with American entomologists and was elected a corresponding member of the Academy of Natural Sciences at Philadelphia. However, at the same time, he made extensive use of British imperial networks to pursue his scientific researches. One of his most successful studies, “Annulosa Javanica” (which was published in 1825) comprised a systematic description of insects collected in Java between 1812 and 1817 by Thomas Horsfield under the aegis of the East India Company and Sir Stamford Raffles. Once again, in 1838, he published illustrations of various insects collected in South Africa between 1834 and 1836 during an expedition under the direction of Andrew Smith, which had been funded by the Cape of Good Hope Association for Exploring Central Africa.38 Those working within the emerging disciplines of archaeology and anthropology were particularly astute at using the networks provided by the British Empire to further the interests of their own studies. Take, for example, John Garstang, Honorary Reader in Egyptian Archaeology at the University of Liverpool from 1902. Educated at Jesus College, Oxford, Garstang made the acquaintance of the Egyptologist, Flinders Petrie, and joined his excavations at Abydos in Egypt. Although Garstang was to spend several years working in Egypt, he did not confine himself to the boundaries of the British Empire, going on to dig in areas such as Jerusalem and Palestine. Likewise, his scholarly contacts were by no means dominated by members of the so-called “British academic world”; indeed, he corresponded regularly with academics from many different countries, particularly from France, which even presented him with the “Legion d’Honneur” in 1920.39 Such weaving in and out of the space of empire (as dictated by the interests of their disciplines) by university scholars in this period was most likely typical of the majority of careers. The anthropologist and anatomist Elliot Smith, who was born in New South Wales, Australia, and educated at the University of Sydney, made extensive use of imperial networks in the course of his career. After coming to England in 1896 on a James King travelling scholarship, he continued his research at St John’s College, Cambridge under the anatomist Alexander Macalister publishing some eight papers on cerebral morphology between 1896 and 1897. In 1901, he acted as consultant to the University of California’s Hearst Egyptological expedition and in 1907 carried out an archaeological survey of Nubia together with Sir Gaston Maspero, George Andrew Reisner and Frederic Wood Jones. However, later in
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John Clark, Art. “Macleay, William Sharp (1792–1865)”, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014). 39 Oliver Robert Gurney, Art. “Garstang, John (1876–1956)”, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014).
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his career, after being appointed to the chair of Anatomy at University College, London, he also became involved with anthropological fieldwork outside the empire, in particular, Davidson Black’s paleontological Chinese research, which yielded the famous “Peking skull” and other human fossils. His work too gained him fame outside the confines of British academia; in 1911, he was awarded the Prix Fauvelle by the Anthropological Society of Paris.40 The empire was thus one of many spheres in which British scholars were active in this period. Moreover, it was not simply British scholars who were drawn to the various parts of the empire for purposes of scientific research. Egypt, India, Australia and many other locations attracted scholars from all over the world, particularly from other European countries, and, in this sense, the British Empire must be conceptualized as an international space of research. To take just one example, the German orientalist scholar, Heinrich Blochmann, having studied Persian and Arabic under H. L. Fleischer at Leipzig and Friedrich Haase at Paris, joined the British army in 1858 with the expressed intention of travelling to India to pursue his study of Eastern languages. There he collaborated with the British-born Arabic scholar, William Nassau Lees, and through him was appointed Assistant Professor of Arabic and Persian at the Calcutta Madrasa in 1861. In 1862, he became pro-Rector of Doveton College, Calcutta, and went on to carry out archaeological tours in India and British Burma.41 Nor were scientific societies based in Britain bound by the borders of empire. Thus the Royal Geographical Society (RGS) awarded medals in the late 1880s not only to British and colonial scholars, but also to continental European explorers of Africa including the Germans, Georg Schweinfurth and Gustav Nachtigal. University professors, from France, Germany and Holland, in particular, gave papers before the Society and its members regularly corresponded and exchanged papers with their counterparts abroad.42 In 1877, the RGS’s Expeditions Committee said it wanted to advance geographical science to the exclusion of any dealings with territorial and commercial undertakings.43 As D. R. Stoddart has shown, the final years of the nineteenth century certainly witnessed growing numbers of purely theoretical papers appearing in the Society’s journals.44 Despite the apparent similarities between the discipline of geography and the notion of imperialism, in terms of their shared focus on identifying, mapping and controlling territory, the role played by the RGS was clearly not that of a straightforward “tool of empire.” Michael Heffernan was right to challenge the long-standing view that “European geography was European
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Graham Richards, Art. “Smith, Sir Grafton Elliot (1871–1937)”, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014). Henry Beveridge, Art. “Blochmann, Henry Ferdinand (1838–1878)”, rev. Parvin Loloi, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014). Butlin, Geographies of Empire (Ann. 13), pp. 268, 280. Roy Bridges, Europeans and East Africans in the Age of Exploration, in: The Geographical Journal 139 (1973), pp. 220–232, here: pp. 222 f. David R. Stoddart, The RGS and the “New Geography.” Changing Aims and Changing Roles in Nineteenth Century Science, in: The Geographical Journal 146 (1980), pp. 190–202, here: p. 197.
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imperialism, albeit dressed up in a slightly more academic and scholarly guise.”45 Indeed, despite representing the high point of popular imperialism in Britain, the late nineteenth century also witnessed a resurgence of support for scientific internationalism among British scholars. Although no doubt related to broader technological developments rendering long-distance transport and communication much easier by the end of the century, this renewed interest in international cooperation also grew out of the mid-century trend of staging great international exhibitions of culture, education and science like the famous Great Exhibition of 1851 held in the specially built Crystal Palace in London. Many British scholars took a leading role in establishing international organizations and conferences related to their particular disciplines. Thus, Sir Archibald Geikie, appointed Professor of Geology at Edinburgh in 1871, was not just president of the British Geological Association but was also active in setting up the first international geological congresses.46 Likewise, Sir John Keltie, Secretary to the Royal Geographical Society, was instrumental in organizing the sixth International Geographical Congress held in London in 1895.47 Even the organization which sounds from its name as though it would be particularly national, perhaps imperial, in focus – the British Association for the Advancement of Science (BAAS) – was becoming considerably more cosmopolitan in the final years of the nineteenth century. When the Association met for the first time outside the British Isles – namely in Montreal in 1884, it was not national or imperial identity that took centre stage in the discussions but rather the priorities of the various scientific disciplines represented there. In welcoming the delegates who, significantly, included prominent European and American scholars, the Canadian Prime Minister John A. Macdonald addressed his audience in the following terms: I really do not know in what capacity I am called upon to address this audience, whether as a scientist or as a Canadian or as a member of the government. I cannot well say – I will say, however – I come here as a scientist.48
Likewise, Jean-Louis Beaudry, the Mayor of Montreal, stressed in his address that the student of almost every branch of science must find something worth learning at the meeting.49 The cosmopolitan attitude of the Association is also clear from the fact that it had deliberately scheduled its meeting in Montreal so its members could also visit the meeting of the American Association for the Advancement of Science which was being held in Philadelphia a week later.50 A similar sense of the
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Michael Heffernan, The Science of Empire. The French Geographical Movement and the Forms of French Imperialism, 1870–1920, in: Geography and Empire, ed. by Anne Godlewska and Neil Smith, Oxford 1994, pp. 92–114, here: p. 93. David Oldroyd, Art. “Geikie, Sir Archibald (1835–1924)”, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014). Elizabeth Baigent, Art. “Keltie, Sir John Scott (1840–1927)”, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014). Quoted in Clara Rayleigh, The British Association’s Visit to Montreal, 1884. Letters, San Diego 2008, p. 35. Quoted ibid., p. 33. George Monro Grant, The British Association at Montreal, in: Contemporary Review 46 (1884), pp. 235–251, here: p. 246.
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international perspective of the BAAS is gained from looking at the causes it agreed to fund at the 1884 meeting. Along with the predictable grants to scientific projects within the British Isles and Empire, it was agreed to provide funding to investigate the volcanic phenomena of Vesuvius and earthquake phenomena of Japan.51
CRITIQUES OF IMPERIALISM While “cosmopolitan” societies like the BAAS confined themselves to promoting the gospel of scientific internationalism, some of their disciples went on to develop nuanced critiques of imperialism while still making extensive use of the networks of empire. One of the earliest such critiques was developed at Oxford by the university reformer and Regius Professor of Modern History, Goldwin Smith. In a series of anti-imperial letters to the Daily News in 1862–63, Smith argued that the British were keeping the Colonies in a perpetual state of infancy and preventing the gristle of their frames from being matured into bone. He went so far as to recommend decolonization of Gibraltar and several other British possessions as well as the granting of independence to several of the settler colonies including Canada and Australia.52 Goldwin Smith’s concerns were shared by a larger group of dons based at Wadham College, Oxford, and known to posterity as the “Wadham Positivists”. Indeed, Smith was connected to them directly – via Richard Congreve – the most prominent of the group who had tutored Smith when he was a student. Following the teachings of Auguste Comte, the positivists argued that nations, like individuals, ought to subjugate self-love to the general good of society. The logical consequence of this, they maintained, was that no nation should dominate another. Like Goldwin Smith, Congreve recommended withdrawal from Gibraltar and other British territories, most provocatively perhaps – India. Together with several colleagues at Oxford, Congreve wrote a book on “International Policy”, published in 1866, in which E. H. Pember, who had been a Student at Christ Church, extended the case Congreve had made for Britain giving up India. Pember likewise stressed the need for far greater numbers of Indians to be allowed into the Indian Civil Service, advocated that Princes whose states had been annexed by Britain should have them returned to them and was especially condemning in his assessment of Christian missionaries whom he described as for the most part rash and ignorant men [. . .] with the scantiest knowledge of Hindoo society.53 The most vocal of the Wadham Positivists, however, was J. H. Bridges, who went on to become a fellow of Oriel College. Referring to British imperial policy in Uganda, in 1893, he condemned what he saw as the combination of Christianity and commerce to force Western civilisation on negro tribes by Bibles and Maxim guns.54 51
[Anonymous], British Association Meeting at Montreal, Grants of Money Made at, in: Academy 26 (1884), p. 188. 52 Goldwin Smith, The Empire, Oxford/London 1863, p. 3. 53 Edward Henry Pember, England and India, in: International Policy, ed. by Richard Congreve, London 1884, p. 155. 54 Quoted in Frances Torlesse, J. H. Bridges and his Family, London 1912, p. 210.
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The Oxford classics course, known as “Greats”, which acted as the training ground for so many colonial civil servants has been treated by historians as a particularly prominent instance of a university curriculum being tailored to an ideal of empire. In particular, historians have commented on the way in which the study of Platonic philosophy, introduced into the undergraduate course by Benjamin Jowett at Balliol, encouraged undergraduates, and particularly, those intended for the Indian Civil Service, to think of themselves as Platonic guardians, an elite, chosen on personal merit, to rule over subject peoples.55 Yet, even within Oxford Greats, counter discourses developed. J. A. Hobson, for example, who read classics at Lincoln College, attributed his anti-imperial attitudes, feelings which he condemned in the passage quoted below as materialistic and narrowly utilitarian, to his classical training at Oxford: The contributions which Plato and Aristotle made to the permanent possessions of the human mind, what to feel and what to think about man’s inner nature and his place in the universe and the methods of testing and achieving knowledge, were of immense service in liberating me from the easy acceptance of current ideas and feelings in an age rightly described as materialistic and narrowly utilitarian.56
Another leading critic of empire who traced much of his scepticism about the imperial project to his “Greats” training was Gilbert Murray, who studied at St John’s College, Oxford before going on to become Regius Professor of Greek. In his book on “Liberalism and the Empire”, published in 1900, Murray compared the practices of forced labour in Rhodesia with those found in ancient Greece. He repeatedly pointed to the fate of Athens, whose people, he wrote, abandoned democracy, became corrupted by love of empire and ultimately declined and fell into desuetude. He warned that Britain too might be overcome by hubris.57 Nor was Murray alone in using classics in this way. Even in the Indian Civil Service examinations themselves, candidates were expected to use their classical training critically to think about the risks and disadvantages of empire as well as the benefits. The examination questions thus reveal a persistent interest in the rebellions, which took place in the Roman Empire, especially in the grievances that lay behind them. In particular, candidates were asked to assess the justness of complaints against Rome and to estimate the level of oppression caused during conquest. In 1911, for example, they were asked to estimate the degree to which the Pictish chief Calgacus was justified in making his famous denouncement of Roman Imperialism: ubi solitudinem faciunt pacem appellant.58 Similar critiques were also to be found among the colleges making up the newly constituted University of London. A number of leading anti-imperialists found long-term positions there in the late nineteenth and early twentieth centuries. Thus
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Phiroze Vasunia, Greek, Latin and the Indian Civil Service, in: The Cambridge Classical Journal 51 (2005), pp. 35–71. 56 John Atkinson Hobson, Confessions of an Economic Heretic, London 1938, p. 36. 57 Gilbert Murray, Liberalism and the Empire. Three Essays, London 1900. 58 English translation: “Where they create a barren wilderness, they call it peace.” See Indian Civil Service Examination Papers (1911), British Library India Office Collections.
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E. H. Beesley, a favourite pupil of Richard Congreve at Wadham, and a leading positivist, served as Professor of History at University College, London, from 1860 to 1893. Leonard Trelawny Hobhouse, a former “Greats” student at Corpus Christi College, Oxford, lectured at London in 1904 on comparative ethics and in 1907 was elected as the first Professor of Sociology at the London School of Economics. This was despite the publication in 1904 of his most sustained attack on imperialism, a book entitled “Democracy and Reaction”. In it, he condemned the notion of liberal imperialism as an empty farce. The central principle of Liberalism is self-government, he proclaimed. The central principle of Imperialism is the subordination of selfgovernment to Empire. The one stands for autonomy and the other for ascendancy.59 It should likewise not be forgotten that the London School of Economics owed its foundation in 1895 to Sidney and Beatrice Webb, leading lights of the Fabian society and profoundly skeptical in their attitude towards the empire. Although they stopped short of outright condemnation, the Society put forward a very different concept of empire, which stressed that the ultimate goal was the independent self-government of the colonies. Their views are illustrated very clearly in George Bernard Shaw’s pamphlet of 1900, “Fabianism and the Empire”, in which he denounced “imperialism” in its popular jingoistic sense as a mere catch-word vaguely denoting our insular self-conceit.60 Similarly important in developing a persuasive anti-imperial critique were a group of British academics gathered around the social evolutionist and town planner Patrick Geddes. He had been one of T. H. Huxley’s pupils at the School of Mines in London and had gone on to study natural sciences at the Sorbonne under Huxley’s friend Henri de Lacaze-Duthiers. A complex character, holding chairs at the Universities of Dundee and Bombay, Geddes not only imbibed Huxley’s cosmopolitanism, he also pioneered the concept of regionalism as an alternative to national and imperial identity.61 In 1903, together with his friend and fellow sociologist Victor Branford, Geddes founded the Sociological Society in London, which was used, in the words of John Scott, as a “vehicle” for Geddes’ ideas, in particular, the concept of regionalism.62 Branford, moreover, actively sought to promote regionalism internationally, corresponding with such eminent figures as Emile Durkheim, Marcel Mauss and Ferdinand Tönnies. In 1913, Geddes founded the International Regional Survey Association and during the First World War preached the importance of regionalism as an antidote to conflict through both his academic writings and peripatetic public exhibitions which he displayed in Britain, Belgium and India. War, he argued, had been the outcome of the machinations of national and imperial governments based in capital cities; regional centres, on the other hand, were dedicated to the peaceful exchange of goods and ideas. Together with Branford, he published a series of
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Leonard Trelawny Hobhouse, Democracy and Reaction, London 1904. George Bernard Shaw, Fabianism and the Empire, London 1900. Helen Meller, Art. “Geddes, Sir Patrick (1854–1932)”, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014). 62 John Scott, Art. “Branford, Victor Verasis (1863–1930)“, in: Oxford Dictionary (Ann. 22), (23. 09. 2014).
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volumes under the title “The Making of the Future”, which set out his vision for a future society based on regional identity.63 Indeed, it is noteworthy, how many of those scholars who developed critiques of imperialism were working in disciplines directly related to the growth of the empire and with most experience of travelling within its boundaries. Such, for example, was Andrew Davidson, a former superintending surgeon in Mauritius, who was appointed as the first Lecturer in Tropical Diseases at the University of Edinburgh. In his “Geographical Pathology”, published in 1892, he warned against further imperial expansion primarily on health grounds. Much of India, he concluded, had a pathology inimical to Europeans and continued emigration of Britons to this and other parts of the empire would only further the physical degeneration of the race.64 Henry Martyn Clark, a medical doctor, trained at Edinburgh and working in Amritsar, launched a similar critique of Britain’s westernizing policy in India on the grounds of its dangerous side effects for public health. In a paper presented to the Royal Scottish Geographical Society in 1893, he condemned, in particular, what he described as this: mania for widening and improving streets, for introducing costly schemes of drainage and water-supply and for approximating Indian towns to the Western ideal [. . .] In the East everything Eastern is not of necessity bad, nor is a thing that is good in the West always suitable in the East [. . .] to supplant old habits by others, acquired under totally different conditions of life – natural[,] social, climatic – is not for the benefit of the people. By removing protecting walls and deflecting angles, we do but lay the city more open to the enemy.65
The Society which was based in Edinburgh and enjoyed close links with the university’s medical community provided a forum for many a critical discussion of empire in the period following its foundation in 1884.66 In a lecture given to the Society in 1897, G. W. Prothero, Professor of Modern History at Edinburgh, gave a gloomy forecast for the future of the empire, whose greatest problem, he argued, was an inability to function effectively across such a great expanse of territory.67 Another speaker, the Edinburgh trained medic and Lecturer in Tropical Diseases and Climatology Robert W. Felkin made the provocative suggestion that the British should take a much greater account of native customs in its government of India. This was particularly so in the case of health policy, he argued, where national self-conceit should play no role. Every medical man owed a duty to science, he declared, to observe with critical, but at the same time with no unfriendly or sarcastic eye, the acquired skill and empirical remedies used by uncivilized races.68
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Meller, “Geddes, Sir Patrick (1854–1932)”, (Ann. 61). Andrew Davidson, Geographical Pathology, Edinburgh 1892. Henry Martyn Clark, Remarks on Malaria and Acclimatisation, in: Scottish Geographical Magazine 9 (1893), pp. 281–302. Morag Bell, Edinburgh and Empire. Geographical Science and Citizenship for a “New” Age, ca. 1900, in: Scottish Geographical Journal 111 (1995), pp. 139–149. George Walter Prothero, The Unity of the Empire. The British Colonial Empire, in: Scottish Geographical Magazine 13 (1897), pp. 308–315. Robert Felkin, Introductory Address to a Course of Lectures on Diseases of the Tropics and Climatology, Edinburgh n. d., p. 16.
Motivation, Identity and Collaboration in the Scholarly Networks of the British Empire 141
CONCLUSION This article has not sought to contest the fact that British scholars and British universities became closely entangled with the language and ideology of empire and imperialism in the nineteenth and early twentieth centuries. This is indisputably true. What it has attempted to reconsider, however, is the effect of this entanglement upon the attitudes and identities of the scholars themselves. It should not simply be assumed that a closer involvement in the networks of empire necessarily led to an identification with its aims. It was suggested at the beginning that an important reason for the popularity of this assumption is the tendency in recent years for global history and cultural history to diverge quite substantially from each other as approaches to understanding the past. Global history, with its reliance upon macro-scale studies and network theory as a key analytical tool, has been arguably less concerned with questions of individual identity and motivation, which provide the focus for much of the work of cultural historians. Similarly, the cultural historical approach has been relatively slow to engage substantively with key questions and concepts developed by global historians, network analysis providing a good example of this. It has, therefore, been an important aim of this article to investigate, through the case study of scholars networking within the British Empire, the relationship between the act of traversing networks, on the one hand, and the self-fashioning of those who traverse them, on the other. While studies adopting a global history approach have tended to assume a fairly straightforward relationship between network participation and identity-construction (in this case – engagement with British imperial networks must translate into identification with empire and its aims), the research presented in this article makes clear that there was in fact a wide variety of responses among the British scholarly community. Certainly, there were many individuals who identified strongly with the imperial project and sought to further its aims through their own work. However, at the same time, there were many others who made regular use of the networks of empire while following aims little if at all connected with imperialism or imperial identity. Rather, their movements and collaborations were dictated primarily by what they perceived as the particular interests of their discipline or field of research. Such motives frequently caused them to operate within the boundaries of the empire, but equally led them to participate in extra-imperial networks if the need arose. More than this, frequent experience of imperial networks and collaboration within the space of empire did not preclude the development of discourses critical of the imperial project; as we have seen, in a number of cases, for groups of scholars and individual researchers, familiarity with the empire, its structures and inhabitants, appears to have bred contempt rather than loyalty. Some, indeed, openly rejected empire, preferring instead to construct both personal and professional identities linked to collaborative relationships and networks operating at alternative geographical scales, above all, the international and the regional.
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Heather Ellis
ABSTRACT By focusing on the example of scholars working and travelling within the British Empire, this essay explores the relationship between the act of traversing networks and the identity construction of those who traverse them. Studies adopting a global history approach have tended to assume that scholarly collaboration between individuals within the Empire had the effect (and often also the aim) of strengthening both imperial ties and the idea of empire itself. An important factor in this argument is the alignment of the spatial domain of the British Empire with the idea or ideology of empire. Following the work of Lambert and Lester, this essay argues that when we consider the Empire in purely spatial terms, decoupled from a necessary connection with imperialism, a much wider variety of responses among British scholars networking within its bounds becomes apparent. In particular, it becomes clear that many examples of scholarly travel, exchange, and collaboration were undertaken with motivations and goals little, if at all, connected with furthering the imperial project. In particular, it argues for the continuing importance of an ideal of scientific internationalism, which stressed the benefits of scholarship for the whole of humanity and prioritized the needs and goals of individual academic and scientific disciplines. Some scholars even went on to develop nuanced critiques of the imperial project while using the structures of the British Empire to further their own individual, disciplinary and institutional goals.
NATIONAL SURVIVAL AND INTERNATIONAL EXPANSION French Universities and the First World War Tomás Irish
The university occupied a central place in the life of the French Third Republic. The French state was built upon the creation of a uniform system of national education which was compulsory, secular, and free. This schooling was intended to create a new generation of republicans, ensuring stability for the regime and the slow erosion of political opposition.1 The university system was the jewel in this crown; the ideas which emanated from centres of French higher education were taken as both the epitome of French national intellectual achievement and underpinned the political philosophy of the state. They were national institutions, intellectual engines of the republic, and closely connected to the dominant political elites. However, the university was simultaneously a national and transnational institution and the First World War would demonstrate this; the survival of universities became a national priority but this could only be effected through greater international connectedness. As such, the war served to further entrench the central place of universities in French national life while both reconfiguring and strengthening international exchange networks. This article will examine how universities were simultaneously national and international actors; the First World War, and the challenges that it posed to international exchange, presented an opportunity for French universities to assert themselves nationally and internationally. Higher education had taken such symbolic importance for the French state by 1914 that educational continuity became an important concern and a symbol of national good health. Universities became sites of national mobilization, symbolic hubs which embodied many of the overlapping themes of the war. However, while French universities remained dominated by Paris and Parisian scholars, their counterparts in the regional universities saw the war as an opportunity to prove their worth to the nation. The irony was that much of the effort required to maintain the university’s vitality and to demonstrate its centrality to national life was sustained by increased international connections, specifically, through the pursuit of non-French students to keep lecture halls populated in wartime. Universities, then, were animated by a multitude of motivations, linking regional, national, and international identities. 1
Carlton J. Hayes, France. A Nation of Patriots, New York 1930, p. 35; Christophe Charle, La république des universitaires 1870–1940, Paris 1994; George Weisz, The Emergence of Modern Universities in France, 1863–1914, Princeton 1983; Antoine Prost, Histoire de l’enseignement en France, 1800–1967, Paris 1968; Fritz Ringer, Fields of Knowledge. French Academic Culture in Comparative Perspective, 1890–1920, Cambridge 1992.
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Tomás Irish
The place of universities in national life was a direct consequence of the political turmoil of the nineteenth century. Universities were disestablished during the Revolution. Napoleonic policy introduced the Grandes Écoles, or specialist training schools, for specific professions.2 The German victory of 1870, widely seen as “the victory of the Prussian schoolmaster”, saw the demise of the Second Empire and the establishment of a new republic. In turn, this prompted an overhaul of national education, intended to create national unity and support for the new state.3 Universities were formally re-established in 1896, meaning that the various faculties – which in the nineteenth century had existed in isolation from one another and tended to concentrate on professional education rather than universal knowledge – were united in their respective cities under the umbrella of a university.4 The republican reform of higher education drew on the achievement of German research universities but, in so doing, sought to counter the well-established narrative of German scholarly superiority.5 The French system was highly centralized and closely monitored by the state and was dominated by Paris, the seat of political and intellectual power. In wartime, this close relationship between political and scholarly elites would take on a new importance, and the symbolic importance of the university at the heart of the republic was reinforced through ceremonials and exchanges. While the educational system was taking on its distinct form under the Third Republic, scholarship was radically changing across Europe and the world in the midto-late nineteenth century. Fuelled by a revolution in technology and communications, by the fin-de-siècle, the world was becoming increasingly united by global interlinkages within which increased mobility was a defining feature.6 Much as the history of nation states cannot fail to take in the wider global interconnections of the period, the same is true of institutions. Multi-polar in origin, these amplified global connections reinforced notions of homogeneity and difference and helped shape collective identities.7 Universities experienced these dramatic changes in a pronounced fashion and became sites where the interplay of nationalism and internationalism was readily apparent. The academic world took on many of its distinguishing features in the halfcentury before 1900, as disciplines were codified, institutions were founded, and
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Weisz, The Emergence of Modern Universities (Ann. 1), pp. 18 f. R. D. Anderson, European Universities from the Enlightenment to 1914, Oxford 2004, pp. 176 f. Weisz, The Emergence of Modern Universities (Ann. 1), pp. 134–161; Theodore Zeldin, Higher Education in France, 1870–1940, in: Journal of Contemporary History 2 (1967), pp. 53–80. Stuart Wallace, War and the Image of Germany. British Academics 1914–1918, Edinburgh 1988, pp. 5 f. Sebastian Conrad, Globalisation and the Nation in Imperial Germany, Cambridge 2010, p. 7; C. A. Bayly, The Birth of the Modern World 1780–1914. Global Connections and Comparisons, Oxford 2004; Akira Iriye, Cultural Internationalism and World Order, Baltimore 1997; Jürgen Osterhammel, The Transformation of the World. A Global History of the Nineteenth Century, Princeton 2014. Emily Rosenberg, Introduction, in: A World Connecting. 1870–1945, ed. by Emily Rosenberg, Cambridge, MA 2012, pp. 3–12, here: p. 9; Christophe Charle, Jürgen Schriewer, and Peter Wagner (eds.), Transnational Intellectual Networks. Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identities, Frankfurt 2004.
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international associations were established. International scholarship benefited from the revolution in communications while retaining its own internal rules even as its networks became increasingly global. Agency emanated from many sources: from individuals, ideas, publications, and institutions.8 All were the lifeblood which animated scholarly networks; these would be both threatened and strengthened in wartime. As such, universities were globally connected actors as well as, in the French case, engines of national unity. Practically speaking, this meant that professors were mobile and travelled to international conferences; knowledge was formed and pooled transnationally; and students travelled to foreign countries to pursue their studies, where, in turn, they represented their nation. For all its claims to epitomize the best intellectual qualities of the nation, the university was a divisive institution in France. The republic had many internal enemies by 1914, and, owing to its close association with the ruling elites, the university did too. The reform of education had privileged scientific education over the traditional emphasis on the classics, and thus traditionalists in society – Catholics, Royalists and many conservatives – attacked the university. The Dreyfus Affair further entrenched the fault-lines between secular, scientific, and Republican university academics and their anti-Republican, Christian, and conservative rivals.9 The dominance of Paris, the centralization of the system, and the traditional prestige of the newly-reformed Sorbonne (the historic institution which became the modern University of Paris), meant that the latter came in for particular vitriol and was subjected to a number of polemical broadsides in the years before 1914.10 This internal hierarchy, too, would be transformed in wartime, with provincial universities seeing it as an opportunity to further assert themselves, narrowing the gap between them and the Sorbonne. This chapter will look at the challenges facing French universities at the outbreak of war in 1914, the use of universities for national and transnational ceremonials in wartime, changes in the movement of foreign students in French higher education, and attempts to create new structures in international higher education by the war’s end. The literary scholar Fernand Baldensperger claimed that in August 1914 no sudden passage [. . .] from ordinary activities to new emergencies was noticeable in the lives of French universities.11 As the French Republic utilized a system of universal conscription, the universities played little role in facilitating the enlistment of students into the army. Men of military age were conscripted and the summertime under-population of university buildings simply continued into autumn. During the first month of the war, university buildings were appropriated by the political and military authorities for other uses, generally as military hospitals. This was the case at the École Normale Supérieure in Paris, and the Universities of Dijon, Besançon, 8 9 10 11
Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network Theory, Oxford 2007, pp. 63–86. Ruth Harris, The Man on Devil’s Island. Alfred Dreyfus and the Affair that Divided France, London 2011, pp. 135–168; Michel Winock, Le siècle des intellectuels, Paris 1997, pp. 11–188. Weisz, The Emergence of Modern Universities (Ann. 1), pp. 341–368. Fernand Baldensperger, French Universities and the War, in: Columbia University Quarterly 21 (1919), no. 1, pp. 51–63, here: p. 51.
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Toulouse, and Clermont-Ferrand. When, with the threat of German invasion, the government fled to Bordeaux in early September, the Ministry of Public Instruction set up its base at the law faculty of the University of Bordeaux, while the Ministry of Finance settled at the faculty of medicine.12 The question of what the universities should do in wartime only became pressing later, in October, as the end of the summer vacation drew closer. By then, the universities of Paris and Nancy had both been threatened as their respective cities faced the possibility of invasion, while Lille had been occupied and its university fell under the surveillance of occupying German forces.13 The German army’s invasion of Belgium in August 1914, and the destruction of the university library at Louvain between 25 and 28 August, placed ideas and universities literally on the front lines. Compounded by the German army’s shelling of Reims cathedral in early September and staunch defences of their actions by German intellectuals – most notably in the infamous “Appeal to the Civilized World” of late September 1914 – the war became a cultural conflict, and scholars in other countries wrote publicly to refute the claims of German scholars. An international cleavage developed between scholars in opposed nations, which centred on the responsibility for the outbreak of war and allegations of atrocities committed by the German army.14 Thereafter, scholarly contacts between belligerents more or less ceased at official and informal levels. By the middle of October, French university administrators began considering how the university might operate in wartime. On 6 October 1914, Louis Liard, vice-rector of the Academy of Paris and thus responsible for all state educational institutions in the region, replied to a letter from the provost of University College London, T. Gregory Foster, who, in an act of allied solidarity which would become common throughout the war, had offered to shelter the staff and students of the University of Paris. Liard responded that quelles que soient les circonstances, l’Université de Paris compte reprendre ses cours à la date ordinaire. La plupart de nos étudiants sont aux armées. Mais pour ceux qui restent [. . .] toutes les facultés s’ouvriront comme si la guerre n’existait pas.15
This idea would become a mantra for French universities in wartime. It was often claimed that higher education must continue; anything less would constitute a form of national defeat. Universities were simply too important to the Third Republic and the “war of ideas” had rendered this even more apparent. The Dean of the Faculty of Letters in Paris, Alfred Croiset, argued that university life was integral to national life: Notre devoir est très clair, c’est celui de tous les français: nous sommes ici pour 12 13
Le gouvernement à Bordeaux, in: Le Temps (07. 09. 1914), p. 2. Report of University of Lille 1914–15 and Report of University of Nancy 1914–15, in: Paris, Archives Nationales (henceforth PAN), AN/F17/13698. 14 Tomás Irish, The University at War 1914–25. Britain, France, and the United States, Basingstoke 2015, pp. 15–38. 15 “Whatever its circumstances may be, the University of Paris intends to begin classes again at the usual date. The majority of our students are in the army. However, for those who remain . . . all the faculties will open as if the war did not exist.” Louis Liard to T. Gregory Foster, 06. 10. 1914, in: PAN, AN/61/AJ/85.
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travailler à défendre la civilisation française.16 The minister for education, Albert Sarraut, also urged the continuation of studies “as if the war did not exist” in October 1914.17 While the intellectual and political elites of Paris tended to draw most attention, this idea was also forcefully expressed at the provincial universities. At the University of Dijon, the economist and historian Henri Hauser wrote that la vie de notre Université, comme celle de toutes les Universités françaises, comme celle de la nation française elle-même, a été absorbe tout entière, en 1915 –, par un seul fait, par une seule pensée : la guerre.18 Hauser argued that « La vie universitaire continue » ;– telle est la formule dont nous nous sommes inspirés. Ce faisant, nous croyons avoir contribué à maintenir, pour notre humble part, la continuité de la vie nationale.19 At the University of Montpellier, Professor Mairet noted of the continuation of university life: rien de plus logique, rien de plus conforme aux intérêts généraux de la nation.20 Jules Welsch, dean of the Faculty of Sciences at the University of Poitiers, noted that la reprise du travail professionnel était une condition de la reprise d’une vie aussi normale que possible dans la situation tragique.21 Joseph Anglade of the University of Toulouse argued that not reopening in 1914 was not an option: [A]près une période tragique de notre histoire nationale, les hommes qui avaient traversé la tourmente révolutionnaire ne purent que dire: « Nous avons vécu. » Nous pourrons dire mieux à nos étudiants et a nos collègues, au moment de leur retour: « Nous avons travaillé ».22
CHALLENGES Notre Université, comme toutes ses sœurs de France, est divisée depuis le mois d’août 1914, en deux parties inégales: une qui est allée au front, l’autre qui est restée à l’arrière. Et si dans la
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“Our work is very clear, and is the same as all French people. We are here to work at defending French civilization.” Speech of Alfred Croiset, 05. 11. 1914, in: PAN, AN/AJ/16/4752. Elisabeth Fordham, The University of Paris during the First World War. Some Paradoxes, in: Kollegen, Kommilitonen, Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg, ed. by Trude Maurer, Stuttgart 2006, pp. 91–106, here: p. 97. “Our university life, like that of all French universities, like that of the French nation itself, is consumed by one fact, by one solitary thought: war.” Report of University of Dijon, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 1. “‘University life goes on’ – this is the phrase that inspires us all. In so doing, we believe that we are contributing, in our humble way, to the upkeep of national life.” Report of University of Dijon, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 9. “Nothing is more logical; nothing more corresponds to the general interests of the nation.” Report of University of Montpellier, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 16. “Restarting professional work was central to the resumption of as normal a life as possible in the current tragic situation.” Report of University of Poitiers, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 1. “After a tragic period of our national history, the men who will have encountered this revolutionary torment can only say “we lived”. We will be able to say to our students and colleagues, at the moment of their return that “we worked”.” Report of University of Toulouse, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 3.
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Tomás Irish seconde, surtout par l’effet de l’âge et suivant le cours fatal des choses, nos pertes cette année-ci ont été nombreuses, sur le front elles sont encore infiniment plus affligeantes et plus profondes.23
The idea that university life would continue as if the war did not exist was wishful thinking. War was omnipresent, and quickly trickled down to impact all facets of national life. As such, it was important that university life continued because the war existed, as an affirmation of the invaded republic’s political and intellectual integrity following the invocation of the “union sacrée” by President Raymond Poincaré in August 1914, an act which temporarily ended political divisions in France for the duration of the war.24 Continuity as if the war did not exist would prove profoundly challenging on a basic level. Conscription meant that students and staff were mobilized en masse in many institutions and thus continuing as if the war did not exist was impossible. The total number of students in French universities fell by three quarters for the period of the war.25 The pre-war population of the Sorbonne had been around 19 000 students. By the summer of 1915 it was 4 000, a figure which remained stable for the rest of the war. The École Normale Supérieure had 211 men enrolled when war broke out but only twenty remained by March 1915.26 In Dijon, Hauser noted that Tous nos jeunes hommes valides ont quittés [. . .] nos salles de cours se sont vidées. Specifically, enrolments in the law faculty fell from 1 099 in 1913–14 to 359 in 1914–15. Mobilization also greatly diminished the number of teaching personnel.27 In the first year of the war, the University of Montpellier was operating at one third of its normal strength, with enrolments down from 1 553 to 561. However, while this was a significant diminution of numbers, to Mairet it justified the decision to keep the university open.28 Temporary appointments only solved certain problems. The relative absence of students – and their tuition fees – had severe financial implications. The University of Paris was forced to cut expenditure on ceremonials, leave unoccupied chairs empty, and trim research funds in order to make ends meet.29 Similar cuts continued throughout the war, a palpable reminder of the difficulty of ensuring continuity in wartime. In February 1915, the education minister Albert Sarraut decided to cancel the “concours”, or entry examination, for the École Normale Supérieure, arguing that to run the “concours” in 1915 would be unfair to those on active service who
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“Our university, like all of its sisters in France, is divided, since August 1914, into two unequal parts: one which went to the front and the other which remained in the rear. And if in the second, due to the effects of old age and the unfortunate course of events, our losses have been many, at the front they have been infinitely more distressing and more profound.” Report of University of Bordeaux, 1916–17, in: PAN, AN/F17/13698, p. 1. Leonard Smith, Stéphane Audoin-Rouzeau and Annette Becker, France and the Great War 1914–1918, Cambridge 2003, pp. 27–30. Baldensperger, French Universities and the War (Ann. 11), p. 53. Fordham, The University of Paris (Ann. 17), pp. 93 f. “All of our eligible young men have left us . . . our classrooms have emptied.” Report on the University of Dijon, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 13. Report on the University of Montpellier for 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 17. University of Paris, budget for 1915, in: PAN, AN/AJ/16/2589.
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would be unable to sit the exam.30 The cancellation meant that no new promotion of students would enter for the year 1915. This was far from the mantra of continuity “as if the war did not exist”, especially at the elite and elitist École Normale Supérieure which provided many of France’s political and academic leaders. The “concours” ran again in 1916, with the new Education Minister, Paul Painlevé noting the importance of this measure as a means d’assurer la continuation de la vie intellectuelle du pays.31
NATIONAL AND TRANSNATIONAL CEREMONIALS The continuity of university life – as well as the institution’s centrality to national life – was underlined by its use in high profile ceremonials. This tapped into the idea that universities were intellectual representatives of the republic at war and was given added pertinence by the idea that the war was a cultural conflict. The university was important as a site for ceremonials owing to its national and international symbolism. This became more pronounced as the war developed. From 1916, the war, which had hitherto been seen as a conflict of nations and empires, began to be conducted and understood as an allied conflict, with greater cooperation between allied nations in the political, military, and economic organization of the war.32 The university, with its claims to embody national perseverance and intellect allied to its unique transnational interconnectedness, became a key site for cultural ceremonials that sought to articulate alliance. In Paris, the Sorbonne was used as a venue for events that were not only academic, but were of national and international political importance, reflecting the hierarchical and centralized structures of French higher education. These ceremonials were organized and attended by both politicians and professors. There was a great deal of significance in the choice of the Sorbonne as the venue. This was connected, on the one hand, to the centrality of higher education in the republican self-image, but also, on the other hand, to the sense that higher education was sacrificing more to the patrie than other institutions. It was invested in the prosecution of the war on a material, scientific, and cultural level. On a human level, the losses sustained by university students and graduates, who were generally mobilized as junior officers, were much higher than amongst other sectors of society. This was especially pronounced for the intellectual elites of the École Normale Supérieure, part of the University of Paris.33 In January 1916, a ceremony was held in the Sorbonne’s grand amphithéâtre to celebrate the alliance between France and Serbia. It was attended by dignitaries from France, Serbia and Belgium.34 In March of 1916, a ceremony at the same venue 30 31
Circular of Albert Sarraut, 17. 02. 1915, in: PAN, AN/AJ/16/2877. “To ensure the intellectual life of the country.” Circular of Paul Painlevé, 21. 01. 1916, in: PAN, AN/AJ/16/2877. 32 Irish, The University at War (Ann. 14), pp. 83–106. 33 Tomás Irish, Fractured Families. Educated Elites in Britain and France and the Challenge of the Great War, in: Historical Journal 57 (2014), no. 2, pp. 509–530. 34 À la Sorbonne. Hommage à la Serbie, in: Le Figaro (28. 01. 1916), p. 3.
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celebrated the Franco-Belgian alliance, attended by Belgian politicians as well as President Raymond Poincaré.35 This was also the format for two ceremonies held in honour of the Franco-Italian alliance in November 1916 and July 1917.36 In January 1917, a public ceremony was again held in the grand amphithéâtre which celebrated the contribution of French women to the war effort.37 Finally, in December 1918, the President of the United States of America, Woodrow Wilson, was given an honorary degree by the University of Paris, an event which garnered much publicity and symbolized the new relationship between the USA and France.38 At the same time, the provincial universities also became sites for similar but smaller ceremonials. The Ministry of Public instruction ordered that all universities celebrate “Serbia Day” in 1915, and this was duly held on 26 March 1915 to ensure that the first victims of the war were not forgotten.39 In spring 1918, the University of Dijon held a major celebration to commemorate the forty-seventh anniversary of the protest of some of the inhabitants of Alsace and Lorraine against their annexation in 1871.40 Ceremonials emphasizing alliance with Britain were fewer, reflecting the historical and political differences between the two nations and their difficulties in articulating a clear sense of cultural alliance. However, the tercentenary of the death of William Shakespeare, a major event in Britain, was celebrated at the Universities of Bordeaux, Clermont-Ferrand, and Poitiers in 1916.41 Ceremonials at the provincial universities tended to come into their own when it concerned scholarly connections with the United States and their manifestation reflected the transnational connectedness of the university in the period as well as myriad personal and institutional motivations. While the outbreak of war in 1914 ruptured the academic world, many transnational connections remained. FrancoAmerican university exchanges, set up by ambitious American universities before the war, continued to operate in wartime. These were high-profile professorial exchanges, most often between American east coast universities and the education ministries of France, Germany, and Austria-Hungary.42 One of the most significant was the Harvard Foundation, established before the war by Harvard University and privately funded, which sponsored American scholars who were already overseas to lecture at French provincial universities.43 Bearing the name of that university, the
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La Manifestation franco-belge à la Sorbonne, in: Le Figaro (12. 03. 1916), p. 2. Manifestation franco-italienne à la Sorbonne, in: Le Figaro (19. 11. 1916), p. 3; Une Manifestation franco-italienne a la Sorbonne, in: Le Figaro, (17. 07. 1917), p. 3. Au matinées nationales de la Sorbonne, in: Le Figaro (22. 01. 1917), p. 3. En Sorbonne. Président Wilson, juriste et historien, in: Le Figaro (22. 12. 1918), p. 1; on Wilson see John Milton Cooper, Woodrow Wilson. A Biography, New York 2009; Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007, pp. 15–34. Report on University of Bordeaux for 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, pp. 8 f. Report on University of Dijon for 1917–18, in: PAN, AN/F17/13698, p. 15. Report on University of Clermont-Ferrand for 1915–16, in: PAN, AN/F17/13698, p. 12; Report on University of Bordeaux for 1915–16, in: PAN, AN/F17/13698, pp. 15 f. Irish, The University at War (Ann. 14), pp. 84–87. Unsigned letter, 28. 03. 1913, in: Cambridge, MA„ Harvard University Archives (hencefort CHUA), UAI.5.160, Box 17, Folder 486.
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lecture tours undertaken by these men brought much institutional prestige to Harvard. In wartime, the Harvard Foundation was appropriated by the French government and utilized by the National Office for Universities to act as the focal point for new university-based ceremonials emphasizing Franco-American alliance which became a reality when America entered the war in 1917. The Harvard philosopher James Woods was in France as the Harvard Foundation lecturer for 1915. He stayed on until 1918 as the official Harvard exchange professor to the Sorbonne, while also undertaking a number of lecturing tours of French provincial universities. Woods noted that in general, his lectures to the provincial universities were followed by a series of patriotic manifestations, adding that the Préfet and the General commanding the divisions were usually present at the conference or the dinner. Several times the mayor met me at the station. I addressed two big schools. The scholars marched under our colours.44
The University of Clérmont-Ferrand’s annual report for 1917–18 recalled how, on 3 March 1918, Woods spoke at the largest theatre in the university, which was specially decked out in French and American flags for the occasion.45 Jesse Benedict Carter, the Harvard Foundation lecturer for 1917, had a similar experience. On what was ostensibly a university lecture tour in spring 1917, just before the American entry into the war, he spoke to an average of 500 people, in a tour that took him to Caen, Rouen, Nancy, Besançon, Dijon, Lyon, Grenoble, Marseille, and Paris. At Grenoble on 19 March he addressed 1 200 people. Frequently, his lectures, billed as university events, were moved from the university to the Hôtel de Ville. At Rouen he noted that all the notables of the town were present, while at Nancy his lecture was made the occasion for a Franco-American fete. Altogether, Carter estimated that he had addressed 6 000 people, and noted that at a number of venues would-be attendees were turned away.46 Through this process the provincial universities organized large events which put the university, its war experience and international connectedness in a central position. While these events did not garner the same national attention as those in Paris, they were intended to complement them. However, in their respective contexts, these ceremonials were significant, and emphasized that the French university and French intellectual life were alive and well, despite the war. In this way, transnational exchange was a further expression of institutional and national wellbeing, and it was important that this was expressed at all universities, not just in Paris.
FOREIGN STUDENTS The most important means of ensuring institutional vitality was through the recruitment of foreign students and staff to replace their mobilized French counterparts. 44 45 46
James Woods to Abbot Lawrence Lowell, 06. 05. 1917, in: CHUA, UAI.5.160, Box 81, Folder 944. Report of the University of Clermont-Ferrand for 1917–18, in: PAN, AN/F17/13698. Carter to Lowell, 09. 04. 1917, in: CHUA, UAI.5.160, Box 86, Folder 1206.
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As early as the first year of the war, universities struggled to persist in their normal peacetime function. The mobilization of teaching staff presented a greater problem than the disappearance of students; it meant that certain courses could not be taught and universities had to improvise. At the University of Bordeaux, Professor Wilmotte, from the University of Liège, was appointed to teach for the duration of the war.47 Professor Doutrepont, from the University of Louvain, lectured at Dijon in 1914.48 The presence of Belgian professors was more than symbolic; it was practical. At the University of Poitiers, the teaching of certain courses was only possible due to the contribution of refugee Belgian scholars.49 All of these Belgian scholars had to flee their home institutions following the German invasion; sheltering them was a means of showing solidarity with the wider war effort and demonstrating that the scholarly values of Belgium, France, and other allied nations were similar, in contrast to those exhibited by Germany. On 26 October 1914, the University of Paris passed a resolution allowing for students who had been enrolled in one of Belgium’s four universities (none of which would be opening for the academic year) to do so in Paris and make full use of the library facilities there, but few students arrived in significant numbers.50 While the policy with respect to Belgian staff and students was essentially a once-off improvisation and a consequence of the circumstances surrounding the outbreak of war, more long-term policies followed later in the conflict. The war fundamentally changed traditional flows of foreign students, as Table 1 for the University of Paris demonstrates. The experiences of the Sorbonne, at the head of the national system of universities, show how a previously healthy relationship with German and Austrian universities ended with the outbreak of war, while an even healthier relationship with Russia – traditionally the largest group of foreign students in French universities – was eroded with the logistical problems presented by the outbreak of war and compounded by the Russian revolutions of 1917.51 A close examination of student figures shows how the pre-war academic world was reshaped by war experience; international student figures demonstrate how alliance, invoked in ceremonials, was also informing student movements. While some of the changes visible at the Sorbonne were an unforeseen consequence of the breakdown of international exchange mechanisms on the outbreak of war, foreign student enrolments became increasingly state-planned as the war progressed. In 1916, the French government built on the Sorbonne’s example in 1914, introducing a new policy to bring displaced students from invaded regions to France. This meant that students from Belgium, Serbia, Montenegro, and parts of northern France would be welcomed to French universities where their fees would be waived.52 While, on the one hand, it could be presented as an act of charity towards 47 48 49 50 51 52
Bulletin du comité de patronage des étudiants étrangers de l’université de Bordeaux, Bordeaux 1915, p. 6. Report on the University of Dijon, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 12. Report on the University of Poities, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, pp. 69 f. University of Paris, Council meeting of 26. 10. 1914, in: PAN, AN/AJ/16/2589, p. 335. Weisz, The Emergence of Modern Universities (Ann. 1), p. 261. Report of the University of Paris for 1915–16, in: PAN, AN/F17/13698, p. 12.
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Austria Belgium Britain Germany Russia Serbia USA Other TOTAL
1912–13 58 3 93 132 507 2 74 243 1 112
1913–14 50 0 126 127 530 0 64 309 1 206
1914–15 0 4 41 0 185 4 9 32 175
1915–16 0 2 22 0 85 14 8 23 234
1916–17 2 6 21 0 71 40 0 57 197
1917–18 0 5 16 0 45 66 7 74 213
Table 1: Origin of Foreign Students enrolled in Faculté des Lettres, Paris, 1912/3 to 1920/21. Source: PAN, AN/AJ/16/4752.
Belgium Britain Russia Serbia USA Other TOTAL
1914–15 3 2 2 0 0 9 16
1915–16 0 2 0 0 0 3 5
1916–17 0 0 18 0 0 7 25
1917–18 1 0 0 64 0 10 75
Table 2: Origin of Foreign Students enrolled at University of Caen, 1914–1918. Source: PAN, AN/F17/13698.
fellow allies and “academic” victims of the war, on the other hand, this policy was a pragmatic attempt to fill up French university classrooms. This was especially pronounced in the provincial universities, many of which traditionally drew from a French, rather than from a cosmopolitan, student body. The French and Serbian governments worked closely to bring Serbian students to France, with the latter regulating student enrolments. By the war’s end, there were 1 200 Serbian students in France, a significant change in student flows when compared with the pre-war period.53 Complete data on foreign students are only available for the universities of Caen, Bordeaux, and Lyon, and are detailed in Tables 2–4. While these were not the only universities to experience an upsurge in enrolment of Serbian students by 1918, their experiences were illustrative of wider trends. In each of the examples shown in the table, there was a marked rise in the number of students from Serbia studying at French universities. This was not limited to the universities of Bordeaux, Lyon, or Caen. The rector of the University of Poitiers took a personal role in finding accommodation for the 49 Serbian students who enrolled there in 1916–17. In the course of the year the university was visited by the rector of the University of Belgrade and the Serbian minister of education with expressing the wish that this new connection would become permanent once the war
53
Andrej Mitrovic, Serbia’s Great War, London 2007, pp. 170–173.
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Belgium Britain Russia Serbia USA Other TOTAL
1914–15 3 1 22 0 0 21 28
1915–16 0 2 19 11 1 47 80
1916–17 0 1 11 81 0 63 156
1917–18 0 3 8 136 2 46 195
Table 3: Origin of Foreign Students at the University of Bordeaux, 1914–1918. Source: PAN, AN/F17/13698.
Belgium Britain Russia Serbia USA Other TOTAL
1914–15 2 2 14 6 0 61 85
1916–17 2 0 6 40 0 67 115
1917–18 2 0 9 166 0 81 258
Table 4: Origin of Foreign Students at the University of Lyon, 1914–1918. Data are not available for the academic year 1915–16. Source: PAN, AN/F17/13698.
ended.54 The University of Dijon passed a doctoral thesis written by Pierre Chotch, the Montenegran Minister of Education, in 1916.55 However, despite the ceremonial value of attracting students from a fellow ally, new problems emerged. The University of Dijon noted the presence of 18 Serbian students in the Law Faculty in 1917, remarking that they were très peu familiarisés avec notre langue, qu’ils n’éntendent et ne manient qu’avec la plus grande difficulté, n’ont pu parvenir à s’assimiler les enseignements d’une façon suffisante pour affronter les épreuves de fin d’année.56 The University of Grenoble had to organize special courses to facilitate the presence of Serbian students there, showing their desire to have the visiting students do well as possible in the circumstances.57 While the University of Montpellier praised the diligence of its coterie of Serbian students it also criticized them for sticking together and making little effort to learn French. However, owing to the presence of over a hundred Serbian students in Montpellier, the overall student population had risen considerably by 1917 when compared to its 1915–16 figure.58 The University of Clermont-Ferrand reported that the significant numbers of foreign students was unprecedented in its history.59 While the 54 55 56 57 58 59
Report of the University of Poitiers, 1916–17, in: PAN, AN/F17/13698, p. 8. Report of the University of Dijon, 1916–17, in: PAN, AN/F17/13698, p. 17. “Unfamiliar with our language and could only handle it with the greatest difficulty, and were unable to reach a sufficient standard to face the annual end of year exams.” Ibid., p. 15. Report of University of Grenoble for 1916–17, in: PAN, AN/F17/13698, p. 2. Report of University of Montpellier, 1916–17, in: PAN, AN/F17/13698, p. 7. Report of University of Clermont-Ferrand, 1916–17, in: PAN, AN/F17/13698, p. 28.
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Figure 1: Foreign students at Selected French Universities as a percentage of 1914 totals. Source: PAN, AN/F17/13698. Figures unavailable for Lyon 1915–16.
presence of large numbers of foreign students superficially restored vitality to the otherwise emptied classrooms and lecture halls, it still did not arrest one of the main problems facing universities: financial losses. The report of the University of Lyon for 1916–17 noted this clearly; waiving the fees of foreign students, their use of university facilities, and the ceremonials which were often staged around their arrival were all additional costs which the university simply could not afford in wartime, irrespective of their superficial value.60 The numbers and composition of foreign students coming into French universities changed during the war. Figure 1 shows how this was especially pronounced at the provincial universities; the war went a long way towards making their populations significantly more international. Conversely, the University of Paris, generally more cosmopolitan in its population and not as severely depleted in wartime, remained more or less stable, although the composition of its foreign student body changed.
STRUCTURING CHANGE The confluence of university-based ceremonial and the influx of foreign students into French universities were important for other reasons, specifically where it concerned Franco-American interactions. These allowed the French state and American institutions to further their political and intellectual reach; for French universities, it tapped into older plans to attract more foreign students. As early as 1915, the University of Paris discussed ways in which more foreign students, especially Americans, could 60
Report of University of Lyon, 1916–17, in: PAN, AN/F17/13698, p. 2.
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be encouraged to study there. Traditionally, Germany attracted the bulk of American students, but the war presented a new opportunity.61 This also became a priority of the National Office of French Universities and Schools.62 The wartime context gave this project extra impetus, as attracting more foreign students, and in particular, Americans, could bring more money into depleted wartime university coffers, suffering from the absence of student tuition fees, during and after the war. By 1917, the internationalization of French universities was seen as not merely a wartime contingency, but part of longer-term plans to build French higher education. In May 1917, the scientist Louis Houllevigue argued that where other countries exported corn, iron, and coal, France exported ideas – ,and needed to exploit this fact. Foreign student numbers had grown by two hundred per cent in the decade before 1914 but half of these had been Russians – a cultural inflection of the Franco-Russian alliance of 1894 – but a new policy was required in light of the changing geopolitical situation following the revolution there. Houllevigue also noted that, according to 1914’s figures, there was a sharp distinction between universities which took foreign students in great numbers (Paris, Grenoble, Toulouse, Nancy and Montpellier) and the remainder that did not.63 French universities should, Houllevigue argued, exploit wartime sympathy for their cause to attract more students from abroad. However, this would require structural changes, tailoring courses to the aptitudes of foreign students and resolving the problem of degree equivalencies between French universities and those in other countries. The question of structural reform as a means of attracting more foreign students was discussed at the universities of Paris, Montpellier, Dijon, Lyon and Bordeaux in this period and many changes were made in the following years to address these issues, removing some of the immediate obstacles to foreign students coming to France. At the University of Paris, introductory courses in French civilization were introduced to ease the passage of foreign students into French academic life, whilst new certificates of advanced study were created giving foreign students credits for time spent at French universities.64 A special course in French civilization was also created at the University of Clermont-Ferrand which furnished students with a certificate on completion; while this looked forward to an influx of foreign students after the war, it was a direct consequence of complaints made by Serbian students feeling they were insufficiently prepared for their examinations under existing conditions.65 Curricula were also changing as a consequence of wartime alliance. The virulent anti-German rhetoric of the war years had a negative impact upon the teaching of
61
62 63 64 65
Carol S. Gruber, Mars and Minerva. World War One and the Higher Learning in America, Baton Rouge 1975, pp. 17–34; Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, MA 1998, pp. 84–89; Whitney Walton, Internationalism, National Identities, and Study Abroad. France and the United States, 1890–1970, Stanford 2010, pp. 12–14, 17–21. Martha Hanna, French Women and American Men. “Foreign” Students at the University of Paris, 1915–1925, in: French Historical Studies 22 (1999), no. 1, pp. 87–112, here: pp. 87 f. Louis Houllevigue, Les étudiants étrangers dans nos universités, in: Revue de Paris (15. 05. 1917), p. 365. Hanna, French Women and American Men (Ann. 62), p. 89. Report of University of Clermont-Ferrand, 1917–18, in: PAN, AN/F17/13698, pp. 4 f.
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that language: The University of Dijon reported in 1918 that its students had been indifferent to the teaching of German.66 Similarly, at the University of Aix-Marseille, courses in Hellenic civilization were substituted for those in German culture.67 In 1915, the University of Clermont-Ferrand organized classes in Russian for the first time, and looked forward to building links with Slav universities.68 In February 1916 the University of Paris announced that a series of lectures on Slav civilization would be held over the following two months, a direct response to the opening of the School of Slavonic Studies at King’s College London. Ernest Denis, the historian and expert in Balkan history, explained that si profonde et sincère que soient leurs sympathies pour l’Angleterre, cést toujours dans la France que les slaves voient et continueront a voir leur second partie intellectuelle.69 Whilst an “Institute of Slavonic Studies” would be formally established in 1919 by Denis and with the co-operation of the Czechoslovak and Yugoslav governments, by June 1916 the term “Institut d’Études Slaves” was already being used and being spoken of as an active body for organizing lectures at the Sorbonne.70 At the same time as lectures in Slavic culture were being organized, the Faculty of Letters at the University of Paris created a degree in Russian, while the national Higher Council for Education discussed proposals to give Russian a central place in Modern Languages syllabi in June 1916.71 The Franco-American alliance was also embodied in changes to curricula. In 1918, the Ministry of Public Instruction established a chair in American Civilization at the Sorbonne. Charles Cestre, who had lectured at Harvard in 1917–18, was the first chair holder, and the position was complemented by the creation of an American library.72 At the same time, a course in American Literature was established at the University of Lyon.73 Cumulatively, these changes demonstrated how the wider geopolitical changes of wartime were experienced by universities. This was of value not only in a rhetorical sense, but had a tangible impact upon curricula and structures for student admissions, and both the Parisian elites and the provincial universities pursued these policies. The latter felt that their wartime service gave them an opportunity to prove themselves against the dominance of the capital, validating their place in national life. P. Boissanade, writing on behalf of the University of Poitiers in 1916, claimed that the university had demonstrated its powers of resistance, noting how far it had come since the re-establishment of universities in 1896.74 Henri Hauser made a similar case about the University of Dijon, stating that 66 67 68 69
70 71 72 73 74
Report of University of Dijon, 1917–18, in: PAN, AN/F17/13698. Report of University of Aix-Marseille, 1915–16, in: PAN, AN/F17/13698, p. 12. Report of University of Clermont-Ferrand, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 15. “However profound and sincere their feelings towards England, it has always been in France that the Slavs saw and continue to see their second intellectual patrie.” University of Paris, Council meeting, 07. 02. 1916, in: PAN, AN/AJ/16/2589. University of Paris, Council meeting, 24. 06. 1916, in: PAN, AN/AJ/2590. Meeting of 29. 06. 1916, in: PAN, AN/F17/13646. Jules Prudhommeaux, report on donation to the Sorbonne, in: New York, Columbia University Rare Book and Manuscript Library, CEIP Centre Européen, Box 27, Folder 1. Report of University of Lyon, 1917–1918, in: PAN, AN/F17/13698, p. 45. Report of University of Poitiers, 1915–16, in: PAN, AN/F17/13698, p. 3.
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Tomás Irish les sceptiques pouvaient se demander, avant la guerre, jusqu’à quel point nos Universités étaient viables, à quelle profondeur elles étaient enracines au sol de nos vieilles provinces. Après l’épreuve, la question ne se pose plus. La cause de nos Universités, de celle de Dijon en particulier, est désormais gagnée.75
A new opportunity to further entrench wartime alliances appeared in late 1918. Military engagements had ceased in November 1918 but thousands of American ex-servicemen remained in France until the peace was signed in the summer of 1919. This provided an opportunity for French universities to begin making good on their wartime desires to attract more American students; they had a captive audience in the immediate aftermath of the war. In the spring of 1918, the National Office of School and Universities proposed that French universities should try to take on American ex-servicemen during the period of demobilization. The University of Dijon discussed the proposal and was favourably disposed towards it although fearing that any discussion should take place after the war, but noting that it would permit France’s American allies to learn more of French culture with which they hitherto seemed to be unfamiliar.76 In other words, it would ultimately strengthen knowledge of France beyond national borders. Speaking in October 1918, Charles Cestre feared that that the Sorbonne was behind the provincial universities in accommodating American soldiers. He suggested placing advertisements in the press to see if local families would be willing to give lodgings to the Americans, as provincial universities had done.77 He also argued that an introductory course was required to familiarize American students with French university life and the French language. The Sorbonne was exceptional in offering students classes in English as there were professors with the requisite language skills to make this viable. In the provincial universities, the custom was to try and teach the American students as much French as was possible in the short period of time.78 With the end of hostilities, French university populations quickly reached prewar levels again. However, the situation in 1919 and 1920 was not comparable to that of 1914, in the main due to the presence of large numbers of demobilized American students. This was the result of work undertaken by the French National Office of Schools and Universities in conjunction with the American University Union (AUU). The AUU was founded in June 1917 in New York to cater to needs of mobilized American students.79 Many American universities had set up bureaus in Europe for their mobilized students, and the AUU coordinated these under the umbrella of one body, aspiring to recreate something of their specific institutional life in foreign climes.80 It acquired premises in Paris which were furnished with 75
76 77 78 79 80
“Before the war, the sceptics used to ask just how far our universities were viable, how deeply rooted they were in the soil of our historic provinces. With the test of the war, the question is no longer asked. The cause of our universities, and particularly that of Dijon, is henceforth won.” Report of University of Dijon, 1914–15, in: PAN, AN/F17/13698, p. 2. Report of University of Dijon, 1917–18, in: PAN, AN/F17/13698, pp. 26 f. Report on demobilized American students, in: PAN, AN/AJ/16/4752, p. 1. Robert J. Menner, American Soldiers in French Universities, in: Sewanee Review 28 (1920), no. 1, pp. 19–30, here: pp. 20 f. Livret de létudiant. Université de Paris 1920–1921, Paris 1920, p. 238. A. O. Eimer, The Columbia War Service Bureau, in: Columbia Alumni News (11. 01. 1918), p. 350.
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living quarters for students passing through and a library where they could study. The AUU was intended as a home away from home for college men. When the war ended, the AUU’s administrators began considering ways in which the body could establish itself on a permanent and useful footing.81 Horatio Krans, the director of the Paris centre, felt that it could be a hub for all kinds of information about French educational opportunities.82 As such, the AUU redefined itself as a liaison between the educational institutions of the United States, Britain, and France. With a base already established in Paris and connections to over 140 American institutions of higher education, the AUU arranged for the matriculation of demobilized American student soldiers in European universities in 1919 and 1920.83 By April 1919, a great influx of American students had enrolled in British and French universities. Almost 6 000 enrolled at French universities, of which 2 000 studied at the Sorbonne.84 American students availing themselves of this scheme had to be in possession of bachelor’s degrees; their period in European universities could then lead to master’s degrees. The Americans were a new and foreign presence who changed the character of these older institutions. For their part, American students found the experience of study abroad to be foreign to what they knew at home. The novelist John dos Passos was underwhelmed by his experience at the Sorbonne which he described as a large monumental place that has up to the [time of] writing given me no other impression but that of massy dullness.85 Another American student, Robert J. Menner, was struck by the lack of societal life in French universities. There were no dormitories, no clubs, no magazines, no newspapers, no athletic contests. Menner was disappointed to learn that French universities were institutions of learning and nothing else.86 Jules Payot, the rector of the University of Aix-Marseille, wrote that the time spent by American students in Aix-Marseille allowed them to see the true France, not that which was portrayed in the popular media.87 Cumulatively, the presence of large numbers of American students in French universities in 1919 and 1920 demonstrated that the universities – custodians of national ideals and values – were alive and well, their energy bolstered by the presence of students from a fellow ally.
CONCLUSION The experience of wartime was a transitory one. For all the talk of French educationalists of the desirability of attracting more foreign students – especially Americans – 81 82 83 84 85
86 87
Letter of Anson Phelps Stokes, 28. 03. 1919, in: New York, Columbia University Archives, WWI, Box 3, Folder 2. Krans to Tyson, 14. 01. 1919, in: New York, Columbia University Archives, WWI, Box 3, Folder 8. Helping American Students Abroad, in: New York Times (12. 06. 1921). Celestin Bouglé, L’université Franco-américaine, in: Revue de Paris (15. 06. 1919), p. 757. Dos Passos to Poore, 06. 03. 1919, and Dos Passos to Rumsey Marvin, 17. 03. 1919, in: The Fourteenth Chronicle. Letters and Diaries of John Dos Passos, ed. by Townsend Ludington, London 1974, pp. 243 f. Menner, American Soldiers in French Universities (Ann. 78), pp. 22 f. Le Thym, Aix 1919, p. 5.
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after the war, progress was slow once the demobilized students began to leave again in 1920 and 1921. The war had created an unusual context where Germany, traditionally the hub for foreign students and seen as the pre-eminent scholarly nation, was cut out of the international community of scholarship for the wartime stance of its professoriate. Moreover, the presence of relatively vast numbers of displaced students in Europe meant that France could exploit this context to attract Belgian, Serbian, and American students to its universities. This caused a change in the demographics of most French universities, and was especially pronounced at some of the provincial institutions which traditionally had mostly French populations. By taking in many foreign students, university administrators and professors felt that they were accomplishing a number of important goals. Foremost amongst these was continuity in wartime which was integral to the university’s identity in peace and war and its place as the jewel in the crown of the republic’s system of education. However, it was deeply ironic that to further demonstrate their position at the heart of the nation’s spiritual and intellectual life, they had to engage in greater international cooperation. This became less problematic later in the war when the conflict became redefined as an inter-allied one; thus, the celebration of alliance, either through university-based ceremonials or through the recruitment of American students, was congruent with France’s place at the heart of a historic alliance of the world’s two oldest republics. Paris continued to dominate. The big events – such as Wilson’s honorary degree of 1918 – took place at the Sorbonne. Moreover, the achievements of the capital’s elites continued to dominate national discourses. However, provincial universities felt that their war experience – in its transnational dimension – validated them in the eyes of the nation; continuity, ceremonials, and the projection of a healthy image of French intellectual life was an important part of this. The internationalization of these institutions was especially important as it allowed them to continue their work in wartime to a far greater degree than their counterparts in Paris. As the 1920s developed, internationalism began to regain its pre-war vitality, and universities were central players in this process. While Germany was initially frozen out of international scholarly exchange, this was a temporary phenomenon, and began to be challenged by the activities of individuals and institutions from the beginning of that decade. This meant that the strategic advantage presented by the war for French universities disappeared. In 1923, the University of Delaware pioneered summer schools for foreign students as a precursor to spending a year at a foreign university. The first group of these students came from Delaware in the summer of 1923, undertook a summer course in Nancy, before transferring to Paris for the regular academic year. The scheme was a success and it was estimated that between four and five hundred Americans enrolled in the Sorbonne’s summer course by the mid-1920s. However, such was its success that it was soon imitated by other countries, including Germany, meaning that any French desires to monopolize international student exchanges were unrealistic.88
88
Hanna, French Women and American Men (Ann. 62), pp. 101–103.
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The ruptures of wartime changed transnational flows of students. It became clear that housing students from certain nations was strategically important, an expression of allied values and further affirmation of the failings of the enemy. In France, attracting foreign students was important as it facilitated continuity of an institution which was deeply bound up in the national project; the vitality of the university in wartime was commensurate with the vitality of the general health of the nation. However, in order to achieve this, foreign, and not French students, were called upon, demonstrating the interplay of national and transnational cultural politics during the First World War.
ABSTRACT This chapter explores the experiences of the university in France during the First World War. Universities were of great symbolic importance in the French Third Republic, embodying both French intellectual achievement and the political philosophy of the state. While the university had great national importance, it was also internationally connected, with staff, students, and knowledge traversing borders before the outbreak of the Great War. The onset of the conflict in 1914 threatened the continued survival of French universities, with lecture halls emptying out as students were mobilized. The continued functioning of universities became a national priority but this could only be effected through greater international connectedness. As such, the war served to further entrench the central place of universities in French national life while both reconfiguring and strengthening international exchange networks. This chapter looks at the experience of universities across France during the First World War, highlighting tensions and divergences between the traditional intellectual elites of Paris and their counterparts in the provincial universities. It analyses debates at the beginning of the war about whether (and how) the university should continue its work in wartime, the challenges which the university faced in wartime, and the symbolic use of the university in wartime ceremonials. It analyses the new importance of foreign students to French universities in ensuring that classrooms remained full in wartime, underscoring the competing national and international dynamics.
AKADEMISCHE VERNETZUNG ALS POLITISCHE INTERVENTION IN EUROPA Internationalismus-Strategien US-amerikanischer Stiftungen in den 1920er Jahren Helke Rausch
Bereits wenige Jahre nach ihrer Gründung 1910 und 1911 waren finanzkräftige US-amerikanische Stiftungen wie das Carnegie Endowment for International Peace (CEIP) und die Rockefeller Foundation (RF) weltweit präsent. Ihre auswärtige Umtriebigkeit intensivierten sie ab Ende des Ersten Weltkriegs geradezu exponentiell. Damit verstärkten und profilierten sie eine qualitativ neuartige InternationalismusDynamik, die für die frühen Zwischenkriegsjahre prägend werden sollte.1 Akademische Vernetzung zählte zu den internationalistischen Primärstrategien der USPhilanthropen. Ihr Engagement verdankte sich dabei einer nicht nur säkularisierten, sondern auch hochgradig professionalisierten und wissenschaftlich-rational systematisierten Wohltätigkeit in legitimatorischer Absicht. Das „scientific giving“ zielte darauf ab, die Stiftungen als sozialverantwortliche Mäzene eine Reform- und Modernisierungs-taugliche Expertise generieren zu lassen, von der zunächst die USA selbst und schließlich auch die gesamte „mankind“ profitieren würden.2 Der internationale Aktionismus nicht nur der amerikanischen Stiftungen, sondern einer ganzen Phalanx neuer internationaler Akteure war einer doppelten zeitgenössischen Erfahrung zu verdanken. Zum einen schien der erste hochtechnologisierte, totale Weltkrieg kaum anders denn als Komplettbankrott hermetischer und kompetitiver Nationalismen und Imperialismen erklärbar zu sein. Schon 1914 hatte in diesem Sinne der Nobelpreisträger und französische Senator Baron D’Estournelles de Constant – bezeichnender Weise als Mitinitiator einer vom CEIP geförderten Kommission zur Aufklärung der Balkankriege – die nationalistische Rivalitätspolitik der europäischen Großmächte als gefährlichen Konfliktbeschleuniger ausgemacht.3 Ge1
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Siehe Glenda Sluga, Internationalism in the Age of Nationalism, Philadelphia 2013; Sönke Kunkel und Christoph Meyer (Hg.), Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, Frankfurt a. M. 2012; Daniel Gorman, The Emergence of International Society in the 1920s, Cambridge 2012; Mark Mazower, Governing the World. The History of an Idea, London 2012; Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der Internationalen Ordnung, Darmstadt 2009. Zu den beiden Stiftungen siehe im Folgenden S. 168 f. Zum Begriff der Philanthropie im US-amerikanischen Kontext siehe Lawrence J. Friedman und Mark D. McGarvie (Hg.), Charity, Philanthropy and Civility in American History, Cambridge 2003. Siehe Paul Henri D’Estournelles de Constant, Introduction, in: Report of the International Commission to inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars (CEIP Division of Intercourse and Education Nº 4), Washington, DC 1914, S. 1–21, hier: S. 15–19.
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nauso erschien nun nach 1918 der Nachkriegsinternationalismus seinen Verfechtern als fast schon unvermeidliche Alternative zur gescheiterten traditionalen Außenpolitik, als einzige Chance, zu einem neuen Modus kooperativer und mäßigender Diplomatie zu finden.4 Zum anderen machten zeitgenössische Beobachter der Szene in der labilen Nachkriegsphase geltend, dass jetzt ökonomische, soziale und technische Sachfragen etwa in den multiethnischen Relikten der untergegangenen Großreiche dringend gelöst werden mussten. Sie waren genuin metanationaler Natur und schienen auch nur auf diesem Niveau lösbar. Auch in den Reihen der US-amerikanischen Stiftungen befürworteten aus diesem Grund viele einen koordinierenden Völkerbund: Mit dieser Forderung exponierte sich nicht zuletzt Raymond B. Fosdick, der schon vor 1914 unter anderem im Vorstand des 1903 gegründeten General Education Board einer edukativer Rockefeller-Philanthropie angehörte und im Krieg die Commission on Training Camp Activities im US-amerikanischen Kriegsministerium geleitet hatte. Fosdick schrieb nach 1918 dem Völkerbund ein weitreichendes, quasi-wohlfahrtsstaatliches Regulierungspotential zu, von dem die westlichen Nachkriegsgesellschaften profitieren würden.5 Der stürmische Auftakt in den Zwischenkriegsinternationalismus, in die weltweite US-Philanthropie und in deren akademische Programme speiste sich demnach ebenso aus dem Verdruss über eine versagende Diplomatie wie aus der Einschätzung, dass technische Sachzwänge in der derangierten Staatenwelt nach 1918 transnational angegangen werden mussten. Exponiert im Nachkriegsinternationalismus, standen die Carnegie- und Rockefellerstiftung nach 1918 nicht vor einer transatlantischen Tabula rasa. Dichte akademische Vernetzungen zwischen Institutionen, Forschergruppen und einzelnen Wissenschaftlern waren im Sinne einer permanenten „peregrinatio academica“ schon lange gängig.6 Man konnte namentlich in amerikanisch-deutscher Richtung längst ältere akademische Transferroutinen aufgreifen.7 Was die Carnegie-Philanthropie betrifft, ließ sich auch zu frühen Experimenten US-amerikanischen Mäzenatentums für internationale Wissenschaftskontakte anschließen.8 Der transatlantische Raum war 4 5 6
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Siehe u. a. Robert Lansing, Some Legal Questions of the Peace Conference, in: The American Journal of International Law 13 (1919), S. 631–650. Siehe Raymond B. Fosdick, Public Welfare in Relation to International Problems, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 105 (1923), S. 17–20. Siehe Rudolf Stichweh, From the Peregrinatio Academica to Contemporary International Student Flows. National Culture and Functional Differentiation as Emergent Causes, in: Transnational Intellectual Networks. Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identitites, hg. von Christophe Charle, Jürgen Schriewer und Peter Wagner, Frankfurt a. M. 2004, S. 345–60; Christophe Charle, The Intellectual Networks of two Leading Universities. Paris and Berlin, 1890–1930, in: Charle/Schriewer/Wagner (Hg.), Transnational Intellectual Networks (Anm. 6), S. 401–450; Henry Geitz, Jürgen Heideking und Jürgen Herbst (Hg.), German Influences on Education in the United States to 1917, New York 1995. Siehe Gerhard A. Ritter, Motive und Organisationsformen der internationalen Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer auswärtigen Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, in: Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen, hg. von Lothar Kettenacker, Manfred Schlenke und Hellmut Seier, München 1981, S. 153–200. Siehe The Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching, A Plan for an Exchange of Teachers between Prussia and the United States, New York 1908; William S. Learned, An American Teacher’s Year in a Prussian Gymnasium, New York 1911.
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zudem spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Region intensiven Austauschs sozialreformerischer Politikideen zwischen progressiven US-amerikanischen und namentlich deutschen und britischen Wissenschaftlern und Sozialreformern in beide Richtungen quer über den Atlantik. Das machte ihn nicht zu einer machtfernen Arena. Der pulsierende Kongressinternationalismus kosmopolitischer Experten vor 1914 war immer zugleich auch Teil dezidiert nationalistischer Politikstrategien, sollte den wissenschaftlichen und reformerischen „Fortschritt“ und die Kohäsion der nationalen Gesellschaft in der Konkurrenz mit der jeweils anderen Atlantikseite oder dem europäischen Nachbarn sichern helfen.9 Der Erste Weltkrieg rieb die transatlantische akademische Konstellation nicht völlig auf, aber er veränderte sie qualitativ. Denn über den Kriegsantagonismen zerbrachen auch die Institutionen und Gewohnheiten des „scientific internationalism“, die bis 1914 etabliert waren.10 Allen voran sorgten das CEIP und die RF aber dafür, dass die Kriegszäsur die intensiven transatlantischen Verbindungen nur kurz unterbrach, bevor die akademischen Kontakte nach Kriegsende vergleichsweise schnell reaktiviert wurden.11 Der Wissenschaftsinternationalismus ließ sich dennoch nicht mehr unter Vorkriegsbedingungen weiterpraktizieren, sondern war jetzt von einschneidenden Kriegserfahrungen in einer neu kartierten transatlantischen Szene geprägt:12 Europa war, so deutete es sich symptomatisch auch im Votum des langjährigen Präsidenten der New Yorker Columbia University und ehrgeizigen republikanischen Trustee des CEIP, Nicholas M. Butler, an, aus US-amerikanischer Nachkriegsperspektive als reformerische Vorbildregion ausgeschieden. Das bis 1914 akute Interesse, zu europäischen Wissenschaftsleistungen und reformerischem Impetus aufzuschließen, wich nach 1917/18 dem amerikanischen Selbstbewusstsein, inzwischen selbst zum wissenschaftlichen Vorreiter gegenüber dem kriegsgezeichneten Europa aufgestiegen zu sein.13 So wenig man die Stiftungen als Appendix US-amerikanischer Regierungen betrachten musste, so deutlich verband sich ihr Nachkriegsaktivismus in Europa mit einer einschlägigen zeitgenössischen Einschätzung neuer amerikanischer Überlegenheit. Die wissenschaftlich und politisch versierten Experten in den Führungsetagen
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Siehe Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge 1998. Siehe Brigitte Schroeder-Gudehus, Les scientifiques et la paix. La communauté scientifique internationale au cours des années vingt, Montréal 1978, sowie Brigitte Schroeder-Gudehus, Probing the Master Narrative of Scientific Internationalism. Nationalists and Neutrals in the 1920es, in: Neutrality in Twentieth Century Europe. Intersections of Science, Culture, and Politics after the First World War, hg. von Rebecka Letteval, Geert Somsen und Sven Widmalm, Stockholm/New York 2012, S. 19–42; siehe auch den Beitrag von Emily J. Levine. Siehe S. 172 f. Siehe Europe’s Map up to date, in: Los Angeles Times (07. 08. 1919), III.3. Siehe Nicholas Murray Butler, The Work of Reconstruction, in: The Advocate of Peace 76 (1914), S. 234; nach Kriegsende unter vielen anderen Voten der Artikel European Reconstruction. Standards Old and New, in: The Wall Street Journal (09. 05. 1922), S. 1. Zu den komplexen wechselseitigen Wahrnehmungen in der transatlantischen Konstellation maßgeblich Adelheid von Saldern, Amerikanismus. Kulturelle Abgrenzung von Europa und US-Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013.
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bei Carnegie und Rockefeller schätzten ähnlich wie die politischen Eliten ihres Landes die Lage in dreifacher Hinsicht ähnlich ein: Zum einen hatten die USA mit Kriegsende Großbritannien als weltweit führende Wirtschaftsmacht abgelöst.14 Europa schien seither fernab seines Vorkriegstatus im Kleinklein drängender Wiederaufbauprobleme und in tastenden politischen Stabilisierungsanstrengungen zu versinken. Zum anderen wollten die republikanischen US-Nachkriegsadministrationen nach Wilson mit ihrem Veto gegen eine Völkerbundmitgliedschaft zwar nicht offiziell als Ordnungsmacht in Europa auftreten. Faktisch blieben sie aber schon allein im Rahmen der komplizierten Reparationsdiplomatie mindestens bis zur Weltwirtschaftskrise ökonomisch höchst präsent.15 Drittens schließlich rechnete man den amerikanischen Sieg nicht unwesentlich kriegsrelevanten Wissensformaten und einer imposanten privaten US-amerikanischen Wissenschaftsphilanthropie zu. In diesem Sinne trug der Physiker und zentrale Mitinitiator einer neuartig zentralisierten Wissenschaftspolitik im Krieg, Robert A. Millikan, schon 1919 an die privaten Wissenschaftsmäzene in den USA offiziell die Aufforderung heran, mit zielgerichteter Forschungsförderung das internationale Prestige der USA als „scientific nation“ zu wahren.16 Das Interesse des CEIP und der RF an einer engen akademischen Vernetzung mit Europa in den 1920er Jahren entstand in dieser Gemengelage von neuem Nachkriegsinternationalismus und gewandelter Selbstsicht US-amerikanischer Eliten als Angehörige einer weltweit aufsteigenden Wirtschafts- und neuen Wissenschaftsmacht. Das transatlantische Vernetzungsprojekt der US-amerikanischen Stiftungen erwies sich vor diesem Hintergrund als Sonderfall einer dezidiert politisch gefassten internationalen Wissenschaftsgeschichte: Erstens hatten die Carnegie- und RockefellerPhilanthropen ähnliche, aber nicht völlig deckungsgleiche Ambitionen, wenn sie in den 1920er Jahren transatlantische Wissenschaftskontakte förderten. Internationalistisches Kalkül und der programmatische Glaube der Stiftungsoffiziellen an die Problemlösungspotentiale moderner Wissenschaft verquickten sich zu zwei unterschiedlichen Vernetzungstaktiken. Dies erschließt sich bei einem Blick auf die unterschiedlichen Wege, auf denen die beiden Philanthropien zur Wissenschaftsförderung in Europa gelangten. Zweitens zogen beide Stiftungen bei ihren Versuchen, akademische Wissenschafts- und Wissens-Kontakte zu etablieren, hauptsächlich zwei unterschiedliche Register: Zum einen nutzten sowohl das CEIP als auch die RF die Kontakte nach Europa dazu, an der offiziös zurückhaltenden Politik republikanischer US-Administrationen während der 1920er Jahre vorbei auf Tuchfühlung mit den internationalen Expertennetzwerken des Völkerbundes zu gehen. Akademische Vernetzung erwies sich 14
Siehe John Foster Dulles, Allied Indebtedness to the United States, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 96 (1921), S. 173–177. 15 Siehe Increasing Evidence that Americans are using a New International Vision, in: Advocate of Peace through Justice 83 (1921), S. 257–259. 16 Siehe Robert A. Millikan, The New Opportunities in Science, in: Science 50 (1919), S. 285–297, hier: S. 297; ähnlich J. S. Ames, The Trained Man of Science in the War, in: Science 48 (1918), S. 401–410.
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hier als diskrete Strategie für einen alternativen US-Internationalismus. Zum anderen versuchten sich die Stiftungen auch an chirurgisch genaueren Einzelförderungen von Wissenschaftsformaten etwa in besonders krisengezeichneten Regionen wie der Weimarer Republik, die man politisch zu stabilisieren hoffte.17 Bald deutlich professioneller und systematisch-ambitionierter als das CEIP suchte namentlich die RF möglichst zentral platziertes Spitzenpersonal. Vorzeigeprojekte in den europäischen Sozialwissenschaften waren aus amerikanischer Sicht diejenigen, die weniger theoriegeleitet arbeiten und stattdessen politisch verwertbares Anwendungswissen produzieren sollten.18 So förderte man maßgeblich wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Disziplinen. Auf diesem Wege sollte gerade im Nachkriegseuropa systematisch ökonomisches Planungs- und Kontrollwissen und die gebündelte Expertise für eine dezidiert rationale internationale Politik bereitgestellt werden.19 Europäische Universitäten rangierten durchaus hoch auf der philanthropischen Favoritenliste, allen voran die schon vor der Jahrhundertwende gegründete und später in die London University inkorporierte London School of Economics and Political Science20 , die nach Kriegsende rasch als eine Art Hotspot moderner „social sciences“ gehandelt wurde und sich ganz im Sinne angloamerikanischer Weltordnungsvisionen auch als Kaderschmiede künftiger Regierungs- und Wirtschaftseliten im Empire zu positionieren versuchte.21 Auf dem europäischen Kontinent allerdings fanden die amerikanischen Beobachter die für modern und zukunftsträchtig erachteten empirischen und zugleich methodisch reflektierten Wissensformate und -praktiken in der Regel gerade nicht im traditionalen universitären Rahmen – ein Indiz für die vielfachen Lernprozesse und Nachjustierungen, die die Wissenschaftsförderung allen voran auch den amerikanischen Akteuren abverlangte. Attraktiver erschienen aus Stiftungssicht dagegen häufig die experimentellen Randzonen etablierter Universitätsstrukturen, die, in der Regel privat finanziert, weniger den traditional-universitären Orthodoxien theoriegeleiteter Wissenschaftspraxis unterlagen und aufgrund ihrer höheren Finanzautonomie auch die Chance auf größere Aushandlungsspielräume für die Stiftungen eröffneten.22 Das galt unter vielen anderen für die Förderkontakte beider Stiftungen zur extra-universitären Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, 17 18
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Siehe S. 181 f. Siehe Report of the European Fellowship Program in the Social Sciences of the Laura Spelman Rockefeller Memorial 1923–1928, in: Rockefeller Archive Center (hiernach RAC) Rockefeller Foundation Records (hiernach RFA) RG 1.2/ 100 ES/50/380; Tracy B. Kittredge, Fellowships – Social Science Fellowship Program in Europe – Rockefeller Foundation, 1924–1938, in: RAC RFA RG 1.2/100 ES/50/384. Siehe u. a. The Rockefeller Foundation Annual Report 1932, New York 1932, S. 274–278. Siehe u. a. Interim Report des LSE-Direktors Sir William Beveridge vom Juli 1932, in: RAC RFA RG 1.1/ 401S/71/936. Siehe Ralph Dahrendorf, LSE. A History of the London School of Economics and Political Science 1895–1995, Oxford 1995. Anders als das CEIP operierte die RF seit den 1920er Jahren mit einem professionellstrategischen, flächendeckenden Suchmechanismus in Europa, indem sie ein Netzwerk von für vertrauenswürdig erachteten Informanten spann, systematisch ausschwärmen und über Strukturen, Personal und Wissenschaftspraktiken an potentiellen Förderorten Bericht erstatten ließ. Auf der Basis entsprechender Bestandsaufnahmen vor Ort bestimmten Trustees und Programmverantwortliche in New York und der Pariser Außenstelle dann die Interventionspunk-
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die weiter unten thematisiert wird, und für gleichzeitig in Deutschland geförderte Institutionen wie etwa das Heidelberger Institut für Sozial- und Staatswissenschaften, das Institut für Weltwirtschaft in Kiel oder das Hamburger Institut für Auswärtige Politik. Ähnlich richteten sich auch wichtige Förderpakete, die die RF in Frankreich etwa zugunsten eines privat gegründeten und geleiteten Institut scientifique de recherches économiques et sociales unter Leitung des renommierten Ökonomen Charles Rist schnürte, auf universitätsferne Einrichtungen.23 Zwar verfügten die US-Stiftungen über filigrane Strategien akademischer Vernetzung. Ihre Handlungsspielräume blieben aber ungeachtet aller Internationalismusemphase und Führungsmission durchweg eng. Denn dem amerikanischen Stabilisierungsprojekt öffneten sich trotz aller politischen und ökonomischen Potenz der USA nicht per se sämtliche europäischen Türen. Auch in dieser Hinsicht war die USamerikanische Förderung akademischer Vernetzung ein symptomatischer Bestandteil der pulsierenden, dabei aber komplexen und niemals linearen InternationalismusDynamik nach dem Ersten Weltkrieg.
AMBITIONEN US-AMERIKANISCHER WISSENSCHAFTSFÖRDERUNG: VÖLKERRECHTLICHE VERSTÄNDIGUNG UND HUMANITÄR-POLITISCHER TRANSFER VON EXPERTISE Das 1910 konstituierte CEIP und die 1911 gegründete RF gingen ganz aus dem korporativen Kapitalismus in den USA hervor. Als Teilinstitutionen ausladender Familienstiftungen der namengebenden Patriarchen, des reichen Erdölmagnaten John D. Rockfeller Sr. und des schottischstämmigen Stahlindustriellen Andrew Carnegie, entstanden sie vor dem Hintergrund einer im zeitgenössischen Europa undenkbaren Akkumulation privaten Kapitals.24 Zur Förderung akademischer Vernetzung gelangten die Philanthropien auf ganz unterschiedlichen Wegen. Diese Einbettung te bzw. Andockstellen auf europäischem Terrain. Den Voten der Berichterstatter folgten die Stiftungsverantwortlichen allerdings selten unbesehen. Beispielhaft für die Art der zahllosen Sondierungsberichte siehe etwa das Memorandum von Charles Rist über die Lage der französischen Sozialwissenschaften The Present State of Teaching and Research in Economic and Social Sciences in France. Proposals for its Improvement, Memorandum ausgearbeitet für das Laura Spelman Rockefeller Memorial (hiernach LSRM) vom Januar 1926, in: RAC LSRM I.6/63/680. 23 Siehe hier nur beispielhaft das Memo des RF-Programmbeauftragten John van Sickle vom 13. 05. 1931 über seine Visite des Alfred-Weber-Instituts in Heidelberg, in: RAC RFA RG 1.1/717S/21/195; Memo von John Van Sickle an Edmund E. Day am 02. 08. 1932 über das Kieler „Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr“, in: RAC RG 1.1/717 S/20/180; ein Brief Beardsley Rumls vom 16. 11. 1925 an Albrecht Mendelssohn-Bartholdy über das von ihm gegründete und geleitete „Institut für Auswärtige Politik“, in: RAC LSRM III.6/52/561 sowie das Protokoll eines Treffens des Direktoriums des Institut de Recherches Economiques et Sociales in Paris vom 15. 04. 1931, in: RAC RG 1.1/500 S/21/219. 24 Siehe Michael A. Lutzker, The Formation of the Carnegie Endowment for International Peace. A Study of the Establishment-Centered Peace Movement, 1910–14, in: Building the Organizational Society. Essays on Associational Activities in Modern America, hg. von Jerry Israel, New York 1972, S. 143–62; Raymond B. Fosdick, The Story of the Rockefeller Foundation, New York 1952; Judith Sealander, Private Wealth and Public Life. Foundation Philanthropy and the
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in die verschiedenen philanthropischen Großprojekte ist aufschlussreich, weil sie zu jeweils eigenen Typen und Strategien akademischer Vernetzung führte. Im Falle des CEIP war die Förderung von Wissen eingebettet in einen profilierten Versöhnungsaktivismus, den vor allem die zahlreichen Völkerrechtsexperten vorantrieben, die das Erscheinungsbild des Endowment prägten. In der Rockefeller-Philanthropie mischten sich demgegenüber in erster Linie humanitäre Intervention im Nachkriegseuropa und ein politisch ehrgeiziger Szientismus. Europäischer Wissenschaft und Politik sollten angesichts akuter Problemlagen angemessene Wissensformate als Hilfe zur akademisch geerdeten politischen Selbsthilfe verfügbar gemacht werden. CEIP und RF standen von daher für unterschiedliche Konzepte US-amerikanischer Wissenschaftsphilanthropie im Umfeld des Ersten Weltkriegs. Die Aktivitäten des CEIP in Europa nach 1918 gingen auf eine zwar modifizierte, aber immer noch vitale Tradition des kooperativen Friedensaktivismus zurück.25 1910 war es im Umfeld der Lake Mohonk-Friedenskonferenzen aus einer Schar renommierter Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft rekrutiert worden. An die Spitze dieser elitär-weltläufigen Klientel hatte sich Carnegie auch gesetzt, um von der pazifistisch-religiös-gefärbten US-Friedensbewegung loszukommen. Stattdessen wollte er eine völkerrechtlich ausgefeilte internationale Friedenspolitik betreiben, die den US-Industriekapitalismus vor den strukturellen und mentalen Schädigungen durch Kriege schützen würde. Man setzte auf das International Law als weltweit wichtigste Legitimationsressource zugunsten internationaler Konfliktschlichtung. So hofften die Carnegie-Legalisten, auf eine verlässliche Weltfriedensordnung hinzuarbeiten.26 Das Endowment hatte von Anbeginn eine klar transatlantische Note: Seine Gründungsmitglieder kannten sich aus einer Fülle entsprechend bestückter Foren, die im Zuge des Friedensaktivismus um die Jahrhundertwende entstanden waren. Hier hatte es im Grunde bereits unauffällige Kleinexperimente bei der Kooperation selbsterklärter Friedensexperten quer über den Alantik gegeben. Dass das Endowment schon seit Anfang 1912 mit einer europäischen Dependance unter Leitung ihres Vorzeige-Konziliaristen Baron d’Estournelles de Constant in Paris arbeitete, trug diesem Umstand Rechnung.27
Reshaping of American Social Policy from the Progressive Era to the New Deal, Baltimore, MD 1997; Barry D. Karl und Stanley N. Katz, The American Private Philanthropic Foundation and the Public Sphere, 1890–1930, in: Minerva 19 (1981), S. 236–70. 25 Siehe auch zum Folgenden Helke Rausch, Internationales Recht und Verständigungs-Internationalismus unter Druck. Politische Profile der Carnegie Men im Umfeld des Balkanberichts von 1914, in: Comparativ 24 (2014), Nr. 6, S. 25–52. 26 Siehe u. a. Platform of the Thirteenth Lake Mohonk Conference on International Arbitration, in: The Advocate of Peace 69 (1907), S. 127–28. 27 Siehe zum CEIP und seinem europäischen Zentrum Lutzker, The Formation (Anm. 24); Philippe Alexandre, Messianisme et américanisation du monde. Les Etats-Unis et les organisations pacifistes de France et d’Allemagne à la vieille de la Première Guerre Mondiale (1911–1914), in: Deutschland – Frankreich – Nordamerika. Transfers, Imaginationen, Beziehungen, hg. von Chantal Metzger und Hartmut Kaelble, Stuttgart 2006, S. 66–81. Zu Constant siehe Michael Clinton, „The New World will create the New Europe“: Paul-Henri d’Estournelles de Constant, the United States, and International Peace, in: Proceedings of the Western Society for French History 40 (2012), S. 84–95.
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Über die Kriegsjahre hinweg hatte das Endowment sein Pariser Zentrum mit extrem eingeschränkten Aktivitäten weiterarbeiten lassen. Nach Kriegsende reaktivierte man die europäische Zentrale schleunigst, um auf vetraute Kontakte und Informanten bauen zu können, die den amerikanischen Beobachtern die europäische Lage erklärlicher machen sollten. Das Konzept der internationalen Verständigung qua elitärer Kooperation allerdings erschien unter dem noch frischen Eindruck des hochtechnologisierten totalen Massenkriegs zu luftig. Als langjähriger Leiter des Endowment trat namentlich der ehemalige Republikanische Außenminister Elihu Root an der Spitze weiterer international anerkannter amerikanischer Völkerrechtler für konzertierte Kampagnen zugunsten des „Legal Internationalism“ an der Grenze zwischen gebildeter Öffentlichkeit und Völkerrechtswissenschaft sowie den entstehenden „International Relation Studies“ ein.28 Diesem Primärzweck, eine Art völkerrechtlich unterlegte öffentliche politische Wissenschaft zu befördern, um die Diskussionen über die künftige internationale Weltordnung zu beeinflussen, sollte auch die akademische Vernetzung dienen, die das Endowment nach 1918 betrieb. Die 1911 begründete RF ging mit einem ausladend-undifferenzierten Globalprogramm an den Start, indem sie sich, Symptom einer selbstgewiss raumgreifenden, zivil-missionarischen Philanthropie, die Kur sozialer und gesundheitlicher Malaisen der „mankind“ vornahm.29 Zu „Public Health“ und Medizin als weltweit veranschlagten Förderschwerpunkten begann sie, sich, in einer eher experimentellen Dekade ab 1917 zunächst koordiniert vom Laura Spelman Rockefeller Memorial, allmählich ein zusätzliches Fördersegment im Bereich der europäischen Sozialwissenschaften zu eröffnen, die zwischen Anfang der 1920er Jahre und Kriegsbeginn mit zeitgenössisch bis zu 10 Millionen US-Dollar aus Stiftungssicht sogar zu den eher kleineren Ausgabenbereichen zählten.30 Die Erwartungen an die Sozialwissenschaften waren weit über den engen Kreis der Stiftungsoberen und der Förderkandidaten hinaus hoch. So pries mit Charles A. Ellwood eine der renommiertesten Gründergestalten der USamerikanischen Soziologie die Sozialwissenschaften als objektive Leitwissenschaft der rationalen und problemlösungsorientierten Demokratie: The social sciences necessarily involve searching but impersonal criticism of existing institutions and policies. They of all studies are best fitted to emancipate the mind and to free it from thralldom to mere social tradition. [. . .] If democracy means free society, then they best prepare for democracy, because they free the mind and thus prepare the way for rational social progress.31
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Siehe Rausch, Internationales Recht (Anm. 25); Katharina Rietzler, Philanthropy, Peace Research, and Revisionist Politics. Rockefeller and Carnegie Support for the Study of International Relations in Weimar Germany, in: GHI (German Historical Institute) Bulletin Suppl. 5 (2008), S. 61–79; zur Disziplinengenese siehe David Long und Peter Wilson (Hg.), Thinkers of the Twentieth Years’ Crisis. Inter-war Idealism Reassessed, Oxford 2003; Brian C. Schmidt, Lessons from the Past. Reassessing the Interwar Disciplinary History of International Relations, in: International Studies Quarterly 42 (1998), S. 433–459. 29 Siehe The Rockefeller Foundation Annual Report 1913, New York 1913. 30 Siehe Martin Bulmer, J. Bulmer, Philanthropy and Social Science in the 1920s. Beardsley Ruml and the Laura Spelman Rockefeller Memorial, 1922–1929, in: Minerva 19 (1981), S. 347–407. 31 Siehe Charles A. Ellwood, Education for Citizenship in a Democracy, in: American Journal of Sociology 26 (1920), Nr. 1, S. 73–81, hier: S. 78.
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Die Sozialwissenschaften schienen besonders geeignet, den Nachkriegsgesellschaften eindringliche Diagnosen zu stellen und wissensbasierte Therapien für standfeste Ordnungen zu entwickeln, mit denen sich eine akademisch beratene Politik aus der Krise würde herausarbeiten können.32 Das Rockefeller-Engagement in Europa nach 1917 verband sich darüber hinaus und expliziter als bei Carnegie mit einer Art humanitären transatlantischen Entwicklungshilfe. Es passte ganz in die Konjunktur eines boomenden internationalen Humanitarismus, den eine ständig wachsende Zahl gerade auch US-amerikanischer zivilgesellschaftlicher Privatakteure zu betreiben begann. Dessen Ursprünge reichten weit hinter das Kriegsausbruchsjahr 1914 bis in die 1890er Jahre zurück.33 Aber er hatte vor dem Hintergrund drastisch gewachsener ökonomischer Potentiale der US-Wirtschaft inzwischen eine ungeahnte Dynamik erreicht und äußerte sich vor allem in gigantischen Hilfsaktionen für Belgien schon während des Krieges.34 Die RF positionierte sich in diesem Szenario mit einer Doppelstrategie. Einerseits koalierte sie mit der US-Regierungsinitiative: Vom Koordinator der amerikanischen Belgienhilfe, dem Ingenieur und Investor Herbert Hoover, angesichts rückläufiger Spendenbereitschaft der kriegsskeptischen Amerikaner eigens gebeten35 , unterstützte die RF Hoovers Kampagne mit einigen Millionen US-Dollar. Andererseits waren die Stiftungsvertreter um ein distinktes Akteursprofil in Gestalt einer stiftungseigenen War Relief Commission bemüht.36 Im Rahmen der internationalen Katastrophenhilfeund „Relief“-Politik ließen sich aus Stiftungssicht nämlich zwei Optionen gleichzeitig nutzen: Man konnte nicht nur kontrolliert und auf begrenzte Zeit mit der US-Regierung zusammenarbeiten,37 sondern hier bot sich auch eine willkommene Bewährungsprobe für den demonstrativen „wellbeing of mankind“38 -Humanismus 32 33
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Siehe Ralph M. Eaton, Social Fatalism, in: The Philosophical Review 30 (1921), S. 380–392. Siehe Fabian Klose, „To maintain the law of nature and of nations“ – Der Wiener Kongress und die Ursprünge der humanitären Intervention, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), Nr. 3/4, S. 217–237. Siehe Ernest Percy Bicknell, Belgium and the Red Cross. A Partnership, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 79 (1918), S. 23–39; unter vielen anderen Akteuren Albert Lucas, American Jewish Relief in the World War, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 79 (1918), S. 221–228. Aus der inzwischen umfangreichen Forschungsliteratur siehe Branden Little, An Explosion of New Endeavors. Global Humanitarian Responses to Industrialized Warfare in the First World War Era, in: First World War Studies 5 (2014), Nr. 1, S. 1–16; Julia F. Irwin, Making the World Safe. The American Red Cross and a Nation’s Humanitarian Awakening, New York 2013; Daniel R. Maul, „Silent army of representatives“: Amerikanische NGOs und die Entstehung internationaler Mechanismen humanitärer Hilfe 1917–1939, in: Kunkel/Meyer (Hg.), Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter (Anm. 1), S. 105–122, hier: S. 109. Brief Herbert Hoovers an Jerome D. Greene, 19. 04. 1915, in: RAC RFA RG 1.1/100 N/66/653. Siehe Statement of intent to provide war relief to Belgium, 31. 10. 1914, in: RAC RFA RG 1.1/100 N/60/587; Minutes of the Rockefeller Foundation regarding Belgian War Relief, 18. 07. 1916, in: RAC RFA, RG 1.1/100 N/56/556. Siehe Livingston Farrand, Possible co-operation between the American Red Cross and the Rockefeller Foundation with regard to the work for the prevention of tuberculosis in France, 02. 07. 1917, in: RAC RFA RG 1.1/500 T/25/249. Siehe auch Maul, „Silent army“ (Anm. 34), S. 110. So das philanthropische Motto der RF, siehe sämtliche Jahresberichte bzw. RF Annual Report 1913 (Anm. 29).
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der Rockefellerphilanthropie im Rahmen gewaltfrei-subtilerer Intervention erst in die europäische Kampf- und schließlich in die Wiederaufbauszene. Davon zeugte nicht zuletzt die Einrichtung einer europäischen Stiftungszentrale in Paris 1917: Von hier aus sondierte man nach Kriegsende die Handlungsspielräume als Angehörige einer mit Kriegsende zu Weltmachtstatus katapultierten Siegernation. Dabei ging es künftig weniger um die kurzfristige Eindämmung von Seuchen oder vergleichbare Formen von ad hoc-Maßnahmen in einer katastrophischen Kriegsumgebung.39 Seit 1918 standen stattdessen langfristige sanitäre, hygienische und medizinische Reformen im Nachkriegseuropa an.40 Jenseits der Sozialmedizin kamen, programmatisch fokussierter und wissenschaftlich ambitionierter als im Carnegie-Endowment, die Sozialwissenschaften als ausdrücklich „moderne“ Ressourcen in den Blick. Aus der ambitionierten szientistischen Sicht der Stiftungsoffiziellen bargen die „Social Sciences“ eine hochgradig wichtige Expertise für die Regeneration Europas. Häufig selbst Absolventen zunehmend renommierter sozialwissenschaftlicher Departments an USamerikanischen Forschungsuniversitäten, verankerten die Rockefeller-Philanthropen daher die systematische Förderung europäischer Sozialwissenschaften im Laura Spelman Rockefeller Memorial, das Ende der 1920er Jahre in einer eigenen sozialwissenschaftlichen Programmabteilung in der Gesamtstiftung aufging.41 Bis nach 1918 zeichneten sich damit zwei Typen US-amerikanisch geförderter akademischer Vernetzung ab. Die Carnegie-Philanthropie blieb in erster Linie beflügelt von der Absicht, den US-amerikanischen Internationalismus und die transatlantischen Elitendiskurse über die künftige Weltordnung völkerrechtlich zu erden. Die Rockefeller-Philanthropen hatten demgegenüber ein disziplinenspezifisches, zunehmend professionalisiertes Großprojekt europäischer Wissenschaftsförderung vor Augen. Sie hofften, an vorderster Stelle das Weltdeutungs- und Probemlösungspotenzial US-amerikanisch geprägter empirischer Sozialwissenschaften zu exportieren.42 Akademische Vernetzungstaktiken waren damit beim Endowment nicht anders als bei der RF Bestandteile raumgreifender politischer Ambitionen.
SPIELARTEN AKADEMISCHER VERNETZUNG UND EUROPÄISCHE UNWÄGBARKEITEN EINES US-AMERIKANISCHEN PROJEKTS Die amerikanischen Stiftungsbevollmächtigten kramten nach dem Krieg 1918 keine vorgefertigte europäische Agenda hervor. Sie suchten zunächst nach geeigneten
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Siehe Paul U. Kellog, The Expanding Demands for War Relief in Europe, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 79 (1918), S. 9–23. 40 Siehe Paul Weindling, American Foundations and the Internationalizing of International Health, in: Shifting Boundaries of Public Health. Europe in the Twentieth Century, hg. von Susan Gross Solomon, Lion Murard und Patrick Zylberman, Rochester, NY 2008, S. 63–86, hier: S. 65 f.; John Farley, To Cast Out Disease. A History of the International Health Division of the Rockefeller Foundation (1913–1951), Oxford/New York 2004; zum Kontext Malte Thießen, Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Berlin 2014. 41 Siehe The Rockefeller Foundation Annual Report 1929, New York 1929, S. 239 f. 42 Siehe dazu S. 182 f.
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Strategien und mischten dazu philanthropische Experimente unter den Bedingungen eines kriegsgezeichneten Förderterrains mit ihrem transatlantischen Erfahrungswissen. Vernetzungen mit Akademikern aus den Ländern der ehemaligen Kriegsallianz fielen den Philanthropen in der Regel leichter. Verbindungen zu Akademikern aus den ehemaligen Feindstaaten schienen demgegenüber prekärer, zumal die Stiftungsvertreter während der Kriegsjahre ganz auf den propagandistischen Kurs der US-Regierung eingeschwenkt waren.43 Die Kriegsrhetorik wirkte allerdings nicht lange nach. Von daher zeigten die Philanthropen auch weder Berührungsängste noch Vorbehalte gegenüber einem deutschen Wissenschaftspotenzial, das man unbeschadet aller deutschfeindlichen amerikanischen Kriegspropaganda nach wie vor hoch veranschlagte.44 Unter diesen Bedingungen entstanden unterschiedliche Spielarten akademischer Vernetzung, die immer auch die Unwägbarkeiten des philanthropischen Projekts angesichts wechselhafter wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen widerspiegelten. Zwei Stoßrichtungen philanthropischer Aktion begannen sich abzuzeichnen: Zum einen, und hier glichen sich die Carnegie- und Rockefeller-Strategien tatsächlich, suchte man über den Umweg der akademischen Vernetzung nahen Kontakt zu den Experten rund um den 1919 gegründeten Völkerbund. Von der zumindest offiziell verlautbarten Europa-fernen und Völkerbund-skeptischen „normalcy“ der republikanischen US-Nachkriegsregierungen rückte man damit ab. Stattdessen gingen in den Reihen der US-Stiftungen die Internationalisten nach vorn, die den Völkerbund ungeachtet der offiziellen Nichtmitgliedschaft der USA als neuen Knotenpunkt internationaler Politiker und Technokraten wahrnahmen. So wollte man diskret auf einen alternativen US-Internationalismus hinarbeiten, der die Einflusschancen der USA auf die Szene jenseits ihrer faktischen ökonomischen Übermacht als weltweit größte Schuldnernation nach dem Krieg zusätzlich flankierte. Zum anderen versuchten die Stiftungen mit jeweils unterschiedlichen Verfahren, ausgewählte Disziplinen wie namentlich die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu begünstigen, von denen man sich langfristige Ordnungsfunktionen versprach. Wie exemplarisch argumentiert wird, setzte das CEIP eher auf konziliaristische Elitengespräche im halböffentlichen Raum, die RF dagegen auf eine chirurgisch gezielte Einzelförderung von Instituten und Disziplinen. Immer sollte die akademische Vernetzung aber die kriegsgezeichneten Nachkriegsgesellschaften in Europa stabilisieren helfen.
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Siehe zu den zahlreichen regierungskonformen Äußerungen der Philanthropen, die sich dazu greifen lassen CEIP Division of International Law Pamphlet Nr. 29: Two Ideals of Government, Washington 1917, und CEIP Division of International Law Pamphlet Nr. 30: The Effect of Democracy on International Law. Opening Address by Elihu Root as President of the American Society of Inernational Law at the Eleventh Annual Meeting of the Society in Washington, April 26, 1917, Washington 1917. 44 Siehe u. a. James T. Shotwell an Raymond B. Fosdick, 17. 01. 1924, in: RAC LSRM III/6/52/558.
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AKADEMISCHE VERNETZUNG ALS KONZILIATORISCHE ANNÄHERUNGSTAKTIK: STIFTUNGSAKTIVITÄTEN IM UMFELD DER VÖLKERBUNDEXPERTEN Ein großer Teil philanthropischer Vernetzungsanstrengungen nach 1918 konzentrierte sich gerade während der frühen 1920er Jahre darauf, mit den Völkerbundexperten in Nahkontakt zu kommen.45 Auf diese Weise zählten die Philanthropen zu wichtigen Unterstützern des pulsierenden Nachkriegsinternationalismus, der tatsächlich an vorderster Front auch von US-Akteuren geprägt wurde. Das Pariser RF-Büro avancierte zu einem wichtigen Verbindungspunkt für amerikanische wie europäische Sozialmediziner, die bald auch Kontakte zur Hygienesektion des Völkerbundes (League of Nations Health Organization) aufnahmen, um globale Taktiken der Seuchenprävention zu entwerfen.46 Ihre Völkerbundaffinitäten bekundeten die Philanthropen ausdrücklich im politischen Tagesgeschäft. Neben Exponenten des CEIP tat dies in den Reihen der RF namentlich Raymond Fosdick als eines ihrer führenden Vorstandsmitglieder.47 1919 zunächst von Wilson als Generalsekretär des Völkerbunds vorgesehen, verwendete sich Fosdick, nachdem der amerikanische Kongress den Beitritt der USA im Frühjahr 1920 verweigert hatte, weiter dafür, mit dem Völkerbund zusammenzuarbeiten.48 Fosdicks Werbung fruchtete besonders im demokratischen Milieu der USA. Mit Edward M. House berief sich einer der engsten Vertrauten Wilsons auf Fosdicks wegweisende Kritik an der erratischen Völkerbundpolitik der USA.49 Dabei war die RF keineswegs die einzige Formation, die in den USA um 1919 für eine völkerbundnahe Politik der USA optierte. Neben der 1921 unter Franklin D. Roosevelts Leitung etablierten Woodrow Wilson Foundation verfolgte etwa die von James G. McDonald geleitete League of Free Nations ähnliche Ambitionen, die, seit dem abgelehnten Beitritt als Foreign Policy Association weiterbestehend, sich ebenso wie die Stiftung in erster Linie aus „WASPs“ (White Anglo-Saxon Protestants) der Ostküste rekrutierte.50
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Siehe für die Kriegsphase Martin D. Dubin, The Carnegie Endowment for International Peace and the Advocacy of a League of Nations, 1914–1918, in: Proceedings of the American Philosophical Society 123 (1979), S. 344–368. Siehe Weindling, American Foundations (Anm. 40). Siehe für das CEIP aus der Legion greifbarer Stellungnahmen Clarence A. Berdahl, The United States and the League of Nations, in: Michigan Law Review 27 (1929), S. 607–636; zu Fosdick siehe u. a. die biographische Vignette bei Mazower, Governing the World (Anm. 1), S. 143 f., 147–149. Fosdick ist in der historischen Forschung inzwischen zu einer Art vielzitiertem Vorzeige-Internationalisten der RF avanciert. Siehe The League of Nations begins to function, in: The Advocate of Peace 82 (1920), S. 27 f.; Fosdick, Public Welfare (Anm. 5), S. 17–20, hier: v. a. S. 18. Edward M. House, America in World Affairs. A Democratic View, in: Foreign Affairs 2 (1924), S. 540–551, hier: S. 548. Siehe Warren F. Kuehl und Lynne K. Dunn, Keeping the Covenant. American Internationalists and the League of Nations, 1920–1939, Kent, OH 1997, S. 34 f., 84 f.; Michael Wala, Winning the Peace. Amerikanische Außenpolitik und der Council on Foreign Relations, 1945–1950, Stuttgart 1990, S. 29.
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Völkerbundnähe stellten beide Stiftungen in erster Linie unter dem Label einer „intellectual cooperation“ her. Das 1922 vom Völkerbund gebildete, elitärintellektuelle International Committee on Intellectual Cooperation und sein ab 1926 aktives Exekutivorgan, das während der 1930er Jahre auch vom inzwischen langgedienten Carnegie-Offiziellen James T. Shotwell geleitete International Institute of Intellectual Cooperation51 , waren aus amerikanischer Sicht besonders reizvoll. Entsprechend zählten zum philanthropisch geförderten American National Committee on International Intellectual Cooperation (ANC) von 1925 mit Elihu Root und Raymond Fosdick die Granden der amerikanischen Förderszene aus beiden Stiftungen.52 Die philanthropischen Internationalisten wollten zum einen die Nichtmitgliedschaft der USA im Völkerbund durch einen engen, semi-offiziellen Austausch mit europäischen Intellektuellen wettmachen.53 Zum anderen versuchte man, über das ANC auch die „International Studies“ systematisch zu standardisieren, die als obligates Spezialwissen zur intellektuellen Unterfütterung einer Art politiknahen Weltordnungswissenschaft gehandelt wurden. Entsprechend finanzierte das CEIP 1931 die Veröffentlichung eines Répertoire international des centres de documentation politique, 1932 ein Lexique des termes politiques und in den Folgejahren sporadische kleinere Beiträge für die Arbeiten der Conférence des Hautres Etudes Internationales.54 Das zeitgenössische Echo zum Carnegie-Engagement auf diesem Sektor blieb ambivalent. Georges Lechartier, Redakteur des renommierten „Journal des Débats“ und Verwaltungsratmitglied in der europäischen Zentrale des CEIP in Paris, attestierte dem Endowment anerkennend, sich in einem Bündel aus offizieller und inoffizieller intellektueller Kooperation knapp unterhalb der Schwelle eines Völkerbundbeitritts zu engagieren.55 Die Philanthropen selbst äußerten sich gelegentlich verhaltener. In letzter Konsequenz hielt man die Agenda der Intellectual Cooperation Organisation, zu der sich die Commission ab 1931 als offizielles Gremium des Völkerbunds verstetigt hatte, für ebenso gewaltig wie nebulös.56 Tatsächlich war das Stiftungspaket für 51
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Siehe The First Six Months of the International Institute of Intellectual Cooperation, in: Science 64 (1926), S. 175; Handbook of Institutions for the Scientific Study of International Relations. Compiled by the League of Nations Institute for Intellectual Co-operation, New York 1929; League of Nations (Hg.), Intellectual Co-Operation Organisation, National Committees on Intellectual Co-Operation, Genf 1937, S. 122–129 zum American Committee. Vernon Kellog, The League of Nations Committee and Institute of International Intellectual Cooperation, in: Science 64 (1926), S. 291 f.; The International Institute of Intellectual Cooperation, in: Science 62 (1925), 391. Siehe dazu v. a. Jean-Jacques Renoliet, L’UNESCO oubliée. La Société des Nations et la coopération intellectuelle (1919–1946), Paris 1999, hier: S. 255; Werner Scholz, Frankreichs Rolle bei der Schaffung der Völkerbundkommission für internationale intellektuelle Zusammenarbeit 1919–1922, in: Francia 21 (1994), Nr. 3, S. 145–158; Daniel Laqua, Internationalisme ou affirmation de la nation? La coopération intellectuelle transnationale dans l’entre-deux-guerres, in: Critique internationale 52 (2011), Nr. 3, S. 51–67. Siehe Frank A. Ninkovitch, The Diplomacy of Ideas. U. S. Foreign Policy and Cutural Relations, 1938–1950, Cambridge 1981, S. 8–34. Renoliet, L’UNESCO oubliée (Anm. 52), S. 206; Edith E. Ware (Hg.), The Study of International Relations in the United States. Survey for 1937, New York 1938. Siehe Georges Lechartier, America’s Part in International Cooperation, in: Proceedings of the Academy of Political Science in the City of New York 12 (1926), S. 475–478. Siehe Renoliet, L’UNESCO oubliée (Anm. 52), S. 246 f. Die Organisation bestand bis zur Auflösung des Völkerbunds 1946 fort und ging ebenso wie das CICI in der UNESCO auf.
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das Institut nicht besonders groß. Die Carnegie-Philanthropie blieb sporadisch und symbolisch. Die RF sollte demgegenüber phasenweise zum Hauptfinancier des Instituts werden.57 RF-Gelder, durchaus ein Indiz für den etwas anderen, auf spezielle Disziplinenformate fokussierenden Förderakzent der Stiftung, flossen darüber hinaus zu großen Teilen in die Organisation, Durchführung und publizistische Nachbereitung der Conférence permanente des hautes études internationales. Seit einem ersten Konvent in Berlin 1928 bildete sie ein Austauschforum unter sozialwissenschaftlichen Experten, die über drängende politische und wirtschaftliche Fragen der Krisenjahre berieten und eine politiknahe Forschungsagenda konzipieren wollten.58 Das Projekt, die „International Relations“ als politisches Beratungswissen transnational zu standardisieren, war allerdings alles andere als ein anschubfinanzierbarer Selbstläufer. Dabei mochte auch eine Rolle spielen, dass das Institut, dem die Konferenzen unterstellt blieben, hauptsächlich von der französischen Regierung finanziert blieb und sich nicht in der Weise den amerikanischen Vorstellungen öffnete, wie erwartet.59 Das galt auch auf längere Sicht: Mit Kriegsbeginn 1939 reduzierten die amerikanischen Stiftungen ihre Subventionen merklich, bevor das Institut mit dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1940 ohnedies geschlossen werden sollte.60 Das Kalkül, die völkerbundeigenen Intellektuellenverbände zu unterstützen, um damit eng mit den europäischen Expertendiskursen verbunden zu bleiben, ging damit letztlich für beide Stiftungen kaum auf. Aus den philanthropischen Interventionen sprach aber die Überzeugung, dass akademische Vernetzung oder der Versuch, sie herzustellen, der globalen Binnenvernetzung der Welt sehr viel mehr Rechnung trug, als die Abstinenzrhetorik der US-Administrationen. An der Regulierung der interdependenten Weltordnung wollte man selbst dann beteiligt bleiben, wenn solche Aktivitäten bescheiden ausfielen.61
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1939 sollte die RF mit 290 000 Francs über der Subvention durch die Staaten liegen. Genaue Haushaltsdaten und Fördersummen listet Renoliet, L’UNESCO oubliée (Anm. 52), S. 206–209, 316. Siehe The Conference of Institutions for the Scientific Study of International Relations, in: Journal of the Royal Institute of International Affairs 8 (1929), S. 185–202; siehe Renoliet, L’UNESCO oubliée (Anm. 52), S. 315–317. Siehe Michael Riemens, International Academic Cooperation on International Relations in the Interwar Period. The International Studies Conference, in: Review of International Studies 37 (2011), Nr. 2, S. 911–928; Daniel Laqua, Transnational Intellectual Cooperation, the League of Nations, and the Problem of Order, in: Journal of Global History 6 (2011), Nr. 2, S. 223–247; Katharina Rietzler, Experts for Peace. Structures and Motivations of Philanthropic Internationalism in the Interwar Years, in: Internationalism Reconfiguered. Transantional Ideas and Movements between the World Wars, hg. von Daniel Laqua, London 2011, S. 45–56. Renoliet, L’UNESCO oubliée (Anm. 52), S. 226. Das CEIP stellte USD in Höhe von umgerechnet 153 000 Francs zur Verfügung die RF 757 740 Francs. Damit blieb man um über einem Drittel unterhalb des Fördervolumens der Vorjahre. Siehe Neil de Marchi, League of Nations Economists and the Ideal of Peaceful Change in the Decade of the Thirties, in: Economics and National Security. A History of their Interaction, hg. von Craufurd D. Goodwin, Durham 1991, S. 143–178, hier: S. 144 f.
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AKADEMISCHE VERNETZUNG UND DIE KONFIGURATION EUROPÄISCHER WISSENSBESTÄNDE UND DISZIPLINEN IN EUROPA Zum völkerbundaffinen Engagement im Umfeld der akademischen Eliten trat das philanthropische Projekt hinzu, transatlantische Forschungs- und Universitätskontakte zu begründen und auszubauen. Auf diesem Weg wollte man bei der Definition zentraler Wissensbestände und im Idealfall in politischen Kernsektoren europäischer Nachkriegspolitik präsent sein. Dieses Projekt kam stockend zustande und führte nicht immer gleich zu langfristigen akademischen Förderkonstellationen. Eher entstand eine Serie experimenteller Tests. Zum einen zielten beide Stiftungen darauf ab, sich in die Bereitstellung und Systematisierung europäischen Weltordnungswissens in wissenschaftlichen Bibliotheken einzubringen. Zum anderen ging vor allem die RF stichprobenartig eine fokussiertere Disziplinenförderung an. Zum Teil zogen die US-Stiftungen also an einem Strang. Man begann damit, beim Wiederaufbau kriegszerstörter wissenschaftlicher Bibliotheken mitzuhelfen und hoffte, auf diese Weise in Art und Ordnung öffentlich bereitgestellten Wissens in Europa intervenieren zu können. So erhielt die American Library Association (ALA) in den 1920er Jahren Gelder des CEIP und der RF, um, unterstützt durch ein Books for Europe Committee der ALA, Buchanschaffungen für europäische wissenschaftliche Bibliotheken zu tätigen.62 Seit den frühen 1920er Jahren engagierte sich die RF hier jährlich mit etwa 10 000 US-Dollar zugunsten eines Fonds, aus dem auswärtige Bibliotheken bei der Anschaffung US-amerikanischer Bücher und Fachzeitschriften unterstützt werden konnten. Bis Frühjahr 1924 waren 1 428 Bücher nach Deutschland, Polen, Ungarn und Österreich verschifft worden. Entsprechende Mittel sollten auch für westeuropäische Forschungsbibliotheken verfügbar gemacht werden.63 Das Books for Europe Committee der ALA hielt mit Unterstützung der RF bis in die Anfangsjahre des Zweiten Weltkriegs hinein an der Idee entsprechender Buchverschiffungen fest, um dem Kriegsnationalismus zu trotzen und ein kulturnationales und dezidiert demokratisches Prestige der USA hochzuhalten. Diese Entscheidung war intern zwar höchst umstritten, die angefeindeten militanten Internationalisten
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1924/5 etwa erhielt die ALA bei einem Gesamtbudget von fast 260 000 US-Dollar vom CEIP die eher symbolische Summe von 2 500 USD für das „Books for Europe“-Programm, für das das Laura Spelman Rockefeller Memorial, wie sich die Vorgängerinstitution der Stiftung bis 1929 nannte, 13 000 USD bereitstellte. Hinzu kamen von Seiten der Carnegie Corporation of New York u. a. 7 500 USD zum Aufbau der als kulturpolitische Plattform genutzten American Library in Paris, siehe A. L. A. Financial Reports 1924 and Budget 1925, in: Bulletin of the American Library Association 19 (1925), S. 57–60. 63 Siehe More Books for European Libraries, in: Bulletin of the American Library Association 18 (1924), S. 133 f. Noch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hielt man an solchen Lieferungen fest. Zwischen September 1939 und November 1942 investierte die Rockefellerstiftung über 50 000 US-Dollar, um über 17 000 Bücher und über 1 700 Jahressubskriptionen für Fachzeitschriften in 12 v. a. westeuropäische Länder außer Deutschland und Italien, daneben aber auch nach Australien, Kanada und Südafrika zu verschicken, von denen mit fast 7 500 USD die meisten Gelder nach Egland gingen, siehe Ellsworth R. Young, The Books for Europe Project. A Résumé, in: Bulletin of the American Library Association 37 (1943), S. 47–50.
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vom Schlage Carl Milams wussten sich in den internen Grabenkämpfen aber zu behaupten.64 Carnegie-Gelder erlaubten es der ALA darüber hinaus, internationale Konferenzen und Amerikareisen zu organisieren, die die europäischen Teilnehmer mit dem hohen Standard vor allem der Ostküsten-Universitätsbibliotheken vertraut machen sollten.65 Die Reaktion eines deutschen Reiseteilnehmers 1927 offenbarte allerdings exemplarisch, dass sich so nicht umstandslos US-amerikanische Modelle moderner Wissensorganisation exportieren ließen. In seinem positiv-nüchternen Bericht sah der Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek Hugo A. Krüss den Primäreffekt dieses amerikanischen Angebots vor allem darin, der lange ersehnten deutschen Reintegration in die akademischen Austauschzirkel zuzuarbeiten. Im Gegenzug nahm Krüss jede Gelegenheit im Rahmen zahlreicher öffentlicher Vortragseinladungen in ausgewählte Ostküstenzirkel wahr, um sich öffentlich auf die „international cooperation“ zu verpflichten. Krüss war sich sicher, dass die USA hier einen symbolischen Internationalismus durchexerzierten, der über den engeren Fachbereich in das weitere Gebiet der internationalen geistigen Beziehungen hineinragte. Gegen eine vollständige Kopie US-amerikanischer Gepflogenheiten setzte er sich allerdings ebenso blumig wie reflexartig zur Wehr.66 Krüss’ Votum illustrierte, dass der philanthropisch vermittelte Export von bibliothekarisch verwalteten Wissensordnungen keiner einschlägigen „Amerikanisierungs“-Logik folgte.67 Das CEIP legte ein globales, von Lateinamerika über West- und Südosteuropa bis Asien reichendes, kapitalintensives Bibliotheksprogramm auf. Dazu gehörte die Modernisierung der Vatikanbibliothek in Rom68 , die das CEIP in den frühen 1920er Jahren als Protégé europäisch verfügbarer, aber amerikanisch modernisierbarer Wissenschaftskultur anstrebte. Hinzu kam das Projekt, die Löwener Universitätsbibliothek wieder instandzusetzen. Sie war 1914 vom deutschen Militär zerstört und seither in der belgischen und alliierten Propagandapresse als Inbegriff kultureller Gräueltaten der deutschen Barbaren gehandelt worden.69 Die hochfahrenden Carnegieberichte und über weite Strecken auch das Echo der US-Medien auf das 64
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Siehe Libraries and the War in Europe, in: Bulletin of the American Library Association 34 (1940), S. 7, 38; Carl H. Milam, Library Participation in International Cultural Relations, in: Bulletin of the American Library Association 36 (1942), S. 76 f. Siehe generell Gary E. Kraske, Missionaries of the Book. The American Library Profession and the Origins of the United States Cultural Diplomacy, Westport 1985; Christina Lembrecht, Bücher für alle. Die UNESCO und die weltweite Förderung des Buches 1946–1982, Berlin/Boston 2013, v. a.: S. 67, 197. Siehe Hugo Andres Krüss, Bericht über den allgemeinen Verlauf der 50-Jahrfeier der „American Library Association“ in Atlantic City vom 4. bis 8. Oktober und der von der Association für die ausländischen Delegierten veranstalteten Studienreise vom 9. bis zum 22. Oktober 1926, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 44 (1927), S. 118–126, hier: 126. Siehe Steven Witt, Agents of Change. The Rise of International Librarianship and the Age of Globalization, in: Library Trends 62 (2014), Nr. 3, S. 504–518. Siehe Nicoletta Mattioli Háry, The Vatican Library and the Carnegie Endowment for International Peace. The History, Impact, and Influence of Their Collaboration (1927–1947), Vatikan Stadt 2009. Siehe Carnegie Fund Aids World Peace Work, in: The New York Times (02. 01. 1921), S. 18. Weitere Carnegie-Gelder wurden in die ebenfalls zerstörte Stadtbibliothek im französischen
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amerikanisch finanzierte Löwener Bauprojekt verdeckten allerdings, wie wenig es den US-Philanthropen häufig vor Ort gelang, Zuspruch für ihre Benevolenz zu erhalten. Im transatlantischen Nahkontakt verprellten die „Carnegie Men“ nicht selten ihre belgischen Kontaktleute mit einem aus der Rolle der USA im Weltkrieg abgeleiteten, allzu offensichtlichen demonstrativen Kulturpaternalismus. Das Bibliotheksprogramm wurde daher auf belgischer Seite sehr viel seltener als solidarische Aufbauhilfe empfunden, sondern schien in erster Linie dazu angetan, US-amerikanische Kulturhoheitsansprüche zu zementieren. Vor dem Krieg waren sie so nie formuliert worden, gehörten inzwischen aber zum patriotischen Gemeingut der US-Akteure weit über die Stiftungen hinaus.70 Versöhnlichere zeitgenössische Berichte über die Wiedereinweihung der Bibliothek 1929 ließen wohl auch deshalb die Rolle der amerikanischen Stiftung ganz außen vor.71 Schließlich überlagerte sich das Bibliotheksprogramm gelegentlich auch mit der parallelen Stiftungsstrategie, Völkerbundaffinität herzustellen, wenn etwa mit Fosdick einer der renommiertesten Rockefeller-Philanthropen sich dafür einsetzte, dass die RF unter anderem zwei Millionen US-Dollar für den Bau und die Bestückung einer internationalen Bibliothek für den Völkerbund in Genf bereitstellte.72 Bibliothekarisch systematisierte Wissensbestände zu verwahren, bildete also die eine Stoßrichtung der Stiftungsarbeit. Daneben kristallisierte sich in beiden Stiftungsmilieus der weiterreichende Ehrgeiz heraus, per akademischer Vernetzung spezielle Wissensformate und Disziplinen zu fördern. Den Carnegie-Philanthropen ging es erneut vor allem darum, den US-amerikanischen Internationalismus und die Völkerrechts-Expertise voranzubringen. Die Rockefeller-Philanthropen auf der anderen Seite verfolgten stärker das ausladendere und differenziertere Projekt, ein den US-Disziplinen möglichst nahestehendes Set von Sozialwissenschaften zu fördern, um sie in Europa zu neuen, modernen Orientierungswissenschaften aufzuwerten. Auf diesem Weg sollte eine globale, modernetaugliche Expertise produziert werden, die die Nachkriegswelt in einer mit den Werthaltungen und Erwartungen der US-Stiftungen affinen Weise steuerbar machen würden.73 Der handfeste Ertrag solcher philanthropischer Bemühungen im Dickicht komplizierter intellektueller Meinungslandschaften und politischer Strukturen im Europa nach 1918 mochte unüberschaubar bleiben. Die hartnäckigen amerikanischen Tests unterschiedlicher
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Reims investiert oder kamen einer neuen Universitätsbibliothek in Belgrad zugute. Zum Bibliotheksprogramm gehörten darüber hinaus auch umfangreiche Fachliteraturlieferungen etwa für die Sorbonne, die Universität London oder die Bibliothek für American Studies in Rom, sowie für asiatische und südamerikanische Bibliotheken, siehe Aids World Peace by Gift of Books, in: The Washington Post (02. 01. 1921), S. 21. Siehe Tammy Proctor, The Louvain Library and US Ambition in Interwar Belgium, in: Journal of Contemporary History 50 (2015), Nr. 2, S. 147–167; Alan Kramer, Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War, Oxford 2007, S. 6–15. Siehe Frank Pierrepont Graves, The Story of the Library at Louvain, in: The Scientific Monthly 28 (1929), S. 134–142. Siehe Wm. W. Bishop, International Library Relations, in: Bulletin of the American Library Association 22 (1928), S. 355–360, hier: S. 356. Siehe u. a. Memorandum: Conditions affecting the Memorial’s Participation in Projects in Social Sciences (1924), in: RAC LSRM II/2/31.
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Förderzuschnitte illustrieren aber einmal mehr, wie konsequent die Philanthropen ihr Ziel verfolgten, mit akademischer Vernetzung und Disziplinenförderung ein dezidiert US-amerikanisches Weltwissen im Nachkriegseuropa präsent zu halten. Carnegies CEIP operierte dabei deutlich unschlüssiger. Es konzentrierte sich in erster Linie darauf, eine völkerrechtswissenschaftlich unterlegte internationale Friedenspolitik voranzubringen und einen institutionellen Rahmen für den erhofften Dialog bereitzustellen. So verwendete sich mit James Brown Scott einer der führenden Carnegie-Philanthropen dafür, die Academy of International Law in Den Haag mitzufinanzieren. Über sie sollte sichergestellt werden, dass sich die Experten des Völkerrechts ständig intensiv untereinander austauschten und an einem großen Projekt einer rechtsbasierten, konfliktresistenten Weltordnung weiterarbeiteten.74 Zeitgenössische Kritiker bezweifelten allerdings, dass das bereits vor dem Krieg gegründete, während der Kriegsjahre regelrecht eingefrorene und nun reaktivierte Institut mehr darstellte als einen Ort unverbindlicher Selbstbestätigung unter Gleichgesinnten: die Idee der Academy, vernetzte Rechtsexperten einer stabilen Weltpolitik zuarbeiten zu lassen, blieb vage. Konkrete Einflüsse ihres Personals auf die Kodifizierung des Völkerrechts bleiben schwer erkennbar.75 Daneben richteten die Carnegie-Philanthropen mit einem 1919 eigens ausgegründeten Institute of International Education (IIE)76 eine Schaltstelle des internationalen Wissenschaftler- und vor allem Studentenaustauschs ein. Volumen und Ertrag solcher Aktionen waren schwer zu übersehen. Mitte der 1930er Jahre wurden über das IIE beispielsweise etwas über 400 amerikanische Wissenschaftler und Studenten nach Deutschland und, damit zugleich mehr als im Falle anderer europäischer Länder, genausoviele deutsche Akademiker in die USA entsandt.77 Parallel zur Förderung universitätsnaher deutscher Forschungsinstitute wie der Deutschen Hochschule für Politik78 ließen sich solche Förderakzente unter anderem als Indiz für das akute Interesse der Amerikaner an einer Fortsetzung der akademischen Beziehungen zu Deutschland auch nach dem Systembruch verstehen. Gemessen an der transatlatischen akademi-
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Siehe The Academy of International Law at the Hague established in Co-Operation with the Carnegie Endowment for International Peace, in: The American Journal of International Law 8 (1914), S. 351–360; James Brown Scott, Opening of the Academy of International Law at the Hague, in: Advocate of Peace through Justice 85 (1923), S. 379 f.; James Brown Scott, The Hague Academy of International Law, in: The American Journal of International Law 17 (1923), S. 746–751; James Brown Scott, The Hague Academy of International Law, in: ebd. 19 (1925), S. 768–771. Siehe Kuehl/Dunn, Keeping the Covenant (Anm. 50), S. 116 f. Siehe The Institute of International Education. First Annual Report, New York 1920, S. I; Ploughing the Field of International Educational Relationships. A Memorandum Upon the Origin, Organization and Activities of the Institute of International Education, in: News Bulletin of the Institute of Pacific Relations (1928), S. 3–8; Stephen Duggan, International Interchange of Students, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 235 (1944), S. 92–99. Siehe Karl-Heinz Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung – Wissenschaft – Politik, Frankfurt a. M. 2004, S. 74. Vgl. dazu S. 182 f.
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schen Migration während der Zwischenkriegsjahre blieben die Dimensionen solcher Programme dennoch eher randständig.79 Sichtbarer wurde das Carnegie-Engagement in den 1920er Jahren in den politischen Epizentren des westlichen Nachkriegseuropa. „Carnegie Chairs“ an der Pariser Sorbonne und an der Berliner Hochschule für Politik in Berlin sollten einem akademisch verankerten, halböffentlichen Versöhnungsdiskurs voranhelfen, indem sie namhaften Völkerrechtsexperten ermöglichten, entsprechende Rechtskonzepte im gesamteuropäischen Raum zu bewerben. So rekrutierte man 1925 den französischen Germanisten André Tibal für einen eigens geschaffenen Carnegie-Lehrstuhl in Paris. Den ehemaligen Rektor des Prager Institut Français holte man nicht so sehr als akademische Koryphäe in die Hauptstadt; Tibal stand vielmehr für eine hochgradig relevante Kultur- und Politikexpertise für die Problemregion Osteuropa, deren Befriedung und Stabilisierung die Amerikaner in der westeuropäische Debatte über zentrale Fragen internationaler Politik mitdiskutiert sehen wollten.80 Parallel dazu richtete das CEIP 1927 auch einen „Carnegie Chair“ an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin ein, die von politischen Kräften im Einzugsbereich der Weimarer Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen und Katholischem Zentrum in Berlin gegründet worden war.81 Auch hier wollte man europäische Expertise für eine völkerrechtlich grundierte Weltfriedensordnung verbreitet sehen.82 Die starke US-amerikanische Handschrift im Berliner Förderprogramm wurde sichtbar, als man den Berliner Lehrstuhl mit einem arrivierten hauseigenen Routinier sozialund geisteswissenschaftlich basierter Politikberatung besetzte: Die Wahl fiel mit dem Historiker und geübten Stiftungsmitglied James T. Shotwell auf ein Multitalent 79
Siehe Stephen J. Duggan, The Institute of International Education, in: Advocate of Peace through Justice 83 (1921), S. 136 f.; Liping Bu, Education and International Cultural Understanding. The Elite American Approach, 1920–1937, in: Teaching America to the World and the World to America. Education and Foreign Relations since 1870, hg. von Richard Garlitz und Lisa Jarvinen, London 2012, S. 111–134; siehe auch Stephen J. Duggan, American Activities in International Eduation, in: The Political Quarterly 15 (1944), S. 265–74; Füssl, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch (Anm. 77), S. 109, 111. 80 Siehe André Tibal; Emmanuel de Martonne, Le problème des minorités, Paris 1929. Siehe dazu Katja Marmetschke, Feindbeobachtung und Verständigung. Der Germanist Edmond Vermeil (1878–1964) in den deutsch-französischen Beziehungen, Köln 2008, S. 242. 81 Siehe Politische Bildung. Wille, Wesen, Ziel, Weg. Sechs Reden, gehalten bei der Eröffnung der Deutschen Hochschule für Politik, Berlin 1921; Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Leben, die Zeit, Stuttgart/Berlin 1937, S. 538–42. Zur Hochschule siehe u. a. Steven D. Korenblat, A School for the Republic? Cosmopolitans and Their Enemies at the Deutsche Hochschule Für Politik, 1920–1933, in: Central European History 39 (2006), Nr. 3, S. 394–430; Manfred Gangl, Die Gründung der „Deutschen Hochschule für Politik“, in: Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik, hg. von Manfred Gangl, Frankfurt a. M. 2008, S. 77–96. 82 Siehe Organization of the Carnegie Peace Foundation, in: The Advocate of Peace 73 (1911), S. 74 f.; Elihu Root, The Outlook for International Law, in: Proceedings of the American Society for International Law 9 (1915), S. 2–11. Zur Einrichtung des Carnegie-Lehrstuhls in Berlin siehe das Telegramm von E. B. Babcock aus Paris und Prittwitz an die DHP Berlin, 29. 10. 1926, Carnegie Endowment for International Peace Centre Européen Records 1911–1940 CEIP CE Box 182 Folder 6 Berlin (Carnegie Lehrstuhl), 1926–1927. Zur Förderung der DHP v. a. Korenblat, A School for the Republic? (Anm. 81).
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akademisch geerdeter Politikexpertise. Shotwell bot in dieser Eigenschaft Kurse für den an der Hochschule auszubildenden diplomatischen Nachwuchs an, die sich mit Fragen der nationalen Sicherheit in den Signatarstaaten von Locarno und den USA beschäftigten.83 Im Rahmen seiner ersten öffentlichen, auch von Politikern besuchten Carnegie Lecture und weiterer Vortragsreihen warb Shotwell zugleich für eine Politik wissenschaftlich-rational abgefederter internationaler Versöhnung.84 Seither lösten sich auf dem Berliner Carnegie-Lehrstuhl namhafte europäische „Versöhnungsdiplomaten“ und Internationalisten im engsten oder doch engeren Umfeld der Carnegiestiftung ab. Die angestoßenen akademischen Dialoge blieben allerdings durchaus weit von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und von der europäischen Nachkriegspolitik der späten 1920er Jahre entfernt.85 Anders als die Carnegie Philanthropen waren die Rockefeller-Verantwortlichen weniger darauf aus, einen transnationalen Versöhnungs-Internationalismus zu befördern. Ihnen ging es vorderhand darum, systematisch Stabilisierungswissen über Politik und Wirtschaft zu protegieren, und eine demokratiekompatible Politikwissenschaft zu unterstützen. Das Interesse der Amerikaner an just diesem Verwissenschaftlichungsprojekt war hoch. Es war ihnen 1926 ein Förderpaket von 200 000 RM bzw. 50 000 US-Dollar für die Berliner Hochschule für Politik wert, das man in den kommenden drei Jahren mit einem jährlichen „Grant“ von 75 000 Dollar regelmäßig neu schnürte.86 Über den Erfolg solcher Förderanstrengungen entschieden allerdings am Ende weniger die Philanthropen als die deutschen Akademiker und politischen Milieus vor Ort. Die Hochschule blieb bei aller „vernunftrepublikanischen“ Vororientierung ein für die Situation deutscher Sozialwissenschaften in den 1920er Jahren symptomatisch ambivalenter Förderort. Zunächst war sie als staatsbürgerliche Bildungsstätte weiter Gesellschaftsteile und der künftigen politischen Eliten des Landes gedacht.87 Gleichzeitig bekannten sich die Hochschulgründer allerdings zu einer auf „Mitteleuropa“ schielenden liberal-imperialistischen Machtpolitik Deutschlands. Der demokratische Grundkonsens der Vernunftrepublikaner blieb von daher rechtskonservativ offen.88 Zudem integrierte man 1927 das Politische Kolleg in die Hochschule, das bis dahin als deutsch-nationaler Konkurrent und Zuträger der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) operiert und sich vor allem aus den Reihen von Jungkonservativen und dem nationalrevolutionären Ring-Kreis rekrutiert hatte. Im Mittelpunkt stand dort vor allem eine Programmatik des „Grenzkampfs“ und der 83 84 85 86
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Siehe Milton Conover, Miscellaneous, in: The American Political Science Review 21 (1927), S. 410–421, hier: S. 416. Siehe Shotwell Outlines New Era for World, in: The New York Times (02. 03. 1927); Would Sift War Guilt in the Light of 1914, in: ebd. (07. 03. 1928), S. 5. Siehe Zara Steiner, The Lights that Failed. European International History, 1919–1933, Oxford 2007; Robert Gerwarth (Hg.), Twisted Paths. Europe, 1914–1945, Oxford 2007. Siehe die Förderzusage vom 18. 03. 1926, in: RAC LSRM III 6/54/537; zur Erneuerung der Finanzierung siehe die späteren Finanzierungsbescheide, in denen die Fördertranchen genau aufgelistet wurden, so der Förderbescheid vom 14. 04. 1932, in: RAC RFA 1.1/ 717S/19/ 177. Siehe Wilhelm Heile, Die Politik der deutschen Demokratie, in: Die Hilfe 51 (18. 12. 1919), S. 722–724. Siehe Rainer Eisfeld, Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920–1945, Baden-Baden 2013, S. 30, 46 f., 52 f.
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Revision entsprechender geopolitischer Regelungen in den Pariser Vorortverträgen.89 Selbst wenn die politisch forcierte Arbeitsgemeinschaft zwischen Hochschule und Kolleg kaum bis 1930 hielt, prägten seitdem auch deutschnationale Dozierende das Bild der amerikanisch geförderten Hochschule.90 Mehrheiten für die demokratiekompatible Politikwissenschaft, die die Amerikaner zu unterstützten hofften, ließen sich so nicht ohne Weiteres finden. Als Sponsor für die Hochschule hatte sich die RF aber nicht vom rechtsnationalen Lager gewinnen lassen, sondern war den Werbungen des Hochschul-Leiters und langjährigen Kontaktmannes der Stiftung, Ernst Jäckh, gefolgt. Der sah im Kontakt mit den USA eine wichtige Option, das dezimierte Nachkriegsdeutschland mithilfe amerikanischer Unterstützung zu regenerieren. Die transatlantische Achse wollte er als wichtige Stütze in die revisionistisch ambitionierte internationale Verständigungspolitik einziehen.91 Jäckh wusste die Hochschule ständig neu zu vermarkten: als Inbegriff eines erstrangigen Knotenpunkts des Social Engineering92 , der Produktion von politikrelevantem Wissen über die Planung und Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft, und als Hort einer Art intellektuellen Kernschmelze von neuartig moderner Sozialwissenschaft und unmittelbar außenpolitisch relevanter Expertise. In solchen Selbstdarstellungen firmierte die Hochschule schon mal einigermaßen gewagt als Vorreiter des Kellog-Briand-Paktes vom Sommer 1928, der unter denkbar komplizierten Verhandlungsbedingungen als kollektiver Kriegsächtungspakt zustande gekommen war. In diesem Sinne hatte Jäckh die Hochschule noch 1929 inszeniert und die amerikanischen Stiftungsoffiziellen damit zunächst beindruckt.93 Wachsender politischer Extremismus und schließlich der Regimewechsel von 1933 in Deutschland forderte die Philanthropen allerdings besonders heraus. Symptomatisch für die Widrigkeiten, die die Stiftungen vom Systemumbruch ausgehen sahen, stoppten sie die Förderungen für die Deutsche Hochschule ebenso wie für das Institut für Auswärtige Politik in Hamburg oder für das ebenfalls stark subventionierte Institut für Sozial- und Staatswissenschaften in Heidelberg. Denn die amerikanischen Beobachter bewerteten die Förderbedingungen im NS-Deutschland
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Siehe Berthold Petzinna, Das Politische Kolleg. Konzept, Politik und Praxis einer konservativen Bildungsstätte in der Weimarer Republik, in: „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, hg. von Paul Ciupke et al., Essen 2007, S. 101–118, hier: S. 113. Siehe u. a. Martin Spahn, Die Großmächte. Richtlinien ihrer Geschichte. Maßstäbe ihres Wesens, Berlin/Wien 1918; Martin Spahn, Die Pariser Politische Hochschule und Frankreichs Wiederaufstieg nach 1871, in: Die Grenzboten 79 (1919), S. 28–30. Siehe Eisfeld, Ausgebürgert (Anm. 88), S. 74. Siehe Thomas Etzemüller, Social Engineering, in: Docupedia-Zeitgeschichte (11. 02. 2010), . In der Sprache der RF las sich das gelegentlich lapidarer, siehe z. B. Activities of the Rockefeller Foundation, in: Science 78 (1933), S. 411–414, hier: S. 413: The principal objective of The Rockefeller Foundation’s program in the social sciences is the more effective analysis and better understanding of pressing social problems with a view to the improvement of the prevailing conditions of human life. Siehe Jäcks Rede anlässlich der Conference of Institutions for the Scientific Study of International Relations, in: Journal of the Royal Institute of International Affairs 8 (1929), S. 185–202, hier: S. 197–199.
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zunehmend negativ.94 Was als verheißungsvolles Experiment erschienen war, vereinseitigte sich unter dem Eindruck der NS-Gleichschaltungspolitik einschlägig. An einer regimekonformen völkischen Auslandswissenschaft an der Hochschule war man nicht mehr interessiert. Stattdessen reagierte die Stiftung auf die repressive Dynamik des totalitären Regimes seit 1933 und kanalisierte sie im Rahmen eines systematischen „Brain Gain“ zu ihren eigenen, dezidiert US-amerikanischen Gunsten95 : Eine handverlesene Schar jüdischstämmiger Sozialwissenschaftler holte man etwa mit Hans Simons, Arnold Wolfers oder Sigmund Neumann aus der Berliner Hochschule, mit Emil Lederer, Adolph Lowe oder Hans Neisser aber auch aus dem Kieler Wirtschaftsinstitut und dem Heidelberger Institut in die USA, und umwarb unter anderem mit Max Horckheimer auch Exponenten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, nachdem sie seit der Machtergreifung in Deutschland von den Nationalsozialisten diffamiert, entlassen und verfolgt wurden. Teils in amerikanischer Eigenregie, teils in transatlantischer Kooperation gewährte die Stiftung Fluchthilfe und verschaffte den akademischen Zwangsexilierten zum Teil privilegierte Exilorte wie die New Yorker New School for Social Research96 oder Dozenturen an den renommierten „Ivy League“-Universitäten.97 Damit brach allerdings ein zentrales US-Vernetzungsprojekt just an dem Ort ab, an dem man sich große Gestaltungspotentiale erhofft hatte. Bis Anfang der 1930er Jahre allerdings konnten die Berliner Akademiker durchaus profitieren: Repräsentativ für die Nachkriegsprobleme deutscher Wissenschaftler, war der Bedarf an kapitalintensiver akademischer Vernetzung mit amerikanischen Geldgebern nach 1918 immens gewesen, zumal sich staatliche Forschungsfinanzierung dort in der Regel auf für kriegsrelevant erachtete Wissensressourcen beschränkte. Auch spekulierte man nicht ohne Grund darauf, dass die amerikanischen Gratifikationen die verhärteten Fronten zwischen ehemaligen alliierten und deutschen Akademikern aufzubrechen helfen würden. In dieser demonstrativen Aufwertung lag aus deutscher Sicht tatsächlich die beispiellose „Humanität“ der amerikanischen Philanthropen.98 94 95 96 97
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Siehe der Lagebericht zum Heidelberger Institut für Sozial- und Staatswissenschaften von Van Sickle an Day, 28. 10. 1933, in: RAC LSRM III 6/54/580. Siehe u. a. Tracy B. Kittredge, Refugee Scholars, 23. 01. 1940, in: RAC RFA RG 6.1/40/492. Siehe Alvin Johnson, The University in Exile, in: American Scholar 2 (1933), S. 487. Siehe Stephen J. Duggan und Betty Drury, The Rescue of Science and Learning. The Story of the Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars, New York 1948; Claus-Dieter Krohn, Emigration 1933–1945/1950, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 31. 05. 2011, ; Felix Rösch (Hg.), Èmigré Scholars and the Genesis of International Relations. A European Discipline in America?, Houndmills/Basingstoke/New York 2014; Tibor Frank, Organized Rescue Operations in Europe and the United States, 1933–1945, in: In Defence of Learning. The Plight, Persecution, and Placement of Academic Refugees 1933–1980, hg. von Shula Marks, Paul Weindling und Laura Wintour, Oxford 2011, S. 143–160. Siehe in diesem Sinne das Dankesschreiben des Direktors des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel an das LSRM am 03. 02. 1926, in: RAC LSRM III/6/61/659. Siehe zum Kontext SchroederGudehus, Probing the Master Narrative (Anm. 10); Aleksandr N. Dmitriev und André Filler, La mobilisation intellectuelle. La communauté académique internationale et la Première Guerre mondiale, in: Cahiers du Monde russe 43 (2002), Nr. 4, S. 617–644.
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FAZIT So wenig die US-Philanthropen einen Masterplan im Zwischenkriegseuropa durchexerzierten, so deutlich nutzten sie die Förderung akademischer Vernetzung als politisches Instrument. Sie versuchten, nicht nur die intellektuelle Kooperation innerhalb des „White Atlantic“99 zu stärken, sondern auch, innerhalb dieser Expertenkoalition die US-amerikanischen Sichtweisen auf die Problemlage der Nachkriegsgesellschaften und auf obligate Lösungsstrategien in ihrem Sinne zu stärken. An einigen Stellen ergänzten sich die philanthropischen Projekte, an vielen entstanden allerdings auch distinkte Strategien. Bei den Carnegie-Philanthropen blieb die Vision im Vordergrund, die akademischen Kontakte zu nutzen, um die internationale Versöhnungstaktik zu unterfüttern und in Europa eine informierte demokratische Öffentlichkeit herzustellen. Die Rockfeller-Philanthropen arbeiteten früher und systematischer darauf hin, die Herausbildung spezieller Wissensformate zu unterstützten und mit zu formen, von denen sie sich Problemlösungspotential beim Abarbeiten der überbordendend politischen und sozialen Nachkriegsagenda in Europa erhofften. In beiden Fällen machten die US-Philanthropen akademische Vernetzung zu einem hochgradig politischen Unterfangen. Dass die Internationalismus-Mission „à l’américaine“ beileibe nicht glatt aufging, erklärt sich aus den äußerst prekären Wirkungsbedingungen dieser US-amerikanischen Intervention in Europa nach 1918.
ABSTRACT Against the background of military, political and economic supremacy of the U. S. after the Great War, the Rockefeller Foundation and the Carnegie Endowment for International Peace began investing in European science and academic infrastructures. As they promoted modern scientific knowledge to further postwar European reconstruction, Scientific Philanthropy became a transatlantic key moment of strategic political intervention. From the outset, their agenda went far beyond mere academic networking. First, while Republican U. S. government policies kept aloof from internationalist commitments, the Philanthropists ventured to experiment with an internationalist alternative. Academic entanglement became their tool for approaching the cloud of international experts in the environs of the newly established League of Nations. Second, Philanthropists pursued their innermost goals of interfering in contemporary European academic knowledge orders. They left an imprint by financing prestigious reconstruction work such as the rebuilding of the Louvain Library in Belgium. Moreover they focused on supporting carefully selected disciplinary fields of knowledge with a distinct focus: Carnegie representatives concentrated on 99
„White Atlantic“ bezeichnet nach David Armitage eine Diskursformation während der 1940er Jahre, in der Nordamerika und die British Isles und Europa dezidiert als „the West“ gefasst wurden, siehe David Armitage, Three Concepts of Atlantic History, in: The British Atlantic World, 1500–1800, hg. Von David Armitage und M. J. Braddick, New York 2002, S. 13 f. Der Atlantik schien weiß angesichts einer scheinbar unentrinnbaren kulturellen Dominanz der „Anglo-Amerikanischen Rasse“ in multiethnischen Gesellschaften.
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international law while Rockefeller officers leant towards funding what was rated as political science expertise with the prospect of stabilizing especially the postwar German Republic. Ultimately, Philanthropy was not of one piece nor were smooth processes of American knowledge exports to Europe guaranteed. It rather turned out to materialize as an experimental series of transnational intellectual cooperations with debatable half-lifes.
BILDUNG NACH DEUTSCHER ART* Die Lehrerseminare in Chile im 19. Jahrhundert Ana Belén García Timón
1. EINFÜHRUNG Die Geburt der unabhängigen Republiken Lateinamerikas zu Beginn des 19. Jahrhunderts beinhaltete eine Reihe von Reformen, welche der Abschaffung der alten Kolonialordnung dienen sollten. Der Prozess des Übergangs einer Kolonie zur Unabhängigkeit wurde in den meisten lateinamerikanischen Republiken von einem Teil der Bevölkerung, der später als Oligarchie, Aristokratie oder Elite bezeichnet wurde1 , organisiert und durchgeführt. Dieser Prozess des Wandels dauerte von der Unabhängigkeit bis ins frühe 20. Jahrhundert, wobei sein Ende mit dem Aufkommen sozialer Bewegungen und Arbeiterorganisationen, die von sozialistischen ideologischen Tendenzen und/oder Anarchisten beeinflusst waren, korrelierte.2 Mit der Unabhängigkeit begann die Suche nach neuen institutionellen und wirtschaftlichen (aber nicht zwingend sozialen) Modellen, um sich von den Strukturen der Metropole lösen zu können.3 Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Republik Chile und die Reform seines Bildungssystems nach deutschem Vorbild. Im Gegensatz zu anderen Ländern, welche sich Frankreich als Vorbild für den Aufbau des Bildungssystems nahmen4 , wurde in Chile, im Militärbereich und in der Bildung, nach deutschen Strukturen gesucht. Die Ideologen der Unabhängigkeit waren daran interessiert, die während der Kolonialzeit unterworfenen Territorien von der „Barbarei“5 zu befreien. Mit diesen Gedanken analysierten sie die Ereignisse der französischen Revolution von 1789 und die Unabhängigkeit der nordamerikanischen Kolonien von 1776, welche die Ausbrei-
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Herzlich danken möchten die Herausgeberinnen Friederike Simon für die Übersetzung der spanischsprachigen Zitate ins Deutsche. Marcelo Carmagnani, Estado y Sociedad en América Latina, Barcelona 1984, S. 9. Siehe Mario Garcés, Crisis social y motines populares en el 1900, Santiago de Chile 2003; José C. Moya, Primos y extranjeros. La inmigración española en Buenos Aires, 1850–1930, Buenos Aires 2004. Bernardo Subercaseaux, La apropiación cultural en el pensamiento y la cultura de América Latina, in: Estudios Públicos 30 (1988), S. 126. Siehe Manuel Horacio Solari, Historia de la educación argentina, Buenos Aires 1991, S. 42–45; Astrid Fischel, Consenso y Represión, San José 1987. Begriff nach Domingo Faustino Sarmiento, Facundo. Civilización y barbarie, Madrid 1990.
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tung der Ideologie der Aufklärung6 auf dem amerikanischen Kontinent unmittelbar nach der Emanzipation von den europäischen Kolonialmächten beförderten.7 In Chile führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts politische und soziale Unruhen dazu, dass die Oligarchie nach Möglichkeiten suchte, den extremistischen Entwicklungen, die in Frankreich nach der Revolution zu beobachten waren, vorzubeugen und dafür einen Ordnungsstaat aufzubauen.8 Die ideologische Suche führte zu Preußen als Modell für Ordnung, Disziplin und Organisation, das ab 1871 mit der Gründung des Kaiserreiches die Vormacht innerhalb des Deutschen Reiches erreichte. Diese Werte sollten der herrschenden Klasse in der Übergangphase von der Kolonialherrschaft zum republikanischen System bei der Durchsetzung ihrer Ziele behilflich sein. Somit entstand ein Prozess des kulturellen Transfers, welcher nicht mehr nur durch den Grenzkontakt oder die bilateralen Beziehungen bestimmt war, sondern durch die Instrumentalisierung transnationaler kultureller Instrumente für das Erreichen von nationalen Zielen. Hauptzweck der Reformen war die Schaffung eines starken und gleichzeitig elitären Staatsapparats, der den Interessen der Oligarchie diente. Durch diese Reformprozesse sollte die Machterhaltung der kreolischen Oligarchie gewährleistet werden. Hinzu kam eine wirtschaftlich starke Händlerelite, deren Macht sich auf ihre ökonomischen Erfolge und ihren Reichtum stützte.9 Um ihr Projekt nachhaltig umsetzen zu können, setzte die Elite hauptsächlich auf eine Institutionalisierung und Systematisierung der sozialen Kontrolle.10 Jedoch wurden die preußischen Werte nicht in allen Bereichen der Organisation der neuen Republik übernommen. So wurde England als Vorbild für die Organisation der Wirtschaft, der Industrie und der Finanzen herangezogen, und ebenso galt Frankreich als Quelle der Inspiration für die Elite in den Bereichen Mode, Lebensstil und Feierlichkeiten.11 Preußen (oder später das Deutsche Reich) hingegen galten als Vorbild für die Organisation der Bildung und der Armee.12 In der vorliegenden Analyse werden die Motivationen untersucht, die die chilenischen Eliten dazu bewogen, das deutsche Bildungssystem und seine Prinzipien zu rezipieren. Die Hypothese lautet, dass mehr politische als pädagogische Überlegungen zur Rezeption und dem Versuch der Umsetzung des Modells führten. 6
David Brading, Orbe indiano. De la monarquía católica a la república criolla, 1492–1867, Ciudad de Mexico 1993. 7 Jean Pierre Blancpain, Cultura francesa y francomanía en América Latina. El caso chileno en el siglo XIX, in: Cuadernos de Historia 7 (1987), Nr. 11, S. 11–52. 8 Subercaseaux, La apropiación cultural (Anm. 3), S. 193. 9 Siehe Alberto Edwards Vives, La población de Chile. A cuánto asciende, cómo se ha formado, en qué proporción crece, in: Pacífico magazine 18 (1919), Nr. 74, S. 117–123; Ricardo Nazer Ahumada, José Tomás Urmeneta. Un empresario minero der siglo XIX, in: Ignacio Domeyko, José Tomás Urmeneta, Juan Brüggen. Tres forjadores de la minería nacional, hg. von J. Pinto Vallejos, J. Jofré Rodriguez und Ricardo Nazer Ahumada, Santiago 1993, S. 83–154. 10 Armando De Ramón, Historia de Chile. Desde la invasión incaica hasta nuestros días, Santiago 2003, S. 65–68. 11 Siehe Eduardo Cavieres Figueroa, Comercio chileno y comerciantes ingleses 1820–1880, Valparaíso 1988, S. 107, 112; Blancpain, Cultura francesa (Anm. 7), S. 11–52. 12 Frederik M. Nunn, Emil Körner and the Prussianization of the Chilean Army. Origins, Process, and Consequences, 1885–1920, in: The Hispanic American Historical Review 50 (1970), Nr. 2, S. 300–322.
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Der Untersuchungszeitraum für die Rezeption des preußischen Bildungsmodells umfasst die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.13 Die 1833 verabschiedete Verfassung bildete die rechtliche Grundlage für die Aktionen der Oligarchie in der so genannten Anfangsphase und ihrer Konsolidierung sowie für den Aufbau der chilenischen Sozialstruktur.14 Zwar gab es nach 1871 verschiedene Verfassungsreformen, jedoch wurde das Dokument dadurch nicht wesentlich verändert und blieb bis 1925 in Kraft. Das chilenische Modell für die Lehrerausbildung kann als ein Pionierprojekt in Lateinamerika angesehen werden, das beispielweise nach Venezuela oder Costa Rica exportiert wurde.15 Zu den wichtigsten Neuerungen dieser Zeit gehört die Einführung der Pädagogik als Fach an den Universitäten, die Zusammensetzung von Theorie und Praxis im Schulunterricht sowie die Ablehnung von Gewalt in den Klassenzimmern. Im Folgenden werden zuerst Texte der wichtigsten Vordenker der Bildungsreform in Chile, José Abelardo Núñez und Valentin Letelier, sowie der deutsche Hintergrund ihrer Ideen analysiert. Daran anschließend wird die Praxis der Einstellung deutscher Lehrer für die Lehrerseminare (Escuelas Normales) und das Pädagogische Institut (Instituto Pedagógico) in Chile untersucht.
2. THEORETISCHER HINTERGRUND UND BEGRIFFSDEFINITIONEN In der chilenischen Historiographie unterscheidet Bernardo Subercaseaux zwei Arten der Aneignung externer kultureller Elemente16 in Lateinamerika. Das erste Modell
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Der Ausdruck „zweite Hälfte“ wurde bewusst gewählt, da eine Vielzahl von Faktoren die Angabe eines konkreten Datums nicht erlauben. Wenn lediglich der pädagogische Bereich betrachtet wird, reicht der Analysezeitraum von der Gründung der Universität Chile und des Lehrerseminars in Santiago (Escuela Normal de Preceptores) im Jahr 1842 bis zur Gründung eines pädagogischen Instituts mit ausschließlich deutschen Lehrkräften, welche im Jahr 1889 stattfand. Allerdings waren die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen so bedeutend für die Gründung dieser Institutionen, dass ein paralleler Zeithintergrund verwendet werden muss. Für die sozialen Aspekte wird die Zeitspanne der Elitebildung nach Carmagnani genutzt, siehe Carmagnani, Estado y Sociedad (Anm. 1), S. 9. 14 Domingo Amunátegui Solar, Pipiolos y pelucones, Santiago 1939, S. 40. 15 Siehe Fischel, Consenso (Anm. 4). 16 Mit der Pionierarbeit von Espagne und Werner (ab 1988) in Frankreich, die hauptsächlich den Transfer zwischen Frankreich und Deutschland beschrieben, beginnt die Diskussion zu kulturellem Transfer, siehe Michel Espagne, Die anthropologische Dimension der Kulturtransferforschung, in: Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart, hg. von Helga Mitterbauer und Katharina Scherke, Wien 2005, S. 75–93; Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M./New York 1996; Michel Espagne, Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer, in: Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815, hg. von Hans-Jürgen Lüsebrink und Rolf Reichardt, Leipzig 1997, S. 309–330; Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999; Michel Espagne und Michael Werner, Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert, in: Francia 13 (1985), S. 502–510; Michel Espagne und Michael Werner, La construction d’une référence
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ist das „Modell der Reproduktion“, bei dem die Eliten sich selbst als europäisch wahrnahmen. Ihre eigene Bildung und Ausbildung war hauptsächlich an europäischen Denkern und Theoretikern orientiert. Das zweite Modell ist das „Modell der kulturellen Aneignung“. Hierbei wurden externe Elemente rezipiert und an lokale Bedingungen angepasst (oder: auf den lokalen Kontext übertragen).17 Subercaseaux ordnet Chile in das zweite Modell, das der kulturellen Aneignung, ein. Der vorliegende Artikel hingegen argumentiert, dass Chile eine Phase der kulturellen Reproduktion erlebte, die von der Unabhängigkeit, im Jahr 1810, bis in die 1870er Jahren andauerte. In diesen Jahren werden besonders die Ideen der Französischen Revolution rezipiert und deren Umsetzung versucht. Erst nach dieser Zeit, verläuft die Entwicklung in Chile eher nach dem Modell der kulturellen Aneignung, wie Subercaseaux es beschreibt. Diese Veränderung korreliert mit der schon genannten Periode der deutschen Reformen in den Bereichen Bildung, zum Beispiel dem im Jahr 1842 gegründeten Grundschullehrerseminar, der militärischen Ausbildung oder Technologie, die (in Deutschland und) in Chile die frankophile Tradition ersetzen sollten. Sowohl in der Phase der Reproduktion als auch während der Aneignung herrschte die schon erwähnte Oligarchie oder, adäquater ausgedrückt, die Elite. Die Analyse nutzt das machiavellistische Konzept der Elite von Vilfredo Pareto, Gaetano Moscas und Robert Michels, nach denen es „unabhängig von der formalen Struktur eines Landes, in Wirklichkeit immer eine Minderheit gibt, die die Macht erhält und ausübt.“18 Bis zum Erstarken des Bürgertums, in Chile der Mittelschicht, da nach der Unabhängigkeit dem Adel alle Titel verboten waren19 , wurde dieser elitären Minderheit, die meist einer in der Gesellschaft anerkannten Familie angehörte, von der Bevölkerung zugestanden, zu regieren. Aufgrund der Konsequenzen bürgerlicher bzw. kritischer Aufstände während des 19. Jahrhunderts in Europa wurde das Konzept der funktionalen Eliten entwickelt. Dieses Elitenverständnis sieht die Möglichkeit vor, durch individuelle Verdienste sozial aufzusteigen. Es scheint jedoch, dass es in Chile in den meisten Fällen eine Kontinuität der Familien gab, die mit Macht ausgestattet waren, sowohl wirtschaftlich als auch politisch, die die Kolonialherrschaft und die Periode der Unabhängigkeit überdauerte. Das (reformierte) Bildungssystem sollte diese Kontinuität unterstützen.
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culturelle allemande en France. Genèse et histoire (1750–1914), in: Annales E. S. C. 4 (1987), S. 969–992; Michel Espagne und Michael Werner (Hg.), Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand, Paris 1988. Für den chilenischen Fall wird in dieser Arbeit angenommen, dass der Transfer erfolgreich war, auch wenn es Änderungen im übernommenen Kulturgut gab, da es an einen Kontext angepasst werden musste, der sich deutlich von dem unterschied, in welchem das Kulturgut seinen Ursprung hatte. Subercaseaux, La apropiación cultural (Anm. 3), S. 126. Peter Waldmann, Algunas observaciones y reflexiones críticas sobre el concepto de elite(s), in: Elites en América Latina, hg. von Peter Birle et al., Frankfurt a. M./Madrid 2007, S. 10. Chilenische Verfassung 1828, §126.
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3. CHILENISCHE THEORETIKER DER BILDUNGSREFORM Die Universität Chile wurde am 1842 unter dem Rektorat von Andrés Bello gegründet.20 Damit wurde die Weiterbildung der Elite gefördert, ohne nachhaltige Konsequenzen für die restliche Bevölkerung zu haben. Zwar wurde 1860 ein Grundschulgesetz eingeführt, das die Unentgeltlichkeit der Grundschule vorsah, die Schulpflicht wurde im Zuge dessen jedoch nicht eingeführt. Das Grundschulgesetz sollte die Bildung für alle garantieren. Die Quote alphabetisierter Kinder stieg nach der Einführung dieses Gesetzes allerdings nicht an, weil arme Kinder im ländlichen Raum ohne entsprechende Infrastruktur die Schule auch weiterhin nicht besuchten, aus materiellen Gründen, aufgrund des Fehlens qualifizierter Lehrer und vor allem auch, weil die Familien, um ihre Existenz sichern zu können, auf die Arbeit der Kinder angewiesen waren. Gleichzeitig blieben die Sekundarstufe und die Universität, die der Ausbildung des Nachwuchses der Elite dienten, einer privilegierten Gesellschaftsgruppe vorbehalten. Insgesamt wurde das allgemeine Bildungsniveau der Bevölkerung weder durch die Gründung der Universität noch durch das Schulgesetz signifikant verbessert.21 In Chile waren unmittelbar nach der Unabhängigkeit der polnische Professor Ignacio Domeyko22 , der Jurist und zukünftige Gründer der Universität Chile, Andrés Bello23 oder der zukünftige Präsident Argentiniens, Domingo Faustino Sarmiento24 die ersten Denker, die für eine Reform des Bildungssystem plädierten. Sie sprachen sich für die Ausbildung des Volkes als wichtigen Faktor für den Fortschritt aus. Ebenso hielten sie es für sehr wichtig, der allgemeinen Bevölkerung den Zugang zur Bildung zu ermöglichen.25 Außerdem forderten sie die Professionalisierung des Lehrberufes innerhalb der Hochschulausbildung. Ihre Vorschläge stimmten, allerdings nur im universitären Bereich, mit den politischen Vorstellungen des damaligen Bildungsministers Manuel Mont26 überein und erreichten ihren Höhepunkt mit der
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Iván Jaksic, Andrés Bello. La pasión por el orden, Santiago 2001, S. 158. 1870 lag die Rate der alphabetisierten Bevölkerung bei 17,6 %, siehe Sol Serrano, Los conservadores y la formación del estado liberal chileno, in: Liberalismo y conservadurismo en Chile, hg. von Alejandro G. Vial, Santiago 2002, S. 97. Siehe Berta Lastarria Cavero, Ignacio Domeyko y su época, Valparaíso 1937; Ignacio Domeyko, Memoria sobre el modo más conveniente de reformar la enseñanza en Chile, in: El Seminario de Santiago (05. 01. 1843), S. 218. Siehe Jaksic, Andrés Bello (Anm. 20); Ana María Stuven, La seducción de un orden. Las elites y la construcción de Chile en las polémicas culturales y políticas del siglo XIX, Santiago 2000, S. 45. Domingo Faustino Sarmiento, Ideas pedagógicas, in: Obras de D. F. Sarmiento, Santiago 1899. Mario Monsalve Bórquez, „. . . I el silencio comenzó a reinar“. Documentos para la historia de la instrucción primaria 1840–1920, Santiago 1998. Diese Problematik wird im 6. Kapitel dieses Aufsatzes tiefergehend behandelt. Manuel Montt gehörte zu der renommierten Familie Montt, deren Mitglieder seit Anfang des 18. Jahrhunderts an der Spitze der Regierung standen. Manuel Montt studierte Jura an der Instituto Nacional. Danach arbeitete er immer an der Seite des konservativen Präsidenten Bulnes, bis er selbst 1851 Präsident wurde, siehe Bernardino Bravo Lira, Un gobernante ilustrado en el Chile del siglo XIX. Manuel Montt, Ministro y Presidente de la República, 1840–1861, in: Boletín de la Academia chilena de la Historia 57 (1990), Nr. 101, S. 99–201.
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Gründung der Universität Chile im Jahr 1842.27 Aufgrund der Misserfolge blieb das Thema Bildung am Ende des Jahrhunderts ein wichtiger Tagesordnungspunkt der chilenischen Politik. Die (deutsche) Bildungsidee im Zusammenhang mit der Ausbildung einer deutschen Nation überzeugte chilenische Erziehungstheoretiker und die späteren Verantwortlichen von einer (Re-)Reform des Bildungssystems. Die Einführung einer Art Nationalen Erziehungsplans nach Fichte28 sollte in Chile nicht nur den Bildungsgrad in der Bevölkerung erhöhen, sondern auch das Gefühl der Zugehörigkeit zur Nation stärken. Die (deutsche) Bildungsidee findet in Fichtes Schriften die notwendige Präsenz und die ausreichende Referenz. In Fichtes „Nationalem Erziehungsplan“ (1808)29 wird die Nation als Ganzes betrachtet; er beinhaltet, dass die Zusammengehörigkeit der Bürger durch Erziehung erreicht werden kann und soll. Das deutsche Bildungssystem, das sich an Fichtes Bildungsidee orientierte, zielte hauptsächlich auf Erziehung nach der Kant’schen Theorie der Vernunft ab, während die Ausbildung eher zweitrangig war. Zu diesem Zweck wurde die allgemeine Schulpflicht in Deutschland eingeführt. Dieser entscheidende Beitrag zur universellen Alphabetisierung diente folglich gleichzeitig als außergewöhnlich effektives Instrument, um das Verhalten der Bürger gegenüber dem Staat zu manipulieren. Politische Haltungen und Verhaltensmuster wurden durch vom Staat bzw. der politischen Elite in die Schule eingeführte alltägliche Elemente, wie zum Beispiel Lehrpläne oder die Beziehung zum Lehrer, geprägt und anerzogen.30 Das System erlaubte allen Kindern den Besuch der Grundschule, weil in Deutschland, genau wie in Chile, das Prinzip der universellen Bildung herrschte. Dieses Prinzip galt jedoch nur für das Grundschulniveau, da die höheren Bildungseinrichtungen für eine Minderheit reserviert blieben. Der Zugang zu höheren Posten im Berufsleben blieb derjenigen Bevölkerungsgruppe vorbehalten, die das Gymnasium besuchte und einen universitären Abschluss erzielen konnte. Diese Minderheit und deren Nachfolger sollten das Land zukünftig führen. Da Gymnasien in der Regel kostenpflichtig waren, blieben sie armen Bevölkerungsschichten vorenthalten. Auf diese Weise wurden die Möglichkeiten für die soziale Mobilität eingeschränkt.31 In den 1880er Jahren waren José Abelardo Núñez und Valentín Letelier zuständig für die Reformierung der Grund- und Sekundarschule. Beide waren Anhänger des deutschen Bildungssystems und orientierten ihre Ideen am Erreichen einer universellen Ausbildung für die Massen. José Abelardo Núñez stammte aus einer Pädagogenfamilie, studierte Jura an der Universität Chile und begann sein Berufsleben in der Politik, als Berater im Außenministerium. Er verließ die Politik, um eine Möglichkeit zu suchen, das Bildungssystem zu ändern, damit auch das einfache Volk Zugang zu Bildung bekäme.32 27 28 29 30 31
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Sarmiento, Ideas pedagógicas (Anm. 24). Stefan Reiß, Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ oder vom Ich zum Wir, Berlin 2006, S. 173. Ebd., S. 173. Siehe Detlef Müller, Sozialstruktur und Schulsystem, Göttingen 1981, S. 79. Detlef Müller und Bernd Zymek (Hg.), Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems in den Staaten des Deutschen Reiches, 1800–1945, Bd. 1: Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Göttingen 1987, S. 19. Álvaro Ceballos, Las empresas editoriales de José Abelardo Núnez en Alemania, 1881–1905, in: Historia I (2008), S. 43–62.
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Valentin Letelier gehörte zu einer eingewanderten Familie französischer Herkunft, welche die letzten Jahre der Kolonie zum Gewinn von Geld und zur Verbesserung ihres sozialen Status genutzt hatte.33 Nach der Unabhängigkeit litt die Familie vor allem unter ökonomischen Verlusten, nutzte aber die in der „guten alten Zeit“ entstandenen Kontakte, um Valentin Letelier die beste Ausbildung zu geben.34 Seine politische Aktivität übte er im Einklang mit dem politischen Liberalismus aus, was bedeutete, dass er die Verstärkung der Rolle des Staates unterstützte und für die Reform des Bildungssystems plädierte.35 Die Originalität der Ideen dieser Autoren lag, nach ihren Beobachtungen während Reisen durch die USA und Europa, in der Betonung der Entwicklung und Verbesserung des Lehrerberufes. Por esto, (por ignorar el valor moral de la pedagogía) la obra de la reforma i nueva organizacion de nuestros institutos normales, reclamada tan imperiosamente por la opinion del pais, necesita corresponder a los importantes fines de formar maestros debidamente preparados, i servir de centro, así como de punto de partida, al nuevo rumbo que debe tomar el sistema de educacion nacional para satisfacer aquellas necesidades i aspiraciones.36
Damit wurde die Professionalisierung des pädagogischen Berufs im Rahmen der Modernisierung des Landes eingeführt. Die Akademien für Lehrerbildung in Deutschland dienten als Modell, um Chile aus der, wie sie es nach den Schriften von Sarmiento37 nannten, „barbarie“ herauszuholen. Der Lehrer trat in diesem Konzept als Vertreter des Staates auf.38 Mit diesem Vorgehen betrat Chile, im Gegensatz zu anderen Ländern der Region, reformpolitisches Neuland. Die Betonung von Disziplin und die Ordnung im deutschen Bildungssystem überzeugten José Abelardo Núñez während seiner Reise durch die Vereinigten Staaten und Europa in den Jahren 1879 bis 1882. Daraus resultierte sein Bericht „Organización de Escuelas Normales“, in dem er seine Eindrücke über das Bildungswesen in verschiedenen Ländern Europas beschrieb.39 Die deutsche Gesellschaft war seiner Ansicht nach ein perfektes Modell für die chilenische Gesellschaft. 33
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Pablo Portales, Radical Insobornable. Valentín Letelier Madariaga, (1852–1919), in: La Nación (06. 10. 1991), S. 6; Humberto Enríquez Frodden, Valentín Letelier, el politico, in: Anales de la Universidad de Chile 105 (1957), Nr. 1, S. 55–63; Carlos Sanhueza Cerda und Isidora Puga Serrano, Noticias desde Berlín. Cartas de Valentín Letelier a Darío Risopatrón Cañas (1883–1885), in: Historia 39 (2006), Nr. 2, S. 558. Santiago, Archivo Histórico Nacional (hiernach AHN), Fondo Ministerio de Instrucción Pública (hiernach FMIP), Tomo 100 (1860), S. 992. Portales, Radical Insobornable (Anm. 33), S. 6. „Deshalb (aufgrund des Ignorierens des moralischen Wertes der Erziehungswissenschaft) muss das Werk der Reform und neuen Organisation unserer ‚institutos normales‘ (pädagogischen Hochschulen), die nach Meinung des Landes so dringend gefordert wird, mit den wichtigen Zielen übereinstimmen, angemessen vorbereitete Lehrer auszubilden, und als Zentrum ebenso wie als Ausgangspunkt für den neuen Kurs zu dienen, den das nationale Bildungssystem einschlagen muss, um jene Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen“, in: José Abelardo Núñez, Organización de escuelas normales, Santiago 1883, S. 87. Sarmiento, Facundo (Anm. 5). Valentin Letelier verteidigte die Rolle des Staates als Lehrender Staat. Er verstand die Lehrer als Vertreter des Staates im Bildungsbereich, siehe Valentín Letelier, La lucha por la cultura, Santiago 1895, S. 43. Abelardo Núñez, Organización (Anm. 36).
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Ana Belén García Timón Mucho mas estricta i severa que en las escuelas de los Estados Unidos, me pareció la disciplina de las de Alemania, especialmente en la Sajonia i en la Prusia. En Leipzig, ví funcionar escuelas con mil seis cientos alumnos donde todos los ejercicios i movimientos de aquella gran masa de niños de ambos sexos i de todas edades, se ejecutaban con tal facilidad, espedicion i órden como no lo he visto en las nuestras, aunque apénas contaran con cincuenta alumnos. Es verdad que en Alemania la disciplina bajo la cual se educa el niño, comienza desde sus mas tiernos años, en la vida de familia, de manera que el alumno lleva a la escuela formado en gran parte el hábito de la subordinacion, del órden i de la obediencia, que tanto facilitan el trabajo del maestro i coadyuvan al buen efecto de sus enseñanzas.40
Es wird hier angenommen, dass das Hauptziel von José Abelardo Núñez in einer Phase der Nationsbildung die Vereinheitlichung des Bildungssystems war. Mit dem Fokus auf die Erziehung der Arbeiterklasse würde das Bildungssystem dazu dienen, die Bürger nach den von der Regierung diktierten Regeln zu erziehen, um aus ihnen vorbildliche Patrioten und Verteidiger der Nation zu machen. Llegará un dia en que el pueblo formado mediante sus enseñanzas (de los preceptores correctamente formados en las Escuelas Normales) su constancia i su abnegacion les tribute el testimonio de reconocimiento que el príncipe de Bismark, conductor de la guerra mas colosal que rejistran los anales de la humanidad, defirió a los de su pais cuando en ocasión solemne declaró que las victorias del ejército se debian antes que al soldado, al maestro que le habia formado, que le habia inspirado la subordinacion i el sentimiento del deber, i que habia elevado i ennoblecido el sentimiento del amor a la patria hasta el heroism . . .41
Valentín Letelier scheint ein ähnliches Ziel wie José Abelardo Núñez auf seiner Reise nach Deutschland verfolgt zu haben. In seinen Beobachtungen über das Bildungssystem fokussierte sich Leteliers Aufmerksamkeit auf die Idee, die Lehrerseminare für die Sekundarstufe in Chile zu verbessern. Lo mismo que en Suiza se procede actualmente en Francia, en Austria i sobre todo en Alemania. En todas las naciones mas cultas de Europa, se ha comprendido que para dar buena enseñanza se necesita tener buen profesorado, i que para tener un buen profesorado es menester prepararlo en institutos especiales.42 40
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„Sehr viel strikter und strenger als in den Schulen der Vereinigten Staaten erscheint mir die Disziplin derer in Deutschland, besonders in Sachsen und in Preußen. In Leipzig sah ich funktionierende Schulen mit 1 600 Schülern, in denen sich alle Aufgaben und Bewegungen jener großen Masse an Kindern beider Geschlechter und aller Altersgruppen, mit einer solchen Leichtigkeit, Schnelligkeit und Ordnung vollzogen, wie ich es in den unseren noch nicht gesehen habe, obwohl sie nur über knapp fünfzig Schüler verfügen. Es stimmt, dass die Disziplin, mit der das Kind in Deutschland erzogen wird, bereits von Kindesbeinen an im Familienleben beginnt, so dass der Schüler eine zum großen Teil bereits ausgebildete Gewohnheit der Unterordnung, der Ordnung und des Gehorsams in die Schule mitbringt, die die Arbeit des Lehrers derart erleichtern und zum guten Ergebnis seines Unterrichts beitragen“, in: ebd, S. 142. „Es wird ein Tag kommen, an dem das Volk, geformt durch seine Bildung (durch die Lehrer, die richtig an den Lehrerseminaren ausgebildet wurden), seine Ausdauer und seine Selbstlosigkeit, Zeugnis von der Anerkennung ablegt, die der Fürst von Bismarck, Anführer des größten Krieges, den die Annalen der Menschheit verzeichnen, seinen Landsleuten zukommen ließ, als er bei einer feierlichen Gelegenheit verkündete, dass die Siege des Militärs ‚vor dem Soldaten auf den Lehrer, der ihn ausgebildet hat, der den Gehorsam und das Pflichtgefühl in ihm geweckt hat und der das Gefühl der Vaterlandsliebe in ihm hat wachsen lassen und es veredelt hat bis zum Heldenmut . . .‘ zurückzuführen seien”, in: Abelardo Núñez, Organización (Anm. 36), S. 146. „Dasselbe wie in der Schweiz geschieht derzeit in Frankreich, in Österreich und vor allem in Deutschland. In den gebildetsten Nationen Europas hat man verstanden, dass man für guten
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In Deutschland absolvierten Gymnasiallehrer ein Studium, um lehren und in das höhere Beamtentum einsteigen zu können. Grundschullehrer absolvierten hingegen eine „nur“ drei Jahre dauernde Ausbildung in einem Lehrerseminar. Außerdem verblieben sie auf einer niedrigen Stufe in der Beamtenhierarchie. Dadurch entwickelte sich ein circulus vitiosus, durch den sowohl Grundschullehrer als auch Grundschulen schlechter ausgestattet waren und somit für die Masse der Bevölkerung nur eine Bildung auf niedrigem Niveau bereitgestellt wurde.43 Chile adaptierte die Modalität der Lehrerseminare für beide Bildungsstufen und reproduzierte dadurch die exkludierende Wirkung des deutschen Bildungssystems. Die praktischen Prinzipien des Neuhumanismus wurden in Deutschland umgesetzt, indem das Staatsexamen eingeführt wurde. So erhielt der Staat das Monopol für die Ausgabe von Diplomen und Zeugnissen und verstärkte damit seine Präsenz im Bildungsbereich.44 Die Einführung des Staatsexamens als Auswahlsystem für Lehrer verstärkte die leitende Rolle des Staates. Valentin Letelier überzeugte dieses Prinzip so sehr, dass er sich für die Umsetzung der Idee des Lehrstaats für die Republik stark machte. Chile übernahm das System trotz des Widerstandes der katholischen Kirche und ihrer Vertreter, die dadurch zu Recht ihre Macht in Gefahr sahen. Letelier konzentrierte sein politisches Handeln auf Erziehung. Seine Bewunderung für Deutschland spiegelte sich in seiner Idee des Staates und dessen führender Rolle beim Aufbau der Republik wider. No vacilemos en adoptar una política autoritaria por el vano temor de que se nos ponga nota de autoritarios. Cuando juzguemos indispensable, impongamos obligatoriamente la instrucción, la vacuna, el ahorro, el seguro, prohibamos el empleo de los niños que no hayan terminado la vida escolar, fijemos las horas y los días de trabajo, reglamentemos la prostitución, la embriaguez, los exámenes. Hagamos prevalecer siempre la autoridad del Estado sobre la de la Iglesia; y no nos importe que se nos llame autoritarios si por estos medios conseguimos que el hombre pueda más, se adueñe más de sí mismo y adquiera vigor, mayor originalidad y mayor independencia de espíritu. Seamos hombres de ciencia, y como tales tengamos siempre presente que el fin de la política no es la libertad, no es la autoridad, ni es el principio alguno de carácter abstracto, sino que es el de satisfacer las necesidades sociales para procurar el perfeccionamiento del hombre y el desarrollo de la sociedad.45
Unterricht eine gute Lehrerschaft braucht, und dass für eine gute Lehrerschaft eine Ausbildung in speziellen Einrichtungen erforderlich ist“, in: Valentin Letelier, Filosofía de la educación, Santiago 1892, S. 452. 43 Müller/Zymek (Hg.), Datenhandbuch (Anm. 31), S. 11–20. 44 Ebd. S. 17. 45 „Lasst uns nicht zögern, eine autoritäre Politik zu ergreifen aus der unbegründeten Angst, sie könne uns den Ruf des Autoritären verleihen. Sollten wir es als unerlässlich erachten, werden wir obligatorisch den Unterricht durchsetzen, die Impfung, das Sparen, die Versicherung, die Beschäftigung von Kindern verbieten, die die Schulzeit noch nicht abgeschlossen haben, die Arbeitsstunden und -tage festlegen, die Prostitution, den Alkoholkonsum und die Prüfungen reglementieren. Lasst uns stets die Autorität des Staates gegenüber der der Kirche durchsetzen; und es wird uns nicht wichtig sein, dass man uns als autoritär bezeichnet, wenn wir mit diesen Mitteln bewirken, dass der Mensch mehr kann, sich mehr seiner selbst bemächtigt und Stärke, größere Echtheit und eine größere Unabhängigkeit des Geistes erlangt. Lasst uns Männer der Wissenschaft sein und uns als solche immer vor Augen führen, dass das Ziel der Politik nicht die Freiheit, nicht die Autorität, noch irgendein abstraktes Prinzip ist, sondern die Befriedigung
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In seinen Schriften wurden die Reglementierung und Regulierung des Lebens durch den Staat hervorgehoben. Er stellte die verschiedensten Bereiche wie die Prostitution, den Alkoholismus oder die Impfung mit dem Bildungssystem gleich.46 Somit ergeben sich für Deutschland und Chile durchaus Parallelen, welche dem Transfer von Strukturen zu verdanken sind. In beiden Ländern sollte die Bildung als Instrument zur Ausbildung der Nation dienen. Während Chile versuchte, sich aus der spanischen Kolonialzeit heraus – und durch die Modernisierung weiter – zu entwickeln, war die Wende im Bildungsbereich in Deutschland die Antwort auf Napoleon. In Chile wurden Argumente gesucht und benutzt, um Bildung als Instrument für nationale Zugehörigkeit nutzen zu können. In Deutschland diente der Widerstand gegen französische Werte und den französischen Staat dazu, auf deutschem Boden zu verhindern, dass französische Ideen über die Schulbildung die deutsche Bevölkerung erreichten. In beiden Ländern wurden die Reformen von einem kleinen Teil der Bevölkerung, einer politischen nationalistischen Elite, welche in Chile aus der kreolischen Oligarchie und einer wachsenden Klasse von Händlern sowie ausländischen Investoren zusammengesetzt war, durchgeführt. Diese sorgte von Beginn an dafür, dass die Pädagogik der Politik dienen sollte und nicht umgekehrt. Dadurch verbinden sich liberale Theorien des Humanismus mit der idealen Bildungsidee einer Nation. Es ist also gut nachvollziehbar, dass sich Letelier, liberal und sehr überzeugt von der zentralen Rolle des starken Staates, von der deutschen (Bildungs-)Politik begeistern ließ. Gleiches galt für alle Liberalen in der chilenischen Regierung, die die Reform des Bildungssystems anstrebten.
4. ESCUELA NORMAL DE PRECEPTORES UND INSTITUTO PEDAGÓGICO Die Institutionalisierung der Lehre brachte die Professionalisierung des Lehrerberufs für Primar- und Sekundarschulen mit sich. Die Institutionalisierung erfolgte parallel zu einem Säkularisierungsprozess, wodurch der Mangel an (staats-)tauglichen Lehrern, auf Grund des Ausfalls von Pfarrern, die besonders in ländlichen Gegenden tätig waren, verschärft wurde. Nach den Reformen im Militärbereich47 , wie schon erwähnt, diente Deutschland erneut als Modell, um das System zu reformieren. So bezogen sich die chilenischen Reformer auf die Akademien für Lehrerbildung in Deutschland. Daher erfolgte ab 1884 eine Rekrutierung deutscher Lehrer für die Einstellung in Chile. Diese sollten chilenische Lehrer ausbilden und deren „pädagogische Leistungsfähigkeit“ erhöhen. Für die Grundschulausbildung wurden das im Jahr 1842 gegründete Lehrerseminar „Escuela Normal de Preceptores“ und das 1854 gegründete Lehrerinnenseminar „Escuela Normal de Preceptoras“ reformiert.
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der sozialen Bedürfnisse, um auf die Vervollkommnung des Menschen und die Entwicklung der Gesellschaft hinzuwirken“, zitiert nach Bernardo Subercaseaux, Historia de las ideas y de la cultura en Chile, Bd. 1, Santiago de Chile 1997, S. 214. Ebd. Siehe Nunn, Emil Körner (Anm. 12), S. 300–322.
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José Abelardo Núñez wurde 1883 beauftragt, Lehrer in Europa zu suchen, um die Ausbildung von Grundschullehrern in Chile zu optimieren. [. . .] indispensable comisionar a alguna persona que se encargue de elejir i contratar en Europa profesores de uno i otro sexo para las escuelas normales [. . .] i de colocar en establecimientos especiales a los preceptores i alumnos normalistas que iran a perfeccionar en Europa sus estudios pedagójicos.48
Die ersten Verträge wurden somit 1884 unterschrieben. Die Lehrer verpflichteten sich, über 6 Jahre ausschließlich49 für die chilenische Regierung zu arbeiten. Erst nach dieser Zeit dürften sie für andere Arbeitsgeber arbeiten, ansonsten müssten sie das Geld, das die chilenische Regierung ihnen für die Reise gezahlt hatte, zurückzahlen.50 Die angestellten Lehrer und Lehrerinnen waren außerdem verpflichtet, in dem Lehrerseminar zu wohnen. Jede(r) Angestellte bekam vom chilenischen Staat ein kostenloses Zimmer inklusive Nebenkosten und dazu die Verpflegung im Lehrerwohnheim.51 Gemäß Paragraph 4 des Vertrages, mussten die angestellten Lehrer und Lehrerinnen bei ihrer Ankunft in Chile die spanische Sprache beherrschen.52 Zudem wurden die deutschen Lehrer sofort bei ihrer Einreise in Bezug auf ihre Pensionsansprüche und andere Privilegien den Angestellten des Bildungsministeriums gleichgestellt. Weiterhin mussten sie sich den Gesetzen Chiles unterwerfen und auf die Bürgerrechte ihres Ursprungslandes verzichten und somit chilenische Staatsbürger werden.53 In der Vertragsanalyse sind, sowohl in der Zuschusssumme bei der Einreise als auch in der Besoldung, Geschlechtsunterschiede festzustellen. Beim Zuschuss für die Ausreise aus Deutschland nach Chile und in der sich anschließenden Besoldung bekamen Frauen weniger Geld als ihre männlichen Kollegen.54 Die zukünftige Leiterin des Seminars für Angewandte Pädagogik innerhalb des Lehrerinnenseminars Isabel Bongardt erhielt deutlich weniger als die Hälfte (1 000 Pesos im Jahr) des Verdienstes ihres männlichen Kollegen Julius Bergter (2 500 Pesos im Jahr). Ebenso wurde Isabel Bongardt von der chilenischen Regierung nur mit der Hälfte des Geldes unterstützt, das Julius Bergter zur Hilfe bei der Auswanderung erhielt.55 1886 arbeiteten die Ausbilder der Lehrerseminare in Santiago unter der Leitung von zwei Deutschen: Martin Schneider für das Männerseminar und Theresa Adametz für das Frauenseminar.56 Die Berichte beider Leiter spiegeln die Schwierigkeiten wider, die sie hatten, ihre Arbeitsweisen zu vermitteln und durchzusetzen. Immer
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„. . . unabdingbar, jemanden damit zu beauftragen, in Europa die Auswahl und Einstellung von Professoren beiderlei Geschlechts für die pädagogischen Hochschulen zu übernehmen . . . und die Lehrer und ‚normalistas‘ (Studierenden), die ihr pädagogisches Studium in Europa perfektionieren werden, in speziellen Einrichtungen einzustellen“, AHN, FMIP, Tomo 552. AHN, FMIP, Tomo 721. Ebd. Ebd. AHN, FMIP, Tomo 552. Ebd. Ebd. AHN, FMIP, Tomo 552. AHN, FMIP, Tomo 627.
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wieder stolperten sie über den Widerstand von chilenischen Lehrern. Auch kulturelle Unterschiede wirkten sich aus. Todas las medidas aisladas que propongo para mejorar la enseñanza primaria, son partes no mas de la reforma esencial que se debe llevar a cabo por un Reglamento escolar, i en especial por un programa de estudio que corresponda al espiritu en el cual se han formado las normalistas. Hasta ahora, once años despues de la reforma de las Escuelas Normales, poco se ha hecho para ponerlas en la posibilidad de comprobar cuanto vale su formacion. Si hasta ahora han prestado buenos servicios, lo han hecho no cumpliendo con la lei ni el Reglamento; lo han hecho luchando varios años contra la oposicion de algunos visitadores, i muchas compañeras de trabajo, que pertenecen a la antigua escuela. Las debiles i timidas entre ellas han perdido en esta lucha gran parte de sus conocimientos; las mas intelijentes i criticas no han sido tan útiles como habrian podido serlo; ambas han sido privadas de esta entusiasta buena voluntad, con lo cual la mayor parte ha salido de las aulas de la Escuela Normal [. . .].57
Trotz aller Versuche der deutschen Lehrer, ihre Arbeitsweisen in den Schulen durchzusetzen, kann man nicht von Erfolgen bei der Umsetzung deutscher Ideen in der Ausbildung an den Lehrerseminaren oder in den Schulen sprechen. Wie Martin Schneider im Zitat erklärt, wurden nicht genügend Ressourcen für die Ausübung einer Lehrertätigkeit zur Verfügung gestellt. Die Bezahlung durch den Staat wurde ständig vernachlässigt und die Instandhaltung der Schulgebäude nahezu ignoriert.58 Darüber hinaus war für die Generation von neu ausgebildeten Lehrern die Möglichkeit zur Ausübung des Lehrerberufes keineswegs gesichert, sodass sie ständig mit drohender Arbeitslosigkeit konfrontiert waren. Ein unbekannter Journalist veröffentlichte 1905 seine Meinung über die Lehrerschaft in „El Mercurio“: [. . .] En Chile nos hemos contentado con importar la pedagogia alemana, cuyos esplendidos frutos pueden palparse ya, sin preocupamos casi de la suerte del profesorado que está tan intimamente unido al buen término de la reforma de la enseñanza, pues ésta sera siempre deficiente mientras no se enaltezca la condicion de aquellos. Aqui se estima que se ha hecho todo, cuando se facilita a1 profesor los medios para salir de la indijencia sin tomar para nada en cuenta su capacidad, su consagracion al estudio ni ninguna otra circunstancia. Quien dedique su inteligencia i su actividad al servicio de la instruccion pública, no tiene, entre nosotros, otra perspectiva ni esperanza que vejetar a perpetuidad en su puesto, con la misera renta que se le
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„Jede der einzelnen Maßnahmen, die ich für die Verbesserung der Grundschulbildung vorschlage, ist nur ein Teil der notwendigen Reform, die mittels einer Schulordnung umgesetzt werden muss, und im Besonderen durch ein Studienprogramm, das dem Geist entspricht, nach dem die Grundschullehrerinnen (normalistas) ausgebildet wurden. Bis jetzt, elf Jahre nach der Reform der pädagogischen Hochschulen, wurde wenig getan, um ihnen die Möglichkeit zu geben zu zeigen, wieviel ihre Bildung wert ist. Falls sie bisher gute Dienste geleistet haben, haben sie dies getan, indem sie weder nach dem Gesetz noch nach der Ordnung gerichtet haben; sie haben es getan, indem sie mehrere Jahre gegen den Widerstand einiger Kontrollbeamter und vieler Arbeitskolleginnen ankämpften, die der alten Schule angehören. Die Schwachen und Schüchternen unter ihnen haben in diesem Kampf einen Großteil ihres Wissens eingebüßt; die Intelligentesten und Kritischsten sind nicht so nützlich gewesen, wie sie es hätten sein können; beide sind des begeisterungsfähigen guten Willens beraubt worden, mit dem der Großteil die Klassenzimmer der pädagogischen Hochschule verlassen hat.“, in: Monsalve Bórquez, . . . I el silencio (Anm. 25), S. 117 f. 58 Ebd. S. 106, 110.
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asigna, la cual, si es escasa en las jerarquias superiores llega a estremos casi vergonzosos en la instrucción primaria [. . .].59
Mit dem Ziel, Lehrer für die Sekundarstufe auszubilden, wurde 1889 mit Hilfe des Präsidenten José Manuel Balmaceda und in Anbetracht des Erfolges der Escuelas Normal de Preceptores ein pädagogisches Institut, das „Instituto Pedagógico“, gegründet. Die Institution sollte als Ausbildungsstätte für Lehrer in der Sekundarstufe dienen und war an die Universidad de Chile angegliedert. Als Lehrerausbilder wurden vom chilenischen Staat erfahrene Lehrer aus Deutschland rekrutiert. Das Kollegium bestand aus 10 Lehrern, 9 davon wurden in Deutschland ausgesucht und angestellt.60 Im Vordergrund stand die Vermittlung bestimmter Verhaltensweisen gegenüber dem Staat und der Nation. Das Einstellungsverfahren erfolgte unter den gleichen Konditionen, die auch für das Grundschullehrerseminar angewendet wurden. Allerdings war es nicht einfach für Domingo Gana, den Gesandten in Berlin, die angeforderten Fachkräfte, nämlich Professoren bzw. Privatdozenten an Universitäten, zu finden. Die Verbesserung der finanziellen Bedingungen und eine Werbekampagne61 in der deutschen Presse zeigte jedoch Wirkung und brachte eine größere Zahl der für die Reformen benötigten Spezialisten nach Chile. Nach der signifikanten Verbesserung der Bedingungen für die Lehrereinstellung dauerte es nicht lange, bis die Rekrutierung abgeschlossen war. Nur in der Pädagogik war es schwer, einen gewünschten Professor bzw. Privatdozenten zu finden. Schließlich musste der Gymnasiallehrer Heinrich Schneider eingestellt werden. Heinrich Schneider hatte eine langjährige Erfahrung im Lehrerberuf, und seine Qualitäten in der Lehrerausbildung im Fach Pädagogik waren vielleicht nur mit denen von Friedrich Hanssen, dem gerade eine Professur an der Universität Leipzig angeboten worden war, zu vergleichen. Schneider war zum Zeitpunkt seiner Einstellung66 43 Jahre alt, eigentlich zu alt, einerseits im Vergleich zu den anderen neu angestellten 59
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„In Chile haben wir uns damit begnügt, die deutsche Erziehungswissenschaft einzuführen, deren großartige Ergebnisse schon deutlich spürbar sind, ohne uns annähernd um das Schicksal der Lehrerschaft zu kümmern, das so sehr mit einem guten Abschluss der Bildungsreform verwachsen ist, denn diese wird solange mangelhaft sein, wie man den Stand jener nicht erhöht. Hier glaubt man, dass man alles getan hat, wenn man den Lehrern die Mittel bereitstellt, um der Armut zu entkommen, ohne ihr Können, ihre Aufopferung für das Studium noch irgendeinen anderen Umstand zu berücksichtigen. Wer seine Intelligenz und seine Arbeitskraft in den Dienst des öffentlichen Unterrichtssystems stellt, hat, unter uns, keine andere Perspektive noch Hoffnung, als lebenslänglich sein Dasein auf seinem Posten zu fristen, mit dem miserablen Einkommen, das man ihm zuweist, die, falls sie auf den höheren Rängen spärlich ist, in der Grundschulbildung zu nahezu beschämenden Umständen führt.“, Huelen, in: El Mercurio (02. 05. 1905), zitiert in: Monsalve Bórquez, . . . I el silencio (Anm. 25), S. 114. AHN, Memoria del Ministerio de Instrucción Pública, 1889, S. 200. Ebd., S. 170. Bezieht sich auf Reinaldo von Lilienthal. Bezieht sich auf Federico Hanssen. Bezieht sich auf Francisco J. Jenschke. Memoria Ministerio de Justicia e Instrucción Pública, 13. 05. 1890, S. 200 (Originale Fassung, keine ortographische Korrektur). AHN, Fondo Ministerio de Educación, Bd. 721.
200
Ana Belén García Timón PROFESORES
CLASES
Federico Johow Alberto Beutell Reinaldo von Libienthal62
Botánica i zoolojía Química, física i mineralogía Matemáticas elementales Matemáticas superiores Castellano Frances Ingles Aleman Lenguas antiguas Filolojía jeneral Historia Jeografía Filosofía Pedagojía Derecho Constitucinal Jimnástica
Enrique Nercaseau Rudolfo Lenz Federico Hansan63
Juan Steffen J. Enrique Schneider Domingo Amunátegui Francisco J. Jonschke64
Horas semanales 6 5 2 6 6 4 4 4 4 2 4 2 3 2 2 2
Número Alumnos 8 8 13 5 19 15 11 5 11 31 11 11 15 39 22 30
Tabelle 1: Lehrerschaft des Instituto Pedagógico bei seiner Gründung, 188965
Lehrerausbildern, andererseits aber auch für die vorgegebenen Voraussetzungen der chilenischen Vertretung in Berlin. Die anderen neu Angestellten hatten ausnahmslos die Facultas docendi, welche sie als Lehrer legitimierte67 , vorzuweisen – Schneider nicht, jedoch war seine Laufbahn als Lehrer makellos. Der Sachse hatte sein Staatsexamen im Jahre 1868 erreicht und seitdem in verschiedenen Schulen in Deutschland und, als Besonderheit und als einziger Vertreter in der Gruppe, auch in Neapel gearbeitet.68 Alle Dozenten kamen aus Sachsen und Preußen, hatten aber an verschiedenen deutschen Universitäten studiert. Gesellschaftlich gehörten die Dozenten zum deutschen Bürgertum und waren, mit den Ausnahmen von Rudolf Lenz und Alfred Beutell, ledig.69 Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Chile wohnten die Lehrer in einem Lehrerwohnheim. Nach einer Weile suchten sie sich allerdings eigene Wohnungen und nahmen auch mehr am gesellschaftlichen und kulturellen Leben in (Santiago de) Chile teil. Es ist aber auch zu bemerken, dass die intellektuellen Aktivitäten dieser Deutschen in Santiago sehr eng mit deutschen wissenschaftlichen Gesellschaften bzw. mit deutschen Vereinen70 verbunden waren. Neben den Fächern Mathematik, Geschichte oder Sprachen, wurden die Fächer Pädagogik und Sport als Bestandteil der Ausbildung, und überhaupt in Chile, eingeführt.71 Die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer mussten einen theoretischen und ein praktischen (Ausbildungs-)Teil absolvieren.72 Für den praktischen Teil mussten 67 68 69 70 71 72
Ebd. Ebd. Ebd. Los alemanes en Chile, Santiago de Chile 1910, Bd. I. Anales de la Universidad de Chile, April 1890, S. 56. AHN, Memoria de Justicia e Instrucción Pública, 1890, S. 174.
Bildung nach deutscher Art
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die Studenten monatlich eine schriftliche Arbeit abgeben sowie den Unterricht nach Anweisungen der Dozenten vorbereiten. Dafür wurde auch das Liceo de Aplicación (Institut für Angewandte Pädagogik) als Bestandteil des Instituto Pedagógico gegründet.
5. FAZIT Das Ideal von José Abelardo Núñez und Valentin Letelier, Bildung einer breiten Masse der Bevölkerung zukommen zu lassen, wurde insbesondere wegen eines Mangels an Ressourcen nicht umgesetzt. Trotzdem wurden Institutionen für die Lehrerausbildung nach dem Vorbild deutscher Einrichtungen und mit deutschem Personal eröffnet. Eine Vernachlässigung in der Umsetzung von angestrebten Maßnahmen konnte besonders im Grundschulbereich und in ländlichen Gebieten festgestellt werden. Es könnte also als ein Zeichen angenommen werden, dass der Staat kein ernsthaftes Interesse an der Bildung der (Land-)Bevölkerung gehabt hätte, damit die Sozialstrukturen unverändert blieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die soziale Mittelsicht der Bevölkerung zwar größer geworden, besaß aber kein oder ein nur sehr geringes eigenständiges Selbstverständnis oder Gruppenbewusstsein in Abgrenzung zur herrschenden Elite, stattdessen wollte die Mittelschicht selbst ein Teil dieser Elite werden. Bis in die 1920er Jahre war der erwähnte Widerstand gegen die Organisation des Bildungssystem in Chile zwar präsent, aber nicht so bedeutsam, dass es etwas verändern würde. Erst mit einem stärker werdenden sozialdemokratischen Gedankengut wurden die Ungleichheiten, die das System verursachte, erkannt und benannt. So kritisierte zum Beispiel die spätere Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral73 den Lehrstaat des 19. Jahrhunderts und engagierte sich für eine egalitäre Bildung.
ABSTRACT This essay examines how German concepts of “Bildung” were instrumentalized in Chile during the last decades of the 19th century and featured prominently in questions of organisation and administration as well as pedagogical content. Chilean elites actively pursued a quasi-import of German educational thinking and models by sending their own specialists abroad, especially to Prussia and Saxony. By focusing particularly on the education of teachers, this paper argues that the oligarchs involved were less interested in academic exchange than in preserving their own power and authority while simultaneously promoting their idea of national identity (partially parallel to developments in Germany). Nevertheless, training teachers did mean a rise in literacy. In practice, not only ideas but also teachers were imported from the
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Maria Eugenia Urrutia, Robusto Vino. Propuestas de Gabriela Mistral sobre Educación y Cultura Popular, in: Cifra Nueva, S. 47–57, .
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Ana Belén García Timón
German states to Chile. However, it clearly emerges that this transfer process did not go smoothly, but that the German teachers did not meet with the best conditions. Overall, this article aims to question the way education was charged politically with the interests of political elites and non-state actors colliding and converging simultaneously.
DIE WURZELN US-AMERIKANISCHER MUSIKAUSBILDUNG IN DEUTSCHLAND AM BEISPIEL DES LEIPZIGER KONSERVATORIUMS Veronika Keller
Bereits im 19. Jahrhundert wurde in vielen Publikationen auf den starken Einfluss deutschsprachiger Musik auf das amerikanischen Konzertwesen hingewiesen. Abgesehen von deutschen Künstlern, die in die Vereinigten Staaten kamen, waren dafür auch Amerikaner verantwortlich, die in Deutschland musikalisch ausgebildet wurden.1 Als eines der wichtigsten Zentren nannte man immer wieder Leipzig mit seinem 1843 gegründeten Konservatorium.2 Bis 1918 studierten hier 1 500 Amerikaner, mehr als in den meisten anderen deutschsprachigen Konservatorien und Musikschulen zusammen.3 Leipzigs Einfluss auf das amerikanische Musikwesen wurde bisher eher anhand von Einzelbeispielen bekannter, meist männlicher Komponisten und Musiker dargestellt. Auch der Anteil der Frauen, der an allen deutschen Konservatorien immer sehr hoch war, blieb unerforscht. Aber auch Männer, die nicht berühmt wurden, sondern auf lokaler Ebene als Musiker oder Musiklehrer arbeiteten, fielen damit aus den Untersuchungen heraus, obwohl gerade diese Basis vermutlich einen weit größeren Einfluss auf die nächste Musikergeneration in den Vereinigte Staaten hatte als einzelne Komponisten. Als Grundlage dieser Arbeit wurden deswegen nicht die Biographien einzelner US-Schüler oder Lehrer des Konservatoriums gewählt, sondern eine breit angelegte Untersuchung aller Amerikaner zwischen 1843 und 1918.4 1
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So führte bereits 1836 der Bostoner Pädagoge und Historiker Samuel Eliot in einem Artikel der „North American Review“ die herausragende Stellung deutscher Komponisten auf deren Musikerziehung zurück, die in deutschen Gebieten bereits im Kindesalter anfing, siehe dazu Michael Broyles, Music of the Highest Class. Elitism and Populism in Antebellum Boston, New Haven 1992, S. 207. Vgl. z. B. Richard Crawford, American Musical Landscape. Berkeley: University of California Press, 1993. Siehe dazu die beiden Dissertationen von Leonard Milton Jr. Phillips, The Leipzig Conservatory 1843–1881, Ann Arbor 2001 [Diss. Bloomington, IN 1979] und von Elam Douglas Bomberger, The German Musical Training of American Students, 1850–1900 (unpubl. Diss. College Park, MD 1991). Ausgenommen vielleicht Berlin. Da es hier jedoch eine Vielzahl größerer und kleinerer Musikinstitute gab (1895 waren es z. B. 115) ist eine genaue Einschätzung schwierig. Bomberger schätzt die Zahl insgesamt auf 2 000, siehe Bomberger, The German Musical Training of American Students (Anm. 2), S. 2. Für den Zeitraum bis 1900 ist eine Untersuchung der Studentenzahlen wie auch der der Herkunftsorte bei Bomberger zu finden, siehe Bomberger, The German Musical Training of American Students (Anm. 2), S. 55–62. Phillips hat sich vor allem mit dem Leipziger Konservatorium als Modell für die Gründung von Musikinstituten in den USA beschäftigt, siehe Phillips, The Leipzig Conservatory 1843–1881 (Anm. 2), S. 225–234.
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Veronika Keller
Zusätzlich konnten dank der lückenlosen Quellenlage in Leipzig für den Zeitraum zwischen 1879 und 1899, Hochzeit der Einschreibungen von US-Amerikanern, auch die Angaben zu 382 Schülerinnen aus deren Inskriptionen und Zeugnissen analysiert werden. So ist es möglich, sich ein ungefähres Bild der US-Amerikaner zu machen, die nach Leipzig kamen, um hier Musik zu studieren und mit dem hier Erlernten nach ihrer Rückkehr die Entwicklung der Musikpädagogik im eigenen Land maßgeblich zu beeinflussen.
LEIPZIG ALS MUSIKSTADT UND DEUTSCHE MUSIKER IN DEN USA Leipzig war im 19. Jahrhundert eine der bedeutendsten Musikstädte. Das Gewandhaus war mit seinem „Großen Concert“ Austragungsort vieler Uraufführungen, darunter Franz Schuberts „Große Sinfonie in C-Dur“ (1839) oder Johannes Brahms’ „Ein Deutsches Requiem“ (1869). Die durch Kapellmeister Ferdinand Hiller eingeführte und durch Felix Mendelssohn gefestigte Programmstruktur dieser Aufführungen wurde an vielen Konzerthäusern der Welt übernommen. Mendelssohn war es auch, der mit seinen „Historischen Konzerten“ in Leipzig das Bewusstsein für die Komponisten des 18. Jahrhunderts, etwa Johann Sebastian Bach oder Joseph Haydn, wiedererweckte.5 Auch Musikverlage wie C. F. Peters oder Breitkopf & Härtel hatten in Leipzig ihren Hauptsitz. Durch die von Robert Schumann mitbegründete „Neue Zeitschrift für Musik“ und die bei Breitkopf & Härtel erscheinende „Allgemeine Musikzeitschrift“ war Leipzig darüber hinaus ein wichtiger Ort der deutschen Musikkritik. Beide Zeitschriften brachten durch ein internationales Netz von Korrespondenten Nachrichten über das Musikleben aus aller Welt nach Leipzig – und aus Leipzig in die Welt.6 Zu einem Zentrum für den musikalischen Nachwuchs begann die Stadt sich 1843 mit der Gründung des Conservatoriums der Musik zu entwickeln. Neben dem 1793 gegründeten Pariser Conservatoire National de Musique gilt es als zweitältestes Musikinstitut Europas und setzte im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus schon bald Maßstäbe für die Musikerziehung.7 Zunächst stand die Nachwuchsförderung für Gewandhaus und Stadttheater im Fokus der Neugründung.8 Dass man aber bereits von Anfang an auch einen Blick
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Zur Geschichte des Gewandhauses siehe Hans-Rainer Jung, Das Gewandhaus-Orchester, Seine Mitglieder und seine Geschichte seit 1743, Leipzig 2006. Ein kurzer Überblick zur Geschichte der Musikstadt Leipzig findet sich in Rudolf Eller, Peter Kraus und Gunter Hempel, Art. „Leipzig“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (Sachteil Bd. 5), Kassel et al. 2 1996, Sp. 1050–1075. Yvonne Wasserloos, Das Leipziger Konservatorium im 19. Jahrhundert. Anziehungs- und Ausstrahlungskraft eines musikpädagogischen Modells auf das internationale Musikleben, Hildesheim 2004, S. 39. Wasserloos beschäftigt sich kaum mit den Schülern selbst. Marianne Betz, Ein Amerikaner in Leipzig. George Whitefield Chadwick 1854–1931. Katalog zur Ausstellung [Ausstellung vom 23. 11. 2004–20. 01. 2005 in der Wandelhalle der Bibliotheca Albertina], Leipzig 2004, S. 11.
Die Wurzeln US-amerikanischer Musikausbildung in Deutschland
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auf eine möglichst internationale Schülerschaft hatte, zeigt der 1843 erschienene Prospekt des Konservatoriums: Nicht nur von Sachsen und Schülern aus dem übrigen Deutschland wurde das Institut besucht, sondern auch von Ausländern, z. B. aus Belgien, Holland, Dänemark, Norwegen, England und Russland.9
Der erste US-Amerikaner, der sich 1843 in Leipzig einschrieb10 , fand hier noch keine Erwähnung. Ihm folgten schon bald weitere Landsleute, und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bildeten Amerikaner einen immer größeren Teil der Schülerschaft. Bis 1918 besuchten insgesamt 12 571 Schüler das Konservatorium, über deren Leben bis zur Einschreibung dank der lückenlosen Quellenlage viel bekannt ist. So wurden zum Beispiel in den Inskriptionen neben Geburtsdatum und -ort auch Angaben zu früheren Lehrern oder dem Beruf der Eltern aufgenommen.11 Im ersten Jahrzehnt des Instituts kamen nur vereinzelt Schüler aus den USA, darunter 1856 die erste Frau12 . Ihr folgten bis 1860 noch fünf weitere Frauen, so dass von den insgesamt 32 Amerikanern, die bis kurz vor Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs nach Leipzig kamen, 19 % weiblich waren. Insgesamt stieg die Zahl der Amerikaner ab 1854 etwas stärker an. Parallel dazu kann in den USA ein wachsender Einfluss deutscher Musik und Musiker in den Konzertsälen beobachtet werden.13 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war dieser Einfluss noch auf einzelne Musiker und Musikkritiker wie Gottlieb Graupner oder H. Theodore Hach beschränkt. Auch wurden in Konzerten deutschsprachige Komponisten gespielt, wie die frühen Programme der 1815 in Boston gegründete Handel & Haydn Society zeigen.14 Aber deutsche Musiker bildeten hier noch keinen außergewöhnlich hohen Anteil in den Orchestern und Musikvereinen.15 Das änderte sich erst um 1848, als mit der Märzrevolution in Deutschland nicht nur eine größere deutsche Immigrationsbewegung einsetzte, sondern auch viele Künstler, die vor der politischen Atmosphäre in ihrer Heimat flohen, ihr Glück in der Neuen Welt suchten. Beispielhaft seien hier die rund 23 Mitglieder des „Germania Orchestra“ genannt, die 1848 und 1849 durch
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Das Conservatorium der Musik in Leipzig [Prospekt], Leipzig 1843. George L. Babcock aus Boston. Die Schülerakten, bestehend aus Inskriptionsregister, Inskription und Lehrer-Zeugnissen, sind als Digitalisate im Archiv der Musikhochschule in Leipzig zugänglich. Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, Hochschulbibliothek/Archiv, Bestand A – Akten des Konservatoriums 1843–1945. Schon in den ersten Anzeigen, die das Konservatorium 1843 bewarben, wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch Frauen aufgenommen würden. Am Eröffnungstag 1843 schrieben sich fünf Schülerinnen ein, bis zum Ende des Jahres kamen noch acht dazu, sodass schließlich 19 % der im ersten Kalenderjahr eingeschriebenen Studenten Frauen waren, wie aus dem Inskriptionsregister des Schuljahres 1843/1844 zu erschließen ist. Siehe zu dieser Thematik z. B. Thomas Schmidt-Beste, The Germanization of American Musical Life in the 19th Century, in: Die deutsche Präsenz in den USA, hg. von Josef Raab und Jan Wirrer, Berlin 2008, S. 513–538. Einzusehen sind diese Programme, die u. a. Aufführungen von Mozart, Bach, Haydn und Händel umfassten, in der Performance History Database der Handel & Haydn Society unter (23. 03. 2015). Broyles, Music of the Highest Class (Anm. 1), S. 218 f.
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die USA tourten und sich, laut eines, vielleicht etwas mystifizierenden Artikels im „Scribner’s Monthly“, geschlossen dazu entschieden, nicht in das politisch unruhige Deutschland zurückzukehren, sondern in Amerika zu bleiben. Bis 1854 war das Orchester fast ständig auf Tournee. Eines ihrer beliebtesten Stücke war das Scherzo aus Mendelssohns Konzertouvertüre „Ein Sommernachtstraum“, das sie in den Vereinigten Staaten bekannt machten.16 Ab diesem Zeitpunkt stieg der Anteil deutscher Musiker in den verschiedenen inländischen Orchestern immer weiter an, und ausgedehnte Konzertreisen deutscher Musiker festigten in den USA Deutschlands Ruf als „Kulturnation“.17 Auch im privaten Rahmen wurde die Musik von vielen deutschen Einwanderern als wichtiges Identifikationsmittel gesehen. Man gründete Gesangsvereine und Liederkränze18 , die sich, zumeist unter lebhaftem Interesse der Öffentlichkeit, zu großen Sängerfesten trafen und regelmäßig Konzerte gaben.19 Dieser gute Ruf deutscher Musiker, und damit auch deren Ausbildung, führte wohl unter anderem dazu, dass ab 1866, dem ersten Friedensjahr nach dem Bürgerkrieg, die Einschreibungen der Amerikaner am Leipziger Konservatorium stark anstiegen (s. Tabelle 1) und 1892 mit 59 US-Schülern ihren Höhepunkt erreichte. Die Schüler kamen aus den gesamten damaligen USA. Beispielhaft lässt sich das anhand der Untersuchung aller US-Schülerinnen zeigen, 382 Frauen zwischen 1879 und 1899, aus insgesamt 36 Staaten und Territorien. Fast die Hälfte von ihnen gaben New York, Pennsylvania, Ohio oder Illinois als ihre Heimat an. Damit hatten die Schülerinnen aus dem Nordosten, zu dem sowohl New York als auch Pennsylvania gehören, mit 44,2 % den größten Anteil. Dem folgten der mittlere Westen mit 34,5 %, der Süden mit 13,3 % und schließlich der Westen mit 7,2 % der Schülerinnen.20 Diese Verteilung wurde von mehreren Faktoren beeinflusst. So kamen besonders viele Frauen aus Staaten mit einer großen Bevölkerungsdichte und einer hohen
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J. Bunting, The Old Germania Orchestra, in: Scribner’s Monthly 11 (1975), Nr. 1, S. 98–107; Nancy Newman, Good Music for a Free People. The Germania Musical Society in NineteenthCentury America, New York 2010. Jessica C. E. Gienow-Hecht, Sound Diplomacy. Music and Emotions in Transatlantic Relations 1850–1920, Chicago 2009, S. 9 f. Im 19. Jahrhundert fühlten sich viele dieser Musikvereine den klassischen Komponisten verpflichtet, wie die Einsicht in diverse Programme sowohl von kammermusikalischen Konzertabenden auf lokaler Ebene als auch überregionaler Feste bisher gezeigt haben. So wurde zum Beispiel im Rahmen des „Bundesfest of the North American Sängerbund“ 1886 in Milwaukee Mozarts „Requiem“ gegeben und auch an den anderen Tagen dominierten Stücke von Mozart, Wagner und Brahms, siehe A Souvenir of the 24th Saengerfest of the North-American Saengerbund, Juli 21–23 1886, Milwaukee 1886, S. 14; Heike Bungert, Deutschamerikanische Sängerfeste und Lieder als Medium der Ethnizitätsbildung, 1849–1914, in: Lied und populäre Kultur/Song and Popular Culture 55 (2010), S. 41–76; Heike Bungert, Fighting American „Muckerism“. German-American Festivals and their Impact on American Cultural Life, 1854–1914, in: Atlantic Migrations. Regions and Movements in Germany and North America/USA during the 18th and 19th Centuries, hg. von Sabine Heerwart und Claudia Schnurmann, Münster 2007, S. 183–208. Gert Raeithel, Geschichte der Nordamerikanischen Kultur, Bd. 2: Vom Bürgerkrieg bis zum New Deal 1860–1930, Frankfurt a. M. 1997, S. 175. Die Herkunftsorte erschließen sich aus dem Inskriptionsregister. Von allen 382 Schülerinnen ist der Herkunftsort bekannt, bei zwei beschränkte er sich auf die Angabe des Herkunftsstaates.
Die Wurzeln US-amerikanischer Musikausbildung in Deutschland
alle Staaten m+w w 1843–1850 1851–1860 1861–1870 1871–1880 1881–1890 1891–1900 1901–1910 1911–1918
321 550 827 1 579 2 351 2 527 2 849 1 567
67 145 239 770 1 017 1 104 1 151 668
Anzahl USA m+w w 1 31 104 273 363 408 288 55
0 6 25 125 188 203 140 34
Ausland
72 186 339 865 1 184 1 204 1 268 432
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Prozentuale Anteile alle Staaten USA Ausland w zu w zu Anteil m+w m+w US-Bürger 21 % 0% 0% 26 % 19 % 4% 29 % 24 % 10 % 49 % 46 % 16 % 43 % 52 % 18 % 44 % 50 % 18 % 40 % 49 % 12 % 43 % 62 % 5%
Tabelle 1: Zahl der Neueinschreibungen (gesamt, aus den USA und des Ausland) und prozentualer Anteil der einzelnen Gruppen in Dekaden. (w: weiblich, m: männlich)
Urbanisierungsrate. Allerdings lebten nicht alle Schülerinnen in Großstädten. In Ohio ist sogar eine Dezentralisierung zu erkennen. Aus den beiden größten Städten Cleveland (1900 mit 381 768 Einwohnern) und Cincinnati (1900 mit 325 902 Einwohnern) kamen insgesamt nur sieben Schülerinnen (19 %). Die restlichen 29 kamen aus 17 verschiedenen Städten deren Einwohnerzahlen zwischen 140 000 und 1 700 lagen.21 Die Verteilung der Schülerinnen in Ohio ist also nicht in der Hauptsache auf eine Konzentration in Großstädten zurückzuführen. Vielmehr dürfte maßgeblich der starke Einfluss deutscher Kultur, den es in den Groß- und Kleinstädten des Staates gab, eine Rolle gespielt haben. Besonders in Staaten des sogenannten „Old Northwest“, also Ohio, Indiana, Illinois, Michigan, Wisconsin und Minnesota, hatte sich ein großer deutscher Bevölkerungsanteil gebildet. Auch in Texas, dem einzigen südlichen Staat, aus dem mehr als sechs Schülerinnen kamen, und Colorado gab es eine langjährige deutsche Siedlungstradition. Im „Old South“ dagegen war der Anteil der deutschstämmigen Bevölkerung geringer, wie der „Census“ von 1900 zeigte22 , und tatsächlich kamen nur wenige Schülerinnen von dort (vgl. Abbildung 1). Abgesehen vom Herkunftsort können auch einige Aussagen über die Altersstruktur der Schülerinnen, die zwischen 1879 und 1899 das Leipziger Konservatorium besuchten, gemacht werden. So lag das Durchschnittsalter bei 21,1 Jahren mit einer Varianz zwischen 12 und 47.23 Diese breite Altersspanne lässt sich in vier Gruppen unterteilen, die weitgehend der Gliederung des amerikanischen Bildungssystems des 19. Jahrhunderts folgt (vgl. Abbildung 2): 21
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Angaben zu den Einwohnerzahlen siehe Cities, Towns, Villages and Boroughs, in: Report on the Population of the United States at the Twelfth Census. 1900, Part 1, Washington, DC 1901, S. 428–480. Statistical Atlas of the Twelfth Census of the United States 1900, Washington, DC 1901, Plate No. 63.2; siehe auch Kathleen Conzen, Germans, in: The Harvard Encyclopedia of American Ethnic Groups, hg. von Stephan Thernstrom, Cambridge, MA 1980, S. 405–425. Es ist nicht völlig sicher, ob Margaret Marshall (Inskriptionsnummer 7031) tatsächlich 47 Jahre alt war. Im Inskriptionsregister ist ihr Geburtsjahr unleserlich. Aber in der Inskription wie im Zeugnis hatte man als ihr Geburtsjahr jeweils 1849 angegeben.
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Veronika Keller
Abbildung 1: Herkunftsverteilung im Gebiet der Vereinigten Staaten.
A) Die 12- bis 15-Jährigen: Sie befanden sich noch in ihrer Schulzeit und wurden meistens von Verwandten begleitet. B) Die 16- bis 22-Jährigen: 16 war an vielen Colleges das Mindestalter für den Eintritt,24 den Abschluss machten die meisten Frauen zwischen 22 und 25;25 mit insgesamt 252 Schülerinnen (66 %) ist dies die größte Altersgruppe. C) Die 23- bis 30-Jährigen: Diese Gruppe erlebte die ersten Berufserfahrungen bis zur Heirat. In der Regel heirateten Frauen zwischen 20 und 30, das Durchschnittsalter für die erste Eheschließung lag bei 22.26 Hier wurden nur noch wenige von ihren Verwandten begleitet (einige kamen mit ihren Ehemännern), und bei 22 % wurde in der Inskription vermerkt, dass sie für ihre Unkosten selbst aufkamen.27 Das ist ein Hinweis darauf, dass zumindest einige von ihnen bereits im Berufsleben standen. D) Die 31- bis 47-Jährigen: Die Schulausbildung war in der Regel abgeschlossen. Bemerkenswert an dieser Gruppe ist, dass von sechs Schülerinnen (fast 46 %), gesichert ist, dass sie vorher an einem anderen Institut studiert hatten. Dies ist ein Hinweis darauf, dass diese Altersgruppe vor allem aus Frauen
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Claudia Goldin, Career and Family. College Women Look to the Past, in: Gender and Family Issues in the Workplace, hg. von Francine D. Blau und Ronald G. Ehrenberg, New York 1997, S. 20–50, hier: S. 29. 25 Goldin, Career and Family (Anm. 24), S. 53. 26 Peter Schäfer, Alltag in den Vereinigten Staaten. Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, Graz 1998, S. 255. 27 In der Regel wurde im Inskriptionsregister vermerkt, dass andere Personen, meist der Vater oder weitere Verwandte, für die Kosten aufkamen.
Die Wurzeln US-amerikanischer Musikausbildung in Deutschland
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Abbildung 2: Altersstruktur der amerikanischen Schülerinnen und Einteilung in Leipzig nach vier Altersgruppen: 12 bis 15 (schwarz), 16 bis 22 (grau), 23–30 (schwarz), 31–47 (grau).
bestand, die sich für eine berufliche Karriere als Musikerin bzw. Musiklehrerin entschieden hatten und nun nach Leipzig gingen, um sich für ihren Beruf weiterzubilden, oder, wie im Fall der bei ihrem Eintritt 39-jährigen Delle Hosmer (Nr. 6599), sich einen langgehegten Traum zu erfüllen.28
MUSIKAUSBILDUNG IN DEN USA BIS IN DIE 1870ER JAHRE Ein weiterer Grund für den Anstieg der amerikanischen Einschreibungen nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg war neben dem Einfluss deutscher Musikkultur ein immer höherer künstlerischer Anspruch an Musiker und (private) Musiklehrer im eigenen Land. So stieg das Interesse an einer institutionellen Musikausbildung, das im ersten Jahrzehnt nach dem Bürgerkrieg allerdings noch nicht durch inländische Einrichtungen befriedigt werden konnte.29 Schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts hatten sich viele Pädagogen und Politiker in Bildungsfragen an Deutschland, vor allem an Preußen, orientiert. Das dortige Schulsystem galt als besonders fortschrittlich und deswegen ideal als Grundlage für den Aufbau eines eigenen Bildungssystems. Umgekehrt war man an deutschen
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Carrie Delle Hosmer, An American Student at Leipzig, in: Music 7 (1895), Nr. 3, S. 298–303, hier: S. 298. John Ogasapian und N. Lee Orr, Music of the Gilded Age, Westport 2007, S. 72 f.
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Bildungsstätten Ausländern gegenüber besonders aufgeschlossen. So wurden Universitäten wie Heidelberg für viele Amerikaner schon bald zu einer Alternative oder Ergänzung für die erst in den Anfängen steckende Postgraduierten-Ausbildung im eigenen Land.30 Im Bereich Musik ging die Forderung nach einer europäischen Bildungslegitimation sogar so weit, dass manchen Künstlern ein Debut in Amerika verwehrt wurde, wenn sie sich nicht vorher dem europäischen Publikum gestellt hatten.31 Nur wer in Deutschland gelernt hatte, so die Überzeugung vieler Zeitgenossen, konnte die Ernsthaftigkeit von (romantischer) Musik und deren Ausübung überhaupt erst begreifen: When I am asked what I think of the advisability of students going to Germany to study, I have always said that I think they will get there a better ‘all round’ education in music than anywhere else. It seems to me as if the Germans make the study and teaching of music such a serious matter that no conscientious student can help coming to feel the responsibility and value of the work, and study accordingly.32
Neben diesen Faktoren, die Amerikaner nach Deutschland zogen, spielte natürlich auch eine Rolle, dass es bis in die 1870er Jahre kaum Möglichkeiten zur Musikausbildung im eigenen Land gab. Zwar hatten sogenannte „singing schools“33 schon seit der Kolonialzeit große Tradition, eine professionelle Musikausbildung war in den meisten Städten jedoch alleine auf Privatlehrer konzentriert. Eine Ausnahme bildete Boston, das im 19. Jahrhundert für sein vielfältiges Konzertleben bekannt wurde. Hier gründete Lowell Mason 1833 die Boston Academy of Music34 , dessen Orchester im Bereich der Instrumentalmusik eine ähnliche Vorreiterrolle einnahm wie die 18 Jahre zuvor gegründete Handel & Haydn Society im Chorgesang. Beide Institutionen
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Karl-Ernst Jeismann, American Observations Concerning the Prussian Educational System in the Nineteenth Century, in: German Influences on Education in the United States to 1917, hg. von Henry Geitz, Jürgen Heideking und Jürgen Herbst, New York 1995, S. 21–42. Zur Entwicklung von Universitäten in den USA siehe auch John R. Thelin, A History of American Higher Education, Baltimore 2004. Sandra L. Singer, Adventures Abroad. North American Women at German-Speaking Universities 1868–1915, Westport 2003, S. 172 f. Diese Worte stammen von einer leider nicht mehr zu identifizierenden Sängerin und Musiklehrerin, die in einem Ratgeber zu Frauenberufen über ihre Erfahrungen in Leipzig schrieb. Laut dieses Berichts stammte sie aus einer Kleinstadt und hatte zunächst im Kirchenchor gesungen, mit etwa 15 Jahren Gesangsstunden genommen und die Winterferien ihrer Collegezeit in Boston und New York zur Gesangsausbildung genutzt. Als dann ihr älterer Bruder in Leipzig studieren wollte, folgte sie ihm und schrieb sich am „Königlichen Konservatorium der Musik zu Leipzig“ ein. Sie blieb drei Jahre in Leipzig, obwohl ihr Bruder bereits nach dem ersten Jahr wieder fortzog. Diesen drei Jahren folgten noch sieben Monate Ausbildung in London. Als sie schließlich in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, fühlte sie sich gerüstet, nun selbst Musikunterricht zu geben, und konnte gut davon leben, siehe Frances E. Willard, Occupations for Women, New York 1897, S. 215–219. Musiker reisten von (Kirchen-)Gemeinde zu (Kirchen-)Gemeinde und brachten den jungen Leuten Grundlagen in Musiktheorie und Chorgesang bei, siehe John Ogasapian, Music of the Colonial and Revolutionary Era, Westport 2004, S. 140–143. Zur Geschichte der Boston Academy of Music s. Broyles, Music of the Highest Class (Anm. 1), S. 182–214.
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waren zwar keine Ausbildungsstätten, boten jedoch Musikern die Möglichkeit, in großen Ensembles zu spielen. Auch zwei der frühesten US-Konservatorien wurden in Boston gegründet: das durch den Violinisten Julius Eichberg gegründete Boston Conservatory und das von Eben Tourjée eröffnete New England Conservatory, beide 1867.35 Ein grundsätzliches Problem blieb jedoch, wie es die Violinistin Maud Powell zusammenfasste, der Mangel an einer musikalischen Atmosphäre: But the musical atmosphere is lacking [in the USA]. To get this, to be surrounded by busy, ambitious fellow-students, to escape the home and social duties, to have no mistress save art, to hear more music – not better music but more and at less cost – in short, to be in a musical atmosphere conductive to profitable work, and much of it, the student must go abroad.36
DAS LEIPZIGER KONSERVATORIUM Diese „musical atmosphere“ wurde insbesondere Leipzig nachgesagt und zog natürlich nicht nur US-Amerikaner an. Auch Dutzende Schüler aus Großbritannien besuchten das „Conservatorium“, sodass zwischen 1870 und 1900 rund die Hälfte aller Schüler nicht aus dem Deutschen Reich stammte. Zwei Drittel dieser Ausländer waren US-Amerikaner oder Briten, der Rest stammte aus praktisch allen anderen Ländern der damaligen Welt, vor allem Skandinavien, aber auch Australien, China, Ägypten oder Kolumbien.37 Begünstigt wurden die Neueinschreibungen von Ausländern durch einige Strukturreformen, die im Laufe der 1870er Jahre am „Conservatorium“ durchgeführt wurden. So waren Deutschkenntnisse für die Aufnahme nicht mehr erforderlich, und dank der großen Zahl an anglophonen Schülern wurde Englisch außerhalb der Kurse schon bald zur zweiten Alltagssprache am Konservatorium. Im Unterricht aber hing die Verständigung vor allem von den Sprachkenntnissen der Lehrer ab, die in der Regel kaum Englisch beherrschten, wenn auch vereinzelt Klassen auf Englisch angeboten wurden. Dies belegen diverse Berichte amerikanischer Schüler. Dort wird auch erwähnt, dass auf die oft nur geringen Deutschkenntnisse der ausländischen Schüler kaum Rücksicht genommen wurde, was vielen das musikalische und technische Vorankommen erschwerte.38 Eine weitere Reform betraf den Unterricht der weiblichen Schüler. Schon seit Eröffnung des Konservatoriums gab es einen gesonderten Theoriekurs für Frauen, der im Prospekt von 1843 unter § 2 beworben wurde: Für die Schülerinnen besteht eine besondere für ihre Bedürfnisse eingerichtete Classe der Harmonielehre, die ihren Cursus im Laufe zweier Jahre vollendet.39 Im Prospekt aus dem März 1875 wird erwähnt, dass der Kurs nun aus Harmonielehre und Composition bestehe.40 35 36
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Ogasapian/Orr, Music of the Gilded Age (Anm. 29), S. 72. Maud Powell, Women and the Violin, in: The Ladies’ Home Journal (Febr. 1896), zitiert nach: Karen A. Shaffer und Neva Garner Greenwood, Maud Powell. Pioneer American Violinist, Virginia 1988, S. 39. Siehe die Eintragung zur Heimat im Inskriptionsregister. Wasserloos, Das Leipziger Konservatorium im 19. Jahrhundert (Anm. 7), S. 74 f. Prospekt 1843 (Anm. 9), S. 6. Das Königliche Conservatorium der Musik zu Leipzig [Prospekt], Leipzig 1875, S. 6. Kompositionskurse standen allerdings Frauen bis zur Jahrhundertwende an einigen Konservatorien
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Frauen machten in den ersten 30 Jahren des Konservatoriums kaum mehr als 20 bis 30 Prozent der Schülerschaft aus. In den 1870er Jahren stieg dieser Anteil so stark, dass in einigen Jahren (1875, 1877 und 1878) über 50 Prozent der neueingeschriebenen Schüler weiblich waren. Ähnliche Entwicklungen können auch an anderen Konservatorien in Deutschland nachgewiesen werden. An einigen lag der Frauenanteil sogar deutlich über der Hälfte. In Bezug auf Amerikanerinnern sticht Leipzig vor allem durch die absoluten Zahlen aus der Masse anderer deutscher Konservatorien heraus. So besuchten zwischen 1843 und 1918 insgesamt 721 Amerikanerinnen (gegenüber 802 Männern) das Konservatorium.41 Einige dieser Frauen kamen nach Leipzig, um hier ihre gutbürgerliche Ausbildung abzurunden, die meisten wollten sich jedoch zur Musikerin oder Musiklehrerin ausbilden lassen. Dass sie dafür die teure, zeitaufwendige und vermutlich abenteuerliche Ausbildung in Deutschland auf sich nahmen, hatte sicherlich mit der steigenden Zahl der Berufsmusiker und Musiklehrer in den Vereinigten Staaten zu tun. Werden im Census von 1870 in der Berufsgruppe „musicians and teachers of music“ nur 5 753 Frauen angeführt (gegenüber 10 257 Männern), sind es zur Jahrhundertwende bereits 52 359 (bei 39 815 Männern) und 1910 schließlich 84 478 Frauen (und 54 832 Männer). Damit waren nach nur vier Jahrzehnten 14-mal so viele Frauen im musikalischen Bereich tätig.42 Mehr als die Hälfte aller Amerikanerinnen, die das „Conservatorium“ besuchten, kamen im Zeitraum zwischen 1879 und 1899 nach Leipzig (s. Tabelle 1). Diese beiden Jahrzehnte sind an dem Institut, das sich seit 1876 „Königliches Konservatorium der Musik zu Leipzig“ nennen durfte, eine Zeit der Stabilität und Kontinuität. Diese hohen Zahlen ermöglichte auch der Umzug in ein neues Haus in der Grassistraße 8 überhaupt nicht offen. So unterrichtete z. B. Josef Rheinberger in seiner Zeit an der Musikschule in München nach 1870 keine einzige Frau, siehe dazu Walter Kaufmann, Verzeichnis der Studierenden, welche Josef Rheinberger während seiner Lehrtätigkeit an der Königlichen Musikschule und späteren Akademie der Tonkunst von 1867 bis 1901 unterrichtete, aufzurufen unter . Eine genauere Untersuchung des Kompositionsangebots für Frauen an deutschen Konservatorien steht noch aus. 41 Bomberger geht von bis zu 5 000 Amerikanern aus, die bis zur Jahrhundertwende deutsche Konservatorien besuchten. Neben den rund 1 300 in Leipzig (die restlichen 200 gegenüber den erwähnten 1 500 kamen dann zwischen 1900 und 1918) schätzt er die Zahl der Studenten in Berlin auf rund 2 000, die sich auf die vier größten Konservatorien, das Stern’sche, das Klindworth-Scharwenka, Kullaks Neue Akademie der Tonkunst und die Königliche akademische Hochschule für Musik verteilten. Nach Stuttgart dürften weitere 600 Schüler gegangen sein und nach Dresden 400 bis 500. Die restlichen Schüler verteilten sich auf kleinere Konservatorien und Musikschulen wie die beiden in Frankfurt, in Würzburg oder Sondershausen. Wegen der schwierigen Quellenlage (viele Archive wurden im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört) kann darüber allerdings keine gesicherte Aussage gemacht werden, eine genaue Untersuchung der Schülerzahlen steht noch aus, siehe Bomberger, The German Musical Training of American Students (Anm. 2), S. 2. 42 Henry J. Harris, The Occupation of Musician in the United States, in: The Musical Quarterly 1 (Apr. 1915), Nr. 2, S. 299–311, hier: S. 301. Allerdings sei hier anzumerken, dass ein Großteil der Frauen Musiklehrerinnen waren (1910 hatten 68 783 Frauen ihren Beruf als „music teacher“ angegeben). In der Berufsgruppe der Musiker machten Frauen dagegen nur ein Drittel aus, siehe ebd., S. 302).
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im Jahr 1887. Neben 44 Lehrerzimmern gab es nun auch einen großen Konzertsaal mit großer Orgel, zwei kleine Säle, der eine davon mit Übungsbühne [und] zwei Orgelzimmer [. . .].43
UNTERRICHTSFÄCHER Instrumentalunterricht wurde in den ersten vier Jahrzehnten nur im Klavierspiel und in den Streichinstrumenten gegeben. Ab 1881 wurden auch Lehrer für die anderen Orchesterinstrumente eingestellt, so dass ein großes Schülerorchester eingerichtet werden konnte.44 Vorher gab es nur ein mit Streichern besetztes Probeorchester, die Bläserstimmen wurden von der Orgel übernommen. Die Opernschule eröffnete schließlich 1889.45 Der Instrumentalunterricht wurde nicht in Klassenstufen erteilt. Seit Mendelssohns Zeiten gab es statt dessen Gruppen, die aus meist drei Schülern bestanden und einem Fachlehrer zugewiesen wurden, der die Schüler während ihrer gesamten Zeit am Konservatorium begleitete. 1897 wurde diskutiert, ob nicht ein Wechsel in das an Schulen übliche Klassensystem mit mehreren Lehrern und festgelegten Klassenzielen sinnvoller sei. Im Theorieunterricht hatte sich ein solches System bereits bewährt, und Rektor Carl Reinecke sprach sich 1902 für die Einrichtung von drei Klassen aus. Da er kurz darauf seinen Posten an Arthur Nikisch abgab, wurden diese Reformideen jedoch nicht umgesetzt und bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs gab es in dieser Hinsicht keine Veränderungen.46 Daneben mussten die Schüler auch einen dreijährigen Theoriekurs belegen. Er umfasste die Fächer Harmonielehre, Formen- und Kompositionslehre und Partiturspiel. Für Männer und Frauen gab es getrennte Klassen, Frauen konnten den bereits erwähnten verkürzten zweijährigen Kurs belegen. Außerdem gab es Vorlesungen über jährlich wechselnde [. . .] Gegenstände, z. B. Geschichte der Musik älterer und neuerer Zeit, Aesthetik der Musik, Metrik u. s. w.47 Theorielehrer war in den ersten Jahren Moritz Hauptmann, später Julius Rietz (seit 1848), Carl Reinecke (seit 1860) sowie Hermann Kretzschmar und Salomon Jadassohn (beide seit 1871). Die Namen dieser Lehrer werden auch mit dem Begriff „Leipziger Schule“ in Verbindung gebracht, die bereits im 19. Jahrhundert als sehr konservativ galt. Die Stärke dieses theoretischen Unterrichts war jedoch die besondere Verzahnung von Theorie und Praxis.48 Gerade das machte ihn für viele Amerikaner, die ihre musikalische Laufbahn weniger auf der Bühne als an Musikinstituten oder als Privatlehrer sahen, attraktiv.
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Königliches Konservatorium der Musik Leipzig, Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des Königlichen Konservatoriums der Musik zu Leipzig, Leipzig 1918, S. 20 f. Festschrift 1918 (Anm. 43), S. 21. Betz, Ein Amerikaner in Leipzig (Anm. 8), S. 13. Festschrift 1918 (Anm. 43), S. 31 f. Prospekt 1875 (Anm. 40), S. 5 f. Betz, Ein Amerikaner in Leipzig (Anm. 8), S. 14.
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Der Unterricht fand täglich außer sonntags und feiertags statt. Ferien gab es um Ostern (dem Ende des ersten Halbjahres), nach Michaelis (dem Ende des zweiten Halbjahres) und nach Weihnachten. Außerdem gab es im Sommer vier bzw. sechs freie Wochen49 . Besonders ausländische Schüler nutzten diese Zeit für ihre „grand tour“ durch Europa, inzwischen eher eine Touristenreise, die sie innerhalb kürzester Zeit zu allen Sehenswürdigkeiten brachte und als Teil einer gutbürgerlichen Ausbildung galt.50 Außerhalb des Konservatoriums war es fähigen Schülern auch möglich, an Aufführungen des Gewandhauses mitzuwirken. Bis heute dürfen Studenten als Substituten am Gewandhausorchester mitwirken.51 Innerhalb des Konservatoriums gab es die sogenannten „Abendunterhaltungen“. 1893 fanden sie in der Regel zweimal wöchentlich statt. Zweck dieser Einrichtung war es laut Prospekt den Schülern und Schülerinnen Gelegenheit [zu bieten], sich im öffentlichen Vortrage zu üben.52 In Leipzig sind diese Programme nicht überliefert. An anderen Instituten wie der „Königlichen Musikschule“ in München sind sie Teil der Jahresberichte. Hier zeigt sich, dass auch Amerikaner und Amerikanerinnen die Chance, vor ihren Mitschülern und Lehrern aufzutreten, wahrnahmen.53
EINFLUSS DER LEIPZIGER AUSBILDUNG AUF DIE MUSIKALISCHE AUSBILDUNG IN DEN USA: OBERLIN All diese Regularien, Traditionen und natürlich vor allem das neuangeeignete musikalische Wissen nahmen die amerikanischen Schüler mit in ihre Heimat. Einige setzten sie als Musiker auf der Bühne um. Andere, wie der englischstämmige Sebastian Bach Mills (in Leipzig von 1857 bis 1859), arbeiteten in den Vereinigten Staaten als Privatlehrer54 und gaben so das in Leipzig erworbenen Wissen an die nächste Generation weiter. Die institutionelle Musikausbildung in den USA aber beeinflussten insbesondere diejenigen, die nach ihrem Studium in Leipzig selbst Konservatorien gründeten oder als Lehrer dort arbeiteten. 1865 gründeten John Paul Morgan, ein ehemaliger Leipziger Schüler, und George W. Steele mit ihrem „Conservatory“ in Oberlin die erste Musikausbildungsstätte der USA. Damit hatten sie für alle nachfolgenden Konservatorien und Musikschulen
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Im Prospekt von 1875 (Anm. 40), S. 13, stehen vier Wochen, 1893 sechs, siehe Das Königliche Conservatorium der Musik zu Leipzig [Prospekt], Leipzig 1893, S. 14. Bomberger, The German Musical Training of American Students (Anm. 2), S. 32 f. Betz, Ein Amerikaner in Leipzig (Anm. 8), S. 11–13. Prospekt 1893 (Anm. 49), S. 7. Siehe dazu die Jahresberichte der Königlichen Musikschule zu München, als Digitalisat in der Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater München zu finden (urn:nbn:de:bvb:m290000000019). Bei ihrer Einschreibung in Leipzig mussten die neuen Schüler auch ihre früheren Lehrer angeben. Privatlehrer, die auch selbst in Leipzig studierten, waren dabei: Phillip Dornberger aus Pittsburgh, PA, George Horsey aus Kansas City, Richard Hardege aus Watertown, WI, und die beiden New Yorker Lehrer Ferdinand von Inten und Sebastian Bach Mills. Für Privatlehrerinnen seien hier beispielhaft Iva Sproule in Mount Vernon, AR, und Jessie McGill in Oil City, MO, genannt.
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eine ähnliche Vorreiterfunktion wie 22 Jahre zuvor das Leipziger Konservatorium für Deutschland.55 Das „Conservatory“ stand in enger Verbindung mit dem 1833 durch die presbyterianischen Pfarrer John Jay Shiperd und Philo P. Stewart gegründete Oberlin College. Von Anfang an wurden dort sowohl Frauen als auch Afro-Amerikaner aufgenommen und machten „Oberlin“ so zu einem der progressivsten Colleges des 19. Jahrhunderts.56 Steele setzte, nach dem Ausscheiden Morgans, den eben aus Leipzig zurückgekommenen John C. Fillmore als Leiter des „Conservatory“ ein und ging selbst nach Leipzig. Dort traf er auf das aus Hillsdale, MI, stammende Ehepaar Fenelon und Helen Maria Rice und überredete sie, der Fakultät des „Conservatory“ beizutreten. So waren von den vier Musiklehrern, die im „Catalogue“ von 1869/70 als Mitglieder der College-Fakultät aufgezählt wurden, drei frühere Schüler des Leipziger Konservatoriums. Die vierte, Lottie (Charlotte) Steele, war im „Literary Department“ in Oberlin ausgebildet worden.57 Sowohl Fillmore als auch Steele verließen das Konservatorium schon bald wieder und das nun praktisch nur noch aus dem Ehepaar Rice bestehende Kollegium wurde mit einer weiteren Leipziger Absolventin, Lucretia Wattles, verstärkt. Diese drei Lehrer blieben dem „Conservatory“ bis ins 20. Jahrhundert treu und sorgten dafür, dass regelmäßig Studenten des stetig wachsenden Instituts nach Leipzig gingen. Zwischen 1872 und 1899 unterrichteten neben dem Ehepaar Rice und Lucretia Wattles insgesamt 52 Lehrer58 , von denen acht das Konservatorium in Leipzig besucht hatten.59 Von diesen Lehrern prägten besonders Howard H. Carter, Arthur E. Heacox, Charles W. Morrison und das Ehepaar Edgar und Leona Sweet den Unterricht in Oberlin. Alle fünf verbrachten einen Großteil ihrer Arbeitsjahre am dortigen „Conservatory“. Morrison folgte 1902 Rice als „director“ und Heacox veröffentlichte mehrere Abhandlungen über Gehörbildung und Kompositionslehre.60
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Ogasapian/Orr, Music of the Gilded Age (Anm. 29), S. 72; Wasserloos, Das Leipziger Konservatorium im 19. Jahrhundert (Anm. 7), S. 74 f. Zur Geschichte des Oberlin College siehe Robert Samuel Fletcher, A History of Oberlin College. From Its Foundation through the Civil War, Oberlin 1943. Annual Catalogue of the Officers and Students of Oberlin College for the College Year 1869–1870, Springfield 1869, S. 4 f. Dies ergab eine Zusammenstellung aller Lehrer in den „Prospects“ des Oberlin College, zu dem das Konservatorium gehörte. Jährlich waren es immer um die sieben Fakultätsmitglieder, die ca. 250 Schüler unterrichteten, von denen nur etwa ein Fünftel männlich waren. Eine genauere Untersuchung steht hier allerdings noch aus. Zwei Absolventen des „Conservatory“, Calvin Brainard Cady und Howard Handel Carter, gingen direkt nach ihrem Abschluss nach Leipzig, verbrachten dort vier bzw. fünf Semester und traten sofort nach ihrer Rückkehr der Fakultät in Oberlin bei. Cady war danach fünf Jahre Lehrer für Klavier und Komposition, Carter 42 Jahre nur für Klavier. Vier weitere Fakultätsmitglieder, Arthur Edward Heacox, Charles Walthall Morrison, Edgar George Sweet und Leona Geneva Hottenstein (später verh. Mrs. Edgar G. Sweet) unterbrachen ihr dort bereits bestehendes Lehrverhältnis, um sich in Leipzig weiterzubilden. General Catalogue of Oberlin College, 1833–1908, Oberlin 1909, S. 165.
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Charlotte Emma Demuth, die von 1914 bis 1919 in Oberlin unterrichtete, ging noch vor ihrem Abschluss am „Conservatory“ für drei Jahre (1896–1899) nach Leipzig. Die Verbindung zwischen Leipzig und Oberlin spielte also auch zur Jahrhundertwende noch eine Rolle. Aber nicht nur der Lehrernachwuchs wurde nach Leipzig geschickt, auch einige Schüler des „Conservatory“ nahmen die Möglichkeit wahr, sich an der früheren Lehrstätte ihrer Professoren weiterzubilden. Zwischen 1863 und 1905 schrieben sich 20 Schüler in Leipzig mit dem Herkunftsort „Oberlin, Ohio“ ein. Vier von ihnen61 kamen noch vor der Einrichtung des Oberlin Conservatory nach Leipzig, die 16 anderen hatten auch das „Conservatory“ besucht. Von diesen 20 Schülern wurden 11 nach ihrer Rückkehr aus Leipzig Lehrer am „Conservatory“ oder waren es bereits vorher gewesen und zwei weitere unterrichteten an Musikinstituten in Philadelphia und Mount Vernon, Ohio. Joseph Edgar Bartlett schließlich war 1872 Gründer des Lawrence Conservatory in Kansas.62 Damit wurden 14 Schüler des „Conservatory“ nach ihrer Zeit in Deutschland Lehrer – ein Hinweis darauf, dass Leipzig von vielen Amerikanern besonders für die Weiterbildung zum Musiklehrer genutzt wurde. Ein weiterer Leipziger Schüler, William Albert Rounds, wurde im „Catalogue“ von 1908 als „Musician“ in Cleveland geführt63 . Über die Lebenswege der restlichen fünf konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. Dass diese Verbindungen nach Leipzig auch nach außen getragen und praktisch als Gütesiegel angepriesen wurden zeigen einige Beispiele aus dem Catalogue of Oberlin College, der auch die Nachrichten über das „Conservatory“ enthielt. Als das „Conservatory“ 1869 zum ersten Mal beschrieben wurde, wies man deutlich darauf hin, dass der zukünftige Direktor George W. Steele gerade von einem Aufenthalt am Leipziger Konservatorium zurückkehrte.64 Bereits im folgenden Katalog ist dieser Hinweis wieder verschwunden, allerdings taucht dann 1889/1890 folgender Satz auf: The general plan of the department is similar to that of most of the European Conservatories.65 Diese Aussage bleibt bis ins 20. Jahrhundert hinein Teil der Beschreibung des „Conservatory“. Die beiden Hinweise auf die europäische Tradition der Fakultät und des Unterrichts sind vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher Phasen des Konservatoriums zu sehen. Die erste erfolgte in der Eröffnungsphase, in der ein Hinweis auf eine europäische Ausbildung durchaus als Legitimation des Projekts gesehen werden kann. Der zweite Hinweis auf eine europäische Grundlage des Lehrplans fällt dann in eine Zeit der wachsenden Konkurrenz zwischen Musikinstituten. In den 1880er Jahren wurden vermehrt Konservatorien gegründet, und die Colleges nahmen Musikkurse in ihren Lehrplan auf. Dieser Trend setzte sich in den 1890er Jahren fort, so dass man in „Patterson‘s College and School Directory of the United States and
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Darunter die bereits erwähnten John Morgan, George Steele und Lucretia Wattles Illinois College, Catalogue of Phi Alpha Society, Jacksonville 1890, S. 88 f. Oberlin General Catalogue (Anm. 60), S. 836. Catalogue of Oberlin College for the Year 1868–1869, Oberlin 1869, S. 47. Catalogue of Oberlin College for the Year 1889–1890, Oberlin 1890, S. 54.
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Canada“ von 1904 lesen kann, dass es in Chicago zu dieser Zeit 22 Musikinstitute gab.66 In Indiana gab es nach Patterson zwei Musikinstitute und in Ohio selbst fünf (sechs mit dem Oberlin Conservatory, das Patterson nicht gesondert aufführte, da es zum College gehörte). Damit existierten also in diesen drei Nachbarstaaten mindestens 29 Musikinstitute, die in gegenseitige Konkurrenz traten und, abgesehen von komfortablen Räumlichkeiten und einer ausführlichen Musikbibliothek, auch mit einer europäischen Tradition aufzutrumpfen hofften.67 Die Orientierung an Leipzig und Europa war jedoch nicht nur eine werbewirksame Aussage. Tatsächlich wurde insbesondere in der Anfangszeit des „Conservatory“ der Lehrplan stark nach dem Leipziger Vorbild ausgerichtet. Der Theorieunterricht erstreckte sich über drei Jahre und orientierte sich an Ernst Friedrich Richters68 Werk „Lehrbuch der Harmonie“, das John P. Morgan unter dem Titel „Richter’s Manual of Harmony: A Practical Guide to Its Study“ übersetzt hatte. Klavierspiel wurde nach dem System von Louis Plaidy unterrichtet, einem Leipziger Lehrer der ersten Stunde.69 Weitere Anlehnungen an den Leipziger Lehrplan bildeten in der Anfangszeit des „Conservatory“ darüber hinaus Instrumentalkurse von nicht mehr als drei Schülern und die Prüfungen zu Ostern und Michaelis.70 Besonders diese Prüfungszeiten wichen stark von der sonst an Colleges üblichen Praxis ab, nach jedem „term“71 Prüfungen abzuhalten. Der größte Unterschied zu Leipzig war, dass Schüler in das Collegeleben in Oberlin eingebunden waren, dort Kurse besuchen durften und der „college discipline“ unterworfen waren, die laut „Catalogue“ von 1868/69 folgendes beinhaltete: He [the student] is required to abstain from use of Tobacco and Intoxicating Drinks, from Sedentary Games of chance or skill, and from connection with any Secret Society.72 Am Sonntag wurden darüber hinaus zwei Kirchgänge gefordert sowie der tägliche Besuch der Morgenandachten.73 Das war für Ausbildungsstätten in den USA, wo das studentische Leben fast ausschließlich innerhalb des Campus stattfand, nichts Ungewöhnliches.74 In Deutschland dagegen lebte man außerhalb des direkten Einflussbereiches des Konservatoriums. Zwar wurde auch hier von den Schülern große Disziplin in der Öffentlichkeit
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Homer L. Patterson (Hg.), Patterson’s College and School Directory of the United States and Canada, Chicago 1904, S. 268. Inwieweit das tatsächlich eine Rolle spielte, wurde bisher allerdings noch nicht erforscht. Richter war zwischen 1868 und 1879 sowohl Professor am Konservatorium als auch Thomaskantor in Leipzig gewesen. Phillips, The Leipzig Conservatory 1843–1881 (Anm. 2), S. 227–230. Ebd., S. 229. An Colleges und Universitäten in den USA war es üblich, das Jahr in zwei, drei oder vier Abschnitte zu teilen. In Oberlin z. B. gab es in jedem College-Kurs, einen „fall“, „winter“ und „spring term“, nach dem jeweils Prüfungen abgehalten wurden, siehe Annual Catalogue of the Officers and Students of Oberlin College for the College Year 1880–1881, Springfield 1881, S. 60, 67. Oberlin Catalogue 1868–69 (Anm. 64), S. 44. Annual Catalogue 1880–1881 (Anm. 71), S. 60. Thelin, A History of American Higher Education (Anm. 30), S. 66.
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erwartet, für viele Amerikaner aber bedeutete die Zeit an einem deutschen Konservatorium weit mehr Freiheiten, als sie es von zu Hause gewöhnt waren. Das galt noch mehr für Frauen: Ladies are allowed to go everywhere alone here, even to the opera,75 schrieb Minnie Powell, Mutter der jungen Violinschülerin Maud Powell 1881 voller Verwunderung. Im Laufe der 1880er und 1890er Jahre näherten sich auch die Anforderungen für das „diploma“, das nach erfolgreichem Besuch des „Conservatory“ verliehen wurde, immer mehr dem an den Colleges üblichen Bachelor an. Jeder Schüler musste einen Klavierkurs und einen Theoriekurs belegen, letzterer erstreckte sich über zehn „terms“. Mit „harmony“, „counterpoint“, „analysis“ und „musical history“76 waren aber noch immer wichtige Elemente des Leipziger Lehrplans zu finden. Das dritte Fach war frei wählbar, 1891/92 gab es folgende Möglichkeiten: Organ, Singing, Violin, Viola, Violoncello, Clarinet, Oboe, Cornet, French-Horn, or Trombone.77 All diese Instrumente wurden laut des Prospekts von 1893 auch in Leipzig unterrichtet.78 An anderen US-amerikanischen Konservatorien, wie zum Beispiel dem Chicago Musical College, wurden zusätzlich zu diesen klassischen Orchesterinstrumenten auch Harfe79 , das noch relativ neue Instrument Gitarre, Mandoline und das als ur-amerikanisch geltende Banjo unterrichtet.80 Aber auch dieses „Musical College“ konnte auf eine Leipziger Tradition zurückblicken.
DIE GRÜNDUNG ANDERER KONSERVATORIEN IN DEN USA Ihr Gründer, Florence Ziegfeld, kam 1862 aus Jever, Oldenburg an das Leipziger Konservatorium. Ein Jahr später siedelte er nach Chicago über, wo er zunächst als Privatlehrer Klavierunterricht gab und 1867 die Chicago Academy of Music gründete, die später in „Chicago Musical College“ umbenannt wurde. Neben Florence Ziegfeld hatten von den 39 Musiklehrern des Chicago Musical College, die bis 1889 an dem College unterrichteten, noch drei weitere das Leipziger Konservatorium besucht.81 Der Aufbau des Studienjahres war an den amerikanischer Hochschulen orientiert. Es gab vier zehnwöchige „terms“, die jeweils mit Prüfungen abgeschlossen wurden. Auf Grundlage dieser Prüfungen und der Arbeitsleistung im gesamten „term“ wurden „reports“ angefertigt, durch die man die Eltern über die Fortschritte ihrer Kinder informierte. Um eine „musical atmosphere“ zu schaffen, wie es ein Artikel des New 75 76 77 78 79
Shaffer/Greenwood, Maud Powell (Anm. 36), S. 29. Catalogue of Oberlin College for the Year 1891–1892, Oberlin 1892, S. 116. Ebd., S. 115. Dazu kamen noch Kontrabass, Flöte und Fagott, siehe Prospekt 1893 (Anm. 49), S. 7. Die Harfe galt in den USA schon im 19. Jahrhundert als für Frauen besonders geeignet, und so waren die wenigen weiblichen Orchestermitglieder, die es vor dem Ersten Weltkrieg gab, fast ausschließlich Harfenistinnen, siehe Christine Ammer, Unsung. A History of Women in the American Music, Portland 2001, S. 33 f. 80 W. W. S. B. Mathews, A Hundred Years of Music in America. An Account of Musical Effort in America during the Past Century, Chicago 1889, S. 478. 81 Es handelt sich hier um Louis Falk, Stella Sisson und Luman A. Phelps. Zur Lehrerliste siehe Mathews, A Hundred Years of Music in America (Anm. 80), S. 478–484.
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Yorker „Musical Courier“ bezeichnete, wurden außerdem Konzerte, Soireen, Liederabende und wöchentliche „ensemble classes“ eingeführt. Abgeschlossen wurde das Schuljahr dann mit den „final examinations“.82 Ebenfalls 1867 gründete Eben Tourjée das New England Conservatory. Ursprünglich gab es hier kaum Verbindungen mit Leipzig. Tourjée führte die Schule als Wirtschaftsunternehmen, das möglichst viele Klienten, das heißt Schüler, anwerben sollte.83 Hauptklientel waren zunächst Frauen, die dort eine Berufsausbildung erhalten oder sich für den Ehestand vorbereiten sollten. So waren bereits im ersten Jahr zwei Drittel der insgesamt 719 Studenten weiblich.84 Ganz nach den pädagogischen Grundprinzipien, wie sie im 19. Jahrhundert vielerorts für die Frauenbildung propagiert wurden, waren die vielen nicht-musischen Fächer praktisch ausgerichtet.85 Wie die meisten höheren Bildungseinrichtungen in den USA wurde das New England Conservatory nicht nur mit seiner Fächervielfalt, sondern auch mit der modernen Raumausstattung beworben.86 Noch weniger als am Chicago Musical College scheint sich der Lehrplan des New England Conservatory während Tourjées Zeit an Leipzig orientiert zu haben. So wurde das Institut nach dem Klassensystem geführt87 , das es in Leipzig auch 1918 noch nicht gab.88 1891 starb Tourjée, sein Nachfolger wurde der aus Thüringen stammende Pianist Carl Faelten. Er wollte, dass das „Conservatory“ den europäischen Einrichtungen ebenbürtig wurde, bewies bei diesem Unterfangen finanziell aber wenig Geschick und wurde deswegen 1897 entlassen.89 Ihm folgte der frühere Leipziger Schüler George W. Chadwick90 . Als „director“ nahm Chadwick einige Veränderungen in der Lehr- und Organisationsstruktur vor, die alle einen Leipziger Einfluss erkennen lassen. So bemühte er sich in Kooperation mit der Harvard University den Schwerpunkt der Musikausbildung am „Conservatory“ auf die Theorie zu verlegen. Er gliederte die School of Fine Arts aus, verkaufte die
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Mathews, A Hundred Years of Music in America (Anm. 80), S. 478 f. Betz, Ein Amerikaner in Leipzig (Anm. 8), S. 23. Auffallend ist, dass in dem Kapitel über das Konservatorium in Mathews, A Hundred Years of Music in America (Anm. 80), S. 453–459. dieser Aspekt betont zurückgewiesen wird. Zwar hätte es in den letzten Jahren eine durchschnittliche Schülerzahl von 2 065 Schülern gegeben, jedoch würde das Konservatorium zumindest seit der Einführung eines „trusts“ 1883 ohne finanzielle Motive geführt. Betz, Ein Amerikaner in Leipzig (Anm. 8), S. 23. So gab es an der School of Fine Arts des „Conservatory“ unter anderem auch Fächer wie Sticken, Holzschnitzen, Kunst- und Blumenmalerei, siehe Betz, Ein Amerikaner in Leipzig (Anm. 8), S. 23. Betz, Ein Amerikaner in Leipzig (Anm. 8), S. 24. Mathews, A Hundred Years of Music in America (Anm. 80), S. 454. Festschrift 1918 (Anm. 43), S. 31 f. Betz, Ein Amerikaner in Leipzig (Anm. 8), S. 28. Chadwick war auch Schüler an der Musikschule in München (bei Josef Gabriel Rheinberger), siehe Bomberger, The German Musical Training of American Students (Anm. 2), S. 133–137. Es ist anzunehmen, dass er sich bei seinen Reformen an beiden Musikinstituten orientierte.
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Klavierstimmerschule91 und führte einen Abschluss mit Diplom ein.92 Und auch über Lehrer gab es, teilweise schon vor Chadwicks Amtsübernahme, Verbindungen zu Leipzig.93 Die 1870 gegründete Philadelphia Musical Academy kann ebenfalls ihre Wurzeln auf das Leipziger Konservatorium zurückführen. Gegründet wurde sie von Johann Friedrich Himmelsbach und Rudolph Hennig, die beide in Leipzig studiert hatten, sowie Wenzel Kopta. Auch einer der ersten Lehrer, Carl Wolfgang Zeckwer, war zwischen 1866 und 1869 in Leipzig. 1876 wurde er Direktor des Instituts und behielt diesen Posten bis 1917.94 Im „Silver Jubilee Program“ von 1895 sind neben einer Lehrerliste auch die Namen einiger Absolventen der Musical Academy zu finden, bei den wichtigsten Lehrern mit einer kurzen Biographie. So bietet diese Quelle die Möglichkeit, sich einen Überblick der Institute, an denen diese Lehrer ausgebildet wurden, zu verschaffen. Die Zusammenstellung in Tabelle 2 zeigt, dass die meisten Lehrer zwar im deutschsprachigen Gebiet studiert hatten, es jedoch nach der ersten Lehrergeneration keinen spezifisch auf Leipzig ausgerichteten Austausch mehr gab. In der ausführlichen Lehrerliste des „Silver Jubilee Program“ sind darüber hinaus noch sieben weitere Lehrer zu finden, die in Leipzig studierten: Gotthilf Guhlemann, Zeline Elise Mantey, Georg Frank Edler, Robert Graner, James Goodman(n) und Richard Schirmer. Die ersten drei Genannten waren nur ein Jahr Lehrer an der Musical Academy, die anderen vier bzw. fünf Jahre. In seiner Dissertation über das Leipziger Conservatorium zwischen 1843 und 1881 führte Leonard M. Phillips noch weitere amerikanische Musikinstitute auf, die von früheren Leipziger Absolventen gegründet wurden oder Absolventen in ihrer Lehrerschaft hatten95 : Das Chicago College of Vocal and Instrumental Art wurde von Albert E. Ruff gegründet, die Sternberg School of Music (Philadelphia) von Constantine Sternberg, der zwischen 1885 und 1889 auch Direktor des College of Music in Atlanta, Georgia gewesen war. Otto Singer unterrichtete am Cincinnati Conservatory, James M. Tracy war Lehrer am Boston Conservatory und Albert A. Stanley Musikprofessor an der University of Michigan.96 Auch Absolventinnen gründeten Musikinstitute. Ein Beispiel ist Ada Bird, über deren Aufenthalt in Leipzig von 1882 bis 1885 nur bekannt ist, dass ihr Vater Charles 91
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Tatsächlich war der Beruf der Orgel- und Klavierstimmerin in den USA ein für Frauen durchaus anerkannter Beruf. Bei Willard wird er neben den anderen musikalischen Betätigungsbereichen „Public Singer“, „In Choir and Concert“, „Pianists and Composers“ und „In Orchestra Work“ als eigenständige Berufsmöglichkeit aufgeführt, siehe Willard, Occupations for Women (Anm. 32), S. 209–214. Betz, Ein Amerikaner in Leipzig (Anm. 8), S. 8, 33. Neben Chadwick hatten James C. D. Parker, Stephen Emery, Carlyle Petersiliae und Louis Maas am Konservatorium studiert, James W. Hill und Louis C. Elson hatten bei Leipziger Professoren Privatstunden genommen, siehe Phillips, The Leipzig Conservatory 1843–1881 (Anm. 2), S. 230. Sara Jean MacDonald und Eugene A. Bolt, Jr, The University of the Arts. The Campus History Series, Charleston 2006, S. 85 f. Von Phillips Aufzählung wurden hier nur die Namen der Schüler entnommen, die sich auch in das Inskriptionsregister eingeschrieben hatten. Privatschüler bleiben unberücksichtigt. Phillips, The Leipzig Conservatory 1843–1881 (Anm. 2), S. 233 f.
Die Wurzeln US-amerikanischer Musikausbildung in Deutschland Lehrer Zeckwer, Richard Hennig, Rudolph Wood, David D. Leefson, Maurits Hille, Gustav Van Gelder, Martinus Mohr, Hermann Rondinella, Pasquale Howe, Leland Schmidt, Richard Cresson, F. E. Samans, Carl Schachner, Carl
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Ausbildung Königliches Conservatorium der Musik zu Leipzig Königliches Conservatorium der Musik zu Leipzig Blind Asylum in Philadelphia, PA Music School in Amsterdam Conservatorium der Musik in Coeln (bei Isidor Seiß) Neue Akademie der Tonkunst (in Berlin) Königliche Akademische Hochschule für Musik (in Berlin) bei Ferdinand von Hiller, Otto von Königslöw und Delphin Alard Lehrerseminar in Eisleben Königliches Musikinstitut (in Berlin) Conservatorio San Pietro a Majella (in Neapel) Philadelphia Musical Academy in Berlin bei Carl Klindworth und Otto Thiersch Königliche Akademische Hochschule für Musik (in Berlin) Philadelphia Musical Academy in Berlin bei Heinrich Ehrlich, Albert Becker und Otto Wolff Conservatorium der Musik in Coeln Conservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde (in Wien)
Tabelle 2: Die 13 wichtigsten Lehrer der Philadelphia Musical Academy und Musikinstitute, an denen sie unterrichtet wurden. (Quelle: „Silver Jubilee Program“ der Musical Academy)
H. Bird am 14. 01. 1883 verstarb.97 Sie beendete ihre Zeit am Konservatorium mit einem Diplom und studierte noch ein Jahr am Conservatoire Nationale de Musique in Paris, bevor sie 1886 nach Sun Prairie, WI, zurückkehrte. Dort gründete sie ein Jahr später das Wisconsin Conservatory of Music. 1889 übernahm sie die Leitung des „Piano Department“ der School of Music an der University of WisconsinMadison. Nach sechs Jahren wurde ihr Konservatorium mit der School of Music zusammengelegt. Sie unterrichtete dort bis 1909 und gründete dann die Wisconsin School of Music, deren Leiterin sie bis zu ihrem Tod am 24. 08. 1914 blieb. Kurz davor wurde sie mit dem Orden Les Palmes Académiques durch die französische Regierung ausgezeichnet, einer Ehre, die nur sehr wenigen Amerikanern zu Teil wurde. Laut eines Nachrufs von 1934 blieb sie zeitlebens mit ihren Leipziger Lehrern Bruno Zwintscher und Carl Reinecke befreundet.98
MUSIKSTUDIUM IN DEN VEREINIGTEN STAATEN Der Lebenslauf von Ada Bird zeigt, wie vielfältig die Möglichkeiten zur Musikausbildung in den USA zur Jahrhundertwende geworden waren. In fast jedem Staat gab es nun „Conservatories“ oder eine „School of Music“, auch wenn diese zunächst noch keinen regulären Studiengang mit Abschluss anboten. Am Ende konnten
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In seinem Nachruf stand: Miss Ada Bird, a promising pianist, now sojourning in Leipsic, Germany, is the only child of this marriage, zitiert nach Wisconsin School of Music Honors Ada Bird’s Memory, in: Wisconsin State Journal (06. 05. 1934), o. S. 98 Ebd.
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„certificates“ oder „diplomas“ erworben werden, selbst die von den Colleges „semiautonomous“99 Schools of Music umfassten nur ein zusätzliches Angebot, dessen Kurse nicht für den Bachelor angerechnet werden konnten. 1876 vergab die Boston University zum ersten Mal den Grad des Bachelor of Music (Mus. B.). Am Oberlin Conservatory konnten 1904 die ersten acht Absolventen diesen Abschluss erwerben. Ein Jahr später mussten dort bereits alle Studierenden mit diesem akademischen Grad abschließen, Alternativen wurden abgeschafft. Die Lehrer des Konservatoriums erhielten 1906 rückwirkend den Bachelor.100 Im Gegensatz zu den anderen „bachelor degrees“ gab es beim Bachelor of Music keine Anforderung, Lateinkurse zu belegen oder überhaupt nur mit Lateinkenntnissen in das „College“ aufgenommen zu werden. Deswegen war das Abschlussdiplom auf Englisch und nicht wie sonst üblich in Latein abgefasst.101 Auch das machte die Musikausbildung für Frauen attraktiv, da Latein in der Regel an normalen High Schools nicht gelehrt wurde und viele der „Preparatory Schools“ nur Jungen offen standen.102 Im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhundert wurde Musik auch als Wahlfach an vielen Colleges eingeführt, so dass die Kurse nun in das Programm des Bachelor of Arts aufgenommen werden konnten. Im Zuge dieser Entwicklungen wurden viele der vom „College“ semi-autonomen „Schools of Music“ in „departments“ umgewandelt und den „Colleges“ eingegliedert. Vor allem an den Frauencolleges dieser Zeit wie dem Wellesley College (eröffnet 1875) gab es schon sehr früh reguläre Musikkurse. Direktor war hier zwischen 1884 und 1897 Junius W. Hill103 , der zwischen 1860 und 1862 am Leipziger Konservatorium eingeschrieben war. In Wellesley wurde ein fünfjähriger Kurs angeboten, bei dem eine Kombination aus Konservatoriums- und Collegekursen gewählt werden konnte. Die Studentinnen hatten die Möglichkeit sich auf Klavier, Orgel und Gesang, später auch Violine, Viola, Harfe und Violoncello zu spezialisieren. Außerdem mussten Kurse in Harmonie, Generalbass, Komposition sowie in Geschichte und Ästhetik der Musik belegt werden. Diejenigen, die diese Kurse beendeten, erhielten ein Diplom für ihre musischen Leistungen und einen Bachelor of Arts für ihre Collegekurse. Ende des 19. Jahrhunderts bestand dann zusätzlich die Möglichkeit, Musikkurse auch als Wahlfächer zu belegen, die für den Bachelor of Arts angerechnet werden konnten.104 1896 wurde die noch immer teilweise vom College unabhängige School of Music (wie auch die School of Art) als reguläres „department“ in das College
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Jean Glasscock (Hg.), Wellesley College 1875–1975. A Century of Women, Wellesley 1975, S. 132. Siehe Oberlin General Catalogue (Anm. 60). Robert A. Haslun, Commencement and Tradition at Oberlin, in: Oberlin Alumni Magazine 69 (1973), S. 12–14. Polly Welts Kaufmann, Girls’ Latin School, in: Historical Dictionary of Women’s Education in the United States, hg. von Linda Eisenmann, Westport 1998, S. 171–173. Wellesley College Record. General Catalogue of Officers and Students, in: Wellesley College Bulletin, Series 1, Nr. 5, Wellesley 1912, S. XVII. Glasscock, Wellesley College 1875–1975 (Anm. 99), S. 132–134.
Die Wurzeln US-amerikanischer Musikausbildung in Deutschland Independent Schools of Music Accredited Colleges and Universities which offer courses in music leading to the degree of Bachelor of Music Accredited Colleges and Universities which credit work in applied and theoretical music toward the B. A. degree Colleges and Universities which offer special training in preparation for teaching music in the public school: Schools of Music in cooperation with departments of education University schools and departments of education Teacher’s Colleges
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Tabelle 3: Musikschulen in den USA 1924.106
eingegliedert. Danach wurden nur noch Kurse, die zu einem Bachelor führten, angeboten. Trotzdem blieb die Möglichkeit des fünfjährigen gekoppelten CollegeMusikkurses bis 1935 bestehen.105 Bis in die 1920er Jahre hatte sich also in den Vereinigten Staaten eine große Vielfalt von Musikinstituten entwickelt. Das Bureau of Vocational Information zählte in einem Bericht über Ausbildungsstätten für Frauen 1924 insgesamt 326 Musikinstitute auf (Tabelle 3). Es gab nun also genug Alternativen für Amerikaner, das Musikstudium im eigenen Land zu absolvieren. Dazu kam ein wachsendes Bewusstsein für eine eigene, von Europa unabhängige Musiktradition, deren Grundlage man zum Teil in einer eigenen Musikausbildung sah.107 Diese veränderte Einstellung zur Ausbildung „abroad“ spiegelte sich auch in den Schülerzahlen in Leipzig wieder. Schon seit der Jahrhundertwende nahmen die Zahlen der Amerikaner kontinuierlich ab. Als stärkste ausländische Kraft wurden sie nun von russischen Schülern abgelöst. 1913 schrieben sich nur noch 16 Amerikaner ein. Diese Zahl verringerte sich nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges noch weiter.108 Die letzte amerikanische Schülerin, Elsa Krauth, schrieb sich am 12. April 1917109 ein, nur sechs Tage nach 105 Ebd. 106 Bureau of Vocational Information, Training for the Professions and Allied Occupations. Facilities Available to Women in the United States, New York 1924, S. 496–520. 107 Ogasapian/Orr, Music oft he Gilded Age (Anm. 29), S. 66–71. Auch, wenn z. B. der erste akademische Jazz-Kurs nicht etwa in den USA, sondern am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt 1928 eröffnet wurde, siehe Peter Cahn, Das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt am Main. 1879–1978, Frankfurt a. M. 1979, S. 262–264. 108 Insgesamt schrieben sich 118 Ausländer ein, von denen 34 aus Russland (inklusive Polen) kamen, siehe Inskriptionsregister. 109 Elsa Krauth war in Hebron, North Dakota, geboren und gab diese Stadt auch als ihren Herkunftsort an. Als letzten Aufenthaltsort verzeichnete sie in ihrem Aufnahmeformular jedoch Hirschberg in Schlesien. Sie kam also nicht aus den USA nach Leipzig, sondern war bereits seit einer gewissen Zeit im Deutschen Reich gewesen. Dadurch ist Luise Wilbert (Nr. 12343) die letzte direkt aus den USA kommende Schülerin am Konservatorium. Sie schrieb sich am 26. September 1916 ein. Während Elsa Krauth bereits im Juli 1918 wieder abging, blieb Luise Wilbert bis zum 10. 12. 1918 am Leipziger Konservatorium. Das ist insoweit erstaunlich, da im Jubiläumsband von 1918 eindeutig geschrieben wird, dass „der weitere Besuch des Konservatoriums den Angehörigen derjenigen Staaten, mit denen wir uns im Kriegszustand befanden, nicht gestattet werden [konnte]“, siehe Festschrift 1918 (Anm. 43), S. 36.
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dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Natürlich studierten auch zwischen den beiden Weltkriegen Amerikaner an deutschen Konservatorien, und bis heute machen sie einen gewissen Anteil an den Schülern der verschiedenen Hochschulen aus. Aber die großen Zahlen im letzten Viertel des 19. Jahrhundert wurden nicht mehr erreicht.
FAZIT Leipzigs herausragende Stellung für den musikalischen Nachwuchs aus den Vereinigten Staaten wird vorrangig durch die hohe Anzahl amerikanischer Schüler und Schülerinnen gezeigt. Zwischen 1843 und 1918 waren es insgesamt 1500. Sie kamen aus allen Gebieten der Vereinigten Staaten, waren verheiratet oder alleinstehend, hatten bereits Konservatorien besucht oder waren von Privatlehrern unterrichtet worden, sahen auf eine bereits Jahre andauernde Karriere zurück oder begannen sie gerade erst. Sie alle gingen nach Leipzig, um sich am dortigen „Conservatorium der Musik“ aus- und weiterbilden zu lassen, viele von ihnen um Musiker zu werden, zu unterrichten oder selbst Konservatorien und Musikschulen zu gründen, deren Lehrpläne und Aufbau oftmals stark von Leipzig beeinflusst waren. Besonders für Frauen war diese Ausbildung attraktiv, war doch im 19. Jahrhundert der Beruf der Solokünstlerin und Musiklehrerin einer der wenigen anerkannten Berufe. Da das Leipziger „Conservatorium“ seit seiner Eröffnung 1843 weibliche Zöglinge aufnahm, war ihnen hier auch sehr früh eine institutionelle Ausbildung sicher. Die herausragende Rolle Leipzigs gründete sich vor allem auf der engen Verzahnung zwischen Theorie und Praxis, die viele spätere Lehrer und Konservatoriengründer hervorbrachte. So entwickelte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhundert in den USA ein vielfältiges Musikschulsystem, das sich zuerst stark an den europäischen Vorbildern, und hier vielerorts an Leipzig, orientierte. Schritt für Schritt wurden diese Institute dann jedoch den lokalen Verhältnissen angepasst, vor allem seit der Jahrhundertwende, als nun auch Musiker einen Bachelor-Abschluss erwerben konnten. Diese Entwicklung machte eine Ausbildung in Deutschland zwar nicht obsolet, aber doch für viele deutlich weniger attraktiv, und so nahmen schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Zahlen amerikanischer Schüler in Leipzig ab. Diese Entwicklung wurde mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch beschleunigt, und so blieb das 19. Jahrhundert die Hoch-Zeit der Musikausbildung von Amerikanern in Deutschland.
ABSTRACT Since its founding in 1843 the Leipzig Konservatorium became an important center for music students from the USA, foremost because of its first director, Felix Mendelssohn. His idea of a Humboldian musical education resonated within Americans and around 1 500 students came to the Bach-city Leipzig to study music. They came because Germany and its musical atmosphere seemed the perfect place, the “mecca”, to study; and until the late 19th century there were not many possibilities to get a full musical education in the USA. One of the very first American musi-
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cal institutes was the Oberlin Conservatory in Ohio. Founded by three alumnae of the Leipzig Konservatorium it orientated parts of its curriculum to the classes in harmony at Leipzig and most of its longtime teachers studied at least a short time at Leipzig. Many other musical institutes in the USA were founded by former students of Leipzig, like the Chicago Academy of Music by Florence Ziegfeld or the Philadelphia Musical Academy by Johann Friedrich Himmelsbach and Rudolph Hennig. There were also female students such as Ada Bird who founded the Wisconsin School of Music. Women studied at the Leipzig Konservatorium since the 1850s. An analysis of 382 of female students from the USA who came to Leipzig between 1879 and 1899 showed two main characteristics: Most of them came from states with a high percentage of German immigrants and therefore a very visible German-influenced culture and the great majority was of college age and therefore came to Germany to get a full musical education, either to become professional musicians or to complete their middle class education.
US-AMERIKANISCHE MEDIZINSTUDENTEN AN DEN UNIVERSITÄTEN IN HALLE UND LEIPZIG, 1843 BIS 1914 Anja Werner
Zwischen 1769 und 1914 schrieben sich etwa 322 amerikanische Studenten an der Universität in Halle und etwa 1 530 an der Universität Leipzig ein, darunter jeweils zwei Frauen. Darüber hinaus trafen US-amerikanische Gasthörer und Besucher an beiden Universitäten ein, die jedoch nicht genau erfasst wurden und daher kaum recherchierbar sind.1 Wenigstens 15 US-Studenten in Halle und 182 in Leipzig immatrikulierten sich zwischen 1843 und 1914 zum Medizinstudium. Bei dieser vergleichsweise kleinen Gruppe innerhalb der gesamten amerikanischen Studentenschaft beider Universitäten handelte es sich fast ausschließlich um weiße Männer. Grundsätzlich waren Frauen und Afroamerikaner seit Ende des amerikanischen Bürgerkriegs Teil der Studentenmigration nach Europa – im Vergleich zu ihren weißen Landsmännern waren ihre Zahlen aber verschwindend gering. Frauen schrieben sich vornehmlich an der auf Neuerungen ausgerichteten philosophischen Fakultät ein. Sie studierten kaum Medizin und praktisch niemals Recht oder Religion.2 Im ersten Teil meines Aufsatzes werde ich eine statistische und – in Auswahl – biografische Beschreibung der amerikanischen Medizinstudenten an beiden Universitäten vornehmen. Im zweiten Teil werde ich exemplarisch anhand ausgewählter amerikanischer Studierender in Leipzig deren Bedeutung für die US-Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzeigen.
I. US-AMERIKANISCHE MEDIZINSTUDENTEN IN EUROPA Obwohl beide deutsche Universitäten zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast gleich groß waren, entwickelten sie sich bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges sehr unterschiedlich. Während Halle langsam aber stetig wuchs, stagnierte Leipzig, bis etwa um 1870 eine regelrechte Explosion der Studentenzahlen einsetzte. Bis 1914 hatte
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Dieser Artikel nimmt Schlüsselargumentationen meiner englischsprachigen Monografie zum Thema erstmals in deutscher Sprache auf und erweitert diese umfassend, siehe Anja Werner, The Transatlantic World of Higher Education. Americans at German Universities, 1776–1914, New York et al. 2013. Von mir zusammengestellte Listen US-amerikanischer Studierender in Leipzig und Halle, entnommen der Matrikel im Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg bzw. im Universitätsarchiv der Universität Leipzig, sind online unter verfügbar. Werner, The Transatlantic World (Anm. 1), S. 87–95, 141–144, 151–155.
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sich Leipzigs Studentenpopulation nahezu verfünffacht, wodurch die Universität zu einer der größten Deutschlands heranwuchs. Halle hingegen blieb vergleichsweise klein und somit auch auf bestimmte Fachrichtungen spezialisiert.3 Amerikanische Studentenzahlen in Halle und Leipzig folgten bis etwa 1900 den allgemeinen Entwicklungstrends der Immatrikulationszahlen beider Universitäten. Um die Jahrhundertwende aber entwickelten sie sich auseinander. Obwohl die Zahl der neu immatrikulierten Amerikaner abnahm, stiegen die Gesamtimmatrikulationszahlen weiter an. In den 1870er und 1880er Jahren waren auffällig viele US-Pioniere neuer Fachrichtungen unter den amerikanischen Studierenden gewesen; in den 1890er Jahren finden sich hingegen verstärkt auch Abenteurer, die – wenn überhaupt – nicht unbedingt in der Wissenschaft Bekanntheit erreichen würden. Der Rückgang amerikanischer Studentenzahlen in Deutschland um die Jahrhundertwende lässt sich am besten mit einem Aufflammen patriotischer Gefühle nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 erklären, zumal zu diesem Zeitpunkt bereits Amerikaner, die seit den 1870er Jahren an deutschen Universitäten studiert hatten, neue Ideen an höheren Bildungseinrichtungen in den USA umgesetzt hatten, und die Ergebnisse erster Reformbestrebungen in der höheren amerikanischen Bildung spürbar wurden.4 Es können allerdings auch Ausnahmen in der generellen Entwicklung der Studentenzahlen für einzelne Fachrichtungen beobachtet werden. Eine detaillierte Analyse zeigt, dass es von Jahr zu Jahr kleine Fluktuationen der US-Studentenzahlen an unterschiedlichen Universitäten gab. Stiegen die Zahlen einer Fachrichtung in Leipzig, fielen sie in Halle oder Göttingen und umgekehrt. Das verdeutlicht, dass deutsche Universitäten in ihrer Anziehungskraft variierten und voneinander abhängig waren. Ein Grund dafür waren Neuberufungen, Wegzüge und das Ausscheiden von renommierten Professoren. Amerikanische Studierende verfolgten solche Entwicklungen sehr genau; sie suchten gezielt nach den besten Studienmöglichkeiten in ihrem Fach. Nicht die deutsche Universität als solche, sondern der deutsche Experte einer bestimmten Fachrichtung war es, der Amerikaner nach Europa zum Studium lockte.5 Doch damit nicht genug. Der Studienaufenthalt in Deutschland sowie möglicherweise ein deutscher Doktortitel verschafften Amerikanern einen prestigeträchtigen Ausgangspunkt für eine Laufbahn in der amerikanischen höheren Bildung. Netzwerke waren dabei von fundamentaler Bedeutung: Amerikaner vernetzten sich in Göttingen, Leipzig oder Berlin
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Konrad Jarausch, Students, Society, and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton, New Jersey, 1982, S. 23; Konrad Jarausch, Deutsche Studenten, 1800–1970, Frankfurt 1984; Charles E. McClelland, State, Society, and University in Germany 1700–1914, Cambridge 1980, S. 240 f.; Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert, Göttingen 1997; Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Berlin 1994 (Leipzig 1904). Daniel Bussey Shumway, The American Students of the University of Göttingen, in: Americana Germanica 8 (1910), Nr. 5/6, S. 171–254; John T. Krumpelmann, The American Students of Heidelberg University 1830–1870, in: Jahrbuch für Americastudien, Bd. 14, hg. von Ernst Fraenkel et al., Heidelberg 1969, S. 167–184; Listen Halle/Leipzig (Anm. 1). Werner, The Transatlantic World (Anm. 1), S. 52–61.
US-amerikanische Medizinstudenten an den Universitäten in Halle und Leipzig
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mit ihren Landsleuten aus allen Teilen der USA. Sie konnten sich in diesem amerikanischen Mikrokosmos (den sie selbst nicht ohne eine Spur von Humor als „American Colony“ bezeichneten) eine Vorstellung von Problemen und neuen Strömungen amerikanischer Bildung verschaffen. Man ging nicht so sehr nach Deutschland, um richtungsweisende deutsche Bildung zu studieren, sondern um Anregungen dafür zu erhalten, wie man amerikanische Bildung verbessern könnte. Der Unterschied lag darin, bereits beladen mit in amerikanischen Kontexten geprägten Bildungsideen in Deutschland einzutreffen und sich hier inspirieren zu lassen, wie genau diese zu Hause in Amerika umzusetzen seien – und mit wem und wo. Landsleute aus der „American Colony“ in Deutschland hatten außerdem aktuelle Informationen darüber, wo in den USA sich gerade eine vielversprechende Universität neu gründete oder grundlegend umgestaltete, und wer dabei federführend war.6 Richtungsweisende Orte und Kontakte – die Verbindung aus diesen Elementen bestimmte die Reiseroute amerikanischer Studierender. Für die Medizin bedeutete dies, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Universitäten und Kliniken in Paris, Wien sowie Edinburgh beliebte Anlaufpunkte für amerikanische Studierende waren. Hier waren seit Ende des 18. Jahrhunderts neue und moderne Krankenhauskomplexe entstanden, die bestimmend für die Zukunft die Gesundheitsversorgung in ganz neue Bahnen lenkten bzw. reichhaltigen Nährboden für medizinische Forschung und damit für eine Verbesserung der medizinischen Versorgung boten.7 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als unter anderem mit der Entdeckung von Narkosemöglichkeiten und krankheitserregenden Keimen Grundsteine für eine tiefgreifende Umwälzung der Medizin auf einem empirisch-naturwissenschaftlichen Fundament gelegt worden waren, wandelten sich auch die Reiserouten amerikanischer Medizinstudenten. Obwohl Paris und Wien beliebte Reiseziele blieben, gerieten verstärkt deutsche Universitäten mit ihren Forschungslaboratorien in den Blick angehender amerikanischer Mediziner. So reiste man seit Ende der 1860er Jahre nach Leipzig, um bei Carl Ludwig Physiologie zu studieren, und ab den 1880er Jahren nach Berlin, um sich die Bakteriologie Robert Kochs anzueignen.8 Der ambitionierte Student plante nun eine Reiseroute, die ihm Einblicke in verschiedene, brandaktuelle, naturwissenschaftliche Ansätze der Medizin erlaubte.
US-amerikanische Medizinstudenten in Halle Zwischen 1843 und 1912 studierten wenigstens 15 amerikanische Medizinstudenten in Halle: einer um 1843, ein weiterer um 1869 sowie insgesamt sechs – in zwei Schüben um 1882 und 1889 – in den 1880er Jahren. Sechs weitere Studierende 6
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Die bekannteste American Colony ist die Göttingens, siehe Paul G. Buchloh (Hg.), American Colony of Göttingen. Historical Data Collected between the Years 1855 and 1888, Göttingen 1976; Shumway, The American Students of the University of Göttingen (Anm. 4), S. 171–254. Thomas Neville Bonner, Becoming a Physician. Medical Education in Britain, France, Germany, and the United States, 1750–1945, New York 1995; Thomas Neville Bonner, American Doctors in German Universities. A Chapter in International Intellectual Relations, Lincoln 1963. Siehe z. B. Bonner, American Doctors in German Universities (Anm. 7).
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schrieben sich in den 1890er Jahren ein. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert immatrikulierte sich lediglich 1912 ein Amerikaner. Die geringen Zahlen an amerikanischen Medizinstudenten lassen vermuten, dass Halle nicht in der Medizin seine größte Anziehungskraft hatte – während große Universitäten wie Leipzig oder Berlin in nahezu allen Fachrichtungen für Amerikaner von Interesse waren, lockten an kleineren Universitäten wie eben in Halle oft nur einzelne Professorenberühmtheiten in bestimmten Fachrichtungen amerikanische Studierende an. In Halle geschah das vor allem in der Landwirtschaft (chemische Agrarwissenschaften) sowie in der Kameralistik.9 Die Tatsache, dass in den 1880er Jahren ein Medizinstudium in Halle für Amerikaner interessanter wurde, lässt sich mit der Erneuerung des medizinischen Campus erklären. Zwischen 1876 und 1880 waren Teile des neuen Klinikums in der Magdeburger Straße fertiggestellt worden, so das Anatomiegebäude, die chirurgische Klinik und die Frauenklinik.10 Neue Gebäude symbolisierten das Interesse von Stadt und Geldgebern an einer Verbesserung der Ausbildung. Neueröffnungen konnten daher zum Anstieg der Studentenzahlen führen, was das Interesse amerikanischer Medizinstudenten an Halle ab 1882 erklären könnte.11 Schon aufgrund der geringen Gesamtzahl und deren Verteilung über mehrere Jahrzehnte lässt sich schlussfolgern, dass diese angehenden amerikanischen Ärzte unabhängig voneinander reisten – sie immatrikulierten sich an unterschiedlichen Tagen und gaben unterschiedliche Adressen in Halle an. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie sich nicht kannten.12 Die Gründe für die Entscheidung der 15 amerikanischen Medizinstudierenden, sich in Halle einzuschreiben, sind unbekannt. Oft reisten amerikanische Studenten an eine bestimmte Universität, weil ein Bekannter, ein Kommilitone oder amerikanische Professoren diese empfohlen hatte. Auch können Studierende persönliche Gründe für eine bestimmte Universitätsstadt gehabt haben. Ein solcher Grund wäre die Wahrung einer Familientradition: es könnten Großväter, Väter oder Geschwister hier eingeschrieben gewesen sein. Letztlich ist es auch möglich, dass ihre Vorfahren aus der Region Halle stammten. Meine bisherigen Recherchen ergaben keinen Verweis auf spätere Forschungstätigkeiten oder administrative Karrieren der 15 US-amerikanischen Medizinstudenten in Halle. Waren sie eher an einer soliden Ausbildung für eine praktische Tätigkeit als niedergelassene Ärzte interessiert? Hatten sie sich noch nicht gänzlich 9
Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, Massachusetts, 1998, S. 62, 84 f.; Liste US-amerikanischer Studierender in Halle auf ; Werner, The Transatlantic World (Anm. 1), S. 141–144. 10 Florian Steger und Max Schochow unter Mitarbeit von Saskia Gehrmann, Medizin in Halle. Ein medizinhistorischer Stadtführer, Halle-Wittenberg 2013, S. 205. 11 Beispiele für die Wahrnehmung wissenschaftlichen Aufschwungs am Beispiel der Universitätsgebäude finden sich in Pugh an Editor, 31. 10. 1853, zitiert in C. A. Browne, European Laboratory Experiences of an Early American Agricultural Chemist – Dr. Evan Pugh (1828–1864), in: Journal of Chemical Education 7 (1930), Nr. 3, S. 500; M. C. Weld, 22. 06. 1853 (Mason’s III Eur, fragment), L. Weld Family Papers, Group 559, Box 1, Folder 2, YUL; Werner, The Transatlantic World (Anm. 1), S. 119 f. 12 Siehe Listen Halle/Leipzig (Anm. 1).
US-amerikanische Medizinstudenten an den Universitäten in Halle und Leipzig
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für eine medizinische Karriere entschieden und suchten auch Inspiration in anderen Wissenschaftsbereichen? Ein gutes Beispiel für beide Hypothesen wäre Jabez Baldwin Lyman, der sich am 18. November 1843 als Nr. 324 in Halle immatrikulierte. Verschiedene genealogische Internetseiten geben einige spärliche und teilweise widersprüchliche Auskünfte über ihn: Er wurde im April 1819 oder 1820 als Sohn von Ahira Lyman und Lydia Baldwin in Massachusetts geboren, heiratete Lucy DePue und starb im Sommer 1893.13 Lyman erhielt 1848 einen Masters Degree vom Amherst College und machte 1857 seinen Doctor of Medicine am Jefferson Medical College. Er studierte in Paris, Wien und Philadelphia, Pennsylvania, Medizin. Interessanterweise wird Halle auf der Webseite des Amherst College mit Lymans Kurzbiografie nicht erwähnt, sondern nur größere europäische Zentren für Medizin. Die Angaben legen immerhin nahe, dass Lyman während oder unmittelbar nach seiner College-Ausbildung nach Europa aufgebrochen war und bereits ein Interesse für die Medizin entwickelt hatte.14 Lymans beruflicher Werdegang zeigt, wie wenig festgelegt ein Amerikaner Mitte des 19. Jahrhunderts trotz eines angefangenen Medizinstudiums in seiner fachlichen Ausrichtung war. So unterrichtete Lyman nach seiner Rückkehr für vier Jahre in Georgia und South Carolina, arbeitete anderthalb Jahre als Professor (das bedeutete Lehrkraft) für Mathematik an der Oglethorpe University, war ein Jahr am Andover Theological Seminary und unterrichtete 1848 bis 1849 Französisch und Deutsch. Erst Ende der 1850er Jahre, nachdem er ein amerikanisches Medizinstudium abgeschlossen hatte, lebte er 1857 bis 1858 als niedergelassener Arzt in Chicago und schließlich von 1858 bis 1881 in Rockford, Illinois. 1881 setzte er sich in Massachusetts zur Ruhe und verstarb zwölf Jahre später in Salem.15 Lymans Karriereweg illustriert, dass Mitte des 19. Jahrhunderts der Gedanke eines naturwissenschaftlich-experimentellen Studiums noch nicht zum Ideal eines amerikanischen Medizinstudenten gehörte – viel Zeit verbrachte Lyman stattdessen mit Sprachunterricht, Mathematik und Theologie. Warum hatte Lyman sich 1843 für Halle entschieden? Die Antwort könnte in der Theologie zu finden sein. Fachbezogene Verbindungen zwischen einer deutschen und einer amerikanischen Universität lassen sich im 18. und 19. Jahrhundert ausmachen. Der Grund hierfür war nicht zuletzt, dass amerikanische Fakultätsangehörige Studierenden „ihre“ deutsche Universitäten empfahlen. Bereits 1769 hatten sich zwei Söhne des aus Halle nach Philadelphia, Pennsylvania, emigrierten Predigers Heinrich (bzw. Henry) Melchior Mühlenberg als Theologiestudenten in Halle eingeschrieben.16 Ihnen folgten weitere Amerikaner aus Philadelphia. Mitte des 19. Jahrhunderts bestand 13
Siehe genealogische Datenbanken im Internet zu Jabez Baldwin Lyman, und (03. 10. 2016). 14 Amherst College Biographical Record, Centennial Edition (1821–1921), (12. 08. 2014). 15 Amherst College Biographical Record (Anm. 14). Ein Architekturführer von 1983 bemerkt, dass Lyman 1881 das Baldwin-Lyman House in Salem geerbt hatte, was den Ruhestand und Rückzug nach Salem erklären würde. Das Haus verblieb bis 1920 in seiner Familie, siehe Bryant Franklin Tolles und Carolyn K. Tolles, Architecture in Salem. An Illustrated Guide, Salem 1983, S. 31. 16 Siehe Liste Halle (Anm. 9). Weitere Informationen zu den Mühlenbergs finden sich im Universitätsarchiv Halle und in den Franckeschen Stiftungen, siehe auch Henry A. Pochmann, German
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eine vergleichsweise enge Beziehung zwischen Amherst College und Halle, die in der Theologie begründet lag. Verbindungen zwischen Göttingen und Harvard oder Leipzig und Yale wären weitere Beispiele in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.17 Möglicherweise ein (entfernter) Verwandter Lymans – und somit ein Beispiel für die Wahrung einer Familientradition – war George Lyman Richards, der sich am 23. April 1894 in Halle als Student der Medizin einschrieb und zuvor an der Harvard University studiert hatte. Richards war am 1. Juni 1863 in Connecticut als Sohn von Solomon Richards und Myra Edwards Lyman geboren.18 Laut „The Quinquennial Catalogue of Harvard University“ hatte Richards seinen Abschluss 1886 in Harvard gemacht.19 Dieser Zeitrahmen überlappte mit dem Ruhestand des älteren Lyman in Massachusetts. Spätere US-amerikanische Medizinstudenten in Halle lassen vom Namen her erkennen, dass sie selbst oder ihre Eltern bzw. Großeltern aus der alten Welt in die USA ausgewandert waren. Dazu gehören Robert J. O’Reilly, der sich am 14. April 1869 als Nr. 29 einschrieb und in der Rubrik „Geburtsort und Vaterland“ „Ireland & United States“ vermerkte. Er war in St. Louis, Montana, sesshaft. Außerdem schrieben sich am 21. Oktober 1882 Gustav Buss (Nr. 578) aus Neu-Braunfels, Texas, Hermann Frick (Nr. 712) zehn Tage später und am 18. November 1882 August F. Jonas (Nr. 845) aus Wisconsin ein, wobei die Namen Buss und Frick sowie amerikanische Heimatorte wie Neu-Braunfels beziehungsweise Wisconsin deutsche Vorfahren vermuten lassen könnten. Darüber hinaus bemerkte Buss in der Hallenser Matrikel, dass er in Graz das Gymnasium und die Universität besucht hatte und sein Vater bei Graz ein Gut besäße. Frick hatte sich bereits am 20. April 1882 als Nr. 474 in Leipzig eingeschrieben. Offenbar war er dort nur ein Semester geblieben und im folgenden Herbst nach Halle weitergezogen. Ursprünglich stammte der Sohn eines Predigers aus Boston.20 Für Isaac William Kingsbury, der sich am 5. Mai 1899 als Nr. 454 in Halle immatrikulierte, liegt zusätzlich die Information vor, dass er 1896 seinen Bachelor of Arts an der Harvard University „cum laude“ gemacht hatte und 1903 einen Doctor of Medicine an der Columbia University ablegen würde.21 Offenbar hatte er kurz nach Abschluss seiner College-Ausbildung die Reise über den Atlantik angetreten. Zwar trafen manche Studierende erst zum Sommersemester in Europa ein, dennoch war das gängige Muster, im Herbst anzukommen und sich zuerst an einer größeren,
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Culture in America. Philosophical and Literary Influences, 1600–1900, Madison 1957, S. 43; Jurgen Herbst, The German Historical School in American Scholarship, Ithaca, New York, 1965, S. 13 f. Ein Nachkomme der Mühlenbergs war William Augustus Muhlenberg, der in den 1830er Jahren ein Preparatory School für Jungen in College Point, New York, leitete. Verschiedene Beispiele für solche Beziehungen zwischen einer amerikanischen und einer deutschen Universität zu unterschiedlichen Zeitpunkten im 19. Jahrhundert sind näher beschrieben in Werner, The Transatlantic World (Anm. 1), S. 55–60. Siehe genealogische Datenbank im Internet zu George Lyman Richards (11. 08. 2014). The Quinquennial Catalogue of Harvard University 1636–1930, Cambridge 1930, S. 885, 1397, . Siehe Liste Halle (Anm. 9). The Quinquennial Catalogue (Anm. 19), S. 380, 1337.
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gegebenenfalls landschaftlich weniger reizvoll gelegenen Universität für die kalte Jahreszeit einzuschreiben. Viele Studierende zogen bereits nach einem Semester weiter. Ein solches Muster wäre für Kingsbury denkbar. Allerdings verwies er bei der Einschreibung in Halle nicht auf eine andere, vorher besuchte Universität in Deutschland, sodass auch ein Studienbeginn in Columbia möglich gewesen sein kann mit einer Umentscheidung für Europa nach einiger Zeit. Auch ein längerer Deutschlandaufenthalt vor Studienbeginn zum Zwecke des Sprachstudiums würde eine Erklärung liefern. In Halle wurde in der Matrikel am 15. Januar 1900 Kingsburys Abwesenheit festgestellt. Er studierte also zwei Semester in Halle. Der biografische Überblick zu amerikanischen Studierenden in Halle verdeutlicht die Heterogenität der amerikanischen Studentenschaft an deutschen Universitäten. Medizin stellte nicht die Hauptattraktion Halles dar. Folglich sind unter den amerikanischen Medizinstudierenden vor Ort eher weniger bekannte Praktiker zu finden. Die später richtungsweisenden amerikanischen Ärzte, die sich durch Forschungsleistungen sowie Reformbestrebungen der amerikanischen Medizinerausbildung einen Namen machen würden, immatrikulierten sich an anderen deutschen Universitäten. Einer dieser Orte war Leipzig.
US-amerikanische Medizinstudenten in Leipzig Etwa 182 US-Amerikaner studierten Medizin an der Universität Leipzig, darunter auch Gasthörer beiderlei Geschlechts.22 Manche Studierende nannten mehr als eine Fachrichtung (bzw. Fakultät) bei ihrer Einschreibung. Diese wurden berücksichtigt, wenn es sich bei einer dieser um „Med.“ handelte. Bei Mehrfachimmatrikulationen wurde das Datum der ersten Einschreibung gewählt. Auch Hugo Münsterberg, ein Schüler Wilhelm Wundts, ist mit aufgelistet, der zwar während seines Leipziger Medizinstudiums Deutscher war und es auch blieb, aber als späterer Professor an der Harvard University eine bedeutende Rolle in US-amerikanischen Akademikernetzwerken spielen würde.23 Wie auch im Fall der amerikanischen Medizinstudenten in Halle ist unter den Leipziger Medizinstudierenden ein vergleichsweise hoher Anteil an Amerikanern deutscher Abstammung. Hier zeigt sich, dass Medizin durchaus eine Frage von Überzeugungen – auch nationaler Art – sein kann. So fand die Stiefmutter von William Henry Welch während seines Europa-Aufenthaltes, dass er nicht genügend Patriotismus beweise, und sein Vater drängte ihn, im Falle einer Krankheit einen „amerikanischen Arzt“ aufzusuchen.24 Welchs Vater war selbst Arzt. Allerdings 22
Die Zahl ist höher als die, die ich in meiner Monografie von 2013 angegeben hatte (165), da ich damals nur tatsächlich immatrikulierte Studierende einbezog. 23 John Clendenning, The Life and Thought of Josiah Royce, revidierte und erweiterte Ausgabe, Nashville 1999, S. 186; Hugo Münsterberg, The Germans and the Americans, in: The Atlantic Monthly LXXXIV (1899), Nr. DIII, S. 396–409; Miles A. Tinker, Wundt’s Doctorate Students and Their Theses 1875–1920, in: Wundt Studies, hg. von Wolfgang G. Bringmann und Ryan D. Tweney, Toronto 1980, S. 269–279. 24 Simon Flexner und James Thomas Flexner, William Henry Welch and the Heroic Age of American Medicine, Baltimore 1993 [1941], S. 102.
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Abbildung 1: Amerikanische Medizinstudierende an der Universität Leipzig, 1860er Jahre bis 1914.
war er im Gegensatz zu seinem Sohn nicht wissenschaftlich ausgebildet, sondern traditionell. Das bedeutete, dass er zwar die medizinische Fakultät der Yale University besucht hatte, die Ausbildung dort aber eher theoretisch und ohne Laborkurse abgehalten und vorrangig als Ergänzung zum praktischen Training bei einem praktizierenden Arzt gesehen wurde.25 Welch Senior zog offenbar einen Arzt seines Standes einem in einem fremden Land mit neumodischen Methoden ausgebildeten vor, was gleichzeitig eine Herausforderung für seinen Sohn darstellte, der genau diesen Weg selbst verfolgte und dabei letztlich auch auf die (finanzielle) Unterstützung seines Vaters angewiesen war. Wie sich durch Zufallsfunde in Briefen, Zeitschriften und (Auto-)Biografien feststellen ließ, nahmen zwischen 1888 und 1914 drei Amerikanerinnen als Gasthörerinnen an medizinischen Lehrveranstaltungen in Leipzig teil. Dabei handelte es sich um Josephine Walter 1888, Alice Hamilton 1895/96 und Annabella Keith Prentiss (Davenport) im Sommersemester 1905. Walter war an klinischen Erfahrungen im Bereich Gynäkologie interessiert und mit dem Women’s Medical College of the New York Infirmary verbunden. Außerdem hatte sie Wien, Berlin, Paris und London besucht.26 Hamilton weilte gemeinsam mit ihrer Schwester Edith, einer angehenden Altphilologin, in Leipzig. Sie wurde 1919 als erste Frau an die Harvard University berufen, um an der medizinischen Fakultät ihr Fachgebiet Arbeitsmedizin, das damals gerade neu entstand, aufzubauen.27 Prentiss stammte aus Charleston, South Carolina, und war seit 1903 mit James Boorman Davenport aus Hartford, Connecticut, verheiratet. Es ist bemerkenswert für die damalige Zeit, dass sie als verheiratete Frau studierte.28 Der Ehemann ist nicht in der Matrikel als Student aufgeführt.29 25 26
Ebd., S. 11 f. Sandra L. Singer, Adventures Abroad. North American Women at German-Speaking Universities, 1868–1915 (Contributions in Women’s Studies 201), Westport 2003, S. 42. 27 Siehe Barbara Sichermann, Alice Hamilton. A Life in Letters, Cambridge 1984. 28 Universitätsarchiv Leipzig, Acta, Zulassung weiblicher Personen zum Besuche von Vorlesungen an der Universität Leipzig betr., Rep. II, Nr. 60, Bd. V, Mikrofilm 429, 0501 [17]. 29 Siehe Liste US-amerikanischer Studierender in Leipzig auf .
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Wenn man von John Foulk aus Philadelphia, der sich schon am 4. Oktober 1781 in Leipzig immatrikuliert hatte, absieht, begann das Interesse an Leipzig unter angehenden amerikanischen Ärzten erst in den 1860er Jahren zu erwachen, ging aber sofort in einen regelrechten Boom über: in den 1860er Jahren studierten mindestens 5, in den 1870er 46, in den 1880er 63, in den 1890er 40 und zwischen 1900 und 1914 27 amerikanische Medizinstudenten an der Universität Leipzig (Abb. 1).30 Bemerkenswert ist hierbei im Vergleich zu den wesentlich zahlreicheren amerikanischen Studierenden an der Philosophischen Fakultät Leipzigs, dass das Interesse an Leipzig unter amerikanischen Medizinstudenten bereits in den 1890er Jahren spürbar abnahm, obwohl gleichzeitig die Immatrikulationen in modernen Sprachen und Naturwissenschaften (also neue Fächer an der philosophischen Fakultät) zahlreicher denn je zuvor waren.31 Folglich war Leipzig bereits in den 1890er Jahren von geringerem Interesse für zukünftige amerikanische Ärzte. Eine Erklärung dafür dürfte der Leipziger Physiologe Carl Ludwig sein, der ab 1865 bis zu seinem Tod 1895 in Leipzig wirkte, wobei er insbesondere in den 1860er und 1870er Jahren richtungsweisend war, am Ende seines Lebens hingegen kaum noch Studenten in seinem Labor hatte.32 Tatsächlich waren in den 1890er Jahren bereits in Deutschland studierte amerikanische Ärzte an Hochschulen in den USA tätig und sorgten hier maßgeblich dafür, die Medizinausbildung in den USA qualitativ zu revolutionieren. Wie weit die Medizin Deutschlands indes auch zu diesem Zeitpunkt noch der Medizin in den USA voraus war, verdeutlicht der Bericht Abraham Flexners aus dem Jahr 1910, der ein desolates Bild US-amerikanischer medizinischer Fakultäten zeichnete.33 Dennoch lässt sich beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein klarer Trend in den USA beobachten, die Medizinausbildung wissenschaftlich fundiert und basierend auf Laborerfahrungen nach europäischen Vorbild umzugestalten. Die Leipziger Physiologie spielte hierbei seit Ende der 1860er Jahre eine besondere Rolle.
II. EINFLUSS DEUTSCHER STUDIENERFAHRUNGEN AUF MEDIZINISCHE FAKULTÄTEN IN DEN USA Harvard University um 1870 Seit den späten 1840er Jahren und spürbar seit den 1860er Jahren begann sich die Universität Leipzig zu einer innovativen Wissenschaftsschmiede umzuformen, die für die hellsten Köpfe der aufstrebenden amerikanischen Nation sehr attraktiv wirkte. Diese Tendenz lässt sich besonders gut am Beispiel der Leipziger Physiologie nachvollziehen. Physiologie ist eine Grundlagenwissenschaft der Medizin, außerdem für
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Ebd. Werner, The Transatlantic World (Anm. 1), S. 141–144. Wilhelm Ostwald, Lebenslinien. Eine Selbstbiographie, Zweiter Teil, Berlin 1926/1927, S. 86 f. Abraham Flexner, Medical Education in the United States and Canada. A Report to the Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching, New York 1910.
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die Tier- und Pflanzenkunde relevant. Schließlich weist sie wichtige Verknüpfungspunkte mit der (experimentellen) Psychologie und somit der Philosophie auf. Carl Ludwig hatte trotz seines glänzenden Rufs aufgrund seiner radikalen Vergangenheit nicht zuletzt im Kontext der Ereignisse des Jahres 1848 kaum eine Chance, an eine preußische Universität berufen zu werden.34 Im sächsischen Leipzig beschloss man in den 1860er Jahren indes, nicht politische Erwägungen, sondern die Leistungen eines Wissenschaftlers zur Grundvoraussetzung für Berufungen auf freie Lehrstühle zu machen.35 Ludwig enttäuschte nicht. Er entwickelte nicht nur in Windeseile ein richtungsweisendes physiologisches Laboratorium in Leipzig, sondern beeinflusste spätere Berufungen in naturwissenschaftlichen Fächern maßgeblich.36 Sein Einfluss auf US-amerikanische Studenten in wichtigen Institutionen der „Neuen Welt“ würde die Geschichte der amerikanischen Medizin auf Jahrzehnte hinaus mitgestalten.37 1869 traf ein erster angehender amerikanischer Physiologe in Leipzig ein, der eine Schlüsselrolle in der zukünftigen Physiologie der USA spielen würde. Henry Pickering Bowditch hatte 1868 ein Medizinstudium an der Harvard University abgeschlossen. Er schrieb sich nicht in Leipzig ein, verbrachte dort aber, wie den Briefen an seine Familie in den USA zu entnehmen ist, etwa zwei Jahre als Gast im Labor Ludwigs.38 Ludwig hatte vor Bowditch nur wenige amerikanische Schüler gehabt (drei sind bisher bekannt), die aber eher Karrieren als praktische Ärzte verfolgt hatten.39 Bowditch hatte in Paris, wo er sich seit 1868 aufgehalten hatte, von Leipzig gehört. Seine Briefe enthalten Überlegungen zu geplanten Studienrouten in Europa und lesen sich wie ein Who’s Who der Physiologie der damaligen Zeit. Am 12. April 1869 schrieb er seinem Onkel Henry Ingersoll Bowditch (der seinerzeit ebenfalls in Paris studiert hatte):40 I have met Prof. [Wilhelm Friedrich] Kühne here in Paris. He was [Rudolf] Virchow’s assistant for a long while you know. He is now teaching Physiology on his own account in Amsterdam. I asked his advice as to the best course for getting a through Physiological education. He advised me to go first to Bonn to study Histology, with Max Schultze for a few months, then in November
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Heinz Schröer, Carl Ludwig. Begründer der messenden Experimentalphysiologie, Stuttgart 1967, S. 71 f.; W. Bruce Fye, Carl Ludwig and the Leipzig Physiological Institute. „A factory of new knowledge“, in: Circulation 74 (1986), Nr. 5, S. 920–928. Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert (Anm. 3), S. 121. Schröer, Carl Ludwig (Anm. 34), S. 45, 48, 61 f., 72, 74 f.; Ostwald, Lebenslinien (Anm. 32), S. 83 f. W. Bruce Fye, The Development of American Physiology. Scientific Medicine in the Nineteenth Century, Baltimore 1987. Siehe z. B. W. Bruce Fye, Why a Physiologist? – The Case of Henry P. Bowditch, in: Bulletin of the History of Medicine 56 (1982), S. 19–29; Harvard University, Countway Library (hiernach HUCL), H. P. Bowditch Papers, H MS c 5.1. George Rosen, Carl Ludwig and His American Students, in: Bulletin of the Institute of the History of Medicine (Johns Hopkins University) 4 (1936), Nr. 8, S. 609–649, hier: S. 619; Benjamin Joy Jeffries, Letter to the Editor, in: Boston Medical and Surgical Journal 82 (1870), S. 421; The Quinquennial Catalogue (Anm. 19), S. 96, 254. Siehe Vincent Y. Bowditch, Life and Correspondence of Henry Ingersoll Bowditch, 2 Bde., Freeport 1902.
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to begin with Ludwig at Leipzig. He thinks I ought to spend a full year there so as to get the whole course then divide another year between [Hermann von] Helmholtz + Virchow. This marks out rather an extensive course but I dont [sic] know that I can do better than follow it. At any rate I shall probably start for Germany early next month [May 1869] for I am quite impatient to get to work there.41
Bowditch war zielgerichtet in seinem Verlangen, die führenden europäischen Experten seiner gewählten Fachrichtung kennenzulernen. Sein Treffen mit dem deutschen Physiologen Kühne gab ihm dazu Gelegenheit.42 Bowditch befolgte Kühnes Ratschlag. Einen Monat später schrieb er an den späteren Philosophen William James, mit dem er sich während seiner Studentenzeit an Harvards medizinischer Fakultät angefreundet hatte: I expect to leave here [Bonn] about the end of July, travel in Switzerland during the Summer + bring up in Leipzig in the autumn. There I shall study under Ludwig a whole year perhaps + then spend the rest of my time with Virchow, Helmholtz[, Emil] DuBois Raymond or others as may seem best at the time. As you may see by this programme I have made up my mind to study medicine as a science + to let practice go to the dogs. My determination to study under Ludwig is the result of advise [sic] given to me in Paris particularly by Kühne whom I met there in [Claude] Bernard’s laboratory. My object being to learn physiology in a systematic way, do you think I could do better?43
Sehr klar lässt sich der Ehrgeiz erkennen, eine optimale, systematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung in der Medizin zu erhalten und dafür auf eine Karriere als niedergelassener Arzt zu verzichten. Dass es sich bei Bowditchs Entscheidung nicht bloß um eine persönliche berufliche Vorliebe, sondern um eine Entscheidung für eine andere Medizinerausbildung in den USA handelte, zeigt sich in Bowditchs Bestreben, das Wissen über die neuen Möglichkeiten der Leipziger Physiologie in der Heimat zu verbreiten. Bereits kurz nach seiner Ankunft in Leipzig schlug Bowditch im Dezember 1869 seinem Onkel vor, eine Beschreibung von Ludwigs Labor in einer medizinischen Fachzeitschrift in den USA zu publizieren: in order that the medical profession may understand how science is valued here in Europe + if you think it worth while I will write a description.44 Der Brief selbst enthielt schon im Kern den Artikel, der 1870 im „Boston Medical and Surgical Journal“ erscheinen würde. Er begann mit den Worten: Leipzig is a city very little visited by American medical men, for whom the larger cities, such as Berlin and Vienna, offer in general greater attractions in their superior opportunities for clinical observation. The student of physiology and chemistry, however, finds here facilities for prosecuting his studies which are not surpassed in any city in Germany.45
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H. P. Bowditch (Paris) an H. I. Bowditch, 12. 04. 1869, in: HUCL, H. P Bowditch Papers, HMS c5.1, Folder 2. Fye, The Development of American Physiology (Anm. 37), S. 100 f. H. P. Bowditch (Bonn) an W. James, 16. 05. 1869, in: Harvard University Houghton Library (hiernach HUHL), James Family, bMS Am 1092.9, items 77–84, Folder 1. H. P. Bowditch to H. I. Bowditch, 05. 12. 1869, in: HUCL, H. P. Bowditch Papers, HMS c5.1 Folder 2. Henry Pickering Bowditch, Letter from Leipzig, in: Boston Medical and Surgical Journal 82 (1870), S. 305–307; siehe auch Jeffries, Letter to the Editor (Anm. 39), S. 421.
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Wie auch Bowditch war William James, zukünftiger Harvard-Professor für Psychologie und Philosophie, schon in jungen Jahren ausgesprochen gut über wissenschaftliche Möglichkeiten in Europa informiert. Er hatte schon anderthalb Jahre vor Bowditch von der Leipziger Physiologie gehört und Bowditch möglicherweise zusätzlich motiviert, sich in Ludwigs wissenschaftliche Obhut zu begeben. In den 1860er und frühen 1870er Jahren war James allerdings selbst weit weniger zielstrebig als Bowditch, was seine berufliche Zukunft anbelangte. Aus diesem Grund – und auch aufgrund seiner schlechten Gesundheit – verbrachte er mehrere Jahre in Europa. Aus Berlin hatte er am 5. September 1867 an seinen Vater, Henry James Sr., geschrieben: My back will prevent my studying physiology this winter at Leipsig [sic], which I rather hoped to do.46 James war seiner Zeit voraus, als er schon im Winter 1867/68 beschloss, nach Leipzig zu reisen, um dort Physiologie zu studieren. Ludwig war selbst erst angekommen. Ein neues Labor würde er im Frühjahr 1869 eröffnen,47 also gerade ein halbes Jahr vor Bowditchs Ankunft. James würde nie in Leipzig studieren. Er besuchte die Stadt und ihre Universität und schickte seine Studenten insbesondere in das Labor und die Vorlesungen von Wilhelm Wundt. Er selbst begann seine Harvard-Karriere in den 1870er Jahren und wurde 1880 zum Professor der Philosophie ernannt.48 Gemeinsam mit Bowditch verkörpert James eine wichtige Verbindung zwischen Harvard und Leipzig nicht nur im Bereich Physiologie, Psychologie und Philosophie. James ließ den Kontakt zu Leipzig nicht abbrechen. Dass neben James und Bowditch zahlreiche weitere Harvard-Professoren einen Bezug zu Leipzig hatten, machte Harvard für Leipzig tatsächlich interessant – so engagierte sich auch der Chemiker Theodore William Richards für Harvard-Leipzig-Netzwerke. Nicht zuletzt ist die Tatsache, dass der Leipziger Physiko-Chemiker Wilhelm Ostwald als Gastdozent und der Psychologe und Wundt-Schüler Hugo Münsterberg auf Lebenszeit an der Harvard University lehren würden, das Ergebnis solcher Netzwerkaktivitäten, in denen James besonders aktiv war.49 Unmittelbar im Anschluss an seine Leipziger Zeit, die 1871 endete, begann Bowditch seine Karriere als Physiologe in Harvard. 1876 erhielt er dort bereits eine Professur.50 Leipzig war in verschiedener Hinsicht für diese Karriere ein Schlüsselerlebnis. Einerseits schaffte Bowditch sich in Leipzig Apparate an, die ihm in den USA für Forschung und Lehre von Nutzen sein würden. Andererseits war er in einer starken Position für Jobverhandlungen, da er im Gegensatz zur Mehrzahl seiner
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W. James (Berlin) an Henry James Sr., 05. 09. 1867, Nachdruck in: F. O. Matthiessen, The James Family. A Group Biography; Together with Selections from the Writings of Henry James Senior, William, Henry and Alice James, New York 1974 (ND New York 1947), S. 116. Schröer, Carl Ludwig (Anm. 34), S. 75 f. The Quinquennial Catalogue (Anm. 19), S. 96. Wilhelm Ostwald, Zweites Kapitel. Der Austauschprofessor, in: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie, Dritter Teil: Gross-Bothen und die Welt 1905–1927, Berlin 1926/1927, S. 26–30; David C. Lamberth, William James and the Metaphysics of Experience, Cambridge 2004, S. 72; siehe auch Margaret Münsterberg, Hugo Münsterberg. His Life and Work, New York 1922. Walter B. Cannon, Henry Pickering Bowditch, in: Biographical Memoirs of the National Academy of Sciences 17 (1922), S. 183–186; The Quinquennial Catalogue (Anm. 19), S. 49.
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Landsleute ein medizinisch-wissenschaftliches Studium mit Laborerfahrungen in einem der besten medizinischen Laboratorien Deutschlands absolvierte. Er wurde somit zu einem Pionier der Erneuerung der medizinischen Fakultäten in den USA. Bowditch konnte es sich leisten, die Anschaffung von Apparaten aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Andere kauften Bücher und Apparate im Auftrag von amerikanischen Bildungseinrichtungen, die ihnen bereits eine erste Anstellung nach Rückkehr in die Staaten in Aussicht gestellt hatten.51 Bowditch dachte bereits kurz nach seiner Ankunft in Leipzig im Januar 1870 über Finanzierungsmöglichkeiten in den USA nach. In einem Brief an seinen Vater erwog er zuerst, einen möglichen späteren universitären Arbeitgeber daheim heranzuziehen: Do you know whether there is any money in the [Harvard] College funds which could be used for the purchase of apparatus for physiological experiments? Such a fund is a prime necessity for a physiological laboratory. [. . .] Prof. [Joseph] Lovering seems to have money to buy new instruments in his department. Perhaps some of it could be used for physiology as well as for physics.52
Allerdings war Bowditch auch aufgrund seiner Familie in einer vorteilhaften Position. Als Teil der „Bostoner Aristokratie“ waren die Bowditchs über mehrere Generationen sowohl durch Wohlstand als auch durch gute Verbindungen insbesondere im Bereich der Medizin einflussreich.53 Diese Vernetzung und Finanzkraft stellten für Bowditch in Leipzig optimale Voraussetzungen für die weitere Planung seiner Karriere dar. So erhielt er ein halbes Jahr vor seiner Rückkehr in die USA von seinem Vater eine erfreuliche Nachricht: I have remitted (200 £) two hundred pounds – I wish you to get every thing you may need & do not desire you to restrict yourselves to the (1 000 $) one thousand dollars, but purchase what in your judgment may be necessary [. . .].54 Bowditch antwortete: if you see [Harvard President] Mr [Charles W.] Eliot you can tell him that I hope he will give me a good laboratory for I am going to bring home quite a quantity of apparatus.55 Er wandte sich auch an seinen Freund William James mit dem Wunsch, dass dieser ihn bei der Umgestaltung der medizinischen Ausbildung und insbesondere der Physiologie Harvards unterstützen möge: I suppose you have heard that I am to lecture on Physiology next winter I shall bring home lots of apparatus [sic] with me + if the faculty will only give me a little money to buy animals we can set up a laboratory at once. I say we for I expect you to join me in working at experimental physiology. My instruments will always be at your service + if everything turns out as I hope, we’ll have some jolly good times together.56
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Eine Zusammenstellung verschiedener Beispiele findet sich in Werner, The Transatlantic World (Anm. 1), S. 244–252. H. P. Bowditch an Vater, 02. 01. 1870, in: HUCL, H. P. Bowditch Papers, HMS c5.1, Folder 5. V. Y. Bowditch, Life and Correspondence (Anm. 40); Manfred Bowditch, Henry Pickering Bowditch. An Intimate Memoir, in: Physiologist 1 (1958), Nr. 5, S. 7–11; Cannon, Henry Pickering Bowditch (Anm. 50), S. 183–186, Nachdruck in: The Life and Writings of Henry Pickering Bowditch, Bd. 1, New York 1980. Ingersoll Bowditch an H. P. Bowditch, 22. 03. 1871, Nachdruck in: Fye, Why a Physiologist? (Anm. 38), S. 27, Fn. 44. H. P. Bowditch an Vater, 21.04.[1871], in: HUCL, H. P. Bowditch Papers, HMS c5.1, Folder 5. H. P. Bowditch an W. James, 11. 06. 1871, in: HUHL, James Papers, bMS Am 1092.9 (77–84), Folder 1.
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Harvard Präsident Eliot war tatsächlich daran interessiert, Bowditch so schnell wie möglich zurück an seine Universität zu holen. Im Januar 1870 hatte Bowditchs Vater seinem Sohn mitgeteilt, dass Eliot ihn im Sommersemester gern für eine Vorlesung in Physiologie gewinnen würde.57 Bowditch reagierte verhalten. Eine Annahme des Angebots würde bedeuten, seinen Europa-Aufenthalt vorzeitig abbrechen zu müssen. Dazu war Bowditch nicht bereit: I think it would be a mistake for me to come home before the Autumn of 1871. My present plan is to stay in Leipzig till next August + then to divide the next year between Berlin + Heidelberg.58 Kurze Zeit später schrieb Eliot selbst nach Leipzig und lockte Bowditch mit fortgeschrittenen Vorlesungen für höhere Semester.59 Dennoch lehnte Bowditch ab: I received yesterday your letter of Dec 14 in which you propose that I should deliver a course of University lectures in the 2d Term of 1870/71. The proposal is an extremely tempting one but under existing circumstances I feel that it would be impossible for me to accept it without sacrificing a large part of the benefit to be derived from my studies in the German Universities. You are aware how much time one necessarily loses in beginning a course of foreign study from want of familiarity with the language + how very much more rapid the progress is in the second year than in the first. I feel therefore that if I were to come home in February 1871 I should lose the [. . .] most valuable six months of the two years which I propose to spend in Germany. I should also consider that in thus cutting short my term of study I had prepared myself very insufficiently for delivering such a course of lectures as may be reasonably expected from an university [sic] lecturer on Physiology [. . .].60
Im folgenden Jahr ging Eliot noch weiter. Er bot Bowditch eine Assistenz-Professur in Physiologie an der medizinischen Fakultät an. Bowditch nahm an.61 Er kehrte im September 1871 frisch verheiratet mit der jungen Leipzigerin Selma Knauth nach Amerika zurück, wo er bis zu seinem Lebensende als Physiologe an der Harvard University tätig sein würde. Indem Bowditch eine physiologische Ausbildung nach Leipziger Vorbild an der Harvard University einführte, legte er einen Grundstein für Reformbestrebungen in der US-amerikanischen Medizinerausbildung. Harvard University spielte hierbei neben der Johns Hopkins University eine wichtige Vorreiterrolle.62
Johns Hopkins University, 1880er und 1890er Jahre Die Eröffnung der Johns Hopkins Medical School stellte 1889 eine richtungsweisende Neuerung für die amerikanische Medizin und Medizinausbildung dar.63 Sie wurde maßgeblich von vier Ärzten gestaltet: William Henry Welch, William Osler, William
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Cannon, Henry Pickering Bowditch (Anm. 50), S. 185; Fye, Why a Physiologist? (Anm. 38). H. P. Bowditch an Vater, 02. 01. 1870, in: HUCL, H. P. Bowditch Papers, HMS c5.1, Folder 5. H. P. Bowditch an Vater, 09. 01. 1870, in: ebd. H. P. Bowditch an Vater, 09. 01. 1870, in: ebd. H. P. Bowditch an Vater, 21. 04. [1871], in: ebd. Fye, The Development of American Physiology (Anm. 37); A. Flexner, Medical Education in the United States and Canada (Anm. 33). Neil A. Grauer, Leading the Way. A History of Johns Hopkins Medicine, Baltimore 2012.
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Stewart Halsted und Howard Kelly.64 Wenigstens einer von ihnen, Welch, hatte in Leipzig studiert.65 Überhaupt waren mehrere Leipzig-Amerikaner unter den ersten Professoren der Johns Hopkins Medical School. Neben Welch sind unter anderen der Anatom Franklin Paine Mall und der Pharmakologe John Jacob Abel zu nennen.66 Welch hatte sich am 14. November 1876 in Leipzig eingeschrieben. Während seiner Studententage in Deutschland wurde Welch bewusst, dass er lediglich ein Amerikaner unter vielen in Ludwigs Labor war. Er bedauerte zudem, dass die fundierte Ausbildung, die angehende amerikanische Ärzte in Europa erhielten, ihnen später kaum nützlich sein würde, da es in den USA keine ebenbürtigen medizinischen Einrichtungen gebe, an denen sie tätig sein könnten. Obwohl er schon 1875 – also noch vor seinem Leipziger Studienaufenthalt – von Bowditch in Harvard gehört hatte, begegneten ihm angehende amerikanische Physiologen in Europa und nicht in Amerika. So schrieb er 1876 seiner Stiefmutter Emily Sedgwick Welch aus Leipzig: Quite a number of Americans have done good work here. In the report of last year I notice a paper by Charles Sedgwick Minot of Boston, by whose name I was attracted. I was told that he is not here this winter.67 Minot war nicht nur Ludwigs, sondern in den USA auch Bowditchs Schüler.68 Im Ausland fand Welch direkte Worte über die unzureichende Ausschöpfung des amerikanischen akademischen Potenzials, streute dabei aber auch vorsichtigen Optimismus ein und versuchte gleichzeitig, seine Eltern zu beruhigen, dass er sich auf Erfolgskurs befinde: I am sure that American students over here prove themselves quite as diligent and capable as the native students, and I think often more so, but they rarely reap the fruit of their labors for when they return they find in America no market for their wares, so to speak, that i[s,] there are no opportunities open for purely scientific work. [. . .] This is inevitable in a new country, but there promises now to be a change for the better.69
Die Verbesserung, die Welch am Horizont sah, bezog sich auf die Johns Hopkins Medical School. John Shaw Billings, laut Welch Surgeon-general and librarian in Washington (eigentlich Bibliothekar des Surgeon General70 ) war ernannt worden, um die medizinische Fakultät der 1876 gegründeten Johns Hopkins University zu gestalten.71 Johns Hopkins University setzte sich dezidiert vom klassischen amerikanischen College ab, da sie ursprünglich ausschließlich eine wissenschaftliche 64 65 66 67 68
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Bertram Moses Bernheim, The Story of the Johns Hopkins. Four Great Doctors and the Medical School They Created, New York 1948. S. Flexner/J. T. Flexner, William Henry Welch (Anm. 24). Siehe auch Liste Leipzig (Anm. 29). Siehe Liste Leipzig (Anm. 29). W. H. Welch an Stiefmutter, 08. 11. 1876, in: Johns Hopkins University, Alan Macon Chesney Medical Archives (hiernach JHU Med), Welch Papers, Box 68, Folder 16; meine Hervorhebung. HUCL, Charles Sedgwick Minot Papers, H MS c 21.2; The Quinquennial Catalogue (Anm. 19), S. 114, 642; Schröer, Carl Ludwig (Anm. 34), S. 291; Frederic T. Lewis, Obituary. Charles Sedgwick Minot; December 23, 1852–November 19, 1914, in: Boston Medical and Surgical Journal 171 (10. Dez. 1914), Nr. 24, S. 911–914. W. H. Welch an Stiefmutter, 08. 11. 1876, in: JHU Med, Welch Papers, Box 68, Folder 16. H. M. Lydenberg und John Shaw Billings, John Shaw Billings. Creator of the National Medical Library and Its Catalogue, Chicago 1924. W. H. Welch an Stiefmutter, 08. 11. 1876, in: JHU Med, Welch Papers, Box 68, Folder 16; S. Flexner/J. T. Flexner, William Henry Welch (Anm. 24).
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Ausbildung auf dem Graduate Level – also an das College anschließend – anbieten und als solche eine Alternative in den USA für zielstrebige amerikanische Studierende darstellen sollte, die zu diesem Zeitpunkt in den USA keine der europäischen höheren Bildung gleichwertigen wissenschaftlichen Einrichtungen vorfanden. Die Gründung der Johns Hopkins University wird somit auch als Geburtsstunde der amerikanischen „Research University“ verstanden.72 Eine medizinische Fakultät war von Anfang an geplant, wurde allerdings erst 1889 eröffnet. Billings besuchte Leipzig Anfang November 1876, um eine deutsche medizinische Fakultät kennenzulernen und um – wie das Schreiben Welchs belegt – mögliche zukünftige Fakultätsangehörige auszumachen. Welch erkannte seine Chance, die ihn ultimativ für den Rest seiner beruflichen Laufbahn an die Johns Hopkins University bringen würde. Er berichtete nach Hause: [M]et him [Billings] quite by accident. Prof. [Ernst Leberecht] Wagner was showing him around his pathological laboratory, when he brought him in where we were working and introduced him to two of his countrymen, [Walter] Stallo and myself. We accompanied him around the different medical buildings.73
Eine längere Beschreibung seiner Eindrücke schloss sich an, die Welch eifrig mit seinen Eltern zu teilen wünschte: What he related concerning his plans regarding the Johns Hopkins pleased me very much. [. . .] He says that the medical department will not be organized in less than four years, when it is hoped that the hospital will be completed. There are to be laboratories like the German, and the examinations for admission are to be so severe as to exclude all except those who can appreciate and profit by the instruction given. The classes will therefore necessarily always be small, and it is hoped to attract especially graduates of other colleges, who now go to foreign countries.74
Die Möglichkeit einer zukünftigen Anstellung tat sich auf: He said that many of the professorships would have to be filled by young men, who if necessary would be sent to Germany, as there were, for instance, no men in New York whom he would consider for the chair of physiology. Of course such young men would at first be taken on trial and not made full professors.75
Welch zögerte nicht: He took my name and address and said that he should have to look to such men as we, who were pursuing our studies over here. He inquired minutely how I was spending my time and thought I was directing my studies wisely, and said that if I am to teach as he hoped I would I ought to spend not less than two years in German laboratories.76
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Laurence R. Veysey, The Emergence of the American University, Chicago 1965. W. H. Welch an Stiefmutter, 08. 11. 1876, in: JHU Med, Welch Papers, Box 68, Folder 16. Zur Stallo-Familie siehe Friedrich Bodenstedt, Vom Atlantischen zum Stillen Ozean, Leipzig 1882, S. 209, 212 f., 222. Andrew D. White, Autobiography, New York 1906, Bd. 1, S. 569 und Bd. 2, S. 2, 420. Walters Schwester Hulda war eine der ersten Gasthörerinnen in Leipzig, siehe Liste Leipzig (Anm. 29). W. H. Welch an Stiefmutter, 08. 11. 1876, in: JHU Med, Welch Papers, Box 68, Folder 16. Ebd. Ebd.
US-amerikanische Medizinstudenten an den Universitäten in Halle und Leipzig
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Der Brief erfüllte jetzt eine doppelte Funktion. Einerseits sollte er Welchs Eltern davon überzeugen, dass das Geld, das sie in seine Ausbildung in Europa investierten, eine gute Anlage war. Andererseits zeigte der Brief die bewusste und wohl überlegte Karriereplanung Welchs und verdeutlicht somit die Bedeutung eines Studiums in Deutschland als Profilierungsstufe. Welch beendete seinen Brief aus Leipzig von 1876 vorsichtig optimistisch: My aspirations for obtaining a position in the Johns Hopkins were rather strengthened, still there is nothing solid to build upon. If in the next four years I could only do something to prove that I should be competent to hold a position in that university, I think I might have some chance of securing the place, if they are to choose young men.77
Um allerdings Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben und Enttäuschungen vorzubeugen, erinnerte er seine Eltern an die Ungewissheit seiner Pläne: But at present I have done nothing and when I return to America I must try to earn my living and can not afford to devote my time to a subject which has no immediate relation to that important end. However all these hopes seem very airy and egotistical when I think of the numbers of young men who have been and are over here, some having acquired already some reputation, and who are hoping for the same or similar prospects.78
Diese Vorsicht könnte man auch als Welchs Strategie interpretieren sicherzustellen, dass seine Eltern seine Ausbildung im Ausland bis zu dem Zeitpunkt weiter unterstützen würden, da er sich selbst für gut vorbereitet hielt – immerhin hatte er ja bereits einem amerikanischen Experten gezeigt, dass er angemessene Entscheidungen treffen konnte. Im Endeffekt war Welch damit erfolgreich, wie sein weiterer Werdegang nach seiner Rückkehr in die USA belegt. Er war von 1879 bis 1884 Professor der pathologischen Anatomie in der medizinischen Fakultät des General Bellevue Hospital und seit 1884 in den Aufbau und schließlich als Professor für Pathologie beziehungsweise als Dekan der medizinischen Fakultät in die Medizinerausbildung an der Johns Hopkins University involviert.79 Mitte der 1880er Jahre kehrte Welch als Repräsentant der in Planung befindlichen medizinischen Fakultät der Johns Hopkins University nach Leipzig zurück, um Ludwig zu besuchen. Einmal mehr würde ihm ein Besuch in Leipzig Kontakte verschaffen, die sich günstig für die Johns Hopkins University auswirken würden. Dr. Henry L. Swain aus New Haven, der vom Wintersemester 1884/85 bis zum Wintersemester 1885/86 in Leipzig Medizin studierte, erinnerte sich, dass 1885 Franklin P. Mall was one day much excited over a young American doctor who had visited Ludwig; he had listened to the two men talking and had been greatly attracted by the guest, Dr. William Welch.80 Die Leipziger Personalverzeichnisse geben darüber Auskunft, dass Swain im Winter 1885/86 in derselben Pension gewohnt hatte wie Mall, der sich am 25. Oktober 1884 immatrikuliert hatte und wie auch Bowditch zuvor ursprünglich nur ein Jahr bleiben wollte. Auf den Rat von Wilhelm His hin, einem Leipziger Anatomen, mit dem er sich angefreundet hatte, 77 78 79 80
Ebd. Ebd. S. Flexner/J. T. Flexner, William Henry Welch (Anm. 24). Florence Rena Sabin, Franklin Paine Mall. The Story of a Mind, Baltimore 1934, S. 37 f.
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überlegte er es sich anders. Statt nach Berlin weiterzuziehen, blieb Mall zwei Jahre in Leipzig und bekam schließlich einen Platz in Ludwig’s noch immer übervollen Labor.81 Welch und Mall wurden Freunde fürs Leben. Beide würden für den Rest ihrer Karrieren an der Johns Hopkins Medical School tätig sein; der Grundstein dafür wurde durch Kontaktaufnahmen in Leipzig gelegt. Ihre Zuneigung oder eher Seelenverwandtschaft war so groß, dass Welch den jüngeren Mall als Liebes Mäulchen bezeichnete und Briefe an ihn mit der Grußformel Ihr Ergebenster in vollster Verachtung unterzeichnete.82 Welchs Biografen Simon und James Thomas Flexner beschreiben nicht einmal, wann und wie die beiden sich begegneten.83 Mall hatte vor seiner Leipziger Zeit unter Henry Sewall an der University of Michigan in Ann Arbor studiert und dort 1883 mit einem Doctor of Medicine abgeschlossen.84 Sewall selbst war 1879/80 als Besucher und Stipendiat der Johns Hopkins University in Leipzig gewesen. Es liegt nahe, dass er Mall ermutigte, seinem Weg nach Leipzig und später an die Johns Hopkins University zu folgen. Ein weiterer Leipzig-Amerikaner, der eine wichtige Rolle in der Gründerzeit der medizinischen Fakultät der Johns Hopkins University spielen würde, war John Jacob Abel. Er hatte ebenfalls in Ann Arbor studiert und war auch im Herbst 1884 in Leipzig eingetroffen. Er hielt sich bis 1891 in Europa auf und wurde nach zwei Jahren in Michigan 1893 an die Johns Hopkins University als Professor für Pharmakologie berufen.85 Amerikanische medizinische Netzwerke um die Johns Hopkins University schlossen im ausgehenden 19. Jahrhundert offenbar Leipzig ein, hatten aber auch deutlich das Ziel, die US-amerikanische medizinische Elite zurück in die USA und besonders nach Baltimore zu holen.
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Ebd., S. 55 f. W. H. Welch an F. P. Mall, 05. 04. 1901, 08. 04. 1902, in: JHU Med, Welch Papers, Box 36, Folder 25; Schreibmaschinenkopie. 83 Nachdem sie Welchs 1885er Besuch in Leipzig beschreiben, ohne Mall überhaupt zu erwähnen, zitieren sie einen persönlichen Brief Welchs an Mall von 1890, der eine tiefe Verbundenheit ausdrückt, die offenbar keiner weiteren Erklärung bedurfte, siehe S. Flexner/J. T. Flexner, William Henry Welch (Anm. 24), S. 146. 84 Vom Herbst 1884 bis 1886 studierte Mall bei Ludwig und arbeitete im Anschluss daran an der Johns Hopkins University und Clark University. 1893 wurde er der Chefanatom an der neuen medizinischen Fakultät der Johns Hopkins University, eine Position, die er nicht zuletzt auch Welch, seinem Freund aus Leipziger Tagen, zu verdanken hatte. Siehe Anonym, Memorial Services in Honor of Franklin Paine Mall, Professor of Anatomy, Johns Hopkins University, 1893 to 1917, in: Bulletin of the Johns Hopkins Hospital 29 (Mai 1918), Nr. 327, S. 109–123; Sabin, Dr. Franklin P. Mall. An Appreciation, in: Science 47 (15. März 1918), Nr. 1211, S. 249–261; Sabin, Franklin Paine Mall (Anm. 80); Gerald B. Webb und Desmond Powell, Henry Sewall. Physiologist and Physician, Baltimore 1946. 85 John Parascandola, The Development of American Pharmacology. John J. Abel and the Shaping of a Discipline, Baltimore 1992; Marcel H. Bickel, Die Entwicklung zur experimentellen Pharmakologie 1790–1850. Wegbereiter von Rudolf Buchheim, Basel 2000; Torald Sollmann, John Jacob Abel, Pre-Hopkins Years, in: The Bulletin of the Johns Hopkins Hospital 101 (Dez. 1957), S. 297–328; Paul D. Lamson, John Jacob Abel. A Portrait, in: The Bulletin of the Johns Hopkins Hospital 68 (1941), 119–157.
US-amerikanische Medizinstudenten an den Universitäten in Halle und Leipzig
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Der Abraham Flexner Report (1910) aus Sicht der Universität Leipzig Mit der mehr oder weniger graduellen Umgestaltung (Harvard) sowie der Neugründung moderner medizinischer Fakultäten und Universitätskrankenhäuser (Johns Hopkins) unter der maßgeblichen Mitwirkung von jungen Amerikanern, die ihre Erfahrungen im Ausland und nicht zuletzt in Leipzig gesammelt hatten, war indes nur ein Anfang geschaffen. Das verdeutlichte der 1910 von Abraham Flexner veröffentlichte Bericht über die medizinische Ausbildung in den USA und in Kanada, der von der Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching gefördert worden war. Flexner verdeutlichte in seinem Bericht, wie sehr die medizinische Ausbildung in den USA im frühen 20. Jahrhundert hinter der in Europa herhinkte: Nur die wenigsten medizinischen Fakultäten boten ein tatsächlich wissenschaftlich-fundiertes Medizinstudium an. Grundlegende Reformen und strikt kontrollierte Bildungsstandards seien notwendig, um diesen Mangel zu beheben.86 Flexners Wirken und Leben ist umfassend analysiert worden.87 Weniger bekannt ist, dass Flexner, obwohl er selbst nicht in Leipzig studiert hatte, sich in Leipzigamerikanischen Netzwerken bewegte, deren Ziel die Umgestaltung nicht nur der medizinischen Ausbildung in den USA war. Abrahams Bruder Simon war ein Schüler Welchs gewesen und gemeinsam mit seinem Sohn James Thomas Flexner auch dessen Biograf.88 Bekannt wurde Simon aufgrund der Tatsache, dass er von 1901 bis 1935 als erster Direktor des Rockefeller Institute for Medical Research wirkte. Simons Frau Helen Thomas wiederum war die jüngere Schwester von M. Carey Thomas, der ersten weiblichen Präsidentin des Bryn Mawr College. Sowohl Carey als auch Helen hatten in Leipzig an der philosophischen Fakultät studiert – Carey von 1879 bis 1882 und Helen 1894.89 In seiner Tätigkeit für das General Education Board der Rockefeller Foundation von 1912 bis 1925 hatte Abraham Flexner Gelegenheit, auch für die Verbesserung der medizinischen Bildung etwas zu tun, wobei nicht nur die amerikanische Ostküste profitierte. Als ein Beispiel sei der Neubau der Vanderbilt University Medical School in Nashville, Tennessee, der 1925 eingeweiht wurde, genannt. Bereits in seinem Bericht von 1910 hatte Flexner Vanderbilt zugestanden, aufgrund seiner Lage
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A. Flexner, Medical Education in the United States and Canada (Anm. 33). Siehe Steven Charles Wheatley, The Politics of Philanthropy. Abraham Flexner and Medical Education, Madison 1988; Karel B. Absolon, The Study of Medical Sciences. Theodor Billroth and Abraham Flexner; An Analysis from Past to Present, Rockville 2 1988. Siehe auch Thomas Neville Bonner, German Influences on American Clinical Medicine, in: German Influences on Education in the United States to 1917, hg. von Henry Geitz, Jürgen Heideking und Jurgen Herbst, Washington, DC/Cambridge 1995, S. 275–288. 88 S. Flexner/J. T. Flexner, William Henry Welch (Anm. 24). 89 Helen Thomas Flexner, A Quaker Childhood, New Haven 1940; Marjorie Housepian Dobkin (Hg.), The Making of a Feminist. Early Journals of M. Carey Thomas, Kent 1979; Edith Finch, Carey Thomas of Bryn Mawr, New York/London 1947; Helen Lefkowitz Horowitz, The Power and Passion of M. Carey Thomas, New York 1994. Siehe auch James Thomas Flexner, An American Saga. The Story of Helen Thomas & Simon Flexner, New York 1993.
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und vor allem Dank seines Kanzlers James Hampton Kirkland, Potenzial als ein medizinisches Zentrum in den Südstaaten zu haben.90 Kirkland hatte 1885 in Philologie an der Universität Leipzig promoviert.91 Er war ambitioniert und durchaus geschickt in der Ausgestaltung der noch jungen Vanderbilt University als moderne Institution höherer Bildung. Neben diesen Vorzügen half es sicherlich auch, dass Flexner und Kirkland Ferienhäuser am Ahmic Lake in Kanada besaßen und dadurch im Laufe der Jahre – vor allem während der 1910er Jahre – auch persönliche Beziehungen aufbauten.92 Kirklands Briefe an seine Frau geben eine Vorstellung des komplexen Netzwerks, das letztlich zum Ausbau der Vanderbilt University Medical School führte. Kirkland schrieb seiner Frau Mary regelmäßig während Reisen aus universitären Gründen zumeist an die Ostküste und erwähnte dabei immer wieder Abraham Flexner.93 Auch Welch und Simon Flexner gehörten zu Kirklands Netzwerk.94 Die persönlichen Beziehungen schlossen Ehefrauen und Töchter ein.95
SCHLUSS US-amerikanische Medizinstudenten gingen aus ganz unterschiedlichen Gründen nach Halle oder Leipzig. Halle zog vorrangig zukünftige niedergelassene Ärzte an, während in Leipzig insbesondere die Fachrichtung der Physiologie amerikanische Pioniere der Medizin anlockte, die in den nächsten Jahrzehnten mit Hilfe in Europa aufgebauter amerikanischer medizinischer Netzwerke die medizinische Ausbildung in den USA grundlegend verändern würden. Dazu hielten sie den Kontakt mit ihren ehemaligen deutschen Mentoren, nicht zuletzt um in den medizinischen Laboratorien Leipzigs Ausschau nach vielversprechenden jungen amerikanischen Ärzten zu halten. Die unterschiedlichen Entwicklungen der Möglichkeiten des Medizinstudiums an den Universitäten in Halle und Leipzig sind symptomatisch. Sie bezeugen, dass es keine homogene deutsche Studienerfahrung gab, sondern diese sich von Universität zu Universität sehr stark unterscheiden konnte. Im Mittelpunkt stand dabei die
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Siehe Paul Conkin, Gone with the Ivy. A Biography of Vanderbilt University, Knoxville 1985, S. 223 f., 266–288. Siehe Anja Becker [Werner], Southern Academic Ambitions Meet German Scholarship. The Leipzig Networks of Vanderbilt University’s James H. Kirkland in the Late Nineteenth Century, in: Journal of Southern History 74 (2008), Nr. 4, S. 855–886. Siehe Thomas Neville Bonner, Iconoclast Abraham Flexner and a Life in Learning, Baltimore 2002; Conkin, Gone with the Ivy (Anm. 90). Ein Versuch, die Bedeutung dieses persönlichen Netzwerkes in den Mittelpunkt zu stellen, ist Robert D. Collins, Ahmic Lake Connections. The Founding Leadership of Vanderbilt University, Nashville 2004. J. H. Kirkland an Mary Kirkland, 14. 12. 1914, in: Vanderbilt University Special Collections, Kirkland Papers, Box 28, Folder 13; Jim an Mary, 12. 04. 1917, in: ebd., Box 28, Folder 16; Jim an Mary, in: ebd., Box 29, Folder 3. Jim an Mary, in: ebd., Box 28, Folder 37. Jim an Mary, 14. 12. 1914, in: ebd., Box 28, Folder 13.
US-amerikanische Medizinstudenten an den Universitäten in Halle und Leipzig
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internationale Ausstrahlung einzelner deutscher Professoren und somit die Fachrichtungen, die diese vertraten. Letztlich inspirierte nicht vorrangig das Modell der deutschen Universität US-amerikanische Studierende, die Medizinerausbildung und überhaupt die Wissenschafts- und Bildungslandschaft in den USA umzukrempeln. Stattdessen profitierten Amerikaner von der Möglichkeit, an Orten wir Halle oder Leipzig elitäre höhere Bildung in Aktion zu erleben und gleichzeitig Kontakte mit anderen Studierenden – nicht nur aus den USA – sowie mit deutschen Professoren auf- und auszubauen. Das Beispiel des Medizinstudiums verdeutlicht somit, dass es solche Kontakte waren, die neben der Entschlossenheit, die höhere Bildung in den USA zu reformieren, den Grundstein für die Rolle der USA als eine führende Wissenschaftsnation im 20. Jahrhundert legten.
ABSTRACT Between 1769 and 1914, some 322 American students enrolled at the university in Halle and about 1 530 American students at the University of Leipzig. Among them were 15 students of medicine at Halle and another 182 at Leipzig. Who were they? Why did they opt for Halle and Leipzig to study medicine? Whatever became of them? In this article, I attempt to answer these questions using both a statistical and a biographical approach. First, on the basis of the respective registrars’ information, I trace the students’ backgrounds, thereby providing general statistical information. Second, I follow the future career paths of a sample of these medical American Halle and Leipzig alumni. Apparently, American students of medicine turned to Halle and Leipzig for different reasons. For instance, the Halle alumni tended to practice medicine. By contrast, the Leipzig alumni were more likely to pioneer in building up new academic disciplines at American universities, such as experimental physiology. They also established academic networks to advance American higher education more generally. The case of medicine is exemplary with regard to more general tendencies in 19th century American student migration. That is, American student experiences could be rather diverse. The “German appeal” referred above all to the appeal of individual German professors and their new approaches, which, of course, changed in the course of the decades.
BERICHTE UND REZENSIONEN DIE GESCHICHTE EINES SCHWIERIGEN FACHES Aus Anlass der Vollendung von Wolfgang Brezinkas Geschichte der „Pädagogik in Österreich“ als Element einer Wissenschaftsgeschichte Österreichs Walter Höflechner
Im Herbst 2014 ist der letzte Band der monumentalen Geschichte der Pädagogik in Österreich von Wolfgang Brezinka erschienen, verfasst von einem aus dem Fach kommenden und in diesem initiativ gewesenen Fachmann, der keine Mühe gescheut hat, der Sache in Archiven und Literatur auf den Grund zu gehen.1 Mit dieser Arbeit ist die dritte der großen Unternehmungen zum Abschluss gebracht worden, die in den vergangenen Jahrzehnten der Geschichte von Bildung, Erziehung und Wissenschaft in Österreich gewidmet wurden. Zwei dieser Werke stammen jeweils von einem Verfasser und das dritte vereint, von einem Herausgeber konzipiert und straff redigiert, eine Fülle von meist sehr kompetenten Beiträgen. Die Rede ist von – in chronologischer Abfolge genannt – Helmut Engelbrechts sechsbändiger „Geschichte des österreichischen Bildungswesens“2 , von der von Karl 1
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Wolfgang Brezinka (geb. 1928 in Berlin), studierte und habilitierte sich 1954 in Innsbruck, verbrachte ein entscheidend horizonterweiterndes Jahr an der Columbia University und in Harvard, hatte dann Professuren an der neugegründeten Pädagogischen Hochschule in Würzburg (1958), an den Universitäten Innsbruck (ab 1960) und 1967–1996 in Konstanz inne; Gastprofessuren führten ihn nach Brixen, Fribourg und Pretoria. Seine Schriften wurden in elf Sprachen übersetzt. Eine autobiographische Darstellung „Rückblick auf fünfzig Jahre erlebte Pädagogik. Abschlussrede von Prof. Dr. Wolfgang Brezinka am 9. Juni 1993 beim Festakt anläßlich seines 65. Geburtstages, veranstaltet von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Kontanz“ findet sich in Siegfried Uhl (Hg.), Wolfgang Brezinka. Fünfzig Jahre erlebte Pädagogik. Rückblick – Lebensdaten – Publikationen, München/Basel 1997, S. 11–29; dort (S. 31–38) auch ein Lebenslauf und nachfolgend ein Verzeichnis der Publikationen und der Lehrveranstaltungen. In jüngster Vergangenheit traten hinzu zwei zusammenfassende Vorträge Brezinkas: „Licht- und Schattenseiten der Geschichte des Faches Pädagogik an den österreichischen Universitäten“, Vortrag am 27. Juni 2014 anlässlich der Präsentation des vierten Bandes an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (im Druck für die Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte), und „Die ‚Verwissenschaftlichung‘ der Pädagogik und ihre Folgen. Rückblick und Ausblick“, Festvortrag am 12. Mai 2014 in Mailand anlässlich der Verleihung der Laurea honoris causa in Scienze pedagogiche durch die Facoltà di Scienze della formazione der Universitá Cattolica del Sacro Cuore Milano an den Verfasser (noch ungedruckt, der Verfasser dieser Zeilen erhielt dankenswerterweise seinerzeit eine Kopie des Manuskripts). Herangezogen wurde auch Brezinkas „Metatheorie der Erziehungswissenschaft“: Wolfgang Brezinka, Metatheorie der Erziehung. Eine Einführung in die Grundlagen der Erziehungswissenschaft, der Philosophie der Erziehung und der Praktischen Pädagogik, München/Basel 4 1978. Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, 6 Bände, Wien 1982–1995; Gesamtumfang 3 376 Seiten.
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Acham herausgegebenen „Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften“3 und von der nun vollendeten vierbändigen Geschichte der „Pädagogik in Österreich“4 von Wolfgang Brezinka. Gilt Engelbrechts Arbeit einem staatlicher Organisation unterliegenden System, jene Achams einem Gefüge in steter Differenzierung befindlicher wissenschaftlicher Disziplinen, so befasst sich Brezinka im Alleingang kritisch-darstellend mit seinem eigenen Fach, dessen durchaus nicht unproblematischem Wesen und einer nicht minder problematischen Entwicklung. Trotz dieser unterschiedlichen Zugangs- und Betrachtungsweisen kann festgehalten werden, dass Österreich mit diesen Arbeiten über umfassende Darstellungen eines sehr großen Bereiches bildungsorientierter und wissenschaftlicher Aktivitäten (im wesentlichen ab etwa 1800) verfügt.5 Da „Österreich“ in historischen Belangen recht unterschiedlich aufgefasst werden kann, sei in Bezug auf Zeit und Raum der erwähnten Darstellungen festgehalten, dass Engelbrechts Arbeit von den Anfängen bis in die Gegenwart „auf dem Boden Österreichs“6 , Achams Bände für die Zeit ab 1800 von den Forschungen „auf dem jeweiligen österreichischen Staatsgebiet“ handeln, worunter das spätere Cisleithanien, also der österreichische Kaiserstaat mit Ausnahme der Länder der Stephanskrone verstanden wird. Das gilt auch für Brezinkas Arbeit, die sich vom 18. Jahrhundert an bis in die jüngste Gegenwart erstreckt.7 So liegt das Schwergewicht entsprechend in den Ländern Cisleithaniens, um diesen Begriff ebenfalls anachronistisch zu verwenden. Vor allem Engelbrechts Werk ist in Anbetracht der Bedeutung Österreichs für den europäischen Südosten auch für heutige Nachbarländer beziehungsweise Nachfolgestaaten der Monarchie und damit über das heutige Österreich hinaus von Wichtigkeit. Die erwähnten Werke lösen partiell und jedes auf seine Weise ein, was bereits in der Mittte des 19. Jahrhunderts von dem Augustiner Chorherrn Josef Chmel aus St. Florian als erstem Obmann der Historischen Kommission der Akademie der Wissenschaften in Wien gefordert worden ist, als er 1857 nach zwanzigjährigen Bemühungen seinen großen Plan einer Geschichte Österreichs als eines Kulturstaates in allen seinen Bereich, und das expressis verbis einschließlich seiner wissenschaftlichen Aktivitäten, vorgelegt hat: „Österreich ist ein grossartiger Culturstaat, darum 3
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Karl Acham, Geschichte der Österreichischen Humanwissenschaften, 6 Bände in 8 Teilbänden, Wien 1999–2006; Gesamtumfang 4 423 Seiten. Achams Sammelwerk liegt ein Betrachtungsfeld zugrunde, das sich über die Geistes- und Sozialwissenschaften hinaus erstreckt, indem es auch die wissenschaftliche Befassung mit den biologischen Aspekten resp. Bedingtheiten menschlichen Handelns und Empfindens mit einbezieht, ebd., Bd. 1, S. 16 f. Wolfgang Brezinka, Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts [resp. Band 3 und 4: „bis zum 21. Jahrhundert“], Wien 2000–2013; Gesamtumfang 3 913 Seiten. Band 3 enthält zudem einen sehr interessanten mehrteiligen Anhang statistischen Charakters, der in Band 4 noch ergänzt wird. Zu erwähnen wäre in diesem Zusammenhang das monumentale „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ in sechs Bänden, das allerdings von einem großen Kollektiv herausgegeben wurde und insofern nicht vergleichbar ist. Dies bezieht sich auf den Staat in seinen heutigen Grenzen, Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens (Anm. 2), Bd. 1, S. 23 f. Brezinka behandelt für den Zeitraum ihrer Präsenz im habsburgischen „cisleithanischen“ Staatsverband auch Padua und Pavia wie auch Krakau, Lemberg, bis sie die Eigensprachlichkeit zugestanden erhielten.
Die Geschichte eines schwierigen Faches
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ist seine wahre Geschichte die Culturgeschichte, bei der die politischen Formen, wie die politischen Schranken nur in Betracht kommen, in wie fern sie den Gang der Cultur hemmen oder fördern.“ Vorstellungen, die praktisch zeitgleich auch von Ranke gefördert und partiell wenigstens im Rahmen der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eingelöst worden sind. In Österreich haben trotz Chmels Mahnung die Universitäten bis nahezu in die Gegenwart für eine systematische Befassung mit der Wissenschaftsgeschichte keinen geeigneten Rahmen geboten, so ist es bezeichnend, dass keine der drei genannten Arbeiten von einem Historiker stammt – Helmut Engelbrecht war ein Schulmann im besten Sinne des Wortes, Acham ist Emeritus der philosophischen Soziologie an der Universität Graz und Brezinka Emeritus der Pädagogik der Universität Konstanz. Von diesen drei Autoren vermochte nur Acham sein Werk vor der Emeritierung abzuschließen; Brezinka nahm die Arbeit erst nach der Emeritierung auf, Engelbrecht noch während der aktiven Dienstzeit. Erfreulich ist aber, dass Brezinkas Unternehmen durch eine Einladung zu einem Vortrag anlässlich einer Ausstellung „90 Jahre Pädagogik an der Universität Graz“ im März und einem Vortrag „Aufstieg und Krise der wissenschaftlichen Pädagogik“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Juni, beide im Jahre 1994, stimuliert und dann von letzterer mitgetragen wurde. Geht man den Grundlagen der drei Werke nach, so ist festzuhalten, dass die Arbeit Engelbrechts unter umfassender Heranziehung der Literatur weitgehend aus den Quellen gearbeitet ist, während Achams Bände neben seinen ausführlichen Einleitungen auf Beiträge kompetenter Mitarbeiter zurückgreifen, die zwar unter sehr klar formulierten Zielvorgaben arbeiteten, dabei aber je nach Fachgebiet doch auf sehr unterschiedlich geartete Quellen beziehungsweise Vorarbeiten zurückgreifen mussten. Die Darstellung Brezinkas ist vollständig aus den Quellen (sowohl im institutionellen Bereich wie auch in Bezug auf die wissenschaftlichen Leistungen der im Fachgebiet Wirkenden) und unter umfassendster Literaturkenntnis gearbeitet. So unterscheidet sich Brezinkas Werk darin von den beiden anderen genannten Unternehmungen, dass sich hier ein Spezialist mit der Geschichte des eigenen Faches befasst, und das vor dem Hintergrund eigenen Erlebens des Ringens um die Identität einer Disziplin von grundlegender Bedeutung über mehr denn ein halbes Jahrhundert hinweg. Brezinka differenziert strikt zwischen Pädagogen (als den ausübenden Praktikern im Erziehungswesen) und Pädagogikern (jenen, die sich der Theorie der Erziehung widmen). Sein Werk befasst sich mit der Entstehung und Entwicklung des Faches an den einzelnen Universitäten – und damit mit den Pädagogikern – von den jeweiligen Anfängen bis in die Gegenwart; für die Universität Klagenfurt im vierten und letzten Band heißt das bis 2013. Daran anschließend fasst er in einem Überblick – vergleichend mit den Verhältnissen in Deutschland und in der Schweiz (womit der gesamte deutsche Sprachraum erfasst wird) – auf nahezu 150 Seiten zusammen und zieht Bilanz über zwei Jahrhunderte Pädagogik an Österreichs Universitäten. Die Materialfülle, und damit natürlich auch die Kenntnis, auf deren Grundlage er das tut, ist gewaltig: Davon zeugen ein Verzeichnis von mehr als 50 Archiven und höchst eingehende Literaturverzeichnisse8 , denen die Funktion einer umfassenden 8
Sie akkumulieren sich – naturgemäß in speziellen Bereichen sich überlappend – für die vier Bände auf knapp 300 Druckseiten.
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Fachbibliographie wie in hohem Maße auch die einer Personalbibliographie der im jeweiligen Band behandelten habilitierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zukommt, wie der Text in summa auch ein Verzeichnis der Dissertationen enthält, die unter der Betreuung der einzelnen Habilitierten entstanden und erstbegutachtet worden sind. Es existiert in Österreich keine wissenschaftsgeschichtliche Arbeit größerer Dimension von auch nur annähernd vergleichbarer Quellen- und Literaturfundierung. Das Werk umfasst sowohl die personelle Entwicklung der Institutionen wie auch die wissenschaftlichen Aktivitäten der in diesen wirkenden Personen, und das keineswegs nur in den Philosophischen Fakultäten, sondern auch in den theologischen und anderweitigen Lehreinrichtungen, somit auch den Praktischen Pädagogiken wie der Heilpädagogik an den medizinischen Fakultäten, der Sportpädagogik oder anderen Spezialpädagogiken in unterschiedlichen Einrichtungen universitären Charakters. Fasst man nur die institutionelle Entwicklung ins Auge, so geht es um ein nur mit Erfahrung deutbares Wechselspiel auf der Ebene von Fakultäten, Universitätsleitungen und Ministerien, oft unter Mitwirkung von Landesbehörden, auch von Städten, von Vereinigungen und alles in allem auch um eine Fülle von persönlichen Interessen und Intrigen. Die Akten unterschiedlicher Behörden, wie sie in verschiedenen Archiven liegen, sich zugänglich zu machen, richtig zusammenzuführen, sie für ihre jeweilige Zeit richtig zu lesen und in ihrer Subtilität zu interpretieren, bedarf langer Erfahrung und möglichst ungestörter Konzentration. Noch weitaus komplexer ist die Beurteilung der wissenschaftlichen Aspekte unter den unterschiedlichsten Einflüssen, um die es in Bezug auf die wissenschaftlichen Leistungen geht. Stellt man all dies in Rechnung, dann handelt es sich bei einer mutmaßlichen Bearbeitungsdauer von etwa zwanzig Jahren um eine auch für einen weitgehend unabhängigen, theoretisch ungestörten Emeritus in voller Schaffenskraft höchst beeindruckende Leistung, die erfolgreich abzuschließen von enormer Disziplin zeugt. Brezinkas Werk ist nicht zum weit verbreiteten Genre der die jeweils eigene Tätigkeit reflektierenden wissenschaftlichen Lebensrückblicke von Emeriti zu zählen (die auch ihren Wert haben), sondern ist – wie dargestellt – ein höchst wertvoller Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte Österreichs auf einer höheren Ebene.9 Wissenschaftsgeschichte ist wie alle historische Forschung Reflexion. Das Besondere an ihr ist, dass sie sich der Reflexion der äußeren und inneren Erscheinungen des Erkenntnisprozesses widmet und insofern – nicht nur, aber eben wesentlich doch auch – gewissermaßen Metareflexion ist. Nicht weniger ist sie auch ein Akt von wissenschaftsinterner Bedeutung: Als Ort der Erfahrungen, des schon Gedachten und seiner Konsequenzen, erlaubt die Arbeit an der Wissenschaftsgeschichte dem forschenden Individuum die Rückkoppelung mit der eigenen Entwicklung. Durch kritische Betrachtung und Analyse vergangener Forschungsprozesse können nicht nur die eigene Position erkannt, sondern auch Fragestellungen und Verfahren bestimmen werden. Wissenschaftsgeschichte ist daher immer auch ein in Forschungsprozesse eingebundenes Analyseinstrument.
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Das heißt natürlich nicht, dass der Verfasser nicht doch auch den analysierenden, kritischen Rückblick vollzogen habe.
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Das Besondere in Brezinkas Fall ist nun aber das Objekt der Betrachtung: Die Pädagogik (ein in seiner heutigen Verwendung unscharfer Begriff10 ) hat die Bildung und Formung des Menschen zum Ziel,11 also letztlich ein konkretes Eingreifen in Bezug auf das Handeln und das Verhalten von Menschen, somit Akte normativen Charakters – und das in Praxis und Theorie. Insofern galt sie bis in das 19. Jahrhundert als ein Teil der Praktischen Philosophie – als eine „Ars“, als eine Kunst, als Kunstlehre12 , obgleich schon im Zuge der Aufklärung das Bemühen um eine theoretische Grundlegung dieser Kunst hinzugetreten ist, was zur Pädagogik im heutigen Sinne führte, die sich aber erst im 20. Jahrhundert von der Philosophie emanzipierte und sich in ihrer weitgehend theorieorientierten explosiven Entfaltung13 leider mehr und mehr von der Praxis entfernte. Im Sinne von Max Webers Auffassung, dass es „niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein [könne], bindende Normen [. . .] zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte“ abzuleiten,14 sind jedoch der Erziehungswissenschaft hinsichtlich der pädagogischen Praxis Grenzen gesetzt,15 auch wenn sie einmal gesteckte Ziele, Methoden und Mittel zu deren Erreichung wissenschaftlicher Untersuchung zu unterziehen vermag. Mit dieser Problematik ist Brezinka sehr ernsthaft 1958 bei seinem Dienstantritt als Professor und Rektor in Würzburg konfrontiert worden, da die dortige Pädagogische Hochschule Lehrer an bayerischen katholischen Konfessionsschulen auszubilden hatte. Die Fundamente einer empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft mussten konzipiert werden – im Sinne dessen, was als „Allgemeine Pädagogik“ bezeichnet werden und als wissenschaftliche Disziplin klar von den in die praktische Erziehungsarbeit unausweichlich 10 11
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Emile Durkheim war vielleicht der erste, der klar zwischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik unterschied, Brezinka, Metatheorie (Anm. 1), S. 42. Brezinka definiert Erziehung wie folgt: „Unter Erziehung werden Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Bestandteile zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten“, Brezinka, Metatheorie (Anm. 1), S. 45. Der in Prag lehrende Otto Willmann schrieb 1882, die traditionelle normative Pädagogik sei zwar „an Rat und Wohlmeinungen reich“, aber „arm an Beobachtungen und Tatsachen“ und zitiert auch einen witzigen Schulmann mit dem Satz „Die Pädagogik lehrt teils, was jeder weiß, teils, was niemand wissen kann“, nach Brezinka, Metatheorie (Anm. 1), S. 16 und S. 18. Willman in Prag definierte sie 1875 als eine pädagogische Kunstlehre, die bestimme, was geschehen soll, „sie gibt Regeln und Anweisung“, ist „imperativisch“ und „postulatorisch“. Brezinka, Pädagogik in Österreich (Anm. 4), Bd. 2, S. 36. In Deutschland ist in nur 23 Jahren, zwischen 1960 und 1983, die Zahl der Pädagogik-Professuren von 23 auf 1054 angestiegen! Brezinka, Pädagogik in Österreich (Anm. 4), Bd. 4, S. 888. Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 6 1985, S. 148–161 – erstmals erschienen in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19,1 (1904), S. 22–87. Die prinzipielle Problematik der Vorstellung, „dass intensive erziehungswissenschaftliche Studien geeignet sind, gute Lehrer zu erzeugen“ (Unterstreichung von Brezinka) ist früh schon angesprochen worden – 1780 meinte der erste deutsche Professor für Pädagogik, Ernst Christian Trapp, „Die gewöhnliche Gelehrsamkeit hat mit der Erziehung so wenig zu schaffen, dass sie ihr vielmehr schädlich ist, und umso schädlicher, je größer sie ist“ – Brezinka, „Verwissenschaftlichung“ (Anm. 1), S. 14.
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einfließenden Wertvorstellungen abgesetzt sein sollte.16 Dies führte zu lebhaften Auseinandersetzungen im Fach, die auch als „Positivismusstreit in der deutschen Pädagogik“ bezeichnet werden und selbst in den kommunistischen Bereich hinein wirkten, wo man, wie in anderen Bereichen auch, sich gegen die Wertfreiheit wehrte (und mitunter wohl auch heute noch wehrt). Dieses Spannungsverhältnis, das letztlich der Entwicklung der Pädagogik an den Universitäten innewohnte, beschäftigte Brezinka in hohem Maße17 und führte ihn auch zu der noch zu erwähnenden Differenzierung der Entwicklungphasen der Pädagogik, ja ließ ihn auch nach der Fertigstellung des vierten Bandes nochmals einschlägig resümieren.18 Damit ist aber auch die außergewöhnliche Position und Kompetenz umrissen, von der aus Brezinka seine Geschichte der Pädagogik in Angriff genommen hat.19
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In seiner „Metatheorie der Erziehung“ hat Brezinka im Kapitel „Der Gegenstand der Erziehungswissenschaft“ ausführlich deren Aufgaben und Möglichkeiten einer „teleologischkausalanalytischen“, d. h. in Brezinkas Sinne „technologischen“ Wissenschaft entwickelt, die nur Informationen über Tatsachen und die Zusammenhänge zwischen ihnen enthält, aber keine Wertungen. 17 Dazu Brezinkas Ausführungen in: Fünfzig Jahre (Anm. 1), S. 23–25. In diesem Zusammenhang ist ein nicht veröffentlichtes Manuskript mit dem Titel „Der Wissenschaftsbegriff der Erziehungswissenschaft“ entstanden, aus dem schließlich der Band „Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft“ hervorgehen sollte (erstmals Weinheim 1971). Dessen vierte Auflage erschien unter dem sein System erläuternden Titel „Metatheorie der Erziehung. Eine Einführung in die Grundlagen der Erziehungswissenschaft, der Philosophie der Erziehung und der Praktischen Pädagogik“ (München/Basel 1978). Hierbei handelt es sich um ein mehrfach übersetztes und weitverbreitetes, bis heute wirksames und bestechend klar aufgebautes und nicht minder klar formuliertes, auf allen vernebelnden Verbalzauber verzichtendes Lehrbuch (s. Brezinka, Fünfzig Jahre (Anm. 1), S. 22 u. 40), das heute als Klassiker gilt: (14. 01. 2015). Im Vorwort stellt der Autor sicherheitshalber nochmals erläuternd fest: „Da eine Untersuchung dieser Art nicht die Erziehung selbst, sondern die Theorien der Erziehung zum Gegenstand hat, wird sie als ‚kritisch-normative Theorie der Erziehungstheorien‘ oder abgekürzt als ‚Metatheorie der Erziehung‘ bezeichnet.“ In diesem Werk stellt er die im Untertitel genannten drei Klassen von Erziehungstheorien dar, denen noch ein erläuterndes Kapitel „Ideologie und erfahrungswissenschaftliche Theorie“ angefügt ist. In seiner Konzeption erscheint Brezinka wesentlich von Rudolf Lochner beeinflusst (Brezinka, Metatheorie (Anm. 17), S. 240 f.), wobei er aber vergleichend und die Positiva aufnehmend auch andere Theorien vorstellt. Anton Hügli hat in seinem Artikel „Pädagogik“ (Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel 1989) die von Lochner und Brezinka vorgetragene Position ausführlich gewürdigt: „Das Verdikt der Gegenseite [Lochner, Brezinka et al.] über die ‚emanzipatorische P[ädagogik]‘ ist vernichtend: Diese sei eine Erziehungswissenschaft, die einseitig nur solche Persönlichkeitseigenschaften propagiere, ‚von denen angenommen werden wird, daß sie zur Distanzierung von der vorhandenen Gesellschaft . . . und zur politischen Mitarbeit an der Herstellung einer utopischen sozialistischen Gesellschaft‘ befähigen. Über die möglichen Mittel zu diesem Ziel wisse sie nur Verschwommenes zu sagen. ‚Klare und wissenschaftlich begründete Sätze über Zweck-Mittel-Beziehungen fehlen ganz‘.“ Das Problem, „das die ‚emanzipatorische P.‘ aufgeworfen hat“, sei allerdings, so Hügli 1986, mit dem Verdikt nicht gelöst. 18 Brezinka, „Verwissenschaftlichung“ (Anm. 1). 19 1993, also noch vor Beginn seiner Arbeit an der Geschichte der Pädagogik in Österreich, schrieb Brezinka „Nach meiner Einschätzung ist ‚die Krises der wissenschaftlichen Pädagogik‘, die ich 1966 beschrieben habe, noch nicht überwunden. Im Gegenteil sie hat sich verschärft. Es gibt in diesem Fach mit mehr als tausend Professoren in Deutschland und circa hunderttausend
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Die vier Bände Brezinkas stellen die Entwicklung an den einzelnen Universitäten in ihren Phasen eingehend dar. Brezinka begnügt sich dabei nicht mit einer Geschichte der Entwicklung der Erziehungstheorie, sondern fokussiert nach einer 230 Druckseiten umfassenden Einleitung zu „Schulwesen, Universitäten und Pädagogik im Habsburger-Reich und in der Republik“ wesentlich auf die Institutionengeschichte und auf die wissenschaftlichen Entwicklungen der in den untersuchten Institutionen tätigen Individuen. Von Seiten des Historikers ist dem Verfasser sehr zu danken, dass er nicht den häufig gewählten Weg einer (oft auch nicht hinreichend abgesicherten) Ideen- und Dogmengeschichte gewählt, sondern den ungleich dornigeren und mühevolleren Weg einer Institutionen- und Dogmengeschichte eingeschlagen hat. Erst die Institutionengeschichte ermöglicht mit der Offenlegung auch externer Faktoren, den Werdegang der Disziplin und damit weitgehend ihrer Inhalte unter dem Einfluss von Fakultätskollegien, Senaten et cetera bis hin zur parlamentarischen Ebene zu erfassen und zu verstehen. Hierin liegt auch der Grund dafür, dass eine umfassende Geschichte der Entwicklung wissenschaftlicher Disziplinen in systematischer Weise über größere institutionelle Einheiten hin vorangetragen werden sollte, weil Disziplinen (so wichtig sie für uns als Orientierungseinheiten sind) auf Konventionen beruhen und nicht abstrakt und isoliert in der geistigen Landschaft stehen. Ihre institutionelle Einbindung in ein größeres systematisches Gefüge hat nun einmal zur Folge, dass sich grundlegende Überlegungen zur Geschichte beispielsweise der Disziplin Archäologie unter Umständen in Akten finden, die sich mit der Umstrukturierung der Chemie befassen. Die Geschichte einer Disziplin in so breitem Maße zu erforschen ist natürlich – heutzutage – von keinem Einzelnen zu leisten, mag er auch Brezinka heißen; wohl aber wäre sie von einem Team erbringbar. Gleichwohl steht Brezinkas Arbeit auf einem Fundament wie wenige derartige Arbeiten, indem sie das Fach über die Gesamtheit der österreichischen Universitäten hin systematisch erfasst und der Verfasser sich, wie bereits erwähnt, auch der Mühe unterzogen hat, die wissenschaftlichen Arbeiten möglichst vieler Beteiligten einzusehen und einer kritischen Wertung zu unterziehen. Aus der Erfahrung im Zuge der Arbeit am ersten Band veranschlagte Brezinka (obgleich er schon sehr genau wusste, was ihm noch bevorstand) zur Zeit des Erscheinens des zweiten Bandes das Gesamtwerk auf drei Bände.20 Vier sind es in der Welt keinen unbestrittenen Grundbestand an bewährtem Wissen und keine allgemein anerkannten Qualitätsmaßstäbe für die Forschung. Es gibt bloß ein Gemenge verschiedenster Denkansätze, Richtungen, Schulen, Sekten und sogenannten ‚Suchbewegungen‘“, Brezinka, Fünfzig Jahre (Anm. 1), S. 25. Brezinka empfindet die Haltung der Pädogiker schlichtweg als „situationselastisch“, um eine famose neue Wortschöpfung zu gebrauchen. 20 Wolfgang Brezinka, Mein Weg zur Pädagogik und meine Beiträge zu ihr, in: Überlieferung und Kritik der Pädagogik. Beiträge aus Österreich und Deutschland in zehn Sprachen. Eine Ausstellung anlässlich des 75. Geburtstages von Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Brezinka in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin 2003, S. 7–36, S. 33. Brezinka sah und sieht sein Werk am Abschluss der Entstehungsphase, dem Zeitpunkt der Konsolidierung des Faches positioniert: „Da der Aufstieg der Pädagogik zu einem selbständigen und gleichberechtigten Universitätsfach nun abgeschlossen ist, liegt ein Rückblick auf seine Geschichte nahe“, Brezinka, Pädagogik in Österreich (Anm. 4), Bd. 1, S. vii.
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geworden:21 Der erste Band ist nach der bereits erwähnten ausführlichen Einleitung der Universität Wien gewidmet, wo die Entwicklung wie auch in Prag sehr früh einsetzte; der zweite Band befasst sich mit Prag (bis 1945), Graz und Innsbruck; der dritte handelt von Czernowitz, Salzburg und Linz und bietet zusätzlich eine Reihe sehr interessanter, das Fach insgesamt betreffender Anhänge, wie beispielsweise eine Liste österreichischer Pädagogikprofessoren im Ausland, eine Rangliste nach Zitierungshäufigkeiten in der Zwischenkriegszeit und anderes mehr.22 Der vierte Band ist nun der Wirtschaftsuniversität Wien und der Universität Klagenfurt gewidmet. Daran schließt die bereits erwähnte Zusammenfassung an. Brezinkas Darstellung ist – wie Rezensenten und zweifellos auch Betroffene feststellten – klar, offen und schonungslos, aber nicht bösartig – „Vergebt, wenn manchen manches hart hier trifft, / Mein Pfeil soll treffen, doch er birgt kein Gift“23 . Das ist nicht nur gut und nützlich für das Fach, sondern auch selbstverständlich und zudem verständlich, wenn man bedenkt, dass Brezinka die Pädagogik seiner Lehrjahre noch als „ein grenzenloses unsystematisches Sammelsurium ganz verschiedenartiger Elemente ohne harten theoretischen Kern“ empfand, wobei ihn vor allem „die Mischung von Wissenschaft und Weltanschauung“ störte, wie sie „damals in allen pädagogischen Richtungen üblich gewesen“ sei,24 und worin offenbar lange keine grundlegende Änderung eingetreten ist. Dieser problematischen Verfassung des Faches verdanken wir neben der bereits erwähnten schwierigen Differenzierung von Praxis und Theorie wohl überhaupt dieses nun vollendete Werk. Brezinkas Analyse stellt drei Schübe in der Entwicklung, im Ausbau und in der Ausrichtung der Pädagogik fest: Zunächst referiert er eine an der Praxis orientierte Phase, in der subjektive erzieherische Erfahrungen vor dem Hintergrund älterer Autoren und religiöser Anweisungen die Grundlage einer Erziehungskunst, der „Erziehungskunde“, ausmachten.25 In Österreich dominierte damals nach guten Anfängen das als hervorragend bewertete, von Vinzenz Eduard Milde im Sinne des Josefinismus in einem überkonfessionellen 21
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Damit mögen gelegentliche Unstimmigkeiten in der Konzeption des Werkes zusammenhängen – so wird die in Band 2 für Band 3 angekündigte (und in Band 2 für Graz und Innsbruck nicht gegebene) Behandlung der Sportpädagogik nur im Rahmen der Universität Salzburg realisiert, obgleich die erste Ernennung eines Professors für diesen Bereich früher schon (1971) an die Universität Graz erfolgte, was in Band 3 nur im Zusammenhang mit der Salzburger Besetzung von 1974 erwähnt wird. Andererseits ist die Sportpädagogik in Wien im ersten Band sehr ausführlich behandelt. Diese Angaben werden in einem Anhang im vierten Band vervollständigt und erweitert. So nach Christian Morgenstern im Vorwort zu ebd., Bd. 2, S. vii. Zu Recht vetritt er diese Linie, alles andere liefe der Verpflichtung eines Historikers zuwider – schon Balthasar Gracián stellte fest, man dürfe nicht an der „großen Höflichkeit sein Genügen haben, denn sie ist Art von Betrug“. Brezinka, Fünfzig Jahre (Anm. 1), S. 14 f. Es handelt sich somit um jenen Bereich, den Brezinka als Praktische Pädagogik definiert, für die er eine Glaubens- oder Gesinnungseinstellung, eine emotionale Position für unausweichlich und im Sinne einer Klarstellung auch für erwünscht hält – „Deshalb nehme ich auch für mich das Recht in Anspruch, für jene Teilgruppe unserer pluralistischen Gesellschaft, die ähnliche Ideale hat wie ich, eine an diesen Idealen orientierte Praktische Pädagogik anzubieten“ (ebd., S. 29, s. auch Brezinka, Metatheorie (Anm. 1), S. 236–272.
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Zugriff verfasste zweibändige Lehrbuch von 1811/1813, bis zu den großen Reformen des Gymnasial- und Universitätswesens von 1848 (zumeist allerdings in einer Kurzfassung). In dieser Zeit war die in der Regel mit der „Religions-Wissenschaft“ gekoppelte „Pädagogik“ ein Pflichtfach für Theologen und Lehramts-Studenten. Als zweite Phase sieht Brezinka, nach einer Übergangszeit von 1848 an, ein Jahrhundert einer primär philosophisch ausgerichteten Pädagogik (1865–1964), in dem die „Erziehungskunde“ als eine Kunstlehre durch eine „Pädagogik“ ersetzt wurde, die über die frühe Initiative des Reformators Franz Exner, aber auch anderer Pädagogen (die sogar pädagogische Fakultäten forderten) wesentlich an Herbart als dem Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik ausgerichtet war. Sie war anfangs, wie die Psychologie, eng an die Praktische Philosophie angeschlossen; für diese Phase gebraucht Brezinka den verdeutlichenden Begriff einer „Erziehungsphilosophie“, in der die Pädagogik vielfach, mitunter bis nach 1945, in Professuren „für Philosophie und Pädagogik“ und oft auch in enger Beziehung zur Psychologie organisiert war, wobei auch sozialwissenschaftliche Auffassungen und intensiver als zuvor noch das Thema der pädagogischen Ausbildung der Kandidaten für das Lehramt an den Gymnasien maßgebend wurden. Eine wesentliche Förderung erhielt das Unternehmen Pädagogik an den Universitäten, als der rührige Minister Stremayr zu einer Enquete zur Frage pädagogischer Universitätsseminare einlud, die 1871 (allerdings unter dem Vorsitz seines kurzzeitigen Nachfolgers respektive Vorgängers Josef Jireˇcek26 ) abgehalten wurde und die eben primär schulpädagogischen Zwecken im Sinne der Lehrerausbildung für Mittelschulen dienen sollte. Obgleich man in der Seminarfrage wenig vorankam, wurden innerhalb weniger Monate 1871/72 in Wien, Lemberg und Prag Professuren für Pädagogik besetzt und 1876 wurden in Prag durch Otto Willmann, 1877 in Wien durch Theodor Vogt die ersten pädagogischen Seminare zur Ausbildung der Mittelschullehrer begründet, allerdings auch die Dominanz der Schulpädagogik eingeleitet.27 Prägnant formuliert erscheint die Philosophie der Erziehung als „eine philosophische Disziplin, in der neben anderen Themen in erster Linie Wertungsfragen behandelt und Wertungsprobleme entschieden werden“. Sie ist eine „wissenschaftsanaloge“, aber, da primär mit Wertungsfragen befasst, keine rein wissenschaftliche Disziplin; die außer-wissenschaftlichen Werturteile werden in ihr aber, so weit möglich, „vernunftmäßig und unter Abwägung von Gegenvorschlägen begründet und diskutiert.“ Mit dem Jahr 1965 datiert Brezinka mit den Aktivitäten der Minister Heinrich Drimmel und nachfolgend vor allem Theodor Piffl-Perˇcevi´c – zu denen er (Brezinka) mit seiner Denkschrift vom November 1963 selbst maßgeblichen Anstoß gegeben hatte28 – den Beginn einer von Verwissenschaftlichung gekennzeichneten Phase
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Josef Jireˇcek (nicht zu verwechseln mit Josef Konstantin Jireˇcek) war durch sieben Monate als Nachfolger und Vorgänger Stremayrs Minister des Cultus und Unterrichts. Graz folgte erst 1904, Innsbruck überhaupt erst 1959 (der erste Fachvertreter war Brezinka). In ihr formulierte er als dringliche Aufgaben erziehungswissenschaftliche Forschung, Dokumentation und Ausbildung, für deren Bewältigung er ein detailliertes Programm bis hin zu den räumlichen Erfordernissen und der Notwendigkeit einer öffentlichen Modellschule vorlegte und für die nötigen Institute sechs Abteilungen vorsah: Allgemeine und historische Pädagogik,
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der „Erziehungswissenschaft“, die Brezinka in ihrem Verlauf als problematisch einstuft.29 Die Hauptursachen für den wenig befriedigenden weiteren Entwicklungsgang der Erziehungswissenschaft (nicht nur) in Österreich erblickt Brenzinka darin, dass die massive Förderung des Faches (ebenfalls nicht nur in Österreich) mit der Installierung einer Reihe von Professuren eintrat,30 „bevor die Pädagogik als Wissenschaft genügend gefestigt gewesen ist“. Die Universitäten seien darauf nicht vorbereitet gewesen,31 es habe an geeigneten Kandidaten gefehlt32 und auch eine institutionelle Grundlegung für die Ausbildung entsprechender Fachleute sei nicht in der beabsichtigten Gestalt zustande gekommen. Dies waren die Umstände, die schließlich in die 1970 erfolgte Gründung der Hochschule für Bildungswissenschaften in Klagenfurt mündeten,33 mit der „die Institutionalisierung des Faches Pädagogik an den österreichischen Universitäten vorübergehend einen fragwürdigen Höhepunkt“ erreicht habe34 und die in dieser ihrer Zielsetzung letztlich auch scheiterte,35 weshalb man sich nach einer von Minister Busek eingeleiteten Evaluierung gezwungen sah, das ursprüngliche Konzept weitgehend ad acta zu legen.36 Die Zahl der einschlägigen Professuren wurde reduziert und 1993 die Umbenennung in „Universität Klagenfurt“
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Schulpädagogik, Berufspädagogik, Sozialpädagogik, Heilpädagogik und Entwicklungspsychologie samt pädagogischer Psychologie. – Die einschlägigen Aktenstück aus den Jahren 1963–1966 sind abgedruckt in Brezinka, Pädagogik in Österreich (Anm. 4), Bd. 1, S. 895–908. Siehe seinen Vortrag von 2014: Brezinka, „Verwissenschaftlichung“ (Anm. 1). Die regierungsseitigen Maßnahmen bewirkten ab 1965 ein Ansteigen der Zahl der Professuren von 5 auf 28 im Jahre 1997. Man vgl. dazu die deutsche Steigerungsrate, s. o. Dies soll heißen, dass sie auf Piffls Initiative nicht wirklich eingegangen sind. In seinem Vortrag anlässlich der Präsentation des vierten Bandes formulierte Brezinka ohne Umschweife „Piffls Erlass fand an keiner Universität eine verständnisvolle und mehrheitlich positive Aufnahme. [. . .] Der Widerstand der Universitäten hat Minister Piffl veranlasst, ihnen in Sachen Pädagogik das Vertrauen zu entziehen.“, Brezinka, Licht- und Schattenseiten (Anm. 1). Es hat beispielsweise Richard Meister, der zu seiner Zeit in Österreich führende Kopf im Metier trotz seiner sonstigen Rührigkeit während seiner ganzen Tätigkeit im Fach in den Jahren 1923 bis 1956 niemanden habilitiert! Meister war zuvor in Graz und in Wien als Philologe tätig gewesen und kehrte 1938–1945 in dieses Fach zurück, bis er wieder seine vorherige Professur – nun für „Pädagogik und Kulturphilosophie“ – erhielt, für die er sich als Unterstützung eine auf Kinderpsychologie spezialisierte Dozentin der Psychologie und Praktiker als Honorarprofessoren holte; Brezinka, Pädagogik in Österreich (Anm. 4), Bd. 1, S. 439 und 4, S. 824. Damit wurde natürlich auch ein – eher von Kurzsichtigkeit zeugendes – großes Desiderat des Landes Kärnten erfüllt. Ebd., S. 829. „Unter diesen Umständen und den Folgen der geschilderten Fehlbesetzungen und Konflikte haben die ‚bildungswissenschaftlichen‘ Fächer als Schwerpunkt der neuen Hochschule wenig Ansehen gewinnen können – weder intern bei den Vertretern der Lehramtsfächer noch in der Öffentlichkeit. Ihre erhoffte Anziehungskraft auf Studierende aus anderen Bundesländern und aus den Nachbarstaaten ist ausgeblieben. Rund 90 % der Studierenden stammten aus dem Kärntner Umfeld“, ebd., S. 508. Es erfolgten dabei zur Forcierung der Fortbildung der Lehrer zwei Auslagerungen (Interuniversitäres Institut für Fernstudien – IFF und Interuniversitäres Forschungsinstitut für Unterrichtstechnologie, Mediendidaktik und Ingenieurpädagogik – IUI, welch letzteres 1988 bereits wieder aufgelassen wurde); später folgte die Gründung weitere spezieller Einrichtungen wie das Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung.
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vorgenommen, für die die neuen Schwerpunkte Angewandte Betriebswirtschaft und Informatik bereits längst, seit 1984, im Aufbau begriffen waren.37 In der monierten, nicht hinreichenden Festigung als Wissenschaft lag wohl auch die Ursache für die unerhörte und dem Außenstehenden den Eindruck der totalen Beliebigkeit erweckende Vielfalt an Spezialbereichen bis hinein auf die Ebene der Professuren (von Dissertationsthemen ganz abgesehen), wie sie sich generell, vor allem aber in Klagenfurt, entwickelte. Der der Pädagogik generell eigene Drang nach Differenzierung und Spezialisierung bewirkte weithin in Österreich (und offenbar auch anderweitig) sehr rasch den Verlust der Mitte, der Allgemeinen Pädagogik, die an den Universitäten erst allmählich von der Schulpädagogik überwölbt wurde und dann in den Jahren nach 1945 anderen sich entwickelnden Spezialpädagogiken gegenüber völlig in den Hintergrund trat.38 Erschwerend kam noch hinzu, dass das Fach seiner Bedeutung entsprechend auch zum Ort ideologischer Auseinandersetzungen wurde, was – so Brezinka – „das wissenschaftliche Prestige der Pädagogik [. . .] gering“ bleiben und ihren „Nutzen für die Erziehungspraxis“ zweifelhaft erscheinen ließ. Dies insbesondere auch dadurch, dass die „Verwissenschaftlichung“ zu einer tiefgehenden Veränderung bezüglich des Lehrpersonals in der Erziehungswissenschaft dahingehend führte, dass das Fach in den letzten Jahrzehnten nicht mehr von in der Schulpraxis langjährig bewährten Fachleuten mit bestimmt wurde – „dieser Dozententyp ist inzwischen fast ausgestorben. Heute dominieren schulfremde oder der Schule entflohene Professoren, die als Lebensberuf die erziehungswissenschaftliche Arbeit gewählt haben. Damit ist die Eignung zum Gelehrten das erste Auswahlkriterium für Pädagogiker geworden. Das alte Berufsbild ist durch ein modernes ersetzt worden: der praktisch bewährte Lehrmeister der Erziehungskunst durch den erziehungswissenschaftlichen Forscher. [. . .] Es gibt in den deutschsprachigen Ländern keine Synthese, kein System, keinen Kanon des pädagogischen Kernwissens mehr. [. . .] An die Stelle eines geordneten Systems ist die Enzyklopädie getreten, die lexikalische Sammlung von unverbundenem Teilwissen.39 Dieser Mangel ist eine Folge vermehrter Forschung durch riesig vermehrtes Personal, das zur Forschung [und zur Lehre] verpflichtet ist [. . .]“40 . Die wissenschaftliche Ebene hat sich völlig von der Praxis gelöst, die universitäre Pädagogik ist „primär eine Berufswissenschaft für Wissenschaftler geworden“41 . Es sind dies zum Teil Feststellungen, die für andere Fächer ebenfalls gelten und auf Phänomene zurückzuführen sind, die auch 37 38
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Das von den Fachleuten vielfach mit Spannung erwartete Kapitel Klagenfurt im vierten Band ist nicht durchwegs erfreulich. Das Phänomen, dass die Kernmaterie gegenüber immer neuen Spezialisierungstrends zurücktritt, ja vernachlässigt wird, was vor allem für die Studierenden sehr negative Konsequenzen hat, ist auch in anderen Wissenschaftsbereichen zu beobachten. Brezinka spricht diesbezüglich an anderer Stelle von einer „‚verwissenschaftlichten‘ Sammelsuriumspädagogik“, Brezinka, „Verwissenschaftlichung“ (Anm. 1), S. 23. Ebd., S. 15. Es empfiehlt sich hier wohl, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Brezinkas Schlussfolgerungen nicht das Ergebnis eines geistigen Amoklaufes eines frustrierten Emeritus sind, sondern von führenden Fachleuten der Disziplin im Ausland geteilt werden, die in der Druckfassung seines hier mehrfach herangezogenen Vortrags zitiert werden und natürlich auch in seiner Gesamtdarstellung zu Worte kommen. Ebd., S. 25, bezieht sich u. a. auf Dietmar Neumann und Jürgen
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Fehlentscheidungen auf fachfernen Ebenen (wie etwa dem Dienstrecht) ausweisen, die zu diskutieren hier zu weit führen würde. Unter den aufgezeigten Aspekten ist wohl klar ersichtlich, dass Brezinkas Werk in mehrfacher Hinsicht eine höchst wertvolle Bereicherung ist: Für die Geschichte und kritische Reflexion in seinem Fach, als ein integrierender Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte Österreichs, als ein Nachschlagewerk zur Pädagogik respektive Erziehungswissenschaft unter vielerlei Aspekten, in biographischer, ergographischer Hinsicht, als räsonnierende Bibliographie. Es gibt derzeit in Österreich keine andere Wissenschaftsdisziplin, die über derlei verfügt.42 Brezinkas Arbeit erfüllt den Schreiber dieser Zeilen mit besonderer Genugtuung, nicht allein bezüglich des Faches im speziellen, sondern bezüglich der systematischen Art und Weise, in der Brezinka seine Analyse quellen- und literaturmäßig fundiert und mit unerhörter Disziplin, Klarheit und Offenheit realisiert hat. Es steht zu hoffen, dass sich für andere Fächer Nachahmer finden werden.
Oelkers, „Verwissenschaftlichung“ als Mythos? Legitimationsprobleme der Lehrerbildung in historischer Sicht, in: Zeitschrift für Pädagogik 30 (1984), S. 229–252, hier S. 241 und S. 246. 2012 heißt es in einem Bericht der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, dass die Erziehungswissenschaft noch immer eine „identitätssuchende Disziplin“ sei, die sich auf dem Rückzug befinde, nach dem in den Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte in Druck befindlichen Vortrag Brezinkas anläßlich der Präsentation des vierten Bandes. Brezinka, Licht- und Schattenseiten (Anm. 1). 42 Sehr zu wünschen wäre, dass die Akademie der Wissenschaften im Sinne des Open Access die vier Bände in absehbarer Zeit online zugänglich machte, um damit die Einbringung des schließlich auch für andere Arbeiten relevanten Materials an andere wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen zu erleichtern, denn das Werk ist ja auch ein Steinbruch. U. a. wäre dann unschwer auch eine systematische Analyse wie beispielsweise der Dissertationsthemen über die Universitäten hinweg und in zeitlicher Tiefe leistbar und vieles andere mehr.
TECHNISCHE HOCHSCHULEN IN DER ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS Konferenz an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover 11./12. Mai 2015. Leitung: Michele Barricelli, Michael Jung, Detlef Schmiechen-Ackermann. Michael Jung und Michele Barricelli
Mit Stand und Perspektiven der Forschung zum Thema „Technische Hochschulen in der Zeit des Nationalsozialismus“ beschäftigten sich am 11. und 12. Mai 2015 in Hannover über 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehr als 20 Hochschulen und hochschulnahen Einrichtungen. Vertreten waren unter anderen zehn der in der NS-Zeit bestehenden 13 Technischen Hochschulen in Deutschland und Österreich. Ausgerichtet wurde die Konferenz von Michele Barricelli, Michael Jung und Detlef Schmiechen-Ackermann vom Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität. Als Impuls wirkte die Feststellung, dass die einschlägige Forschung zu den Technischen Hochschulen im Vergleich zum teils intensiven Rückblick auf die Geschichte der traditionellen Universitäten in der NS-Zeit bisher zurückgeblieben sei. Nur sporadisch, methodisch unsicher und insgesamt wenig systematisch hätten jene in Deutschland – einer Nation, die sich seit mindestens einhundertfünfzig Jahren auf den Gebieten von Ingenieurwesen und Technik als mitführend in der Welt begreife – hoch bedeutsamen Bildungsanstalten sich ihrer Rolle in der nationalsozialistischen Diktatur durch wissenschaftliche Aufklärung und erinnerungskulturelle Aufarbeitung gestellt. Die Tatsache, dass mittlerweile freilich weit verstreut publizierte Arbeiten zu einzelnen inhaltlichen Aspekten, Fragestellungen und Standorten vorliegen, ließ es immerhin lohnend erscheinen, erstmalig eine größere Tagung durchzuführen, welche die wesentlichen Resultate bisheriger Forschung bilanziert und – so die Hoffnung – inspirierend auf weitere Forschungen wirken könnte. Um dies zu erreichen, ging es im Rahmen der Tagung wesentlich nicht um eine quantitative, sondern um eine qualitative, an Forschungszuschnitten, Leitfragen und Konzepten orientierte Bestandsaufnahme. Die vielfältigen, einigermaßen gesicherten Erkenntnisse über den Grad der Verstrickung der Hochschulen in den Nationalsozialismus sollten, systematisch oder vergleichend erörtert, Kontroversen in der Forschungslandschaft sichtbar machen, methodische Standards diskutieren und fortbestehende Forschungsdesiderate benennen. Ziel war zudem, den etablierten wie neu dazukommenden Akteuren Möglichkeiten zur kriterienorientierten Auseinandersetzung mit der Thematik aufzuzeigen. Dies geschah in zwei größeren Rahmenvorträgen, vier Panels und einer Podiumsdiskussion.
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In seinem Eröffnungsvortrag beschäftigte sich Michael Grüttner (Berlin) mit „Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus“, wobei die Technischen Hochschulen im Fokus standen. Nach einer einleitenden Betrachtung zum „instrumentellen Verhältnis“ der Nationalsozialisten zur Wissenschaft ging er auf die Zentralisierung der Wissenschaftsstrukturen ein und beschrieb die „polykratische Struktur“ des NS-Wissenschaftsbetriebes, der sich durch eine Vielzahl von oftmals miteinander konkurrierenden Akteuren (Einrichtungen, Verbünden, Individuen) auszeichnete. Allen gemein war der Antrieb zur „Säuberung“ des Wissenschaftsbetriebes von aus rassistischen oder politischen Gründen unerwünschten Personen sogleich oder bald nach dem Zeitpunkt der Machtübergabe. Deutlich wurde zudem die nicht selten im Sinne einer „Selbstmobilisierung“ für das nationalsozialistische Regime rasch vorangebrachte Einschränkung der Selbstverwaltung der Hochschulen; diese Einführung des „Führerprinzips“ ging stets mit einer wenn auch unterschiedlich starken politischen Kontrolle des wissenschaftlichen Personals einher. Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus wurde personalpolitisch unter anderem als Förderprogramm für nationalsozialistisch bereits „bewährte“ Nachwuchsforscher betrieben, die ihre Tätigkeit programmatisch in den Dienst Hitler-Deutschlands stellten. Zunehmend schlug sich dies in der „moralischen Entgrenzung wissenschaftlicher Forschung“ nieder, insbesondere im Hinblick auf die rassistischen und raumpolitischen Ziele der NS-Führung, später in den dort offen oder verdeckt zum Ausdruck gebrachten kriegsvorbereitenden und kriegserhaltenden Erfordernissen einer „deutschen Wissenschaft“. Die folgerichtige Wertschätzung der Nationalsozialisten für Technik und Technische Hochschulen zeigte sich nach Grüttner jedenfalls auch daran, dass allein bis 1938 die geisteswissenschaftlichen Ordinariate an den Universitäten und Technischen Hochschulen um 17 % reduziert wurden, während die technischen um 10 % zunahmen. Ein Panel unter der Leitung von Dirk Schumann (Göttingen) hatte die „Gleichschaltung“ an den Technischen Hochschulen zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft zum Thema. In ihrem dort gehaltenen Vortrag erläuterte Carina Baganz (Berlin) Wege von „Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung“ am Fall der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg vor und während des Nationalsozialismus. Studierende und Lehrende waren dort (wie an vielen anderen Orten) schon lange vor 1933 von antidemokratischem und teilweise völkischem Denken und Handeln geprägt, was unter anderem daran kenntlich wurde, dass bereits im Wintersemester 1930/31 bei den Studierendenwahlen an der TH Berlin über 60 % der Stimmen für die Nationalsozialisten abgegeben wurden. Unter den Lehrenden gab es bereits vor der Machtübernahme der NSDAP eine nicht unerhebliche Anzahl an Parteimitgliedern oder Sympathisanten, so dass die Hochschule und ihre Mitglieder 1933 kaum mehr verpflichtet werden mussten, jene nach den NS-Vorstellungen umzustrukturieren, Forschung und Lehre anzupassen und alle diejenigen auszugrenzen, die nicht in das Schema der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ passten. So entließ die Berliner Hochschule ab 1933 relativ problemlos rund ein Viertel ihres wissenschaftlichen Personals. In einigen wenigen Fällen wurde zwar anfänglich versucht, betroffene Lehrende zu schützen. Als Grund vermerken die Quellen hier oft die Furcht davor, dass die durch die Entlassungen bewirkten Lücken zu groß
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werden könnten. Ob menschlicher Anstand als Motiv hinzukommt, muss offen bleiben. Anmerkungen zu besonders engagierten NS-Protagonisten der Hochschule, wie zum Beispiel Willi Willing, Gaudozentenführer und SS-Führer, rundeten die Ausführungen von Carina Baganz ab. Über die Technische Hochschule Wien referierte Juliane Mikoletzky (Wien). Sie nahm sich der Nazifizierung des Lehrkörpers, der Berufungen auf Lehrkanzeln und der politischen Implikationen in Wien an und ging folgerichtig zunächst auf die spezifisch österreichischen Konstellationen ein, die sich zum Teil deutlich von denen in Deutschland unterschieden. Zwar wurde auch an den österreichischen Hochschulen schon ab 1918 darauf geachtet, den „deutschen“ Charakter im Hinblick auf die Zusammensetzung des Lehrkörpers zu wahren, was dazu führte, dass Aspiranten jüdischer, jedoch auch slawischer Herkunft wesentlich geringere Karrierechancen hatten. Andererseits wurden Anhänger der NSDAP auch aus dem Hochschulbereich im Austrofaschismus ab 1933 in die Illegalität gedrängt, was nach dem „Anschluss“ 1938 zu „Wiedergutmachungen“, das heißt zum Wiedereinsetzen von „geschädigten“ Hochschulangehörigen in ihre vormaligen Positionen, führte. Nach Mikoletzky erfolgten ab diesem Zeitpunkt die Entfernungen von Hochschulangehörigen aus dem Dienst aus politischen und rassistischen Gründen „erstaunlich zügig“. Hingegen erwiesen sich Neuberufungen auf Grund unterschiedlicher hochschulpolitischer Auffassungen von Hochschulen und Reichserziehungsministerium oftmals als äußerst langwierig. Trotz dieser Schwierigkeiten waren unter den nach 1938 neuberufenen ordentlichen und außerordentlichen Professoren über 90 % Mitglieder in NS-Organisationen, was den Organisationsgrad an der TH Wien beim wissenschaftlichen Personal bis 1945 auf fast 60 % steigen ließ. Der Beitrag von Michael Jung (Hannover) beschäftigte sich mit der Frage nach Organisierung, parteipolitischem Engagement und Parteikarrieren von Hochschullehrern in der NS-Zeit am Beispiel der Technischen Hochschule Hannover im Vergleich mit anderen Hochschulen. Ausgehend von der Parteieintrittsgeschichte eines hannoverschen Rektors bot der Beitrag einen vergleichenden Überblick über die Organisationsgrade der beamteten Professoren in NSDAP und NSDDB der Technischen Hochschulen in Hannover, Berlin-Charlottenburg und Braunschweig, teilweise auch Aachen und Darmstadt sowie, soweit überliefert, deren Aktivitäten für diese Organisationen. Dabei wurde für das Jahr 1944 ein überdurchschnittlich hoher Organisationsgrad in der NSDAP von 53 % bis 68 % festgestellt. Die meisten dieser Professoren traten erst nach 1933 in die Partei ein, wobei zu vermuten ist, dass dies für die meisten ideologisch nur ein kleiner Schritt von ihren nationalistischkonservativen und antisemitischen Einstellungen hin zum formalen Bekenntnis zum Nationalsozialismus war. Ebenso überdurchschnittlich zu anderen Berufsgruppen und der Gesamtbevölkerung war die Übernahme von Funktionärstätigkeiten durch Professoren in der Partei und angeschlossenen Organisationen: zwischen 38 % (TH Berlin) und 52 % (TH Hannover) der Parteimitglieder übten solche, teilweise hochrangigen Tätigkeiten aus. Verglichen mit nur 20 % bezogen auf alle NSDAP-Mitglieder ist das eine sehr hohe Quote, die diese Professoren – so Jung – „zu Mitgestaltern des nationalsozialistischen Deutschland“ machte.
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Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover) leitete das Panel 2 mit dem Titel „Die Hochschule als volksgemeinschaftlicher Lebensraum oder als Ort des Eigensinns im Führerstaat?“. Mit einer Reflexion auf „Viktor Klemperers Wahrnehmung des akademischen Lebens in der NS-Diktatur“ präsentierte Bernd Sösemann (Berlin) einen Beitrag, der einen scharfsichtigen, mitunter aber auch emotionalen Blick des von der NS-Verfolgung betroffenen Ordinarius für Romanistik auf die Geschehnisse an der TH Dresden offenbarte. An ausgewählten Passagen der Tagebücher Klemperers ging Sösemann unter Berücksichtigung des Spannungsverhältnisses von Handlungs- und Strukturbegriff bei der kritischen Untersuchung von „EgoZeugnissen“ auf dessen Erleben, Erfahren und Erkennen sowie seine sich im Kontext der Ereignisse ändernden Wahrnehmungsmöglichkeiten ein. Die Tagebücher wurden als historische Quelle anerkannt und ihre Aussagekraft zum speziellen Gegenstand der Tagung im historischen Kontext gewürdigt. Juliane Deinert (Göttingen) wagte mit ihrem Vortrag zur Rolle der Studierenden im Hochschulbetrieb am Beispiel der Universität Rostock einen Blick auf die Situation einer traditionellen Universität. In Rostock – wie auch andernorts – war in den letzten Jahren der Weimarer Republik ein starkes Ansteigen des Einflusses des NS-Studentenbundes zu beobachten, wobei die soziale Notlage sowie antirepublikanische und antisemitische Grundstimmungen der Studierenden dafür oft den Ausschlag gaben. Von der Machtübernahme der Nationalsozialisten erhofften jene sich ein größeres Mitgestaltungs- und Selbstverwaltungsrecht. Diese „Mitgestaltung“ nahmen sie vor allem wahr, indem sie rasch nach Januar 1933 zu Tumult- und Boykottaktionen gegen jüdische Gelehrte aufriefen und sich aktiv für die Umgestaltung der Universität einsetzten. Spätestens die Einführung des Führerprinzips setzte dem Mitbestimmungswunsch enge Grenzen, der bei den Studierenden zu Desillusionierung und Entpolitisierung führte, wodurch jedoch letztlich dessen Funktionalität für das NS-System nicht berührt wurde. Den vermeintlichen „Bruderkampf in der Studentenschaft“ machte Anette Schröder (Hannover) in ihrem Beitrag über die Korporationen und den NS-Studentenbund an der Technischen Hochschule Hannover zum Thema. Lange vor 1933 dominierten nämlich in der Studierendenschaft der hannoverschen Hochschule die schlagenden Korporationen, die geprägt waren durch rechtskonservative, nationalistische, völkische und antisemitische Wertevorstellungen. Der NS-Studentenbund hatte in dieser Konstellation zunächst erhebliche Schwierigkeiten, selbst Einfluss zu gewinnen. Erst nach 1933 änderte sich diese Situation, der NS-Verband wurde geradezu von neuen Mitgliedern überrannt. Dies mündete in teilweise mit großer Vehemenz geführte Auseinandersetzungen zwischen den bisher dominierenden Korporationen und dem Studentenbund. Dabei ging es jedoch nicht um differierende Weltbilder, sondern um die Sicherung von Macht und Gewicht. Schließlich übernahmen nicht wenige Korporierte Führungsfunktionen im NS-Studentenbund, so dass sich in der zweiten Hälfte der 30er Jahre ein reges, in „Kameradschaften“ organisiertes Studentenleben entwickelte, in dem sich nationalsozialistisches Gedankengut mit korporativen Traditionen vermengte. Einem bislang nur wenig beachteten Aspekt der Hochschulgeschichte widmete sich Rüdiger Stutz (Jena) in seinem Blick auf Jenaer Medizinstudenten der II. Heeres-
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studentenkompanie 1942/44. Er zeigte, wie sich bei einigen wenigen Studierenden mit Fronterfahrungen „Renitenz“ und „mentale Widerborstigkeit“ entwickeln konnten, was unter den Jenaer Medizinstudenten jedoch eher eine große Ausnahme war und nicht mit einer geistigen Nähe zum ohnehin nur spärlich vorhandenen studentischen Widerstand zu deuten wäre. In einem Abendvortrag „Theodor Lessing und die Technische Hochschule Hannover“ widmete sich Rainer Marwedel (Hannover) dem „komplizierten“ Verhältnis zwischen dem großen jüdischen Philosophen und seiner Hochschule in den zwanziger und dreißiger Jahren. Theodor Lessing wurde rücksichtslos Anfang April 1933 noch vor Inkrafttreten des als „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ bezeichneten Säuberungsbefehls aus dem Lehrkörper der TH endgültig entfernt. Dem lagen frühere Vorkommnisse aus der Mitte der zwanziger Jahre zugrunde, deren Ursprung in den Gerichtsreportagen über den Prozess gegen den Serienmörder Fritz Haarmann und die geschichtspsychologische Charakterskizze des Reichspräsidentschaftskandidaten Paul von Hindenburg lag, die beide 1925 im „Prager Tagblatt“ erschienen. Jene kulminierten in einem erst lokalen, im folgenden Jahr dann ganz Deutschland erfassenden Propagandafeldzug gegen den Philosophen. Minutiös schilderte Marwedel, wie in Hannover, ausgehend von der überwiegenden Mehrheit der Studierenden der TH, mit Unterstützung der meisten Professoren eine ganze Stadt fanatische Rassenhass- und Vernichtungsgefühle gegen einen ihrer Bürger mobilisierte. Quasi folgerichtig fiel Theodor Lessing am 30. August 1933 in seinem Zufluchtsort Marienbad einem nationalsozialistisch motivierten Mordanschlag auf offener Straße zum Opfer. Das dritte Panel unter der Leitung von Christof Dipper (Darmstadt) nahm die kriegswichtige Forschung in den Blick, mit dem Ziel der Analyse möglicher Handlungsspielräume von Wissenschaft an Technischen Hochschulen zur Zeit des Nationalsozialismus. Helmut Maier (Bochum) stellte in seinem detailreichen Vortrag „Expandierende Ressourcen und Innovationsschübe“ der Rüstungsforschung im Nationalsozialismus fest. Schon in der Weimarer Zeit entwickelten sich die Hochschulen trotz der restriktiven Bedingungen des Versailler Vertrages zu tragenden Elementen des militärischen Innovationssystems. Nach 1933 veränderten sich nicht die Gegenstände und Fragestellungen, sondern vor allem die finanzielle Ausstattung. So kann das erhebliche Anwachsen der Aufwendungen als ein Spezifikum der NS-Rüstungsforschung gelten. Dezentrale Forschungskomplexe, die sog. „Gemeinschaftsforschung“, bildeten dabei den Kern der NS-Forschungsorganisation, wobei die involvierten Reichsministerien (zum Beispiel Reichserziehungsministerium, Reichsluftfahrtministerium), Heer und Marine jeweils eigene Forschungsinteressen mit dem Einsatz von hohen finanziellen Mitteln verfolgten. Den Ausführungen Maiers zufolge profitierten die Technischen Hochschulen als tragende Säulen des NS-Innovationssystems in ganz besonderer Weise von der ab 1933 erfolgenden Ressourcenexpansion. Es gibt Hinweise, dass die im Zuge dessen geschaffenen technologischen Grundlagen auch für das „Wirtschaftswunder“ in der späteren Bundesrepublik weiterwirkten. Mit einem hannoverschen Professor beschäftigte sich Ruth Federspiel (BadenBaden) in ihrem Beitrag „Forschen für den ‚Endsieg‘– Werner Osenberg und die
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Mobilisierung der Forschung am Lehrstuhl Werkzeugmaschinen der TH Hannover“. Osenberg, ab den beginnenden 1940er Jahren führend in der Organisierung der NS-Kriegsforschung als Leiter des Planungsamtes des Reichsforschungsrates und etwas später der „Wehrforschungsgemeinschaft“ tätig, war auch an der eigenen Hochschule Antreiber in Forschung und Entwicklung für den Krieg. Der überzeugte Nationalsozialist, Mitglied von SS und SD, teilte sein Institut in zwei Abteilungen: eine „Marine Entwicklungsabteilung“ mit einer Modell-Torpedo Versuchsabteilung und eine Dienststelle des Reichsamtes für Wirtschaftsausbau, deren Weiterentwicklung zu einem Vierjahresplaninstitut er im Mai 1941 erreichte. Darin beschäftigte er sich unter anderem mit arbeitskräfte- und zeitsparenden industriellen Verfahren durch die Entwicklung von „Spezialmaschinen“ für die Munitionsherstellung. Bis 1944 vervierfachte sich der Personalbestand seines Instituts auf ca. 260 Personen, darunter eine nicht unerhebliche Anzahl von Zwangsarbeitern. Melanie Hanel (Darmstadt) identifizierte in ihrem Vortrag zum Engagement der Technischen Hochschule Darmstadt drei Forschungsschwerpunkte: erstens die Rohund Ersatzstoffforschungen sowie Materialuntersuchungen, die durch den Reichsforschungsrat gefördert wurden, zweitens Roh- und Ersatzstoffforschungen (Zellstoffund Papierchemie, Zellstoff- und Papiertechnik, Kunststoffe) für die Vierjahresplanbehörde. Der dritte Schwerpunkt der Darmstädter Rüstungsforschung galt der Mitarbeit der Professoren am „Vorhaben Peenemünde“, dem Raketenprojekt des Heeres. Daran waren ca. ein Fünftel der Professoren der Hochschule mit ihren Mitarbeitern beteiligt. Die Darmstädter bildeten damit die größte an „Peenemünde“ beteiligte Hochschulgruppe. Die Forscher befassten sich unter anderem mit Berechnungen zur Raketenflugbahn, mit Fragen der Funktechnik und des Raketentreibstoffes und verschiedenen Materialprüfungen. Die Wissenschaftler stellten ihre Tätigkeit in den Dienst des NS-Regimes und die Hochschule, die sich im Laufe des Krieges von einer Lehr- zu einer Forschungsanstalt wandelte, profitierte ihrerseits von der Entwicklung durch zahlreiche u. k.-Stellungen und die großzügige Erweiterung ihres Gebäudebestandes. Panel 4 widmete sich unter der Leitung von Michele Barricelli dem „Umgang der Technischen Hochschulen mit Vergangenheit und Erinnerung nach 1945“ in der Erinnerungskultur mit dem Untertitel „Stillschweigen, Aufarbeitung, korporatives Gedächtnis“. Die Ermittlungen von Tätern und Opfern der NS-Zeit an der TH Braunschweig betrachtete Michael Wettern (Braunschweig). An der Braunschweiger Hochschule hatten die nazistischen Verfolgungsmaßnahmen in Form der Vertreibung von sieben Professoren bereits zwischen 1930 und 1933 und das heißt direkt nach Beteiligung der NSDAP an der Landesregierung eingesetzt; nach der Machtübergabe im Reich fand diese Entwicklung ihre Fortsetzung. Unmittelbar nach 1945, unter dem ersten Nachkriegsrektor, Gustav Gassner, der selbst nach 1933 von der Hochschule vertrieben worden war, wurden NS-belastete Professoren nicht wieder in den Dienst übernommen und zugleich den Verfolgten der NS-Zeit die Rückkehr ermöglicht. Unter Gassners Nachfolgern wurde diese Politik jedoch nicht fortgesetzt, so dass Belastete ab spätestens 1950 an die Hochschule zurückkehren konnten. Erst in den letzten Jahren haben Forschungsarbeiten dazu beigetragen, Profiteure und Opfer umfänglich zu identifizieren und ihre Geschichte zu veröffentlichen.
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Anikó Szabó (Paderborn) ging in ihrem Beitrag auf Rückberufung und Remigration von ehemals verfolgten Hochschullehrern am Beispiel der Universität Göttingen ein. Die Beobachtungen zu Vorgehensweise und Ergebnissen können dabei als exemplarisch für die beiden anderen niedersächsischen Hochschulen gewertet werden. Die nach 1945 für Rehabilitierungen und Rückberufungen zuständigen Hochschullehrer waren zwar unbeschadet aus der politischen Überprüfung durch die Briten hervorgegangen, jedoch mehrheitlich zweifellos kompromittiert durch ihre Kooperation mit dem Nationalsozialismus; schon dies erklärt zum Teil den doch sehr zurückhaltenden Rückkehrwillen verfolgter Professoren an die Göttinger Hochschule. So wurden zwar alle in Frage kommenden nichtemigrierten Professoren wieder als Mitglieder in die Universität aufgenommen und die Privatdozenten erhielten ihre Lehrberechtigung zurück. Jedoch gab es besonders um Festanstellungen heftige Auseinandersetzungen mit dem Argument, dass Berufungen „nicht unbedingt . . . der Rehabilitierung wegen“ zu erfolgen hätten, sondern hauptsächlich um die „Besten“ auszulesen. Ziemlich bald nach Wiedereröffnung der Universität verlor so der Rehabilitierungsgedanke an Bedeutung. Von emigrierten Professoren, die einen Ruf erhielten, waren nur wenige bereit, diesem zu folgen. Das lag, so Szabó, nicht nur an den schlechten Lebensbedingungen in Deutschland, sondern gemäß den überlieferten Selbstbeschreibungen eher daran, dass die Betreffenden nicht in die Situation kommen wollten, mit jenen zusammenarbeiten zu müssen, die den Nationalsozialismus geduldet, unterstützt oder gefördert hatten. Der Entnazifizierung und Vergangenheitspolitik an der TH Darmstadt nahm sich Isabel Schmidt (Darmstadt) an. Sie ging dabei auf zwei Bereiche ein: Zum einen setzte sich die Hochschule nach Kriegsende auf unterschiedliche Art und Weise für eine ausgewählte Schar von Lehrenden ein, die sie auf ihre Lehrstühle zurückkehren lassen wollte. Zum anderen nutzte sie die Entnazifizierungsverfahren, um sich selbst als Ganzes zu rehabilitieren. Es gelang der Hochschule, auf die Verfahren in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen, so dass sie sich als Institution endlich sogar eine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus bescheinigen lassen konnte. Die tatsächliche Unterstützung des NS-Regimes wurde kaum reflektiert; wo immer es ging wurden stattdessen geringe und gelegentliche „Differenzen“ mit dem Nationalsozialismus herausgestellt. In die Gegenwart führte der Ausblick auf Formen der bewussten Erinnerung der Darmstädter Hochschule an die Zeit des Nationalsozialismus und ihrer damaligen Mitarbeiter heute. Der Vortragsteil der Tagung wurde ergänzt durch Posterpräsentationen von Doktoranden und Postdocs im Hinblick auf laufende Arbeiten und Projekte. Drei von ihnen befassten sich mit weiteren Aspekten der NS-Geschichte von Technischen Hochschulen. Shaun Hermel (Hannover) informierte über sein Vorhaben „Die Entwicklungen der deutschen Hochschulen zur Zeit des Nationalsozialismus am Beispiel der Technischen Hochschule Hannover – zwischen Normalität, Gehorsam und Kreativität“, für welches er über die Einflüsse auf die Hochschule von außen, die ausländischen Studierenden an der TH Hannover, Veränderungen des Hochschulalltages aufgrund der Kriegssituation sowie hochschulinterne Abläufe und Prozesse forscht. Kai Kranich (Dresden) hat sein Dissertationsvorhaben „Die Bollwerk-Ingenieure. Der Aufstieg der Technikwissenschaften am Beispiel der Technischen Hochschu-
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le Breslau und der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau zwischen 1900 und 1945. Einblicke in die wissenschaftliche Ressourcenkonkurrenz“ nahezu abgeschlossen. Er untersuchte dazu die planmäßigen Lehrstühle an der Universität Breslau (Philosophische Fakultät) und der TH Breslau insbesondere zwischen 1930 und 1945, wobei das Hauptaugenmerk auf der Entwicklung der TH lag. Ebenfalls Forschungsneuland betrat Adrian Mitter (Toronto) mit der Präsentation seines Vorhabens „Die Technische Hochschule Danzig in der Zwischenkriegszeit“, mit dem er im Rahmen eines größeren Projekts über die Freie Stadt Danzig über deutsche, polnische und ukrainische Studierende in den Jahren von 1919 bis 1939 arbeitet. Im abschließenden Teil der Tagung wurden unter der Leitung von Rüdiger vom Bruch (Berlin) auf einem Podium mit Christof Dipper, Helmut Maier, Juliane Mikoletzky und Michael Wettern unter Beteiligung des Plenums nochmals Forschungsstand, Desiderate und Forschungsstandards angesprochen und perspektiviert. Im Mittelpunkt standen als Desiderate die Binnenentwicklung der Technischen Hochschulen, die Gegenüberstellung von Technischen Hochschulen und Universitäten, die Bezüge zwischen Technischen Hochschulen und den teilweise weiterentwickelten Wissenschaftsorganisationen, als Schritte zur Verstetigung des Forschungsfeldes die Untersuchung von akademischen Kooperationen und Förderinstrumenten, der Großkomplexe, Themenschwerpunkte und Gemeinschaftsprojekte, als wünschenswerte biographische Zugriffe die methodisch innovativen Akteurszentrierungen sowie als erinnerungskulturelle Dimension die Frage, welche Unterschiede im Umgang mit der jeweiligen Vergangenheit zwischen Technischen Hochschulen und Universitäten erkennbar sind.
FAZIT UND PERSPEKTIVEN Die Geschichte der Technischen Hochschulen in der Zeit des Nationalsozialismus ist Teil der allgemeinen Universitätsgeschichte. Allerdings weist sie im Vergleich mit den traditionellen Universitäten einige Besonderheiten auf, die eine separate Bearbeitung erforderlich machen. Zu erwähnen sind die nur mühsam erreichte institutionelle Gleichstellung mit den Universitäten und das spätere Abwehrverhalten gegen deren Vereinnahmungsbestrebungen, die eingeschränkte Fächerstruktur, in der meinungsbildende Disziplinen lediglich rudimentär repräsentiert waren, die verbreitete Überzeugung des wissenschaftlichen Personals, im Nationalsozialismus überhaupt „nur der Technik gedient“ zu haben – was sicherlich als Grund dafür angesehen werden kann, dass die Aufarbeitung der NS-Geschichte an Technischen Hochschulen zeitversetzt und generell zögerlich einsetzte. Die Konferenz bot einen Einblick in abgeschlossene und laufende Forschungsprojekte. Deutlich wurde, dass die Technischen Hochschulen seitens des NS-Regimes eine besondere Wertschätzung genossen, die NS-Ideologie bei Lehrenden und Studierenden regelmäßig auf einen fruchtbaren Nährboden fiel, so dass es nach Januar 1933 einer „Gleichschaltung“ meist kaum noch bedurfte. Die Mitarbeiter der Technischen Hochschulen dankten die mit einer sie begünstigenden „Ressourcenexpansion“ verbundene Wertschätzung durch hohes Engagement, sei es in der Partei oder in
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der Forschung. Im Anschluss an eine kurze Phase des (oft von außen induzierten) Innehaltens während der unmittelbaren Nachkriegszeit betrieben die Technischen Hochschulen ihr Geschäft schnell weiter; eine Auseinandersetzung mit Verstrickung und Verantwortung blieb aus. Den in den letzten Jahren dankenswerterweise zahlreicher erscheinenden Arbeiten zur NS-Vergangenheit einzelner Technischer Hochschulen zum Trotz harren noch viele thematische Komplexe ihrer Aufarbeitung. Zudem haben sich noch längst nicht alle Universitäten, die aus während des Nationalsozialismus tätigen Technischen Hochschulen hervorgegangen sind, in der nötigen Weise mit diesem Abschnitt ihrer Entwicklung befasst. Als weitere Desiderate sind schließlich – auch dies ein Ergebnis der Tagung – zu nennen: Die Radikalisierung und Nazifizierung vor und bis 1933, die noch weitgehend unerforschte Zwangsarbeit an Hochschulen und angeschlossenen Instituten und Firmen, gerade im Zusammenhang mit der enorm ausgeweiteten Rüstungsforschung der späteren Kriegsjahre, Funktion und Ausgestaltung des „Langemarckstudiums“, welches nach nationalsozialistischen Kriterien ausgesuchte Studierwillige ohne Hochschulreife rekrutierte, Veränderungen bzw. Anpassungen in den Inhalten und Formen von Studium und Lehre, Widerstand und Renitenz an Technischen Hochschulen, Rolle und Einfluss von Belasteten an den Hochschulen nach 1945, Bestrebungen der Wiedergutmachung und Entschädigung für Benachteiligte, Verfolgte und Geschädigte bis heute. Wie es scheint, könnten im Prinzip für alle diese Fragen, während jeder Einzelfall seine Bedeutung behält, kategorial vergleichende Ansätze besonders viel versprechend sein.
ANHANG AUTORENVERZEICHNIS
Prof. Dr. MICHELE BARRICELLI Ludwig-Maximilians-Universität München Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte und Public History Historisches Seminar Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München [email protected] Prof. Dr. HEIKE BUNGERT Westfälische Wilhelms-Universität Historisches Seminar Domplatz 20–22 48143 Münster [email protected] Dr. HEATHER ELLIS School of Education University of Sheffield 388 Glossop Road Sheffield S10 2JA [email protected] Dr. CHRISTOPH ELLSSEL Institut für Fort- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung Katholische Stiftungsfachhochschule München Preysingstr. 83 81667 München [email protected] Dr. ANA BELÉN GARCÍA TIMÓN [email protected] Dr. BODO V. HECHELHAMMER Bundesnachrichtendienst Leiter Forschungs- und Arbeitsgruppe „Geschichte des BND“ Gardeschützenweg 71–101 12203 Berlin [email protected]
Univ.-Prof. i. R. Dr. h. c. Dr. WALTER HÖFLECHNER MAS Karl-Franzens-Universität Graz Zentrum für Wissenschaftsgeschichte Universitätsplatz 3 A-8010 Graz [email protected] Dr. TOMÁS IRISH Department of History Swansea University Singleton Park Swansea SA2 8PP [email protected] Dr. MICHAEL JUNG Leibniz Universität Hannover Institut für Didaktik der Demokratie Schlosswender Str. 1 30159 Hannover [email protected] VERONIKA KELLER, M. A. Institut für Musikwissenschaft Ludwig-Maximilians-Universität München Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München [email protected] Dr. CHARLOTTE LERG Amerika-Institut, Abt. Amerikanische Kulturgeschichte Ludwig-Maximilians-Universität München Schellingstr. 3VG 80799 München [email protected] Dr. EMILY J. LEVINE Associate Professor of Modern European History Department of History The University of North Carolina at Greensboro 2117 MHRA Building Greensboro, NC 27402-6170 [email protected]
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Autorenverzeichnis
PD Dr. CHRISTINE VON OERTZEN Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Boltzmannstraße 22 14195 Berlin [email protected] Dr. HELKE RAUSCH Historisches Seminar Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Rempartstraße 15 - KG IV 79085 Freiburg [email protected]
Dr. ANJA WERNER Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Magdeburger Straße 8 06112 Halle (Saale) [email protected]
Als Forum für aktuelle universitätshistorische Diskurse nimmt der aktuelle Band des Jahrbuchs die jüngste Tendenz der Forschung auf und behandelt den Themenschwerpunkt der transnationalen Universitätsgeschichte. Unter Einbeziehung europäischer sowie nord- und südamerikanischer Universitäten untersucht ein internationaler Kreis von Autorinnen und Autoren in zehn Beiträgen deren personale sowie institutio-
nelle Verflechtungen für den Zeitraum vom frühen 19. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Netzwerke zur Frauenförderung kommen ebenso zur Sprache wie Stipendienprogramme, Studierendenaustausch und Fortbildungsprojekte. Damit wird auch die heute brisante Bewertung einer Expansion europäischer Modelle universitärer Wissenschaft und Politik thematisiert.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11613-8
9 783515 116138
ISSN 1435–1358