140 63 15MB
German Pages [210] Year 2013
ISBN 978-3-402-10704-1
Jahrbuch für Antike und Christentum
Jahrgang 54 · 2011
Umschlag_Bd_54_JbAC 15.04.2013 12:16 Seite 1
Jahrbuch für Antike und Christentum Jahrgang 54 · 2011
JbAC_Titel_54_JbAC 11.04.2013 15:34 Seite 1
JAHRBUCH FÜR ANTIKE UND CHRISTENTUM
JAHRGANG 54 · 2011
ASCHENDORFF VERLAG MÜNSTER WESTFALEN
JbAC_Titel_54_JbAC 11.04.2013 15:34 Seite 2
BEGRÜNDET VON THEODOR KLAUSER, EDUARD STOMMEL, ALFRED STUIBER FORTGEFÜHRT VON ERNST DASSMANN, JOSEF ENGEMANN, ALFRED HERMANN, KLAUS THRAEDE HERAUSGEGEBEN VON GEORG SCHÖLLGEN, SIBLE DE BLAAUW, THERESE FUHRER, WINRICH LÖHR
ANSCHRIFT DER REDAKTION: F. J. DÖLGER-INSTITUT, OXFORDSTRASSE 15, D-53111 BONN TELEFON 00 49-(0)228-73 61 70 · TELEFAX 73 61 81 · E-MAIL: [email protected] ES WIRD GEBETEN, BESPRECHUNGSEXEMPLARE NUR NACH RÜCKSPRACHE MIT DER SCHRIFTLEITUNG EINZUSENDEN ABKÜRZUNG: JbAC
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ISSN 0075-2541 LEINEN ISBN 978-3-402-10704-1
C:/_mbsl/Werke/JbAC/Bd_54/Umbruch/003-004_Inhalt.3d vom 23.3.2013 Seitenformat: 192,00 x 275,00 mm
INHALT Ulrich Vollmer Karl Hoheisel, 16. April 1937 – 17. Februar 2011
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Mελέτη θανάτου – Meditatio mortis. Zur Wirkungsgeschichte einer platonischen Bestimmung der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . .
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Konrad Vössing Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler (mit Taf. 1a. b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Benjamin Gleede Johannes Philoponos und die christliche Apologetik. Die Widerlegungen des Proklos und Aristoteles und die Debatte des Schöpfungsproblems in der Schule von Gaza und bei Ps-Justin . . . . . . . . . . . . . . . .
73
Josef Engemann Die Himmelfahrt Christi. Eine neue Interpretation früher Bilder (mit Taf. 2/4)
98
Sabrina Tatz Cella memoriae. Eine sepulkrale Bauform in ihrer antiken Bedeutung und modernen Auslegung (mit 16 Abb. im Text) . . . . . . . . . . .
105
Sebastian Ristow Ältester frühchristlicher Fund aus Aachen. Eine spätantike Sigillatascherbe mit christlicher Symbolik vom Katschhof (mit 1 Abb. im Text und Taf. 1c) . . .
142
Gerhard Steigerwald Das Scheitelmosaik und das Epigramm des Papstes Xystus III (432–440) am Triumphbogen von S. Maria Maggiore in Rom (mit Taf. 5) . . . . . .
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Aufsätze Manfred Wacht
Besprechungen E. Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung in der griechisch-römischen Welt. Besprochen von Heike Grieser . . . . . . . . . . . . . .
172
P. Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Besprochen von Günter Stemberger . . . . . . . . .
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174
D. Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums. Besprochen von Dagmar Börner-Klein . . . . . . . .
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M. Bockmuehl, The Remembered Peter in Ancient Reception and Modern Debate. Besprochen von Ernst Dassmann . . . . . . . . . . . . . .
180
J. Schmidt, Petrus und sein Grab in Rom. Gemeindegründung, Martyrium und Petrusnachfolge in der Offenbarung des Johannes. Besprochen von Ernst Dassmann . . . . . . . . . . . . . .
183
U. Mell, Hauskirche und Neues Testament. Die Ikonologie des Baptisteriums von Dura Europos und das Diatessaron Tatians. Besprochen von Ernst Dassmann . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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V. M. Limberis, Architects of Piety. The Cappadocian Fathers and the Cult of the Martyrs. Besprochen von Theofried Baumeister . . . . . . . . . . . . L. Gioia, The Theological Epistemology of Augustine’s De Trinitate. Besprochen von Christian Tornau . . . . . . . . . . . . .
191
H. R. Seeliger / K. Krumeich, Spätantike Bischofssitze Ägyptens. Besprochen von Gertrud J. M. van Loon . . . . . .
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E. Marin, Salona IV. Inscriptions de Salone chrétienne, IVe–VIIe siècles. Besprochen von Danilo Mazzoleni . . . . . . . . . .
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203
Verein zur Förderung des Franz Joseph Dölger-Instituts der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn e. V. . . . . . . . . . . . . . .
204
Berichte für das Jahr 2010 Franz Joseph Dölger-Institut zur Erforschung der Spätantike
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KARL HOHEISEL 16. April 1937 – 17. Februar 2011 Am 17. Februar 2011 verstarb der Bonner Religionswissenschaftler Karl Hoheisel, der sich in seiner wissenschaftlichen Lehre, in seinen zahlreichen Veröffentlichungen und in seiner Tätigkeit als Herausgeber mannigfachen Themengebieten gewidmet hat. Von September 1981 bis 1995, bis zu seiner Berufung auf die religionswissenschaftliche C 3-Professur an der Universität Bonn, war Karl Hoheisel wissenschaftlicher Mitarbeiter des Franz Joseph Dölger-Instituts zur Erforschung der Spätantike in Bonn, zuletzt in der Funktion des stellvertretenden Direktors. Dem RAC blieb er auch weiterhin verbunden; vom 1996 erschienenen Band 17 an war er bis zu seinem Tod einer der Mitherausgeber. Zu seinem 65. Geburtstag erschien im Jahr 2002 als Ergänzungsband 34 zum JbAC eine umfangreiche Festschrift, die – von Manfred Hutter, Wassilios Klein und dem Unterzeichneten herausgegeben – unter dem mit Absicht gewählten Titel »Hairesis« Werk und Wirken des Jubilars würdigen wollte. Zu seinem 70. Geburtstag gab dann sein Schüler Oliver Krüger eine weitere Festschrift heraus, zu der Hoheisels jüngere Schüler aus dem Kreis der Bonner Religionswissenschaft die Beiträge lieferten. Auch Titel und Untertitel dieser Festschrift charakterisierten in vergleichbarer, wenngleich leicht anders akzentuierter Weise seine Lebensarbeit: »Nicht alle Wege führen nach Rom. Religionen, Rituale und Religionstheorie jenseits des Mainstreams«. Karl Hoheisel – am 16. April 1937 im oberschlesischen Langendorf geboren – hatte nach seinem Abitur zunächst an der Philosophisch-theologischen Hochschule St. Augustin von 1958 bis 1960 Philosophie und theologische Propädeutik studiert und seine philosophischen Studien nach einem weiteren Jahr an der Hochschule St. Gabriel in Mödling bei Wien abgeschlossen. Von 1961 bis 1965 studierte er an der Pontificia Università Gregoriana in Rom Theologie und orientalische Sprachen. Er schloss seine dortigen Studien mit dem theologischen Lizentiat ab. Neben verschiedenen Tätigkeiten im Umfeld und an der Philosophisch-theologischen Hochschule St. Augustin studierte er vom Wintersemester 1965/66 an Vergleichende Religionswissenschaft und Ethnologie an der Universität Bonn. Dieses Studium schloss er 1971 mit der Promotion zum Dr. phil. ab. Seine bei Gustav Mensching angefertigte Dissertation behandelte »Das Urteil über die nichtchristlichen Religionen im Traktat ›De errore profanarum religionum‹ des Iulius Firmicus Maternus«. Auf die Promotion folgte die Habilitation für das Fach Vergleichende Religionswissenschaft im Jahr 1975 an der Universität Bonn mit der drei Jahre später veröffentlichten Studie »Das antike Judentum in christlicher Sicht. Ein Beitrag zur neueren Forschungsgeschichte«. An die Habilitation schloss sich bis zum Wintersemester 2005/06 eine ununterbrochene Lehrtätigkeit an der Universität Bonn an, Anfang der neunziger Jahre parallel zu einer Vertretungsprofessur an der Universität Bremen. Zu den von Hoheisel mit herausgegebenen Monographieserien bzw. Nachschlagewerken gehören neben dem RAC die interdisziplinäre Schriftenreihe »Geographia religionum«, die »Theologische Realenzyklopädie« und die »Studies in Oriental Religions«.
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Ulrich Vollmer
Hoheisels Werk umspannte in Lehre und Forschung ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher Themen, das von Teilbereichen der Religionswissenschaft wie Religionsethnologie, Religionspsychologie, Religionsgeographie und Religionstypologie über einzelne Gebiete der Religionsgeschichte (hier vor allem der antiken Religionsgeschichte und der Geschichte des Judentums) bis hin zu aktuellen und brisanten Fragestellungen reichte. Für seine Verbindung mit dem RAC ist vor diesem Hintergrund ohne Zweifel seine Spezialisierung auf die jüdische Religionsgeschichte zur Zeit des Zweiten Tempels und in frührabbinischer Zeit wichtig. Schon in seiner oben erwähnten Habilitationsschrift bemühte er sich um einen sachgemäßen und adäquaten, von theologischen Prämissen freien Zugang zu dieser wichtigen Phase der jüdischen Religionsgeschichte, die in der Forschung auf paradoxe Weise je nach – letztlich weltanschaulich bedingtem – Standpunkt sowohl als ›Spätjudentum‹ als auch als ›Frühjudentum‹ bezeichnet wurde. Ihn damit für die Bonner ›Religionswissenschaft des Verstehens‹ im Sinne seines Lehrers Gustav Mensching vereinnahmen zu wollen, wäre freilich verfehlt. Nicht der explizite oder stillschweigende Rekurs auf ein die Religionen konstituierendes Numinosum, sondern die eher am Beispiel des ersten Bonner Religionswissenschaftlers Carl Clemen (1865–1940) orientierte, kleinschrittige und umsichtige Interpretation der Quellentexte ist für diese Arbeitsweise charakteristisch. Nur die genaue, auf das sprachliche Original zurückgreifende und die zeit- und kulturgeschichtliche Einbettung berücksichtigende Analyse eines Textes eröffnet ein angemessenes Verstehen der Position, die der Autor in dem betreffenden Text artikuliert. Selbst bei einem so polemischen Autor wie dem in seiner philosophischen Dissertation behandelten Iulius Firmicus Maternus versuchte Karl Hoheisel über die exakte Textauslegung und -auswertung hinaus zu einer verständnisvollen Annäherung zu kommen. Dieses Absehen von der eigenen Person des Wissenschaftlers, die vorbehaltlose und offene Hinwendung zum Anderen, die das Detail respektiert, aber darüber nicht den personalen Bezug vergisst, die behutsam Möglichkeiten abwägt und Fragestellungen lieber offen lässt als vorschnell plakative Antworten zu geben – dies ist allen, die Karl Hoheisel gekannt, geschätzt und geachtet haben, in bleibender, dankbarer Erinnerung. Bonn
Ulrich Vollmer
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ΜΕΛΕΤΗ ΘΑΝΑΤΟΥ – MEDITATIO MORTIS Zur Wirkungsgeschichte einer platonischen Bestimmung der Philosophie In memoriam Thielko Wolbergs
I Zu den frühen Werken des Ambrosius von Mailand gehören zwei Trauerreden, die der junge Bischof auf seinen überraschend verstorbenen älteren Bruder Satyrus gehalten hatte. Bei der ersteren handelt es sich um die eigentliche Grabrede vor dem aufgebahrten Leichnam am offenen Grab1. Der römisch-aristokratischen Tradition der laudatio funebris folgend stellt sie Vorzüge und Tugenden des geliebten Bruders, seinen beeindruckenden Lebensweg und die unermessliche Trauer der Geschwister über den Verlust des Bruders dar. In die ständig wechselnde Folge von lebhaftem Lob und ergreifenden Klagen sind Trostargumente hineingewoben, teils der üblichen antiken Trosttopik entnommen, teils biblisch-christliche Mahnungen, sich vom Schmerz nicht übermannen zu lassen. Die zweite Gedenkrede, eine Woche später gehalten2, ist ebenfalls über weite Strecken der antiken rhetorischen Tradition der consolatio verpflichtet, erhebt sich aber über die geläufige Trosttopik durch die Verkündigung des christlichen Auferstehungsglaubens. Sie wird zu einer lehrhaft-erbaulichen Predigt über die Auferstehung, trägt daher in manchen Handschriften auch die Überschrift de resurrectione mortuorum3. In dieser zweiten Rede auf den toten Bruder setzt Ambrosius das Pauluswort: cottidie morior (1 Cor. 15,31)4 zur philosophischen meditatio mortis in Bezug. Cottidie morior, apostolus dicit, melius quam illi, qui meditationem mortis philosophiam esse dixerunt; illi enim studium praedicarunt, hic usum ipsum mortis exercuit, et illi quidem propter se, Paulus autem ipse perfectus moriebatur non propter suam, sed propter nostram infirmitatem. Quid autem est mortis meditatio nisi quaedam corporis et animae segregatio, quia mors ipsa non aliud quam corporis atque animae secessio definitur? (exc. Sat. 2,35 [CSEL 73, 268]) Ich sterbe täglich, sagt der Apostel, treffender als jene, die meinten, die Philosophie sei Einüben des Todes. Jene nämlich lobten das eifrige Bemühen, dieser übte gerade den praktischen Umgang mit dem Tod, und jene taten das um ihrer selbst willen, Paulus aber, selbst vollkommen, gab sich dem Vgl. M. Biermann, Die Leichenreden des Ambrosius von Mailand = Hermes Einzelschr. 70 (Stuttgart 1995) 1224; E. Dassmann, Ambrosius von Mailand. Leben und Werk (Stuttgart 2004) 56. 2 Vgl. exc. Sat. 2,2 (CSEL 73, 252): nunc quoniam die septimo ad sepulcrum redimus; vgl. G. Guttilla, La fase initiale della Consolatio latina cristiana. Dal »de mortalitate« di S. Cipriano alle epistole consolatorie a Pammachio di S. Paolino di Nola e di S. Girolamo: Annali del Liceo classico ›G. Garibaldi‹ di Palermo 21/22 (1984/85) 108/215, bes. 122: seguendo una consuetudine propria della liturgia del tempo . . . 1
Vgl. Cod. Parisin. bibl. nat. Lat. 11624, saec. XI (D): incipiunt libri sancti ambrosii episcopi de excessu fratris sui et de resurrectione mortuorum (s. app. crit. d. Edition von O. Faller: CSEL 73, 209); ferner die Hss. C, H und W (aO. 251). – Ambrosius selbst nennt beide Schriften unter dem Titel Libri consolationis et resurrectionis (exp. ps. 1,51 [CSEL 64, 43]). 4 1 Cor. 15,31: καθ᾽ ἡμέραν ἀποθνῄσκω, [ἀδελφοί], νὴ 3
τὴν ὑμετέραν καύχησιν, ἣν ἔχω ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ τῷ κυρίῳ ἡμῶν.
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Manfred Wacht
Tod hin nicht wegen seiner, sondern wegen unserer Schwachheit. Was aber ist das Einüben des Todes anderes als eine Art Trennung des Körpers und der Seele, da ja der Tod nicht anders definiert wird denn als Auseinandertreten des Körpers und der Seele.
Wer jene sind, die die meditatio mortis schlechthin mit Philosophie gleichsetzen, wird jedenfalls den gebildeten Hörern des Mailänder Bischofs auch ohne deutlicheren Hinweis bekannt gewesen sein. Das muss nicht unbedingt heißen, dass diese Philosophen im unmittelbaren Umfeld des Kirchenvaters zu suchen sind, obwohl die neuere Forschung die Vertrautheit des Kirchenvaters mit der zeitgenössischen Philosophie unbestreitbar aufgezeigt hat. Vielmehr erweist die Beschäftigung mit der antiken Philosophie den Begriff und die ihm unterstellte Bedeutung als ein πολυθρύλητον, das in griechischer Entsprechung als μελέτη θανάτου erstmals bei Platon begegnet (s. u.)5. Die zitierte Passage ist im Zusammenhang der Rede Teil der in der consolatio traditionellen Ausführung des Topos: Tod als Befreiung von den Übeln des Lebens (exc. Sat. 2,22 [CSEL 73, 261])6, die in die pessimistische Deutung menschlicher Existenz mündet: non nasci longe optimum (ebd. 30 [265])7. Ambrosius legt die markante Sentenz dem weisen Salomon8 in den Mund, der selbst sich auf noch Frühere – genannt werden Hiob, König David und der Prophet Jeremias – habe berufen können. Ihm seien die, die in der Philosophie einige Bedeutung zu haben meinten, gefolgt. Im sogenannten Altersbeweis9 also belegt Ambrosius die zeitliche Priorität des Gedankens vor der griechischen Philosophie und legitimiert die christliche Anwendung des bekannten, aus frühgriechischem Empfinden hergeleiteten Trostarguments10. Er schließt mit der Folgerung, dass die lebensverneinende Haltung alttestamentlicher Gestalten (sancti viri vitam fugiunt ebd. 34) auch uns Vorbild sein müsse,
Die wiederholt diskutierte Frage, ob Ambrosius Platon im Originaltext gelesen habe (Schenkl: CSEL 32,1, XXXIf) oder er die platonische Philosophie nur durch Vermittlung neuplatonischer Schriften kenne, muss unbeantwortet bleiben. Das häufige Vorkommen der Formel macht allerdings den Verdacht, Ambrosius sei sich über deren Herkunft im Unklaren gewesen (J. H. Scourfield, Consoling Heliodorus. A commentary on Jerome, Letter 60 [Oxford 1993] 184), eher unwahrscheinlich. Natürlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Ambrosius die Herkunft des Begriffs für nicht erwähnenswert hält. 6 Zum Gemeinplatz der Konsolationsliteratur ›Tod als ἀπόλυσις πόνων‹ (PsPlut. cons. Apoll. 13,108e [Trag. adesp. 371]); vgl. ebd. 10,106c; Sen. dial. 11,9,6; R. Kassel, Untersuchungen zur griech. u. röm. Konsolationsliteratur = Zetemata 18 (München 1958) 36. 75f. 7 Vgl. Ambr. bon. mort. 7,28 zu Eccl. 4,2/3 (CSEL 32,1, 729); exc. Sat. 2,5 (CSEL 73, 253); Ch. Favez, La consolation latine chrétienne (Paris 1937) 128; s. u. S. 14. 8 Zur Bewertung Salomos durch Ambrosius vgl. G. Madec, Saint Ambroise et la philosophie (Paris 1974) 193/9. 5
Ambrosius ist, wie andere vor ihm, der Überzeugung, dass die griechischen Philosophen, insbes. Platon, was sie an wahren Lehren verkündeten, den Schriften des AT entnommen hätten (Ambr. bon. mort. 5,19. 21 [CSEL 32,1, 720. 723]; 10,45 [741]; 11,51 [747]; in Ps. 118, 18,4 [CSEL 62, 398,3/8]). Trotzdem hegt er eine eindeutige Abneigung gegen die Philosophie, die nur Irrtum und Torheit sei (exc. Sat. 2,86. 126 [CSEL 73, 296. 320]), und setzt der sapientia huius mundi und den argumenta philosophorum die simplex veritas piscatorum entgegen (vgl. etwa incarn. 9,89 [CSEL 79, 268]; fid. 1,3,30. 5,42. 13,84 [CSEL 78, 14. 17f. 37]; 4,8,78 [183]); E. Dassmann, Die Frömmigkeit des Kirchenvaters Ambrosius von Mailand (Münster 1965) 30f. 84f; Madec aO. 30; bes. Th. Kobusch, Christliche Philosophie. Das Christentum als Vollendung der antiken Philosophie: Metaphysik und Religion, Akten d. Int. Kongr. v. 13./17. März 2001 in Würzburg = Beitr. z. Altertumskunde 160 (München/Leipzig 2002) 246/ 8. 10 Vgl. etwa H.-Th. Johann, Trauer und Trost. Eine quellen- und strukturanalytische Untersuchung der philosophischen Trostschriften über den Tod (München 1968) 100f; Kassel aO. 68f. 9
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Μελέτη θανάτου – Meditatio mortis
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zumal deren Leben für uns von Nutzen sei, wir selbst aber anderen nicht zu nützen in der Lage seien, sondern uns dieses Leben nur Tag für Tag mit größerer Sündenschuld belade. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die Sinnrichtung, die der Kirchenvater dem Pauluswort11 und der platonischen Formel geben will: Beide formulieren eine weltflüchtige Geisteshaltung und die Abwertung des jetzigen Daseins, die sich bis zu einer unverkennbaren Todessehnsucht steigern kann12.
II Doch bevor wir uns dem Ambrosius-Text weiter zuwenden, ist ein Blick auf Platons Phaidon, den Ausgangspunkt der μελέτη θανάτου, und deren Nachwirkung notwendig. Angesichts seines unmittelbar bevorstehenden Todes beschreibt Sokrates im Phaidon das Programm des philosophischen Lebens als ›Einübung des Todes‹. Ausgangspunkt der Diskussion ist Sokrates’ Aufforderung, ihm zu einem glücklicheren Leben im Jenseits, das er nach Phaidons Bericht zuversichtlich und festen Sinnes (ἀδεῶς καὶ γενναίως 58e) erwartete, nachzufolgen, wie es einem Philosophen anstehe (61b/d); denn: ›Wer sich richtig mit der Philosophie befasst, hat nichts anderes im Sinn als zu sterben und tot zu sein‹ (64a)13. Platon erläutert diesen Satz auf der Basis eines anthropologischen Dualismus: Leib und Seele sind ihrem Wesen nach grundlegend voneinander verschieden; die Seele, präexistent, unsterblich und dem Göttlichen ähnlich (80d/81a), macht das eigentliche Wesen des Menschen aus; ihr kommt die Herrschaft über den widerstrebenden Körper zu, der seinerseits, der Vorstellung der Seelenwanderung gemäß, als Fessel, Gefängnis oder Grab der Seele bezeichnet wird14.
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Die Formulierung des 1. Korintherbriefs (15,31):
καθ᾽ ἡμέραν ἀποθνῄσκω beschreibt die ständige tödliche Gefährdung, der Paulus in seiner Missionstätigkeit ausgesetzt ist. Sie variiert bzw. steigert ein unmittelbar voraufgehendes καὶ ήμεῖς κινδυνεύομεν πᾶσαν ὥραν; vgl. 2 Cor. 4,10/2; 11,23b/30; A. Lindemann, Der erste Korintherbrief = HdbNT 9,1 (Tübingen 2000) 359; J. Weiss, Der erste Korintherbrief = Krit.-exeg. Komm. NT 59 (Göttingen 1910) 364. – Die sentenzenartige Wendung καθ᾿ ἡμέραν ἀποθνῄσκω bzw. cotidie morior ist ›auch sonst vorkommende Hyperbel‹ (Lindemann aO.), allerdings in verschiedener Bedeutung: Athen. 12,76,552B: ›dahinsiechen und nicht sterben können‹; Seneca (ep. 24,20) erklärt: cotidie morimur; cotidie enim demitur aliqua pars vitae; et tunc quoque cum crescimus vita decrescit: infantiam amisimus, deinde pueritiam, deinde adulescentiam . . . hunc ipsum quem agimus diem cum morte dividimus; vgl. ep. 1,2; 58,23; 70,2; dial. 6,21,6f; Philo, Flacc. 2,542; Marc. Aurel. 9,21,2; PsPlut. cons. Apoll. 10,106c/107a; Kassel aO. 73/5. – So auch noch Hieron. ep. 60,19,1: cotidie morimur, cotidie commutamur et tamen aeternos esse nos credimus. hoc ispum, quod dicto, . . . de vita mea trahitur; vgl. Aug. civ. D. 13,10 (Leben
ist nichts anderes als ›cursus ad mortem‹); serm. 31,3,4 (PL 38, 194); 367,3,3 (PL 39, 1652); H.-G. Surmund, »Factus eram mihi magna quaestio« (Confessiones IV 4). Untersuchungen zu Erfahrung und Deutung des Todes bei Augustinus, unter bes. Berücksichtigung des Problems der »mors immatura«, Diss. Münster (1977) 310/3; Mazzoli 175f; s. auch u. S. 37. 12 Vgl. auch bon. mort. 2,3 (CSEL 32,1, 704f): at non sancti et sapientes viri, qui longaevitatem peregrinationis huius ingemescebant, dissolvi et cum Christo esse (Phil. 1,23) pulchrius aestimantes, denique diem generationis suae exsecrabantur etc.; exc. Sat. 2,125 (CSEL 73, 319f); W. T. Wiesner, S. Ambrosii de bono mortis. A revised text with an introd., transl., and comm. (Washington 1970) 164f. 13 Ὅσοι τυγχάνουσιν ὀρθῶς ἁπτόμενοι φιλοσοφίας . . .
οὐδὲν ἄλλο αὐτοὶ ἐπιτηδεύουσιν ἢ ἀποθνῄσκειν τε καὶ τεθνάναι. Daher sei es für ihn als Philosophen doch
auch ganz unsinnig, sich gegen den Tod zu sträuben (ebd. 67e). – Andrerseits gilt Selbsttötung als rechtswidrig (οὐ θεμιτόν 61c), da der sorgenden Obhut der Götter sich zu entziehen unvernünftig sei (οὐκ ἔχει λόγον 61d/63a). 14 Vgl. auch Plat. Crat. 400c; Gorg. 493a.
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Manfred Wacht
Philosophisches Leben besteht dementsprechend darin, schon in diesem Leben die Seele, soweit möglich, vom Körper getrennt zu halten (καθ᾿ ὅσον δύναται ἀφεστάναι αὐτοῦ 64e). Daraus resultiert zum einen die Mißachtung körperlicher Verlockungen und Vergnügen sowie die Geringschätzung ausgesuchter Kleidung und aufwändigerer Pflege – wieder mit der Einschränkung: καθ᾿ ὅσον μὴ πολλὴ ἀνάγκη μετέχειν αὐτῶν15 –, zum andern die Überwindung körperlicher Hemmnisse um des Erwerbs der Erkenntnis (φρονήσεως κτῆσις) willen (64c/65a). Letzterem gilt Platons vorrangiges Augenmerk: Der Erkenntnis der Wahrheit ist der Korper aufgrund der Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung (65a/66b)16, aber auch wegen tausenderlei Ablenkungen (μυρίαι ἀσχολίαι), der notwendigen Nahrung, Krankheiten, sexueller Gelüste, Begierden, Ängste usw. (66bc) nur hinderlich. Das ganze Bemühen (μελέτημα) der Philosophen zielt daher darauf, sich vom Leib und den durch ihn bedingten Störungen bei der Suche nach der Wahrheit zu lösen und freizumachen (66b/67d)17. In religiöser, orphisch-pythagoreischer Tradition18 entnommener Begrifflichkeit nennt Platon diesen Prozess der Absonderung der Seele vom Körper und ihr Streben, ganz für sich zu sein, κάθαρσις (67c) oder auch λύσις καὶ χωρισμός, Lösung und Trennung von allem Körperlichen (67d), als entscheidende Vorbedingung der Erkenntnis. Vollkommen erreichbar ist die Wahrheitserkenntnis allerdings erst, wenn die Trennung von Seele und Körper völlig vollzogen ist, also erst nach dem Tode (66e. 66b/e. 67e). Solange wir leben, ist nur eine größtmögliche Annäherung an das Wissen möglich, sofern die Seele den Umgang und die Gemeinschaft mit dem Körper meidet und auf das unbedingt Notwendige beschränkt. Es gilt daher: Da der Tod Loslösung und Trennung der Seele vom Leib ist, bemühen sich die recht Philosophierenden tatsächlich um nichts weiter, als zu sterben: τῷ ὄντι . .. οἱ ὀρθῶς φιλοσοφοῦντες ἀποθνῄσκειν μελετῶσιν (67e)19. Mit dem Leib, so heißt es an späterer Stelle (80e/81a) in teils wörtlicher Übereinstimmung hiermit, hat die Seele freiwillig (ἑκοῦσα) nichts gemein, sondern sie flieht den Körper, löst sich von ihm, um sich auf sich selbst zurückzuziehen. Das ist eine Seele, die recht philosophiert und in Wahrheit darauf bedacht ist, leicht zu sterben. Denn eine sich so verhaltende Seele, die zu dem ihr Ähnlichen, dem Unsichtbaren20, Göttlichen, Unsterblichen und Vernünftigen unterwegs ist, wird nach ihrer Ankunft für alle Folgezeit glückselig sein (81a. 114c). – Der platonische Sokrates prägt für diese Haltung des Philosophen die zukunftsträchtige Formel: μελέτη θανάτου21. 15 16
Phaed. 64e; vgl. 67a; 83a. b. Ebd. 65d: οὐκοῦν καὶ ἐνταῦθα ἡ τοῦ φιλοσόφου
ψυχὴ μάλιστα ἀτιμάζει τὸ σῶμα καὶ φεύγει ἀπ᾿ αὐτοῦ, ζητεῖ δὲ αὐτὴ καθ᾿ αὑτὴν γίγνεσθαι; 17 Τὸ μελέτημα αὐτὸ τοῦτό ἐστιν τῶν φιλοσόφων, λύσις καὶ χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ σώματος ebd. 67d. 18 Zum pythagoreisierenden Hintergrund der sokratischen Rede vgl. Th. Ebert, Platon Phaidon. Übersetzung und Kommentar = Platon Werke, hrsg. E. Heitsch / C. W. Müller 1,4 (Göttingen 2004) 130. 141. 150/4. 273f mit Anm. 11. – Ebert weist zu Recht darauf hin, dass Platon in dieser sog. Apologie ›seinen Helden Sokrates zu einem pythagoreischen φιλόσοφος zu stilisieren‹ versucht, wir mithin ›keine von Platon vertretene Position vor uns haben‹ (aO. 150f). Die leib- und weltfeindliche Stimmung
ist also auch der Situation geschuldet. So schon U. v. Wilamowitz-Möllendorf, Platon. Sein Leben und seine Werke3 1 (Berlin 1959) 250f. 278f. 19 Vgl. ferner ebd. 63e/64a. 20 Auf das Wortspiel mit τὸ ἀιδές und εἰς Ἅιδου aus 80d 5f wird zurück verwiesen. 21 Ebd. 80e: τὸ δὲ οὐδὲν ἄλλο ἐστὶν ἢ ὀρθῶς
φιλοσοφοῦσα καὶ τῷ ὄντι τεθνάναι μελετῶσα ῥαδίως· ἢ οὐ τοῦτ᾿ ἂν εἴη μελέτη θανάτου; Als sprachliche Variante zu μελετᾶν erscheinen auch ἐπιτηδεύειν und προθυμεῖσθαι (64a). – Vgl. noch R. Rehn, Tod und
Unsterblichkeit in der platonischen Philosophie: G. Binder / B. Effe (Hrsg.), Tod und Jenseits im Altertum (Trier 1991), bes. 105/9; P. Friedländer, Platon 3. Die platon. Schriften2 (Berlin/New York 1960) 35 mit Anm. 8a (S. 437).
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Μελέτη θανάτου – Meditatio mortis
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Konsequenz und Inhalt dieser Doktrin sind entschiedene Leibfeindlichkeit, asketische Weltverachtung und Weltflucht, basierend auf einem ontologischen Dualismus und einem radikalen Antagonismus zwischen Seele und Leib. Sie haben ihren Sinn darin, die Freiheit von Affekten zu gewähren und das Streben nach Wahrheitserkenntnis, das erst nach dem Tod seine Erfüllung finden kann, schon in diesem Leben zu fördern. Die μελέτη θανάτου bedeutet also mehr als nur spirituelle Vorbereitung auf den Tod, mehr als bloß intellektuelle Distanz zum Körper, seinen Affekten und Unzulänglichkeiten in der Wahrheitserkenntnis, sondern Entschlossenheit zu einem bewussten Verzicht auf die Befriedigung körperlicher Begierden und Genüsse sowie die Bereitschaft zu einer leibfeindlichen Lebensweise, die durch die erwähnte Einschränkung gegen übermäßige physische Beeinträchtigungen begrenzt ist22. Spätere Platoniker knüpfen hier an mit ihrer Doktrin vom zweifachen Tod, dem natürlichen Tod und dem Tod des Philosophen23. In der Nachwirkung des platonischen Phaidon wird μελέτη θανάτου, die in Sokrates’ Darlegung als konsolatorischer Zuspruch angesichts seines unabwendbaren Todes gedacht ist24, zur programmatischen Formel25, losgelöst aus ihrer situationsbedingten Verwendung und durchaus vergleichbar etwa mit der Telosdefinition: ὁμοίωσις θεῷ nach Platons Theaetet (176b)26, wenn sie auch bei Weitem nicht deren Resonanz gefunden hat27.
22 Vgl. auch Phaed. 82d/83e. – Die Untersuchung von M. Vogel, Commentatio mortis. 2Kor 5.1–10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi = Forschungen z. Rel. u. Lit. des AT und NT 214 (Frankfurt 2006), die im Titel die ciceronische Übersetzung des platonischen Begriffs aufnimmt (s. u. S. 16), berührt in ihrem ersten Teil gelegentlich unsere Studie, zielt aber auf eine völlig andere Thematik: Die Betrachtung des antiken Todesverständnisses »aus einem kultur- und sozialanthropologischen Blickwinkel«, die neben popular- und religionsphilosophischen Texten (die bisher zumeist zugrunde gelegte Textbasis) auch Rhetorik, Biographie und Historiographie einbezieht, erschließt »als Proprium antiker Wahrnehmung des Todesproblems den fundamentalen Konnex von Anthropologie und Charakterkunde« (aO. 28). Für die platonische Formel zB. bedeutet dies: Das in der μελέτη θανάτου vorausgesetzte Todesverständnis wie die damit verbundene philosophische Todesbereitschaft ist »Wesenskern philosophischer Lebenshaltung«, die nach dem Sokratesbild des Phaidon in der Art und Weise des Sterbens, rhetorisch gesprochen: dem τρόπος τῆς τελευτῆς (PsHermog. prog. 7,43; Vogel 62f), sichtbar wird (159f). Vogel weist nach, dass Todesverständnis, Lebensgestaltung sowie Vorgang und Umstände des Sterbens nach Vorstellung der hellenistisch-römischen Welt »in vollendetem Einklang miteinander« stehen (160). 23 S. u. S. 12 und 21. 24 Dass sich der platonische Phaidon nur bedingt zu konsolatorischen Zwecken nutzen lässt, darauf sei
zumindest hingewiesen: Die dialektische Verfahrensweise führt über hypothetisches Wissen nicht hinaus, entzieht sich bewusst dogmatischer Festlegung und erreicht nicht die im konsolatorischen Argument vorausgesetzte Evidenz über die Unsterblichkeit der Seele und ein Leben nach dem Tode (vgl. auch Kassel aO. 33f; Rehn aO. 111f). 25 Vgl. M. Baltes, Die Todesproblematik in der griechischen Philosophie: Gymnasium 95 (1988) 97/128, bes. 119f; A. D. Leeman, Das Todeserlebnis im Denken Senecas: Gymnasium 78 (1971) 327/9; P. Hadot, Exercices spirituels et philosophie antique (Paris 1981) 39: »Cette formule platonicienne est d’une vérité très profonde: elle a d’ailleurs eu un immense écho dans la philosophie occidentale; même des adversaires du platonisme, comme Épicure et Heidegger, l’ont reprise«. 26 Theaet. 176ab: διὸ καὶ πειρᾶσθαι χρὴ ἐνθένδε ἐκεῖσε
φεύγειν ὅτι τάχιστα. φυγὴ δὲ όμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν. 27
Im platonischen Höhlengleichnis entspricht ihr
ψυχῆς περιαγωγή bzw. ἐπάνοδος (rep. 521c: ψυχῆς περιαγωγὴ ἐκ νυκτερινῆς τινος ἡμέρας εἰς ἀληθινήν, τοῦ ὄντος οὖσαν ἐπάνοδον, ἣν δὴ φιλοσοφίαν ἀληθῆ φήσομεν εἶναι). Alcin. did. 1,1 (O. F. Summerell / Th. Zimmer, Alkinoos, Didaskalikos. Lehrbuch der Grundsätze Platons [Berlin/New York 2007] 2 mit Anm. 1 S. 77) hat diese Formulierung in seiner Definition der Philosophie aufgenommen: φιλοσοφία
ἐστὶν ὄρεξις σοφίας ἢ λύσις καὶ περιαγωγὴ ψυχῆς ἀπὸ σώματος κτλ.
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Die hellenistischen Philosophenschulen sowohl der Stoiker wie der Epikureer nehmen die platonische Formel auf, wenn auch vor dem Hintergrund der jeweiligen Systeme in notwendigerweise abgewandelter Bedeutung. Ein namentlich nicht bekannter griechischer Stoiker definiert die Philosophie als μελέτη τοῦ φυσικοῦ θανάτου28. Allerdings gibt es berechtigte Zweifel, diese Bestimmung der Philosophie einer früheren Phase der Stoa29 zuzuschreiben. Sie ist innerhalb der Stoa singulär und setzt m. E. die Rezeption der definitorischen Formel innerhalb des Platonismus voraus. Dafür spricht auch der Kontext, in dem sie als angeblich stoisches Gut zitiert wird30. Die Rede ist dort von einem zweifachen Tod (διττὸς θάνατος), dem natürlichen Tod, der bestimmt ist durch die Trennung der Seele vom Leib und den alle Menschen erwarten, und dem freiwilligen Tod, wenn wir der Seele nicht mehr gestatten, den lustvollen Affekten des Körpers zu folgen31. Diesen Tod nehmen nur die Philosophen auf sich32. Wenn Platon also die Forderung erhebe: δεῖ μελετᾶν τὸν θάνατον, so stehe das nicht in Widerspruch zu seinem Verbot der Selbsttötung33. Denn die platonische Formulierung beziehe sich nicht auf den natürlichen Tod, sondern auf den frei gewählten Tod34. Die Stoiker hätten, wie auch Kleombrotos von Ambrakia, der sich nach der Phaidonlektüre in den Tod stürzte (Callim. epigr. 23)35, die Worte Platons missverstanden36. Daher definierten sie die Philosophie und die platonische μελέτη θανάτου als μελέτη τοῦ φυσικοῦ θανάτου, d. h. als Bedachtsein auf den für die Stoiker indifferenten Naturvorgang des Todes, und entwickelten unter diesem Stichwort die Theorie der vernunftbegründeten Selbsttötung, der εὔλογος ἐξαγωγή37. 28 SVF 3,768 (= Excerpta philos. Cod. Coislin. 387 Cramer, Anecd. Paris. 4, 403,27/405,2); der bei Cramer aO. 389/433 abgedruckte Text des Pariser Codex entspricht, bis auf geringfügige Abweichungen, Elias, prolegomena philosophiae: CAG 18,1, 1/39; vgl. A. Busse: CAG 18,1, praef. XII. 29 Auch M. Pohlenz, Die Stoa 24 (Göttingen 1972) 84 lehnt die μελέτη θανάτου für die älteren Stoiker ab; zustimmend A. Grilli: Paideia 8 (1952) 21012 trotz SVF 3, 768, ›perché lì sono confluiti materiali cronologicamente distinti‹. – Vogel (o. Anm. 22) 189 diskutiert die Problematik des Fragments nicht. 30 Vgl. Excerpta philos. aO. (s. Anm. 28) 401,23/ 402,25 (= Elias, prol. philos.: CAG 18,1, 12,18/ 14,17); David prol. phil.: CAG 18,2, 31,3/32,14. 31 Eine davon abweichende Doktrin eines zweifachen Todes, des (natürlichen) Todes der Menschen und des Todes der Seele (als Absterben des sittlichen Bewusstseins), findet sich bei Philon (leg. all. 1,105 [1, 88 C./W.]; praem. 70 [5, 351f C./W.] u. ö.), Seneca (ep. 122,3 u. ö.) und Epiktet (diss. 1,5,3/5); vgl. Th. Kobusch, Der Tod. Elemente einer Begriffsgeschichte: Binder/Effe aO. (o. Anm. 21) 168/70; E. Benz, Das Todesproblem in der stoischen Philosophie (Ann Arbor 1982) 95/103; Vogel (o. Anm. 22) 165f; s. auch u. S. 21. 32 Excerpta philos. aO. 402,5/12 (= Elias aO. 12,33/ 13,5): φυσικὸς μὲν θάνατός ἐστι χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ σώματος, ὃν πάντες ἄνθρωποι ὑπομένομεν . . . προ-
αιρετικὸς δὲ θάνατός ἐστιν ἡνίκα μὴ συγχωροῦμεν τῇ ψυχῇ ἕπεσθαι ταῖς ἡδυπαθείαις. . . . τοῦτον τὸν θάνατον
οἱ φιλόσοφοι ὑπομένουσι μόνοι, . . .); vgl. Excerpta philos. aO. 403,2/5 (= Elias aO. 13,25/7); Damasc. in Plat. Phaed. 1,53 (2, 51 Westerink); Ammon. in Porph. isag.: CAG 4,3, 5,15; David aO. 31,16ff; Olympiod. in Plat. Phaed. 1,11f; 3,1f (1, 53f. 69 Westerink); s. u. S. 2188. 33 Excerpta philos. aO. 402,14 (= Elias aO. 13,15); David aO. 31,6; Olympiod. aO. 1,11 (1, 53 W.). 34 Excerpta philos. aO. 403,1 (= Elias aO. 13,24):
θάνατον οὖν μελετητέον, οὐ τὸν μὴ εἶναι ποιοῦντα, ἀλλὰ τὸν εὖ εἶναι. – Vgl. Ammon. aO. 5,8ff; David
aO. 31,22ff. Zu Kleombrotos’ Freitod nach voraufgehender Phaidonlektüre vgl. Cic. Tusc. 1,84; Scaur. 4; Anth. Gr. 11,354,17; Ammon. in Porph. isag. 4,15/5,27 (CAG 4,3, 4,18); Excerpta philos. aO.; Elias aO. 14,2; David aO. 31,27 (die drei Letztgenannten jeweils mit Zitat des Kallimachos-Epigramms); Lact. inst. 3,18,9; Aug. civ. D. 1,22; Hieron. ad Marcell. 39,3 (PL 22, 468); Greg. Naz. c. Iulian.: PG 35, 592,16; carm. mor. 729,7; ein anderes bekanntes Beispiel ist Cato: Sen. ep. 24,6; Plut. Cato 68,792e; Lact. aO.; Hieron. aO.; vgl. R. Hirzel, Der Selbstmord (Darmstadt 1967) 262. 282f. 463. 36 Vgl. Ammon. aO. 4,19. 26 und folgende Anm. 37 Excerpta philos. aO. 403,27/30 (= Elias aO. 14,15/7): οὐ μόνος ὁ Κλεόμβροτος, ἀλλὰ καὶ οἱ 35
Στωικοὶ φιλόσοφοι, οἶον Κλεόμβροτοί τινες ὄντες, τὴν φιλοσοφίαν ὑπέλαβον μελέτην εἶναι τοῦ φυσικοῦ θανάτου· διὸ καὶ πέντε τρόπους εὐλόγου ἐξαγωγῆς ἔγραψαν. Vgl. David aO. 32,11ff; Olympiod. aO.
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Μελέτη θανάτου – Meditatio mortis
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In Senecas Schriften tritt der Tod in das Zentrum der Philosophie. Zwar gilt der Tod, wie auch das Leben, nach stoischer Güterlehre38 vor dem sittlichen Gebot der ἀρετή als letztlich indifferent (ἀδιάφορον), aber dennoch durchdringt die Angst vor dem Tod das menschliche Leben in allen seinen Phasen: metus (ultimae illius horae) .. . omnes alias inquietas facit (ep. 4,9)39. Der Philosophie fällt es zu, diese Lebensangst zu bewältigen. Sie ist daher maßgeblich geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Todes. Die meditatio mortis rückt damit in den Brennpunkt des Philosophierens und stellt ein ständig wiederkehrendes, häufig abgewandeltes Hauptmotiv in Senecas philosophischen Werken dar. Seneca gebraucht den Begriff allerdings eher im allgemeinen Sinne der stoischen praemeditatio futurorum malorum40, der intellektuellen Vorwegnahme (praesumamus animo ep. 91,7)41 zukünftigen Übels, um bei seinem Eintreten vorbereitet zu sein und in einem Akt der ratio die erstrebte seelische Ruhe (tranquillitas animi – ἀταραξία) zu bewahren. Als Methode der Affektbehandlung42 eignet sich die praemeditatio sowohl in der konsolatorischen Praxis43 wie für die paränetische oder autosuggestive44 Bewältigung jeglichen Schicksalsschlages: cogitanda ergo sunt omnia et animus adversus omnia ea, quae possunt evenire, firmandus. Exilia, tormenta [morbi], bella, naufragia meditare (ep. 91,7f). Für die Bewältigung der Todesangst gilt die meditatio mortis als wirksamstes Mittel. Sie ist das größte seelsorgerliche Anliegen Senecas. Denn wenn sonst die Vorbereitung auf einen möglichen Schicksalsschlag auch ins Leere laufen kann, macht die Gewissheit des Todes die meditatio mortis zu einer Notwendigkeit (nullius rei meditatio tam necessaria est; alia enim fortasse exercentur in supervacuum ep. 70,18). Deshalb gilt es, täglich und unaufhörlich sich darin einzuüben, das Leben mit Gleichmut verlassen zu können45. In dieser Aufforderung zur ständigen Todesbereitschaft liegt die herausgehobene Aufgabe der Philosophie, in ihrem Gelingen ihre praktische Leistung: hoc philoso1,8,19/39 (1, 49f W.). Der knappe Hinweis bei Kobusch, Der Tod: Binder/Effe aO. (o. Anm. 21) 168 auf die stoische Formulierung lässt offen, was sie eigentlich zum Inhalt hat. Kobusch übersetzt: ›Sorge um den physischen Tod‹, meint aber weder die meditatio mortis im Sinne Senecas (s. u.) noch die Einschätzung des Todes als ἀδιάφορον. Diskutiert wird auch nicht die fragliche zeitliche Einordnung des Stoikerfragments. 38 Vgl. Verf., Art. Güterlehre: RAC 13 (1984) 59/ 150, bes. 80ff; Baltes aO. 123. 39 Vgl. Verf., Angst und Angstbewältigung in Senecas Briefen: Gymnasium 105 (1998) 507/36; Vogel (o. Anm. 22) 189/202. 40 Vgl. Verf. aO. 526/30; Leeman aO. 327/29; Hadot aO. 21 mit Anm. 36. 41 Vgl. dial. 4,12,3; ep. 24,2 u. ö. 42 Vgl. dial. 4,12; ep. 4,5; 30,18 u. ö. 43 Zur praemeditatio als konsolatorischem Topos Kassel aO. 66f. 87f; H.-H. Studnik, Die consolatio mortis in Senecas Briefen, Diss. Köln (1958) 43f. – Beim Ausbleiben der praemeditatio trifft der Verlust des nahestehenden Freundes oder Verwandten den Zurückgebliebenen unvorbereitet und daher um so
heftiger: Sen. ep. 63,15; dial. 12,5,3; Ambr. exc. Sat. 1,35. 40 (CSEL 73, 229. 231); bon. mort. 8,32 (CSEL 32,1, 731); dazu auch Cic. Tusc. 3,29/31: inprovisa graviora (30) . . . provisa leviora (31); ebd. 52. 44 Man kann sich angesichts des endlosen und fast schon ermüdenden Kreisens in den Briefen Senecas um den Tod und die Todesangst kaum des Eindrucks erwehren, dass es neben dem Rat und Beistand für den Adressaten auch um die angestrengte Bewältigung der eigenen Todesangst geht. – Ausführlicher zur praemeditatio futurorum malorum bei Seneca und ihrem philosophiehistorischen Hintergrund Verf., Angst 526/32. – Der Begriff praemeditatio oder praemeditari selbst kommt in Senecas Schriften (außer ep. 107,4: praemeditata in passiv. Sinne) nicht vor, stattdessen verwendet Seneca neben meditatio auch andere Begriffe: s. Verf. aO. 529. 45 Vgl. ep. 82,8: faciet autem illud (pectus) firmum adsidua meditatio, si non verba exercueris sed animum, si contra mortem te praeparaveris; vgl. ebd. 16: magna exercitatione durandus est animus, ut conspectum eius accessumque patiatur; ep. 4,5; 61,2. 4; 63,15 u. ö.; Marc. Aur. 11,3,1.
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phia praestat, in conspectu mortis hilarem (ep. 30,3; vgl. ebd. 12)46. Dass Seneca selbst die meditatio mortis mit Erfolg pflegte, belegen die mahnenden Worte, die er nach Tacitus’ Schilderung in der Todesstunde an seine Gattin Pompeia Paulina richtet: ubi tot per annos meditata ratio adversum imminentia? (ann. 15,62)47. Nur an einer Stelle nimmt Seneca, soweit ich sehe, Bezug auf die meditatio mortis im Sinne des platonischen Phaidon: In seiner Trostschrift an Marcia, deren Sohn allzu früh verstorben war, greift Seneca auf allgemeine, in der antiken Konsolationsliteratur bereitgestellte Trostgründe zurück. Angesichts des trügerischen menschlichen Lebens (dial. 6,22,1/3) bewahrheite sich, dass das größte Glück sei, nicht geboren zu werden, das zweitgrößte, nach kurzer Lebenszeit schnell in Sicherheit gebracht zu werden (si felicissimum est non nasci, proximum est .. . brevi aetate defunctos cito in integrum restitui 22,3)48. Auch die persönlichen schmerzlichen Erfahrungen, die Marcia als Tochter des unter Tiberius in den Tod getriebenen Historikers A. Cremutius Cordus habe durchstehen müssen49, bestätigen die Wechselhaftigkeit des Schicksals (iniquorum temporum vices) und die bedrückende Gewissheit, dass man vom Leben auf Dauer mehr Schlimmes als Gutes zu erwarten habe (quod omne futurum incertum est et ad deteriora certius 22,8/23,1). All das erklärt – und damit lenkt Seneca auf den Tod des früh vollendeten und reifen Sohnes50 zurück –, dass großen Geistern das Verbleiben im Körper nie besonders lieb war, sie vielmehr heftig danach streben, zu entkommen und auszubrechen; nur mit Mühe ertragen sie diese Enge, gewohnt, der Welt enthoben das All zu durchdringen und aus der Höhe auf das menschliche Treiben herabzublicken. Das meint, so Seneca, der Ausspruch Platons, dass der Geist des Weisen sich ganz dem Tod zuneige, danach strebe, dieses ›einübe‹ und immer vom Verlangen danach getrieben werde, da er strebe, den Körper zu verlassen51. Das platonische Motiv dient hier im Kontext des Trostzuspruchs deutlich dazu, den allzu früh Verstorbenen als einen weisen, über die Wechselfälle des Schicksals bereits während seines Lebens erhabenen Menschen darzustellen52. Es ist Bestandteil der Beschreibung eines Weisen, der sich durch die Abkehr von allem Weltlichen ganz im Sinne der dualistischen Stimmung des platonischen Phaidon dem Leben in einer anderen, vollkommeneren Welt zugewandt hat53. Der Tod des Sohnes – und darin Vgl. Marc. Aur. 2,3,3; 2,17,4. Cato ist hierin das unübertreffliche Beispiel: aggredere, anime, diu meditatum opus, eripe te rebus humanis (Sen. prov. 2,10). – In medizinischem Sinne, so Seneca ep. 54,2, verwenden Ärzte die Formel für seine Krankheit, eine wiederkehrende, chronisch gewordene Atemnot, mit der er seit früher Jugend zu kämpfen hat. Senecas Beschreibung verdeutlicht, dass es sich hierbei um Anfälle handelt, die ihn in beklemmende Todesangst versetzen: Itaque medici hanc ›meditationem mortis‹ vocant; facit enim aliquando spiritus ille, quod saepe conatus est. 48 Vgl. Cic. Tusc. 1,114: (Silenus) docuisse regem (Midam) non nasci longe optimum esse, proximum autem quam primum mori; Johann aO. (o. Anm. 10) 102/4; s. o. S. 8. 49 Tacitus (ann. 4,34f) hat dem Vater ein bleibendes Denkmal gesetzt. 50 Vgl. bes. aO. 12,3; 21,4f. 46 47
51 AO. 23,2: nec umquam magnis ingeniis cara in corpore mora est: exire atque erumpere gestiunt, aegre has angustias ferunt, vagari per omne sublimes et ex alto adsueti humana despicere. inde est quod Platon clamat: sapientis animum totum in mortem prominere, hoc uelle, hoc meditari, hac semper cupidine ferri in exteriora tendentem. 52 Zum Motiv der Trostliteratur ›puer senilis‹ bzw. ›senilis in iuvene prudentia‹ etwa E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter3 (Bern/München 1961) 109. 53 Die Nähe des Schlussteils der Trostschrift Senecas zu poseidonischem Gedankengut hat überzeugend nachgewiesen K. Abel, Poseidonios und Senecas Trostschrift an Marcia (dial. 6,24,5ff): RhMus 104 (1964) 221/60. Die oben besprochene Passage mit ihrer deutlichen Anspielung auf die platonische μελέτη θανάτου wirkt wie eine knappe gedankliche Vorwegnahme bzw. Hinführung zu diesem Finale.
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Μελέτη θανάτου – Meditatio mortis
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liegt das Tröstliche für die Mutter – ist daher nur die bleibende und unverlierbare Erfüllung seines Strebens. Unter den Stoikern beruft sich nur noch Epiktet an einer Stelle ausdrücklich auf die μελέτη θανάτου des platonischen Phaidon, ohne allerdings auf den spezifischen platonischen Inhalt Rücksicht zu nehmen: Nur das Sittliche ist geboten, in jeder anderen Hinsicht ist der Mensch frei. Für diese Freiheit wird er sich darauf vorbereiten, nicht nur zu sterben, sondern auch gefoltert, verbannt, misshandelt zu werden und alles aufzugeben, was ihm nicht gehört54. Der platonischen Formulierung sehr nahe kommt die folgende Passage bei Epiktet: ἄλλοι μελετάτωσαν δίκας, ἄλλοι προβλήματα, ἄλλοι συλλογισμούς· σὺ ἀποθνῄσκειν, σὺ δεδέσθαι, σὺ στρεβλοῦσθαι, σὺ ἐξορίζεσθαι (diss. 2,1,38). Der Kontext macht allerdings auch hier deutlich, dass nicht zwingend an die platonische μελέτη θανάτου gedacht ist, sondern es ganz im Sinne der praemeditatio mortis darum geht, sich auf alle denkbaren Schicksalsschläge und letztlich auch auf den Tod vorzubereiten. Für Epikur besteht die μελέτη θανάτου, entsprechend seiner Todesauffassung55, in der Gewöhnung an den Gedanken, dass der Tod uns nichts angeht: συνέθιζε δὲ ἐν τῷ νομίζειν μηδὲν πρὸς ἡμᾶς εἶναι τὸν θάνατου (ep. 3,124)56. Die ständige Vergegenwärtigung dieses philosophischen Hauptsatzes57 führt zur Befreiung von den bedrückendsten Ängsten und ermöglicht erst den Genuss des Lebens. Daher gilt: Die Sorge für ein schickliches Leben und ein schickliches Sterben ist dieselbe: τὴν αὐτὴν εἶναι μελέτην τοῦ καλῶς ζῆν καὶ τοῦ καλῶς ἀποθνῄσκειν (ebd. 126; vgl. frg. 205 Us.). Die epikureische μελέτη θανάτου wendet sich also eher gegen den Sinn des platonischen Phaidon, da sie als die richtige Einstellung zum Tod, die keine Furcht aufkommen lässt, die Gewähr bietet für ein angenehmes Leben58. Sie dient auch nicht wie die stoische praemeditatio dazu, uns in zukünftige mala einzuüben59, sondern befreit unser Denken von der beänstigenden Erwartung künftiger Übel und lenkt den Blick auf die gegenwärtigen Freuden60. Erstmals – soweit uns das aufgrund des lückenhaften Überlieferungsbefundes fassbar ist – findet sich die μελέτη θανάτου in ihrer ursprünglichen platonischen BedeuFür Poseidonios selbst gibt es keinen Hinweis auf die platonische Formel. 54 Epict. diss. 4,1,172: οὐχ, ὡς Πλάτων λέγει, μελετή-
σεις οὐχὶ ἀποθνῄσκειν μόνον, ἀλλὰ καὶ στρεβλοῦσθαι καὶ φεύγειν καὶ δέρεσθαι καὶ πὰνθ᾿ ἁπλῶς ἀποδιδόναι τἀλλότρια; vgl. ebd. 1,1,25; Vogel (o. Anm. 22) 203f. 55 Der Tod gilt als ›schauerlichstes aller Übel‹ (τὸ φρικωδέστατον . . . τῶν κακῶν ep. 3,125). Vgl. rat. sent. 2; Gnom. Vat. 2; Lucr. 3,830 u. ö. Μελέτη ist neben dem Verb μελετάω einer der psychagogischen Grundbegriffe epikureischen Philosophierens, dessen therapeutisches Ziel, die Heilung menschlicher Affekte (vgl. 221 Us.), durch die ständige Vergegenwärtigung und Beherzigung der hauptsächlichen philosophischen Lehren des Meisters erreichbar ist: ταῦτα οὖν καὶ τὰ τούτοις συγγενῆ μελέτα πρὸς σεαυτὸν ἡμέρας καὶ νυκτὸς πρός ὅμοιον σεαυτῷ (ep. 3,135). Die bündigste Zusammenfassung der Hauptlehren liegt vor in der sog. τετραφάρμακος, deren zweiter Punkt lautet: 56 57
ἀνύποπτον ὁ θάνατος (Philod. Pap. Herc. 1005 col. 4,8; C. Diano, Epicuri ethica [Florenz 1946] 22; vgl. Us. p. 69; ep. 3,133). Die μελέτη θανάτου ist demzufolge nur herausragender, jedoch zentraler ›Spezialfall‹, nämlich Therapie gegen Todesfurcht. – Vgl. W. Schmid, Art. Epikur: RAC 5 (1961) 743/5. 58 Sen. ep. 26,8f (vgl. Epicur. frg. 205 Us.) interpretiert die epikureische μελέτη θανάτου ganz im stoischen Sinne. 59 Die stoische praemeditatio mortis wie die anderer Unglücksfälle wird abgelehnt, da sie ein lustvolles Leben verhindere (Cic. Tusc. 3,32/5). 60 M. Hossenfelder, Epikur = Beck’sche Reihe 520 (München 1991) 83: ›Die ideale Haltung gegenüber Leben und Tod ist die der hinnehmenden Gelassenheit‹; Baltes (o. Anm. 25) 125/8. – Vgl. noch Philodem. mort. col. 38,14ff (T. Kuiper, Philodemus over den dood [Amsterdam 1925] 164 mit Komm. zSt. 107/13).
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tung in den Tusculanae disputationes Ciceros. Verhandelt wird im ersten Buch unter dem Thema ›Todesfurcht‹, dass der Tod nicht nur kein Übel, sondern sogar ein Gut sei. Die Disposition folgt dabei dem aus Platons Apologie stammenden und in der Konsolationsliteratur geläufigen Schema, dass der Tod entweder Empfindungslosigkeit oder Übergang in ein anderes Leben bedeute (quaedam quasi migratio commutatioque vitae Tusc. 1,27), für die, die sittlich gut gelebt haben, in ein besseres Leben. Der Untermauerung dieses Glaubens dienen mehrere Beweise der Unsterblichkeit der Seele, meist platonischer Provenienz61. Sie münden in einen Epilog, dessen erster Teil den sterbenden Sokrates nach dem Vorbild des Phaidon (71bff) vor Augen führt: Der feste Glaube an die Unsterblichkeit der Seele gab Sokrates die Gewissheit, in den Himmel aufzusteigen62. Dies um so eher, da doch das ganze Leben der Philosophen, wie Sokrates selbst sage, eine Einübung des Todes sei (tota enim philosophorum vita .. . commentatio mortis est Tusc. 1,74); ›denn was tun wir anderes, wenn wir den Geist von der Lust, d. h. vom Körper, vom Besitz, der Gehilfin und Dienerin des Körpers ist, vom Staat und aller Geschäftigkeit abziehen, . . . als die Seele zu zwingen, bei sich selbst zu sein und sich möglichst weit vom Körper zu entfernen?‹ Der römische Staatsmann übernimmt, wie deutlich erkennbar ist, den gesamten platonischen Gedanken, gibt ihm allerdings eine ethisierende Wendung, die den erkenntnistheoretischen Aspekt ausklammert, und erweitert ihn um den typisch römischen, politischen Aspekt63. Gerade Letzteres, der Rückzug vom Staatsleben und jeder Form der Geschäftigkeit (cum a re publica, cum a negotio omni sevocamus animum ebd.), rückt die commentatio mortis in die Nähe des ciceronischen otium. Cicero übersetzt, anders als dies bei späteren Autoren zur Regel wird, die platonische μελέτη θανάτου mit commentatio mortis und umschreibt den Begriff mit mori discere oder hoc (i. e. mori) commentari bzw. mori consuescere. Das derart gestaltete Philosophenleben wird, selbst solange wir auf Erden sein werden, dem Leben im Himmel ähnlich sein, während das Leben in den Fesseln des Körpers Tod bedeutet64. In Philons Schriften und im gesamten Mittelplatonismus klingt das platonische Motiv nur gelegentlich an: Die Verschmelzung der religiösen Lehren des Judentums mit den Theorien der griechischen Philosophie, vornehmlich des Platonismus und der Stoa, prägt bekanntlich Philons Schriften. Er teilt Platons strengen Dualismus zwischen Seele und Leib und sieht in deren Verbindung die Ursache aller sittlichen Gefährdung und die Quelle allen Übels. Todessehnsucht im Sinne einer asketischen Erhebung der Seele über das Leibliche und Sinnliche ist daher auch ihm ein geläufiger Gedanke65: Dem ZB. Tusc. 1,57 die ἀνάμνησις-Lehre aus dem platonischen Menon (81c/86c), Phaidon (72e/77d) und Phaidros (249c/250c), die Selbstbewegung der Seele nach dem platonischen Phaidros (245c). 62 Vgl. aO. 1,74. – Als römisches Beispiel und Gegenstück zu Sokrates hebt Cicero Cato hervor, der sich bei Thapsus iJ. 46 vC. selbst den Tod gab, nachdem er seine republikanischen Ideale endgültig verloren sah (vgl. Pohlenz, Komm. zSt. [S. 96f]). Cicero stilisiert ihn zum weltabgewandten Philosophen, wodurch »das in Cato verwirklichte Ideal philosophischer Todesbereitschaft in den unmittel61
baren historischen Kontext« gerät (Vogel [o. Anm. 22] 171/3). 63 Vgl. aO. 1,72 mit Pohlenz zSt. (S. 95). 64 Tusc. 1,75: hoc (sc. mori consuescere), et dum erimus in terris, erit illi caelesti vitae simile (vgl. ebd. 1,72: in corporibus humanis vitam imitati deorum) . . . quo cum venerimus, tum denique vivemus. nam haec vita mors est. 65 Vgl. etwa gig. 31/3 (2, 48 C./W.); migr. Abr. 9 (2, 270); ebr. 101 (2, 189); leg. alleg. 3,42 (1, 122); quis rer. div. her. 273f (3, 62).
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Weisen, so deutet er die Berufung Abrahams (Gen. 12,1), ist aufgegeben, sich vom Leib zu befreien, nicht durch Tod im vordergründig gemeinen Sinne, sondern in Gedanken (migr. Abr. 2/13 [2,268/71 C./W.]). Näher am platonischen Phaidon formuliert Philon gig. 14 (2,44,9ff C./W.): Er teilt hier die Seelen in zwei bzw. drei Gruppen: 1. Seelen, die niemals mit einem Teil der Erde in Verbindung traten und Gottes Diener sind zur Aufsicht über die Sterblichen; 2. Seelen, die in die Körper hinabgestiegen und vom Strudel des Sinnlichen ergriffen werden, bzw. solche, die sich von den Einflüssen des Körpers freigemacht haben. Letztere sind die Seelen der echten Philosophen. Sie sind vom Anfang bis zum Ende darauf bedacht, dem Leben mit ihren Körpern abzusterben, damit sie das unkörperliche Leben bei dem Ungewordenen und Unvergänglichen erlangen (αὗται μὲν οὖν εἰσι
ψυχαὶ τῶν ἀνόθως φιλοσοφησάντων, ἐξ ἀρχῆς ἄχρι τέλους μελετῶσαι τὸν μετὰ σωμάτων ἀποθνῄσκειν βίον, ἵνα τῆς ἀσωμάτου καὶ ἀφθάρτου παρὰ τῷ ἀγενήτῳ καὶ ἀφθάρτῳ ζωῆς μεταλάχωσιν). Wahre Philosophie wird auch hier definiert im Anschluss an den platonischen Phaidon als μελέτη θανάτου66.
Plutarchs ethische Grundsätze und deren Nähe zur aristotelischen Tugend- und Affektenlehre lassen die platonische Abwertung des Körperlichen und dessen leibfeindliche Askese nicht erwarten, doch lässt sein Eklektizismus durchaus solche Stimmen zu. So beruft sich Plutarch im festen Glauben an die Unsterblichkeit und das wahre Leben nach dem Tod, zu dem er sich als Platoniker und Eingeweihter in die Dionysosmysterien bekennt (cons. ad ux. 10,611d), auf die platonische μελέτη θανάτου und den damit vorausgesetzten strengen Dualismus67. In der Streitschrift gegen Epikur: non posse suaviter vivi secundum Epicurum versucht er aufzuzeigen, dass die nach epikureischer Lehre im Tod eintretende Auflösung und Empfindungslosigkeit keineswegs die Furcht vor dem Tod aufhebe (τὸ γὰρ »ἀναισθητεῖν τὸ διαλυθὲν καὶ μηθὲν εἶναι πρὸς ἡμᾶς τὸ ἀναισθητοῦν« οὐκ ἀναιρεὶ τὸ τοῦ θανάτου δέος 27,1105a), vielmehr beraube die Leugnung der Unsterblichkeit die Menschen der schönsten und größten Hoffnungen (τὰς ἡδίστας ἐλπίδας καὶ μεγίστας 28,1105c). Sie könne daher kein Trostmittel gegen die Furcht vor dem Tod liefern. Erst recht enttäusche Epikurs Lehre diejenigen, die ein frommes und gerechtes Leben geführt haben, in ihrer Hoffnung, im Jenseits die schönsten und göttlichsten Gaben (τὰ . . . δὲ κάλλιστα καὶ θειότατα) zu erlangen, während die anderen für ihre Frevel die gebührende Strafe (ἂξίαν δίκην) zahlen müssten (ebd.). Die Argumentation Plutarchs gipfelt in der Charakterisierung der Gruppe der Philosophen, die in deutlicher Anlehnung an Platons Phaidon beschrieben werden, ohne Platons Namen zu nennen: ›Ferner hat keiner von denen, die hier in diesem Leben
66 Ohne Zweifel mit Blick auf Platons Phaidon beschreibt Philon, quod det. pot. ins. 34 (1, 265,24ff), die entsagende Lebenshaltung der sog. Tugendfreunde (οἱ λεγόμενοι φιλάρετοι). Sie ertragen vielfache Entbehrungen, Hunger, Krankheit und streben danach zu sterben (μελετῶντες ἀποθνῄσκειν). – Ganz anders zu verstehen ist die Wendung: καθ᾿ ἑκάστην ἡμέραν μελετῶν τὸ ἀποθνῄσκειν quaest. in Gen. 4,173 (191 Petit). Hier meint Philon den Sündentod, auf den das Leben der Schlechten aus ist.
67 Vgl. auch quaest. conv. 8,2,718d: Die Behinderung philosophischer Erkenntnis, die als Schau der geistigen und unvergänglichen Natur Telos der Philosophie ist (θέα [τῆς νοητῆς καὶ ἀιδίου φύσεως] τέλος ἐστὶ φιλοσοφίας), durch das Ungenügen des Wahrnehmungsvermögens und der mit dem Körper verbundenen Affekte ist mit dem Bild des platonischen Phaidon (83d) von der Annagelung der Seele an den Leib beschrieben.
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von Sehnsucht nach Wahrheit und dem Anblick des Seienden ergriffen waren, sich darin hinreichend Erfüllung verschafft, da er einen wie durch Dunst und Nebel des Körpers trüben und gestörten Verstand nutzen musste; doch nach Art eines Vogels ihren Blick nach oben richtend, als wollten sie ihrem Körper entfliehen hin zu einem großen und glänzenden Ziel, machen sie ihre Seele leicht und frei von allem Sterblichen, indem sie die Philosophie zur Übung im Sterben nutzen (τῷ φιλοσοφεῖν μελέτῃ χρώμενοι τοῦ ἀποθνῄσκειν)‹68. So ist Platons Jenseitshoffnung und die Erwartung, dass die Seele dort ihr wahres Leben finden wird, eine tröstlichere Betrachtung des Todes als Epikurs Lehrsatz, dass mit dem Tod alles vorbei sei69. Apuleius verknüpft im zweiten, ethischen Fragen gewidmeten Teil seiner Abhandlung ›de Platone et eius dogmate‹ die religiös gestimmte Jenseitshoffnung des platonischen Phaidon mit der Darstellung des Idealbildes des stoischen Weisen (aO. 2,20/ 3). Deren traditionelle Motive, etwa die Autarkie des Weisen – nicht nur als Unabhängigkeit von allen zeitbedingten Umständen, sondern geradezu als der Zeit schlechthin enthobene Existenz beschrieben70 –, oder die Apathie des Weisen, sein umfassender Tugendbesitz usw., verbinden sich mit der unerschütterlichen Zuversicht in das dem Menschen zugewandte Wirken der Götter und dem festen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele71. Von dem stoischen Lehrsatz ausgehend, dass allein der Weise reich sei, weil er in den Tugenden einen alles übertreffenden Schatz besitze und nur er die Dinge richtig zu nutzen wisse, Bedürftigkeit zudem nur durch die Maßlosigkeit der vom Körper ausgehenden Begierden entstehe, leitet er über zur platonischen μελέτη θανάτου; denn aus all dem folge als Aufgabe des Philosophen, wenn er über alle Bedürfnisse erhaben, allem gegenüber unbeugsam und allem überlegen sei, was nach menschlicher Einschätzung bitter zu ertragen sei, nichts anderes zu betreiben und nach nichts anderem zu streben, als seine Seele von der Gemeinschaft mit dem Körper zu lösen72, und daher sei die Philosophie anzusehen als heftiges Verlangen nach dem Tod und Eingewöhnung ins Sterben: existimandam philosophiam esse mortis adfectum consuetudinemque moriendi (aO. 2,21 [124,16f]). 68
Plut. non posse suav. vivi sec. Epic. 28,1105d:
ἔπειτα τῆς ἀληθείας καὶ θέας τοῦ ὄντος οὐδεὶς ἐνταῦθα τῶν ἐρώντων ἐνέπλησεν ἑαυτὸν ἱκανῶς, οἷον δι᾿ ὁμίχλης ἢ νέφους (vgl. Plat. Tim. 49c 4f) τοῦ σώματος ὑγρῷ καὶ ταραττομένῳ τῷ λογισμῷ χρώμενος, ἀλλ᾿ ὄρνιθος δίκην ἄνω βλέποντος ὡς ἐκπτησόμενοι τοῦ σώματος εἰς μέγα τι καὶ λαμπρόν, εὐσταλῆ καὶ ἐλαφρὰν ποιοῦσιν τὴν ψυχὴν ἀπὸ τῶν θνητῶν, τῷ φιλοσοφεῖν μελέτῃ χρώμενοι τοῦ ἀποθνῄσκειν. – ZSt. vgl. H. Dörrie† / M. Baltes, Die philosophische Lehre des Platonismus: dies. (Hrsg.), Der Platonismus in der Antike 4 (StuttgartBad Cannstatt 1996) 248f. – Vgl. ferner PsPlut. cons. Apoll. 13,108a/d mit wörtl. Zitat von Plat. Phaed. 66b/67a, ohne allerdings den Begriff der μελέτη θανάτου aufzunehmen; im Zusammenhang der consolatio geht es hier um das Lob bzw. die Vorzüge des Todes (s. o. Anm. 6). 69 Mit dem Glauben an die Unsterblichkeit ist engstens verknüpft der Glaube an die göttliche Vorsehung und Fürsorge. Die epikureische Theologie gilt als Gottlosigkeit, ἀθεότης. Sie kann zwar vor
Aberglauben und Furcht bewahren, nimmt aber dem Menschen die Zuversicht im Glück ebenso wie die Zuflucht im Unglück (non posse suav. vivi sec. Epic. 20/3,1101b/c). 70 Apul. Plat. 2,20 (122,17f Thomas): hunc (sapientem) repente praeteriti futurique aevi ultimas partes adtingere et esse quodammodo intemporalem; vgl. Sen. brev. vit. 15,4/5; prov. 1,5. 71 Apul. Plat. 2,20 (123,15/8): (sapiens) sibi[que] persuadeat pertinere res suas ad inmortales deos. iam ille diem mortis suae propitius nec invitus expectat, quod de animae inmortalitate confidat; nam, vinculis liberata corporeis, sapientis anima remigrat ad deos et pro merito vitae purius castiusque transactae hoc ipso usu deorum se condicioni conciliat. 72 Ebd. 2,21 (124,12/6): philosophum oportet, si nihil indigens erit et omnium contumax et superior iis, quae homines acerba toleratu arbitrantur, nihil sic agere, quam ut semper studeat animam corporis consortio separare, etc.
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Auch wenn Apuleius in der lateinischen Übertragung des platonischen Begriffes sich weder Cicero noch Seneca anschließt, so steht der Bezug zum Phaidon doch außer Frage. Offenkundig ist aber auch, dass Platons Gedanke bei dem Mittelplatoniker eine ganz und gar ethische Deutung erfährt: In stoisch gefärbter Lesart wird die μελέτη θανάτου als Streben des Weisen nach Autarkie und Apathie interpretiert, dagegen bleibt der gnoseologische Aspekt, dass die Erkenntnisfähigkeit des Geistes durch seine Verbindung mit dem Leib herabgemindert sei, unbeachtet73. Weit größere Bedeutung hat die μελέτη θανάτου bei den Neuplatonikern, offensichtlich begründet in der nachdrücklicher propagierten Weltabstinenz. Bei Plotin selbst finden wir allerdings wider Erwarten den Begriff nicht verwendet. Obwohl er in dem selbstverschuldeten Abfall vom Intellegiblen und der Verbindung der Seele mit dem ihr fremdartigen Leib die Ursache menschlicher Unvollkommenheit sieht74, ihre Verstrickung in die Materie als Tod der Seele deutet75, den Leib als Fessel und Grab der Seele76, als Störung und Hemmnis der wahren Erkenntnis und des reinen und vollendeten Daseins der Seele (ἡ τελεία ζωή enn. 1,4,4,6) abwertet77 und er demzufolge ihre Abkehr vom Sinnlichen und Körperlichen als Ziel philosophischen Bemühens hinstellt78, scheint er den bisweilen naheliegenden Begriff der μελέτη θανάτου geradezu zu meiden; jedenfalls ist das der Eindruck, den enn. 3,6,5 macht. Hier bedient er sich, um die Loslösung der Seele von ihrer Verstrickung in den Leib und das Böse einzufordern, mit deutlichem Bezug auf Plat. Phaed. 67c der dort eingeführten Begriffe κάθαρσις und χωρισμός bzw. eines fast wörtlichen Zitats: τὸ χωρίζειν αὐτὴν (sc. τὴν ψυχήν) ἀπὸ τοῦ σώματος79, ohne Platon namentlich zu nennen und ohne der platonischen Argumentationskette, die auf die μελέτη θανάτου zuläuft, weiter zu folgen. Das ist um so erstaunlicher, als er an anderer Stelle, ebenfalls ganz nahe an Platon, dessen Interpret er ja sein will (enn. 5,1,8), der Todesfurcht mit dem Argument entgegentritt, dass das Getrenntsein von Seele und Leib für den keinen Schrecken berge, der es liebe mit seiner Seele allein zu sein; denn Seelengröße bedeute Verachtung der Erdendinge und Weisheit sei Denken in Abneigung gegen das Untere und führe die Seele hinauf zum Oberen80. Porphyrios nimmt dagegen an mehreren Stellen den platonischen Begriff μελέτη θανάτου auf. Er vertritt eine eher praktisch-religiöse Ausrichtung der neuplatonischen
73 Auf ein Fragmentum incertum des Apuleius sei nur hingewiesen; es ist zu unvollständig, um daraus weitergehende Schlüsse zu ziehen, aber es scheint immerhin in diesen Kontext zu passen: principium vitae . . . obitus meditatio est (frg. 19a: W. A. Oldfather / H. V. Canter / B. E. Perry, Index Apuleianus [Hildesheim/New York 1979] XI) 74 Vgl. enn. 5,1,1; 4,8,4,1f. 10/31 (nach Plat. Phaedr. 246bc. 248c); 4,8,7,1/17; für Plotins Biographen Porphyrios (vit. Plot. 1,1) ist das die bezeichnende Lebenshaltung seines Lehrers, der sich geschämt haben soll, in einem Körper zu sein. 75 Vgl. enn. 1,8,13,21/4: ἀποθνῄσκει οὖν, ὡς ψυχὴ ἂν
θάνοι, καὶ ὁ θάνατος αὐτῇ καὶ ἔτι ἐν τῷ σώματι βεβαπτισμένῃ ἐν ὕλῃ ἐστὶ καταδῦναι καὶ πλησθῆναι αὐτῆς καὶ ἐξελθούσῃ ἐκεῖ κεῖσθαι κτλ.; vgl. 1,6,5,34/7.
Vgl. enn. 4,8,3,4; 4,8,1,33; 4,8,4,21/8. Enn. 1,1,10,7/12; 1,4,7,15/7. 78 Enn. 1,2,1. 3: λέγων δὴ ὁ Πλάτων τὴν ὁμοίωσιν τὴν πρὸς τὸν θεὸν φυγὴν τῶν ἐντεῦθεν εἶναι (nach Plat. Theaet. 176a); vgl. 1,1,10,7/10; 1,6,6,19; 1,7,3,19/22. 79 Plat. Phaed. 67c 5/7: κάθαρσις δὲ εἶναι ἆρα οὐ τοῦτο συμβαίνει . . . τὸ χωρίζειν ὅτι μάλιστα ἀπὸ τοῦ σώματος τὴν ψυχὴν . . . – Reinigung und Lossagung vom Körper sind Grundbegriffe der plotinischen Ethik; vgl. etwa enn. 1,2,3,12/23; 1,6,6,1f. 13f. 80 Enn. 1,6,6,9: ὁ δέ ἐστιν ὁ θάνατος χωρὶς εἶναι τὴν 76 77
ψυχὴν τοῦ σώματος. οὐ φοβεῖται δὲ τοῦτο, ὃ ἀγαπᾷ μόνος γενέσθαι. μεγαλοψυχία δὲ δὴ ὑπεροψία τῶν τῇδε. ἡ δὲ φρόνησις νόησις ἐν ἀποστροφῇ τῶν κάτω, πρὸς δὲ τὰ ἄνω τὴν ψυχὴν ἄγουσα; vgl. 1,7,3,14.
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Philosophie81; insbesondere seine Schrift περὶ ἀποχῆς ἐμψύχων ist Aufruf zu einer streng asketischen Lebensweise. Die Enthaltung vom Fleischgenuss, ein πάλαιον δόγμα καὶ θεοῖς φίλον (abst. 1,3,1), ist mehr als eine bloß diätetische Forderung, sie steht vielmehr für die strikte Vermeidung jeglicher Genusssucht. Der Mensch, in seiner eigentlichen Natur Geistwesen, aber verbunden mit dem Sterblichen und herabgezogen aus dem, was ihm eigen ist, in ein ihm Fremdes (1,30,7)82, muss deshalb alles ablegen, was seiner vergänglichen Natur angehört mitsamt der Neigungen (προσπάθειαι), durch die die κατάβασις des Geistes ausgelöst wurde, und sich seines seligen und ewigen Wesens erinnern, um auf dem entgegengesetzten Wege wieder hinaufzugelangen, wie er hinabgesunken ist (ebd. 5). Die daraus resultierende Forderung der Askese, nicht nur bezogen auf strengen Vegetarismus, sondern auf alles, was geeignet ist, in unseren Seelen Leidenschaften zu wecken (abst. 1,33,1; 1,54,2f; 2,45,4), findet ihre Einschränkung lediglich durch das, was zum kargen Lebensunterhalt und zur Fortpflanzung unbedingt notwendig ist (1,38,2; 31,1). Nur durch die Lossagung von allem Körperlichen und Sinnlichen, die viel Kampfkraft und Mühe kostet (1,35,1f), erreicht der Mensch sein Telos, sich der Gottheit anzunähern (1,57,1; 2,45,4; 61,1. 5)83. Dabei legt Porphyrios größten Wert darauf, dass diese Lebenshaltung sich im Handeln verwirklicht, nicht bloßes theoretisches Gebaren ist: δι᾿ ἔργων ἡμῖν τῆς σωτηρίας, οὐ δι᾿ ἀκροάσεως λόγων ψιλῆς γιγνομένης (1,57,2)84. Diesen asketischen Verzicht beschreibt die platonische Formel der μελέτη θανάτου am Ende des 2. Buches als Kern des philosophischen Lebens (abst. 2,61,8). Sie steht auch dort als charakterisierende Periphrase für die, die einer philosophischen Lebensführung anhängen: οἳ καθ᾿ ἡμέραν μελέτην ἐν τῷ βίῳ τὸ ἀποθνῄσκειν τοῖς ἄλλοις πεποιήμεθα85, und umfasst in τοῖς ἄλλοις alles, was materielle Verunreinigung hervorruft.
81 Vgl. etwa ad Marc. 31 (= Epic. frg. 221 Us.): Leer und nichtig ist eines Philosophen Wort, durch das kein Affekt eines Menschen geheilt wird. 82 Der Leib ist das Gewand der Seele, das uns verunreinigt und beschwert und dessen wir uns entledigen müssen (abst. 1,31,3; 2,45,4/46,1; vgl. J. Bouffartigue / M. Pattillon, Porphyre, de l’abstinence 1/3 [Paris 1977/95], hier 1, 37/41). Κάθαρσις bzw. ἁγνεία sind auch bei Porphyrios Schlüsselbegriffe für die philosophische Reinigung und Reinheit vom Körperlichen und Befreiung aus den Fesseln des Sinnlichen, die zur ἀπάθεια und ὁμοίωσις θεῷ führt, hier noch stärker religiös gefärbt als bei Platon und Plotin (vgl. abst. 2,45,4. 61,1; 4,20,1/16; ad Marc. 13f. 32; sent. 32 [24/7 Lamb.]). 83 Vgl. ad Marc. 32; regr. an.: Aug. civ. d. 10,29: omne corpus esse fugiendum, ut anima possit beata permanere cum Deo; Claud. Mamert. 2,9 (CSEL 11, 128,13; 131,14). 84 Das Ungenügen der rein theoretischen Weisheit, des bloßen Ansammelns von Wissen und der Anhäufung von Kenntnissen (λόγων ἄθροισις καὶ μαθημάτων πλῆθος), zur Erlangung der Eudaimonia ist wiederholt Thema in Porphyrs Schrift, vielmehr ist eine entsprechende Lebensgestaltung (ἡ κατ᾿ αὐτὰ φυσίωσις καὶ ζωή) deren unabdingbare Vorausset-
zung (abst. 1,29,1/6; ad Marc.14. 16f; vgl. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen 3,25 [Leipzig 1923] 721). Allerdings gelten seine Belehrungen nicht allen Menschen und allen Berufsgruppen, sondern nur dem Menschen, der darüber nachgedacht hat, wer er ist, woher er gekommen ist und wohin er zu gehen hat (ἀνθρώπῳ λελογισμένῳ τίς τέ ἐστι καὶ πόθεν ἐλήλυθε ποῖ τε σπεύδειν ὀφείλει abst. 1,27,1), m. a. W. dem Philosophen (2,3,1; 4,18). 85 Bouffartigue/Pattillon aO. 2, 1246 zSt. weisen darauf hin, dass das Verb ἀποθνῃσκειν hier in einer bis dahin außerhalb der christl. Literatur unbekannten syntaktischen Konstruktion gebraucht wird. Mit dem Dativ begegnet das Verb bei Paulus, im Römerbrief 6,2 (ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ) und im Galaterbrief 2,19 (νόμῳ ἀπἑθανον) sowie bei Tatian. or. ad Graec. 11,4 (PTS 43, 26,18). – Vom platonischen Phaidon inspiriert scheint abst. 1,41,1: μαραίνειν τὰ
πάθη καὶ ἀποθνῄσκειν ἀπ᾿ αὐῶν καὶ τοῦτο μελετᾶν καθ᾿ ἡμέραν κτλ. (vgl. Bouffartigue/Pattillon 1, 11: est évidemment une adaption de Phédon 67e). – Zur Konstruktion mit ἀπὸ + Genitiv ebd. 2, 1246. – Auch Porphyrios’ Anrede an Marcella: τῇ μελετώσῃ φεύγειν ἀπὸ τοῦ σώματος (ad Marc. 10) klingt wie eine Variation der platonischen Formel.
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Μελέτη θανάτου – Meditatio mortis
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In abst. 1,51,3 verbindet der Plotinschüler die μελέτη θανάτου mit epikureischen Reflexionen, natürlich ohne Geist und Sinn der epikureischen Gedanken und deren spezifische Tragweite zu akzeptieren. Lediglich einen willkommenen Anknüpfungspunkt sieht er offenbar in der letztlich dem Hedonismus geschuldeten Begrenzung der Bedürfnisse auf die einfachsten und leicht zu beschaffenden Dinge, die den Seelenfrieden (ἀταραξία) garantiert und, so fügt er an, deren Fehlen nicht den beunruhigt, der sich übt im Sterben86. Deutlich nähert hier Porphyrios die Begriffsbestimmung, seiner grundsätzlichen Hinwendung zu einem mehr praktischen Charakter der Philosophie gemäß, einer fast popularphilosophischen Ausrichtung der Ethik an und beschreibt in entsprechender Diktion die durch Askese zu erstrebende Unabhängigkeit von äußeren Lebensumständen und die Distanz zum Körper als Kernpunkt des philosophischen Lebens. Porphyrios formuliert zum ersten Mal im Anschluss an den platonischen Phaidon87 und Plotin. enn. 1,7,3 explizit auch die Lehre vom zweifachen Tod, die sich bei Späteren mit der μελέτη θανάτου verbindet (sent. 9): ὁ θάνατος διπλοῦς, ὁ μὲν οὖν συνεγνωσμένος λυομένου τοῦ σῶματος ἀπὸ τῆς ψυχῆς, ὁ δὲ τῶν φιλοσόφων λυομένης τῆς ψυχῆς ἀπὸ τοῦ σώματος· καὶ οὐ πάντως ὁ ἕτερος τῷ ἑτέρῳ ἕπεται. Der Tod ist zweifach; der eine allgemein bekannte Tod, wenn sich der Körper von der Seele löst, der andere, der Tod der Philosophen, wenn sich die Seele vom Körper löst. Der eine Tod folgt durchaus nicht dem anderen88.
Noch häufigeren Gebrauch von der sokratisch-platonischen Bestimmung der Philosophie macht Porphyrios’ Schüler Jamblichos, insbesondere in seinem προτρεπτικὸς λόγος εἰς φιλοσοφίαν. Das ist zweifelsohne der Gattung und der spezifischen Zielsetzung der Schrift geschuldet: Die Aufforderung zu einem philosophischen Leben und das Erringen philosophischer Erkenntnis sind für den neuplatonischen Denker engstens mit der Freiheit von körperlichen und äußeren Einwirkungen und der Konzentration auf die Fähigkeiten des Geistes verbunden. So führt die philosophische Paränese in immer neuen Variationen, sei es als Interpretation pythagoreischer Sentenzen oder in direkter Aufnahme platonischer Gedanken, auf dieses Ziel hin: εἰς τὴν λύσιν
τὴν ἀπὸ τοῦ σώματος καὶ τὴν ζωὴν τὴν καθ᾿ ἑαυτὴν τῆς ψυχῆς, ἥντινα μελέτην θανάτου προσαγορεύομεν – zur Lösung der Seele vom Körper und zu einem Leben der Seele für sich selbst, was wir Einübung des Todes nennen (sent. 3 [45,25 des Places]).
Porph. abst. 1,51,3: ἀρκεῖσθαι δὲ τοῖς εὐπορίστοις καὶ λιτοτάτοις ποιεῖ τὸ μνημονεύειν ὅτι πρὸς μὲν τῆς ψυχῆς ἀξιόλογον ταραχῆς λύσιν οὐθὲν ἰσχύειν πέφυκεν οὐδ᾿ ὁ πᾶς πλοῦτος συναχθείς, τὸ δὲ τῆς σαρκὸς ὀχληρὸν ἐξαιρεῖ καὶ τὰ πάνυ μέτρια καὶ τύχοντα πᾶσάν τε εὐποριστίαν κεκτημένα, ὑπολείποντά τε καὶ τὰ τοσαῦτα οὐ ταράττει τὸν ἀποθνῄσκοντα μελετῶντα.
abst. 1,47,6; Clem. Al. strom. 7,44,4f [GCS 17, 33]) und wird geradezu sprichwörtlich (etwa Suda α 1828,1; 2544,2; τ 119,1). 87 Vgl. Plat. Phaed. 64c und 67cd. 88 Vgl. Plot. enn. 1,7,3fin.; W. Theiler: Gnomon 25 (1953) 115; zu Macrobius s. u. S. 23. Ammon. in Porph. isag.: CAG 4,3, 5,15: καὶ ὁ θάνατος διττός, ὁ
Vgl. Epicur. frg. 470 Us.; ep. ad Men. 130; rat. sent. 15. 21. – Die Unabhängigkeit des Weisen, definiert als Fähigkeit, sich jeder Lebenslage anzupassen – ἀρκεῖσθαι τοῖς παροῦσι –, ist typische Maxime der kynisch-stoischen Diatribe (Telet. rel. 11,5 Hense; vgl. ebd. 38,10; 41,12; Sen. ep. 74,12; 120,12; Plut. garr. 511c; Dio Chrys. 30,33; Epict. diss. 1,1,25,27; Porph.
Olympiod. in Plat. Phaed. 1,11 (1, 53 W.); 3,1f (1, 69); 3,11f (1, 75); Aug. doctr. Christ. 1,19,18. – S. auch o. S. 12.
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μὲν φυσικός, καθ᾿ ὃν πάντες οἱ ἄνθρωποι ἀποθνῄσκομεν, τοῦτ᾿ ἔστι καθ᾿ ὃν χωρίζεται σῶμα ἀπὸ τῆς ψυχῆς, ὁ δὲ προαιρετικός, καθ᾿ ὃν οἱ φιλόσοφοι μελετῶσι χωρίζειν τὴν ψυχὴν ἀπὸ τοῦ σώματος. – Vgl.
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Besonders ansprechend entwickelt Jamblich diese Bestimmung der Philosophie aus dem pythagoreischen Gebot: ›Trage keinen Fingerring‹; denn wie der Ring seine Träger nach Art einer Fessel umschließt, so auch der Körper die Seele. Das Wort besagt also: Philosophiere wahrhaft und trenne deine Seele von der sie umschließenden Fessel. Einübung des Todes nämlich und Trennung der Seele vom Leib ist die Philosophie (μελέτη γὰρ θανάτου καὶ χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ τοῦ σώματος ἡ φιλοσοφία 21 [145,12 d. Pl.]). Ähnlich deutet Jamblich die Sentenz: ›Gehst du von zu Hause fort, wende dich nicht um!‹ Auch das mahne zur Philosophie und der symbolische Gehalt des Satzes meine: Trenne dich von allem Körperlichen und Sinnlichen, betreibe wirklich die Einübung des Todes (ὄντως θανάτου μελέτην ποιοῦ), indem du zu Geistigem und Immateriellem gehst usw. (21 [140,29ff])89. An anderer Stelle gewinnt Jamblich aus der Definition der Philosophie als μελέτη θανάτου Regeln für eine asketische Lebensweise: Streben nach dem Tod, d. h. Trennung der Seele vom Körper führt ganz natürlich zur Missachtung sogenannter körperlicher Genüsse, besonderer Pflege und Kleidung (13 [90,16/91,16]). Schließlich findet die erkenntnistheoretische Begründung der μελέτη θανάτου in der Mahnung zur Philosophie ihren legitimen Platz (ebd. 91,16/94,19; bes. 94,6ff)90. Kaiser Julian, Anhänger und Bewunderer Jamblichs, bestimmt in seiner gegen einen nicht näher bekannten Pseudokyniker gerichteten Rede: εἰς τοὺς ἀπαιδεύτους κύνας die wahre kynische Lebensführung als praktische Umsetzung einer Philosophie, die Sokrates zutreffend als ›Einübung des Todes‹ beschrieben habe91: Auch die Kyniker anerkennen, wie Platon und Aristoteles, zwei Teile der Philosophie, einen theoretischen und einen praktischen. Und wenn Sokrates neben anderen Philosophen den Schwerpunkt auf die philosophische Theorie legte, so doch nur um der praktischen Betätigung willen92. Also sieht der kaiserliche Philosoph in der Konvergenz des kynisch-stoischen, auf die praktische Lebensführung ausgerichteten Tugend-Begriffs mit der sokratisch-platonischen μελέτη θανάτου, die durch Missachtung des Körpers der Seele die Führung zuweist93 und sich in der täglichen Praxis zu bewähren hat (τοῦτο καθ᾿ ἑκάστην ἡμέραν ἐπιτηδεύοντες or. 9 [6],11, 190c), selbst aber auch nur Variation der anderen platonischen Zielbestimmungen der Selbsterkenntnis und der Angleichung an Gott darstellt, die Einheit der Wahrheit und der Philosophie über die
89 Vgl. Olympiod. in Plat. Phaed. 1,13 (1, 55 W.): τὸ δὲ μελετᾶν θάνατον ἐδήλου διὰ τοῦ »ἀπιόντα εἰς ἱερὸν μὴ ἐπιστρέφεσθαι«, ἱερὸν γὰρ ὁ ἐκεῖσε βίος. 90 Iambl. protr. 13 (94,6/16 d. Pl.): κάθαρσις δὲ τούτῳ ξυμβαίνει, . . ., τῷ χωρίζειν ὅτι μάλιστα ἀπὸ τοῦ σώματος τὴν ψυχὴν . . . ἐκλυομένην ὥσπερ ἐκ δεσμῶν ἐκ τοῦ σώματος. τοῦτο δὲ θάνατος ὀνομάζεται, λύσις καὶ χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ σώματος. λύειν δέ γε αὐτὴν, ὥς φαμεν, προθυμοῦνται ἀεὶ μάλιστα καὶ μόνοι οἱ φιλοσοφοῦντες ὀρθῶς, καὶ τὸ μελέτημα αὐτὸ τοῦτό ἐστι τῶν φιλοσόφων, λύσις καὶ χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ τοῦ σώματος. – Im Sinne der praemeditatio mortis (s.
o. S. 13) verwendet Jamblich die Formel in protr. 20 (126,27/127,4): Die Philosophie allein ist es, die
den Menschen auf den Tod vorbereitet (μελέτην ἐμποιεῖ θανάτου) und ihn lehrt, den Tod zu verachten. Sie verschafft ihm die innere Freiheit von den irdischen Gütern und seiner Liebe zum Leben (φιλοψυχία ebd. 126,18) und führt ihn zum ewigen Leben. 91 Iulian. Imp. or. 9(6),11,190c: . . . οὕτως ὑπεριδόντας
τοῦ σώματος, ὡς ὁ Σωκράτηνς ἔφη λέγων ὀρθῶς »μελέτην εἶναι θανάτου τὴν φιλοσοφίαν«. 92 Iulian. Imp. or. 9 (6),11,190a: ἐπεὶ καὶ Σωκράτης καὶ πλείονες ἄλλοι θεωρίᾳ μὲν φαίνονται χρησάμενοι πολλῇ, ταύτῃ δὲ οὐκ ἄλλου χάριν ἀλλὰ τῆς πράξεως. – Alcin. 2 (3f Summerell/Zimmer). Vgl. Iulian. Imp. or. 9 (6),11,190b. 194d/195a.
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Besonderheiten der Systeme hinweg bestätigt94. Wahrheit und Weisheit stehen also in erster Linie nicht für die richtige theoretische Einsicht, sondern für die praktische Lebensgestaltung nach den Grundsätzen des Erkannten. Die echten und wahren Kyniker sind daher nichts anderes als ›Neuplatoniker mit moralphilosophisch-praktischem Schwerpunkt‹, der durch die μελέτη θανάτου angezeigte asketische Lebensstil ist Verwirklichung der neuplatonischen Philosophie95. Im lateinischen Westen kommentiert Macrobius den Traum Scipios, der Ciceros Werk de re publica beschließt, im Sinne neuplatonischer Kosmologie und Psychologie. Die großartige, feierliche Vision des jüngeren Scipio, in der ihn sein Adoptivgroßvater über die Größe und Schönheit des Weltalls, die Unsterblichkeit der Seele und die Aufnahme der verdienten Seelen der Staatslenker an einen himmlischen Ort der Glückseligkeit belehrt, sowie den sich daran anschließenden Wunsch Scipios, das irdische Leben möglichst bald zu verlassen und in die Gemeinschaft mit seinen Vätern zu gelangen, nimmt Macrobius zum Anlass, die Frage nach der Erlaubnis eines freiwilligen Todes im Sinne Platons und Plotins zu diskutieren (somn. Scip. 1,13,1/8)96. Dabei beruft er sich auf die Lehre des platonischen Phaidon, die er – höchstwahrscheinlich im Anschluss an Porphyrios97 – als Lehre von den zwei Arten des menschlichen Todes interpretiert: des natürlichen Todes sowie des Todes, den die virtutes herbeiführen. Denn der Mensch sterbe, wenn die Seele den Körper, losgelöst nach dem Gesetz der Natur, verlasse; sterben bedeute aber auch, wenn die Seele, noch im Körper festgehalten, die körperlichen Verlockungen unter Anleitung der Philosophie verachte und sich der betörenden Fallstricke und aller übrigen Affekte entkleide (ebd. 5f)98. Diese 94 Iulian. Imp. or. 9 (6),5,184c: μηδεὶς οὖν ἡμῖν τὴν φιλοσοφίαν εἰς πολλὰ διαιρείτω μηδὲ εἰς πολλὰ τεμνέτω, μᾶλλον δὲ μὴ πολλὰς ἐκ μιᾶς ποιείτω. ὥσπερ γὰρ ἀλήθεια μία, οὕτω δὲ καὶ φιλοσοφία. Vgl. ebd. 183a.
185c. 186a. – Zu Julians Philosophie vgl. D. Cürsgen, Kaiser Julian über das Wesen und die Geschichte der Philosophie: Ch. Schäfer (Hrsg.), Kaiser Julian ›Apostata‹ und die philosophische Reaktion gegen das Christentum (Berlin/New York 2008) 65/86. 95 Ebd. 71. 96 Schon bei Cicero (rep. 6,15) klingt bekanntlich Plat. Phaed. 62b an. 97 P. Courcelle (Les lettres grecques en occident [Paris 1948] 27f) vertritt mit F. Cumont (RevÉtGr 32 [1919] 113/20) gegen P. Henry (Plotin et l’occident [Louvain 1934] 170/2), der direkte Benutzung des Phaidon und Plotins Schrift περὶ ἐξαγωγῆς (enn. 1,9) annimmt, mit guten Gründen die Auffassung, Macrobius folge an dieser Stelle einer Phaidonund Plotin-Interpretation des Porphyrios, möglicherweise aus Porphyrios’ Schrift de regressu animae; vgl. W. Theiler: Gnomon 25 (1953) 115. – S. o. S. 21. 98 Somn. 1,13,5f: hominis duas adserit mortes, quarum unam natura, virtutes alteram praestant (vgl. τὸν κατ᾿ ἀρετὴν θάνατον David [o. Anm. 30] aO. 31,24). homo enim moritur, cum anima corpus relinquit solutum lege naturae; mori etiam dicitur, cum anima adhuc in corpore constituta corporeas
inlecebras philosophia docente contemnit et cupiditatum dulces insidias (vgl. Elias aO. 12,27; 13,2. 26: ἕπεσθαι ταῖς ἡδυπαθείαις) reliquasque omnes exuitur passiones. – In Platons Phaidon und bei Plotin kommt φύσις in dieser Bedeutung oder Funktion bzw. Tod als natürlicher Vorgang nicht vor, dagegen schreibt Porphyrios (sent. 8): φύσις λύει σῶμα ἐκ ψυχῆς. Für Olympiodor (in Plat. Phaed. 1,11 [1, 53 W.]) ist die Unterscheidung zwischen φυσικὸς θάνατος und προαιρετικὸς θάνατος der allgemein bekannte Hintergrund der Diskussion im Phaidon über das Verbot der Selbsttötung und der dem Philosophen aufgegebenen μελέτη θανάτου: παρὰ δὲ Σωκράτει οὐκ ἦν τοῦτο ἄπορον . . . πρόδηλον δὲ τοῦτο
ἐκ τῶν ἐγκυκλίων ἐξηγήσεων, ὅτι τὸ μὲν περὶ τοῦ φυσικοῦ θανάτου λέγεται, ὅτι οὐ δεῖ ἐξάγειν ἑαυτόν, τὸ δὲ περὶ τοῦ προαιρετικοῦ, τὸ ἐθέλειν ἀποθνῄσκειν.
Nach P. Courcelle ist Porphyrios Ausgangspunkt der Begriffsbildung, danach Macrob. aO.; vgl. ebd. 7. 11 (naturalem mortem); P. Courcelle, Les lettres grecques en occident (o. Anm. 97) 27f: »L’expression même de mort physique, qui revient constamment dans le chapitre de Macrobe, par opposition à la spirituelle, est porphyrienne . . .«. Eine zumindest vergleichbare Begrifflichkeit findet sich bei Clem. Alex. strom. 4,12,5 (GCS 52, 254): τὸν τῆς
φύσεως θάνατον, διάλυσιν ὄντα τῶν πρὸς τὸ σῶμα τῆς ψυχῆς δεσμῶν und ebd. 7,71,3: λογικὸς θάνατος (s. u. S. 34 mit Anm. 143).
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Art des Todes sei nach Platon von den Philosophen zu erstreben, und die Philosophie selbst sei die Einübung des Sterbens (meditatio moriendi ebd. 5)99. Plotin sei, wie es ausdrücklich heißt, dieser platonischen Lehre gefolgt und auch er vertrete diese Art des Todes der Philosophie (ebd. 1,13,9f)100. Nach dem dargestellten Befund über die Verwendung der sokratisch-platonischen Formel in den neuplatonischen Schriften ist es kaum mehr überraschend, wenn die μελέτη θανάτου in den Einleitungen zur Philosophie aus der alexandrinischen Schule des 5. und 6. Jahrhunderts unter den Telosformeln der Philosophie aufgeführt wird. Der Kommentar des Ammonios Hermeiou zu Porphyrios’ εἰσαγωγὴ εἰς φιλοσοφίαν stellt in den vorangestellten προλεγόμενα τῆς φιλοσοφίας101 sechs Definitionen zusammen: 1. γνῶσις τῶν ὄντων ᾗ ὄντα (CAG 4,3, 2,22); 2. γνῶσις θείων τε καὶ ἀνθρωπίνων πραγμάτων (ebd. 3,1); 3. ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν (ebd. 3,9); 4. μελέτη θανάτου (ebd. 4,15); 5. τέχνη τεχνῶν καὶ ἐπιστήμη ἐπιστημῶν (ebd. 6,27); 6. φιλία σοφίας (ebd. 9,7).
Die gleichen Zusammenstellungen finden sich bei Johannes Philoponos, dem zum Christen gewordenen Schüler des Ammonios, in einem in syrischer Sprache erhaltenen Kommentar zur genannten Schrift des Pophyrios (Baumstark 197f. 219/22)102 sowie weiteren Mitgliedern der alexandrinischen Schule, bei Elias, proleg. philos.: CAG 18,1, 8,8/17 und David, proleg. philos.: CAG 18,2, 20,25/31103, die dem von Ammonios vorgegebenen Muster der εἰσαγωγή-Kommentierung folgen104. Aber schon Julian hatte in der oben erwähnten Schrift εἰς τοὺς ἀπαιδεύτους κύνας (9 [6],3,183a. 11,190c), einer Lobrede auf die wahre Philosophie, einige dieser Definitionen der Philosophie angeführt, darunter auch, wie oben bereits erwähnt (s. o. S. 22), die μελέτη θανάτου. 99 . . . in eodem . . . dialogo idem (sc. Plato) dicit mortem philosophantibus adpetendam et ipsam philosophiam meditationem esse moriendi. 100 Der Begriff ›mors philosophiae‹ (Macrob. aO. 10) selbst ist, soweit ich sehe, für Plotin allerdings nicht belegt (vgl. dagegen Porph. sent. 9 [S. o. S. 21]). – Zur viel diskutierten Quellenlage der gesamten Passage L. Scarpa, Macrobii Ambrosii Theodosii Commentariorum in Somnium Scipionis libri duo. Introd., testo, trad. e note (Padova 1981) 418/23; M. Regali, Macrobio, Commento al Somnium Scipionis, libro I. Introd., testo, trad. e commento (Pisa 1983) 333/7. 101 Zu dem von Ammonios geschaffenen Typos der εἰσαγωγή-Kommentare und ihrer Rezeption A. Baumstark, Aristoteles bei den Syrern vom 5. bis 8. Jahrhundert (Leipzig 1900 bzw. 1975) 156/8. 102 Die letzte der genannten Definitionen, φιλία σοφίας, fehlt bei Johannes Philoponus wohl aufgrund ihres tautologischen Inhalts. 103 Vgl. Dörrie†/Baltes (o. Anm. 68) 22; zu den Definitionen vgl. ebd. 231/5. 104 Knapp zwei Jahrhunderte später zählt Johannes von Damaskus die Definitionen der Philosophie zu
Beginn seines Hauptwerkes πηγὴ γνώσεως auf. Das erste Buch der dreiteiligen Schrift, üblicherweise, aber ohne handschriftliche Stütze, als ›capita philosophica‹ oder unter dem Titel ›dialectica‹ zitiert, folgt den Kommentaren zur εἰσαγωγή des Porphyrios nach Art des Ammonios (G. Richter, Johannes von Damaskus, Philosophische Kapitel. Eingel., übers. und mit Erl. vers. = BiblGriechLit 15 [Stuttgart 1982] 76f. 167f). Die πηγὴ γνώσεως liegt in zwei Fassungen vor: einer kürzeren, offensichtlich früheren, und einer späteren, längeren Version. Die Zusammenstellung der Telosformeln findet sich dial. 3. 49 (B. Kotter, Die Schriften des Johannes von Damaskos 1. Institutio elementaris, Capita Philosophica [Dialectica] = PTS 7 [Berlin 1969] 56. 136f); vgl. Cod. Oxon. Bodl. Auct. T. 1. 6 (Kotter aO. 158; zur Textsammlung des Codex ebd. 149; G. Richter, Die Dialektik des Johannes von Damaskos [Ettal 1964] 23/39). – Zu den Definitionen und ihrer Rezeption in der arabischen Lit. Christel Hein, Definition und Einteilung der Philosophie. Von der spätantiken Einleitungsliteratur zur arabischen Enzyklopädie (Frankfurt a. M. 1985), bes. 86f. 98f.
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III Zurück zu Ambrosius: Die Übersicht über die Rezeption der sokratisch-platonischen μελέτη θανάτου in der heidnischen Philosophie hat deutlich werden lassen, wie sehr diese Formel insbesondere in der platonisch-neuplatonischen Tradition durch die zunehmende ›Spiritualisierung‹ der Philosophie an Beachtung gewonnen hat, so dass sie in den Zusammenstellungen der spätantiken Schulphilosophie als Definition der Philosophie neben anderen angeführt wurde. Sie bestätigt zugleich, dass sich Ambrosius auf eine zentrale Aussage des Platonismus bezieht, die seinen Hörern durchaus geläufig gewesen sein konnte. Ihre neuplatonische Auslegung ist aber auch Beleg dafür, dass sie nicht nur als bloß theoretisches Bemühen um Weisheit und Wahrheit gedeutet wird, sondern im praktischen Vollzug eines sittlichen Lebens durchaus lebensgestaltende Wirksamkeit entfaltet105. Diesen Aspekt blendet Ambrosius in seiner Kritik an der philosophischen meditatio mortis bewusst aus und greift damit den in der christlichen Polemik schon immer beliebten Vorwurf der ›Theorielastigkeit der platonischen Philosophie‹ auf106: In seiner Gegenüberstellung des Pauluswortes cotidie morior mit der platonischen meditatio mortis gibt der Kirchenvater Ersterem klar den Vorzug, ohne allerdings die Formulierung der Philosophie ganz abzulehnen: apostolus .. . melius quam illi. Er begründet seine Wahl in zwei Schritten: die Philosophen predigten ein studium, Paulus hingegen: usum ipsum mortis exercuit. Die Argumentation ist deutlich auf den Gegensatz der Begriffe studium und usus hin angelegt, wobei die zugehörigen Verben mit ihren jeweiligen Objekten den angestrebten Antagonismus verstärken: studium und praedicare signalisieren theoretische Bemühung, usus und exercere legen allen Nachdruck auf die praktische Betätigung. Unverkennbar ist dabei die Argumentation aus dem angenommenen bloß theoretischen Inhalt des Begriffes meditatio entwickelt, so dass die meditatio mortis als rein intellektueller Vorgang erscheint107. Dem setzt der Kirchenvater die sittlich beispielhafte Handlung entgegen, in der sich die christliche Lehre in Paulus’ Auftreten bewährt. In einem weiteren begründenden Schritt unterstreicht Ambrosius, die Philosophen pflegten die meditatio mortis um ihrer selbst willen (propter se), was nach der entsprechenden Formulierung der Gegenposition zu verstehen ist: um ihrer eigenen Vollendung willen. Paulus aber, selbst schon vollendet, ›starb‹ nicht um der eigenen, sondern um unserer Schwäche willen. Beweggrund seines ›Sterbens‹, so dürfen wir wohl verstehen, ist nicht Eigenliebe und Streben nach eigener Vollendung, sondern er sucht das Heil des Nächsten zu erkämpfen. Das paulinische ›Sterben‹ folgt damit dem nutzbringenden Wirken der angeführten alttestamentlichen Gestalten108.
105
S. o. S. 20 und 22f zu Porphyrios und Kaiser Juli-
an. Vgl. Th. Kobusch, Philosophische Streitsachen. Zur Auseinandersetzung zwischen christl. und griech. Philosophie: Schäfer (o. Anm. 94) 24f; ders., Christl. Philos. (o. Anm. 9) 242f; auch Ambr. fid. 1,13,84 (CSEL 78, 37): non quaero, quid loquantur philosophi, requiro, quid faciant; zur Debatte,
106
die auch in der heidnischen Philosophie geführt wurde, s. o. S. 22f. 107 Vgl. G. Madec, Ambroise et la philosophie = ÉtAug 8 (Paris 1974) 30: ›ceux-ci (sc. les philosophes) n’ont prôné qu’une théorie; Paul, lui, s’est livré à un exercice réel‹. 108 Dabei weist schon der Gebrauch des Imperfekt moriebatur mit durativem oder iterativem Aspekt,
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In einem ergänzenden Zusatz trägt Ambrosius nach, was denn unter meditatio mortis eigentlich zu verstehen sei. Er greift dabei auf die Definition des platonischen Phaidon zurück und definiert in engem Anschluss an Platon meditatio mortis als corporis et animae segregatio, als einen geistigen Akt der Trennung und Sonderung (segregatio) von Seele und Leib, die im Tod schließlich auseinander treten (secessio)109; denn nichts anderes sei nach der communis opinio der Tod. In der platonischen meditatio mortis sieht Ambrosius also die bloße intellektuelle Vorwegnahme der endgültig im Tod eintretenden Trennung von Seele und Leib, eine bloß innere Haltung, die keine direkte Wirkung auf die praktische Lebensgestaltung zur Folge hat. In der zugrundegelegten platonischen Vorstellungswelt besteht ferner nach der Darstellung des Kirchenvaters die philosophische perfectio in einem individuellen Vollendungszustand, der durch die meditatio mortis, die spirituelle Loslösung der Seele von den Einwirkungen des Körpers, d. h. durch die Unabhängigkeit von den unsere wahre Bestimmung hemmenden körperlichen Begierden und Zwängen, die ἀπάθεια, erreicht wird. Dem setzt Ambrosius die paulinische Hingabe fur den Nächsten entgegen. Die philosophische Doktrin zeigt sich ihm so in zweierlei Hinsicht der biblischen Lehre unterlegen: 1. durch das ausschließlich intellektuelle Bedachtsein auf den Tod, das auf die innere Art des Umgangs mit den innerweltlichen Dingen zielt und keine unmittelbare ethische Folgerung nach sich zieht, sowie 2. durch die selbstsüchtige Begründung dieses Tuns im individualistischen Streben nach Vollkommenheit; deutlicher gesprochen: Paulus’ Motiv ist christliche Nächstenliebe, die Philosophie folgt einem kaum verdeckten, anspruchsvollen Egoismus. Den theologischen Ansprüchen des Kirchenvaters genügt aber ganz offensichtlich auch die gängige Definition (secundum communem opinionem) des Todes als physische Trennung von Seele und Leib nicht. Die Heilige Schrift, so erläutert er in der Tradition des Origenes stehend, unterscheide einen dreifachen Tod (exc. Sat. 2,36f)110: 1. den geistlichen Tod (mors spiritalis), in dem wir der Sünde sterben und Gott leben (cum morimur peccato, deo vivimus [Rom. 6,10]), 2. den physischen Tod (mors naturalis), in dem unsere Seele von ihrer Verbindung mit dem Leib befreit wird (cum anima corporis nexu liberatur) und 3. den Tod der Sünde (mors poenalis); denn – nach dem Prophetenwort (Hes. 18,4) – die Seele, die sündigt, soll sterben; denn diesen Tod stirbt nicht nur das Fleisch, sondern auch die Seele. wie auch die Junktur cottidie morior, auf die übertragene Bedeutung des Verbs hin (s. o. S. 9 mit Anm. 11). 109 Die Begriffe bezeichnen, wie die Substantive dieser Bildung generell, eine Aktion, den Vorgang einer Verbalhandlung. Ihre Bedeutung entspricht also hier dem transitiven segregare bzw. intransitiven secedere. 110 Die Lehre von den drei Arten des Todes begegnet in weiteren Schriften des Ambrosius: in Lc. 7,35/8 (CSEL 32,4, 297,18ff); bon. mort. 2,3 (CSEL 32,1, 704,10ff). Statt des Begriffes mors spiritalis verwendet Ambrosius an den angeführten Stellen mors mystica. – Umstritten bleibt, woher Ambrosius dieses Theorem bezogen hat. H.-Ch. Puech / P. Hadot (L’entretien d’Origène avec Héraclide et le com-
mentaire de saint Ambroise sur l’Évangile de saint Luc: VigChr 13 [1959] 204/34) verweisen mit guten Gründen auf Orig. dial. 25f (SC 67, 104/6); dem stimmt zu P. Courcelle, Recherches sur les Confessions de Saint Augustin (Paris 1968) 351, verweist aber zugleich auf die Nähe zu Macrob. somn. Scip. 1,13,5 (so schon RevÉtLat 34 [1956] 238f), weil dort in vergleichbarem Zusammenhang die platonische meditatio mortis begegnet. Madec aO. 31 hält eine Vereinbarkeit der beiden Positionen für nicht ausgeschlossen. Ambrosius habe möglicherweise einen Kommentar zum platonischen Phaidon vor Augen (ebd.). Zu denken sei auch an Porphyrios als gemeinsame Quelle des Ambrosius und Macrobius (ebd. 321).
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Vor dem Hintergrund dieser ›Theologie des Todes‹ unternimmt Ambrosius einen weiteren Anlauf, das Pauluswort zu erklären: Der natürliche Tod ist nicht etwa Strafe für die Sünde Adams: mors naturalis und mors poenalis sind nicht dasselbe; Strafe der Sünde ist vielmehr die Vertreibung aus dem Paradies und das von Mühen beschwerte irdische Leben; den natürlichen Tod hat Gott als Heilmittel (remedium) der Sünde gegeben, da er den Abschluss aller Übel (finis malorum) und das Ende unserer Strafen (meta nostrarum poenarum) darstellt111. Folglich ist der natürliche Tod nicht nur kein Übel, sondern ein Gut: ergo mors non solum malum non est, sed etiam bonum est (exc. Sat. 2,39)112. Damit überführt Ambrosius den auch der Antike geläufigen Trostgedanken, dass der Tod das befreiende Ende aller Nöte und Plagen des Lebens bringe113, in sein christlich-theologisches System. Neben verschiedenen Schriftzeugnissen liefern ihm dazu die paulinischen Briefe die entsprechenden Stichworte: Christus ist mir Leben und Sterben Gewinn (Phil. 1,21). Was ist Christus anders, so nimmt der Kirchenvater die zitierten Worte auf, als der Tod des Leibes und der Geist des Lebens: quid est Christus nisi mors corporis, spiritus vitae? Daraus folgert Ambrosius: Et ideo commoriamur cum eo, ut vivamus cum eo. Sit quidam cotidianus usus in nobis affectusque moriendi; ut per illam, quam diximus, segregationem a corporeis cupiditatibus anima nostra se discat extrahere, et tamquam in sublimi locata, quo terrenae adire libidines et eam sibi glutinare non possint, suscipiat mortis imaginem, ne poenam mortis incurrat. Und deshalb lasst uns mit ihm sterben, damit wir mit ihm leben. Es sei gewissermaßen unsere tägliche Übung und unser tägliches Verlangen zu sterben, damit durch jene Trennung, über die wir gesprochen haben, unsere Seele lerne, sich den körperlichen Begierden zu entziehen und, gleichsam an einen erhöhten Ort versetzt, wohin die irdischen Begierden keinen Zugang haben und sie sich anheften können, das Bild des Todes aufnehme, damit sie nicht der Strafe des Todes verfalle.
In Christus ist also das Beispiel des menschlichen Handelns vorgegeben: Er hat die Vernichtung seines leiblichen Lebens hingenommen und wird in seinem Tod zum Leben erhöht. Die Teilnahme an seinem Sterben im geistlichen Tod begründet die Hoffnung auf das Leben mit ihm114. Dieser geistliche Tod, das paulinische cotidie morior ist, wie die sprachlichen Anklänge sichtbar machen, aufgenommen und expliziert durch die Wendung: cotidianus usus .. . affectusque moriendi115. Das ist deutlich nicht
Vgl. exc. Sat. 2,38 (CSEL 73, 269): Non enim dixit: Quoniam audisti vocem mulieris, reverteris in terram; haec enim esset poenalis sententia, quemadmodum est illa: Maledicta terra spinas et tribulos germinabit tibi; sed dixit: Manducabis panem tuum in sudore, donec revertaris in terram. Vides mortem magis metam esse nostrarum poenarum, qua cursus huius vitae inciditur? 112 Was mit den Schriftstellen Apc. 9,6; Lc. 23,30 und 16,24 untermauert wird. 113 Cic. Tusc. 1,115; Sen. cons. Polyb. 9,6; s. o. S. 8. 114 S. auch o. S. 26: cum morimur peccato, Deo vivimus. 111
Ob Ambrosius damit direkt die Ausdrucksweise aus Apuleius ›de Platone et eius dogmate‹ (s. o. S. 18) übernimmt, wie Courcelle, Rech. (o. Anm. 116) 328f nahe legt, mag dahingestellt bleiben. Für Apuleius liegen jedoch die Formulierungen ›semper studeat animam corporis consortio separare‹ und ›mortis adfectum consuetudinemque moriendi‹ auf der gleichen Ebene, während Ambrosius im Gegensatz zwischen studium und affectus moriendi die Differenz zwischen Platon und Paulus zu fassen sucht. 115
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nur gegen die platonische meditatio mortis gerichtet, die ja nach der Deutung des Kirchenvaters bloßes studium ist, d. h. auf eine rein theoretische Vorwegnahme des Todes reduziert wird, sondern umschreibt das tagtägliche Bemühen des Gläubigen, der Sünde zu sterben, um in der Gemeinschaft mit Christus zu leben. Die Kritik an der platonischen Wendung sollte aber nicht als deren völlige Ablehnung fehlinterpretiert werden, im Gegenteil: Sie scheint dem Kirchenvater durchaus geeignet, mit dem Pauluswort zusammengebracht zu werden. Beide Formulierungen deuten ihm in dieselbe Richtung – oder eher noch: Die platonische μελέτη θανάτου gibt ihm die Richtung vor, in der er den paulinischen Ausspruch interpretiert. Er rückt sie damit ganz in die Nähe paulinischer Spiritualität116. Es überrascht daher auch nicht, wenn Ambrosius seine ethischen Folgerungen daraus, das morimur peccato, ganz nahe am dualistischen und spiritualistischen Gedankengut platonischer Herkunft formuliert: cotidie morior vollzieht sich in der Abkehr der Seele vom Körper (per illam, quam diximus, segregationem117) und einer fortdauernden leibfeindlichen Askese, in der die Seele sich den verwerflichen Leidenschaften des Körpers entziehen lernt (a corporis cupiditatibus anima nostra se discat extrahere ebd.)118. Leibfeindlichkeit, die die Seele an einen Ort erhöht, wohin die irdischen Begierden nicht gelangen und die Seele festhalten119 können, und Todessehnsucht (suscipiat mortis imaginem) kennzeichnen dieses Leben, das im physischen Tod seinen Abschluss und seine Vollendung findet, indem sich die Erwartung unmittelbarer Christusgemeinschaft erfüllt120.
Paulus selbst gibt seinem aufopfernden Leiden in der Verkündigung des Evangeliums in 2 Cor. 2,16 eine vergleichbare spirituelle Dimension: διὸ οὐκ
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ἐγκακοῦμεν, ἀλλ᾿ εἰ καὶ ὁ ἔξω ἡμῶν ἄνθρωπος διαφθείρεται, ἀλλ᾿ ὁ ἔσω ἡμῶν ἀνακαινοῦται ἡμέρᾳ καὶ ἡμέρᾳ. – Zur originären Bedeutung des Pauluswortes καθ᾿ ἡμέραν ἀποθνῄσκω aus 1 Cor. 15,31 s. o. S. 911. Ambrosius nimmt den Begriff segregatio aus seiner Definition der platonischen μελέτη θανάτου mit ausdrücklichem Rückverweis auf. – Platonische Begrifflichkeit wird deutlich u. a. in der Benennung des Leibes als Fessel und Gefängnis der Seele (exc. Sat. 2,20,3/6. 8f [CSEL 73, 260]), so vor allem auch in den ›eschatologisch gestimmten‹ Spätschriften (vgl. Dassmann, Frömmigkeit 230f; ders., Ambrosius 59f). Ganz nahe am platonischen Phaidon formuliert Ambrosius die Themen Weltflucht und Leibfeindlichkeit in ›de bono mortis‹, ohne allerdings die platonische μελέτη θανάτου direkt zu zitieren. Obgleich die ein oder andere Formulierung wie eine Paraphrase der platonischen Formel wirkt (etwa 3,9 [CSEL 32,1, 709]: quid . . . in hac vita aliud iusti agunt, nisi ut exuant se huius corporis contagionibus, quae velut vincula nos ligant, et se ab his molestiis separare contendant, etc.; ebd.: [iustus] speciem mortis imitatur; ebd.: istam mortem in hac vita positis expetendam; 3,10: imitatur et ille mortem, qui se voluptatibus exuit etc.), gibt sich der ganze Absatz 3,9f als Deutung paulinischer Sätze. Platonisches und paulinisches Denken sind aller117
dings so eng verflochten, dass eine Sonderung nur schwer gelingen kann (vgl. etwa 3,9f). Als Vermittler der platonisch-neuplatonischen Gedankengänge gilt Porphyrios (vgl. P. Courcelle, Die Entdeckung des christlichen Neuplatonismus: C. Andresen [Hrsg.], Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart = WdF 5 [Darmstadt 1962] 174/7; s. o. S. 26110). 118 In paulinischer Diktion (2 Cor. 5,6): peregrinemur a corpore, ne peregrinemur a Christo: etsi in corpore sumus, tamen quae sunt corporis non sequamur (ebd. 41 [CSEL 73, 271]). 119 Ebd.: quo terrenae adire libidines et eam sibi glutinare non possint. – Das Verb ›glutinare‹ – ›leimen, zusammenleimen‹ kommt, soweit ich sehe, nur hier in diesem Zusammenhang vor. Letzlich geht es auf Plat. Phaed. 82e zurück: τὴν ψυχὴν . . . ἀτέχνως διαδεδεμένην ἐν τῷ σώματι καὶ προσκεκολλημένην (vgl. Iambl. protr. 8. 13 [78,10. 96,29f d. Pl.]). 120 Ebd. 41: Dissolvi enim et cum Christo esse multo melius: permanere autem in carne magis necessarium propter nos (Phil. 1,23. 24). – Zur stark asketischen Orientierung der christlichen Lebensform bei Ambrosius, der er sich auch selbst in Enthaltsamkeit und Fasten unterzog (Paul. Med. vit. Ambr. 38), vgl. E. Dassmann, Fuga saeculi. Aspekte einer frühchristlichen Kulturkritik bei Ambrosius und Augustinus: Wege der Theologie: an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, Festschr. H. Waldenfels (Paderborn 1996) 939/50, jetzt in ders., Ausgewählte kleine Schriften (Münster 2011) 256/65.
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Auch die Begründung der ethischen Schlussfolgerung bleibt, was Ausgangspunkt und theoretisches Konzept betrifft, ganz dem platonischen Dualismus verhaftet, auch wenn die Berufung auf Paulus einen anderen Eindruck vermitteln könnte (40)121: Repugnat enim lex carnis legi mentis et eam legi erroris addicit, sicut Apostolus revelavit: Video enim legem carnis meae repugnantem legi mentis meae et captivantem me in lege peccati (Rom. 7,23). Es widerstreitet das Gesetz des Fleisches dem Gesetz des Geistes und spricht es dem Gesetz des Irrtums zu, wie der Apostel offenbart: Ich sehe nämlich ein Gesetz meines Fleisches, das dem Gesetz meines Geistes widerstreitet und mich im Gesetz der Sünde gefangen hält.
Die paulinische Antinomie von Fleisch und Geist tritt unvermittelt an die Stelle des platonischen Dualismus von Leib und Seele, und wird von dorther gedeutet122. Die christlich-eschatologische Askese verschmilzt fast unmerklich mit der platonisch-philosophisch begründeten. Im Zusammenhang der consolatio eignet sich so das paulinische cotidie morior, gedeutet – wenn auch modifiziert – im Sinne der platonischen μελέτη θανάτου als Leibfeindlichkeit, Weltflucht und Todessehnsucht, zum Trost spendenden Argument, indem es auf die im geistlichen Tod vorweggenommene Christusgemeinschaft und deren Vollendung im Jenseits hinweist123. Am nächsten kommt Ambrosius durch die Verwendung der μελέτη θανάτου als Trostmotiv der erwähnten Konsolationsschrift Senecas an Marcia124. Nicht nur die Anlässe beider Schriften sind vergleichbar, geht es doch in beiden Fällen um die mors immatura, den allzu frühen Tod eines teuren Menschen. Mit Seneca gemeinsam hat der Kirchenvater auch die Kombination des platonischen Gedankens mit der seit dem Frühgriechentum verbreiteten pessimistischen Weltsicht, der zufolge gilt: non nasci longe optimum (Ambr. exc. Sat. 2,30 [265]). Bei dem Mailänder Bischof die Kenntnis der Trostschrift Senecas vorauszusetzen, schiene mir zu gewagt. Näher liegt, wie ich meine, dass der Motivschatz der Konsolationsliteratur Quelle beider ist125.
Zur Anthropologie und Ethik des Ambrosius vgl. auch R. Holte, Béatitude et sagesse. Saint Augustin et le problème de la fin de l’homme dans la philosophie ancienne (Paris 1962) 167/76. 122 Zu der schwierigen Frage nach dem Verhältnis des Kirchenvaters zu Paulus vgl. Dassmann, Ambrosius (o. Anm. 1) 220/3 u. ö.; W. Geerlings, Hiob und Paulus: JbAC 24 (1981) 56/66. 123 Im Sinne der ›praemeditatio futurorum malorum‹ verwendet Ambrosius den Begriff meditatio in exp. Ps. 118, 12,28 (CSEL 62, 268,13): exerceamur igitur indefesso meditationis usu, exerceamur ante certamen, ut simus certamini semper parati, et cum frequentior adversarii ictus ingruerit nunc inopia, 121
nunc rapina . . . nunc terrore mortis et acerbitate poenarum, dicat unusquisque nostrum . . .: nisi quia lex tua meditatio mea est, tunc forsitan perissem in humilitate mea (*Ps. 118,12). 124 S. o. S. 14. 125 Besonders kurios erscheint, dass der Biograph des Kirchenvaters in der Patrologia Latina, der Herausgeber seiner Schriften dort, bemerkt: Ambrosii vita meditatio mortis continua fuerat (vit. Ambr. 145 [PL 14, 120B]). Ambrosius’ Vorbehalte gegen die platonische Philosophiedefinition scheint er nicht zur Kenntnis zu nehmen, trotz des Hinweises, die vita sei ›ex eius potissimum scriptis collecta‹ (aO. 73).
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IV Ambrosius nimmt mit seiner Interpretation der platonischen μελέτη θανάτου, die er auf ein bloß theoretisches Bemühen verengt, innerhalb der christlichen Literatur eine Sonderstellung ein. Nach dem Vorbild des Ambrosius verbindet zwar auch Hieronymus126 die philosophische meditatio mortis127 mit dem Pauluswort, gibt dem Ganzen aber doch einen anderen Sinn. In seinem Trostbrief an Bischof Heliodor zum Tod des vielversprechenden Neffen Nepotianus (ep. 60,14 [CSEL 54, 566]) heißt es: Platonis sententia est omnem sapienti vitam meditationem esse mortis. Laudant hoc philosophi et in caelum ferunt, sed multo fortius apostolus: »Cotidie«, inquit, »morior per vestram gloriam«128. Aliud est conari, aliud agere; aliud vivere moriturum, aliud mori victurum. Ille moriturus ex gloria est; iste moritur semper ad gloriam. Debemus igitur et nos animo praemeditari, quod aliquando futuri sumus et quod – velimus nolimus – abesse longius non potest. Platons Ansicht ist es, dass für den Weisen das ganze Leben Einübung des Todes sei. Die Philosophen loben dieses und heben es in den Himmel, aber viel kraftvoller sagt Paulus: »Ich sterbe täglich bei eurem Ruhm«. Etwas anderes ist es, etwas in Angriff zu nehmen, etwas anderes, es zu tun; etwas anderes, zu leben um zu sterben, etwas anderes, zu sterben um zu leben. Jener ist bereit zu sterben aus Verlangen nach Ruhm, dieser stirbt immer zu seinem Ruhm. Es müssen also auch wir immer im Geist voraus bedenken, was wir einmal sein werden und was – ob wir wollen oder nicht – nicht allzu weit von uns entfernt sein kann.
Man sieht deutlich, auch Hieronymus lehnt die Idee der meditatio mortis nicht völlig ab und räumt dem Ausspruch des Apostels ebenfalls klar den Vorrang ein: multo fortius apostolus129. Die knappe, leicht rätselhafte Begründung führt allerdings in eine andere Richtung als bei Ambrosius. Hieronymus beschreibt die Differenz der beiden Aussagen in drei Schritten: 1. durch die Begriffe conari und agere, die sich in ihrer kontextuellen Bedeutung gegenseitig definieren etwa als ›versuchen, erwägen, in Angriff nehmen‹ einerseits und ›tun, ausführen‹ andrerseits. Dabei soll offenbar conari die platonische meditatio mortis umschreiben, interpretiert in Anlehnung an das ambrosianische studium, ohne allerdings dessen Deutung als bloß theoretische Befassung mit dem Tod so in den Vordergrund zu stellen, während agere die Begriffe usus bzw. exercere aus der Schrift des Ambrosius aufnimmt. 2. durch den Gegensatz: ›leben als zum Tod Bestimmter‹ und ›sterben mit der Erwartung zu leben‹ oder final: ›um zu leben‹; dabei muss ›vivere moriturum‹ vereinbar sein mit ›conari sc. mori‹, also gewissermaßen die meditatio mortis darstellen, wie andrerseits ›mori victurum‹ eine Entsprechung zu ›agere‹, also eine actio anzeigen soll. Hieronymus kennt wohl beide Reden auf den Tod des Satyrus; vgl. Scourfield (o. Anm. 5) 185. 127 Hieronymus weiß, dass diese Definition der Philosophie, wie manches andere in den Schriften Platons, auf Pythagoras zurückgeht: audi quid apud Graecos Pythagoras primus invenerit . . . philosophiam meditationem esse mortis, cottidie de corporis carcere nitentem animae libertatem . . . et multa 126
alia quae Plato in libris suis et maxime in Phaedone Timaeoque prosequitur (adv. Rufin. 3,39f [CCL 79, 109f]). 128 Die Entsprechung im griechischen Text: νὴ τὴν ὑμετέραν καύχησιν – ›so wahr ihr mein Ruhm seid‹. 129 Ambr. exc. Sat. 2,35 (CSEL 73, 268): apostolus . . . melius quam illi; s. o. S. 7.
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3. durch eine differenzierende Interpretation von ›mori‹ unter Einbeziehung der paulinischen Ergänzung: (cotidie morior) per vestram gloriam. Den Gegensatz der platonischen und paulinischen Aussage definiert Hieronymus durch den unterschiedlichen Tempusgebrauch: moriturus – moritur semper sowie durch die Präpositionen: ex (gloria) und ad (gloriam), dabei dürfte ex gloria die ›veranlassende Ursache‹ angeben: jener ist bereit zu sterben aus Verlangen nach Ruhm, ad gloriam die Zielsetzung bezeichnen: dieser stirbt immer (und gegenwärtig) zu seinem Ruhm, m. a. W. er wird dadurch Ruhm und Ehre erlangen. Dass dabei moritur semper im übertragenen Sinne, etwa des paulinischen καθ᾿ ἡμέραν ἀποθνῄσκω130, zu deuten ist, versteht sich von selbst. Die Schlussfolgerung (igitur), die wir, d. h. als Christen, daraus zu ziehen haben, ist kaum erhellender als das bisher Gesagte, und es wird – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht deutlich, wie diese sich aus dem Vorhergehenden ergeben sollte: Auch wir (et nos) sollen – doch wohl wie Paulus? – unser zukünftiges Leben im Geiste vorwegnehmen: animo praemeditari, quod aliquando futuri sumus, auch in dem Wissen, dass der Tod uns unabweislich schon bald trifft. Dass das nichts mit der antiken praemeditatio mortis als eines futurum malum zu tun hat131, ist offensichtlich, vielmehr soll animo praemeditari dem ›agere‹, ›mori victurum‹ und ›mori semper ad gloriam‹ entsprechen. Um so sonderbarer, dass Hieronymus damit auf die platonische meditatio mortis zurück zu verweisen scheint. Was damit konkret gemeint sein könnte, geht vielleicht aus ep. 23,4 (CSEL 54, 214) hervor, in der Hieronymus mit dem Begriff praemori asketisches, weltabgewandtes Leben anzeigt: cum cotidie – secundum corpus loquor – praemoriamur, in ceteris (d. h. in irdischen und vergänglichen Gütern) non nos perpetuos existimemus, ut possimus esse perpetui. Hieronymus setzt also ersichtlich die Akzente ganz anders als Ambrosius. Während dieser auf die im geistlichen Tod vorweggenommene Christusgemeinschaft zielt, die ihre Vollendung im Jenseits erreicht, geht es Hieronymus – eher vordergründig – darum, als Christ im ständigen Bewusstsein der Vergänglichkeit des irdischen Lebens und der zeitlichen Unberechenbarkeit des Todes den Blick auf das kommende Leben zu richten. Die daraus resultierende Konsequenz ist die Abwertung des irdischen Lebens und die asketische Geringschätzung aller sogenannten weltlichen Güter. Die Formulierung Platons ist damit wie geschaffen auch Schlüsselbegriff asketisch-monastischer Lebensführung zu werden. Worin aber die eigentliche Kritik an Platon oder dessen Überbietung bestehen soll, bleibt weitgehend im Dunkeln. Die meditatio mortis hat sich weit von der platonischen μελέτη θανάτου, die auf die Befreiung der Seele aus dem die Erkenntnis behindernden Körper zielte, und auch von deren Deutung durch Ambrosius entfernt. Sie ist zu einem bloßen memento mori132 geworden. S. o. S. 911. Dazu s. o. S. 13. 132 Vgl. noch Hieron. ep. 54,18 (CSEL 54, 485,23); 140,16,3 (CSEL 56,1, 286,9): memento mortis tuae et non peccabis. qui enim se recordatur cotidie esse moriturum, contemnit praesentia et ad futura festinat. – Im sog. memento-mori-Motiv wird das Bewusstsein vom Wert bzw. Unwert des Lebens geweckt: Ps. 90,12: Herr lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden; vgl. 130 131
Frg. Sibyll.: Theophil. ad Autol. 2,36 (SC 20, 190); Athan. vit. Ant.: PG 26, 872A. 969C (Antonius auf dem Sterbebett zu seinen Anhängern): ὡς καθ᾿ ἡμέραν ἀποθνῄσκοντες ζήσατε; Euagr. Pont. apopht. patr.: PG 75, 173AB: μνήσθητι ἡμέρας θανάτου; Doroth. Gaz. didasc. 4,60 (SC 92, 248,25ff); Bened. reg. 4,47: mortem cotidie ante oculos supectam habere (G. Holzherr, Die Benediktsregel2 [Zürich/ Einsiedeln/Köln 1985] 77 mit Anm. S. 86f; E. v. Severus: Vivarium, Festschr. Th. Klauser = JbAC Erg.-
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In diese Richtung weist auch eine andere Äußerung des Hieronymus, in der er die meditatio mortis aufnimmt: In ep. 127, wieder ein Trostbrief, hier zum Tod Marcellas, einer vornehmen Römerin aus dem Umkreis des Kirchenvaters, verbindet er ebenfalls die platonische Formel mit dem angeführten Pauluswort: Marcella hat den Großteil ihres Lebens in strenger Askese und unter harten Entbehrungen verbracht, so dass sie sich trotz ihrer Jugend als alte Frau ansieht (ep. 127,6 [CSEL 56,1, 150]): (Marcella) annis igitur plurimis sic suam transegit aetatem, ut ante se vetulam cerneret quam adulescentulam fuisse meminisset, laudans illud Platonicum, qui philosophiam meditationem mortis esse dixisset. unde et noster apostolus: cotidie morior per vestram salutem; et dominus iuxta antiqua exemplaria: nisi quis tulerit crucem suam cotidie et secutus fuerit me, non potest meus esse discipulus133; multoque ante per prophetam spiritus sanctus: propter te mortificamur tota die, aestimati sumus ut oves occisionis134; et post multas aetates illa sententia: memento semper diem mortis et numquam peccabis135; disertissimeque praeceptum satirici: vive memor leti, fugit hora, hoc quod loquor inde est136. sic ergo – ut dicere coeperamus – aetatem duxit et vixit, ut semper se crederet morituram. sic induta est vestibus, ut meminisset sepulchri, offerens hostiam rationabilem, vivam, placentem deo. Marcella verbrachte sehr viele Jahre ihr Leben auf die Weise zu, dass sie sich für alt ansah, noch bevor es ihr bewusst wurde, dass sie eine junge Frau sei; denn sie lobte das bekannte Wort Platons, der die Philosophie eine Einübung des Todes genannt habe. Daher sagt auch unser Apostel: ›Täglich sterbe ich um eures Heiles willen‹. Und der Herr sagt gemäß alten Bibelhandschriften: ›Wenn einer nicht täglich sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, kann er nicht mein Jünger sein‹. Viel früher spricht der Heilige Geist durch den Propheten: ›Um deinetwillen töten wir uns den ganzen Tag ab und werden wir angesehen wie Schafe, die zum Schlachten bestimmt sind‹. Und viele Jahrhunderte später heißt es: ›Denke immer an den Tag des Todes und du wirst niemals sündigen‹. Sehr beredt rät auch die Mahnung des Satirikers: ›Lebe immer im Gedanken an den Tod; die Zeit entflieht, was ich sage, es ist dahin‹. Auf diese Weise also – wie wir anfangs sagten – verbrachte sie ihre Tage und lebte so, dass sie immer daran dachte, sterben zu müssen. Sie kleidete sich so, dass sie im Gedanken an ihr Grab sich als vernünftige, lebendige, Gott wohlgefällige Opfergabe darbrachte.
Es ist überdeutlich: Die platonische Zielbestimmung der Philosophie wird von Hieronymus aus dem Phaidon übernommen ohne irgendwelche kritischen Vorbehalte. Im Gegenteil, seine Formulierung deutet eine gedankliche Verwandtschaft, fast schon eine Abhängigkeit des Apostels von dem Philosophen an: unde et noster apostolus. Allerdings – auch das ist deutlich – ist die meditatio mortis nichts weiter mehr als eine Erinnerung an die Hinfälligkeit des menschlichen Lebens und die daraus abgeleitete, christlich gewendete, gottgefällige ›Abtötung‹ (mortificatio) des Körpers durch Askese und Verzicht. Die daran geknüpfte sichere Erwartung eines Lebens nach dem Tod
Bd. 11 [Münster 1984] 310/3; J. A. Fischer, Μελ. θανάτ. [u. Anm. 137] 44). – Vergleichbar sind zahlreiche Aussagen aus der heidnischen Antike, die die Flüchtigkeit des menschlichen Daseins und die sich daraus ergebende Nichtigkeit alles Äußeren beschreiben: etwa Cic. ep. fam. 4,5,4; Sen. ep. 63,15: adsidue cogitemus tam de nostra quam omnium quos diligimus mortalitate . . . nunc cogito omnia et mortalia esse et incerta lege mortalia; Marc. Aur.
5,23f; 6,15; 9,28,4f; Epict. ench. 21; Epicur. Gnom. Vat. 30; Metrod. mort. frg. 53 Körte (= Joh. Stob. flor. 3,16,21 [1, 485,8 W./H.]); Philodem. mort. 38,14ff; Benz (o. Anm. 31) 64/7. 133 Lc. 14,27. 134 *Ps. 43,22; Rom. 8,36. 135 *Eccl. 7,40. 136 Pers. 5,153.
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und die Hoffnung auf jenseitige Vergeltung zeigen überdies an, dass die Formel zwar platonisch ist, aber die Deutung, die der Kirchenvater ihr gibt, von christlichen Voraussetzungen bestimmt wird.
V Das gilt im allgemeinen auch für andere frühchristliche Autoren, die sich auf die platonische μελέτη θανάτου berufen. Es muss genügen, dieses skizzenhaft zu umreißen, ohne den Anspruch, die einschlägigen Texte vollständig zu erfassen oder gar erschöpfend zu interpretieren. In erster Linie ist hier Klemens von Alexandrien zu nennen, der wie kein anderer patristischer Autor Brücken zu schlagen sucht zur heidnischen Philosophie, bekanntlich nicht nur des Platonismus, sondern auch der Stoa, Philons, der Gnosis u. a., um seine Überzeugungen in deren Denktraditionen zu entfalten und das Christentum in apologetisch-missionarischer Absicht als ›wahre Philosophie‹ in der heidnischen Umwelt zu propagieren. Es verwundert daher nicht, wenn Klemens mehrfach die Phaidonstelle zur Explikation eigener Grundsätze heranzieht. Dies im Einzelnen aufzuzeigen, hat J. A. Fischer in einem Beitrag: ›Μελέτη θανάτου. Eine Skizze zur frühen griechischen Patristik‹137 unternommen. Nur auf eines sei besonders hingewiesen: Die platonische Formel wird Inbegriff einer christlichen Lebensführung und als grundlegende Mahnung hierzu genutzt. Sie ist eingesetzt, wenn auch in neutestamentlichem Geist gedeutet138, als umfassendes christliches Programm. Innerhalb des klementinischen Gedankensystems nimmt sie eine ähnlich zentrale Stelle ein wie in der platonischen Philosophie, m. a. W. sie ist eine Art Definition des Christseins. So besonders deutlich etwa strom. 5,67,1f (GCS 52, 370): θυσία δὲ ἡ τῷ θεῷ δεκτὴ σώματός τε καὶ τῶν τούτου παθῶν ἀμετανόητος χωρισμός. ἡ ἀληθὴς τῷ ὄντι θεοσέβεια αὕτη. καὶ μή τι εἰκότως μελέτη θανάτου διὰ τοῦτο εἴρηται τῷ Σωκράτει ἡ φιλοσοφία. ὁ γὰρ μήτε τὴν ὄψιν παρατιθέμενος ἐν τῷ διανοεῖσθαι μήτε τινὰ τῶν ἄλλων αἰσθήσεων ἐφελκόμενος, ἀλλ᾿ αὐτῷ καθαρῷ νῷ τοῖς πράγμασιν ἐντυγχάνων τὴν ἀληθῆ φιλοσοφίαν μέτεισιν. Ein Gott angenehmes Opfer besteht in der unbereuten Trennung vom Körper und dessen Leidenschaften. Das ist in der Tat wahre Gottesfrömmigkeit. Und wohl deshalb ist die Philosophie mit Recht von Sokrates Einübung des Todes benannt worden. Denn wer weder den Gesichtssinn beim Denken einsetzt noch irgendeinen von den anderen Sinnen hinzuzieht, sondern mit der reinen Vernunft selbst in die Dinge eindringt, treibt wahre Philosophie.
Inhaltlich knüpft die μελέτη θανάτου, wie nicht nur die hier zitierte Stelle klar macht, an den platonischen Dualismus an und ist bestimmt als χωρισμός der Seele vom Körper und seinen Affekten139. Die Übereinstimmung mit Platon geht hier sogar Wegzeichen, Festgabe für H. M. Biedermann, hrsg. von E. C. Suttner / C. Patok (Würzburg 1971) 43/54. 138 S. u. S. 34 mit Anm. 141; vgl. Fischer aO. passim. 139 So wird die μελέτη θανάτου fast durchwegs bei Klemens bestimmt als weltflüchtiges, den Körper und die mit ihm verbundenen Affekte verachtendes 137
›Streben der Seele, sich von dem Genuss und der Lust dieses Lebens zu lösen, abzusondern und abzugrenzen‹ (strom. 2,108,2/109,1 [GCS 52, 172]); dies, so heißt es (ebd. 108,4; vgl. 108,2), bezeichnet das Kreuz, wohl in Anspielung auf Gal. 5,24 (vgl. D. Wyrwa, Die christliche Platonaneignung in den Stromateis des Clemens von Alexandrien = Arbeiten
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noch weiter: Nicht nur unter ethisch-religiösem Aspekt steht sie für Loslösung der Seele vom Körper, sondern meint auch die Abwendung von den Sinnesorganen, um in reiner Vernunfterkenntnis das Seiende zu begreifen140. Als christlicher Lehrer hat Klemens dieser Begrifflichkeit ein neues Verständnis unterlegt141: Die μελέτη θανάτου ist ihm Schlüsselbegriff für den christlichen Weg zur sittlichen Vollkommenheit, zu echter Gottesfrömmigkeit, wie sie dem wahren Gnostiker durch ethisch-asketische Lebensführung aufgegeben ist, gilt aber auch, wie bei Platon, als Bedingung für die Erkenntnis der Wahrheit. Sie kann geradezu inhaltlich mit Gnosis gleichgesetzt werden, die analog zu dem durch die faktische Trennung der Seele vom Leib definierten Tod im geistlichen Tod die Seele wegführt und trennt von den Leidenschaften und hinführt zu einem Leben rechten Handelns142, damit sie einst in Freimut zu Gott sagen kann: Ich lebe, wie du es willst143. Bedacht werden muss natürlich, dass nur der Logos-Christus die Hinführung zur eschatologischen Vollendung in der Gottesbegegnung ermöglicht144. Es gibt im Übrigen nach Klemens auch keine bessere Vorbereitung auf den natürlichen Tod: Die Absonderung der Seele vom Leib verschafft dem, der sich sein ganzes Leben darum bemüht – und wer dies tut, ist Philosoph –, die gnostische Bereitschaft, auch den natürlichen Tod gelassen zu ertragen, der ja nichts anderes ist als die Lösung der Seele von der Fesselung an den Körper145. – Dieser zunächst sich ganz im traditionellen Rahmen haltenden Betrachtung gibt Klemens eine neue Wendung, angedeutet schon durch den Begriff προθυμία γνωστική, indem er sie zu paulinischen Gedanken in Beziehung setzt: ›Denn für mich ist die Welt gekreuzigt und ich für die Welt (Gal. 6,14), und ich lebe, obwohl ich noch im Fleisch bin, als ob ich schon im Himmel wandelte‹ (vgl. Gal. 2,20; Phil. 3,20)146. Klemens findet so in der platonischen μελέτη θανάτου einen Kerngedanken paulinischer Theologie wieder und gibt ihr dadurch eine neue, durch christliches Denken bestimmte Tiefe.
z. Kirchengesch. 53 [Berlin 1983] 197f). Allerdings wird hier die μελέτη θανάτου ausdrücklich auch bestimmt als Beschränkung der Triebe auf das Naturgemäße, da das Widernatürliche Sünde sei (εἰ μόναις ταῖς κατὰ φύσιν μεμετρημέναις ὀρέξεσι . . . ἀρκεῖσθαι βουλοίμεθα ebd. 109,1); vgl. o. 2186. 140 S. o. S. 10f. – Vgl. Wyrwa 291f. 141 Vgl. noch strom. 3,17,5 (203f): das Phaidonzitat (64a 4/6) verbunden mit dem Hinweis auf Rom. 7,24 und der angeschlossenen rhetorischen Frage: Und stimmt er (Platon) nicht überein mit dem göttlichen Apostel, wenn er sagt: Ich elender Mensch. Wer wird mich erretten aus dem Leib dieses Todes (καὶ μή τι συνᾴδει τῷ θείῳ ἀποστόλῳ λέγοντι·
ταλαίπωρος ἐγὼ ἄνθρωπος, τίς με ῥύσεται ἐκ τοῦ σώματος θανάτου τούτου;). – Ferner ebd. 4,12,5 (s. o. S.
2398); 4,58,2 (275) eine deutliche Anspielung an Platon: μεστὴ μὲν οὖν πᾶσα ή ἐκκλησία τῶν μελετησάντω
τὸν ζωοποιὸν θάνατον εἰς Χριστὸν παρ᾿ ὅλον τὸν βίον κτλ.; 5,106,1 (397). 142 In diesem Sinne kann die μελέτη θανάτου auch zu einem μελετᾶτε ζῆν werden, was erklärt wird durch:
καὶ χωρίζειν τὴν ψυχὴν τοῦ σώματος πειρᾶσθε (strom. 5,106,1 [GCS 52, 397]). Strom. 7,71,3 (GCS 17, 51): ὡς ὁ θάνατος »χωρισμὸς ψυχῆς ἀπὸ σώματος«, οὕτως ἡ γνῶσις οἷον [ὁ] λογικὸς θάνατος ἀπὸ τῶν παθῶν ἀπάγων καὶ χωρί143
ζων τὴν ψυχὴν καὶ προάγων εἰς τὴν τῆς εὐποιίας ζωήν, ἵνα τότε εἴπῃ μετὰ παρρησίας πρὸς τὸν θεόν· ὡς θέλεις ζῶ. – Klemens unterscheidet hier, wie die späteren Platoniker (s. o. S. 12 und 21), zwei Arten des Todes, den sog. natürlichen und den geistlichen Tod (dazu Fischer 52 mit Anm. 75). 144 Darauf kann und muss hier nicht eingegangen werden. Vgl. Wyrwa aO. 283/90. 145 Strom. 4,12,5 (GCS 17, 253f): ὁ τοίνυν ἀπὸ τοῦ
σώματος τῆς ψυχῆς χωρισμὸς ὁ παρ᾿ ὅλον τὸν βίον μελετώμενος τῷ φιλοσόφῳ προθυμίαν κατασκευάζει γνωστικὴν εὐκόλως δύνασθαι φέρειν τὸν τῆς φύσεως θάνατον, διάλυσιν ὄντα τῶν πρὸς τὸ σῶμα τῆς ψυχῆς δεσμῶν. 146 Ebd. 4,12,6 (254): »ἐμοι« γὰρ »ὁ κόσμος ἐσταυρώται κἀγὼ τῷ κόσμῳ« λέγει, βιῶ δὲ ἤδη ἐν σαρκὶ ὢν ὡς ἐν οὐρανῷ πολιτευόμενος.
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Μελέτη θανάτου – Meditatio mortis
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Unter den Kappadokiern nimmt nur Gregor von Nazianz die platonische Formel der μελέτη θανάτου mehrfach auf. Bei Basilius scheint sie überhaupt nicht vorzukommen147, während Gregor von Nyssa einmal in einem kaum mehr wirklich platonisch zu nennenden Sinne auf sie Bezug nimmt (s. u.). Gregor von Nazianz formuliert sein Heilskonzept häufig unter Zuhilfenahme heidnisch-antiker Gedanken vor allem des Platonismus. Dabei steht die ethisch-asketische Deutung des platonischen Dualismus jeweils im Vordergrund und verbindet sich fast unmerklich mit christlicher Weltüberwindung. Leibfeindlichkeit, Verachtung alles Vergänglichen, Lösung von den Fesseln des Körpers und Reinigung einerseits, sowie Konzentration auf das zukünftige Leben andrerseits sind die entsprechenden Stichworte, die den Hinweis auf die platonische μελέτη θανάτου hervorrufen148. So in einem Brief an den erkrankten Freund Philagrius (ep. 31,5 [GCS 53, 27f]) zur Ermunterung, die Krankheit nicht als etwas Unheilvolles (ἀνήκεστον) zu beklagen, sondern das Leiden in philosophischer Haltung anzunehmen (ἐμφιλοσοφεῖν τῷ πάθει)149: βούλομαί σε . . . τὴν διάνοιαν νῦν δὴ καὶ μάλιστα ἐκκαθαίρεσθαι, καὶ κρείττω φαίνεσθαι τῶν δεσμῶν, καὶ ἡγεῖσθαι τὴν νόσον παιδαγωγίαν πρὸς τὸ σύμφερον, τοῦτο δὲ ἐστί, περιφρονοῦντα τὸ σῶμα καὶ τὰ σωματικὰ καὶ πᾶν τὸ ῥέον καὶ ταραχῶδες καὶ ἁπολλύμενον, ὅλον τῆς ἄνω γενέσθαι μοίρας, καὶ ζῆν ἀντὶ τοῦ παρόντος τῷ μέλλοντι, θανάτου μελέτην – τοῦτο ὅ φησι Πλάτων – τὸν τῇδε βίον ποιούμενον καὶ λύοντα τὴν ψυχὴν τοῦ εἴτε σώματος εἴτε σήματος, κατ᾿ ἐκεῖνον εἰπεῖν, ὅση δύναμις. Ich wünsche . . ., dass du gerade jetzt dein Denken sogar besonders reinigst, dich stärker erweist als die Fesseln (sc. deines Körpers) und die Krankheit als Erziehung ansiehst zu dem, was wirklich nützt, d. h. dass du deinen Körper und die körperlichen Verhältnisse sowie alles Unstete, Unruhe Stiftende und Vergängliche verachtest und ganz Teil der oberen Welt wirst, anstatt für die Gegenwart für die Zukunft lebst, indem du das Leben hier zur Einübung des Todes – so sagt Platon – machst und deine Seele befreist, sei es vom Körper oder sei es vom Grab, soweit du, um wieder wie er zu sprechen, dazu Kraft hast150.
Auf derselben Basis eines dualistischen Weltbildes definiert Gregor in einer Rede gegen Anhänger des Eunomius die μελέτη θανάτου als ernsthafte Christlichkeit, die u. a. charakterisiert ist durch die Herrschaft über die Leidenschaften und die Zügelung der Triebe151. Lediglich in der unter dem Namen des Amphilochius v. Iconium überlieferten, von Ursus ins Lateinische übertragenen Vita des Basilius wird diesem die Definition der Philosophie als meditatio mortis zugesprochen (vit. Basil. 2 [PL 73, 297B]; vgl. Helinand. Frigid. mont. serm. 24 [PL 212, 682A]). 148 Vgl. A.-S. Ellverson, The dual nature of man. A study in the theological anthropology of Gregory of Nazianzus (Upssala 1981) 12 u. ö.; Th. Spidlik, Grégoire de Nazianze. Introduction à l’étude de sa doctrine spirituelle (Roma 1971) 29f. 149 In seiner Trauerrede auf Basilius rühmt Gregor neben der von christlicher Nächstenliebe geprägten Fürsorge des Bischofs für die Kranken auch dessen organisatorische Leistung durch die Errichtung einer Krankenanstalt vor den Toren Caesareas, ἐν ᾡ νόσος φιλοσοφεῖται (or. 43,63 [SC 384, 262,8]); vgl 147
auch Verf., Art. Krankenfürsorge: RAC 21 (2006) 864f. 150 Zur Stelle J. Mossay, La mort et l’au-delà dans saint Grégoire de Nazianze (Louvain 1966) 85. 162. 151 Or. 27,7,12 (SC 250, 86): οὐ τῷ κρείττονι τὸ χεῖρον ὑποζεύγνυμεν, »τὸν χοῦν« λέγω τῷ πνεύματι, ὡς ἂν οἱ τῷ κράματι δικαίως δικάζοντες; οὐ »μελέτην θανάτου«
τὸν βίον ποιούμεθα; οὐ τῶν παθῶν δεσπόται καθιστάμεθα, μεμνημένοι τῆς ἄνωθεν εὐγενείας; οὐ θυμὸν τιθασσεύομεν ἐξοιδοῦντα καὶ ἀγριαινοντα; vgl. Rufins
Übersetzung (or. 7,7,2 [CSEL 46,1, 272,18/21]): non quae deteriora sunt melioribus iungimus, limum dico spiritui, non meditationem mortis habemus in vita, non accendimur ut vitiis dominemur memores supernae cognationis. – Anzumerken ist, dass bei Gregor aO. auch die platonische Dreiteilung der Seele erkennbar wird; vgl. or. 32,9,10 (SC
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Anweisung zu christlicher Asketik ist die platonische Formel auch or. 26,11,17/21 (SC 284, 252): Körperliche und äußere Vorzüge sind im Geist christlicher Sittlichkeit zu gebrauchen. So ist gerade auch wer mit guter körperlicher Verfassung ausgestattet ist, gehalten, seine Gesundheit zum Besten zu nutzen (χρήσεται τῇ ὑγιείᾳ πρὸς τὸ βέλτιστον). Er wird sie aber in Rat, Ermutigung und Zurechtweisung nicht nur für andere einsetzen, sondern den eigenen Körper auch strengen asketischen Übungen unterziehen: Nächte im Gebet durchwachen, auf der Erde schlafen, fasten, die Materie ihres Einflusses entkleiden (κενώσει τὴν ὕλην), Irdisches und Himmlisches gegeneinander abwägen und mit allem Eifer den Tod einüben (κατὰ πᾶσαν σπουδὴν μελετήσει τὸν θάνατον). Als Trosttopos nutzt Gregor die μελέτη θανάτου in seiner Grabrede auf den jüngeren Bruder Caesarius (or. 7,18 [SC 405, 224]). Gregor richtet sich an seine Eltern: Wenn sie auch mehr als alles ihre Kinder lieben, so sind sie doch in höherem Grade von der Liebe zur Weisheit und der Liebe zu Christus geprägt (πάντων μᾶλλον φιλόσοφοι καὶ φιλόχριστοι) und, selbst auf das Hinscheiden aus dieser Welt bedacht (τὴν ἐντεῦθεν μετάβασιν .. . μελετήσαντες), unterwiesen sie ihre Kinder darin; mehr noch, sie richteten ihr ganzes Leben als Einübung des Todes ein (τὸν βίον ὅλον μελέτην λύσεως ἐνστησάμενοι). Gregor charakterisiert also ganz offenkundig die christliche Lebenshaltung seiner Eltern, die auch eine philosophische ist, durch Abwandlung des platonischen Gedankenguts. Dessen Nutzung als Trostgrund für die Eltern erfolgt sozusagen indirekt aus der erfolgreichen Unterweisung des Sohnes, der ihnen im Tod voran gegangen ist, in gleichem ethischen Anspruch152. Der dem gleichen geistigen und gesellschaftlichen Umfeld entstammende Gregor von Nyssa nimmt, wie gesagt, nur einmal Bezug auf die platonische μελέτη θανάτου, und zwar in de mortuis: GNO 9, 52f. Die vielfach der antiken Trostliteratur verpflichtete Schrift153 hat zum Ziel, durch Gegenüberstellung des irdisch-leiblichen und des himmlischen Lebens Trauer und Leid zu überwinden. Im angeführten Kapitel erläutert er ausführlich das Verhältnis zwischen Leben und Tod: Die Natur übe fortwährend ein in den Tod (ἐμμελετᾶͺ τῷ θανάτῳ 52,6), der Tod sei mit dem in der Zeit fortschreitenden Leben von Natur aus verbunden; Tod und Leben seien eng miteinander verflochten und der Mensch des heutigen Tages sei nicht derselbe wie der am gestrigen Tag154. In diesem Sinne setzt der Bischof von Nyssa das paulinische καθ᾿ ἡμέραν 318, 104); 44,7 (PG 36, 613C); Ellverson 21 mit Anm. 31. – An die platonische μελέτη θανάτου erinnern auch or. 2,91,10/6 (SC 247, 208) sowie gleichlautend or. 20,1,15/21 (SC 270, 58), wo vor dem Hintergrund einer dualistischen Anthropologie die Begriffe der Katharsis und der Lösung der Seele von der sie herabziehenden Materie das Umfeld bilden für die Wendung: καὶ μελέτην ὅτι μάλιστα ποιούμενος ἄνω βλέπειν. 152 Weniger eindeutig erinnert an Platons Definition eine Formulierung, die Gregor v. Nazianz ep. 76 (GCS 53, 65) wählt, gerichtet an Gregor von Nyssa zum Tod des älteren Bruders Basilius. Dessen Lebensführung beschreibt der Briefautor als eine das ganze Leben währende Vorbereitung auf den Tod,
der in christlichem Glauben als ›Wohnen beim Herrn‹ erscheint: Βασιλείου θάνατον . . . καὶ τῆς ἁγίας ψυχῆς ἐκδημίαν, . . . ἵν᾿ ἐνδημήσῃ πρὸς Κύριον, πάντα τὸν βίον μελέτην τούτου πεποιημένος. – Vgl. dazu B. Wyss, Art. Gregor II (Gregor von Nazianz): RAC 12 (1983) 825; Mossay aO. 288. 153 Monique Alexandre, Le De mortuis de Grégoire de Nysse: Studia Patristica 10 = TU 107 (1970) 35/43. 154 GNO 9, 52,6/8: ἐμμελετᾶ ͺ τῷ θανάτῳ διὰ παντὸς ή
φύσις καὶ συμπέφυκε διὰ τοῦ χρόνου προιούσῃ τῇ ζωῇ πάντως ὁ θάνατος. . . . (15f) οὐκ ἔξω τῆς ἀληθείας ἐστὶ τὸ συμπεπλέχθαι τῇ ζωῇ ταύτῃ τὸν θάνατον λέγειν. . . . (19) οὐχ ὁ αὐτός ἐστι τῷ χθιζῷ ὁ σήμερον ἄνθρωπος κατὰ τὸ ὑλικῶς ὑποκείμενον, ἀλλά τι πάντως αὐτοῦ διὰ παντὸς νεκροῦται καὶ ὄζει καὶ διαφθείρεται κτλ.
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ἀποθνῄσκω dem traditionellen, bei Seneca u. a. begegnenden Gedanken des cotidie morior gleich: Das Leben im Körper ist durch dessen ständige Veränderung ein andauerndes Sterben155. Der Tod dürfe uns daher auch nicht befremden, da das Leben im Fleisch doch erwiesenermaßen unaufhörliche Einübung und Schule des Todes sei (53,3/5): τί οὖν ξενιζόμεθα πρὸς τὸν θάνατον, οὗ ἀπεδείχθη μελέτη διηνεκὴς καὶ γυμνάσιον ἡ διὰ σαρκὸς οὖσα ζωή; – Es scheint ganz offenkundig: die Formulierung soll an die platonische μελέτη θανάτου erinnern156. Gregor verknüpft also, wie Ambrosius und Hieronymus, die platonische Wendung mit dem Pauluswort, gibt ihr aber ersichtlich ein vom Phaidon weit abweichendes Verständnis. Auch ohne auf Gregors komplexe Anthropologie, seine Ansicht über die Körperlichkeit des Menschen und seinen Tod in der Heilsökonomie Gottes157 näher einzugehen, ist klar, dass die μελέτη θανάτου bei ihm nicht die zentrale Stellung einnimmt, sei es wie im Platonismus als Bestimmung der Philosophie oder wie bei den angeführten christlichen Autoren als Ausdruck asketischer Weltabkehr und bündige Umschreibung christlichen Lebensinhalts. Ganz in diesem zuletzt genannten Sinne sucht noch Maximus Confessor, der bedeutendste griechische Theologe des 7. Jahrhunderts, den Anschluss an die Bestimmung der Philosophie im Platonismus. Er fasst die μελέτη θανάτου als eine gedankliche Vorwegnahme des Todes mit dem Ziel, die Seele von der Sorge um die körperlichen Belange zu befreien, damit sie nicht im Vergänglichen verhaftet bleibt (or. dom. 595f [CCG 23, 61]): δείξωμεν ὅτι φιλοσόφως κατὰ Χριστὸν158 μελέτην θανάτου τὸν βίον ποιούμεθα, τῇ γνώμῃ φθάνοντες τὴν φύσιν καὶ, πρὶν ἐπιστῆναι τὸν θἀνατον, τῆς τῶν σωματικῶν μερίμνης τὴν ψύχην ἀποτέμνοντες, ἵνα μὴ προσηλωθῇ τοῖς φθειρομένοις. Lasst uns zeigen, dass wir in philosophischer Weise nach Christi Lehre unser Leben zu einer Einübung des Todes machen, indem wir der Natur in Gedanken zuvorkommen und, bevor der Tod eintritt, wir die Seele von der Sorge um die körperlichen Belange befreien, damit sie nicht den vergänglichen Dingen verhaftet bleibt.
Die Stelle zeigt (u. a. durch das Verb προσηλωθῇ) nicht nur sprachliche Nähe zu Platons Phaidon159, sondern umschreibt auch den Begriff der μελέτη θανάτου in enger
155 Ebd. 52,25/53,1: διὸ κατὰ τὴν τοῦ μεγάλου φωνὴν Παύλου Καθ᾿ ἡμέραν ἀποθνῄσκομεν οὐχ οἱ αὐτοὶ διὰ παντὸς ἐν τῷ αὐτῷ διαμένοντες οἴκῳ τοῦ σώματος ἀλλ᾿ ἑκάστοτε ἄλλοι ἐξ ἄλλου γινόμενοι, κτλ. – S. o. S.
911. Vgl. Alexandre aO. 39f. 157 Vgl. R. Kees, Unsterblichkeit und Tod. Zur Spannung zweier anthropologischer Grundaussagen in Gregors von Nyssa Oratio Catechetica: H. R. Drobner / C. Klock (Hrsg.), Studien zu Gregor von Nyssa und der christlichen Spätantike = VigChr Suppl. 12 (Leiden u. a. 1990) 211/31: Sterblichkeit ist zugleich Eigentümlichkeit der menschlichen Natur und gütige Reaktion Gottes auf den Sündenfall des Menschen; die durch den Tod ermöglichte endgültige Reinigung von Seele und Leib stellt den 156
Menschen in seiner ursprünglichen, gottgewollten Unsterblichkeit wieder her. – Sandra Leuenberger-Wenger, Ethik und christliche Identität bei Gregor von Nyssa (Tübingen 2008) 234/84. 158 Der Ausdruck φιλοσόφως κατὰ Χριστόν macht deutlich, dass zwischen Philosophie und Christentum kein Gegensatz empfunden wird, anders als in den o. Anm. 9 angegebenen Belegen. Am nächsten steht der angeführten Formulierung eine Wendung bei Clemens Alexandrinus (strom. 6,67,1 [CGS 52, 460,21]): τῆς κατὰ Χριστὸν φιλοσοφίας; vgl. noch Kobusch, Christl. Philos. (o. Anm. 9) 239f mit Anm. 5. 159 Vgl. Plat. Phaed. 83d; auch Ambr. bon. mort. 5,16 (CSEL 32,1, 718f) mit Wiesner (o. Anm. 12) 193; s. o. Anm. 67.
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Anlehnung an Platons Darstellung, gibt sie aber ganz selbstverständlich als christliches Gedankengut aus. Dagegen hatte sich Theodoret von Cyrus, zwei Jahrhunderte zuvor, der platonischen μελέτη θανάτου in ganz anderem Zusammenhang und in ganz anderer Absicht bedient. Erklärtes Ziel des späteren Bischofs in seiner Frühschrift Ἑλληνικῶν θεραπευτικὴ παθημάτων160 ist es, die christliche Lehre in bewährter apologetischer Methode mit den Mitteln und aus den Schriften seiner heidnischen Kontrahenten zu erklären und gegen deren Anwürfe zu verteidigen. Demgemäß erläutert er den Werktitel im Vorwort § 16 (SC 57,1, 103) gleichsam durch den Untertitel bzw. durch eine Variation des genannten Haupttitels: ›Erkenntnis der Wahrheit des Evangeliums aus der griechischen Philosophie‹161. Buch 8 der Schrift ist der Verteidigung der christlichen Märtyrerverehrung und ihrer Todesbereitschaft gewidmet, die häufiger verständnislose Angriffe auf heidnischer Seite hervorrief162. Zur Verteidigung der christlichen Praxis verweist Theodoret auf Heroen des Mythos, denen nicht nur Verehrung, sondern sogar Apotheose zuteil geworden sei, aber auch auf historische Persönlichkeiten oder im Krieg Gefallene. Letztere werden, wie der christliche Autor betont, nach Heraklit (VS 22 B 24/5) jeder Ehre für würdig erachtet (affect. 8,39 [SC 57,2, 323f]), ohne Berücksichtigung ihrer sittlichen Eigenschaften. Dem hält der Christ entgegen, dass solche Ehre nach ihrem Tod doch nur jene verdienten, ›die den Tod um der Frömmigkeit willen freudig auf sich genommen haben‹163. In diesem Kontext zitiert der zukünftige Bischof ausführlich aus dem Phaidon, in dem Platon erkläre, ›dass die Seelen der Heiligen ein herausgehobenes Los genießen‹ (θείας λήξεως ἀπολαύουσιν αἱ τῶν ὁσίων ψυχαί 8,42 [325]). Er beruft sich dabei, in einem mehr oder weniger wörtlichen Zitat, auf Phaed. 114bc, wo den durch ein frommes Leben Ausgezeichneten ein reiner Wohnsitz in Aussicht gestellt werde, befreit von den Dingen auf der Erde wie aus einem Gefängnis. Sie gelangten, so füge Platon unmittelbar an, zu Wohnsitzen noch schöner als diese164. Mit Platon missbilligt er auch den ›aus heftigem Verlangen nach jener erhabenen Lebensweise resultierenden frommen Wunsch‹, sich gewaltsam diesem irdischen Leben zu entziehen (8,43 [325])165. Schließlich weist er durch weitere Zitate aus dem Phaidon (67c. 64a) nach, dass auch in der heidnischen Welt und von deren Autoritäten den Seelen, die sich der Weisheit verschrieben und der Führung der Philosophie zum Ziel ihrer Hoffnung anvertraut haben, ein ewiges Leben zugesagt wird. Das ist die philosophische Haltung, die Theodoret an Platons μελέτη θανάτου erinnert: οὗτος καὶ τὴν φιλοσοφίαν θανάτου μελέτην ἐκάλεσε (8,45 [326]), und ihn das entsprechende Zitat aus dem Phaidon (64a) einfügen lässt. Die Schlussfolgerung der gesamten Argumentation, in die noch weitere Platonzitate und eine Stelle aus Hesiod (op. 121/3) eingefügt sind, zieht er mit folgender FestDas Werk ist nach allgemeinem Dafürhalten vor seiner Wahl zum Bischof verfasst.
163 Affect. 8,41: οἱ τὸν ὑπὲρ τῆς εὐσεβείας ἀσπασίως κατεδέξαντο θάνατον.
Lucian. Peregr. 13,10/3; Marc. Aurel. 11,3,2; Iulian. Imp. ep. 48 (288ab) Weis.
Der Phaidontext (144bc) ist so modifiziert, dass gegenüber dem Ausgangstext sich ein veränderter Sinn ergibt. 165 Mit Berufung auf Phaed. 62b: οὐ δεῖ δ᾿ ἑαυτὸν ἐκ ταύτης (sc. φρουρᾶς) λύειν οὐδὲ ἀποδιδράσκειν.
160
161 Ὄνομα δὲ τῷ βιβλίῳ Ἑλληνικῶν θεραπευτικὴ παθημάτων ἢ Εὐαγγελικῆς ἀληθείας ἐξ Ἑλληνικῆς φιλοσοφίας ἐπίγνωσις. 162
164
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stellung (affect. 8,48 [327]): Wenn sogar der Dichter und der beste der Philosophen derartige Menschen, die in höchster Sittlichkeit ihr Leben verbracht haben, nach ihrem Tod verehrt und ihre Gräber gepflegt und angebetet sehen will, was tadelt ihr dann uns, wenn wir Gleiches tun?166 Die christliche Märtyrerverehrung findet so in der platonischen μελέτη θανάτου ihre auch von den heidnischen Gegnern kaum bestreitbare Rechfertigung. Sie wird als Platons Doktrin apologetisch genutzt, um eine christliche Praxis gegen heidnische Angriffe zu schützen, und bietet sozusagen das Umfeld, in das sich der christliche Märtyrerkult nahtlos einfügt. Dass die philosophische Definition dabei in die Nähe der Todesbereitschaft christlicher Märtyrer gerückt wird, ist zunächst lediglich das ›tertium‹, der verbindende Gedanke, der sie dem Christen für seine Zwecke verwertbar macht167. Deutlich ist aber auch, dass die μελέτη θανάτου hier weit weniger in christliches Denken integriert ist, etwa als Ausdruck christlicher Weltabgewandtheit und Askese, als bei Klemens Alexandrinus und Gregor von Nazianz. Am Begriff der μελέτη θανάτου wird auch in der monastischen Tradition sowohl des Ostens wie des Westens festgehalten, jedoch verliert er mehr und mehr seinen Bezug zu der im platonischen Phaidon grundgelegten Bedeutung. Johannes Climacus, Mönch und Einsiedler, der nach längeren Aufenthalten in der Nähe des Katharinenklosters und in Klöstern bei Alexandrien schließlich zu Beginn des 7. Jh. Abt des Sinaiklosters wird, verfasst eine Schrift mit dem Titel κλίμαξ (scala paradisi), die ihm auch seinen Namen gegeben hat. Die Schrift, an die Mitbrüder gerichtet, zeichnet den stufenweisen Weg zur mönchischen Vollkommenheit. Gradus VI (PG 88, 793B/797C) ist der μνήμη θανάτου bzw. ἔννοια θανάτου gewidmet, die auf folgende Weise näher umschrieben wird: μνήμη θανάτου ἐστὶ καθημέρινος θάνατος, μνήμη δὲ ἐξόδου κάθωρος στέναγμος (793B). Wie von allen Speisen das Brot ist sie bei allen Handlungen das Notwendigste (793C). Denn ein frommes Leben kann nur führen, wer den gegenwärtigen Tag für den letzten hält. Und wirklich ist irgendwie verwunderlich, so empfindet er, dass auch die Griechen etwas Derartiges bereits verkündet haben, wenn sie definieren, dass auch die Philosophie nichts anderes sei als μελέτη θανάτου168. Aus der μελέτη θανάτου wird so ein Grundzug mönchischer Weltentsagung169. Sie ist allerdings bei dem Mönch zum ›memento mori‹ und der daraus resultierenden Weltverachtung und Todessehnsucht geworden170. Vgl. Theodrt. affect. 8,48 (327): εἰ τοίνυν καὶ ὁ ποιητὴς καὶ ἐσθλοὺς καὶ ἀλεξικάκους καὶ φύλακας θνητῶν ἀνθρώπων τοὺς ἄριστα βεβιωκότας, εἶτα τελευτήσαντας, προσηγόρευσεν, ἐκράτυνε δὲ τοῦ ποιητοῦ τὸν λόγον τῶν φιλοσόφων ὁ ἄριστος καὶ χρῆναι ἔφη καὶ θεραπεύειν τούτων καὶ προσκυνεῖν τὰς θῆκας, τί δήποτε μέμφεσθε τοῖς παρ᾿ ἡμῶν γινομένοις, ὦ βέλτιστοι; κτλ. 166
167 Vgl. N. Siniossoglu, Plato and Theodoret. The Christian appropriation of Platonic philosophy and the Hellenic intellectual resistance (Cambridge 2008) 123: Like Plato’s description of the philosopher’s phugé in Theaetetus, his definition of philosophy as meleté thanatou in the Phaedo is conveniently appropriated – in order to form the perfect theoretical framework into wich Christian martyrdom may be incorporated.
168 Scal. 797C: παρὰ ἀνθρώποις οὐκ ἔστι, φησὶν, οὐκ ἔστι τὴν ἐνεστῶσαν ἡμέραν εὐσεβῶς διεξιέναι, εἰ μὴ αὐτὴν ἐσχάτην τοῦ βίου λογισώμεθα. καὶ θαῦμα ὄντως πῶς καὶ Ἕλληνές τι τοιοῦτον ἐφθέγξαντο, ἐπεὶ καὶ φιλοσοφίαν τοῦτο εἶναι ὁρίζονται, μελέτην θανάτου.
Vgl. W. Völker, Scala Paradisi. Eine Studie zu Johannes Climacus und zugleich eine Vorstudie zu Symeon dem Neuen Theologen (Wiesbaden 1968) 158/62. So schon Euag. Pont. pract. 52 (SC 171, 618): Τὴν γὰρ ἀναχώρησιν μελέτην θανάτου . . . οἱ Πατέρες ὀνομάζουσιν (mit A. Guillaumont / G. Guillaumont 620 zSt.). 170 Vgl. noch die Mahnung des Theodoros Studites, Mönch und Abt des Klosters Studiou bei Konstantinopel vom 8./9. Jh., ep. 2,98 (PG 99, 1352a): 169
μελετᾶτε τὸν θάνατον ἀεί, ὡς ἂν εἴητε παρασκευασμένοι πρὸς τὴν ἔξοδον ἐν χαρᾶ ͺ..
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Im Westen ist es der Zeitgenosse Benedikts und Klostergründer Cassiodor (inst. 2,3,5 [110,17 Mynors]), der die meditatio mortis als dritte Definition der Philosophie nennt. Er nimmt sie unter dem begründenden Hinweis auf den Apostel Paulus (2 Cor. 10,3 und Phil. 3,20) für die Christen in Anspruch, zwar nicht als exklusiv christliches Verhalten, aber doch als ihnen angemessener: philosophia est meditatio mortis: quod magis convenit Christianis, qui saeculi ambitione calcata conversatione disclinabili similitudine futurae patriae vivunt, sicut dicit Apostolus: In carne enim ambulantes, non secundum carnem militamus171, et alibi: Conversatio nostra in caelis est172. Philosophie ist Einübung des Todes: was mehr den Christen zukommt, die die Eitelkeit der Welt verachten und in unbeirrbarem Wandel nach dem Vorbild der zukünftigen Heimat leben, wie der Apostel sagt: ›Denn wir leben im Fleische, kämpfen aber nicht nach dem Fleische‹ und anderswo: ›Unser Aufenthalt ist im Himmel‹173.
Einen Schritt weiter noch geht ein in den Sacra Parallela des Johannes Damascenus überlieferter Ausspruch, der Christentum und μελέτη θανάτου geradezu gleichsetzt: τὸ ἔργον τοῦ χριστιανοῦ οὐδὲν ἄλλο ἐστὶν ἢ μελετᾶν ἀποθνῄσκειν. Das Handeln des Christen ist nichts anderes als Einüben des Todes174.
Der Satz wird Irenaeus von Lyon aus dem Ende des 2. Jahrhunderts zugeschrieben, aber mit Recht wird dessen Autorschaft als höchst zweifelhaft angesehen. Auch wenn der Ausspruch zeitlich nicht einzuordnen ist, fasst er doch gewissermaßen die Aneignung des platonischen Gebots durch die Christen in einer prägnanten Formulierung zusammen. Regensburg
2 Cor. 10,3. Phil. 3,20. 173 Cassiodor ist offensichtlich Ausgangspunkt zahlreicher gleichlautender früh- und hochmittelalterlicher Philosophie-Definitionen: Isidor von Sevilla (orig. 2,24,9) führt den ersten Teil unter seinen Definitionen der Philosophie auf, ebenso Alkuin in ›de dialectica‹ (cap. 1 [PL 101, 952A]) sowie Rabanus Maurus (de universo 15,1 [PL 111, 416A]), die beiden Letzteren mit einer erläuternden Ergänzung: philosophia est meditatio mortis, contemptus saeculi, quod magis convenit Christianis, qui saeculi ambitione calcata conversatione disclinabili similitudine futurae patriae vivunt; ohne den Zusatz Hugo v. St. Victor (PL 175, 751). Andere definieren, mit oder 171 172
Manfred Wacht
ohne ausdrückliche Nennung Platons, Philosophie als meditatio mortis (etwa Bernhard v. Clairvaux [?]: PL 184, 1170; Rupert v. Deutz [comm. in Eccl.: PL 168, 1255A; comm. in Joh.: PL 169, 439D]); Rupert v. Deutz hat ferner einen Traktat ›De meditatione mortis‹ verfasst (PL 170, 357/90). – Inhaltlich meint die meditatio mortis fast immer: Weltverachtung, Abtötung körperlichen Begehrens, Todes- und Jenseitssehnsucht (vgl. etwa Paschas. Radbert.: PL 120, 1647B; Petr. Damiani: PL 145, 737D; Joh. Salisb.: PL 199, 975B. D; Henricus de Castro Mars.: PL 204, 264C). 174 Iren. Lugd. frg. 11: 2, 480 Harvey; K. Holl, Fragmente vornicänischer Kirchenväter aus den Sacra Parallela = TU 20,2 (Leipzig 1899) 83 nr. 176.
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DAS ›HERRENMAHL‹ UND 1 COR. 11 IM KONTEXT ANTIKER GEMEINSCHAFTSMÄHLER
Kann es lohnend sein, sich aus historischer Perspektive mit der berühmten sog. eucharistischen Passage im Ersten Korintherbrief des Apostels Paulus zu beschäftigen, in der die bisherige Mahlpraxis der Christen in Korinth kritisiert wird? Der Passus gehört zu den meistdiskutierten Stellen seiner schriftlichen Hinterlassenschaft, vorrangig wegen seiner theologischen und liturgiegeschichtlichen Implikationen1, und die fallen nicht in die Kompetenz des Althistorikers. Wenn er aber die entsprechenden Diskussionen durchmustert, stellt er mit etwas Verwunderung fest, daß ein Gutteil des Dissenses von der Unklarheit schon über den üblichen technischen Ablauf des ›Herrenmahls‹ in Korinth herrührt. Hieraus ergibt sich dann, daß man auch in der Frage, was genau Paulus an dieser Praxis kritisierte, kaum zu einigermaßen breit akzeptierten Ergebnissen kommen kann. Hier kommt nun aber doch der Historiker ins Spiel. Denn Regeln für die Abhaltung von Gemeinschaftsbanketten sind in den antiken Quellen zwar nicht gerade häufig, wir wissen aber doch genug darüber, um den Versuch zu wagen, vor diesem Hintergrund eine bestimmte Rekonstruktion des ›Herrenmahls‹ in Korinth, des κυριακὸν δεῖπνον wahrscheinlich zu machen2. Nach einer Präsentation der in Frage stehenden Verse und einer (anspruchslosen) Übersetzung soll zunächst vorwiegend textimmanent diskutiert werden, worin die Schwierigkeiten jeder Interpretation begründet liegen, die zu klären sucht, was genau Paulus mit seinen Anweisungen ändern wollte (I); dem folgt der Versuch einer widerspruchsfreien Rekonstruktion des bisherigen Ablaufs bzw. (untrennbar damit verbunden) der ›Reformbemühungen‹ des Paulus (II). Anschließend sollen die Schwierigkeiten, Chancen und Risiken der Orientierung an einem bestimmten Modell des Gemeinschaftsmahls erörtert werden (III), wobei Vereinsbankette eine besondere Rolle spielen (IV). Vor diesem Hintergrund wird dann noch einmal auf die Struktur und die Fraktionierung der essenden Christengemeinde in Korinth eingegangen (V) mit dem Ziel eines vertieften Verständnisses der paulinischen Kritik und seiner Neuordnung des Mahls (VI), bevor dann der mögliche Erfolg seiner Intervention und die weitere Entwicklung kurz diskutiert werden. Am Schluß steht ein Seitenblick auf den der Mahlzeit üblicherweise folgenden Umtrunk und auf sein christliches Pendant (VII). Im elften Kapitel des 1. Briefs des Apostels an die Gemeinde von Korinth (Mitte der 50er Jahre von Ephesos aus geschrieben) heißt es3:
Literatursammlungen bieten die Kommentare von Klauck 1984; Wolff 2000, 256/81; Schrage 1999, 5/8; Merklein/Giebel 2005, 73/105; Schnabel 2006, 626/8; s. ferner Ch. Perrot, Lecture de 1 Co 11,17–34: V. Guénel (Hrsg.) 1983, 94/6; Kollmann 1990, 40/2; Schrage 1996; Klinghardt 1996, 276/ 91; Smith 2003, 173/218; Konradt 2003, 403/16; ders. 2003a; Stein 2008, 115/9. 1
›Herrenmahl‹ ist eine Prägung des Paulus, s. unten Anm. 44. 3 Der Text ist weitgehend unstrittig; in V. 17 (A, C u. a.) hat der Mehrheitstext allerdings παραγγέλλων οὐκ ἐπαινῶ (»bei der folgenden Anweisung kann ich nicht loben«); vgl. Lindemann 2000, 249. Ob in V. 19 ἵνα καὶ zu lesen ist, ist inhaltlich irrelevant. Zu V. 21 und 29 s. unten Anm. 5 und 134. 2
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17 Τοῦτο δὲ παραγγέλλων οὐκ ἐπαινῶ ὅτι οὐκ εἰς κρεῖσσον ἀλλὰ εἰς τὸ ἧσσον συνέρχεσθε. Folgendes ordne ich an, weil ich nicht loben kann, daß Ihr nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren zusammenkommt. 18 πρῶτον μὲν γὰρ συνερχομένων ὑμῶν ἐν ἐκκλησίᾳ ἀκούω σχίσματα ἐν ὑμῖν ὑπάρχειν, καὶ μέρος
τι πιστεύω.
Erstens nämlich höre ich, daß es dann, wenn Ihr in der Gemeindeversammlung (en ekklêsia) zusammenkommt, Spaltungen (schismata) bei Euch gibt, und zum Teil glaube ich es. 19 δεῖ γὰρ καὶ αἱρέσεις ἐν ὑμῖν εῖναι, ἵνα οί δόκιμοι φανεροὶ γένωνται ἐν ὑμῖν. Es muß ja auch Fraktionen (haireseis) bei Euch geben, damit die Erprobten unter Euch erkennbar werden. 20 συνερχομένων οὖν ὑμῶν ἐπὶ τὸ αὐτὸ οὐκ ἔστιν κυριακὸν δεῖπννον φαγεῖν. Wenn Ihr nun an einem Ort (epi to auto) zusammenkommt, ist es (Euch dennoch) nicht möglich, das Herrenmahl (kyriakon deipnon) zu essen. 21 ἕκαστος γὰρ τὸ ἴδιον δεῖπνον προλαμβάνει ἐν τῷ φαγεῖν, καὶ ὃς μὲν πεινᾷ, ὃς δὲ μεθύει. Denn beim Essen (en tô fagein) beginnt jeder (hekastos) mit seinem eigenen Mahl, sobald er da ist (to idion deipnon prolambanei), und der eine hungert, der andere aber ist betrunken. 22 μὴ γὰρ οἰκίας οὐκ ἔχετε εἰς τὸ ἐσθίειν καὶ πίνειν; ἢ τῆς ἐκκλησίας τοῦ θεοῦ καταφρονεῖτε, καὶ
καταισχύνετε τοὺς μὴ ἔχοντας; τί εἴπω ὑμῖν; ἐπαινέσω ὑμᾶς; ἐν τούτῳ οὐκ ἐπαινῶ.
Habt Ihr keine Häuser zum Essen und Trinken? Oder verachtet Ihr die Kirche Gottes und wollt die nicht Habenden beschämen? Was soll ich Euch sagen? Soll ich Euch loben? Hierin lobe ich (Euch) nicht. 23 ἐγὼ γὰρ παρέλαβον ἀπὸ τοῦ κυρίου, ὃ καὶ παρέδωκα ὑμῖν, ὅτι ὁ κύριος Ἰησοῦς ἐν τῆ νυκτὶ ᾗ
παρεδίδοτο ἔλαβεν ἄρτον
Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich Euch auch überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, 24 καὶ εὐχαριστήσας ἔκλασεν καὶ εἶπεν· τοῦτό μού ἐστιν τὸ σῶμα τὸ ὑπὲρ ὑμῶν· τοῦτο ποιεῖτε εἰς
τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν.
dankte, brach es und sagte: Das ist mein Leib (to sôma) für Euch. Dies tut zum Gedächtnis an mich. 25 ὡσαύτως καὶ τὸ ποτήριον μετὰ τὸ δειπνῆσαι, λέγων· τοῦτο τὸ ποτήριον ἡ καινὴ διατήκη ἐστιν
ἐν τῷ ἐμῷ αἵματι· τοῦτο ποιεῖτε, ὁσάκις ἐὰν πίνητε, εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν.
Ebenso (nahm er) auch den Becher, nach dem Essen (meta to deipnêsai), und sagte: Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut. Dies tut, sooft Ihr (daraus) trinkt, zum Gedächtnis an mich; 26 ὁσάκις γὰρ ἐὰν ἐσθίητε τὸν ἄρτον τοῦτον καὶ τὸ ποτήριον πίνητε, τὸν θάνατον τοῦ κυρίου
καταγγέλλετε, ἄχρι οὗ ἔλθῃ.
denn sooft Ihr dieses Brot eßt und aus dem Becher trinkt, verkündet Ihr den Tod des Herrn, bis er kommt. 27 ὥστε ὃς ἂν ἐσθίῃ τὸν ἄρτον ἢ πίνῃ τὸ ποτήριον τοῦ κυρίου ἀναξίως, ἔνοχος ἔσται τοῦ σώματος
καὶ τοῦ αἵματος τοῦ κυρίου.
Daher macht, wer unwürdig das Brot ißt oder den Becher des Herrn trinkt, sich schuldig am Leib und am Blut des Herrn. 28 δοκιμαζέτω δὲ ἄνθρωπος ἑαυτόν, καὶ οὕτως ἐκ τοῦ ἄρτου ἐσθιέτω καὶ ἐκ τοῦ ποτηρίου πινέτω· Jeder Mensch prüfe sich aber, und so esse er von dem Brot und trinke aus dem Becher. 29 ὁ γὰρ ἐσθίων καὶ πίνων κρίμα ἑαυτῷ ἐσθίει καὶ πίνει μὴ διακρίνων τὸ σῶμα. Denn wer ißt und trinkt, ohne den Leib (des Herrn) zu unterscheiden, ißt und trinkt sich selbst die Verurteilung. 30 διὰ τοῦτο ἐν ὑμῖν πολλοὶ ἀσθενεῖς καὶ ἄρρωστοι καὶ κοιμῶνται ἱκανοί. Deshalb sind unter Euch viele Schwache und Kranke, und zahlreiche sind (bereits) gestorben. 31 εἰ δὲ ἑαυτοὺς διεκρίνομεν, οὐκ ἂν ἐκρινόμεθαι· Wenn wir aber uns selbst (richtig) beurteilten, würden wir nicht gerichtet werden. 32 κρινόμενοι δὲ ὑπὸ τοῦ κυρίου παιδευόμεθα, ἵνα μὴ σὺν τῷ κόσμῳ κατακριθῶμεν. Wenn wir aber vom Herrn gerichtet werden, so werden wir erzogen, damit wir nicht mit der Welt abgeurteilt werden.
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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33 ὥστε, ἀδελφοί μου, συνερχόμενοι εἰς τὸ φαγεῖν ἀλλήλους ἐκδέχεσθε. Deshalb, meine Brüder, wenn Ihr zum Essen zusammenkommt, dann wartet aufeinander (ekdecheste). 34 εἰ τις πεινᾷ, ἐν οἴκῳ ἐσθιέτω, ἵνα μὴ εἰς κρίμα συνέρχησθε, τὰ δὲ λοιπὰ ὡς ἄν ἔλθω διατάξομαι. Wenn einer Hunger leidet, soll er zuhause essen, damit Ihr nicht zum Gericht zusammenkommt. Das Weitere aber werde ich anordnen, sobald ich komme.
I. Die Schwierigkeiten der Interpretation Eine der Schwierigkeiten dieser für das gemeinsame Mahl der frühen Christen zentralen Sätze besteht darin, daß Paulus einerseits krisitiert, manche Teilnehmer würden ihr eigenes Mahl ›vorwegnehmen‹ (Vers 21), und demgegenüber rät, aufeinander zu ›warten‹ (die Begriffe werden uns noch beschäftigen), und daß andererseits Jesus in der von Paulus überlieferten eucharistischen Formel den Becher ›nach dem Essen‹ nimmt4, was impliziert, daß der Brotritus davor, vor dem Essen (πρὸ τοῦ δειπνῆσαι), stattfand. Fügt man beides zusammen, folgt aus dem üblicherweise angenommenen Szenario der Mißstände in Korinth – die Reichen beginnen zu tafeln, bis schließlich auch die Armen zur Versammlung stoßen und kaum mehr etwas zum Essen vorfinden –, daß gerade der Brotritus vor dem Mahl nur von dem anwesenden Teil der Gemeinde und nicht von ihr gemeinsam begangen worden sein kann – eine offenbar einigermaßen verwirrende Vorstellung. Es gibt verschiedene Versuche, diese Schwierigkeit zu umgehen. Das ›Übel‹ gewissermaßen bei der Wurzel packen diejenigen, die die Verben προλαμβάνειν in Vers 215 und ἐκδέχεσθαι in Vers 33 nicht als ›vorher nehmen‹ (oder ähnlich) und ›warten‹, sondern ohne eine zeitliche Komponente verstehen, im Sinn von: ›für sich nehmen‹ und ›bewirten‹6. Aber die Basis hierfür ist dünn. Für ἐκδέχεσθαι in dieser Bedeutung gibt es immerhin Parallelen (wenn auch nicht bei Paulus7), προλαμβάνειν jedoch hat in der überlieferten Literatur ausschließlich zeitliche Bedeutung. Dennoch greifen auch die jüngsten umfassenden exegetischen Behandlungen des Briefes wieder auf diese Interpretation zurück8. Nur eine einzige Inschrift kann als Beleg genannt werden,
4 1 Cor. 11,25: ὡσαύτως καὶ τὸ ποτήριον μετὰ τὸ δειπνῆσαι . . . Zur genaueren Interpretation des μετὰ τὸ δειπνῆσαι s. u. 5 Warum die sehr seltene Variante προσλαμβάνει (A)
abzulehnen ist, wird von Winter 2001, 145f ausgeführt. 6 Theissen [1974] 1989, 300; vor allem dann Hofius [1988] 1994, 218/20; zustimmend etwa Engberg-Pedersen 1991, 597/601; Klinghardt 1996, 288/90; De Jonge 2001, 209/17; Winter 2001, 143/52; s. auch unten Anm. 8. 7 Er benutzt für das gegenseitige Auf- oder Annehmen προσδέχεσθαι oder προσλαμβάνεσθαι (Phil. 2,29; Rom. 16,2; 14,1. 3; 15,7). 8 S. die großen deutschsprachigen Kommentare dieses Jahrhunderts: Merklein/Giebel 2005; Schnabel 2006; Baumert 2007; Zeller 2010, jeweils ad
loc. Baumert 2007, 172f übersetzt »nimmt die eigene Speise vor« und versteht darunter das Hervorholen zusätzlichen Essens während der gemeinsamen Mahlzeit (aus einem Beutel oder Korb). Aber warum sollte dieses ›Hervorholen‹ so betont werden, wo es doch nicht diese Handlung ist, die das Problem darstellt (sie könnte ja danach durchaus ins Verteilen übergehen)? Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, spricht er in der Paraphrase von denjenigen, die »etwas Zusätzliches . . . ›hervorholen‹ und es ›sich vorsetzen‹«. Das Wort προλαμβάνειν kann hier aber kaum zwei verschiedene Bedeutungen haben, und für ›sich vorsetzen‹ gibt es keinen einzigen Beleg. Eine ebenfalls unbelegte Wortbedeutung (›verschlingen‹) bringt Winter ins Spiel (1978, 74/6; vgl. auch ders. 2001, 147f).
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deren Text bei diesem Wort auch noch umstritten ist9. Der Sprachgebrauch ist also eindeutig, und deshalb dürfte aus methodischen Gründen zur Annahme irgendwelcher Sonderbedeutungen allenfalls dann gegriffen werden, wenn die übliche Übersetzung sinnlos ist. Das ist hier nicht gegeben. Wenn aber προλαμβάνετε zeitlich im Sinne eines Vorgreifens zu verstehen ist, dann muß auch das Pendant ἐκδέχεσθαι ebenso, also mit ›warten‹, übersetzt werden, genau wie es auch wenig später (in 16,11) gebraucht wird10. Hinzukommt, daß die Übersetzung ›bewirtet einander‹, ›nehmt einander auf‹ auch inhaltlich problematisch ist; wie sollten die Armen denn jemanden bewirten? Erwarten würde man bei dieser Aussageabsicht die speziell an die Reichen gerichtete Ermahnung ›teilt euer Essen gerecht‹ oder ›gebt denen, die nichts haben‹. Und die Verteilungsgerechtigkeit müßte dann der Zielpunkt der Argumentation, nicht aber impliziter Nebeneffekt sein. Aber dazu später mehr. Peter Lampe hat vor einiger Zeit einen neuen Lösungsweg eingeschlagen, der gerade in den USA beliebt geworden ist. Er versucht zu zeigen, daß der Brotritus gar nicht am Anfang des Mahls stand, daß es vielmehr das pagane Speiseopfer vor dem Nachtisch (den mensae secundae) gewesen sei, das den eigentlichen lebensweltlichen Hintergrund für den Brotritus bildete11. Das Mahl sei zu unterschiedlichen Zeiten begonnen worden, irgendwann später seien dann alle Teilnehmer beisammen gewesen und hätten dann auch gemeinsam am Brotbrechen teilgenommen. Danach erst sei der Nachtisch verzehrt worden, wobei die Armen, die nichts hatten mitbringen können, hungrig blieben; anschließend sei (»nach dem Essen«), als Parallele zum griechischen Trunk auf den ›Agathos Daimôn‹12, der Weinritus vollzogen worden. Auf diese Weise gewinnt Peter Lampe für die Zeitbestimmung ›nach dem Essen‹ ein Pendant (›vor dem Nachtisch‹), das ihm erlaubt, weder ein ›vorweggenommenes‹ Essen der Reichen (eben die Hauptmahlzeit) noch einen allen gemeinsamen Brotritus (eben vor dem Nachtisch) aufzugeben. Das ›Essen‹ (δειπνῆσαι) zwischen den beiden Segensworten in den Versen 23ff sei für die begüterten Teilnehmer am ›Herrenmahl‹ eigentlich der Nachtisch gewesen, vor dem beim römischen Bankett traditionell gebetet worden sei: »Der christliche Brotsegen ersetzt dieses Element des Herrscherkultes [sc. die Anrufung des kaiserlichen genius zwischen Hauptspeisen und Desserts; Verf.]; der Kyrios Jesus Christus wird sakramental präsent«13.
Hier ist Lampe 1991, 191f in seiner Kritik ganz rechtzugeben. Zur Inschrift, einer Weihestele aus dem Epidauros der Zeit um 160 nC. (SIG3 1170, Z. 7/9. 15: προλαμβάνειν = zu sich nehmen), hat der damalige Herausgeber W. Dittenberger angemerkt, daß eine Verwechslung mit dem Wort προσλαμβάνειν (nicht eine Verschreibung, wie Winter 2001, 145 Dittenberger mißversteht) vorliegen könnte, für das – im Gegensatz zu προλαμβάνειν – diese Bedeutung belegt ist. Wer Gal. 6,1 als neutestamentliche Parallele anführt (Hofius 1994, 218; Schnabel 2006, 628), übersieht, daß hier die zeitliche Bedeutung durch den Aspekt der Überraschung des Täters vor dem endgültigen Gericht gegeben ist. 9
10 Schnabel 2006, 639. 670 sowie Baumert 2007, 177 übersetzen bzw. paraphrasieren dagegen konsequenterweise ἐκδέχεσθε wieder (wie schon Hofius [1988] 1994, 220f) mit »bewirtet einander«, »nehmt einander an«, »geht aufeinander ein«, »pflegt aufmerksame Gemeinschaft« (179f). 11 Lampe 1991; vgl. dazu Dunn 1998, 610f. Diese Einteilung des Bankettverlaufs findet sich zB. auch bei Klinghardt 1996, 111f, Konradt 2003, 411f und Schnabel 2006, 636. 12 Hierzu s. A. Hug, Platons Symposion für den Schulgebrauch erklärt2 (Leipzig 1884) 23f; Vössing 2004, 34f. 13 Lampe 1991, 199.
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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Diese These wirft auch religionsgeschichtliche Fragen auf; es ist ja zumindest auf den ersten Blick nicht sehr wahrscheinlich, daß die ersten Christen im römischen Korinth14 ausgerechnet Elemente des (idololatrischen) Kaiserkults zur Grundlage ihrer zentralen Mahlfeier machten. Viel eher anzunehmen ist eine besondere Nähe zu jüdischen Essensriten15, die ja auch den Hintergrund des Letzten Abendmahles abgaben16. Auch in praktischer Hinsicht ist die Rekonstruktion des ›Herrenmahls‹ als Kombination zweier unterschiedlicher Mahlphasen mit differierenden Teilnehmern problematisch17. Wir sind auf diese Einwände aber nicht angewiesen. Denn die genannte These basiert auf der Existenz eines regelmäßigen paganen Opfers zwischen mensae primae und mensae secundae – also vor dem Nachtisch; tatsächlich fand das zentrale Tischopfer jedoch, wie an anderer Stelle gezeigt wurde18, ›nach Tisch‹, d. h. mensis remotis, also unmittelbar vor dem Gelage statt19. Der Brotritus beim ›Herrenmahl‹ kann also von einem solchen Opfer nicht beeinflußt worden sein. Die eben kritisierte These hat jedoch einen richtigen Ausgangspunkt. Sie sucht ja ein Interpretationsproblem zu beseitigen, das, wie gezeigt, tatsächlich zentral und nach wie vor ungelöst ist. In der Forschung herrscht ja leider weder über die Mißstände Einigkeit, die Paulus beklagt, noch – folglich – über seine Verbesserungsvorschläge. Die ursprünglichen Adressaten dagegen waren über beides mit Sicherheit nicht im unklaren. Unsere Schwierigkeiten rühren eben auch daher, daß unser Briefabschnitt nur ein einzelnes Glied einer Kommunikationskette ist, deren Voraussetzungen und andere Teile wir kaum kennen20.
14 Korinth war zwar von Caesar neu gegründet worden, und die ersten Bürger waren Römer (meist Freigelassene: Strabo 8,6,23; Paus. 2,1,2; vgl. auch Hoskins Walbank 1997); dies war aber fast 100 Jahre her, und mittlerweile konnte man in kultureller Hinsicht wieder eher von einer griechischen Stadt sprechen (vgl. Dio Chrys. 37,26); s. auch de Waele 1966, 17/31; G. Theissen, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde [1974]: ders. 1989, 231/71, hier 260/3; Elliger 1987, 210/51; Engels 1990; Schnelle 2003, 201f. 15 Daß diese seit hellenistischer Zeit in engem Kontakt (und keineswegs in prinzipiellem Gegensatz) zur griechischen Bankettkultur standen, betont zurecht Eckhardt: Leonhard/Eckhardt 2010, 1054f. Zu Gruppen jüdischer Herkunft und Prägung in der christlichen Gemeinde Korinths s. unten Anm. 127. 16 Zumindest die Synoptiker identifizieren es ja als Pesach-Mahl, s. zuletzt Leonhard: Leonhard/Eckhardt 2010, 1066f (Lit.). 17 Lampe 1991, 192 und 194 muß deshalb unklar bleiben in der Frage, was genau von wem nach dem Brotwort gegessen wurde (die Reste der mensae primae oder der Nachtisch) und was dann üblicherweise – wenn auch nicht in ausreichendem Maß – beim Herrenmahl geteilt wurde. Klinghardt 1996, 286 weist außerdem darauf hin, daß die angenommene Parallelität von Kelchritus und Krater-Mi-
schung (zu Beginn des Umtrunks) von falschen Voraussetzungen ausgeht. 18 Vössing 2004a mit den Einschränkungen der folgenden Anm. 19 Nach dem Wegräumen der Tische begann der Umtrunk: Verg. Aen. 1,723f; Ov. met. 8,572f; Mart. 5,78,11/6: nach den mensae secundae. Diese Zäsur war durch Opfer markiert (zB. Plut. sept. sap. 5, 150D). Im Laufe des Gelages konnten auch später noch Nachtischgänge serviert werden (was Vössing 2004a zu unrecht ausschließt, s. Ath. 4,13, 137A/C), aber das geschah niemals im direkten Anschluß an das Opfer. Wenn mensae secundae und ›Nachtischopfer‹ in den Quellen verbunden sind, dann weil erstere direkt nach den Hauptgängen und vor dem Opfer gereicht wurden (s. etwa Hor. sat. 2,2,121/5 in Verbindung mit carm. 4,5,31f). 20 In V. 22 (mit der Weigerung des Paulus zu ›loben‹; s. u.) wird deutlich, daß die Korinther ihre Mahlpraxis offenbar durchaus positiv (oder jedenfalls als unproblematisch) einschätzten und entsprechend dargestellt haben; der Passus in 1 Cor. ist also nicht nur eine Reaktion auf Beschwerden (s. 11,18). Leider lassen sich aber beim Thema ›Herrenmahl‹ (anders als etwa bei den Themen ›Opferfleisch‹ und ›Frauenschleier‹) im Brief des Paulus keine direkten Zitate dieser affirmativen Stimmen erkennen.
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II. Der übliche Ablauf des ›Herrenmahls‹ in Korinth Dennoch ist es vielleicht möglich, zu einer widerspruchsfreien Rekonstruktion zu kommen. Ausgangspunkt soll dabei die Deutung des μετὰ τὸ δειπνῆσαι beim Kelchritus (25) sein bzw. die Frage, welcher zeitliche Ablauf vor diesem Hintergrund für das korinthische ›Herrenmahl‹ anzunehmen ist. Die modernen Interpreten favorisieren hier ganz verschiedene Lösungen: 1) Mit μετὰ τὸ δειπνῆσαι sei einfach ›nach dem Essen des Brotes‹ gemeint21. Brotund Kelchritus seien hier als unmittelbar folgend dargestellt. Nun kann zwar δειπνεῖν auch das Essen von Brot bezeichnen22, dann aber müßte dieses Brot eine vollständige Mahlzeit darstellen. Wenn Paulus (bzw. der überlieferte Bericht) wirklich nur zum Ausdruck hätte bringen wollen, daß die Jünger das dargebotene Brot auch aßen, hätte er einen Begriff der Nahrungsaufnahme gebraucht23, nicht einen der Mahlkultur, als welchen übrigens auch noch die späteren lateinischen Übersetzungen den Ausdruck verstanden haben (postquam cenatum est bzw. postquam cenavit, also nach der cena), obwohl sich zu ihrer Zeit das Sättigungsmahl (›Agape‹) und die eucharistischen Riten schon getrennt hatten24. 2) Μετὰ τὸ δειπνῆσαι sei gar keine adverbiale Zeitbestimmung des (zu ergänzenden) ›er nahm‹ ἔλαβεν, sondern definiere nur attributiv den Becher: ›ebenso nahm er den Nachtisch-Becher‹. Diese Lösung ist jedoch schon aus sprachlich-grammatikalischen Gründen problematisch25. 3) Μετὰ τὸ δειπνῆσαι sei nur eine Reminiszenz, beziehe sich also lediglich auf das ursprüngliche Letzte Abendmahl und nicht auf die aktuelle Vergegenwärtigung26. Tatsächlich seien bereits damals die Doppelhandlung zu Brot und Wein zusammen und nach dem Essen durchgeführt worden. Doch warum hätte Paulus diese dann doch verwirrende (weil der korinthischen Praxis direkt widersprechende) Zeitbestim-
21 Vgl. etwa Karrer 1990, 201: »Das in V. 25 folgende μετὰ τὸ δειπνῆσαι, ›nach dem Essen‹, bezieht sich so im Text auf die Brothandlung zurück«; so zuletzt auch wieder die interpretierende Übersetzung von K. Berger / Ch. Nord, Das Neue Testament (Frankfurt, M./Leipzig 1999) 102. 22 S. etwa Hes. op. 442. 23 Etwa φαγεῖν oder ἐσθίειν, wie in V. 21 und 22; δειπνεῖν dagegen verweist auf das ganze (Abend-) Mahl; s. auch unten Anm. 141. 24 Ambr. sacr. 4,5,21f (Similiter etiam calicem postquam cenatum est . . . für ὡσαύτως καὶ τὸ ποτήριον μετὰ τὸ δειπνῆσαι). Wir wissen nicht, welche Übersetzung Ambrosius (oder wer immer dieses eucharistische Hochgebet im späteren 4. Jh. formuliert hat) benutzt hat. Daß jedoch an dieser Stelle 1 Cor. 11,25 im Hintergrund steht, ist hinreichend deutlich (zur Diskussion um die Formulierung des Hochgebets und um mögliche Vorbilder s. etwa Schmitz 1975, 384/98), zumal auch die (nach Hieronymus entstandene) Übersetzung von 1 Cor. in der Vulgata ähnlich lautet (similiter et calicem postquam cenavit). Zur Trennung von eucharistischem Mahl und ›Agape‹ s. unten Anm. 146.
Eine attributive Funktion von μετὰ τὸ δειπνῆσαι, wie sie etwa Pesch 1978, 44f und Stuhlmacher 1988, 65/105, hier Anm. 13, annehmen, würde eigentlich eine Stellung zwischen Artikel und Substantiv erfordern oder nach dem Substantiv eine Wiederholung des Artikels, namentlich wenn der Sinn sonst doppeldeutig ist. Im übrigen widerspricht auch Lc. 22,20 (s. unten Anm. 151) dieser Deutung von μετὰ τὸ δειπνῆσαι. 26 Seit Jeremias 1967, 114f, Marxen 1952/53, 297, Bornkamm 1963, 155 etc. kann man dies als vorherrschende Meinung bezeichnen, s. zB. Neuenzeit 1960, 71f; Conzelmann 1981, 242; Schelkle 1976, 388f; Betz 1979, 4. 18f; Kahlefeld 1980, 89/91. 110f; Lang 1986, 153; Stegemann 1990, 138; Gnilka 1990, 286; Meyer 1989, 75; März 1995; Gielen 1996; so auch die Kommentare von Klauck 1984, 81/5, Strobel 1989, 176. 181 und Wolff 2000, 257f; ferner Salzmann 1994, 56f; G. Hallbäck, Sacred Meal and Social Meeting. Paul’s Argument in 1 Cor. 11.17–34: Nielsen/Nielsen (Hrsg.) 1998, 167/76, hier 171; Klauck [2002] 2003, 199f; Schnelle 2003, 206; Hahn 2006, 326, um nur eine Auswahl zu nennen. 25
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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mung überliefern sollen, wo er doch die Adressaten gerade wieder auf den Geist der ursprünglichen Feier verpflichten wollte?27 Hierauf gibt es keine befriedigende Antwort. Eine radikale Ausprägung dieser Interpretation ist die These, die von Paulus überlieferte Ordnung habe gar nichts mit der zu seiner Zeit in Korinth praktizierten zu tun; diese sei der überlieferten vielmehr diametral entgegengesetzt: man habe nämlich nach dem Sättigungsmahl den Kelchritus vollzogen, dem dann der Brotritus gefolgt sei28. Die Basis hierfür ist das zehnte Kapitel unseres Briefes, in dem tatsächlich das Brechen des Brotes dem Trinken aus dem Becher folgt29. Doch ist dort diese Abfolge nicht durch irgendeine Zeitbestimmung festgelegt, vielmehr eine bloße Aufzählung der beiden Handlungen ›essen‹ und ›trinken‹. Daß sie in umgekehrter Reihenfolge genannt werden, läßt sich auf verschiedene Weisen erklären, etwa durch die folgende längere Auslegung (10,16/20) des Gemeinschaft stiftenden Brotes, die eben an das Essen anknüpft30. Wer hier eine Spiegelung der realen Abfolge sieht, schafft unnötige Schwierigkeiten: Es gibt keinen erkennbaren Grund, die zeitliche Anordnung gemäß den zitierten Einsetzungsworten umzukehren31, zumal Paulus seine Ermahnung in Vers 28 ebenfalls in der Reihenfolge ›essen – trinken‹ formuliert32. 4) Paulus habe mit dem μετὰ τὸ δειπνῆσαι die Korinther, die den Brotritus mittlerweile direkt vor dem Kelchritus und beide nach dem Mahl hielten, wieder zu einer Trennung der beiden Riten zurückführen wollen33. Wenn sein Ziel aber tatsächlich gewesen wäre, durchzusetzen, daß Brot- und Weinritus das Sättigungsmahl nicht mehr abschlossen, sondern wieder – wie ursprünglich praktiziert – rahmten, wäre ganz unverständlich, warum er nur beim Kelchritus, der von den Korinthern doch in jedem Fall ohnehin nach einem Essen begangen wurde, diese (dort dann ja unstrittige) Zeitbestimmung ›nach dem Essen‹ gab, beim Brotritus dagegen den entscheidenden – weil korrigierenden – Hinweis ›vor dem Essen‹ unterließ. Verständlich ist die eher beiläufige Angabe μετὰ τὸ δειπνῆσαι nur, wenn sie der Mahlpraxis der Korinther nicht widersprach.
27 S. die überzeugende Argumentation von Theissen [1974] 1989, 298f; in der Folge sahen auch Hofius [1988] 1994, 208/18 und Engberg-Pedersen 1991, 596 im μετὰ τὸ δειπνῆσαι zurecht den entscheidenden Beleg für die Anordnung ›Brotritus – Sättigungsmahl – Weinritus‹ in Korinth. Das häufige Gegenargument, der ›Einsetzungsbericht‹ habe ganz wortgetreu und ohne Rücksicht auf die aktuelle Situation überliefert werden müssen, paßt nicht zu den tatsächlichen Variationen des Letzten Abendmahls in den Evangelien. 28 In diesem Sinn zuletzt Schröter 2006, 33; vorsichtig zustimmend auch McGowan 1999, 240 29 1 Cor. 10,16: τὸ ποτήριον τῆς εὐλογίας ὃ
εὐλογοῦμεν, οὐχὶ κοινωνία ἐστὶν τοῦ αἵματος τοῦ Χριστοῦ; τὸν ἄρτον ὃν κλῶμεν, οὐχὶ κοινωνία τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ ἐστιν; 10,21: οὐ δύνασθε ποτήριον κυρίου πίνειν καὶ ποτήριον δαιμονίων· οὐ δύνασθε τραπέζης κυρίου μετέχειν καὶ τραπέζης δαιμονίων.
30 Vgl. auch Leonhard: Leonhard/Eckhardt 2010, 1095. Eine alternative Erklärung könnte der
gewünschte Kontrast zu paganen Kultmählern sein, die nur einen Wein-, keinen Brotritus kannten, s. Wolff 2000, 227f, zuletzt Löhr 2012, 69. 31 Der für die paganen Teilnehmer ungewohnte Brotritus am Anfang wäre durch Verschiebung ans Ende ja nicht weniger fremd geworden. 32 Jedenfalls ist, unabhängig von diesen Fragen, auffallend, daß Paulus sein Thema hier zwar mit derselben Tendenz wie im nächsten Kapitel, jedoch in einem anderen Ton (und mit zT. anderem Vokabular: s. die Betonung der κοινωνία, s. unten Anm. 136) behandelt. Wir können nicht sicher sein, daß beide Kapitel ursprünglich zum selben Brief gehörten; 1 Cor. könnte (wie andere Paulusbriefe) durchaus eine Komposition ursprünglich unabhängiger Schreiben sein, auch wenn die verschiedenen ›Teilungshypothesen‹ der Forschung (vgl. Schnabel 2006, 39/41) sich oft widersprechen. 33 So zB. schon Weiss 1917, 510; s. auch Pesch 1986, 168.
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5) In Korinth sei das ›Herrenmahl‹ zwar durchaus von einem gemeinsamen Brotund Kelchritus gerahmt gewesen, die ›Reichen‹ der Gemeinde hätten es jedoch als ein ἴδιον δεῖπνον (21) – eventuell mit Fleisch, Fisch und anderer ›Zukost‹34 – gehalten, von dem die Ärmeren aber ausgeschlossen gewesen wären; denn nur Brot und Wein hätten geteilt werden müssen, alles andere dagegen habe, weil in den Einsetzungsworten nicht genannt, auch noch nach dem gemeinsamen Brotritus ›privat‹ genossen werden können35. Für eine solche Vorstellung fehlt jedoch jeder Beleg. In diesem Fall wäre außerdem der entscheidende Verstoß der Korinther gegen die Überlieferung eben diese individuelle Erweiterung des Mahls gewesen, was mit der zentralen Mahnung von Vers 33 ›Wartet beim Herrenmahl aufeinander‹36 kollidiert; sie gibt keinen Sinn, wenn das Hauptproblem gar nicht in der Ungleichzeitigkeit, sondern in der ›Unmäßigkeit‹ lag. 6) Die reichen Gemeindemitglieder in Korinth hätten vor das gemeinsame von Brot- und Weinritus gerahmte ›Herrenmahl‹ ein Privatessen geschoben, was zu einer Brüskierung der Ärmeren führte. Nur dieser Privatverzehr vorher, »der vermutlich einer Überbrückung der Wartezeit bis zum vollständigen Eintreffen sämtlicher Gemeindemitglieder diente«, sei von Paulus kritisiert worden37, und seine Vorwürfe seien in ihrem Kern sozialethischer Natur gewesen. Doch dann wäre auch hier unverständlich, warum er seinen Wunsch, auf dieses ›Vormahl‹ ganz zu verzichten, in die Aufforderung ›Wartet aufeinander‹ kleidet; denn mit dem ›Vormahl‹ sollte ja gar nicht gewartet werden (es sollte vielmehr gänzlich abgeschafft werden), und mit dem Brotritus und dem darauf bezogenen anschließenden Mahl wurde bei dieser Interpretation in Korinth ja schon immer gewartet. Es wäre auch schwer zu verstehen, daß Paulus den Korinthern vorwarf, sich an ›Leib und Blut Christi zu versündigen‹38, wenn doch die Mahlfeier im engeren Sinn gar nicht zur Debatte stand. Und wäre, wenn Paulus wirklich den Ausschluß der Ärmeren von dem aufwendigen ›Voressen‹ als einen geradezu tödlichen und buchstäblich ins (wenn auch nicht endgültige) Gericht führenden Verstoß gegen den Geist des Letzten Abendmahls dargestellt hätte, nicht doch zu erwarten, daß er die Reichen aufgefordert hätte, dieses ihr ›Privatmahl‹ zu teilen, und daß er nicht die schwere Verletzung des Auftrags Christi39 schon für den Fall als geheilt angesehen hätte, daß diese Diskriminierung zwar in vollem Umfang weiterging, aber einfach nicht mehr sichtbar war?40
Die Zukost, τὸ ὄψον, steht im Gegensatz zum Sättigungsmittel Brot, σίτος (s. schon Xen. mem. 3,14,2/4; zur Bedeutungsgeschichte s. Kalitsunakis 1926) und kann deshalb auch allgemein den Leckerbissen (zB. Plut. Alex. 23,9) oder ein spezifisches ›Zubrot‹ bezeichnen, im griechischen Raum übrigens meist Fisch, s. zB. Plut. quaest. conv. 4,4,2 (mor. 667 F/668 A); vgl. zuletzt Davidson 1999, 25/ 57. 35 Theissen [1974] 1989, 298f und 302/7, gefolgt von Meeks 1983, 159. 36 So versteht auch Theissen [1974] 1989, 297 das ἐκδέχεσθε. 37 So etwa Bornkamm 1963, 144; zuletzt Kollmann 1990, 42 und 48f; vorsichtig favorisiert auch Stein 34
2008, 119 diese Lösung. Vom Ablauf her läßt sie sich mit der Rekonstruktion von Lampe 1991 (s. o.) verbinden. 38 V. 27 und 29. 39 Bornkamm 1963, 145. 169 spricht von der Verletzung der christlichen Bruderpflicht; ähnlich Banks 1980, 86. Zum Charakter der ›Verurteilung‹ (κρίμα) mit Blick auf die Züchtigungen, wie sie in V. 30 beschrieben sind (eher als auf das ›Jüngste Gericht‹), s. Baumert 2007, 178. 40 Dies spricht auch gegen die Deutung von Passakos 1997, 192/210, der den Briefpassus geprägt sieht von einem »ethos of equality, justice and unity within the community and of solidarity with the low and despised« (192).
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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Eine Rekonstruktion der Mahlpraxis in Korinth muß erstens die genannten Widersprüche vermeiden, zweitens die massive Verurteilung in den Versen 29/31 erklären, drittens verständlich machen, warum Paulus davon ausgehen konnte, daß schon die bloße Wiederholung der von ihm weitergegebenen Überlieferung als Zurechtweisung dienen konnte, und viertens mit der Praxis größerer antiker Mähler übereinstimmen. Wenn man die Verse 20 (›es ist nicht möglich, das Herrenmahl zu feiern‹ – οὐκ ἔστιν κυριακὸν δεῖπνον φαγεῖν) und 33 (ἀλλήλους ἐκδέχεσθε) als die beiden aufeinander bezogenen Kernpunkte der Ermahnung ernst nimmt41, bedeutet dies, daß die (von Paulus überlieferte) Feier aus seiner Sicht deshalb nicht möglich war42, weil man nicht aufeinander wartete. Alles hängt nun davon ab, inwieweit man die Verse 21f, die eine nähere Erklärung bieten (γάρ – denn), in dieses Szenario integrieren kann. Paulus führt den Mißstand darauf zurück, daß ›jeder‹ (hierzu gleich mehr) das Mahl als ein ἴδιον δεῖπνον beging, also zu einer privaten Mahlzeit machte (Vers 21). Entscheidend ist hier m. E., daß κυριακὸν δεῖπνον und ἴδιον δεῖπνον zwar kontrastiert werden, jedoch nicht deshalb, weil, wie die meisten Interpretationen annehmen, es sich um getrennte Veranstaltungen handelte (indem vor oder nach dem κυριακὸν δεῖπνον ein ἴδιον δεῖπνον gehalten wurde), sondern weil sie sich ideell ausschlossen: Wer das ›Herrenmahl‹ als Privatmahl hielt, machte es zunichte43. Paulus hat den Begriff κυριακὸν δεῖπνον offenbar geradezu für den Zweck geschaffen, ihn dem ›Privatmahl‹ entgegenzusetzen44. Zwei leicht erkennbare Charakteristika waren es, die die Mähler der einzelnen Gruppen in Paulus’ Augen gemeinschaftsfeindlich werden ließen: zum einen begann jede Gruppe mit dem Essen, sobald sie vollzählig war. Hier ist also der temporale Sinn von προλαμβάνειν wichtig, der – wie gesagt – nicht wegdiskutiert werden kann. Man sollte dabei aber die Stoßrichtung des ganzen Satzes im Auge behalten. Die Forschung hat in Vers 21 viel zu sehr auf das προλαμβάνειν geschaut und zuwenig auf das ἕκαστος45 – . . . ἕκαστος ἐν τῷ φάγειν – ›jeder beim Essen‹ (sc. des Herrenmahles, wie der vorangegangene Vers zeigt); dies pleonastisch zu verstehen, wäre hier ganz falsch46. Gerade
41 Daß sie so gemeint sind, zeigt die Einleitung von V. 33 (Ὣστε, ἀδελφοί μου, συνερχόμενοι εἰς τό φαγεῖν . . .), die diejenige von V. 21 explizit wiederaufnimmt (συνερχομένων οὖν ὑμῶν ἐπὶ τὸ αὐτὸ . . .). 42 Es gibt keinen Grund für eine schwächere Übersetzung des ἔστιν, etwa als Copula (so Léon-Dufour 1983, 276: »so ist das keineswegs das Herrenmahl, . . . das ihr eßt«); zwar wird ἐστιν nach οὐκ generell nicht inkliniert, in Verbindung mit einem Infinitiv ist die Bedeutung von οὐκ ἔστιν aber immer: ›es ist nicht möglich‹; s. schon Rückert 1836/37, 308. 43 Plutarch faßt dies prägnant zusammen: »Wo das Eigene ist, wird das Gemeinsame zerstört« – ὅπου τὸ ἴδιον ἔστιν, ἀπόλλυται τὸ κοινόν (quaest. conv. 2,10,2 [mor. 644 C]); es geht hier um das Zuteilen individueller Portionen im Gegensatz zur üblichen Bewirtung pro Tisch (s. unten Anm. 70). 44 Er war weder eingeführt, noch hat er sich übrigens durchgesetzt, s. Leonhard: Leonhard/Eckhardt 2010, 1068; zum Begriff vgl. auch Al-Suadi
2011, 190/2 und 294/8, die ihn auf Jesus als den Symposiarchen des ›Herrenmahls‹ bezieht. 45 Klauck 1986, 293 möchte (gefolgt von Kollmann 1990, 40) ἕκαστος mit Blick auf 1 Cor. 14,26 als ›jeder, der dazu imstande ist‹ relativieren. Dort aber ist ἕκαστος Subjekt zu fünfmaligem ἔχει und insofern tatsächlich auf diese im Gottesdienst Aktiven beschränkt; an unserer Stelle folgt aber im selben V. ὃς μὲν πεινᾷ, ὃς δὲ μεθύει, und durch diese klassische Vollständigkeitsantithese ist klar die gesamte Versammlung umgriffen. 46 Das ἐν τῷ φαγεῖν korreliert dabei nicht nur mit dem κυριακὸν δεῖπνον φαγεῖν (V. 21), sondern verweist auch klar auf das εἰς τὸ φαγεῖν in V. 33; gemeint ist immer das Essen des Herrenmahles. Schon dies spricht gegen die Annahme eines ›Vormahls‹, das vorweggenommen wurde; denn dieses hätte dann ja nicht ἐν τῷ φαγεῖν stattgefunden, sondern v o r dem Herrenmahl (πρὸ τοῦ φαγεῖν).
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diese Wendung zeigt, daß Paulus zunächst einmal alle Gruppen angreift, weil sich auch alle beim Essen (und nicht vorher) getrennt haben. Häufige Mißverständnisse hat hervorgerufen, daß Paulus in Vers 21 mit diesem zentralen und theologisch bedeutsamen Vorwurf einen zweiten (eher sozialen) verwoben hat: den der Beschämung der Armen durch die unterschiedliche ›Speisekarte‹. Der gedrängte und drängende Stil des Apostels geht dabei hier – wie auch an anderen Stellen – auf Kosten der formalen Logik: ›Vorgreifen‹ (προλαμβάνειν) können ja immer nur einige, nicht ›jeder‹(sonst wäre die ganze Veranstaltung lediglich vorverlegt)47 – ganz abgesehen davon, daß ›jeder‹ ohnehin für heute mißverständlich ist, da wir an ›jeder einzelne‹ denken könnten. Niemand aber aß bei antiken Banketten allein, es sind die jeweiligen Gruppen gemeint48. Hinzukommt die Mißverständlichkeit der meisten Übersetzungen des προλαμβάνειν: meist wird impliziert, daß dem ›vorweggenommenen‹ noch ein anderes, ein gemeinsames Mahl, folge. Dies ist aber sonst nicht der Sinn von προλαμβάνειν die Grundbedeutung ist ›vorher nehmen‹, was diese spätere Wiederholung gerade ausschließt: das was ›vorher genommen‹ wird, ist nachher weg49. Damit ist aber im Vergleich zu den bisherigen Interpretationen etwas Neues gewonnen: die verschiedenen ungleichzeitigen ἴδια δεῖπνα, die Paulus beklagt, waren alle durchaus jeweils als ›Herrenmahl‹ gedacht, wobei aber durch die unterschiedlichen Anfangszeiten ein für alle gemeinsamer Brot- und Kelchritus (und für Paulus somit überhaupt ein wirkliches δεῖπνον κυριακόν) unmöglich wurde50. Stattdessen seien die Zusammenkünfte, so der Apostel, von verschiedenen Spaltungen (Vers 18f) geprägt51, die er für derartig schwerwiegend hält, daß er sie als Probe auf die göttliche Erwählung der Christen, als Vergehen gegen die Heilstat des Gründers und als Grund für Krankheiten und Tod wertet (Verse 18f. 27/32). Auch diese starke Verurteilung weist darauf hin, daß man in Korinth nicht, je nachdem wie man eintraf, schon etwas zu sich nahm, um dann gemeinsam den kultischen Teil zu begehen, sondern daß man das ›Herrenmahl‹ als ganzes tatsächlich gruppenweise und zeitversetzt, eben im Wortsinn ›schismatisch‹, feierte52. In Korinth ist, so Paulus, nicht nur den Armen das ›Her47 Das ›vor‹ (πρό) bezieht sich auf eine wirklich gemeinsame Feier (sie hat Paulus hier schon im Blick), und da es sie in der Realität gar nicht gab, lag die Verallgemeinerung ›jeder‹ nahe. In der oben gegebenen Übersetzung ist dieser Widerspruch zugunsten der Verständlichkeit aufgelöst. 48 Vgl. W. Tietz, Das ›einsame‹ Mahl im römischen Moraldiskurs: Vössing (Hrsg.) 2008, 157/68. 49 S. zB. Mc. 14,8: da Jesus einem unrühmlichen Tod ohne reguläres Begräbnis entgegensieht, wird (in Bethanien) die Salbung zu Lebzeiten und in diesem Sinn ›vorher‹ vollzogen; s. auch Ath. 2,24, 45E und 3,28, 84D; verdünnter Süßwein bzw. Zitrone wurden prophylaktisch als Verdauungshilfe bzw. als Sicherung gegen Giftanschläge ›vorher‹, d. h. vor dem Bankett, zu sich genommen. 50 Wenn etwa Klauck 1986, 295 darauf abhebt, daß Paulus bei einem getrennten Brotbrechen doch mit »einem Aussschluß der Armen, die zu spät kommen, vom Sakramentsvollzug« habe rechnen müssen, dies aber nicht tue, beruht dies einerseits auf der allgemein üblichen Voraussetzung, daß es nur einen,
gemeinsamen Brotritus gab; andererseits widerspricht es aber auch V. 20 (οὐκ ἔστιν κυριακὸν δεῖπνον φαγεῖν): Paulus sah in Korinth gar keinen echten ›Sakramentsvollzug‹ mehr (der Begriff ist zwar ein Anachronismus, jedoch, wie 1 Cor. 10,1/ 13 mit seiner Warnung vor ›Sakramentalismus‹ zeigt, wohl ein erlaubter). 51 Zur Frage, ob hinter der begrifflichen Differenzierung zwischen σχίσματα und αἱρέσεις hier eine inhaltliche steht (was eher unwahrscheinlich scheint), s. die Diskussion bei Conzelmann 1981, 227f; Paulsen 1982, 198f; Wolff 1996, 260; Merklein/Gielen 2005, 85f. Andererseits zeigt u. a. die Variation, daß es nicht nur um soziale Differenzen gegangen sein wird; hierzu s. unten Anm. 125. 52 Bei dieser Interpretation entfällt auch ein häufig gebrauchtes Argument gegen ein Sättigungsmahl in Korinth, das von Brot- und Kelchritus gerahmt war: ›dann wäre den später Eintreffenden die Eucharistie entgangen, was Paulus nicht unerwähnt gelassen hätte‹ (Léon-Dufour 1983, 27841; Salzmann 1994, 56; so auch schon Lessig 1953, 175).
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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renmahl‹ entgangen, sondern der ganzen Gemeinde, weil es eben getrennt (und damit nicht in der richtigen Gemeinschaft) gegessen wurde. Daß er nicht rundheraus fordert, ›feiert die Riten zusammen‹, liegt daran, daß sich dies zwingend aus dem ›Wartet aufeinander‹ ergab; Riten und Sättigungsmahl waren ja weder getrennt noch sollten sie es werden. Für Paulus (und für die Gemeinde) war somit selbstverständlich, daß mit zeitversetzten Mählern auch zeitversetzte Riten verbunden waren und umgekehrt.
III. Modellbildung und Texverständnis Bislang haben wir im wesentlichen textimmanent argumentiert. Die vorgeschlagene Interpretation muß sich also noch in zweierlei Hinsicht bewähren: im Rahmen dessen, was wir über die antike Bankettkultur wissen und vor dem Hintergrund unserer Kenntnisse der frühchristlichen Gemeinde in Korinth; beide Komplexe sind bislang nur angeschnitten worden. Dabei ist jedoch bereits deutlich geworden, daß auf der einen oder anderen Ebene nicht einfach Fakten zur Verfügung stehen werden, von denen unsere Rekonstruktion gestützt oder geschwächt werden kann. Es ist vielmehr die prinzipielle Offenheit der Frage, welches (wie genau festgelegte) ›BankettModell‹ die korinthische Gemeinde für ihre eigenen Feiern wählte, die so verschiedene Interpretationen unseres Briefkapitels ermöglicht hat. Es geht also auch darum, die Verbindung zwischen der Identifizierung eines solchen Modells und unserem Textverständnis im Auge zu behalten. Tatsächlich dürfte hier der Grund dafür liegen, daß das eben dargestellte Szenario bislang offenbar kaum in Betracht gezogen wurde. Denn häufig geht man von einem einzigen Saal als Ort des Geschehens aus (dem Speisesaal eines herrschaftlichen Hauses) und dementsprechend von einem engen Miteinander aller Teilnehmer, in Analogie zur üblichen Mahlgemeinschaft eines antiken Haushalts53. In einem solchen Rahmen scheint es in der Tat kaum denkbar, daß man den Brotritus, der das jüdische Mahl eröffnete54, oder den Weinritus nicht gemeinsam beging. Belegt ist jedoch, daß die gesamte christliche Gemeinde Korinths teilnahm55, und die war offensichtlich nach dem Weggang des Paulus erheblich geS. etwa Meeks 1983, 68; Theissen [1974] 1989; Stegemann 1995, 244; Klinghart 1996, 291/5 (s. unten Anm. 73); White 1997, 17: »around the common table of the house«; Smith 2003, 177f. – Vielleicht drängte auch der Vergleich mit der Situation in Mithraea, Dolichena und Bakchia (jeweils ein langrechteckiger Raum mit umlaufenden Liegepodien; s. etwa Schäfer 2008) in diese Richtung. Aber es handelt sich um Phänomene des 2./3. Jh., deren Ursprung auch keineswegs die Mahlgemeinschaft war. Zur Problematik der Kategorie des Mysterienmahls s. Eckhardt 2009. 54 Die frühesten Belege stammen (abgesehen von 1 Cor. 11,23f) aus den Evangelien (Mc. 6,41; 8,6 par.: Mt. 14,19; Lc. 24,30; Joh. 6,11; 21,13, dazu Jeremias 1967, 1671). Da er hier in verschiedenen Kontexten vorkommt, in griechisch-römischen Banketten je53
doch nicht bezeugt ist, kann man tatsächlich von einer jüdischen Herkunft ausgehen. 55 Paulus spricht ausdrücklich vom Zusammenkommen ἐπὶ τὸ αὐτό (11,20; s. auch 14,23: Ἐὰν οὖν συνέλθῃ ή ἑκκλησία ὅλη ἐπὶ τὸ αὐτό), also von einem Treffen der ganzen Gemeinde an einem Ort, im Gegensatz zu Act. 2,46 (vgl. auch Phlm. 2; Rom. 16,5; 1 Cor. 16,19): κατ᾿ οἶκον. Auch wenn ἐπὶ τὸ αὐτὸ »nicht unbedingt im lokalen Sinn gefaßt werden« muß, ist es hier doch eindeutig so gemeint (Rordorf 1964, 114). Ein möglicher Gastgeber war Gaius, »der mich [Paulus] und die ganze Gemeinde [von Korinth] gastlich aufgenommen hat« (Rom. 16,23; vor diesem Hintergrund ist wohl auch 1 Petr. 4,9 zu verstehen: φιλόξενοι εἰς ἀλλήλους ἄνευ γογγυσμοῦ); aber Gaius’ Gastfreundschaft kann sich auch nur auf Paulus’ erste Zeit in Korinth beziehen.
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wachsen. Andernfalls wäre nicht erklärbar, warum das Problem der Spaltungen beim Mahl in den anderthalb Jahren seines Wirkens in der Stadt (Act. 18,11) nicht aufgetaucht war. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, daß die Gemeinde zur Zeit der Abfassung des Briefes mindestens eine sehr hohe zweistellige, wenn nicht gar eine dreistellige Zahl umfaßte56. Da nun davon auszugehen ist, daß man – wie generell beim antiken Bankett inklusive größerer Gemeinschaftsmähler57 – auch beim ›Herrenmahl‹ prinzipiell auf Klinen lag58, konnte nach Maßgabe der griechisch-römischen Hausarchitektur nie mehr als ein gutes Dutzend Gäste in einem Raum plaziert werden59. Es fehlt deshalb auch nicht an Versuchen, Alternativen plausibel zu machen. Sehr anschaulich wurde etwa ein privates Landhaus mit Atrium und Triklinium als Ort des Geschehens dargestellt, was die zur Verfügung stehende Fläche erheblich vergrößert60. Demgegenüber wurde zurecht darauf hingewiesen, daß es bei Paulus überhaupt keinen Hinweis auf die Art des für das Mahl genutzten Hauses geschweige denn seiner Räumlichkeiten gibt61. Tatsächlich wissen wir nicht, ob es sich etwa um ein vollständiges, freistehendes Peristyl-Haus oder um den Teil einer domus handelt, wir wissen nicht, ob wir von einer, von zwei oder gar von drei Etagen auszugehen haben62, und – Im religiösen Sinn eigenständige christliche ›Hausgemeinden‹ gab es also im damaligen Korinth nicht (wie wohl generell nicht in den paulinischen Gemeinden: so überzeugend Merklein/Gielen 2005, 460/4). 56 J. Klauck, Der Gottesdienst in der Gemeinde von Korinth [1984]: ders. 1989, 46/58, hier 46 spricht nach einer Schätzung »aufgrund der Nennung von Namen, Familien, Häusern und Gruppen durch Paulus« von ca. 100 bis 200 Mitgliedern; auf um die 100 Mitglieder stark schätzen auch Suhl 1975, 115 und Schnelle 2003, 203 die Gemeinde, Caragounis 2009, 406 sogar auf mehrere hundert; dies dürfte übertrieben sein. Vgl. auch Act. 18,10: λαὸς πολύς. Klinghardt 1996, 324f zählt nur die von Paulus in dieser oder jener Form erwähnten, ihm also bekannten Mitglieder zusammen und kommt auf ca. 35 Personen. Da es aber mit Sicherheit auch solche gab, die er kannte, aber nicht erwähnte, und vor allem Neumitglieder, die seit seinem ein paar Jahre zurückliegenden Aufenthalt dazugekommen waren, folgt aus dieser minimalisierenden Rechnung ebenfalls eine hohe Zahl kaum unter 100 Personen. 57 Das größte bekannte Bankett auf Klinen veranstaltete Caesar nach seinem Triumph 46 vC. (Plut. Caes. 55,4: 22.000 triklina, was einer Gästezahl von knapp 200.000 Gästen entspricht); Seneca Minor soll 500 Eßtische besessen haben (Dio Cass. 61,10,3; vgl. auch Mart. 7,48,1 und 11,35: 300 Gäste). 58 Smith 2003, 178f hält dagegen für wahrscheinlich, daß die Teilnehmer des Mahls in Korinth zu Tisch saßen. Tatsächlich aber wäre dies ein völliger (und unerklärlicher) Bruch mit antiken Gepflogenheiten. Es gibt kein einziges Beispiel entsprechender Veranstaltungen, bei denen die Essenden saßen
(das Zu-Tisch-Liegen ist bekanntlich auch der Hintergrund der Mahlgleichnisse und der Speisungswunder Jesu sowie der Bankette, an denen er selbst teilnahm: s. zB. Mc. 2,15; 6,39f; 8,6; 14,3. 7; 14,18 par.; Lc. 7,36. 44; 9,14; 11,37; 14,7/11; 24,30; Joh. 13,3. 24). Das bedeutet allerdings nicht, daß durchweg alle Teilnehmer lagen, s. unten Anm. 60. 59 Dies gilt unabhängig davon, ob die rechteckige Form von ›drei Klinen‹ (triclinium) oder das halbrunde sigma-Bett (das sich aus den stibadia genannten Lagerungen im Freien entwickelt hatte) benutzt wurde, s. Vössing 2004, 557/66; vgl. auch K. M. D. Dunbabin, Triclinium and Stibadium: Slater (Hrsg.) 1991, 121/48; dies. 2003, 36/71. Nur kaiserzeitliche Luxuspaläste hatten Speiseräume mit 30 Betten und mehr: Plut. quaest. conv. 5,5,2 (mor. 679 B). 60 Murphy-O’Connor 1983, 158f; ders. 1984, 34/6 (zustimmend zuletzt Fotopoulos 2010, 151/5); er beschränkt die ›Spaltungen‹ auf die eine Trennung zwischen den Wohlhabenden im Triklinium und dem – sitzenden – Rest im Hof, was dem Text nicht gerecht wird. Die Möglichkeit, daß ein Teil der Feiernden mit Bänken vorlieb nehmen mußte, bleibt davon aber unberührt (s. unten zu Anm. 78/80). 61 Stein 2008, 126; Caragounis 2009, 411/5. 62 Bezeichnenderweise beziehen sich die einzigen spezifischen Bezeichnungen von ›Speisezimmern‹ im NT auf solche im ›Obergeschoß‹: Mc. 14,15; Lc. 22,12; Act. 20,8; letzteres befand sich sogar im 3. Stock (Act. 20,9). Dies war keine östliche Besonderheit, s. Varro ling. 5,23, § 162 Müller: ubi cenabant cenaculum vocitabant . . . Posteaquam in superiore parte cenitare coeperunt, superioris domus universa [sc. pars] cenacula dicta; Paul. ex Fest p. 54,6: cenacula dicuntur, ad quae scalis ascenditur.
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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es ist auch nicht auszuschließen, daß man für die Zusammenkunft Räumlichkeiten anmietete63. Diese Unsicherheit64 hat verhindert, daß eine ganz entscheidende Gemeinsamkeit der Varianten die notwendige Beachtung fand: gleichgültig wo man die Versammlung ansiedeln möchte, es gibt keine Basis dafür, sich das korinthische Herrenmahl in einer einzigen großen Tafelgemeinschaft vorzustellen. Lange Tischreihen sind nur für einige hellenistische Königsbankette bezeugt, während selbst die Kaiser in den üblichen kleinen Runden speisten65. Die geradezu obligatorische Verbreitung dieser Form war durch die vorhandenen Räumlichkeiten gegeben66, durch die üblichen Bankettmöbel und durch die gewohnten Formen und Mentalitäten antiker Kommensalität, für die etwa die Möglichkeit, sich mit allen Teilnehmern einer Bankettrunde bequem unterhalten zu können, entscheidend war67. Bei größeren Einladungen benutzte man mehrere Räume68, und man plazierte sich, wenn ein Hof oder eine Gartenanlage einbezogen wurde, sicher auch auf diesen Flächen. Die antike Bankettkultur hatte ihren Ursprung in der aristokratischen und bürgerlichen Mahlgemeinschaft, und die egalisierenden Züge eines Triklinium waren auch in der Kaiserzeit noch dominant. Zwar konnte hinter der Fassade des gemeinsamen Lagerns und Konsumierens durchaus die Realität eines Herrschaftsverhältnisses wirksam sein69, man speiste und trank jedoch als Gemeinschaft. Hierzu gab es gar keine Alternative; denn das Essen kam nicht auf individuellen Tellern, sondern in Schüsseln und Schalen, aus denen sich die Teilnehmer bedienten70, und der Wein wurde oft in großen Mischkrügen gemischt und ging dann reihum71. Diese Gleichheit bezog sich aber nur auf die jeweilige Runde; auch gemeinsamer Beginn, gemeinsames Ende und gemeinsame Opfer waren hier selbstverständlich. Alle Klagen über die Ungleichbehandlung niedriger Gäste bei größeren patronalen Banketten72 dagegen haben zur (oft unausgesprochenen) Voraussetzung, daß die mit schlechtem Essen und billigem
Klinghardt 1996, 326 hält dies sogar für die wahrscheinlichere Lösung, ebenso Taussig 2009, 44 (wegen 1 Cor. 11,34); vgl. auch Act. 19,9f, wo allerdings nur von der Lehre des Paulus in der schola eines gewissen Tyrannos die Rede ist. 64 Sie entspricht der Variationsbreite, die auch für die Bankette zeitgenössischer Vereine belegt ist, s. unten Anm. 121. 65 Vössing 2004, 100/14 und 356f. 66 S. oben Anm. 59. 67 S. etwa Plut. quaest. conv. 5,5 (mor. 678 C/679 B). Gellius stimmte Varros Ratschlag, nicht weniger Gäste einzuladen als Grazien und nicht mehr als Musen, zu (Gell. 13,11,2); vgl. auch Auson. eph. 5,5f (12 Peiper). Dazu kamen unter Umständen aber noch ein paar Begleiter der Geladenen, s. Hor. epist. 1,5,28: locus est et pluribus umbris. 68 Dies zeigen die größeren Hausanlagen mit ihren multifunktionalen Räumen, s. etwa Hoepfner/ Schwandner et al. 1994, 327f; Kiderlen 1995, I, 96/102; Reber et al. 1998, 134/6. S. auch Vitruv. 6,5,1; 6,7,3 (dazu Hoepfner/Schwandner et al. 1994, 298); Plin. nat. 35,164; Petron. 77,4; Plin. ep. 63
1,3,1. Bei Vereinsbanketten war die Situation vergleichbar, s. unten Anm. 115. 69 S. bes. D’Arms 1999. 70 Zur Frage der Portionierung s. Plut. quaest. conv. 2,10 (mor. 642 E/644 D), wobei zu beachten ist, daß in Plutarchs Zeit die beschriebene alte Art der Zuteilung individueller Portionen (wovon sich der homerische Begriff δαίς herleitet) nicht erst kürzlich durch gemeinsame Bewirtung (ἐκ κοινοῦ) ersetzt wurde; Plutarch nimmt vielmehr auf die Bankette der klassischen Zeit Bezug, deren System bei Opfermählern (gewissermaßen archaisierend) teilweise weitergeführt wurde. 71 S. etwa Dunbabin 1993; auch wenn der gemeinsame Mischkrug beim römischen Umtrunk zugunsten der individuellen Mischung und Temperierung an Bedeutung verloren hat, herrschte doch jeweils innerhalb einer Runde auch beim Wein Egalität. 72 Sie sind vor allem in Satiren zu finden (Vössing 2004, 566/8; vgl. auch ders. 2010), aber auch in anderen kritischen Behandlungen des Verhältnisses zwischen dem Patron und seinen amici (Vössing 2004, 240/4. 255f, bes. zu Plin. ep. 2,6).
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Wein abgespeisten Klienten an anderen Tischen und in anderen Mahlrunden lagen als der Gastgeber und seine unmittelbare Umgebung73. Wenn wir uns für die genaue Organisation, etwa das Zeitmanagement, derartiger ›Komposit-Bankette‹ (es konnten hunderte Gäste eingeladen sein) interessieren, stehen wir vor einer Schwierigkeit: Es war das Bankett elitärer Kleingruppen, das in der überwiegenden Mehrzahl unserer Textquellen repräsentiert wird, vornehmlich seine Formen (von der Menüfolge über die Platzordnung bis zum Tischgespräch) wurden überliefert; denn hier spielten sich ja die sozialen Interaktionen der Eliten ab, denen die Autoren meist in der einen oder anderen Weise verbunden waren. Zwar wird gelegentlich auch die schlechtere Versorgung der einfachen Gäste bei patronalen Banketten thematisiert, der Fokus liegt dabei aber auf dem daraus ableitbaren Verhältnis zum Patron74. Bei gemeinschaftlichen Essen ohne einen großen Spender, bei denen sich die beteiligten Gruppen weitgehend selbst organisierten, war das Interesse noch geringer. Dies gilt auch von der Welt der Bilder. Auch die antike Mahl-Ikonographie75 ist von der intimen Runde weniger Gäste geprägt. Was größere Empfänge angeht, zudem unterschiedlicher sozialer Gruppen, sind wir sehr schlecht informiert und auf spärliche Inschriften und archäologische Überreste angewiesen. Alles hängt also davon ab, was genau wir, wenn wir Modelle für das Mahl der frühen Christen in Korinth suchen, an die Stelle einer vertrauten Triklinium-Runde setzen. Symptomatisch für unser Problem ist dabei übrigens die Frage der Körperhaltung beim Essen. ›Natürlich‹, so hieß es eben zurecht, ›lag man zu Tisch‹. Aber war das immer so? Zwar zeigen auch die Bildquellen meist das Liegen, auch bei den zahlreichen christlichen SigmaMählern, die die Ikonographie und unsere bildliche Vorstellung so stark beeinflußten76; häufig handelt es sich dabei um Bankette zu Ehren eines Toten. Aber es kann nur davor gewarnt werden, solche Bilder als realistische Beschreibungen zu lesen. Schon die konkreten Details zeigen den eklektischen Charakter der Ikonographie: ein hölzernes sigma-Möbel, das offenbar in den Saal eines Hauses gehört, verbunden etwa mit ein outdoor-Picknick anzeigenden Bäumen77. Außerdem werden dabei prinzipiell nur eine Handvoll Gäste gezeigt. Wenn es um größere Bankette geht, versagen, wie gesagt, meist Texte ebenso wie Bilder. Ganz selten allerdings finden sich Überreste, die uns in die Welt größerer Empfänge, etwa von Kollegien, führen. Ein Relief aus Amiternum (Taf. 1a), etwa zur Zeit unseres Paulus-Briefes entstanden, wohl wieder von einem Grab, d. h. wieder ein 73 Dies übersehen diejenigen Exegeten des ›Herrenmahls‹ (zuletzt besonders Klinghart 1996, 291/5), die von einer einzigen Tafelgemeinschaft ausgehen, deren Aufspaltung nur auf verschieden großen Portionen basierte; die literarischen Quellen, die dafür angeführt werden, beziehen sich tatsächlich auf das Gefälle zwischen verschiedenen (in sich aber immer egalitären) Triklinien großer patronaler Bankette. 74 S. oben Anm. 72. In gewisser Weise gilt dies auch für die Inschriften, die von Spendern finanzierte Einladungen aller Bürger einer Stadt feiern. Immerhin werden hier aber die Unterschiede in der Bewirtung der verschiedenen Gruppen erwähnt (Mrozek 1992; ein schönes Beispiel ist CIL IX 3160 = ILS
6530 = Donahue 2004, nr. 176: decurionibus discumbentibus . . . seviris Aug. Vescentibus . . . plebei universae epulantibus . . .; s. auch Donahue 2004, nr. 235 und 296), natürlich nicht als Kritik; wie bei den gleich zu besprechenden Reliefs (unten Anm. 78f) soll die Diversität und Größe der Gästeschar hervorgehoben werden. 75 S. bes. Dunbabin 2003; Zimmermann 2010. 76 Vgl. Engemann 1982; Zimmermann 2010, 1121/ 33. 77 So zB. auf einer (christlichen oder paganen) Grabmalerei aus dem spätantiken Constanza, s. Dunbabin 2003, pl. XIII u. S. 167f.
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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Totenbankett darstellend78 (jedoch mit anderer Aussagerichtung), zeigt tatsächlich nicht die ideelle Gemeinschaft, sondern das diversifizierte Fest, das ganz unterschiedliche Teilnehmer zusammenführte: Eine Gruppe der Tafelnden liegt zu Tisch; eine andere aber sitzt, und der Grund dafür dürfte sein, daß – ausnahmsweise – der Auftraggeber die Verschiedenheit der Statusgruppen präsentiert sehen wollte, die eingeladen waren (das Sitzen beim Essen war ja die Körperhaltung des einfachen Volkes in der caupona). Aus dem späteren dritten Jahrhundert kennen wir einen römischen Sarkophagdeckel bescheidener Qualität mit derselben Differenzierung (Taf. 1b)79. Hier ist die sigma-Szene gerahmt von zwei Sitzgruppen; erneut soll die Variationsbreite der Einladung gefeiert werden. Inschriften mit expliziten Hinweisen auf die Bereitstellung von Speisesofas (und entsprechende Utensilien wie Kissen etc.) durch den Spender, die das Ermöglichen dieser ›Ruhepose‹ par excellence also als etwas Kostpieliges zeigen80, ergänzen diesen Befund. Wir müssen also damit rechnen, daß bei größeren Banketten und entsprechenden Platzproblemen weniger geachtete Teilnehmer auch auf Bänken (etwa in einem Hof) plaziert wurden. IV. Das Vereinsbankett als Muster des ›Herrenmahls‹? Bei der Suche nach geeigneten Modellen für das ›Herrenmahl‹ in Korinth steht seit einiger Zeit völlig zu recht die Verwandtschaft zwischen frühen Christengemeinden und Genossenschaften oder Kollegien im Mittelpunkt. Die Legitimität dieses Vergleichs muß mittlerweile nicht mehr verteidigt werden; sie liegt klar zutage, die strukturellen Gemeinsamkeiten sind zahlreich81, auch wenn es einige christliche Spezifika gibt82. Für unsere Frage bieten sich Vereine (thiasoi, eranoi, collegia etc.) besonders an, weil sie immer wieder zum gemeinsamen Essen zusammenkamen – ja dies war oftmals einer der wichtigsten Vereinszwecke83. Dunbabin 2003, 79/82, fig. 40. Dunbabin 2003, 89f, fig. 45. 80 ZB. AE 1940, 62, Z. I, 24/7 = Bollmann 1998, 134 (C 35). Demgegenüber waren subsellia manchmal eine praktische Notwendigkeit (s. Vössing 2004, 554/7), die im Einzelfall allerdings auch als Zeichen für die umfassende Größe der Veranstaltung dienen konnte. 81 S. bes. Schmeller 1995; Kloppenborg 1996; Öhler 2003, 116/29; Ebel 2004; Ascough 2003; ders., Voluntary Associations and the Formation of Pauline Christian Communities. Overcoming the Objections: Gutsfeld/Koch (Hrsg.) 2006, 149/83. Wie Christengemeinden konnten auch die ›Synagogen‹ der Juden als Vereine angesehen werden, s. zB. Stegemann 1990, 137. Zur Forschungsgeschichte s. auch T. Schmeller, Zum exegetischen Interesse an antiken Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert: Gutsfeld/Koch (Hrsg.) 2006, 1/19 und Perry 2006, 23/59. 82 . . . etwa die (auf Öffentlichkeit zielende) EkklesiaThematik und Bezeichnung der Funktionsträger (nicht mit Blick auf den Verein, sondern) als Apo78 79
stel, Propheten oder Lehrer (zB. 1 Cor. 12,28/30), was zusammenhängt auch mit (den Vereinen meist ebenso fremden) Verbindungen zwischen weit entfernten Gemeinden und mit dem Gedanken einer Umkehr bzw. einer neuen Gemeinschaftsform (vgl. Judge 2008, 419/22; dagegen Ascough [wie Anm. 81], ohne überzeugende Belege). Letzteres wird unten noch einmal wichtig. 83 So schon Arist. eth. Nic. 1160a 20. Vereinsmitglieder konnten schlicht als comestores, compotores o. dergl. bezeichnet werden (s. Ausbüttel 1982, 5534; zu den Banketten griechischer Vereine s. van Nijf 1997, 149/89. 253/6); s. auch den Angriff des Philo von Alexandria auf Hetairien und Vereine, die »unter dem Vorwand, sie würden opfern, ständig schwelgerische Gelage halten« (Flacc. 4; s. auch 136). Spätere christliche Distanzierungen von Vereinsmählern sprechen natürlich nicht gegen ursprüngliche Verwandtschaft: Tert. apol. 39,15; Cypr. ep. 67,6,3f greift einen Bischof an, »die schändlichen und ausschweifenden Mähler« eines collegium besucht zu haben (und seine Söhne in eodem collegio . . . apud profana sepulchra bestattet zu haben). Be-
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Außerdem wissen wir mittlerweile, nachdem die Idealisierung früherer Zeiten überwunden ist, daß auch Vereine alles andere als egalitär waren. So gab es in den sog. ›Berufsvereinen‹84 nicht nur die Unterteilung zwischen den wirklich Ausübenden (den artifices) und den adlecti 85, sondern auch die zwischen der Elite der ›Dekurionen‹ (decuriones) und den tenuiores (dem Fußvolk); letztere gab es in vielen römischen Vereinen, und es ist wahrscheinlich, daß auch erstere in der einen oder anderen Form (aktive und passive Mitglieder usw.) verbreitet war. Hinzukam die Kategorie der Amtsträger, deren Bedeutung schon dadurch kenntlich wurde, daß ihnen beim gemeinsamen Bankett häufig Sonderportionen zustanden86. Dies waren Ehren ad personam, die sicher auch persönlich genossen wurden. Es ist auch nicht wahrscheinlich, daß man bei den korporativen Banketten nach Funktionen geordnet beisammenlag. Denn in vielen Vereinen hatten ja auch Sklaven Zugang zu den Ämtern87, mit denen dann freie Mitglieder (namentlich solche höherer Schichten) nicht unbedingt gemeinsam tafeln wollten88. Vielmehr ist anzunehmen, daß die einzelnen Mahlgruppen innerhalb der Vereine häufig durch die jeweilige gesellschaftliche Nähe ihrer Mitglieder gebildet wurden89. Oft dürfte sich das schon allein dadurch ergeben haben, daß bei Vereinsmählern aus der gemeinsamen Kasse oder von den wechselnden ›Mahlvorstehern‹ (magistri cenarum) nur Brot, Wein und Wasser (zur Verdünnung) gestellt wurde90, der ›Rest‹ folglich von den Teilnehmern mitzubringen war. Sicher fanden sich dabei Gruppen zusammen, die jeweils ἀπὸ συμβόλων speisten91 und ihr Mitgebrachtes zusammenlegten, aber das waren dann kleinere Speisegemeinschaften, nicht der ganze Verein92. Um über diese mehr oder wenikanntlich hat laut Plin. ep. 10,96,7 das HetairienVerbot Trajans im Bithynien des frühen 2. Jh. nC. auch die christlichen Mahlfeiern beendet. 84 Zur Problematik dieser Bezeichnung s. zuletzt Steuernagel 2005, 74; die Kategorisierung der Vereine entsprechend den vorherrschenden (beruflichen oder religiösen) Funktionen bleibt aber sinnvoll, s. zuletzt Ascough 2003, 24/8. 85 Vgl. Dig. 50,6,6,12 86 S. zB. CIL XIV 2112, Z. II 17/22 und die lex collegii Aesculapii et Hygiae (153 nC.; CIL VI 10234 = ILS 7213) mit Abstufungen zwischen dem Chef des Kollegiums, den immunes, den curatores und dem populus (Z. 10/2); vgl. auch SEG 31 nr. 122 Z. 16. 87 Ebel 2004, 39f. 88 Nur wenn sie zur eigenen familia gehörten, könnte dies anders gewesen sein, s. unten Anm. 129. 89 Klinghardt 1996, 90/6 betont zurecht, daß die frühere Vorstellung von der durchgehenden sozialen Homogenität der Vereine nicht mehr gerechtfertigt erscheint; s. auch Kloppenborg 1996; Ascough 2003, 59/61. 90 S. Gradenwitz 1890, 72/83 (Z. 15 der dort besprochenen Inschrift CIL VI 4,2 33885). Die gleich zu behandelnde Vereinsordnung aus Lanuvium legt allerdings zusätzlich vier Sardinen pro Person als ›Grundausstattung‹ fest (CIL XIV 2112 B, Z. II, 15f), wohl weil viele Mitglieder dieses Collegiums weder Fleisch noch Fisch mitbringen konnten. Auch diese Aufstockung ergab jedoch noch kein vollständiges
Mahl. Daß ein solches für den Verein aus der Kasse oder von wechselnden magistri, κλινάρχαι etc. (Philo Flacc. 137) finanziert wurde, ist nirgends bezeugt und auch nicht anzunehmen. 91 Zum δεῖπνον ἀπὸ συμβόλων s. Ath. 8,68, 365 D; s. auch 8,64, 362 E, wo das συμβάλλειν der Mahlteilnehmer als charakterisch für ἔρανοι bezeichnet wird (s. schon Hom. Od. 1,226); eranos ist bekanntlich auch eine Bezeichnung für Vereine, s. zB. Plin. ep. 10,92f (wobei aber vielleicht auch die finanztechnische Bedeutung ›Darlehen‹ eine Rolle spielte, s. Lupu 2005, 181f). Auch die regulären Vereinsbeiträge konnten συμβολαί genannt werden (s. Klinghardt 1996, 132f); dabei handelte es sich dann aber (auch wenn sie in Naturalien erfolgten) gerade nicht um die Zukost für die Mähler, sondern um die Grundversorgung (s. zB. die ›Mehlabgabe‹ in SEG 31 nr. 122 Z. 36), von der alle den gleichen Anteil erwarten durften (zu den Ausnahmen s. oben). 92 Nur in reicheren Vereinen dürfte den Banketten ein ausreichend großes Opfer vorangegangen sein, das für Fleisch sorgte (vgl. SEG 31 nr. 122 Z. 31f). Ansonsten war man auf Spenden angewiesen. Die Verteilung der individuell mitgebrachten Zukost war im Prinzip Sache des Einzelnen; den hohen sozialen Druck, innerhalb einer Tischgemeinschaft das Mitgebrachte zu teilen, belegt aber schon Xen. mem. 3,14,1.
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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ger feinen Abstufungen, über die Gruppenbildungen usw. Genaueres zu erfahren, müßten wir konkrete Beschreibungen oder Bestimmungen der Durchführung haben. Letztere gab es bei größeren Veranstaltungen in großer Zahl – was aber fehlte, war das Interesse, sie dauerhaft zu bewahren. Wenn wir sie doch einmal überliefert haben, müssen wir sie mit aller Vorsicht extrapolieren. Fündig werden wir etwa in den seltenen Fällen, in denen sich Bankettordnungen von Vereinen inschriftlich erhalten haben. Dabei ist ein Thema erstaunlich prominent: heftige Auseinandersetzungen beim Mahl. Ungleichheit führt zu Differenzen, zu Reibungen, konkret zu handfestem Streit. Eine ganze Reihe regulierender Vereinssatzungen behandelt dieses Problem93. Genaue Regeln und einen Strafkatalog, der Streit und sogar Raufereien beim Bankett verhindern sollte, gab es nicht nur in sozial eher niedriggestellten Kollegien wie etwa dem der Diana-Verehrer im südlich von Rom gelegenen Lanuvium94. Auch der ›feine‹ kaiserzeitliche Verein der Dionysos-Verehrer (»Iobacchoi«) in Athen verbot expressis verbis solche Auseinandersetzungen und drohte den Zuwiderhandelnden den Rauswurf durch spezielles Personal an (diese Männer werden dabei bezeichnenderweise als ἵπποι – Pferde bezeichnet)95. Stellen wir uns also Vereine und auch Kultvereine nicht etwa wegen ihres frommen Zwecks einträchtig teilend, gemeinsam tafelnd und friedlich konversierend vor. Die Forschung hat gerade diese Vereinssatzungen und Bankettordnungen in Lanuvium und in Athen schon seit einiger Zeit in Beziehung gesetzt zum Mahl der Christen in Korinth96, dabei allerdings eine m. E. höchst interessante Parallele übersehen – übersehen müssen, da sie nur bei der eben vorgetragenen Interpretation der Situation in Korinth sichtbar wird und zudem auch dem gängigen Verständnis der Inschriften widerspricht. Es geht jeweils um den kurzen Passus mit Strafandrohungen für Fehlverhalten beim Bankett, zunächst in Lanuvium97: Item placuit, ut quisquis seditionis causa de loco in alium locum transierit, ei multa esto HS IIII n(ummum) [vacat] si quis autem, in obprobrium alter alterius dixerit aut tu[mul]tuatus fuerit, ei multa esto HS XII n(ummum) . . . »Ebenso wurde beschlossen: jeder, der, um Unruhe zu stiften, von (s)einem ›Ort‹ zu einem anderen ›Ort‹ hinübergegangen ist, soll eine Strafe von vier Sesterzen erhalten, wenn aber jemand einen anderen beleidigt hat oder Krawall gemacht hat, soll seine Strafe zwölf Sesterzen sein . . .«
Bisher verstand man hier den locus als den Sitz- oder Liegeplatz an der Tafel (was vom Wort her natürlich möglich ist), und demzufolge ginge es um den Versuch – um S. zB. P.Lond. VII 2193, Z. 15/7 (Vorschriften des ägyptischen Vereins des Zeus Hypsistos, 69–58 vC.). W. J. Slater, The ancient art of conversation: Vössing (Hrsg.) 2008, 113/27, hier 123 zählt 14 vergleichbare (inschriftlich erhaltene) Regelungen auf; s. auch Klinghardt 1996, 94f. Eingedämmt werden sollten etwa Beleidigungen eines Teilnehmers, namentlich wegen seiner geringen Herkunft. Ob dies ein besonders beliebtes ›Sujet‹ der Beleidigungen war oder ob hier nur die Empfindlichkeit sehr groß war, wissen wir nicht. 94 Zu ihren (der cultores Dianae et Antinoi) Banketten s. CIL XIV 2112 B (136 nC.); eine Übers. bieten 93
etwa Wilken 1986, 51/3; Schmeller 1995, 100/5; Ebel 2004, 26/32. 95 IG II2 1368 (178 nC.) = SIG3, nr. 1109 = Kloppenborg/Ascough 2011, nr. 51, jeweils Z. 144; generell zum von der Vereinsleitung eingesetzten Ordnungsdienst bei den Treffen s. Z. 136/46; neuere Übers. bei Wilken 1986, 55/8; Schmeller 1995, 110/4; Ebel 2004, 94/101. 96 S. bes. Schmeller 1995; Smith 2003, 97/131; Ebel 2004; Stein 2008, 53/9. 97 CIL XIV 2112, Z. II 25/7.
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in dem berühmten Gleichnis Jesu zu bleiben – uneingeladen ›höher aufzurücken‹98. Aber ist das hier eigentlich wahrscheinlich? Offensichtlich soll doch allein schon das transire sanktioniert werden, nicht erst der Krawall an sich (seditio); denn der wird danach behandelt und soll auch deutlich höher bestraft werden als das transire 99. Und dieses transire kann nicht die wenigen Schritte zu einem anderen Platz desselben Trikliniums bezeichnen. Eine Platz-Okkupation wird zudem kaum ohne Wortwechsel und Tumult abgegangen sein, und dies war ja – als davon getrennter Tatbestand – extra sanktioniert. Daß aber schon das Hingehen zu einem anderen Sofa der eigenen Liegegruppe eine Art Attacke war, ist ganz unwahrscheinlich. Wenn es im wesentlichen um die Verbesserung des eigenen Platzes ginge, was ja schon durch das ›Weiterrutschen‹ auf den 1. Platz eines lectus möglich war, wäre die Wortwahl transire sehr seltsam. Und warum wird dann nicht konkret von diesem Besetzen, von der occupatio eines höheren Platzes gesprochen, sondern nur vom transire? Eine pars-pro-toto-Formulierung paßt überhaupt nicht zum sonst sehr detailliert und genau regelnden Text der Satzung. Hinzukommt, daß der Zweck des transire ja eindeutig genannt ist: nicht die Okkupation eines höheren Platzes, sondern die seditio, der ›Krawall‹. Lassen wir die Interpretation noch etwas offen. Der ›Zufall‹ – aber es ist eben kein solcher – will es, daß wir auch in einer Athener Vereinssatzung der Iobacchoi einen sehr ähnlichen Passus haben (Z. 72/5): »Wenn aber jemand Streit (μάχη) anfängt oder offenbar unziemliches Verhalten zeigt oder zu einer anderen κλισία geht (ἐπ’ ἀλλοτρίαν κλισίαν ἐρχόμενος) oder jemanden verhöhnt oder beschimpft . . .« (ἢ ὑβρίζων ἢ λοιδορῶν τινα) [›. . . soll er des Saales verwiesen werden und Strafe zahlen‹].
Wieder ist nur vom Gehen (ἔρχεσθαι) die Rede, und wieder spricht die Forschung dennoch von verbotener Platzokkupation100. Hier aber gibt es eine weiterführende Information durch den Begriff κλισία, der bislang noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit bekommen hat. Κλισία ist vom Ursprung her das ›Sich-Anlehnen‹ und auch der Ort und Raum, wo man ausruhen, sich anlehnen kann. Zuerst treffen wir das Wort bei Homer, wo es das Zelt oder die Hütte bezeichnet101. Dieser Wortsinn blieb lange erhalten, namentlich im religiösen Kontext, ist in unserem Zusammenhang aber nicht unbedingt einleuchtend. Viel passender ist die sekundäre Bedeutung ›das Lager‹, ›die Lagerung‹, wobei mit κλισία nicht das konkrete Möbelstück des Speisesofas gemeint war – das war die κλίνη –, sondern entweder (eher abstrakt) das Sich-Niederlegen und die Lagerung bei Tisch102 oder (konkret) die Lagerung einer Tafelrunde103. 98 S. etwa Smith 2003, 101f (zu Lc. 14,7/11 s. Smith 2003, 254/7; generell s. Prostmeier 2008). 99 Mit Si quis autem . . . (Z. 27f) setzt eine Steigerung ein. 100 Wilken 1986, 56; Schmeller 1995, 112; Ebel 2004, 98: »oder einen fremden Platz einnimmt« (s. auch 137: »Verstoß gegen die feste Sitzordnung«); Kloppenborg/Ascough 2011, 247. 255. 101 ZB. Hom. Il. 1,185. 306; 2,9 usw.; Od. 14,194. 404. 408; 15,301. 398. 102 Mit dem Wort konnte dann der Beginn der Lagerung gemeint sein (P.Mich. 243, Z. 7: das Verbot in
einer Vereinssatzung aus dem frühkaiserzeitlichen Tebtunis, κατὰ κλισίαν, also bei der Lagerung zum Vereinsmahl, einen anderen von seinem Platz zu verdrängen) oder ihr Ergebnis, das Lagern (zB. Ath. 12,63, 544 C; in Pind. Pyth. 4,133 erhebt sich eine Mahlgemeinschaft ἀπὸ κλισιᾶν). 103 Callim. frg. 178 Pf. (Icus) Z. 8f (anders das übliche Verständnis der Stelle: ›Bett‹). Auch in Ath. 11,48, 474 D sollte man κλισίαι ἐλατίναι nicht als ›Betten aus Pinienholz‹ verstehen (so die Übersetzungen); es geht vielmehr um mit Zweigen aus Nadelholz gebildete Lagerungen (stibadia) auf dem Bo-
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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In diesem Sinn gebraucht auch das Lukas-Evangelium bei der Schilderung der ›Speisung der 5000‹ den Begriff κλισία: als Bezeichnung der zusammen lagernden Speisegemeinschaft104, für die im Markus-Evangelium das Wort symposion steht105. Wichtig ist, daß ein großes Essen und auch die Bankettinstallation eines großen Bankettraums in mehrere κλισίαι aufgeteilt sein konnte106, wobei dies ebenfalls (und, wie wir gesehen haben, sogar ursprünglich) für Bankett-Areale im Freien galt107. Von den verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten ist in der Athener Inschrift, wie der Kontext zeigt, diese, also die beieinander liegende Tafelrunde, zu bevorzugen. Die Iobacchoi lagen dabei vielleicht auf mehreren großen halbrunden sigma-Betten (ihre Bankett-Veranstaltung wird in der Inschrift bezeichnenderweise immer στιβάς genannt); ihr Vereinshaus, dessen Grundmauern ergraben sind, war ja sehr groß, über 200 m2, verteilt auf drei Längsschiffe108. Man teilte sich also innerhalb dieses Saals offenbar in verschiedene Gruppen auf, und diese Aufteilung dürfte keineswegs zufällig gewesen sein109. Auch hier wurde ja nur eine Grundversorgung gestellt110, während der Rest, die ›Zukost‹ (ὄψον), sicher von den Teilnehmern mitgebracht wurde, und zwar jeweils von den Mitgliedern einer Tischgemeinschaft (innerhalb derer die mitgebrachten Lebensmittel üblicherweise geteilt wurden111), die sich also schon durch den Speisezettel von den anderen unterschied. Manche Speisegruppen werden zusätzlich durch gewisse Statusgrenzen getrennt gewesen sein112, und vor diesem Hin-
den, d. h. um ein größeres Essen im Freien. In Lucian. dial. Deor. 4,1 werden eindeutig alle Liegen eines Bankettsaals (eines συμπόσιον) als κλισία bezeichnet. Klar ist auch Plut. quaest. rom. 80, 283A, wo vom Ehrenplatz einer κλισία die Rede ist, der dem Konsul zustehe; da nun der τόπος ὑπατικός der letzte (also eigentlich am wenigsten angesehene) Platz auf der mittleren Kline war (Plut. quaest. conv. 1,3 [mor. 619 B/F]), kann κλισία nicht dieses Sofa, sondern muß die ganze Runde der Speisebetten meinen, in der dieser Platz tatsächlich der Ehrenplatz war (in diesem Sinn ist dann auch Plut. quaest. conv. 2,10,2 [mor. 644 C] zu übersetzen: der Gastgeber teilt den Gästen die jeweilige κλισία und die χώρα, den Platz dort, zu; vor diesem Hintergrund ist οὐκ ἐπιτάξ, άλλ’ . . . im genannten Callim.-Fragment zu verstehen). So kann man auch schon die πρώτη κλισία in einer inschriftlichen Ehrung aus dem ptolemäischen Ägypten (Psenamosis, 2. Jh. vC.) verstehen: A. Bernand, Le delta égyptien d’après les textes grecs 1. Les confins libyques (Le Caire 1930) 446, Z. 12. 104 Lc. 9,14: Εἶπεν δὲ πρὸς τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ, κατακλίνατε αὐτοὺς κλισίας ἀνὰ πεντήκοντα (Vulgata: discumbere per convivia quinquagenos) – »laßt sie sich niederlegen zu Mahlgemeinschaften von je 50«. 105 Mc. 6,39f: καὶ ἐπέταξεν αὐτοῖς ἀνακλῖναι πάντας
συμπόσια συμπόσια ἐπὶ τῷ χόρτῳ. καὶ ἀνέπεσαν πρασιαὶ πρασιαὶ [πρασιά ist das ›Beet‹, die Abteilung] κατὰ ἕκατον καὶ κατὰ πεντήκοντα.
Jos. ant. 15,318: jeweils mehrere klisiai (= Speisegruppen) in den verschiedenen Banketträumen des neuen Jerusalemer Palastes von König Herodes. 106
3 Makk. 6,31 LXX: Das Hippodrom von Alexandria; PsLucian. amores 12: ein großes GartenAreal um den Tempel der knidischen Aphrodite. 108 Zuletzt Ebel 2004, 82/5; A. Schäfer, Raumnutzung und Raumwahrnehmung im Vereinslokal der Iobakchen von Athen: Egelhaaf-Gaiser/Schäfer (Hrsg.) 2002, 173/220. 109 In P.Mich. 246, einer frühkaiserzeitlichen Auflistung von Vereinsbeiträgen aus Tebtunis, werden die darin genannten Personen in drei Gruppen eingeteilt (Z. 1/7, 8/13 und 14/9), jeweils in einer numerierten Ordnung; »it seems a reasonable interpretation that we have here the members of the society arranged in the order in which they took their seats at the banquet tables«, zumal einige davon die Funktion des κλεισιάρχης hatten, der wohl diese ›Liegeordnung‹ zu regeln hatte (Papyri from Tebtunis 2, ed. E. M. Husselman et al. = Michigan Papyri 5 [Ann Arbor/London/Oxford 1944] 116). 110 Es gab einen monatlichen Beitrag, aus dem der Wein finanziert wurde (Z. 46f). 111 S. oben Anm. 92. 112 Mitglieder aus unteren Schichten gab es zwar in diesem Verein offenbar nicht, dies garantierte aber nicht den sozialen Frieden. Schon die Frage, wer jeweils neu aufzunehmen sei bzw. aufgenommen wurde (zur aufwendigen vereinsinternen Prüfung der ›Würdigkeit‹ s. Z. 32/41, 53/62 und 102/ 7) dürfte für Zündstoff gesorgt haben. Hierfür spricht auch die große Bedeutung des Ordnungsdienstes bei den Treffen (Z. 136/46) und die Einrichtung einer vereinsinternen Gerichtsbarkeit (Z. 84/102). 107
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tergrund wird klar, warum es nicht unbedingt ein harmloses Umherflanieren war, sondern als eine Art Kampfansage (μάχη) verstanden werden konnte und verpönt war, wenn einzelne diese Trennungslinien demonstrativ überschritten und – in gewissermaßen feindlicher Absicht – zu einer anderen Gruppe hinübergingen. Es handelte sich dann um gezielte Provokationen, die unterbunden bzw. bestraft werden sollten. In diesem Kontext könnte nun auch die Interpretation des Begriffs locus in der Inschrift aus Lanuvium einen neuen Sinn erhalten. Ist auch hier eine solche räumliche Trennung verschiedener Tafelrunden anzunehmen? Locus in der Bedeutung ›Raum, Platz in einem Haus‹ ist durchaus bezeugt. So gehörte es in Rom zum guten diplomatischen Ton, den Gesandtschaften nicht nur Aufenthalts- und Schlafräume zu stellen, sondern auch loca et lautia (eine feste sprachliche Wendung), d. h. für gemeinsame Essen geeignete Plätze und das Bankettmaterial selbst113. Wir kennen leider nicht das Vereinshaus in Lanuvium, aber mit Blick auf die dargestellte Parallele in Athen scheint der fremde locus, der hier verbotenerweise – weil übelwollend – aufgesucht wird, tatsächlich ein Platz zu sein, an dem eben eine andere Gruppe des Vereins tafelte. Anders als die Iobacchoi dürften die Mitglieder nicht über eine einzige große Halle als Vereinsheim verfügt haben; ihre schola war eher ein Hof mit angrenzenden kleineren Räumen, eine Anlage, wie sie auch für Vereinshäuser etwa in Ostia (die ›Casa dei Triclini‹ oder die ›Sede degli Augustali‹114) bezeugt ist; vielen ist die Anlage von mehreren Räumen um einen zentralen Portikushof gemeinsam, ohne daß wir allerdings von einem verbindlichen Typ sprechen dürfen. Bei Banketten wurden dann sicher in den verschiedenen zum Hof geöffneten Räumen Klinen aufgestellt. Die ›Sede degli Augustali‹ weist elf solcher Räume (verschiedener Größe) auf, die in Frage kamen, die ›Casa dei Triclini‹ neun; die Bankettinstallationen sind hier teilweise noch nachweisbar115. Wenn diese Räume nicht ausreichten, konnten auch die Portiken selbst dafür genutzt werden (im Vereinsheim der Augustalen war die Ostportikus auffallend erweitert), übrigens dann vielleicht mit platzsparenden Sitzbänken statt mit Klinen116. Erinnert sei an die oben gezeigten Reliefs. Man konnte also auch in Vereinen durchaus nach Statusgruppen getrennt essen, ohne die Vereins- oder Kultgemeinschaft aufzugeben. Die verschiedenen Tafelrunden (κλισίαι) konnten sich durch den Aufwand, also die Qualität des Essens unterscheiden, und das Verhältnis der Gruppen untereinander war dabei keineswegs immer spannungsfrei. Bezeichnenderweise galt dies in ärmeren Vereinen ebenso wie in reichen. In diesem Zusammenhang sei auch an die Art und Weise erinnert, in der schon seit der klassischen Zeit große Opfermähler abgehalten wurden: man fand sich dazu an verschiedenen Orten in der Nähe der Opferstelle zu Mahlrunden zusammen – im 113 ZB. Liv. 30,17,40 (aedes liberae loca lautia legatis decreta); Apul. met. 3,26,3. S. auch Nep. praef. 6f, wo vom primus locus eines Hauses die Rede ist, der (konkret zu verstehende, wie der Kontext zeigt; s. auch Plin. ep. 7,27,7) Wohnraum im vorderen Teil des Hauses. 114 ›Casa dei triclini‹ (Sitz der fabri tigniarii): Dunbabin 2003, fig. 50; Steuernagel 2004, 182f Taf. 3,1; Bollmann 1998, 284/8; ›Sede degli Augustali‹: ebd. Abb. 2. Taf. 2,2.
Das ist eher die Ausnahme; meist sind die Räume, in denen (hölzernes) Bankettmobiliar aufgestellt werden konnte, nicht klar erkennbar; s. Bollmann 1998, 49. 52. 134f; Egelhaaf-Gaiser 2000, 315/8. 321/3; Steuernagel 2004, 184f. Vgl. auch (für eine entsprechende Situation in hellenistischen Gymnasien) Mango 2004, 290f. 116 Bollmann 1998, 52f. 115
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Freien (auf verschiedenen στιβάδια117) oder in wiederum unterschiedlich ausgestatteten Eßräumen, wie sie etwa in großer Zahl im Demeter-und-Kore-Heiligtum des griechischen Korinth (6.–2. Jh. vC.) ausgegraben wurden118, oder im Heraion von Argos119. Die Bankettabläufe waren dabei sicher nicht synchronisiert, was schon die Entfernungen zwischen den Speiserunden nicht erlaubte. Gegessen wurde, wie die archäologischen Reste zeigen, nicht nur das geopferte Fleisch, sondern auch viel jeweils Mitgebrachtes (einige Räume verfügten über angeschlossene Küchen)120; wiederum ist zu vermuten, daß es die einzelnen Speisegruppen waren, die jeweils zusätzliche Nahrungsmittel mitbrachten. Was genau ist nun mit diesem Blick auf gemeinsame Bankette anderer (mehr oder weniger religiöser) größerer Gemeinschaften gewonnen? Zu warnen ist vor der Vorstellung, die strukturellen Entsprechungen zwischen Christengemeinden und zeitgenössischen Vereinen könnten beweisen, daß jene irgendetwas in ihren Lebensformen genauso gehalten haben müßten wie diese. Dies anzunehmen wäre schon deshalb problematisch, weil so, wie es nicht d e n Verein gab (sondern eine Fülle von Formen und Variationen), man auch nicht d e n Vereinsvorsitz, d i e Vereinsstruktur oder d a s Vereinsbankett in d e m Vereinslokal identifizieren kann121. Was die Mähler angeht, ist zu betonen, daß sie keineswegs eine spezielle Kategorie darstellten, sondern je nach den Umständen variierten. Da es aber gerade die konkrete Situation ist, die uns bei Rekonstruktion der korinthischen Mähler fehlt, kann uns diese oder jene Ausprägung eines Vereinsbanketts auch nicht als Muster dienen. Was aber deutlich werden sollte, ist zunächst einmal, daß es quer durch die Typen antiker Gemeinschaftsmähler (von Opferbanketten über Vereinsessen bis hin zu großen Einladungen eines Patrons) zwei strukturelle, hier relevante Gemeinsamkeiten gibt: Man speiste nicht in eng zusammenhängenden Großgruppen, sondern in den auch für ›private‹ Bankette üblichen kleinen Runden; dabei konnte es jedoch zwischen diesen Eßgruppen erhebliche Unterschiede in der Qualität der Bewirtung geben. Mit der hier vorgeschlagenen Interpretation der beiden Passagen inschriftlicher Bankettordnungen ist darüber hinaus ein doppelter Impuls für die Deutung der Situation in Korinth gewonnen: Wir haben voneinander unabhängige Zeugnisse für mit dem getrennten, gruppenweisen Speisen in Kollegien einhergehenden Spannungen. Die dabei benutzten Formulierungen zeigen außerdem die Normalität der räumlichen Trennung; sie wird, obwohl es um Regularien der Bankettorganisation geht, nicht eigens erwähnt, sondern – als lebensweltliche Selbstverständlichkeit – vorausgesetzt. Von einer Zeitversetzung, mit der die einzelnen Mahlgruppen tafelten, ist dabei nicht die Rede. Aber das ist auch gar nicht zu erwarten, wo doch schon die Trennung in verschiedene κλισίαι nicht explizit erwähnt wird. Daß man in unterschiedlichen S. oben Anm. 59 und 103. Bookidis/Stroud 1997, 393/412; Bookidis et al. 1999. 119 Kiderlen 1995, I, 32; II, Abb. 65; s. auch generell Leypold 2008. 120 Küchen: Bookidis et al. 1999; gefunden wurden neben Getreide auch Oliven, Feigen, Rosinen, Linsen, Erbsen, Gewürze etc. 117 118
Was die Räumlichkeiten angeht, können wir erst im 2. Jh. nC. regelrechte Vereinshäuser nachweisen; zuvor (und sicher auch weiterhin) nutzte man die Privathäuser reicher Mitglieder, die Triklinien von Tempeln oder mietete Räumlichkeiten an, s. Steuernagel 2004, 181/3; Egelhaaf-Gaiser 2000, 312/ 6; vgl. auch Nielsen 2006; Dunbabin/Slater 2011, 457f. 121
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Speisegruppen auch zu verschiedenen Zeiten mit dem Essen beginnen konnte, ist nicht nur vorstellbar, sondern gerade bei Vereinsmählern durchaus wahrscheinlich, namentlich wenn die Zukost mitgebracht wurde; differierende Menüs brachten Differenzen des Ablaufs mit sich. Entscheidend war die Synchronität innerhalb der jeweiligen Gruppe122. Generell ist zu bedenken, daß wir nur von anstößigem Bankettverhalten der Tafelnden hören, nicht vom normalen, das niemand aufzuzeichnen für nötig befand. Und anstößig war diese auch zeitliche Trennung der Speisegemeinschaften grundsätzlich nicht, wohl aber beim ›Herrenmahl‹ in Korinth, anstößig jedenfalls für Paulus und wohl auch für ärmere Mitglieder der Gemeinde, deren Beschwerden er aufnimmt. V. Die Gruppenbildung in Korinth und ihre Auswirkung in der Versammlung Der mangelnden Gemeinsamkeit beim Essen der korinthischen Gemeinde, zu der wir nun wieder zurückkehren, lag einerseits, wie die Verse 21f zeigen, die soziale Trennung zugrunde. Aber es ist unwahrscheinlich, daß die sozialen Differenzen die einzige Ursache der Spannungen waren123. Denn zum einen hätte Paulus dann, wenn die Korinther einfach die nach Statusgruppen getrennte Bewirtung ihrer paganen Umwelt übernommen hätten, dies wohl mit Hinweis auf die ›heidnischen Gelage‹ angeprangert (vgl. 1 Petr. 4,3). Zum anderen läßt Paulus’ Formulierung vermuten, daß auch Unterschiede religiöser Art die Trennung beeinflußt haben: Er spricht von den σχίσματα und den αἱρέσεις als dem Grundübel der Versammlungen (18f), und diese Variation wäre dann ebensowenig zu erklären wie daß in 1,10 σχίσματα gerade die inhaltlichen Parteiungen sind und daß Paulus die kritisierten Fraktionen in 11,19 als möglichen Beginn dauerhafter Abspaltungen darstellt. Auch weigert er sich in Vers 17 und 22, die Trennung beim Mahl zu »loben«. Diese Betonung ist nur dann sinnvoll, wenn das Verhalten der Korinther nicht einfach ein Festhalten an heidnischen Bankettgewohnheiten war – warum hätte Paulus das loben sollen? – sondern eine bewußte Entscheidung, und genau dies zeigt auch die kontrastive Fortführung: ›Denn i c h habe vom Herrn empfangen .. .‹ – ›ἐγὼ γὰρ παρέλαβον ἀπὸ τοῦ κυρίου . . .‹. Paulus setzt hier betont seine Abendmahlsauffassung einer konkurrierenden entgegen, nicht einfach einer indifferenten üblichen Praxis. Bezeichnenderweise hören wir bei Paulus an der einzigen weiteren Stelle, an der er ein christliches Mahl beschreibt, ebenfalls von solchen Spaltungen: im Galaterbrief über die Situation in Antiochia124. Was die Situation in Korinth angeht, ist es verlockend, diese Parteiungen auch mit den in den ersten Kapiteln des Briefes beschriebenen sektiererischen Tendenzen zu verbinden125, aber das sind nur Vermutungen. Zwar wüßten wir gern genauer, welche konkurrierenden Lehren in Korinth wirksam waren, aber Paulus ist in dieser Hinsicht hier (wie auch sonst in seinen Briefen126)
Daß große Gemeinschaftsmähler synchronisiert wurden, war die Ausnahme, s. Alexanders ›Versöhnungsbankett‹ in Opis (dazu Vössing 2004, 84f). 123 So zuletzt Klinghart 1996, 291/5. 124 Gal. 2,11/4; hierzu zuletzt Stein 2008, 96/100; Öhler 2011. 122
125 Hierzu etwa Barrett 2003. Jedenfalls ist zu bedenken, daß αἵρεσις (anders als σχίσμα) einen starken inhaltlichen Aspekt hat (›Schulrichtung‹); vgl. auch Act. 24,5. 14: αἱρεσις als jüdische Bezeichnung des judenchristlichen ›Sonderwegs‹. 126 Vgl. etwa in 1 Cor. 1,12; s. auch o. Anm. 51.
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bewußt oberflächlich. Er will sie wohl nicht durch explizite Widerlegungen aufwerten, sondern beschränkt sich darauf, ihre sichtbaren Folgen zu skizzieren und die von ihm hochgehaltene Überlieferung von der ›Einsetzung‹ des Mahls in enger Verbindung mit dem einheitsstiftenden Tod Jesu einzuschärfen. Sicherheit bezüglich des geistigreligiösen ›Unterbaus‹ der getrennten Mahlfeiern läßt sich deshalb nicht gewinnen. Daß jüdische Reinheitsvorschriften eine Rolle spielten, ist möglich127. Es dürfte deshalb kein Zufall sein, daß Paulus im auf seine konkreten Anweisungen folgenden zwölften Kapitel des Briefes, das vom Essen zur Unterweisung und von der Einheit des Mahls zur Vielfalt der χαρίσματα überleitet, genau die beiden prinzipiellen Bruchlinien thematisiert, die sich offenbar auch durch die christliche Gemeinde zogen: die religiöse und die soziale: »Sind wir doch alle durch denselben Geist in einen Leib hineingetauft worden, seien wir Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und haben alle den einen Geist zu trinken bekommen«128. Weitergehende Fragen, etwa nach dem Zuschnitt, den Größenverhältnissen der Abteilungen, führen zu nichts; wir müssen uns damit begnügen, daß die Grenzen zwischen den Gruppen (nicht unbedingt ihren Individuen) teilweise so scharf waren, daß das ›Herrenmahl‹ ihr einziger Berührungspunkt war; nur so ist erklärlich, daß die Aufspaltung beim Mahl in Korinth von einem erheblichen Teil der Gemeinde als Normalität angesehen wurde. Sicher können wir aber darin sein, daß die sozialen Trennlinien mindestens ebenso deutlich blieben wie die religiösen; dies zeigt die Warnung vor der ›Beschämung der Armen‹129. Manche Tafeln waren gut gedeckt, während es an anderen – je nach dem, was die einzelnen Gruppen mitgebracht hatten oder was gespendet worden war130 – nur sehr schmale Kost und wenig Wein gab131. Jede Tischgemeinschaft feierte eben für sich. So schon Völker 1927, 76. Die Bedeutung jüdischer Gruppen in Korinth zeigt etwa die Rede von den ›Leuten des Apollos‹ (1 Cor. 1,12; dazu Act. 18,24/8) und den ›Leuten des Kephas‹ (1 Cor. 1,12; dazu Gal. 2,11f) sowie 2 Cor. 5,16 und 11,22. Zu den Problemen jüdisch-heidnisch-christlicher Speisegemeinschaft in Antiocheia s. zuletzt Öhler 2003, 78/86. Man beachte, daß in Act. 6,1f Helfer (›Diakone‹) zum Dienst »an den Tischen« (Plural!) bestellt werden, nachdem sich die Witwen der ›Hellenisten‹ bei der täglichen Versorgung benachteiligt gesehen hatten; ging es dabei um Speisungen? 128 1 Cor. 12,13: καὶ γὰρ ἐν ἑνὶ πνεύματι ἡμεῖς πάντες 127
εἰς ἓν σῶμα ἐβαπτίσθημεν, εἴτε Ἰουδαῖοι εἴτε Ἔλληνες, εἴτε δοῦλοι εἴτε ἐλεύθεροι, καὶ πὰντες ἓν πνεῦμα ἐποτίσθημεν. Da hier vom Trinken die Rede ist, sollte
man nicht den ganzen Satz als Beschreibung der Taufe verstehen: die letzten Worte beziehen sich auf die Mahlfeier (so auch Klauck 1986, 335; Smith 2003, 187). Der Aortist ἐποτίσθημεν ist m. E. deshalb gebraucht, weil hier nicht die häufige Wiederholung beschrieben wird, sondern die punktuelle Situation nach dem – im Idealfall einheitsstiftenden – Mahl, dem dann die ›Wortversammlung‹ folgt. 129 Daß die Grenzen im Wesentlichen denen zwischen einzelnen Hausgemeinschaften entsprachen (so Barton 1986; Klinghardt 1996, 295), ist dage-
gen unwahrscheinlich; Paulus hätte dann ganz anders argumentiert. Nichts spricht dafür (und der Vergleich mit Kollegien dagegen), daß die große Mehrheit der Christen in Korinth ›mit ihrem ganzen Haus‹ Mitglied waren (s. auch G. Theissen, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde [1974]: ders. 1989, 231/71, hier 267). Ganze familiae (inkl. der Sklaven) dürften beim Bankett in der Tat zusammengeblieben sein; aber in diesem Fall war die Versorgung gesichert, und ›wegen ihrer Armut beschämt werden‹ konnten Sklaven auch nicht, wohl aber freie Teilnehmer ohne patronale Unterstützung. 130 Wir wissen nicht, ob die Zusammenkünfte ausschließlich so organisiert waren, daß jede Gruppe ihre Zukost mitzubringen hatte (s. oben Anm. 91). Als vorherrschendes Prinzip aber wird dies durch V. 21 (ἴδια δεῖπνα) nahegelegt. Nicht auszuschließen ist, daß der Hausherr (wenn ein Privathaus der Versammlungsort war) etwas spendete. In jedem Fall aber kam auf diese Weise kein vollwertiges Bankett (cena recta, s. Vössing 2004, 193f) zustande, wie es an den ›oberen‹ Tischen der Gemeinde sicher gehalten wurde. 131 Auch V. 21 kann man (so Klauck 1986, 292) temporal verstehen, auch wenn darin nicht der Hauptvorwurf liegt: ›der eine hungert, während der
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VI. Die neue Ordnung des Mahls Paulus fordert demgegenüber eindringlich die Rückkehr zur gemeinsamen, das heißt auch: zeitgleichen Feier, da nur dies dem Wesen des ›Herrenleibs‹ (σῶμα τοῦ κυρίου; 24 und 27) und dem Imperativ ›Verkündigt den Tod des Herrn, bis er kommt‹ entspreche. Auch daß Paulus nicht ausdrücklich sagt, warum er die den Korinthern ja sicher bekannte Überlieferung wiederholt (23/5)132, deutet darauf hin, daß die Diskrepanz zwischen dem Ursprungsmahl und dem der Korinther den Vollzug der Feier selbst berührt haben muß und zwar wesentlich tiefer, als dies ein falsches ›Vormahl‹ und überhaupt eine akzidentelle Frage des Ablaufs bei Wahrung der gemeinsamen Riten getan hätte. Die einzige chronologische Aussage der Überlieferung (25: μετὰ τὸ δειπνῆσαι) ist ja, wie wir gesehen haben, von Paulus gerade nicht als Korrektiv gemeint133. Ein zentrales (und auch früh erkanntes) Interpretationsproblem unserer Stelle ist die Doppelung zweier Argumentationen; die eine ist theologisch, die andere eher sozialpsychologisch. Ihr Ausgangspunkt ist eine doppelte Anklage: ›ihr spaltet Euch auf‹, und: ›ihr beschämt die Armen‹ (Vers 18. 21f). In der Argumentation des Apostels (d. h. in der Wiederholung der Paradosis und in der Ermahnung zum Nachvollzug) durchdringen sich beide Stränge zunächst gegenseitig; denn sie mündet in die Warnung vor unwürdigem Essen des Brotes und Trinken des Weinbechers, ohne ›richtige Beurteilung des Leibes‹ (Vers 29). Dies ist eine sehr harsche Beanstandung des Brotund des Kelchritus’, wie sie in Korinth gehalten wurden, und der Kontext sowie der schon zuvor (Vers 24 und 27) in diesem Sinn gebrauchte Begriff σῶμα machen deutlich, daß auch hier ›Leib des Herrn‹ zu ergänzen ist134. Wenn man dies akzeptiert135, steht man bei der herkömmlichen Interpretation vor der Schwierigkeit, daß den Korinthern die fehlende ›Unterscheidung‹ (διάκρισις) des Leibes Christi vorgeworfen wird, obwohl sie doch sehr genau zwischen gewöhnlicher Speise und den Riten differenzieren; denn nicht bei diesen, sondern nur beim Sättigungsmahl wäre es dann ja zu den störenden Trennungen gekommen. Wenn dagegen das gesamte deipnon inklusive der rahmenden Riten als Einheit verstanden, die Aussage in Vers 20f (›euer Herrenmahl ist hinfällig, weil jeder sein eigenes Mahl feiert‹) beim Wort genommen und mit einer in Korinth praktizierten vollandere bereits betrunken ist, weil er schon vorher getrunken hat‹. Die Begründung aber markiert den Unterschied zur hier vorgestellten Interpretation: »Ein Prassen in unmittelbarer Gegenwart des hungernden Bruders wird Paulus selbst den satten Korinthern (vgl. 4,8. 11) nicht zutrauen«; ähnlich etwa Schrage 1999, 15. 132 Die Diskussion um die ›originale‹ Gestalt der Einsetzungsworte kann hier unberücksichtigt bleiben; vgl. etwa (neben Jeremias 1967, 132/95) van Cangh 1999; Schrage 1999, 29/43; Lindemann 2000, 256/61; Theobald 2007, 124/9; Leonhard 2007. 133 Insofern ist richtig, daß es Paulus »nicht um die liturgische Abfolge« ging (H.-J. Klauck, 1 Kor. 11,23–26 im Kontext hellenistischer Religionsgeschichte: ders. 1989, 313/30, hier 321).
Diese interpretierende Ergänzung ist in einigen Handschriften dann tatsächlich vollzogen worden. Daß nicht auch von der mangelnden διάκρισις τοῦ αἵματος die Rede ist, ist sicher kein Gegenargument; die zusammenfassende Verkürzung auf das Essen findet sich ja auch in V. 20 und 33f. Daß mit dem Bezug auf den ›sakramentalen Leib Christi‹ auch der auf den ›ekklesiologischen‹ einhergeht, bleibt davon unberührt; vgl. J. Calloud, Le Repas du Seigneur. La communauté corps du Christ. Analyses sémiotiques: Guénel (Hrsg.) 1983, 117/29; Klauck (wie Anm. 133) 325/30. 135 Ein Teil der exegetischen Forschung bemüht sich dagegen um eine ausschließlich abstrakte Interpretation von σῶμα im Sinn von ›Gemeinde‹, s. etwa Klinghardt 1996, 306/22. 134
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kommenen (gruppenweisen) Aufspaltung des Mahls in Beziehung gesetzt wird, ergibt sich jetzt: die mangelhafte ›Beurteilung des Leibes Christi‹ verkennt, daß Brot und Wein der Feier nur in möglichst vollkommener (auch zeitlicher) Gemeinschaft genommen werden dürfen, ebenso wie das Sättigungsmahl136. Paulus befiehlt dann ja auch – nach düsteren Andeutungen über Krankheit und Tod in der Gemeinde und über den Zusammenhang von Beurteilen und Be- oder Verurteilt-Werden137 – ganz konkret: ›Wartet aufeinander‹ (Vers 33), oder anders ausgedrückt: ›Feiert synchron‹. Anschließend gibt er dann noch einen praktischen Rat, der sich wieder auf die konkrete gesellschaftliche Problematik bezieht: ›Wer Hunger hat, esse zuhause!‹ (34), womit natürlich Vers 22 (›Habt ihr nicht eure Häuser zum Essen und Trinken?‹) wiederaufgenommen wird. Dieser Passus macht die aktuell beliebteste Interpretation, daß der zentrale Ratschlag des Paulus auf das Bewirten der Armen mit dem, was auf den Tischen der Reichen stehe, hinauslaufe138, auch von dieser Seite aus unglaubwürdig. Denn Paulus hätte ja den Kern dieser Ermahnung mit dem Zugeständnis häuslicher Sättigungen selbst wieder ausgehöhlt139. Der Satz kann auch nicht als gänzliche Abschaffung des gemeinsamen Sättigungsmahls gedeutet werden, wie eine andere Forschungsrichtung annimmt140. Ein so tiefer Eingriff wäre schwerlich in dieser indirekten Weise formuliert worden; auch zeigt die Rede vom ›δεῖπνον des Herrn‹ (κυριακὸν δεῖπνον) und das μετὰ τὸ δειπνῆσαι in den Versen 20 und 25, daß Paulus am Mahlcharakter der Feier prinzipiell gar nichts ändern wollte141. Unter dieser Voraussetzung, die den Korinthern ganz selbstverständlich war, muß Vers 33 als eine regulierende Beschränkung dieses Mahls verstanden worden sein: Es war so zu gestalten, daß es zum einen von allen gleichzeitig und zum anderen mit für alle gleicher Ausstattung gehalten werden konnte, was wohl bedeutet, daß teure ›Zukost‹ in Zukunft gar nicht mehr mitgebracht oder gereicht werden sollte. Paulus verlangt nicht, die (wenigen) Besssergestellten sollten alle Anwesenden an ihrem Mahl teilhaben lassen, und dem lag eine realistische Einschätzung der Situation zugrunde; nicht etwa, weil die Korinther notorisch hartherzig waren, sondern weil die Finanzie-
Vgl. 1 Cor. 10,16f (s. oben Anm. 29), wo Kelch und Brot als Medien der Gemeinschaft (κοινωνία) mit Christi Blut und Leib bezeichnet werden, woran auf diese Weise ›wir alle Anteil haben‹ (πάντες μετέχομεν), was alle zu einem Leib (ἓν σῶμα) zusammenschließe. Zur Deutung der κοινωνία s. bes. Lessig 1953, 95/109; Fabris 1995; Scippa 1995; Dunn 1998, 561f und 616f; Röhser 2012, 140/2. 137 Vgl. Pesce 1990; bes. Konradt 2003, 439/51. 138 S. oben Anm. 8, wobei diese Sicht nicht an diese Übersetzungvon ἐκδέχεσθαι gebunden ist. 139 Schnabel 2006, 671 verweist (wie Lampe 1991, 205; vgl. auch Schmeller 1995, 71; Schrage 1999, 27) auf möglichen Heißhunger der reicheren Christen nach dem Bad und verkennt somit den Charakter dieses Hungerns (der mit dem in V. 21 kontrastiert) und die Ironie des Paulus (s. u.). Dies gilt auch für die Interpretation von Henderson 2002: bei den ›Häusern‹ in 11,22 und 34 gehe es um die 136
Versammlungsorte der Gemeinde, an denen die Hungernden Anteil am Mahl erhalten sollen, was dem Wortlaut der Passage und ihrem Gedankengang völlig wiederspricht. 140 So etwa Conzelmann 1981, 230 und Klauck 1996, 294f. Kollmann 1990, 41 nennt die entsprechende These eine »deutliche Tendenz der Forschung«. Vgl. auch King 1997 und Meggitt 1998, 189-19 mit wenig überzeugenden Kritiken am Verständnis des in 1 Cor. 11 in Frage stehenden deipnon als Sättigungsmahl. 141 Kremer 1996 versucht zu zeigen, daß κυριακὸν δεῖπνον mit »Herrenspeise« statt mit »Herrenmahl« zu übersetzen sei. Dies ist zwar lexikographisch möglich, paßt aber nicht zum Kontext (und zur Verbindung mit δειπνεῖν), abgesehen davon, daß δεῖπνον die Speise beim Mahl, nicht losgelöst davon, bezeichnet, der Unterschied also gering ist.
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rung zahlreicher cenae rectae142 auch für die soziale Elite der Gemeinde schwierig war und weil diese Art der ›Speisung‹ untrennbar verbunden war mit intensiver patronaler Fürsorge. Einen einzelnen rex aber, wie die Römer einen solchen Spender und ›Ernährer‹ nannten143, sollte die Gemeinde als ganze oder zu großen Teilen nicht haben. Was Paulus fordert, ist vielmehr die Aufgabe der üblichen ›Diskriminierung‹ bei größeren Banketten: sich in verschiedene Tafelrunden mit je eigenem Speiseplan und (damit zusammenhängend) eigenem Speisetempo zu trennen. Stattdessen sollten diese als ἴδια δεῖπνα abqualifizierten ›Teilbankette‹ im Interesse einer nur so sichtbaren einheitsstiftenden Symbolik zeitlich und inhaltlich reguliert und harmonisiert werden, letzteres auf eher niedrigem Niveau. Diese Gemeinsamkeit herzustellen war offenbar aus Sicht des Autors auf der praktischen Ebene kein großes Problem. Er geht ja überhaupt nicht darauf ein. Unter den genannten Bedingungen war es wohl tatsächlich leicht möglich, ein auf wesentliche Ingredienzien reduziertes Mahl gleichzeitig abzuhalten, auch bei einer (unvermeidlichen) räumlichen Trennung. Dies brachte natürlich eine auch personelle Zentralisierung mit sich, da ein gemeinsamer Beginn ja synchronisiert werden mußte. Einen allseits als Autorität akzeptierten Versammlungsleiter scheint es bisher in Paulus’ Abwesenheit nicht gegeben zu haben (Paulus erwähnt ihn jedenfalls nicht und wendet sich an die ganze Gemeinde)144. Aber auch hier geht Paulus nicht ins Detail. Genauere Bestimmungen behält er sich für seinen bevorstehenden Besuch in der Stadt vor. Die Probleme lagen also nicht auf der praktischen Ebene. Viel schwieriger war es offenbar, den Bessergestellten den Verzicht auf die beim antiken Bankett völlig übliche Statusdemonstration nahezubringen. Hier kommt nun Vers 34 ins Spiel, d. h. der Ratschlag an die Elite, doch in den eigenen Häusern zu essen145. Damit ist nicht das Sättigungsmahl zwischen den beiden einrahmenden Riten gemeint146, sondern das im herkömmlichen Sinn vollständige Bankett, an dem manche eben festhalten wollten. Dies sicher nicht, weil es sich dabei um besonders luxusorientierte, unbeherrschte (christliche) Schlemmer handelte147, sondern weil sie mit dem Verzicht auf einen entsprechenden Konsum und seine Darstellung automatisch auch wesentliche Teile ihres sichtbaren Sozialstatus’ aufgegeben hätten. Paulus empfiehlt ihnen nicht etwa zynisch, sich vor oder nach den gemeinsamen Treffen in Ruhe und ohne die störenden Armen richtig satt zu essen und zu trinken,
S. oben Anm. 130 und 131. Bei reicheren Vereinsmählern stand immerhin das Opferfleisch zur Verfügung (s. oben Anm. 92), während es für Christen in Korinth schwierig war, überhaupt Fleisch zu finden, das nicht durch Opfer religiös markiert war (vgl. 1 Cor. 8,4/13). 143 Vössing 2004, 240/3. 144 Der Hausherr (wenn es denn einen gab – s. oben zur Möglichkeit der Anmietung eines ›Lokals‹) scheint diese Rolle nicht gehabt zu haben. 145 S. auch V. 22. Daß es sich um die soziale Elite der Gemeinde handelt, geht schon daraus hervor, daß sie Häuser haben, in denen ein Essen abgehalten werden kann. 146 ›Agape‹ sollte man dieses Mahl nicht nennen, da der Begriff erst in Tert. apol. 39,16 belegt ist (dort 142
allerdings schon als lat. Übers.); vgl. Reicke 1951, 9/ 19; McGowan 1997. Wir wissen nicht, ob das eucharistische Sättigungsmahl jemals so genannt wurde, und ebensowenig, wann und wie sich eine ›Agape‹ von der Euchastiefeier trennte. Der cibus promiscuus et innoxius am Sonntagabend in Plin. ep. 10,96f (um 112 nC.) dürfte jedenfalls noch die gemeinsame Feier bezeichnen; das zuvor erwähnte Treffen ante lucem dieses Tages ist offenbar nur eine Art Wortgottesdienst; s. Salzmann 1994, 133/48. Tert. apol. 39,14/9 bezeugt wohl die vollzogene Trennung von ›Agape‹ und Eucharistie. Vgl. auch Rordorf 1986, 116f. 147 In dieser moralischen Richtung wurde der Passus häufig interpretiert, zuletzt von Winter 2003, 142.
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er konzediert lediglich die Praxis solcher reichhaltigen und patronalen Mähler, wenn sie in Privathäusern als wirklich ›eigene‹ Veranstaltungen, d. h. getrennt von der Gemeinde und ihren neuen Riten stattfanden, und zwar als kleineres Übel. Den Unwillen der sozialen Elite der Gemeinde, auf standesgemäße und statussichernde Bankette zu verzichten, bezeichnet er dabei sehr ironisch als ›Hunger‹148. Die gemeinschaftliche Feier sollte jedenfalls von den sozialen (und kulinarischen) Differenzen und damit auch von patronaler Einflußnahme entlastet werden. War Paulus mit seiner Reform erfolgreich? Was die Gemeinsamkeit und Regulierung der Feier angeht, spricht nichts dagegen. Die Beköstigung aller Teilnehmer dürfte nun vielleicht aus der (vorrangig von den Wohlhabenden zu füllenden, aber gemeinsamen) ›Vereinskasse‹ gezahlt worden sein149, und Spaltungen beim Mahlhalten sind später jedenfalls nicht mehr bezeugt150. Sie waren wohl eine Übergangserscheinung, verbunden mit der durch das Anwachsen der Gemeinde erforderlichen (üblichen) Praxis abgestufter größerer Gemeinschaftsmähler, aus der sich das ›Herrenmahl‹ erst herausdifferenzieren mußte. Paulus’ Festhalten am Vollzug der Riten als Rahmenhandlung eines (wenn auch regulierten) Sättigungsmahles dagegen hat sich bekanntlich nicht durchgesetzt, zumindest nicht auf längere Sicht. Nur bei Paulus hören wir, was Christengemeinden angeht, von dieser ursprünglichen Abfolge. Die Abendmahlsberichte Mc. 14,22f und (daran anschließend) Mt. 26,26f lassen in ihrer Endfassung die Worte über Brot und Wein bekanntlich ohne zeitliche Differenzierung aufeinander folgen, was bedeuten könnte, daß sie eine gewandelte Praxis spiegeln, bei der die beiden früheren Rahmenhandlungen bereits zusammengezogen und an den Schluß der Mahlzeit gerückt sind151. Vielleicht wirkten sich dabei auch Bankettgewohnheiten der (nicht-jüdischen) Umgebung aus, die etwas dem Brotritus vor dem Essen Entsprechendes eben nicht kannte, wohl jedoch Gebete, Opfer und mehr oder weniger rituelle Trinkrunden nach Abschluß des Mahles.
VII. Sympotische Reden Bei einem paganen Bankett folgte nun das Gelage (πότος, comissatio etc.)152. Bei den Christen in Korinth war dies dagegen die Zeit, in die – gewissermaßen anstelle dessen – das in 14,26 beschriebene Geschehen paßt153: »einer steuert einen Psalm S. oben Anm. 139. Was nicht ausschließt, daß sich eventuell auch Einzelne (etwa die Gastgeber) hervortaten. Definitiv hören wir von der Gemeindekasse erst durch Tert. apol. 39; er nennt sie tatsächlich, wie die Kasse von Kollegien, arca (apol. 39,5) und vergleicht sie mehrfach mit dieser (Schöllgen 1984, 299/311); in apol. 39,16 werden die Kosten der Agape-Speisungen behandelt. 150 2 Cor. 2,3/9. 7,8/12 zeigt die wiedergewonnene Einheit, sicher auch der Mahlfeier. Zwar wirkten sich auch später Spaltungen direkt auf die Feier des Herrenmahls aus, jedoch so, daß die ›Schismatiker‹ eine Eucharistiegemeinschaft bewußt vermieden und gar nicht erschienen (s. zB. Ign. Smyrn. 7f). 148 149
Im Gegensatz dazu behält Lc. 22,20 die – eindeutig nicht attributive, sondern auf die Prädikate bezogene – Zeitbestimmung μετὰ τὸ δειπνῆσαι für den Kelchritus bei (καὶ τὸ ποτήριον ὡσαύτως [sc. nahm er] μετὰ τὸ δειπνῆσαι . . .). Diese Überlieferung repräsentiert offenbar den gleichen Überlieferungsstrang des Abendmahls wie 1 Cor., scheint aber weitgehend selbständig. Im übrigen spricht nichts dagegen, daß die verschiedenen Traditionen nebeneinander existierten. 152 K. Vössing, Das römische Trinkgelage (comissatio) – eine Schimäre der Forschung?: ders. (Hrsg.) 2008, 169/89. 153 Im Grunde bezieht sich bereits Kap. 12f auf die ›Wortversammlung‹, ohne daß sie direkt angespro151
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bei, ein anderer eine Lehre, wieder ein anderer Zungenreden, dieser eine Offenbarung, jener eine Auslegung«. Strukturell ist dies tatsächlich mit den Gesprächen und Darbietungen beim Gelage vergleichbar154. Paulus geht nun, wie 14,30 zeigt, interessanterweise davon aus, daß dabei jeder, der nichts vortrug, saß, und bei diesem Teil der Zusammenkunft ist die Gemeinsamkeit der Feier offenbar kein Problem mehr. Alle Feiernden waren nun auch zeitlich im Einklang, und man hatte sich tatsächlich auch räumlich eng versammelt. Bei einer hohen zweistelligen Zahl Anwesender war dies wohl nur im Sitzen möglich, etwa in einem Innenhof, wo ja vielleicht auch beim vorangegangenen δεῖπνον eine Teilnehmergruppe gesessen hatte155. Das Essen aber war nun vorbei, so daß wir, was die Integrationskraft von Mahlversus Wortversammlung angeht, vor einer interessanten, fast paradoxen Gegenüberstellung stehen: weniger bei den Reden drohte die Spaltung als beim Essen. Dies erscheint aber nur deshalb widersinnig, weil wir das Mahl immer zu sehr (im unspezifischen Sinn) ›anthropologisch‹ verstehen – als im wesentlichen konstanten Ausdruck tiefer Verbundenheit und Gemeinsamkeit der Teilnehmer – und zu wenig ›historisch‹: als im antiken Kontext übliche Spielart von Distinktion und Distanzierung. So gesehen wendet sich Paulus tatsächlich gegen den Bankettcharakter des bisher üblichen Essens bei der Versammlung und gegen eine die gesellschaftlichen Ungleichheiten abbildende Praxis, ohne jedoch die Basis des Sättigungsmahls aufzugeben: eine erstaunlich unabhängige Verfügung über den sozialen Gehalt einer etablierten Institution. In Zukunft sollten die zum Herrenmahl zusammenkommenden Christen – so könnte man die Mahnung in Vers 21 und 31 (mit Blick auf 1 Cor. 7,29/31) zuspitzen –, ›essen, so als äßen sie nicht‹. Bonn
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154 155
Vgl. Lampe 1991, 189/91; Stein 2008, 120/3. S. oben Anm. 60.
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Das ›Herrenmahl‹ und 1 Cor. 11 im Kontext antiker Gemeinschaftsmähler
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JOHANNES PHILOPONOS UND DIE CHRISTLICHE APOLOGETIK Die Widerlegungen des Proklos und Aristoteles und die Debatte des Schöpfungsproblems in der Schule von Gaza und bei Ps-Justin
Faßt man Apologetik einem gängigen modernen Verständnis folgend als argumentative Verteidigung des christlichen Glaubens und seiner theoretischen Grundlagen mittels der Einsichten und Methoden säkularer Wissenschaft, so könnte man behaupten, daß der Aristoteleskommentator Johannes Philoponos nicht nur als irgendein altkirchlicher christlicher Apologet, sondern sogar als einer der allerwichtigsten gelten kann, vielleicht sogar als wichtigster neben Augustin. Schließlich ist er nach Wolfgang Wieland »der erste Denker von Rang, der bewußt und ausdrücklich die Denkmittel der aristotelischen Philosophie für die Selbstauslegung des christlichen Glaubens fruchtbar macht«1. Eine solche Einschätzung würde allerdings übersehen, daß christliche Apologetik innerhalb der alten Kirche etwas ganz anderes bedeutete als im Kontext moderner akademischer Debatten: Ihrem Ursprung und eigentlichen Zwecke nach ging es dieser Textgattung ja höchstens in zweiter Linie um wissenschaftliche Rechtfertigung der theoretischen Grundlagen des Christentums, sondern vielmehr um dessen Verteidigung angesichts von Beschuldigungen, welche eine ganz konkrete Bedrohung für die Existenz der christlichen Glaubensgemeinschaft darstellten. Die ältesten Apologeten hatten das Christentum nicht primär theoretisch zu durchdringen und daraufhin philosophisch zu begründen2, sondern juristisch und moralisch zu rechtfertigen und zu verteidigen: Sie waren Anwälte, keine Philosophen3, wie vielleicht am besten am Beispiel Tertullians deutlich wird, der mit seinem Apologeticum ein nach allen Regeln rhetorischer Kunst gestaltetes mitreißendes Plädoyer für das Christentum liefert. Vergleicht man dieses nun mit Philoponos’ quälend ausführlichen, von scholastischer Pedanterie überquellenden Widerlegungen des Proklos und des Aristoteles, so wird man sich fragen müssen, inwiefern deren Einstufung als christliche Apologetik überhaupt gerechtfertigt sein soll. Wogegen hatte man das Christentum im Zeitalter seiner ungebrochenen Dominanz unter Justinian überhaupt noch zu verteidigen, und wer Die Ewigkeit der Welt. Der Streit zwischen Joannes Philoponus und Simplicius: Die Gegenwart der Griechen, Festschr. H. G. Gadamer (Tübingen 1960) 291/316, hier 294. 2 Daß sich die Argumentation der Apologeten in dieser Hinsicht hauptsächlich in der Polemik gegen die Inkohärenz gegnerischer Ansichten erschöpfte, hat Hieronymus (ep. 58,10 [CSEL 54, 539]) selbst noch an der großen apologetischen Summe des Laktanz bemängelt, obwohl diese sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt hatte, den christlichen Glauben nicht mehr nur gegen heidnische Angriffe zu verteidigen, sondern auch positiv zu begründen (inst. 5,4,3: »aliud est accusantibus respondere, quod in defensione aut negatione sola positum est, aliud in1
stituere, quod nos facimus, in quo necesse est doctrinae totius substantiam contineri«). 3 Daß der dennoch immer wieder erhobene Anspruch der christlichen Apologeten, die wahren Philosophen zu sein bzw. die wahre Philosophie zu vertreten, mehr mit der gesellschaftlichen Stellung des Philosophen in der Spätantike als mit der Absicht einer Einlassung in philosophische Debatten zu tun hatte, hat K. Rosen gezeigt (Von der Torheit der Heiden zur wahren Philosophie. Soziale und geistige Voraussetzung der christlichen Apologetik des 2. Jahrhunderts: R. v. Haehling [Hrsg.], Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung [Darmstadt 2000] 124/51, v. a. 131/44).
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sollte durch eine solche Verteidigung noch überzeugt oder gewonnen werden? Ist Philoponos’ drei dicke Monographien umfassendes apologetisches Projekt, in dessen Vollendung er wohl fast zwei Jahrzehnte seines Lebens investierte, lediglich literarisches Geplänkel ohne jeden aktuellen Bezug? Handelt es sich dabei womöglich gar nicht um echte Apologetik, sondern lediglich um als Apologie getarnte naturphilosophische Untersuchungen? Um diese Fragen zu beantworten, soll zunächst die Tendenz in der Entwicklung der altkirchlichen Apologetik herausgearbeitet werden, die m. E. relativ klar als zunehmende Transformation eines Rechtsstreits in eine philosophische Debatte beschreibbar ist. Anschließend gilt es, das Verhältnis des Philoponos zu dieser Entwicklungstendenz zu untersuchen, um die Frage zu klären, ob er tatsächlich bewußt an diese anknüpft und somit mit Wieland als deren Höhepunkt innerhalb des griechischsprachigen Bereichs bezeichnet werden kann.
I. Zunächst also ein kurzer, die Sachlage notwendigerweise vergröbernder Überblick über die Entwicklung der Gattung Apologetik bis ins sechste Jahrhundert: Die Vorwürfe, die von paganer Seite gegen das Christentum erhoben wurden, lassen sich mit Wilhelm Nestle thematisch in drei Bereiche gliedern: den historisch-sachlichen und literarischen4, den metaphysischen5 und den ethisch-politischen6. Letzterer mußte mit Konstantin und Theodosios stark an Gewicht verlieren, da das Christentum nun zunächst an die Öffentlichkeit treten und damit alle mit seiner Verdrängung in den Untergrund verbundenen Vorhaltungen (Abschottung, Verschwörung, Inzest, Kannibalismus u. ä.) schlagartig entkräften konnte, und anschließend mit der Erhebung zur Staatsreligion der Gegensatz zum öffentlichen, die Einheit von Staat und Gesellschaft garantierenden Kult wegfiel. Die spätere apologetische Literatur konnte hier also selbstbewußt zur Gegenoffensive übergehen, also etwa die Überlegenheit der christlichen Ethik, exemplifiziert an den Märtyrern, herausstreichen oder die Wahrheit des christlichen Kultes aus seiner umfassenden Durchsetzung gegenüber dem und Verdrängung des heidnischen herleiten. Die historisch-sachlichen und literarischen Vorwürfe knüpften sich größtenteils an antichristliche Werke einzelner Autoren, die wie Porphyrios detaillierte historische und literarische Kritik an den heiligen Schriften des Christentums übten, und werden somit für die Apologetik nur insofern relevant, als sie sich gegen eine dieser Schriften richtet. Von fundamentaler Bedeutung und bis hin zu Augustin auch immer wieder thematisiert ist hier lediglich die Frage nach dem Alter des Christentums bzw. dem Grund für das Auftreten Christi so spät in der Geschichte7.
Die Haupteinwände des antiken Denkens gegen das Christentum: J. Martin / B. Quint (Hrsg.), Christentum und Antike Gesellschaft = WdF 649 (Darmstadt 1990) 17/80, hier 26/42. 5 Ebd. 42/64. 4
Ebd. 65/73. Der Sache nach unter diese Gruppe fallen auch die zu Beginn (24f) eigens von Nestle aufgeführten »volkstümlichen Vorwürfe«. 7 Zur Bedeutung des Altersbeweises für die altkirchliche Apologetik vgl. etwa W. Geerlings, Apologetik 6
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Johannes Philoponos und die christliche Apologetik
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Bleiben die metaphysischen Vorwürfe, welche von Kelsos bis zu Kaiser Julian vor allem von platonischen Philosophen gegen die fundamentalen Glaubensinhalte des Christentums erhoben wurden und insgesamt darauf ausgelegt waren, das Christentum als provinziellen, von primitiven Fischern und Zeltmachern erfundenen Aberglauben zu diskreditieren. Eine Tendenz zur Konzentration auf diesen Punkt ist in der griechischen Apologetik spätestens seit Euseb spürbar. Dessen ungeheuer wirkmächtiges apologetisches Handbuch Praeparatio evangelica hat sich ja zum Ziel gesetzt, durch umfassende Zitate aus heidnischen Schriftstellern nicht nur den Vorwurf des blinden, bildungsfeindlichen Fideismus zu widerlegen und die Kompatibilität von Christentum und klassischer Bildung zu erweisen, sondern das Christentum als deren alles bisherige überbietende Vollendung darzustellen8. Dabei beschränkt er sich jedoch keineswegs auf eine philosophisch-theoretische Rechtfertigung des Christentums, sondern bezieht ganz umfassend auch historische, ethische und vor allem kultpraktische Aspekte mit ein. Ein ähnliches Bild liefert auch noch die zu Beginn des fünften Jahrhunderts entstandene Graecorum affectionum curatio des Theodoret von Kyros. Auch hier steht das Thema der Kompatibilität von Christentum und Bildung, also der ja wenige Jahrzehnte vorher von Kaiser Julian nochmals mit Nachdruck gegen die Galiläer erhobene Vorwurf primitiver Barbarei und Provinzialität9 im Mittelpunkt10, und es werden sogar in den Büchern II/VI fast alle einschlägigen klassischen philosophischen Loci diskutiert, also Einheit und Existenz Gottes, Wesen des intelligiblen Kosmos, Materie und Schöpfung, Anthropologie und göttliche Providenz. Die zweite Hälfte ist dann jedoch wieder kultpraktischen, vor allem der Rechtfertigung des Märtyrerkults, und ethischen Fragen gewidmet, so daß gegenüber Euseb die philosophische Debatte zwar etwas an Bedeutung gewonnen hat, jedoch immer noch nicht die zentrale Stelle innerhalb des gesamten Werkes einnimmt. Ausschließlich auf philosophische Themen bzw. theoretische Grundfragen des Glaubens beschränkte und zusätzlich eindeutig datierbare apologetische Werke sind erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts belegt, hauptsächlich aus der ›Schule von Gaza‹ und ihrem Umkreis. An der dortigen Rhetorenschule muß sich nämlich in den 80er und 90er Jahren des fünften Jahrhunderts ein philosophisch interessierter Zirkel gebildet haben, welcher sich intensiv mit dem Verhältnis des Christentums zur zeitgenössischen Philosophie, also dem Neuplatonismus des Proklos und Ammonios Hermeiou beschäftigte. Von deren bedeutendstem Vertreter, Prokopios von Gaza, wissen wir, daß er sich intensiv polemisch mit Proklos auseinandergesetzt haben muß, wahrscheinlich sowohl mit dessen Elementatio theologica als auch mit dem Kommentar zu
und Fundamentaltheologie in der Väterzeit: W. Kern u. a. (Hrsg.), Handbuch der Fundamentaltheologie 4. Traktat theologische Erkenntnislehre (Freiburg 1988) 317/33, hier 327/31 und umfassend P. Pilhofer, Presbyteron kreitton. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte = WUNT 2,39 (Tübingen 1990). 8 Vgl. v. a. praep. ev. 1,1,11 und 1,3.
Eine bündige Übersicht über die Christentumskritik Julians und die unterschiedlichen Erwiderungen bietet M. Fiedrowicz, Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten (Paderborn u. a. 2000) 100/11. 10 So ganz klar bereits die Praefatio, v. a. §§ 1 und 12 (SC 57,1, 100. 102). Vgl. auch den praef. 16 angegebenen Alternativtitel Εὐαγγελικῆς ἀληθείας ἐξ 9
Ἑλληνικῆς φιλοσοφίας ἐπίγνωσις.
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den Chaldäischen Orakeln11. Außerdem besitzen wir zwei apologetische Dialoge seiner Mitstudenten, den Theophrast des Aeneas von Gaza und den Ammonios des Zacharias von Mytilene12. Beide Autoren haben, wie aus ihren Werken klar hervorgeht, in Alexandrien Philosophie studiert, Aeneas wohl noch bei Hierokles, Zacharias bei Ammonios, welchen er daher auch in seinem Dialog als Hauptgesprächspartner auftreten und sich zum Christentum bekehren lassen kann. Beide Dialoge sind ausschließlich philosophischen Inhalts und thematisch auffallend komplementär: Behandelt der Theophrast hauptsächlich die Seelenlehre und lediglich nebenbei auch die Problematik von Schöpfung und Weltewigkeit, ist der Ammonios größtenteils letzterer gewidmet und geht nur en passant auch auf die Seelenlehre ein. Etwa 10 bis 20 Jahre vor Philoponos’ Widerlegung des Proklos findet sich also in Gestalt des Ammonios ein christlich-apologetischer Dialog, der mit der Ewigkeit der Welt genau dasjenige Thema aufgreift, dem Philoponos’ dreiteiliges apologetisches Projekt gewidmet ist, jedoch beschränkt auf durch den Philosophen Ammonios und den Arzt Gesios vorgetragene Gemeinplätze der aristotelisch-platonischen Weltewigkeitskonzeption. Ein detaillierteres Eingehen auf die Quellen dieser Konzeption, wie wir es später bei Philoponos, vorher in dieser Form jedoch bei keinem christlichen Apologeten finden, ist jedoch in einer unter Justins Namen kursierenden, in Zuweisung und Datierung umstrittenen Textsammlung festzustellen: Diese enthält sowohl eine Widerlegung der Lehren des Aristoteles, die sich im Großen und Ganzen auf dieselben Passagen aus Physik und De caelo bezieht wie Philoponos in seinem Contra Aristotelem, als auch zwei Zusammenstellungen von Erotapokriseis zwischen Heiden und Orthodoxen, welche äußerst weitreichende thematische Überschneidungen mit Philoponos’ Schrift gegen Proklos aufweisen. Da diese Texte in der bisherigen Forschung so gut wie unbearbeitet geblieben sind, muß an dieser Stelle weiter ausgegriffen werden, um mögliche Beziehungen des Philoponos nicht nur zur Schule von Gaza, sondern auch zu dem von den anonymen Quästionen repräsentierten, wohl der antiochenischen Schule entstammenden Zweig christlicher Apologetik adäquat beurteilen zu können. Dabei können die mannigfachen Probleme, die die historische Einordnung des pseudojustinischen Textes bietet, sicherlich nicht mehr als angedeutet werden: Der folgende Abschnitt ist also ganz dezidiert als Versuch zu verstehen, deren Diskussion neu zu eröffnen, und beansprucht nicht, endgültige und allseitig abgewogene Lösungen zu bieten. II. Die einzige monographische Bearbeitung13 besagter pseudojustinischer Texte stammt immer noch von Adolf v. Harnack persönlich, der sowohl (mit bislang un-
Vgl. W. Aly, Art. Prokopios von Gaza: PW 23,1 (1957) 259/73, hier 267/9. Die Fragmente und Testimonien sind zusammengestellt in Prokopius Gazaeus. Opuscula rhetorica et oratoria, hrsg. von E. Amato (Berlin/New York 2009) 110/3. 12 In beiden Fällen stammen die maßgeblichen Editionen von M. Minniti-Colonna: Enea di Gaza, Teofrasto, hrsg. von M. E. Colonna (Neapel 1958); 11
Zacaria Scolastico, Ammonio, hrsg. von M. MinnitiColonna (Neapel 1973). 13 An neueren Publikationen zu diesen Texten existiert m. W. nur Y. Papadoyannakis, Defining orthodoxy in Ps-Justin’s »Quaestiones et responsiones ad orthodoxos«: E. Iricinschi / H. M. Zellentin (Hrsg.), Heresy and identity in late antiquity (Tübingen 2008) 115/27, der die Einleitungsfragen kom-
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widersprochen gebliebenen Argumenten) die Einheit des Autors der vier Texte14 (Confutatio quorundam dogmatum Aristotelis, Quaestiones et responsiones ad orthodoxos, Quaestiones Christanorum ad gentiles, Quaestiones gentilium ad Christianos)15 bewiesen zu haben als auch diesen Autor mit Diodor von Tarsus identifizieren zu können glaubte. Harnacks Argumente für letzteres lassen sich dabei grob in drei thematische Gruppen einteilen: die Datierung des Werkes in die 70er Jahre des vierten Jahrhunderts16, die Zugehörigkeit des Autors zur syrisch-antiochenischen Tradition17 und die breite thematische Übereinstimmung der Werke mit dem Schriftenkatalog Diodors18. Die zweite und dritte Gruppe von Argumenten sind dabei ebenso unbestreitbar wie unspezifisch, da sie natürlich ebensogut auf jeden beliebigen Schüler oder Schülersschüler Diodors weisen könnten. Die erste Gruppe wurde von F. X. Funk einer relativ ausführlichen Analyse unterzogen19, mit durchweg negativem Ergebnis: Das wichtigste Argument zur Ansetzung des terminus ante im Jahr 378, dem Todesjahr des letzten arianerfreundlichen Kaisers Valens, bezog Harnack aus qu. orth. 143,
plett außen vor läßt, und zwei Beiträge von J. P. Martín, El Pseudo-Justino en la historia del Aristotelismo: Patristica et Mediaevalia 10 (1989) 3/19 und Las ›Quaestiones‹ del Pseudo Justino. Un lector cristiano de Aristoteles en tiempos de Proclo: Topicos 8 (2000) 115/41, von denen mir leider nur der ältere zur Confutatio zugänglich war. Dieser versucht, deren Inhalt in 10 Punkten zusammenzufassen und geht dann kurz auf die Beziehungen zu den anderen pseudojustinischen Traktaten, Thomas v. Aquin und Philoponos ein, mit dem Zweck, den Traktat als Vorläufer der aristotelischen Scholastik des Mittelalters zu erweisen. Über eine Bestandsaufnahme der im Text präsentierten Argumente führt er allerdings nicht hinaus, anders als M. D. Boeri, Pseudo-Justin on Aristotelian cosmology. A Byzantine philosopher searching for a new picture of the world: Byzantion 79 (2009) 99/135, der immerhin viele der Aristotelesbezüge klärt, in den Einleitungsfragen jedoch nur Martín referiert (102f). Nützlicher ist der kurze Überblick bei Ch. Riedweg, Art. Iustinus Martyr II (Pseudo-justinische Schriften): RAC 19 (2001) 848/73, hier 868/73, der aber leider mit völlig unzureichenden Argumenten die Quaestiones et responsiones ad orthodoxos aus dem Corpus lösen und mit einer bestimmten, auch in spätbyzantinischen Katenen repräsentierten Handschriftentradition Theodoret zuschreiben will. Eine solche Zuschreibung müßte nicht nur die am vollständigsten wohl von W. Gass (Die unter Justins des Märtyrers Schriften befindlichen Fragen an die Rechtgläubigen mit Rücksicht auf andere Fragsammlungen erörtert: ZsHistTheol 12 [1842] 35/ 154, bes. 79f. 105/10. 116. 123/7. 142f) aufgelisteten inhaltlichen Differenzen zu Theodoret vor allem in exegetischen Fragen aus dem Weg räumen, sondern hätte zuallererst die (schon von G. C. Hansen in seinem Vorwort zum Nachdruck von 1975 VI festgestellte) Unglaubwürdigkeit der besagten Handschriftentradition gegen sich: Die von Papadopou-
los-Kerameus (vgl. Anm. 15) edierte Handschrift bezeichnet die Sammlung nämlich als Antworten Theodorets, »eines der 650 heiligen Väter in Chalkedon auf die an ihnen von einem der Bischöfe in Ägypten gestellten Fragen«, transponiert den offensichtlich der christlich-paganen Auseinandersetzung erwachsenen Text in den christologischen Streit (was angesichts der Spärlichkeit und des naiven Dualismus der christologischen Äußerungen unmöglich zutreffen kann) und muß ihn dementsprechend an mehreren Stellen um den Theotokos-Titel erweitern. 14 Diodor von Tarsus. Vier pseudojustinische Schriften als Eigentum Diodors nachgewiesen = TU 21,4 (Leipzig 1901) 46/54. Ein weiteres wichtiges Argument scheint mir in der Rede des Autors von der Unvergänglichkeit bestimmter Teile der Schöpfung zu liegen (conf. praef. [111B/D]; qu. Chr. 1,6 [167A]; 5,2 [195E/196A]; qu. gent. 9; vielleicht auch qu. orth. 96/106). 15 Die einzige Edition aller vier Texte neben Migne bietet bislang J. C. Otto, Iustini philosophi et martyris opera 3,1. 2 = Corpus apologetarum Christianorum saeculi secundi 4. 5 (Jena 1881). Qu. orth. wurde nach einer Otto noch unbekannten Handschrift neu ediert von A. Papadopoulos-Kerameus (Sankt Petersburg 1895 bzw. = Subsidia Byzantina 13 [Leipzig 1975]). 16 Harnack, Diodor 24/9. 17 Ebd. 29/33. 50. 56/66. 18 Ebd. 41/3. Gänzlich unspezifisch sind die 44/6 aufgeführten Parallelen zu Diodorfragmenten. Daß die 33/6 aufgeführten neun Merkmale »sämtlich nur auf einen Mann« passen sollen, wird man bei unserer lückenhaften Kenntnis der christlichen Prosopographie der fraglichen Zeit sicherlich auch nicht behaupten können. 19 Pseudo-Justin und Diodor von Tarsus: ders., Kirchengeschichtliche Abhandlungen 3 (Paderborn 1907) 323/50.
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nach welcher der Text unter einem häretischen Herrscher entstanden sein müsse20. In der Tat scheint mir dieses Argument nicht einfach entkräftet werden zu können, indem man mit Funk behauptet, der Text müsse sich nicht unbedingt auf gegenwärtige Verhältnisse beziehen21. Wenn der Autor die Beherrschung der Juden durch die Christen mit derjenigen der Orthodoxen durch die Häretiker parallelisiert, muß er dann nicht einer wirklich massiv und dauerhaft unterdrückten christlichen Minderheit angehören, nicht einfach einer Partei, deren Herrschaft »noch keine sichere und bleibende ist«22? Problemlos erklärbar wäre dies für einen antiochenischen Autor wohl am besten in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts, als die Kämpfe zwischen Monophysiten und Chalkedoniern die von beiden in der Person des Nestorius verurteilte antiochenische Theologie gänzlich aus dem Reich verdrängten. Sollte sich die in der 4. bzw. 19. quaestio angesprochene Sucht der Häretiker, sich gegenseitig zu verdammen23, die Strafmaßnahmen gegen diese Gruppierungen voll rechtfertige, auf diese beiden Gruppen beziehen? Funk bezieht diese quaestio auf die Häretikergesetzgebung und sieht in ihr eines der wichtigsten Argumente dafür, daß der Text weder unter Valens, also vortheodosianisch, noch unter einem anderen häretischen Kaiser verfaßt sein kann24. Dieses Argument scheint mir jedoch nicht hundertprozentig stichhaltig, da gerade innerhalb einer unterdrückten Minderheit Diskussionen um die grundsätzliche Berechtigung solcher Häretikergesetze durchaus Sinn machen, ohne daß, zumal in der Antike, gleich jedes Mitglied einer solchen unter allen Umständen nach Toleranz rufen müßte. Dennoch könnte man versuchen, die Parallelisierung der eigenen Gruppierung mit den Juden aus qu. 143 auf anderem Wege zu erklären, als durch weitgehende politische Unterdrückung, nämlich durch den immer wieder gegen die antiochenische Christologie (und Exegese) erhobenen Vorwurf des ἰουδαισμός25. Wenn der Verfasser also davon spricht, daß die Juden »zusammen mit den wahren Christen den fälschlich so genannten Christen so oft dienstbar geworden« seien26, könnte dies zur Not auch auf eine primär kirchenpolitische Marginalisierung gedeutet werden, wie sie die Antiochener ja auch schon vor Chalkedon durch die skrupellose Machtpolitik der alexandrinischen Patriarchen erfuhren und von den Gegnern was Anzahl und Anschauungen betrifft nach Auskunft der Quästio immer mehr mit den Juden in eine Ecke gedrängt wurden. In der Tat dürften nämlich die von Harnack für das Fortbestehen des Heidentums angeführten Stellen27, die in
Papadopoulos-Kerameus, Quaestiones 132f. Funk, Pseudo-Justin 337f. 22 Ebd. 338. Der Minderheitenstatus ist charakteristisch für die gesamte Darstellung (vgl. Harnack, Diodor 25f) und führt stellenweise zu apokalyptischer Stimmung (qu. orth. 139; ebd. 144). In der bei Otto abgedruckten Pariser Handschrift eröffnet sie sogar die Darstellung (Corpus 5, 2 [391B/ 392B]). 23 Papadopoulos-Kerameus, Quaestiones 32f. 24 Ps-Justin 339f. 25 Vgl. etwa Kyrill in ACO 1,1,2, 93,5/8 oder (Ps-)Severian v. Gabala zu 1 Tim. 2,5f (K. Staab, Pauluskommentare der griechischen Kirche aus Katenenhandschriften gesammelt [Münster 1933] 337,31/ 3). Zwar ist der Topos darüber hinaus erst ab dem 20 21
sechsten Jahrhundert wirklich oft zu belegen, doch trifft und traf er schon seit dem vierten Jahrhundert jede Art von adoptianischer Christologie und literaler Exegese (vgl. G. W. H. Lampe, A Patristic Greek lexicon16 [Oxford 2001] 674f) und dürfte damit relativ bald auch gegen die Antiochener verbreitet worden sein. 26 Papadopoulos-Kerameus, Quaestiones 132. 27 Ebd. 21/5 mit der Besprechung bei Funk, PsJustin 332/5. Von den ebd. 340/2 für die Mitte des fünften Jahrhunderts vorgebrachten vier Argumenten (Trinitätslehre, Stellung des Mönchtums, Begriffsgebrauch von ›Heiden‹ und ›orthodox‹) scheint mir keines in irgendeiner Form aussagekräftig, das letzte sogar schlicht falsch: Der Orthodoxiebegriff war bereits im vierten Jahrhundert gang und gäbe.
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vielerlei Hinsicht an die apologetischen Debatten bei Theodoret erinnern, mehr auf die erste Hälfte des fünften Jahrhunderts deuten. Vor allem aber spiegeln die christologischen Äußerungen ziemlich eindeutig die vorchalkedonische, wenn nicht gar vorephesinische Diskussionslage wider: Vor allem qu. orth. 8 zeigt sich vom Doppelchristusvorwurf ziemlich unbeeindruckt und gebraucht ganz ungeniert die ZweiSöhne-Terminologie28. Außerdem zeigen qu. orth. 135/152, 136/153 und 140/156 keinerlei Sensibilität für die durch den Emmanuel-Titel, die Gottesmutterschaft Mariens und die Gottesmörderschaft der Juden aufgeworfenen Probleme der Idiomenkommunikation29, so daß der Verfasser die zeitgenössische Diskussion entweder komplett ignoriert oder tatsächlich noch vor Ausbruch der nestorianischen Kontroverse schreiben muß. Geht man also nur von den Quaestiones et responsiones ad orthodoxos aus, wird man sich bei der Datierung entscheiden müssen, ob man die Selbstpräsentation des Autors als einer unterdrückten Minderheit Rechtgläubiger zugehörig als topische Selbststilisierung (»kleine Herde«) abtut oder ihn als an den christologischen Debatten seiner Zeit völlig uninteressiert betrachtet. Man wird also nur festhalten können, daß das für Ansätze zur Datierung sicherlich reichste Werk auf den ersten Blick keine eindeutige Entscheidung zuläßt, und sich somit ohne exakte Datierung den als Parallele zu Philoponos relevanten Teilen des Corpus zuwenden müssen. Daß sich dieses, so wie es uns die bei Otto edierte Pariser Handschrift präsentiert, bereits einer antiken Zusammenstellung verdankt, hat Harnack ziemlich gewagt aus der Beschreibung des 125. Codex bei Photios geschlossen30, der neben Justins Apologien wohl die relativ ausführlich beschriebene Confutatio Aristotelis und im Anschluß noch ἀποριῶν κατὰ τῆς εὐσεβείας κεφαλαιώδεις ἐπιλύσεις enthielt. Wirkliche κεφαλαιώδεις ἐπιλύσεις werden aber eigentlich nur in den Quaestiones gentilium ad Christianos geboten, wo Fragen wie die nach der Existenz oder Abtrennbarkeit des Unkörperlichen oder Möglichkeit der Auferstehung des Fleisches in mehreren kurzen Stichpunkten beantwortet werden. Zur Not könnte man auch noch die meist relativ kurzen Auflösungen der Quaestiones ad orthodoxos (welche andererseits als schlicht dem Unterricht einer christlichen Schule entstammend31 nicht κατὰ τῆς εὐσεβείας gerichtet sind) als »summarisch« bezeichnen, kaum jedoch die ausführliche textchronologisch vorgehende Widerlegung der fünf Antworten des Heiden an den Christen. Sicherlich könnte die Beschreibung des Photios was die Quästionen betrifft ähnlich unexakt sein, wie bezüglich der Confutatio, die er ja ebenfalls nur angelesen und so auf die ersten beiden Bücher der Physik beschränkt zu haben scheint. Jedenfalls bietet der Photiusbericht kein sicheres Zeugnis für die Rückführung der vorliegenden Form der Sammlung ins neunte Jahrhundert. Diese könnte man jedoch von dem Harnack noch unbekannten ältesten handschriftlichen Zeugen für die fraglichen Texte bestätigt sehen: Die Moskauer Handschrift GIM Sinod. gr. 394 (olim Vlad. 231) aus dem 10. Jahrhundert bietet mitten unter verschiedenen christologischen wie philosophischen Werken Theodor Abu Qurras eine explizit keinem Autoren zugewiesene Sammlung von Papadopoulos-Kerameus, Quaestiones 21f. Er kennt lediglich die traditionelle divisio vocum: qu. orth. 7 (Harnack, Diodor 72) und 67/15. Dezidiertes Interesse an der Wahrung von Christi vollkommener Menschheit beweist er ferner in qu. 105/116, 117/128 und vielleicht auch in den relativ 28 29
ausführlichen Erörterungen der Stammbäume Christi (qu. 66/11, 131/12 und 133/14). 30 Diodor 47f. 31 Vgl. dazu den Beitrag von Papadoyannakis (Anm. 13).
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Erotapokriseis, welche auf fol. 9r/18v mit den auch aus der pseudojustinischen Sammlung bekannten Quaestiones gentilium einsetzt. Auf fol. 19r/22r folgt die Widerlegung weiterer, bislang unbekannter heidnischer Aporien, die in einem Katalog christlicher »Anfragen« an die Heiden gipfeln (fol. 22r/24v), welcher neben vielen anderen auch – mit bisweilen etwas abweichender Formulierung und in anderer Reihenfolge – die fünf in den Quaestiones Christianorum von dem paganen Intellektuellen beantworteten Anfragen enhält, ebenso wie einige exzerptartige Debatten von Aristotelesstellen, die auch in der Confutatio widerlegt werden. Mit fol. 25r beginnt dann eine klar abgetrennte Auswahl aus den Quaestiones ad orthodoxos in der von Papadopoulos-Kerameus edierten Fassung. Vorbehaltlich der Ergebnisse einer von mir vorbereiteten Untersuchung und Edition des Textes bleibt vorläufig also festzuhalten, daß der Urheber dieses anonymen Quaestionencorpus sicherlich die Quaestiones gentilium und die Quaestiones ad orthodoxos, wahrscheinlich auch die Quaestiones Christianorum und eventuell die Confutatio zusammen vor sich hatte. Daß die Quaestiones gentilium und die Quaestiones christianorum in der vorliegenden Form niemals für sich bestanden haben, sondern entweder bei der Eingliederung in das Corpus stark redigiert wurden oder niemals als selbständige Publikation gedacht waren, wird jedenfalls auch aus diesen Texten selbst deutlich. Auffälligerweise bietet ja nur die die Sammlung einleitende Confutatio eine den Text situierende Vorrede: Es soll einer Anfrage des Presbyters Paulus nachgekommen werden, welcher vom Autor eine »Auswahl der heidnischen Lehren über Gott und die Schöpfung« erbeten hatte, »nicht um daraus etwas wahres zu erkennen [.. .], sondern um sich zu versichern, daß die Heiden diese nicht der beweisenden Wissenschaft entsprechend, nach welcher sie ihre Erörterungen über Gott und die Schöpfung durchzuführen versprechen, erstellt, sondern Vermutungen folgend ihre Privatmeinung festgesetzt haben«32. Bei den drei folgenden Quästionensammlungen fehlt eine solche Einordnung völlig und war im Fall der Quaestiones ad orthodoxos vielleicht auch niemals vorhanden. Die Quaestiones Christianorum weisen hingegen in der ersten Antwort klar über den vorhandenen Text hinaus, indem sie einen Gesprächspartner adressieren: »Doch da es Deiner Gottesfurcht gut erschien, daß auch von unserer Seite die Inkohärenz des Arguments schriftlich aufgezeigt werde, daher schreibe ich in Kürze das Vorliegende«33. Hier wird eine wahrscheinlich christliche, dritte Person angesprochen, die die paganen Antworten auf die (eigenen?) Anfragen wohl in schriftlicher Form übersandt und eine schriftliche Antwort darauf erbeten hat34. Man wird also annehmen dürfen, daß der Text ursprünglich mindestens von einer Vorrede eingeleitet wurde, die den
32 Conf. praef. (110DE); vgl. praef. (112A); 4 (117D). In den Quästionensammlungen ließe sich nur in qu. Chr. 4,1 (188A) / 5,1 (195B) als entfernte Parallele beibringen. 33 Qu. chr. 1,1 (161C): Ἀλλ’ ἐπειδὴ ἔδοξε τῇ σῇ θεο-
σεβείᾳ τὸ καὶ παρ’ ἡμῶν ἐγγράφως ἐλεγχθῆναι τοῦ λόγου τὸ ἀσύστατον, διὰ τοῦτο ἐν συντόμῳ γράφω τὰ ὑποτεταγμένα.
Dagegen, daß die fünf Antworten lediglich vom Autor selbst ad mentem philosophi frei gestaltet wurden, spricht m. E. nicht nur das enge Kleben 34
der Widerlegung am Text, sondern auch polemische Ausfälle wie qu. Chr. 4,1 (187E/188A), welche im Falle freier Gestaltung ja hauptsächlich den Autor selbst treffen würden. Dafür spräche allenfalls, daß der Gegner in der ersten Antwort die Wendung τῶν ὀρθοδόξων πίστις (qu. Chr. 1 [160BC]), also die – abgesehen von der Widerlegung besagter Passage und qu. Chr. 5,2 (196A) jedoch nur in qu. orth. (nie in Confut. oder qu. gent.) auftauchende – typische Selbstbezeichnung des Autors verwendet.
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Autor und seinen (tatsächlichen oder fiktiven) Gesprächspartner35 identifizierte. Auch in den beiden letzten paganen Anfragen an die Christen, finden sich redaktionelle Bemerkungen, die innerhalb des vorliegenden Kontextes so nicht verständlich sind: Derjenige, der die Aporien vorträgt, verweist dort auf ein Argument der »Steinherzigen« gegen die Auferstehung. Dieses möchte er nicht nur selbst gerne beantwortet haben, sondern er bittet darüber hinaus um einen umfassenden wissenschaftlichen Beweis für die Auferstehung, welcher seine Zweifel sicher zur Ruhe bringen würde36. Die einfachste Lösung für diesen Befund läge sicherlich darin, die beiden philosophischen Quästionensammlungen mit der Confutatio zu verbinden und den in qu. Chr. 1 adressierten und in den qu. gent. um den Auferstehungsbeweis bittenden mit dem Presbyter Paulus zu identifizieren. Inhaltlich würden sicherlich auch die Sammlungen zu dem in der Vorrede der Confutatio Angekündigten passen, doch ist dort nirgends davon die Rede, daß Paulus unserem Autor pagane Texte und Anfragen übersandt hätte, deren Bearbeitung er sich über die besagte »Auswahl heidnischer Lehrsätze« hinaus noch wünscht. Es könnte also ebenso gut sein, daß die beiden philosophischen Quästionensammlungen erst von einem späteren Redaktor ihrer ursprünglichen Situierung durch eine Vorrede o. ä. beraubt und mit der Confutatio und vielleicht auch den qu. orth. als Werke Justins zusammengeschlossen wurden, zumal jeder konkrete historische Bezug in einer Vorrede für die pseudonyme Zuweisung störend erscheinen mußte.
III. Auch wenn sich also über die ursprüngliche Zugehörigkeit der drei Werke zueinander derzeit nichts Sicheres sagen läßt, stellen sie innerhalb der erhaltenen christlich-apologetischen Literatur doch die engste Parallele zum antiäternalistischen Projekt des Philoponos dar: Sowohl die Confutatio als auch qu. Chr. bieten mehr oder weniger textchronologisch orientierte Widerlegungen paganer Argumente für die Weltewigkeit und lassen dabei über weite Strecken den eigenen christlichen Standpunkt fast völlig vergessen. Beide Schriften sind sichtlich bemüht, die gegnerische Position möglichst aus deren Innerem heraus zu widerlegen und sie als selbstwidersprüchlich darzustellen. In der Confutatio trägt der Autor dazu fast alle zum Weltewigkeits- bzw. Schöpfungsproblem relevanten Passagen aus der Physik und De caelo zusammen: Er beginnt mit einem Angriff auf den (von Philoponos in c. Procl. 9,8/17 und 11,1/8 destruierten) Materiebegriff aus Physik 1,7/9 (2,1) (conf. 1/10)37, läßt
35 Dieser heißt im Text ganz stereotyp ὁ ἀποκρινάμενος. Wurde also der Name des paganen Re-
spondenten unserem Autor durch seinen christlichen Gesprächspartner gar nicht mitgeteilt oder hat etwa der Redaktor einen konkreten Personenamen ersetzt, um die Zuschreibung an Justin nicht zu kompromittieren? 36 Qu. gent. 14/15 (200B/E). 37 Wie bei Philoponos spielt der Gedanke notwendiger Homogenität von Materie und materiellen Din-
gen, was den Seins-, Substanz- und Enstandenheitscharakter betrifft, eine zentrale Rolle (vgl. conf. 3 [117E]; 5 [119B]; 7 [124B]; 8 [124E]; 40 [137DE]). Wie die Wiederaufnahme in den angehängten Thesen 4/5 (196DE) und 8/14 (197D/198C) zeigt, geht es Ps-Justin primär um den problematischen Seinsstatus der Hyle als Seinsprinzip. Zur maßgeblichen Edition und Übersetzungen der Philoponosschrift vgl. u. Anm. 67.
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darauf einen vermischten Abschnitt zu Zufall und Weltentstehung (Physik 2,4. 6. 7 mit Verweis auf De caelo) folgen (11/6), widmet sich der Abhandlung über das Unendliche in 3,4/7, natürlich mit besonderer Rücksicht auf die Unendlichkeit von Zeit und Bewegung (17/22)38, will angesichts der Raumabhandlung (4,1/5) die Priorität des Raums vor allen Dingen darin und so das Gewordensein des Raums und seiner Inhalte festhalten (23/30), attackiert die in 4,10/4 dargelegte Konzeption unendlicher Zeit (31/8)39 und kommt schließlich, nach einem neuerlichen Seitenhieb auf die Materiekonzeption in 5,1 (39f) auf das für die aristotelische Weltewigkeitskonzeption so zentrale (von Philoponos in c. Arist. 6 angegriffene) achte Buch der Physik zu sprechen, wobei allerdings schnell klar wird, daß er seinen (bescheidenen) Pulvervorrat schon gegen die vorigen Bücher verschossen hat (41/5). Seine Widerlegung von De caelo (46/63) läßt wie Philoponos die schwierigen modallogischen Überlegungen aus 1,11f komplett außen vor und konzentriert sich komplett auf die Äthertheorie: Deren mangelnde Eignung zur Erklärung der (wärmenden) Wirkung der Gestirne attackiert (ähnlich wie Philoponos in c. Arist. 3) etwa conf. 48 und 55 (153AB)40, und ihre Unvereinbarkeit mit der in De caelo 2,8/12 vorgetragenen Theorie der Planetenbewegung kritisiert conf. 56/60. Die Confutatio widerlegt also zwar etwas »mehr« Aristoteles als Philoponos, dessen c. Arist. sich auf die detaillierte Behandlung von de caelo 1,2/4, Meteorologie 1,3 und Physik 8,1 beschränkt, tut dies aber mit wesentlich geringerem Niveau und Sachverstand: Weder wird die aristotelische Argumentation in ihrem Zusammenhang wahrgenommen, noch zu deren Widerlegung ausführlichere Argumentationszusammenhänge vorgetragen. Meist werden einfach gegen den zitierten Text einer oder mehrere kurze Punkte angeführt, die die Selbstwidersprüchlichkeit oder anderweitige Unhaltbarkeit einzelner Aspekte des Gesagten erweisen und damit das Ganze als wissenschaftlich nicht fundierte Privatmeinung des Aristoteles bloßstellen sollen. Gegen die anonymen heidnischen Antworten operiert unser Autor dagegen mehr auf Augenhöhe: Hier hat er wohl gar keinen professionellen Philosophen vor sich, sondern lediglich einen paganen Intellektuellen, der auf der Basis eines vulgärplatonischen Monotheismus, wie er etwa im Corpus hermeticum begegnet, selektiv Topoi der zeitgenössischen philosophischen Debatte rezipiert und so auf die hintergründigen fünf Anfragen des Christen zu antworten sucht. Diese versuchen jeweils zwei zentrale Elemente der gegnerischen Auffassung gegeneinander auszuspielen: Die erste kontrastiert den elitären paganen Intellektualismus, der das höchste Gut in der Erkenntnis Gottes sieht, mit der Unkenntnis der Masse und fragt angesichts dessen, wie diese Welt als die bestmögliche gelten und keiner Umschaffung bedürfen könne. Die zweite spielt das Dominus-Argument, nach dem Gott ohne Geschöpf nicht Gott sein kann, gegen das Ungewordensein des Kosmos aus, die dritte Gottes seinsmäßige Kau-
In dem Kurzschluß von der Unmöglichkeit eines aktual Unendlichen auf das Begrenzt- und damit Gewordensein alles Seins (conf. 18/22 und 45) könnte man eine gewisse Parallele zu Philoponos’ Bezug auf den Satz von der Unmöglichkeit unbegrenzter Kraft im begrenzten Körper sehen. 39 In conf. 35 (136B) wird in ähnlicher Weise mit dem Akzidenscharakter der Zeit argumentiert wie 38
bei Philoponos in c. Procl. 5,3 (109,27/111,18 Rabe) und c. Arist. frg. 121 Wildberg. Zu Ps-Justins Auseinandersetzung mit der aristotelischen Zeitauffassung vgl. ausführlich Boeri, Pseudo-Justin 116/ 25. 40 Wiederaufgenommen in der 6., 7. und 14. angehängten These (197A/C. 198D). Zu Ps-Justins Ätherkritik vgl. auch Boeri, Pseudo-Justin 126/31.
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salität und Einfachheit gegen seine allumfassende Schöpfertätigkeit und die vierte die platonische (und mythisch-traditionelle) Bezeichnung des Kosmos als »geworden« (Tim. 29a) gegen dessen Gleichewigkeit mit Gott. Die fünfte fragt etwas weniger ernsthaft, wie Gott in einem Himmel wohnen kann, den er nicht selbst geschaffen hat. Obgleich auch hier im Vergleich zu der Debatte zwischen Proklos und Philoponos ein deutlicher Niveauunterschied festzustellen ist, ist die Anzahl der Parallelen doch erstaunlich: In der ersten Antwort, die Gottes etwaige Zulassung einer schlechten Welt auf defiziente Kraft oder Willen zurückführt (160C/E), klingen die traditionellen Dilemmata an, die wohl schon seit Aristoteles gegen eine Weltschöpfung und -zerstörung durch Gott vorgebracht und von Proklos in seinem ersten und sechsten Argument wieder aufgenommen wurden41. Die zweite Antwort hebt auf die Unveränderlichkeit der göttlichen Wirkkraft ab42, die Proklos vor allem in seinem vierten Argument thematisiert. Dabei scheint der pagane Intellektuelle aber keine genaue Vorstellung von der den platonischen Argumenten, auf die er sich bezieht, zugrundeliegenden Vorstellung von eidetischer Kausalität zu haben und kann daher weder den Sinn, in dem der Kosmos unentstanden zu nennen ist, noch die Weise der göttlichen Schöpfertätigkeit exakt präzisieren43. War Proklos in seinem vierten Argument auf die aristotelische Definition der Bewegung als unvollkommene Energie rekurriert, um jede Möglichkeit eines Wechsels in der Tätigkeit der Weltprinzipien abzuwehren44, so hält unser christlicher Autor diese dem paganen Gegner vor, um die Defizienz von dessen Schöpfervorstellung herauszustellen, insofern die Schöpfungstätigkeit bei ihm nie zum Abschluß komme und somit niemals vollendet sei45. Die dritte christliche Anfrage dreht sich nun um das zwischen Philoponos und Proklos vor allem zum ersten, zweiten und vierten Argument verhandelte Problem der Vereinbarkeit von eidetischer, seinsmäßiger Kausalität46 und Schöpfung der vergänglichen Individuen47. Die pagane Antwort geht auf dieses Problem jedoch gar nicht ein, sondern versucht lediglich die Vorstellung seinsmäßiger Kausalität nochmals zu präzisieren, und dies nicht ohne Spannung zu den Auskünften des vorigen Abschnitts: Da in Gott Sein und Wille zusammenfielen, könne es hier keine punktuellen Aktionen
Vgl. Verf., Platon und Aristoteles in der Kosmologie des Proklos. Ein Kommentar zu den 18 Argumenten für die Weltewigkeit bei Johannes Philoponos = STAC 54 (Tübingen 2009) 64/74. 187/90. 42 Im letzten Satz der Antwort (169A: Ποιεῖ τοίνυν 41
τὸν κόσμον, τάττων αὐτὸν ἀεί, καὶ ὁ κόσμος τῷ μὲν ἀεὶ φρουρεῖσθαι γίνεται, τῷ δὲ ἀεὶ εἶναι ὁ αὐτὸς ἀγένητος ὑπάρχει) klingen die platonischen Motive des ewigen
Geordnet- (vgl. etwa die proklischen Argumente 16 und 18) und Bewachtwerdens (vgl. etwa Theologia Platonica 4,17; 5,33f oder Elementatio theologica, prop. 154 u. m.) an. 43 Der in der vorigen Anm. zitierte Satz müßte wohl so interpretiert werden, daß der Kosmos unentstanden ist, insofern er immer existiert, jedoch ewig wird/entsteht, indem er ewiglich von Gott geordnet wird. Die zunächst schwierige Bemerkung 168E (Ποιεῖ τοίνυν τὸν κόσμον ἐν αὐτῷ τούτῳ ὅπερ ἐστί,
τὴν κίνησιν αὐτῷ ἄπαυστον παρέχων, τῷ ἐλλάμπειν αὐτὸν δι’ αἰῶνος) wäre demnach so zu verstehen, daß Gott »allein darin, was er ist« (d. h. seiner vorher beschriebenen ewigen und unveränderlichen Energie) den Kosmos als konkrete Ordnung schafft, indem er ihn zu geordneter Bewegung erleuchtet. 44 Vgl. Verf., Platon und Aristoteles 148f. 45 Qu. chr. 2,4 (171E/172A). 46 Obwohl diese bei Proklos erst im zweiten Argument explizit geltend gemacht wird, attackiert sie Philoponos schon zum ersten (c. Procl. 1,5/8). Seine Widerlegung des zweiten Arguments konzentriert sich hingegen ganz auf die von Proklos postulierte Wesentlichkeit der Paradigmenfunktion einer Idee. 47 Zu diesem Problem in der apologetischen Debatte und bei Philoponos vgl. u. Anm. 102.
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in temporaler Sukzession geben, sondern nur ein gleichzeitig-ewiges Schaffen und Vollenden der Gesamtschöpfung. Dabei scheinen mir platonische Motive in nicht unproblematischer Weise auf das Verhältnis von Schöpfer und Welt übertragen zu werden: Der Satz ἀγενήτως γενητὰ ποιεῖ, ein platonisches Standardthema in der Beschreibung des Verhältnisses intelligibler Ursachen zu materiellen Dingen48, wird umgemünzt zu einem ἀγενήτως ἀγενήτα ποιεῖ, welches für den Platoniker auf die Abhängigkeit intelligibler Größen voneinander zu beschränken wäre49. Begründet wird dies durch eine analoge Abwandlung des neuplatonischen Konzepts der Selbsterzeugung: Ebenso wie Gott in der Einheit von Sein und Wille αὐτοπάρακτος50 sei, komme dies aufgrund der Unendlichkeit seiner Kraft auch den von ihm erzeugten Dingen zu51. Dieser Gedanke der Selbsterzeugung des in anderer Hinsicht Prinzipiierten ist aus der platonischen Debatte vor allem des Verhältnisses vom Nous zum Einen52, teilweise auch von Seele zu Nous53 bekannt. Der Kosmos ist für den Platoniker nicht selbsterzeugt, sondern mit Tim. 32c/34a lediglich selbstgenügsam. Selbsterzeugung des Alls begegnet hingegen in der Stoa und im älteren Peripatos54, jedoch ohne (im Fall der Stoa ohnehin nicht zu erwartende) sichtbare Beziehung auf ein transzendentes Prinzip. Obwohl diese fragwürdige Konstruktion also leicht abzuweisen gewesen wäre, fährt Ps-Justin dagegen dennoch eine Vielzahl traditioneller apologetischer Motive auf, die später auch bei Philoponos wiederkehren: die nur aus willentlicher Schöpfung erklärbare unendliche Vielzahl und Heterogenität der Geschöpfe55, den Vorwurf der Aufhebung der göttlichen Freiheit56, und den Schluß von den vergänglichen Teilen aufs vergängliche Ganze57. Die Beantwortung der vierten Anfrage, wie der Kosmos einerseits γενητός und andererseits θεῷ συναίδιος heißen könne, bietet schließlich die meisten Parallelen zu den proklischen Argumenten, unbeschadet des Unterschieds in der Grundorientierung: Der pagane Intellektuelle scheint nun nämlich endgültig jede sinnvolle Möglichkeit, den Kosmos als γενητός zu bezeichnen58, über Bord zu werfen, und stellt rundweg fest, daß dort, wo diese Bezeichnung bei »den Alten« auftrete, sie deswegen nicht wörtlich
48 Vgl. etwa Procli in Platonis Timaeum commentaria, hrsg. von E. Diehl 3 (Stuttgart 1906) 196,26f oder 228,24f. 49 Vgl. etwa Porphyrios, Sententiae ad intelligiblia ducentes 24, hrsg. von E. Lambertz (Stuttgart 1975) 14. 50 Laut Thesaurus linguae Graecae ist der Begriff in der antiken (und selbst frühbyzantinischen) Literatur nur an dieser Stelle belegt. 51 Qu. chr. 3 (177B): Πολλῷ τοίνυν τὸν θεὸν μᾶλλον
οἰητέον ἀθρόως καὶ ἀχρόνως πάντα ποιεῖν, αὐτὸν μὲν ὄντα ἕν, τῇ δὲ ἀπειρίᾳ τῆς δυνάμεως τὰ διάφορα παράγοντα, καὶ αὐτὰ παντελῶς αὐτοπάρακτα τυγχάνοντα. 52 Dazu umfassend J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin2 (München 2006) 98/149. 53 Dazu und zum Selbsterzeugten bei Proklos insgesamt vgl. Verf., Platon und Aristoteles 197f52. 54 Vgl. Kritolaos apud Philonem, De aeternitate mundi, hrsg. von R. Arnaldez / J. Pouilloux, § 70.
3,2 (179DE). Zu Philoponos vgl. u. Anm. 102. 3,2 (180C); 3,3 (181DE); 3,5 (184AB). Zu Philoponos vgl. u. Anm. 107. 57 3,3 (194B) vgl. Philoponos, c. Procl. 13, 8/12 (zum Hintergrund vgl. J. Pépin, Théologie cosmique et théologie chrétienne [Paris 1964] 292/306: im Gegensatz zu den beiden ersteren ist dieses ein ganz traditionell-philosophisches Motiv der Bestreitung einer Weltewigkeit). Darüber hinaus wird das Thema in qu. gent. 11,9 (210C) wiederaufgenommen. 58 Zur Diskussion um die Bedeutungsmöglichkeiten dieses Begriffs vgl. M. Baltes, Der Platonismus in der Antike 5 (Stuttgart 1998) Baustein 140. Die berühmte von Aristoteles in De caelo 1,10 (Baustein 136.0b) zurückgewiesene »geometrische« Interpretation der platonischen Weltentstehung wird auch von Ps-Justin in etwas verquerer Form wiederholt attackiert: qu. Chr. 2,8 (175E/176A); 3,3 (181DE). 55 56
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genommen werden könne, weil deren seinem Prinzipiat notwendigerweise entsprechendes Weltprinzip immer klar unentstanden sei. Dies entspricht zunächst klar der Platon- und Mythenexegese, wie wir sie von den späten Neuplatonikern kennen59. Auch hier wurde ja vehement vertreten, daß trotz des Wortlauts der Texte weder Platon noch die Theologen Homer und Hesiod die Welt für der Zeit nach entstanden hätten halten können, eben aufgrund der notwendigen Einsicht in besagtes oder ähnliche Argumente. Der Grundsatz τὰ πρός τι ἅμα τῇ φύσει (cat. 7, 7b15/8a12), den der pagane Intellektuelle im Anschluß so pointiert avanciert und auf das Verhältnis von Paradigma und Kosmos (vgl. Proklos, Arg. 2) und Demiurg und Demiurgem (vgl. Proklos, Arg. 3) anwendet (187A/C), ist auch bei Proklos von eminenter Bedeutung. Zwar klingt das Prinzip bei diesem nur im zweiten (anders nuanciert auch im dritten) Argument selbst an, doch bildet es eine wichtige argumentative Grundlage nicht nur in diesen beiden, sondern auch im fünften (Gleichewigkeit des Zeitmaßes mit der gemessenen Himmelsbewegung), im elften (Gleichewigkeit des Werdens mit der auf es zweckgerichteten Materie)60 und sechzehnten Argument (Gleichewigkeit des Ordnungswillens mit der gewollten Ordnung)61. Ja selbst die von Proklos im dritten Argument angebrachte modale Präzisierung wird von unserem Intellektuellen vorweggenommen: Sollte jemand behaupten, der Demiurg könne auch bei zeitlicher Posteriorität des Geschöpfes so genannt werden, so habe er nicht beachtet, daß der Demiurg dann lediglich potentiell ein solcher und damit unvollkommen sei (187DE)62. Der ja schon dem traditionellen Dominus-Argument zugrundeliegende Gedanke der Gleichzeitigkeit von Relativa scheint in der Tat in der gesamten Debatte des Themas im fünften und sechsten Jahrhundert eine ganz zentrale Rolle zu spielen, begegnet er doch auch im relativ kurzen Dialog Ammonios gleich zweimal: Sowohl der Arzt Gesios trägt ihn vor – wie Proklos im fünften Argument – mit Blick auf die Zeit63, als auch die christliche Entgegnung nimmt darauf bezug, indem sie den ganzen Argumentationstyp als Abhängigmachung Gottes von seiner Schöpfung geißelt64. Dennoch scheint man sich christlicherseits keineswegs sicher gewesen zu sein, was man auf Argumente dieses Typs zu antworten hat: Der besonnenen Strategie des Philoponos, nicht das Prinzip selbst, sondern nur seine jeweils konkreten Anwendungen anzugreifen, stehen in Zacharias und Ps-Justin zwei mehr oder weniger überzeugende Versuche gegenüber, eben ersteres zu tun: Zacharias will, vielleicht in Anlehnung an die plotinische Kategorienkritik (enn. 6,2 [43], 16,1/3), die Kategorie der Relation nur für Körperliches zulassen65, was sicherlich nur solange Plausibilität hat, als diese als dem Gegenstand rein äußerliches Verhältnis aufgefaßt wird, welches im Intelligiblen auch nach den Platonikern keinen Platz hat. Ps-Justin hingegen versucht, einen ausführlicheren Angriff auf das Prinzip auf aristotelischer Basis zu starten: Zunächst beruft er sich auf die Bilddefinition aus Topik 6,3, 140a14f, nach der ein Bild dasjenige
Vgl. etwa Simplicii in Aristotelis de caelo commentaria, hrsg. von L. Heiberg = CAG 7 (Berlin 1894) 294,7/10; 296,9/30 (wo die »Oberflächlichkeit« zeitlicher Lektüre der Kosmogonien angeprangert wird); 560,13/27 (wo festgehalten wird, daß alle Theologen, auch Hesiod, das erste Prinzip klar als unentstanden bezeichneten). 59
In c. Procl. 11,9 nennt Philoponos das Prinzip beim Namen, ohne es selbst in Frage zu stellen. 61 Vgl. Verf., Platon und Aristoteles 546 (Index s. v. Relation/Relativa, bes. 117/20). 62 Weiteres dazu u. bei Anm. 99/104. 63 Ammonios 553/61 (113 Minniti-Colonna). 64 Ammonios 820/43 (121f Minniti-Colonna). 65 Ammonios 836/43 (122 Minniti-Colonna). 60
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sei, dessen Entstehung durch Nachahmung zustande kommt, also kein Bild unentstanden sein könne, auch nicht der Kosmos (314C). Ausgehend von dem durch den Kontrahenten genannten Beispiel rechts-links und vielleicht auch motiviert von den zu Beginn cat. 7 gegebenen irreführenden Beispielen (in 6b7/14 gelten auch »groß« und unterschiedliche Lageprädikate als relativ, da man davon immer im Vergleich zu etwas anderem spreche), dekretiert er dann allerdings, daß in einem weiteren Sinne jedes beliebige Gegensatzpaar, auch krumm und gerade oder entstanden und unentstanden, relativ genannt werden könne, und konstruiert daraus ein eher sophistisches Gegenargument: Das Argument sei deswegen abzulehnen, da es gar nicht auf echten Relaten, also der genitivischen Antistrophe fähigen zweistelligen Prädikaten (der Vater ist immer Vater eines Sohns, der Sohn immer Sohn eines Vaters) beruhe, sondern mit dem Beispiel rechts-links auf einem relativen Gegensatz im weiteren Sinn, letztlich demjenigen von ungeworden und geworden, für den das Prinzip offensichtlich nicht gelte (191E/192C). Man sieht also trotz der zahlreichen formalen wie inhaltlichen Parallelen66 zum Projekt des Philoponos zumindest einen deutlichen Unterschied im Niveau. Ob dieser mit einer grundsätzlichen Differenz in der Ausrichtung der Schriftstellerei beider Autoren verbunden ist, wird im übernächsten Abschnitt, im Anschluß an die Rekonstruktion von Philoponos’ Projekt zu klären sein.
IV. So viel wir rekonstruieren können, umfaßte das apologetische Projekt des Philoponos drei Schriften gegen die Ewigkeit der Welt, zwei primär polemische, welche die einschlägigen Argumente des Proklos und des Aristoteles widerlegen sollten, und eine konstruktive, welche den positiven naturphilosophischen Beweis für die Zeitlichkeit der Welt führen sollte. Davon ist nur die erste, die Widerlegung des Proklos aus dem Jahre 529 oder kurz danach relativ vollständig erhalten67, und die zweite, die wohl zwischen 530 und 534 entstandene Widerlegung des Aristoteles, immer noch in einer beträchtlichen Menge von Fragmenten68. Von der dritten hingegen besitzen wir nur ein arabisches Exzerpt, welches wesentliche inhaltliche Punkte aus drei Büchern refe-
66 Aus qu. gent. sind nur noch die das Verhältnis von Ungeworden- und Unentstandensein thematisierende qu. 9 als Parallele zum 6. und 17. und die nach dem Untergangsübel des Kosmos fragende qu. 10 als Parallele zum 9. proklischen Argument erwähnenswert. 67 Die maßgebliche Edition ist immer noch die alte Teubneriana: Johannes Philoponos, De aeternitate mundi contra Proclum, hrsg. von H. Rabe (Leipzig 1899 bzw. Hildesheim 1963). Englische Übersetzungen bieten: John Philoponus, Against Proclus on the eternity of the world 1–5, hrsg. von J. M. Share (London 2004); ders., Against Proclus on the eternity of the world 6–8, hrsg. von J. M. Share (London 2005); ders., Against Proclus on the eternity of the world 9–11, hrsg. von J. M. Share (London
2010); ders., Against Proclus on the eternity of the world 12–18, hrsg. von J. Wilberding (London 2006). Eine neue deutsche Übersetzung mit ausführlicher Einleitung präsentiert jetzt C. Scholten: Johannes Philoponus, De aeternitate mundi 1/5 = FC 64,1/5 (Turnhout 2009/2011). Beachtenswert ist hier zunächst die ausführliche Neubearbeitung der Datierungsfrage im Einleitungsband (46/70). 68 In englischer Übersetzung zusammengestellt bei John Philoponus, Against Aristotle. On the eternity of the World, hrsg. von Ch. Wildberg (London/ Ithaca 1987). Einen Kommentar zu den Fragmenten der ersten vier Bücher bietet Ch. Wildberg, John Philoponus’ criticism of Aristotle’s theory of aether (Berlin/New York 1988).
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riert69. Da nun von der Widerlegung des Proklos aufgrund einer Beschädigung des einzigen erhaltenen Manuskripts ausgerechnet Anfang und Schluß verlorengegangen sind70, fehlt uns leider jede explizite Auskunft über Anlaß, eigentliche Absicht und Kontext des Gesamtwerkes, und auch die Fragmente der anderen beiden Schriften sind in dieser Hinsicht ziemlich unergiebig. Nun stößt man innerhalb der Prokloswiderlegung auf mehrere Stellen, an denen Philoponos klar an die apologetische Tradition anknüpft und deutlich als Verteidiger des Christentums Stellung bezieht, so etwa wenn er gelegentlich auf die Schrift71 oder andere christlich-apologetische Literatur verweist72, die heidnischen Götter als böse Dämonen deklassiert73, seine Gegner – in der Tradition der christlichen Traktate Ad bzw. Contra Graecos – als Ἕλληνες (›Heiden‹) anspricht74 oder an einer Stelle Proklos sogar explizit als böswillig argumentierenden Feind der christlichen Wahrheit angreift75. Eine Häufung apologetischer Topoi findet sich auch in seiner Widerlegung des neunten Arguments, wo er Proklos’ Berufung auf Platons Bezeichnung des Kosmos als Gott nicht nur die Irrtumsfähigkeit und Selbstwidersprüchlichkeit des Philosophen Platon vorhält (c. Procl. 9,1/3)76, sondern auch das jüdisch-christliche Bild vom opportunistischen Plagiator aufgreift, der, obwohl er die wahre Erkenntnis des einen Schöpfergottes aus dem AT gelernt hatte, es angesichts des Schicksals seines Lehrers Sokrates dennoch nicht wagt, mit dem traditionellen Polytheismus zu brechen (c. Procl. 9,4; 18,8/10)77. Clemens Scholten hat darüber hinaus sogar noch einige weitere Punkte zusammengetragen, die bei genauerem Hinsehen m. E. allerdings nicht sehr tragfähig sind78: Besonders das Postulat »schlecht von der Hand« zu weisender eucharistischer Anspielungen in 9,11 und 11,8 halte ich für irreführend, da der Kon-
Ediert und übersetzt bei G. Troupeau, Un épitomé arabe du »De contingentia mundi« de Jean Philopon: ders., Études sur le christianisme arabe du Moyen Âge (Aldershot 1995) 77/88. 70 Die erhaltene Pinax zu c. Procl. 18 kündigt eine προαναφώνησις τῶν ἑξῆς (611,25f Rabe) an, also wohl eine Vorankündigung der folgenden beiden Teile des Projekts. 71 Auf fast 650 Teubnerseiten findet sich die doch recht magere Anzahl von sieben Bibelzitaten (zusammengestellt in Rabes Index 652b). In Scholtens Einleitungsband (FC 64,1, 70/81) werden daraus fünf von sechzehn Punkten, an denen er den eindeutig christlichen Standpunkt des Autors festmachen will (vgl. v. a. 75f). 72 C. Procl. 6,27 (211,10/20 Rabe) verweist auf die Praeparatio evangelica, 6,28 (229,11) und 9,4 (332,20) auf andere Schriften τῶν ἡμετέρων. 73 Vgl. 2,5 (37,13/5 Rabe; Mantik als Dämonenwerk) / 6,29 (241,14/9; »Theophorie« als Besessenheit) / 18,8. 10 (635,10/9. 643,13/644,6; Mythen als Werk böser Dämonen). 74 Vgl. Rabes Namensverzeichnis 648f s. v. Ebenso c. Procl. 9,4 (331,5 Rabe): »heidnischer Irrtum«) und ibid. 86,6 (245,3; »heidnische Hypothesen«). 75 In c. Procl. 4,8 wirft er Proklos vor, daß dieser trotz seines Wissens um die sein auf Äquivokationen basierendes Argument aus den Angeln hebenden 69
aristotelischen Begriffspräzisionen »dennoch, da er sich als einziges Ziel gesetzt hat, auf jede erdenkliche Weise gegen die Wahrheit unserer heiligen Schriften zu Felde zu ziehen, gegen uns argumentiert, als wären uns diese Begriffspräzisionen unbekannt« (75,7/10 Rabe). 76 Hierin könnte man eine gewisse Anknüpfung an die apologetische Tradition der ›irrisio philosophorum‹ sehen (vgl. dazu die Zusammenstellung der Texte bei Fiedrowicz, Apologie 292/4). 77 Zum Hintergrund vgl. grundlegend M. Baltes / H. Dörrie, Der Platonismus in der Antike. Grundlagen, System, Entwicklung 2. Der hellenistische Rahmen des kaiserzeitlichen Platonismus (StuttgartBad Cannstatt 1990) Bausteine 69/71. Außerdem P. W. van der Horst, Plato’s fear as a topic in early Christian apologetics: JournEarlyChrSt 6 (1998) 1/ 13. 78 Dies wird von ihm für die angebliche schöpfungstheologische Anspielung in 6,18 und die Bezugnahme auf die Manichäer in 12,2 selbst zugegeben (FC 64,1, 78f). Auch daß die Kritik an der Harmonisierung von Platon und Aristoteles christlich motiviert sein soll (80f), halte ich, wie unten noch näher auszuführen, angesichts der Exegetenbiographie des Philoponos für eher abwegig (vgl. aber Zacharias, Ammonios 943/52).
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text – die Diskussion des klassischen Materiebegriffs – naturphilosophischer (vor allem in der zweiten Passage geht es um die natürliche Regularität des Prozesses) kaum sein könnte, so daß die Eucharistie sicher ein denkbar ungeschicktes Beispiel abgäbe79. Sollte man dagegen einwenden, daß Philoponos sich ja mit seiner Apologie an ein christliches Leserpublikum, für das die Wandlung der Elemente eine Selbstverständlichkeit sei, richtet, so scheint mir dieses in keiner Weise auf eine Transsubstantiationstheorie vorbereitet zu sein, wie sie Scholten mit Verweis auf Betz80 postuliert: Die dort angeführten drei Eucharistie und Verdauungsprozeß in irgendeiner Form parallelisierenden Texte81 heben dabei allesamt nicht auf einen in aristotelischen Kategorien konstruierten Transsubstantiationsprozeß ab, sondern wollen lediglich die (aktuell auf unbegreiflich-wundersame Weise hergestellte) Identität von Brot und Leib Christi und die Art unserer innigen Partizipation an letzterem plausibilisieren. Dennoch weist auch die Gesamtanlage seines Projekts darauf hin, daß Philoponos es bewußt und explizit in die Tradition christlicher Apologetik stellen wollte. Eine der wenigen formalen Konstanten, die dieses »genre polymorphe« durch seine vielen Transformationen hindurch immer wieder aufweist82, ist nämlich die polemisch-konstruktive Doppelstruktur, also die der antiken rhetorischen Tradition entstammende Aufeinanderfolge von ἀνασκευή und κατασκευή83. Daß diese Struktur, welche mutatis mutandis für alle großen apologetischen Summen des vierten und fünften Jahrhunderts prägend ist84, wohl auch den Aufriß von Philoponos’ Projekt prägt, wurde in FC 64,1, 77f. Außerdem spricht der erste Text (von dem her der zweite als dessen Wiederaufnahme verstanden werden muß) von einer Verwandlung des Brots in »Knochen oder Fleisch« (c. Procl. 9,11 [358,16f]), was ein eucharistisches Verständnis an sich schon ausschließt. Die von Scholten (FC 64,1, 77) als Gegenargument angeführte Zwischenschaltung der Magensäfte in 9,16 ist natürlich kein wirkliches Gegenargument gegen ein rein vegetatives Verständnis der Passage, da es ja um das Problem des verschiedenen Volumens von Edukt und Produkt des Wandlungsprozesses geht. 80 Handbuch der Dogmengeschichte 4, 4a. Eucharistie in der Schrift und Patristik (Freiburg u. a. 1979) 86/141. 81 Es handelt sich um Justin, apol. 1,66,2, den 37. Abschnitt von Gregors Oratio Catechetica und die Behandlung des Anthropophagievorwurfs bei Macarius Magnes, apocriticus 3,23 (referiert bei Betz, Handbuch 87 und 108/112). 82 Daß sich die Apologetik in so vielen unterschiedlichen literarischen Formen (Dialog, Brief, Libell, Verteidigungsrede, Summe, Traktat) äußerte, macht ihre genaue Abgrenzung nicht immer ganz einfach. So hat J.-C. Fredouille, L’apologétique chrétienne antique. Naissance d’un genre litteraire: RevÉtAug 38 (1992) 219/34 und L’apologétique chrétienne antique. Métamorphoses d’un genre polymorphe: RevÉtAug 41 (1995) 201/16 die These aufgestellt, daß es sich bei der Apologetik im Grunde um einen »discours de substitution« handelt, der sich zunächst nahezu aller möglichen vorhanden literarischen Formen bedient, um sein Anliegen dem jeweiligen 79
historischen Kontext entsprechend durchzusetzen, und erst in den großen apologetischen Summen des vierten und fünften Jahrhunderts teilweise eigene formale Gestaltelemente entwickelt hat. Dagegen besteht vor allem W. Kinzig darauf, daß die Apologetik als Gattung von Anfang an eigene dem spezifischen Sitz im Leben entsprechende literarische Formen hervorgebracht hat, nämlich die des Libellus, also der Petition eines kaiserlichen Prozeßreskripts im Falle der echten Apologien (Der ›Sitz im Leben‹ der Apologie in der alten Kirche: ZKG 100 [1989] 291/317) und des Garantiewerks, also der öffentlichen, polemischen Renunziation der eigenen früheren Ansichten im Falle der Traktate Contra Graecos (Überlegungen zum Sitz im Leben der Gattung Πρὸς Ἕλληνας/Ad nationes: v. Haehling [Hrsg.], Rom und das himmlische Jerusalem [o. Anm. 3] 152/83), wobei er allerdings im letzteren Fall selbst zugibt, daß der von ihm angegebene spezifische Sitz im Leben nur bei wenigen der einschlägigen Traktate sicher erwiesen werden kann. 83 Vgl. dazu Kinzig, Überlegungen 164/71 und Fredouille, Métamorphoses 214. 84 Ganz offensichtlich ist dies der Fall bei Laktanz (inst. 1/3: polemisch; 4/7: konstruktiv), Athanasios (c. gentes 2/29: polemisch; 30/44: konstruktiv) und Augustin (civ. D. 1/10: polemisch; 11/22: konstruktiv). Bei Euseb wird die Sache durch die Einbeziehung des Verhältnisses zum Judentum kompliziert: Die Praeparatio evangelica behandelt dementsprechend die Überlegenheit der hebräischen über die paganen Religionen eher polemisch (1/6) und eher konstruktiv (7/15), die Demonstratio die Überle-
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der bisherigen Forschung übersehen und ist daher im Anschluß etwas eingehender darzulegen. Die Schrift gegen Proklos enthält auch in ihrem erhaltenen Corpus zahlreiche Vorverweise, namentlich auf die Widerlegung des Aristoteles85. Vergleicht man diese Passagen mit dem Beginn des arabischen Exzerpts aus der nicht-polemischen Philoponosschrift, so legt sich die Vermutung nahe, daß ursprünglich beide Widerlegungen den polemischen und die dem arabischen Kompilator vorliegende den konstruktiven Teil eines dem Aufbau nach einer christlich-apologetischen Summe nachempfundenen Gesamtprojekts darstellten. So heißt es in der Prokloswiderlegung: »Über die Kreisbewegung, nach welcher sich die himmlischen Körper bewegen, wird – so Gott es zuläßt – im Widerspruch gegen Aristoteles bezüglich der Ewigkeit der Welt vollkommener aufgezeigt werden, daß auch sie nicht ewig ist. Dazu würden wir nämlich eines zu ausführlichen Gedankengangs bedürfen. Wenn aber im ersten Argument genugsam von uns aufgezeigt wurde, daß das Werden der Welt unmöglich ewig sein kann (wie es auch vollkommener für sich aufgezeigt werden wird, wenn wir die Belästigung durch all die Aporien [die die Annahme einer ewigen Welt bereitet] los sein werden), ist offensichtlich, daß auch die Kreisbewegung unmöglich ewig sein kann«86. »Daß das Unendliche aber unmöglich auf irgendeine Weise aktuell existieren kann, weder als gleichzeitig bestehendes noch als Stück für Stück entstehendes, werden wir im Fortgang anderswo – so Gott es zuläßt – vollkommener aufzeigen, wenn wir nach Aufdeckung aller Aporien bezüglich des ewigen Seins der Welt endlich selbst für uns beweisen, daß die Welt unmöglich ewig sein kann; dann werde ich aber auch Aristoteles selbst anführen, der genau dies wortwörtlich erweist, nämlich daß das Unendliche auf keine Weise aktuell bestehen kann«87.
Zu dieser Abhebung des konstruktiven vom polemisch-elenchtischen paßt sehr gut der Beginn des arabischen Exzerpts, wo allem Anschein nach die Vorrede des Philoponos relativ ausführlich wiedergegeben, wahrscheinlich sogar ein zentraler Passus daraus folgendermaßen übersetzt wird: genheit der christlichen über die jüdische Religion eher polemisch (1/2) und eher konstruktiv (3/20). Bei Theodoret ist das Gesamtgliederungsschema thematisch gewählt (2/6: theoretisch-dogmatisch; 7/11: praktisch-ethisch), doch charakterisiert hier die Aufeinanderfolge von ἀνασκευή und κατασκευή mehr oder weniger deutlich die Gliederung der einzelnen Bücher. 85 155,23 Rabe (gg. cael. 1,11 280b1 [Zusammengesetztsein d. Himmels]) / 258,24; 399,20/4 (gg. Ewigkeit d. Kreisbewegung, Titel!) / 396,24 (Ortsveränderung d. Himmels) / 461,2; 483,18/21 (himmlischer Körper). Die mit ἐν ἑτέροις markierten Vorverweise gehen, wie die Parallelität der Wendungen m. E. deutlich zeigt, auf andere Schriften, und können nicht mit C. Scholten, Antike Naturphilosophie und christliche Kosmologie in der Schrift ›De opificio mundi‹ des Johannes Philoponos (Berlin/ New York 1996) 136487 auf Stellen innerhalb der Schrift gegen Proklos bezogen werden. 118,4f wird ja beispielsweise nicht der sachliche Beweis angekündigt, daß die Zeit einen Anfang hat, sondern
der exegetische, daß Platon dies angenommen hat, wie er dann in 6,7/27 durchgeführt wird. 86 258,22/259,6 Rabe. 87 Ibid. 9,20/10,2: ὅτι δὲ κατ’ οὐδένα τρόπον ἐνεργείᾳ
ὑποστῆναι τὸ ἄπειρον ἐνδέχεται οὔτε ἀθρόον ὑφιστάμενον οὔτε κατὰ μέρος γινόμενον, ἐν ἑτέρῳ μὲν προϊόντες θεοῦ διδόντος ἐντελέστερον δείξομεν, ἐπειδὰν πάσας τὰς περὶ τοῦ ἀίδιον εἶναι τὸν κόσμον ἀπορίας ἐλέγξαντες αὐτοὶ λοιπὸν ἐφ’ ἑαυτῶν κατασκευάζομεν, ὡς οὐκ ἐνδέχεται αὐτὸν εἶναι ἀίδιον, παραθήσομαι δὲ καὶ αὐτὸν τὸν Ἀριστοτέλη ἐπὶ λέξεως αὐτὸ τοῦτο κατασκευάζοντα, λέγω δὲ τὸ κατὰ μηδένα τρόπον ἐνεργείᾳ δύνασθαι τὸ ἄπειρον ὑφίστασθαι. Daß letzteres inhaltlich exakt auf c. Arist. 6 frg. 132 Wildberg (Simplicii in Aristotelis physicorum libros octo commentaria 2, hrsg. von H. Diels = CAG 10 [Berlin 1895] 1178,14ff) paßt, muß nicht heißen, daß der Verweis auf diese Stelle geht, da Philoponos – sicherlich niemand, der sich ungern wiederholt – dieselben Aristotelesstellen und Argumente ja auch im konstruktiven Werk verwendet haben kann.
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»J’ai précédemment composé des livres pour réfuter les erreurs et les équivoques au moyen desquelles Proclus, Aristote et d’autres matérialistes ont argumenté au sujet de l’éternité du monde. Maintenant, je veux établir, dans ce livre, la preuve que le monde est advenu et qu’il a été après n’avoir pas été. J m’efforcerai d’expliquer cette idée et de vérifier les syllogismes (utilisés) à son propos. Car la chose dont la connaissance se déduit par le syllogisme, sa connaissance n’est complète pour quelqu’un que par le réunion de deux choses: l’une d’elles est l’établissement de la preuve qui la démontre et l’autre la réfutation des erreurs et des équivoques qui empêchent celui qui spécule de l’accepter. Car si nous établissons la preuve démonstrative de l’idée qui est une vérité à nos yeux, et si nous laissons (non réfutées) les erreurs qui détournent de son acceptation, nous rendons la vérité égale au mensonge, attendu qu’il existe, avec le mensonge, des erreurs au moyen desquelles la vérité est contredite, qui n’ont pas encore été réfutées et qui ne sont pas encore apparues des erreurs à celui qui spécule. De même, si nous réfutons les erreurs qui attaquent la vérité, alors que nous n’avons pas encore établi la preuve de celle-ci, son acceptation n’est pas nécessaire, et elle reste imprécise pour ceux qui spéculent, attendu que sa preuve n’a pas encore été établie. C’est pourquoi j’ai pensé qu’il était nécessaire, pour la vérité du discours, que je compose, après les livre dans lesquelles j’ai réfuté les arguments des matérialistes, un livre global, dans lequel j’établirai bien la preuve de la contingence du monde, et c’est ce que j’entreprends à partir de cet endroit«88.
Philoponos’ in der Schrift gegen Proklos immer wieder begegnende und für den Leser oft zuhöchst enervierende Methode, Proklos’ Prämissen zuerst zu desavouieren oder zu widerlegen, sie dann aber doch noch hypothetisch zuzugestehen und auf dieser Basis auch Proklos’ (eigentlich ja bereits mit der Prämisse widerlegte) weitere Schlußfolgerungen anzugreifen, könnte sich aus dem in dieser Passage bekundeten Bemühen einer sauberen Unterscheidung und Zuordnung destruktiver und konstruktiver Argumentation erklären. Philoponos hätte sein antiäternalistisches Projekt dann genau in dem aus den christlich-apologetischen Summen bekannten polemisch-konstruktiven Zweischritt durchgeführt, also den nur im arabischen Exzerpt erhaltenen konstruktiven Beweis der zeitlichen Begrenztheit der Welt (bzw. auch der Unmöglichkeit ihrer Ewigkeit) polemisch durch die Widerlegung des Proklos und des Aristoteles vorbereitet. Dies könnte man auch durch die Rückschau bestätigt sehen, die er im Proömium zur Hexaemeronauslegung auf seine einschlägige philosophische Schriftstellerei hält. Philoponos sagt dort, er hätte zunächst viel Mühe aufgewandt, um die syllogistischen Labyrinthe der Philosophen zu entwirren und zu widerlegen, mit denen sie durch eine zeitliche Schöpfung die Existenz des Schöpfers selbst in Frage gestellt sehen wollten, dann aber auch über mehrere Anläufe selbst aufgezeigt, daß die Welt einen Anfang haben müsse. Da er jetzt aber immer noch von Leuten belästigt werde, die diese seine »exoterischen Schriften« für hauptsächlich elenchtisch und das positiv-christliche, die Schöpfungslehre des Hexaemeron, vernachlässigend hielten, müsse er die folgende Schrift noch nachschieben89. Spricht diese Stelle auch nicht explizit von einem elenchtisch-konstruktiven Doppelprojekt, kann sie m. E. die oben angeführten Belege dennoch implizit stützen, da sie De opificio ja gleichsam als abschließenden, endlich das Gleichgewicht zu den ausführlicheren elenchtischen Erörterungen herstellenden Nachtrag zum konstruktiven Teil einführt. 88
Épitomé 84.
C. Scholten (Hrsg.), Johannes Philoponos, De opificio mundi 1 = FC 23,1 (Freiburg u. a. 1997) 72. 74.
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Ein gewichtiges Gegenargument gegen eine saubere Trennung von Polemik und konstruktiven Darlegungen innerhalb des Projekts ergibt sich allerdings aus Wildbergs Rekonstruktion der Schrift gegen Aristoteles: Gegen die bisherige Forschungstradition und das Zeugnis der arabischen Biobibliographen90 meint er nämlich, aus einer Bemerkung bei Simplikios und einem in einem Manuskript des Britischen Museums (Add. 17214) erhaltenen syrischen Fragment schließen zu müssen, daß den sechs die eigentliche Widerlegung der aristotelischen Ewigkeitsargumente enthaltenden Büchern noch weitere, u. a. eine positive Eschatologie entwickelnde Bücher gefolgt seien91. Diese Rekonstruktion ließe sich mit der von Philoponos in der Prokloswiderlegung klar projektierten und im arabischen Exzerpt ebenfalls angedeuteten Trennung von Polemik und konstruktiver Argumentation nur vereinbaren, wenn man annähme, daß Philoponos ein ähnliches Schicksal ereilte wie die Apologeten vor ihm und die konstruktiven Ausführungen so knapp gerieten (das arabische Exzerpt bezeugt lediglich drei λόγοι), daß sie zu einer Art Appendix zu Contra Aristotelem verkümmerten oder mindestens mit diesem zusammen ediert wurden. Dies würde sowohl erklären, wie der syrische Übersetzer auch diese unter dem Titel »Contra Aristotelem« zitieren konnte, als auch den von Simplikios im Kommentar zu Physik 8,10 angeführten Philoponosfragmenten einen plausibleren Fundort zuweisen als die von Wilberg auf der Basis einer m. E. wenig glaubwürdigen arabischen Tradition postulierte Monographie92.
V. Aufs ganze gesehen bleiben diese Anknüpfungspunkte an die theologische Literatur, selbst wenn die Gesamtstruktur des Projekts tatsächlich an die apologetischen Summen angelehnt sein sollte, auf der formalen Ebene und prägen kaum die materiale Argumentation. Ganz wenigen christlich eingefärbten Passagen stehen Hunderte von Seiten gegenüber, auf denen Philoponos nicht ansatzweise als Christ erkennbar wird93 und die Debatte völlig im Rahmen des in der zeitgenössischen Schulphilosophie 90 Sowohl nach Ibn an-Nadim (Übersetzung bei A. Müller, Die griechischen Philosophen in der arabischen Überlieferung [Halle 1873] 27) als auch nach Quifti und Useibia (bei M. Steinschneider, Al-Farabi. Des arabischen Philosophen Leben und Schriften [Sankt Petersburg 1869 bzw. Amsterdam 1966] 162) umfaßte die Schrift gegen Aristoteles genau sechs Bücher. 91 Prolegomena to the study of Philoponus’ contra Aristotelem: R. Sorabji (Hrsg.), Philoponus and the rejection of Aristotelian science (London 1987) 197/209. Wie im Text angedeutet sind die Belege nicht unerschütterlich: Auch das Zeugnis des syrischen Übersetzers bzw. Kompilators ist sicherlich nicht zuverlässiger als dasjenige der Biobibliographen. 92 Natürlich bleiben diese Vermutungen hypothetisch (vgl. Verf., Platon und Aristoteles 226f).
93 A. Gudeman, Art. Iohannes Philoponus: PW 9,2 (1916) 1764/95, hier 1782 versucht diese Tatsache folgendermaßen zu begründen: »Der Verfasser [Philop.] wird der nicht unberechtigten Ansicht gewesen sein, daß seiner Widerlegung des Platonikers und Heiden Proklos eine stärkere Beweiskraft innewohnen dürfte, wenn er seine Waffen direkt dem Arsenal des Platon entnähme, statt sich biblischer Belege zu bedienen, die jener wohl von vornherein kaum hätte gelten lassen. Es wäre dies ein Verfahren, analog dem des Minucius Felix, der in seiner Verteidigung des Christentums bekanntlich die heiligen Schriften nie zitiert, noch auch nur den Namen Christus je erwähnt«. Dabei übersieht er – ebenso wie in seiner Nachfolge Scholten (vgl. o. Anm. 78) – jedoch, daß Minucius Felix anders als Philoponos durchweg klar als Christ erkennbar bleibt, auch wenn er seine Argumentation nicht auf christliche Prämissen stützt.
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Üblichen verläuft. Bevor dies an konkreten Beispielen exemplifiziert werden soll, ist jedoch noch einmal auf die in Abschnitt II ausführlich beschriebene Parallele Pseudojustin zurückzukommen, für dessen Confutatio Aristotelis man ja durchaus Ähnliches behaupten könnte, denkt man sich deren Vorrede einmal als verloren und abstrahiert man von der Tatsache, daß deren Autor sicherlich keine professionelle philosophische Ausbildung genossen hat, wie dies bei Philoponos der Fall war. Dennoch ist m. E. auch abgesehen von dem beschrieben deutlichen Niveauunterschied eine grundsätzliche Differenz in der Ausrichtung beider Schriften erkennbar. Diese ist bei Pseudojustin tatsächlich rein und ausschließlich polemisch: Die sogenannte hohe Naturwissenschaft des Aristoteles soll, ohne daß ein konstruktiver Gegenentwurf zu den angesprochenen Themen auch nur in Sichtweite erscheint, um jeden Preis der Selbstwidersprüchlichkeit überführt werden, und dies, wie man bei genauerem Hinsehen feststellt, auf der Basis eines dezidiert christlich-theologischen Prinzipienbegriffs94: Das immer wiederkehrende Hauptargument gegen Aristoteles besteht nämlich darin, daß etwas, wenn es als unentstanden oder prinzipiell gelten soll95, in keiner irgendwie gearteten Abhängigkeit zu etwas anderem stehen darf. Wenn man daher von Welt, Himmel, Raum, Zeit oder Materie in irgendeiner Hinsicht sagen könne, sie würden bewirkt, setzten anderes voraus, befänden sich in Werden oder Zusammensetzung oder seien später als anderes, dürfe man sie weder als Prinzip noch als unentstanden bezeichnen. In der Widerlegung von De caelo wird dies bis zu der Absurdität getrieben, daß nicht nur die logische Voraussetzung eines Zentrums, also der Erde für den Himmelskreis (conf. 53), sondern selbst die Bewegung kraft der eigenen Natur (conf. 60) als eine solche Abhängigkeit interpretiert wird, die den Prinzipienstatus ausschließt. Die ganze Argumentation ist also unterschwellig von religiös-theologischer Entrüstung über die Anmaßung der Naturphilosophie getragen, eine Entrüstung96, die man, wie im folgenden noch näher zu veranschaulichen sein wird, bei Philoponos ebenso vergeblich sucht wie bedeutendere materiale Anleihen an theologisch-apologetische Traditionen in seiner Argumentation. Die geeignetsten Beispiele hierfür scheinen mir in Philoponos’ Parteiname für die Schöpfung aus dem Nichts und seine Bestreitung der unvergänglichen Natur des Himmels zu liegen: Obwohl er mit der Schöpfung aus dem Nichts ein spezifisch christliches Thema aufgreift, bezieht er sich in der materialen Durchführung der Argumentation an keiner einzigen Stelle auf die christlich-theologische Diskussion des Themas, sondern schöpft einzig und allein aus der philosophischen Debatte des Substratbegriffs: Die Materie, so sein in ähnlicher Form schon von den Stoikern vorgebrachtes Argument, kann deshalb nicht unkörperlich und damit unvergänglich und unentstanden sein, da sie lediglich körperlichen Prozessen als Substrat dient und somit nur deren konkreten Termini, den jeweiligen materialisierten Formen gegenüber indifferent sein muß. Sind diese aber nach allgemeiner Ansicht immateriell, wäre die Körperlichkeit konkre-
94 Deutlich ausgesprochen wird dieser in conf. praef. (111BC); 7 (122E); qu. Chr. 1,7 (167D); qu. gent. 9 (207A/D). Zum Hintergrund vgl. M. Wacht, Aeneas von Gaza als Apologet. Seine Kosmologie im Verhältnis zum Platonismus (Bonn 1969) 90/5.
Ἀρχὴ δὲ ἀγένητον sagt schon Platon in Phaidros 245d1 und nimmt damit wohl bereits einen Topos auf (vgl. Anaximander frg. A 15). 96 Geäußert wird diese etwa conf. 7 (123BC). 95
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ter Entitäten nicht mehr erklärbar, da eine unkörperliche Materie nicht dafür verantwortlich sein kann. Ist die erste Materie aber körperlich, fällt sie genau wie der ebenfalls körperliche Himmel unter das von Aristoteles selbst aufgestellte Axiom, daß in einem begrenzten Körper keine begrenzte Kraft existieren könne97. Damit aber müssen beide, sowohl die Materie als auch der Himmel, entstanden und vergänglich sein98. Die theologisch bedingte Sorge, daß eine unentstandene Materie dem Schöpfergott seinen unumstrittenen Prinzipiencharakter streitig machen, oder daß die Annahme eines ewigen Ätherhimmels die pagane Astralreligion stützen könnte, klingt dabei an keiner Stelle auch nur an99. Wäre er nicht von Proklos dazu gezwungen worden, darauf einzugehen, hätte er Platons Bezeichnung von Welt und Gestirnen als Götter (etwa in Tim. 34ab, 40d, 68e oder 92c) wohl einfach als wissenschaftlich irrelevante Metapher übergangen100. Seine Widerlegung des proklischen Arguments, daß Platon, wenn er die Welt als Gott bezeichnet, diese auch für ewig gehalten haben müsse, zeigt viel weniger religiös-theologisch als exegetisch motivierte Entrüstung. Die bei Platon offensichtlich mehrdeutige Bezeichnung des Kosmos als ›Gott‹ gegen die deutliche und eindeutige Feststellung seiner zeitlichen Entstehung aus Tim. 28b auszuspielen, hält er verständlicherweise für interpretatorisch völlig untragbar. Eindeutige materiale Anknüpfungspunkte an die Argumentation der Apologetik, vor allem die in der Gazaschule betriebene, ergeben sich soweit ich sehe höchstens an einem Punkt, nämlich dem Problem der Vereinbarkeit von zeitlichem Schöpfungsakt und göttlicher Unveränderlichkeit101. Hier finden sich bei Philoponos Argumente, die in ähnlicher Form bereits bei Aeneas von Gaza und Zacharias von Mytilene auftauchen: Erstens wird gegen die neuplatonische Konzeption ewig-unveränderlichen Schaffens durch Abbildung eingewandt, daß sie mit jeder Art von schöpferischem, bzw. providentiellem Bezug des Schöpfers auf die einzelnen vergänglichen Individuen, wie ihn ja auch die Platoniker postulierten, unvereinbar sei102. Daß der punktuelle Schöpfungsakt selbst nicht im Widerspruch zur göttlichen Unveränderlichkeit steht, wird zweitens durch einen ganz ähnlichen Rückgriff auf aristotelische Schulphilosophie zu erweisen versucht: Ewig Schöpfer ist Gott dem Habitus,
Vgl. dazu den eingehenden Exkurs in Platon und Aristoteles 203/28. 98 Zur Diskussion des Materiebegriffs in c. Procl. insgesamt vgl. P. Mueller-Jourdan, Gloses et commentaire du livre XI du Contra Proclum de Jean Philopon: autour de la matière première du monde = PhA 125 (Leiden u. a. 2011) und F. A. J. de Haas, John Philoponus’ new definition of prime matter. Aspects of its background in Neoplatonism and the ancient commentary tradition = PhA 69 (Leiden u. a. 1997). De Haas’ ebd. XVII32 und 17f vorgetragene Behauptung, es handle sich bei den proklischen Argumenten tatsächlich um einen antichristlichen, weil um das in Arg. 11 thematisierte Problem des Ursprungs der Materie kreisenden Traktat, meine ich in meinem ausführlichen Kommentar dieses Textes (vgl. o. Anm. 41) hinreichend widerlegt zu haben. 97
Vgl. dagegen Zacharias, Ammonios 34/8 (95 Minniti-Colonna) oder 299/350 (105f). 100 Vgl. dazu neben c. Procl. 9,1 und 4/5 die nochmalige Diskussion der Göttlichkeit der Welt zu Arg. 18 (c. Procl. 18,4/10), wo in 18,9 Platons Gebrauch des Begriffs ›Gott‹ eingehend thematisiert und als äquivok erwiesen wird. 101 Zu diesem Problem umfassend C. Scholten, Verändert sich Gott, wenn er die Welt erschafft?: JbAC 43 (2000) 25/43, der mit Ausnahme seines Philoponosteils exakt dieselben Texte bespricht wie schon Wacht, Aeneas von Gaza 85/98. 102 So Ammonios 180/208 (101f); 458/60 (110); 598/613 (114f), weniger deutlich Theophrast 47,9/ 16, und dann Philoponos, c. Procl. 4,9f. 13f; 16; 16,1/3 und 18,2. Zum traditionellen Hintergrund vgl. Verf., Platon und Aristoteles 144/8. 99
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also dem ersten Akt nach und damit immer wirklich Schöpfer, auch wenn dieser Habitus nur zum Zeitpunkt der Schöpfung in den zweiten Akt überführt wird103. Bei genauerem Hinsehen erscheint jedoch Philoponos’ Argumentation in beiden Fällen so viel differenzierter, daß die Gemeinsamkeiten letztlich auf Gemeinplätze spätantiker philosophischer Debatten zusammenschrumpfen und somit keinerlei Abhängigkeit mehr begründen können. Während Zacharias der platonischen Erwiderung auf den ersten Einwand nämlich letztlich nur die theologisch-religiöse Entrüstung gegen die Vergöttlichung der Sonne und anderer für die Entstehung des Vergänglichen verantwortlicher Faktoren entgegenzusetzen hat104, beutet Philoponos geschickt Proklos’ eigene Vorsehungs- und Kausalitätskonzeption aus, um seinen Gegner angesichts der göttlichen Verantwortlichkeit für das Vergängliche in höchste Schwierigkeiten zu bringen105. Und auch hinsichtlich des zweiten Punkts bleibt bei Zacharias der wichtigste Punkt des platonischen Arguments letztlich unbeantwortet, nämlich inwiefern eine punktuelle Schöpfungshandlung, also der Übergang vom ersten in den zweiten Akt nicht selbst als Veränderung angesehen und damit als mit der göttlichen Unveränderlichkeit unvereinbar betrachtet werden muß. Hier wußte wiederum erst der professionelle Aristoteleskommentator echten Rat: In De anima 2,5 (417a21/b28) hatte Aristoteles selbst festgestellt, daß der Übergang vom ersten zum zweiten Akt im Unterschied zu demjenigen aus der Potentialität zum ersten Akt nicht als Veränderung anzusprechen sei. Die Seele verändere sich nur wirklich, wenn sie sich einen Habitus aneigne, nicht jedoch wenn sie diesen als bereits angeeigneten betätige: »Also kann man nicht gut sagen, daß sich das zu besonnenem Denken fähige verändert, wenn es tatsächlich besonnen denkt, ebensowenig wie sich der Baumeister verändert, wenn er tatsächlich baut« (417b8f). Der Schöpfungsakt ist also, mit den Worten des Philoponos, lediglich die punktuelle Offenbarung eines an sich ewigen Habitus und bringt damit keinerlei Veränderung im göttlichen Wesen mit sich106. In beiden Fällen hat Philoponos also die Pointe seiner Erwiderung nicht der apologetischen Tradition entlehnt, sondern verdankt sie gänzlich der eigenen philosophischen Fachkenntnis. Eine christliche Färbung seiner materialen Argumentation scheint mir allenfalls in der gelegentlichen Betonung der Freiheit des göttlichen Willens gegen den platonischen Nezessitarismus durchzuscheinen107, wie sie sich ebenfalls So Ammonios 371/402 (107f); 508/14 (111f); 820/4 (121), wiederum weniger deutlich Theophrast 36,12/37,14; 45,1/4; 47,16/9, und dann Philoponos, c. Procl. 3,3f; 4,3f. 7. 9. 11f und 18,2. Ps-Justin bietet zwei unterschiedliche »Lösungen« des Problems: In qu. Chr. I,7 läßt er die willentliche Schöpfungstätigkeit schlicht mit der Möglichkeit beliebiger προβολή und συστολή der göttlichen ἐνέργειαι verbunden sein: Ganz anthropomorphistisch kann Gott, wenn er will, seine Tätigkeit »einziehen« wie eine verschreckte Seele (vgl. Johannes Chrysostomos, contra Anhomoeos hom. 3,230/4). In seiner Entgegnung auf den dem dritten proklischen Argument entsprechenden Einwand bzgl. der Aktualität des Demiurgen in qu. Chr. 4,5 entgegnet er etwas geschickter, daß dasselbe Prioritätsverhält103
nis zwischen ungewordenem Gott und gewordener Schöpfung von Ewigkeit zu Ewigkeit besteht und sich daran überhaupt nichts ändert, sobald das Gewordene dazukommt. 104 Ammonios 212/402 (102/8). 105 Vgl. v. a. c. Procl. 4,13/6. Die Tragfähigkeit dieser Einwände diskutiere ich in Platon und Aristoteles 140/4. 106 So v. a. c. Procl. 4,7 und ähnlich im Kommentar zu De anima 2,5, 417b2 (CAG 15, 303). Dazu weiter J. de Groot, Philoponus on De Anima II.5, Physics III.3 and the propagation of light: Phronesis 28 (1983) 177/96. 107 Vgl. v. a. c. Procl. 4,9 (78,11/6 Rabe): »Nicht der willenlosen Notwendigkeit der Natur folgend, so wie die Sonne gleichzeitig mit ihrem Dasein erleuchtet
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bei Aeneas, Zacharias und Pseudojustin findet, dort jedoch mit weitaus eindringlicherem religiösen Pathos vorgetragen108. Da es sich hierbei jedoch um einen Gemeinplatz des christlichen Theismus handelt109, wird man auch an diesem Konvergenzpunkt keine Abhängigkeit des Philoponos von der Gazaschule im speziellen oder auch nur der christlich-apologetischen Literatur im allgemeinen feststellen können.
VI. Angesichts dessen scheint es mir trotz der genannten deutlichen Anknüpfungen an die apologetische Tradition ziemlich unwahrscheinlich, daß der tragende Impuls für die Durchführung seines umfangreichen Projekts tatsächlich ein apologetischer war. Vielmehr scheint eine tiefe Unzufriedenheit mit der in Alexandrien praktizierten Platon- und Aristotelesexegese und der auf dieser basierenden Naturphilosophie den wirklichen Anstoß gegeben zu haben. Wie vor allem die Aristoteleskommentare des Simplikios bezeugen, war es Hauptanliegen des dortigen Schulbetriebs, in der Kommentierung die Übereinstimmung der beiden großen Häupter der Philosophie aufzuzeigen110. Für die Naturphilosophie bedeutete dies vor allen Dingen, daß der Schöpfungsbericht des Timaios mit der auf der Ewigkeit der Welt basierenden Physik des Aristoteles in Übereinstimmung gebracht werden mußte – und dies angesichts der Tatsache, daß sich beide anscheinend an nahezu allen Eckpunkten in offenem Widerspruch befinden: Bezeichnet Platon die Welt offen als entstanden (Tim. 28b), ist sie für Aristoteles klar unentstanden (de caelo 1,10/2). Wird sie nach Platon von einem Schöpfergott nach dem Vorbild eines Ideenkosmos geschaffen (Tim. 28c/29b), leugnet Aristoteles sowohl die Schöpfertätigkeit Gottes (Metaphysik 12,6f) als auch die Existenz von Ideen und das Feuer erwärmt, bringt auch Gott aus Naturnotwendigkeit, ob er will oder nicht, das Geschaffene ins Sein; die Ursache von allem ist nämlich über alle Notwendigkeit erhaben«, außerdem 12,6, wo die göttliche Dezision der Finalursache entsprechend als für den Schöpfungszeitpunkt entscheidend dargestellt wird. In diesem Sinne setzt er der neuplatonischen Schöpfung ›durch bloßes Dasein‹ die christliche ›durch bloßes Wollen‹ entgegen, welche sich ohne zeitlichen Prozeß simultan vollzieht und damit keinerlei Veränderung in Gott mit sich bringt: c. Procl. 1,4 (64,23f); 1,5 (66,25f); 4,9 (76,21/6; 79,4/13)); 4,10 (81,6); 9,13 (367,16/8); 16,1 (566,6f); 18,2 (616,6/9) (ähnlich De opificio mundi 1,22 [1, 174,9/25 Scholten]). Die sachliche Berechtigung einer solchen Entgegensetzung christlicher und platonischer Schöpfungskonzeption wurde v. a. von K. Kremer in Zweifel gezogen (Bonum est diffusivum sui. Ein Beitrag zum Verhältnis von Neuplatonismus und Christentum: ANRW 2, 36,2 [1987] 994/1032) – zu Unrecht, wie bereits Wacht, Aeneas von Gaza 75/80 gegen eine frühere Version des Artikels herausgestellt hat, und ich selbst ausführlich in Endorsing a cliché. On liberty and necessity in Christian and Neoplatonist ac-
counts of creation: K. Corrigan u.a. (Hrsg.), Religion and philosophy in the Platonic and Neoplatonic traditions (St. Augustin 2012) 277/93 darzulegen versucht habe. 108 Theophrast 46,2/11; 50,13/51,12 / Ammonios 391/5 (107f); 527/52 (112f); 735/804 (119/21). 109 Wie W. Pannenberg gezeigt hat, war es genau dieser Punkt, an dem die christlichen Theologen spätestens seit Irenäus den überkommenen metaphysischen Gottesbegriff kritisch revidieren mußten (Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffes als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze 1 [Göttingen 1967] 296/346, hier 339). 110 Vgl. etwa Simplikios’ Charakterisierung des geeigneten Aristotelesexegeten (Simplicii in Aristotelis categorias commentarium, hrsg. von K. Kalbfleisch = CAG 8 [Berlin 1907] 7,29/32): »Man darf, wie ich meine, bei dem von Aristoteles gegen Platon gesagten, nicht nur auf den Wortlaut schauen und die Philosophen eines Widerspruchs zeihen, sondern man muß auf den Sinn blicken und so ihre Übereinstimmung in den meisten Fragen aufspüren«.
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(Metaphysik 1,6 und 9). Besteht für Platon der Körper von Himmel und Planetengöttern hauptsächlich aus Feuer (Tim. 40a) und wird allein durch den Willen des Schöpfers und Erhalters ewig zusammengehalten (Tim. 41ab), ist für Aristoteles deren ewige und naturgemäße Kreisbewegung nur durch ein fünftes, unentstandenes und unvergängliches Element erklärbar, aus welchem Himmel und Planeten zusammengesetzt sein müssen (de caelo 1,1/4). Die subtilen hermeneutischen Manöver der Neuplatoniker, die hier den Ausgleich schaffen sollten111, scheinen Philoponos weder als Exegeten noch als Naturphilosophen befriedigt zu haben. Daß ausgerechnet die aristotelische Ätherlehre in Platon zurückprojiziert werden soll, welche von der Annahme konzentrischer Planetensphären ausgeht und damit durch die Berechnungen des Ptolemaios eigentlich schon überholt war112, und außerdem zu den platonischen Texten, die deutlich die Veränderlichkeit und damit Vergänglichkeit alles Körperlichen betonen, in fundamentalem Widerspruch steht, entsprang für Philoponos einer derart skandalösen wissenschaftlichen Unredlichkeit, daß m. E. der zündende Funke für den Bruch mit Lehrer und Kollegen in Form des dreiteiligen Projekts genau an dieser Stelle zu vermuten wäre113. Bei genauerem Hinsehen sind nämlich selbst die besagten Aufnahmen apologetischer Stilelemente in der Widerlegung des Proklos hauptsächlich auf zwei Stellen beschränkt, nämlich das vierte und neunte Argument, wo jeweils Proklos selbst es ist, der den Gegensatz von christlich-monotheistischem Schöpfungsglauben und paganpolytheistischem Ewigkeitsglauben in die Debatte einbringt114. Ich halte des demnach für weitaus wahrscheinlicher, daß Philoponos durch seine philosophischen Forschungen und die Einsicht in deren Konvergenz mit seinem anerzogenen Glauben zum bewußten Christentum zurückgefunden hat, als daß er dadurch zu einem apologetischen Ausfall gegen seine Philosophenkollegen motiviert wurde. Daß er sich dabei an mehreren, auch einigen charakteristischen Stellen mit der sich innerhalb des Christentums herausbildenden philosophischen Apologetik traf, dürfte sich eher aus der Gleichheit des Bildungshintergrunds als aus direkter Abhängigkeit oder Inspiration erklären: Prokopios, Aeneas und Zacharias von Gaza hatten alle drei wenige Jahre in Alexandrien Philosophie studiert, Zacharias sogar bei demjenigen Ammonios, auf dessen Vorlesungen auch die Aristoteleskommentare des Philoponos basieren. Diese Vermutung wird ebenfalls durch die Chronologie der Werke des Philoponos bestätigt: Fällt seine Kommentartätigkeit in der Hauptsache vor, im Fall des Meteorologiekommentars in die Zeit des Antiewigkeitsprojekts, sind all seine theologischen Schriften zu Christologie, Trinitätslehre und Auferstehung deutlich später, in die 50er und 60er Jahre des sechsten Jahrhunderts anzusetzen.
Vgl. exemplarisch die Darstellung der Position des Ammonios bei K. Verrycken, The metaphysics of Ammonius son of Hermeias: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle transformed. The ancient commentators and their influence (Ithaca 1990) 199/231, hier 216/26. 112 Vgl. P. Moraux, Art. Quinta essentia: PW 24,1 (1963) 1171/263, hier 1239f. 113 Dies wird um so deutlicher, wenn man die zentrale Rolle bedenkt, die das aristotelische Prinzip 111
von der Unmöglichkeit unbegrenzter Kraft im begrenzten Körper innerhalb der neuplatonischen Aristoteleshermeneutik wie der Argumentation des Philoponos spielt (vgl. o. Anm. 97). 114 In Arg. 9 tut er dies, indem er Platons Rede vom göttlichen Kosmos zur zentralen Prämisse seiner Argumentation macht (313,12/7 Rabe), in Arg. 4 durch einen expliziten Seitenhieb gegen den christlichen Monotheismus (56,15/26 Rabe).
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Relativ deutlich markiert ist diese Wende von der philosophischen zur theologischen Schriftstellerei durch die wohl um 550 zu datierende Hexaemeronauslegung115: In deren Vorwort gibt er ja wie gesagt eine Art Abschlußbericht zu seinem Antiewigkeitsprojekt und stellt die folgende Auslegung von Gen. 1 gleichsam als dessen den konstruktiven Teil ergänzende Vollendung dar116. Auch hier nehmen jedoch die naturphilosophischen Fragen wieder deutlich breiteren Raum ein als die theologischen: Es geht um die Verteidigung des wissenschaftlichen, ptolemäischen Weltbildes gegen dessen auf der Basis einer gründlichen Genesisexegese vorgebrachte Bestreitung durch Theodor v. Mopsuestia und Kosmas Indikopleustes – also zwei der theologischen Hauptgegner der ägyptischen Monophysiten. Wir scheinen also in Philoponos nicht einen klassischen Apologeten vor uns zu haben, der seine wissenschaftliche Bildung dazu benutzt, seine religiösen Überzeugungen zu verteidigen, sondern einen philosophischen Forscher, den seine wissenschaftlichen Einsichten in ihrer Konvergenz mit dem anerzogenen Glauben dazu geführt haben, sich wieder positiv mit letzterem zu identifizieren, sich also zunächst auf der Basis von Platon und Aristoteles der Schöpfungslehre der Genesis zuzuwenden, und dann auf der Basis von deren wissenschaftlichem Studium den ägyptischen Monophysitismus als diejenige christliche Religionspartei zu erkennen, die seinen eigenen Überzeugungen am nächsten stand. Tübingen
Zur Chronologie von Philoponos’ Theologica vgl. H. Chadwick, Philoponus the Christian theologian: R. Sorabji (Hrsg.), Philoponus and the Re115
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jection of Aristotelian science (London 1987) 41/ 56, hier 55. 116 Vgl. o. bei Anm. 89.
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DIE HIMMELFAHRT CHRISTI Eine neue Interpretation früher Bilder
Seit fast einhundert Jahren gibt es für die frühen Bilder der Himmelfahrt Christi eine zweigestaltige Interpretation mit Unterscheidung eines »westlichen« und eines »östlichen« Darstellungstypus1. Diese Gliederung ist allgemein verbreitet und kann bis heute als communis opinio gelten2. Dass die frühesten Darstellungen erst in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts auftreten geht auf die späte Verselbständigung des Himmelfahrtsfestes im Osterfestkreis zurück3. In Himmelfahrtsdarstellungen des »westlichen« Typs steigt Christus unter Zurücklassung einiger kauernder Apostel auf einen Berg empor und wird vom Himmel aus von der Hand Gottes am Handgelenk ergriffen und emporgezogen. Solche Darstellungen beginnen im 2. Drittel des 4. Jh. mit dem stadtrömischen Sarkophag von Servannes in Arles4. Die Einbeziehung der Hand Gottes in das Himmelfahrtsbild kann man kaum ohne einen Rückgriff auf vorausgehende Apotheosebilder erklären, beispielsweise die Consekrationsmünzen Constantins I5. Gegen Ende des vierten Jahrhunderts wurde die Szene auf einer Elfenbeintafel in München (Taf. 2a) mit einem Auferstehungsbild vereinigt6. Hier hat Christus eine Buchrolle in der linken Hand; sein E. T. Dewald, The iconography of the Ascension: AmJournArch 19 (1915) 277/319, bes. 279; H. Schrade, Zur Ikonographie der Himmelfahrt Christi: Vorträge der Bibliothek Warburg 8 (1928/ 29 [1930]) 66/190, bes. 89/144. 144/60; H. Gutberlet, Die Himmelfahrt Christi in der bildenden Kunst von den Anfängen bis ins hohe Mittelalter (Straßburg 1934). 2 G. Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst 3. Die Auferstehung und Erhöhung Christi (Gütersloh 1971) 144/52; K. Wessel, Art. Himmelfahrt: RLByzKunst 2 (1971) 1224/62, bes. 1226f; G. Jeremias, Die Holztür der Basilika S. Sabina in Rom (Tübingen 1980) 70; A. A. Schmid, Art. Himmelfahrt Christi: LexChrIkonogr 2 (1970 bzw. 1990) 268/76; V. M. Schmidt, Art. Ascensione: Enciclopedia dell’arte medievale 2 (1991) 572/7; J. Engemann, Art. Himmelfahrt Christi: LexMA 5 (1991) 24f; ders., Art. Jenseitsfahrt I (Himmelfahrt): RAC 17 (1996) 460/4; U. Utro, Ascensione: F. Bisconti (Ed.), Temi di iconografia paleocristiana (Città del Vaticano 2000) 127/9; H. Sachs / E. Badstübner / H. Neumann, Wörterbuch der Christlichen Ikonographie9 (Regensburg 2005) 182f. 3 J. G. Davies, He ascended into Heaven (London 1958) 192/8 versuchte die Himmelfahrt Christi als eigenständige liturgische Feier bereits für das frühe 4. Jh. zu belegen; F.-R. Weinert, Christi Himmelfahrt, neutestamentliches Fest im Spiegel alttestamentlicher Psalmen (St. Ottilien 1987) 6/22. 4 B. Christern-Briesenick, Repertorium der christlich-antiken Sarkophage 3. Frankreich, Alge1
rien, Tunesien (Mainz 2003) 29/31 nr. 42 Taf. 15,3/5 (2. Drittel 4. Jh.). 5 L. Kötzsche, Art. Hand II (ikonographisch): RAC 13 (1986) 423/5. 438. Zur großen Zahl von Kleinmünzen kommt auch ein Goldsolidus (Paris, Bibliothèque nationale de France, Département des Monnaies, Médailles et Antiques, Inv. FG 1680 a [M 7982]): M. Amandry: S. Ensoli / E. La Rocca (Hrsg.), Aurea Roma. Dalla città pagana alla città cristiana, Ausstellung Rom 2000/01 (Rom 2000) 551 nr. 206; J. Engemann, Ikonographie und Aussage von Münzbildern: A. Demandt / J. Engemann (Hrsg.), Konstantin der Große, Ausstellung Trier 2007 (Mainz 2007) 207 Abb. 18. 6 München, Bayerisches Nationalmuseum, Inv. MA 157. W. F. Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters3 (Mainz 1976) 79f nr. 110 Taf. 59; irrige Beschreibung, als habe Christus »die Rechte Gottes erfaßt, die sich ihm aus den Wolken entgegenstreckt«; R. Kahsnitz: R. Baumstark (Hrsg.), Rom und Byzanz, Ausstellung München 1998/99 (München 1998) 84/90 nr. 9, mit unrichtiger Darstellung der Aktivität Christi: ». . . mit der rechten (Hand) hat er die aus den Wolken herausragende Hand des Vaters ergriffen, um sich an ihr in den Himmel zu schwingen«; F. Tasso: Aurea Roma (Anm. 5) 611 nr. 312. – Zum speziellen Griff der Hand Gottes an das Handgelenk Christi vgl. W. Loeschke, Art. Griff ans Handgelenk: RLByzKunst 2 (1971) 940/4; Kötzsche (Anm. 5) 437f.
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ausgestreckter rechter Arm wird am Handgelenk von der rechten Hand Gottes ergriffen. Mit der Verbindung eines »aktiven« Hinaufsteigens Christi und eines »passiven« Ergriffenwerdens von der Hand Gottes entspricht dieser Darstellungstyp dem ähnlich wechselnden Sprachgebrauch in den neutestamentlichen Erzählungen von einer Himmelfahrt Christi: »Und während er sie segnete, verließ (διέστη) er sie und wurde zum Himmel emporgehoben (ἀνεφέρετο)« (Lc. 24,51). – »Als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben (ἐπήρθη), und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken. Während sie unverwandt ihm nach zum Himmel emporschauten, standen plötzlich zwei Männer in weißen Gewändern bei ihnen und sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde (ἀναλημφθεὶς), wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen (πορευόμενον)« (Act. 1,9/11)7. – »Nachdem Jesus, der Herr, dies zu ihnen gesagt hatte, wurde er in den Himmel aufgenommen (ἀνελήμφθη) und setzte sich zur Rechten Gottes« (Mc. 16,19)8. – »Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen (ἀναβέβηκα)« (Joh. 20,17). Eine Sonderstellung nimmt um 430 eine Darstellung der Holztür von S. Sabina in Rom ein (Taf. 2b)9. Das Bildfeld wird durch eine gewellte Bodenlinie in zwei Hälften geteilt. In der oberen wird Christus statt von der Hand Gottes von den Händen eines Engels am rechten Arm ergriffen, ein zweiter Engel umfasst seinen Kopf. Christus wird so stark nach oben gezogen, dass er den Boden unter den Füßen verliert. Ein dritter Engel steht mit ausgestreckten Armen neben ihm. In der unteren Bildhälfte sind vier Apostel stehend, sitzend oder hockend dargestellt. Mit dem Verzicht auf ein eigenständiges Nach-oben-Schreiten Christi und mit der angedeuteten Zweizonigkeit ist das Bild dem »östlichen« Darstellungstyp der Himmelfahrt Christi angenähert. Das Aufkommen des »östlichen« Typus des Himmelfahrtsbildes wird allgemein erst in das sechste Jahrhundert datiert. Zu den frühesten Beispielen gehören einige palästinische Pilgerampullen (Taf. 2c)10, die Malerei am Deckel eines Reliqien-
G. Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu. Untersuchungen zu den Himmelfahrts- und Erhöhungstexten bei Lukas (München 1971) hat die verschiedenen in den Texten verwendeten Verben (Aufzählungen 42. 242f) analysiert, allerdings überwiegend traditionsgeschichtlich (74/9. 140/62. 163/210). – Der wechselnde Gebrauch »aktiver« und »passiver« Verben setzt sich in der »gnostischen« und patristischen Literatur fort; vgl. A. F. Segal, Heavenly ascent in Hellenistic Judaism, early Christianity and their environment: ANRW 2,23,2 (1980) 1333/94; E. Dassmann, Art. Jenseitsfahrt I (Himmelfahrt): RAC 17 (1996) 448/55. – K. Wilcke, Christi Himmelfahrt. Ihre Darstellung in der europäischen Literatur von der Spätantike bis zum ausgehenden Mittelalter (Heidelberg 1991) führt mehrfach epische Texte an, die auf eine passive Aufnahme Christi in den Himmel hinweisen (vgl. 497, Index s. v. Entrückung). Zum Vergleich zwischen Entrückung des Elias und Himmelfahrt Christi bei Gundacker von 7
Judenburg (13. Jh.) schreibt sie, er widerspreche der kirchlichen Lehre, die »immer auf den prinzipiellen Unterschied zwischen passiver Entrückung und aktiver Auffahrt hinwies« (305). 8 In der aktuellen, auch im Internetauftritt des Vatikans greifbaren Fassung des »Catechismus catholicae ecclesiae« ist der 6. Glaubensartikel »aktiv« formuliert: »JESUS ›ASCENDIT AD CAELOS, SEDET AD DEXTERAM DEI PATRIS OMNIPOTENTIS‹«. Er wird jedoch passiv eingeleitet: »659 ›Dominus quidem Jesus, postquam locutus est eis, assumptus est in caelum et sedit a dextris dei‹ (Mc. 16,19)«. Der Unterschied von »ascendit« und »assumptus est« entspricht dem von πορευόμενον und ἀναλημφθεὶς in Act. 1,9/11. 9 Jeremias (Anm. 2) 68/72 nr. 7 Taf. 60. 10 A. Grabar, Les ampoules de Terre sainte (Monza–Bobbio) (Paris 1958); J. Engemann, Palästinensische Pilgerampullen im F. J. Dölger-Institut in Bonn: JbAC 16 (1973) 5/27.
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kastens11 und eine ganzseitige Miniatur im syrischen Rabbula-Evangeliar von 586 (Taf. 2d)12. Grundsätzlich sind die Bilder in zwei Zonen geteilt; in der oberen wird der thronende oder stehende Christus in einem Clipeus oder einer Mandorla von zwei oder vier Engeln »getragen«, in der unteren steht die im Text nicht erwähnte Maria in der Mitte von zwölf Aposteln. In der syrischen Miniatur wird die Mandorla mit dem stehenden Christus von zwei Engeln »getragen«, zwei weitere huldigen ihm mit Kränzen auf verhüllten Händen. Schließlich sieht man unter der Mandorla die vier Wesen, Flammen, Augen und Räder aus der Vision Ezechiels (Hes. 1). In der unteren Zone sind auch die in der Apostelgeschichte erwähnten weißgekleideten Männer zugefügt, allerdings in Gestalt geflügelter und nimbierter Engel. Einer der beiden Engel zeigt nach oben, ebenso auf jeder Bildseite ein Apostel. Die meisten übrigen Apostel blicken nach oben. Der Unterschied dieser Himmelfahrtsbilder zum aktiven »Hinaufschreiten« der »westlichen« Darstellungen ist offensichtlich. Eine Weiterentwickung des Bildschemas zu einer statischen Epiphanie Christi mit den Vier Wesen um seinen Clipeus findet sich in der koptischen Kunst, zB. in den Nischenwölbungen des Apollonklosters in Bawît13. Kurt Weitzmann dachte bei Besprechung der Miniatur des Rabbula-Evangeliars an ein monumentales, mosaiziertes Vorbild. Doch wann könnte ein solches Vorbild entstanden sein? Einen Versuch, ein zweizoniges Himmelsfahrtsbild in der östlichen Kunst bereits für die Zeit um 400 zu erschließen, legte Archer St. Clair im Jahre 1978 vor14, im Zusammenhang einer Besprechung der großen Elfenbeinpyxis in Berlin15. Zwei der Apostel zu Seiten des thronenden Christus passen in ihrer Haltung und mit ihrem nach oben gewendeten Kopf nicht in diese Thronszene (Taf. 3a. b). Dagegen stimmen sie mit zwei nebeneinander stehenden Aposteln eines zweizonigen Himmelfahrtsbildes des neunten Jahrhunderts überein, des Kuppelmosaiks der Kirche Hagia Sophia in Thessaloniki (Taf. 3c/e)16. Trotz des Abstandes von fünf Jahrhunderten 11 Città del Vaticano, Musei Vaticani, Museo sacro, Inv. 61883.2.1–2; A. Donati (Ed.), Dalla terra alle genti. La diffusione del cristianesimo nei primi secoli, Ausstellung Rimini 1996 (Milano 1996) 325f nr. 250; G. Mietke, Wundertätige Pilgerandenken, Reliquien und ihr Bildschmuck: M. Brandt / A. Effenberger (Hrsg.), Byzanz. Die Macht der Bilder, Ausstellung Hildesheim 1998 (Hildesheim 1998) 40/55 Abb. 28. 12 Florenz, Bibl. Laurenziana, Ms. Syr. Plut. I 56, fol. 13b; C. Cecchelli / G. Furlani / M. Salmi, The Rabbula Gospels (Olten/Lausanne 1959) fol. 13b; K. Weitzmann, Spätantike und frühchristliche Buchmalerei (München 1977) 104 Abb. 36; J. Engemann, Syrische Buchmalerei: E. M. Ruprechtsberger (Hrsg.), Syrien. Von den Aposteln zu den Kalifen, Ausstellung Linz 1993/94 (Mainz 1993) 161/8 Abb. 4. 13 Kairo, Kopt. Mus.; Ch. Ihm, Die Programme der christlichen Apsismalerei vom vierten Jahrhundert bis zur Mitte des achten Jahrhunderts2 (Wiesbaden 1992) 198/205 nr. 52 Taf. 23/5. – Nur Löwe und Stier sind unter der von zwei Engeln getragenen Mandorla Christi auf dem Fries von 734/35 aus der Kirche al-Mu’allaqa dargestellt: E. Enss, Holzschnit-
zereien der spätantiken bis frühislamischen Zeit aus Ägypten (Wiesbaden 2005) 92f. 140/3 Taf. 77f. – Zur Verbindung biblisch-»historischer« Himmelfahrtsbilder mit zeitlosen oder endzeitlichen Theophaniedarstellungen vgl. Engemann, Jenseitsfahrt (Anm. 2) 463f; E. Enss, Eine geschnitzte Apostelhuldigung. Zwei Fragmente eines Friesbretts aus Ägypten: Hairesis, Festschrift für Karl Hoheisel zum 65. Geburtstag = JbAC Erg.-Bd. 34 (Münster 2002) 220/5; dies., Holzschnitzereien 92. 14 A. St. Clair, The iconography of the Great Berlin Pyxis: JbBerlMus 20 (1978) 5/27, bes. 14/6. 15 Berlin, Museum für spätantike und byzantinische Kunst, Inv. nr. 563; Volbach (Anm. 6) 104 nr. 161; H.-G. Severin: A. Effenberger / H.-G. Severin, Staatliche Museen zu Berlin. Das Museum für spätantike und byzantinische Kunst (Mainz 1992) 132/4 nr. 48; G. Bühl: Ch. Stiegemann (Hrsg.), Frühchristliche Kunst in Rom und Konstantinopel, Ausstellung Paderborn 1996/97 (Paderborn 1996) 62f nr. 62. 16 H. P. L’Orange / P. J. Nordhagen, Mosaik. Von der Antike bis zum Mittelalter (München 1960) Taf. 95/7.
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schloss St. Clair aus dieser Übereinstimmung, es müsse bereits zur Entstehungszeit der Berliner Pyxis ein Himmelsfahrtsbild gegeben haben, aus dem die beiden nach oben blickenden Apostel kopiert wurden, und dessen Einfluss auch in der Kuppel in Thessaloniki weiterlebt. Sie hat für diesen Vorschlag keinen Beifall bekommen. Hugo Brandenburg fand in einer Rezension die Ähnlichkeit einiger Apostel auf der Pyxis und im Mosaik in Thessaloniki zwar »tatsächlich überraschend«, lehnte St. Clairs Folgerung jedoch ab, »da es sich hier um klassische Figurentypen als Versatzstücke und gemeinsame Vorbilder gehandelt haben wird, auf die man auch gerade in der nachikonoklastischen Periode wieder zurückgegriffen hat«17. – Hans Georg Severin zitierte zwar in seinem Kommentar zur Pyxis den Beitrag St. Clairs, ging aber auf seinen Inhalt nicht ein. Er betonte den eklektischen Charakter der figürlichen Darstellung und schrieb zur Herkunft der Apostel: »Im Fries der Apostelgestalten sind Vorbilder (Einzelfiguren) der römisch-kaiserzeitlichen Kunst zitiert, nicht in jedem Fall in überzeugender Kombination.. .«18. Gudrun Bühl erwähnte in einem Katalogtext zur Berliner Pyxis den Aufsatz der Kollegin nicht und beschränkte sich hinsichtlich der stehenden Apostel auf die Feststellung, sie seien »in der Pose und Gestik wie in den Kopftypen in hohem Maße variiert«19. Ich habe mich bis vor kurzem der ausgesprochenen oder durch Nichterwähnen geäußerten Ablehnung des Versuchs von St. Clair angeschlossen, auch wenn wirklich überzeugende kaiserzeitliche Vorbilder für die beiden fraglichen Apostel nicht zu finden sind. Auch die Seitenansichten bei zwei der nach oben blickenden und akklamierenden Senatoren in der unteren Zone des (auch von St. Clair erwähnten20) Probianus-Diptychons weichen stark ab21. In letzter Zeit werde ich jedoch zu der Annahme gedrängt, dass es im fünften Jahrhundert nicht nur Himmelfahrtsdarstellungen des »westlichen« Typs gab, sondern auch bereits solche des »östlichen« Typs gegeben haben könnte, also mit zweizoniger Anordnung der Details. In Taf. 4a und b ist eine nordafrikanische Tonlampe zu sehen, deren Darstellung der Himmelfahrt Christi die Trennung von »westlichem« und »östlichem« Darstellungsschema in Frage stellt22. Die Lampe ist in mehreren Exemplaren bekannt23. Außerdem befindet sich in Rom eine H. Brandenburg: ByzZs 72 (1979) 550. Severin: Effenberger/Severin (Anm. 15) 132. 19 Bühl: Stiegemann (Anm. 15) 230; ähnlich dies.: R. Marth (Hrsg.), Glanz der Ewigkeit, Ausstellung Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig (1999) 28f nr. 1. 20 St. Clair (Anm. 14) 1645. 21 Berlin, Staatsbibliothek, Inv. Ms. theol. lat. fol. 323. Volbach (Anm. 6) 54f nr. 62. 22 München, Sammlung Dr. Christian Schmidt, Inv. 2157; Länge 14,5 cm, Breite 8,6 cm, Höhe 3,7/5,3 cm; auf der Unterseite flacher Fußring (Durchmesser ca. 5 cm), mit flachem Steg zum Griffzapfen verbunden. P. B. Steiner: S. Anneser u. a. (Hrsg.) Kreuz und Kruzifix. Zeichen und Bild, Ausstellung Freising 2005 (Lindenberg 2005) 181 nr. II.7.2; C. Schmidt: S. Hahn u. a. (Hrsg.), Engel. Mittler zwischen Himmel und Erde, Ausstellung Freising 2010/11 (Berlin 2010) 270f nr. III. 43. 23 A. Ennabli, Lampes chrétiennes de Tunisie (Paris 1976) nr. 75 (sehr fragmentarisch); J. Garbsch / 17 18
B. Overbeck, Spätantike zwischen Heidentum und Christentum (München 1989) 138 nr. 86 (Privatslg. München); R. Temple (Ed.), Early Christian and Byzantine art (London 1990) 83 nr. 34 Abb. auf S. 80 (Temple Gallery, London); F. Béjaoui, Céramique et religion chrétienne. Les thèmes bibliques sur la sigillée africaine (Tunis 1997) 141f. 280 nr. 77 (Arch. Mus. Syrakus); die selbe Lampe: G. Ancona, Testimonianze di cultura materiale dai cimiteri tardoantichi di Siracusa: C. Voza u. a. (Ed.), Et lux fiat. Le catacombe e il sarcofago di Adelfia, Ausstellung Siracusa 1998/99 (Palermo/Siracusa 1998) 55/84, bes. 62 nr. 5 Abb. 7 auf S. 72; die selbe Lampe: S. Sangiorgi, Raffigurazioni inconsuete su lucerne africane in Sardegna. Le attestazioni dalla chiesa di S. Eulalia a Cagliari: R. M. Bonacasa Carra / E. Vitale (Ed.), La cristianizzazione in Italia fra tardoantico ed altomedioevo, Atti IX Congresso naz. Arch. Crist., Agrigento 2004, 2 (Palermo 2007) 1369/86, bes. 1385 Abb. 7; ein übereinstimmendes Fragment in Cagliari ebd. 1384 Abb. 6; J. J. Her-
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Oberseitenform unbekannter Herkunft24, in der Lampen mit den selben Darstellungsdetails hergestellt werden konnten. Wegen der Anordnung der Zapfen, mit denen die Öl-Einfüllöffnungen markiert wurden, scheint es jedoch nicht sicher, ob eine der bekannten Lampen aus dieser Form stammt25. Eine Fälschung des Lampentyps ist ausgeschlossen, da mehrere Exemplare beziehungsweise Fragmente von Lampen aus Ausgrabungen stammen. Die erhabenen Randmotive auf der horizontalen Schulter sind bei allen Stücken gleich und wohlbekannt. Sie zeigen abwechselnd einen Doppelkreis, in den ein Quadrat mit einschwingenden Seiten und Kreisfüllung eingeschrieben ist26, und ein punktiertes Quadrat mit Kreismotivfüllung27. Allerdings ist auf jeder Seite der zweite Doppelkreis (vom Henkelstutzen aus gesehen) punktiert und hat ein ΧΡ-Monogramm als Füllung. Die Christusmonogramme sind radial angeordnet, ihr unterer Teil zeigt auf die Mitte des Lampenspiegels. Den Abschluss des Schulterdekors bildet vor dem Kanal jeweils eine Hälfte des soeben beschriebenen Quadratmotivs. Mit ihrer Form und mit den Dekormotiven auf der Schulter gehört die Lampe in eine Gruppe der nordafrikanischen Lampen, die wohl seit der Mitte des fünften Jahrhunderts hergestellt wurde28. Das Bild im Spiegel ist zweizonig: Oben wird der stehende, mit Tunika und Mantel bekleidete Christus in einem Clipeus von zwei fliegenden Engeln »getragen«, unten sieht man zwei frontal stehende Männer in gegürtetem Gewand, von denen der rechte mit der rechten Hand nach oben weist. Die Frage, ob hier Apostel oder die beiden in der Apostelgeschichte erwähnten himmlischen Boten gemeint sind, lasse ich offen29. Sicher ist allerdings, dass der Entwerfer des Lampenbildes sich sehr bemüht hat, eine zweizonige Vorlage nachzuahmen. Es gibt zwar unter den nordafrikanischen Lampen mit offenem Kanal zum Brandloch nicht wenige, auf denen die Beine eines Tieres oder Evas in den Kanal hineinreichen, doch die Darstellung menschlicher Gestalten, die sich nur mit dem Kopf im Lampenspiegel befinden, ist ganz ungewöhnlich. Zu diesen »östlichen« Details der Zweizonigkeit und des Clipeus mit Engeln kommen typisch »westliche« hinzu: Christus, der nimbiert ist30 und in der linken Hand einen Kreuzstab hält, wird am Gelenk der erhobenen rechten Hand von der Hand Gottes ergriffen. Dass Arm und Hand Gottes aus dem Himmel kommen, wird durch die obermann / A. Van den Hoek, Light from the age of Augustine. Late antique ceramics from North Africa (Tunisia) (Cambridge, Mass. 2002) 49 nr. 37; O. Keel: Hahn u. a. (Anm. 22) 239 nr. II.44 (Museum der Universität Fribourg/Schweiz). 24 L. Mercando, Una matrice di lucerna nella collezione dell’Antiquarium Comunale: Bollettino dei Musei comunali di Roma 10 (1963) 35/9; Béjaoui (Anm. 23) Abb. 77c. 25 Die Form erzeugte Lampen mit schräger Anordnung der Füllöffnungen; bei den bekannten Lampen stehen sich die Löcher entweder in gerader Linie oder in einer anderen schrägen Linie gegenüber. Bei der Lampe der Slg. Schmidt (Taf. 4a. b) ist die Abweichung von einer geraden Linie erheblich stärker als bei der Form im römischen Antiquarium Comunale. 26 J. W. Hayes, Late Roman pottery (London 1972) 245f Motiv nr. 87 Abb. 44; M. Barbera / R. Petri-
aggi, Museo Nazionale Romano. Le lucerne tardoantiche di produzione Africana (Roma 1993) 357 Motiv nr. 2 Taf. 11 (Mitte 5./6. Jh.). 27 Barbera/Petriaggi (Anm. 26) 360 Motiv nr. 24 Taf. 11 (Mitte 5./Anfang 6. Jh.). 28 Enciclopedia dell’arte antica classica e orientale. Atlante delle forme ceramiche 1. Ceramica fine Romana nel bacino mediterraneo (medio e tardo impero) (Roma 1981) 200/3, Form X A1a; Barbera/ Petriaggi (Anm. 26) 159/272 Gruppe 6.1.1.1; M. Mackensen, Die spätantiken Sigillata- und Lampentöpfereien von El Mahrine (Nordtunesien) (München 1993) 151f. 29 In der Miniatur des Rabbula-Evangeliars (Taf. 2d) zeigt sowohl einer der Apostel wie auch einer der beiden Engel nach oben. 30 Im Nimbus sind links und oben Verdickungen zu sehen, so dass ein Kreuznimbus gemeint sein könnte.
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halb des Clipeus und der beiden Einfüllöffnungen für das Öl befindlichen vier apokalyptischen Wesen bestätigt. Adler, Mensch, Stier und Löwe sind verkürzt dargestellt und tragen, wie in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts mehrfach belegt, keine Evangelienbücher31. Auch für die Vier Wesen auf den bereits oben erwähnten koptischen Malereien und die beiden Wesen auf dem Fries von al-Mu’allaqa trifft dies zu32. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Himmelsfahrtsbild dieser Lampe zwar das passive »westliche« Motiv des »Griffs an das Handgelenk« verwendet ist, jedoch auf das aktive Hinaufschreiten Christi zu Gunsten des »östlichen« Motivs des Clipeus mit Engeln verzichtet wurde. Trotzdem dürfte wegen der Herkunft der Lampen aus Nordafrika anzunehmen sein, dass sich das vermutlich monumentale Vorbild der Darstellung im Westen des Reiches befunden hat. Wenn sich jedoch bereits für das fünfte Jahrhundert eine zweizonige Darstellung der Himmelfahrt Christi erschließen lässt sollte man dann nicht doch über die Hinweise St. Clairs auf ein »östliches« Bild um 400 nC. noch einmal nachdenken? Um diese Frage noch in einen weiteren Kontext zu stellen, weise ich zum Schluss auf eine Darstellung hin, die zwar nicht eindeutig die Himmelfahrt Christi zum Thema hat, jedoch im Darstellungsschema den »östlichen«, zweizonigen Himmelfahrtsbildern gleicht. Im Zentrum des oberen Teils der Kuppelmosaiken von Hagios Georgios in Thessaloniki, also über den Architekturdarstellungen mit stehenden Heiligen, ist Christus mit Nimbus und Kreuzstab in einem Clipeus dargestellt, der von einem Früchtekranz und weiteren Ornamentmotiven gerahmt ist. Dieser Rahmen wird von vier geflügelten und nimbierten Engeln »getragen«. Von den ca. 30 Gestalten der Zone darunter sind fast nur die Füße erhalten. Kleine Reste langer weißer Gewänder lassen vermuten, dass hier vielleicht (neben Aposteln?) weitere Engel dargestellt waren. Die Datierung der Mosaiken ist nach wie vor ungeklärt. Vorgeschlagen werden das sechste Jahrhundert33, das fünfte Jahrhundert34, die theodosianische35 und die konstantinische Zeit36. Eigentlich hätten alle Vertreter einer Datierung in das vierte und fünfte Vgl. die Elfenbeintafel in Mailand mit den Frauen am Grabe: Volbach (Anm. 6) 80 nr. 111, das Apsismosaik in S. Pudenziana in Rom: Ihm (Anm. 13) 130/2 nr. 11; und das Kuppelmosaik im Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna: F. W. Deichmann, Frühchristliche Bauten und Mosaiken von Ravenna (Baden-Baden 1958) Taf. 19. 32 Siehe oben Anm. 13. 33 Zuletzt J.-M. Spieser, Thessalonique et ses monuments du IVe au VIe siècle (Paris 1984) 164. 34 W. E. Kleinbauer, The iconography and the date of the mosaics of the Rotunda of Hagios Georgios, Thessaloniki: Viator 3 (1972) 27/108, bes. 69; ders., The orants in the mosaic decoration of the Rotunda at Thessaloniki: Martyr saints or donors?: CahArch 30 (1982) 25/45; A. Mentzos, Reflexions of the interpretation and dating of the Rotunda of Thessaloniki: Egnatia 6 (2001/2002) 56/82, bes. 73. 35 H. Torp, The date of the conversion of the Rotunda at Thessaloniki into a church: Ø. Andersen / H. Whittaker (Eds.), The Norwegian Institute at Athens. The first five lectures (Athens 1991) 13/28; L. Nasrallah, Empire and apocalypse in Thessalo31
niki. Interpreting the early Christian rotunda: JournEarlyChristStud 13 (2005) 465/508, bes. 508; B. Kiilerich, Picturing ideal beauty. The saints in the Rotunda at Thessaloniki: AntTard 15 (2007) 321/36, bes. 322; P. Mastora, Ὁ ψηφιδωτὸς διά-
κοσμος στὶς φωτιστικὲς θυρίδες τῆς Ροτόντας Θεσσαλονίκης: ArchEph 149 (2010) 83/107, bes.
92f; S. Ćurcˇi´c, Christianisation of Thessalonikē. The making of Christian »urban iconography«: L. Nasrallah / Ch. Bakirtzis / S. J. Friesen (Eds.), From Roman to early Christian Thessalonikē = Harvard theological studies 64 (Cambridge, Mass. 2010) 213/44, bes. 216, ältere Literatur ebd. 242/4. 36 Ch. Bakirtzis / P. Mastora, Are the mosaics in the Rotunda in(to) Thessaloniki linked to its conversion to a Christian church?: M. Rakocija (Ed.), The days of St. emperor Constantine and Helena. Niš and Byzantium, Ninth Symposium, Niš 2010 (Niš 2011) 13/45. Ich danke Charalambos Bakirtzis sehr für die freundliche Zusendung des Beitrags, auch wenn ich der Datierung und der profanen Interpretation der Mosaiken nicht zustimmen kann.
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Jahrhundert Anlass gehabt, darauf hinzuweisen, dass das Darstellungsschema dem »östlichen« Typus der Himmelfahrt Christi entspricht, dessen Erfindung bisher in das sechste Jahrhundert datiert wird. Doch finden sich solche Hinweise nicht. Selbst André Grabar, der auf das Darstellungsschema einging und Gründe dafür nannte, warum das Mosaik in Hagios Georgios nicht als Himmelfahrtsbild interpretiert werden könne, ging auf den Widerspruch zwischen dem Aufkommen des Schemas und seiner Datierung der Mosaiken in das fünfte Jahrhundert nicht ein37. Eine Datierung der Mosaiken von Hagios Georgios in theodosianische Zeit würde in Einklang mit dem hier angeregten Vorschlag stehen, die Erfindung des zweizonigen Schemas der Himmelfahrt Christi um 400 nC. anzusetzen. Mit der Annahme monumentaler Vorbilder für den Dekor der hier vorgestellten Gruppe nordafrikanischer Lampen setze ich mich bewusst über die erst im vorigen Jahr wieder geäußerte Ansicht hinweg, Rückschlüsse von erhaltenen kleineren Bildern auf nicht erhaltene monumentale Darstellungen seien nicht zu beweisen38. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die detailreiche und zweizonige Himmelfahrts-Darstellung nordafrikanischer Lampen mit ihrer Mischung von »westlichen« und »östlichen« Details primär für diese kleinen Objekte erfunden worden sei. Salzburg
A. Grabar, A propos des mosaïques de la coupole de Saint-Georges à Salonique: CahArch 17 (1967) 59/81, bes. 59/64. 38 B. Brenk, The apse, the image and the icon. An historical perspective of the apse as a space for images (Wiesbaden 2010) 10; vgl. die Rezension in JbAC 53 (2010) 216/20. 37
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Abbildungsnachweis: Taf. 2a: Aurea Roma (Anm. 5) Abb. 312. – Taf. 2b: Jeremias (Anm. 2) – Taf. 60. Taf. 2c: Engemann (Anm. 10) Taf. 5b. – Taf. 2d. Cecchelli/Furlani/Salmi (Anm. 12) fol. 13b. – Taf. 3a. b: St. Clair (Anm. 14) Abb. 2f. – Taf. 3c. d. e: Ebd. Abb. 10/2. – Taf. 4a. b: Foto M. Del-Negro, Salzburg, mit freundlicher Genehmigung von Dr. Christian Schmidt.
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CELLA MEMORIAE Eine sepulkrale Bauform in ihrer antiken Bedeutung und modernen Auslegung
1. Einleitung Die folgende Arbeit führt anhand dreier Grabbauten des spätantiken Rheinlandes die Problematik der funktionalen Bestimmung archäologisch erfasster Bauten vor. Werden allgemein die Aussagen der Befunde und deren wissenschaftliche Interpretation in Bezug auf die frühchristliche Entwicklung des Gebietes geprüft, soll der Fokus vor allem auf die Interpretation des cella memoriae-Terminus gelegt werden. Aufgrund der sorgfältigen aufgearbeiteten Befunde bieten sich Gräberfelder in Xanten, Köln und Bonn für weiterführende Überlegungen an; sie sollen exemplarisch an die Problematik heranführen. Alle drei Beispiele liegen unterhalb heutiger Kirchen und weisen von ihrer Entstehung im 4. Jh. nC. bis zur Errichtung der mittelalterlichen Kirchengebäude einen sukzessiven Ausbau auf1. Diese bauliche Entwicklung und die Ausdeutung mittelalterlicher Textquellen führten in der archäologischen Forschung der 1920er und 1930er Jahre zu der Bemühung, die kirchlichen Ursprünge bereits in spätantiker Zeit beweisen zu wollen2. In vielen Fällen hatte dies eine Überund Falschinterpretation der archäologischen Befunde zufolge: So wurden die als cellae memoriae angesprochenen Bauten als christliche »Keimzellen« bewertet, welchen eine kultische Kontinuität zugeschrieben wurde. In Xanten wurde Bau A unter St. Viktor wie ebenso Bau A unter dem Bonner Münster als Märtyrergedächtnisstätte gedeutet. Bau A unter der Kölner Kirche St. Severin interpretierte man als Grablege des Kölner Bischofs Severin. Wurden diese absoluten Aussagen im Laufe des 20. Jh. teils revidiert, teils relativiert, erfolgt vor allem ab den 1990er Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit den Befunden. Umfangreiche Neubearbeitungen ermöglichen nun einen objektiven Zugang zu den Grabungsergebnissen, anhand welcher alte Fragestellungen neu aufgerollt werden können3. Im Folgenden sollen historische Quellen und frühe archäologische Interpretationen den Befunden gegenübergestellt und in ihren funktionsbezogenen Aussagemöglichkeiten bewertet werden. Damit soll zu der Frage übergeleitet werden, ob die für alle Beispiele in der Literatur verwendete Bezeichnung als cella memoriae gerechtfertigt ist. So diente der Begriff zunächst zur Interpretation der Befunde als frühchristliche Bauten. Wie sich zeigen wird, ist von dieser funktionalen Auslegung Abstand zu nehmen. Ob damit ebenso der cella memoriae-Begriff als interpretierende Bezeichnung ab-
Es wird sich zeigen, dass diese Entwicklungstendenz nur bedingt auf Bonn übertragen werden kann. 2 Dass diese Tendenz das gesamte Rheinland prägte, fasst Ristow 2007, 36/9 klar zusammen. 3 Die Neubearbeitungen stehen eng mit dem aktuellen Forschungsziel, die Christianisierungsprozesse 1
des Rheinlandes transparenter darstellen zu wollen, in Verbindung. Vor allem die Frage nach der archäologischen Nachweisbarkeit christlicher Anlagen interessiert zunehmend in den letzten beiden Jahrzehnten. Umfassend etwa Ristow 2007.
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gelehnt werden sollte, muss diskutiert werden. Allgemein ist es zu bemängeln, dass der Terminus in der Forschung nicht klar ausgelegt wird. Daher soll aufgeschlüsselt werden, in welchen Kontexten der Begriff historisch belegt und modern interpretiert ist. Eine umfassende Begriffsdefinition kann zwar in diesem Rahmen nicht erfolgen, zumindest soll jedoch überlegt werden, ob der Begriff der cella memoriae als gerechtfertigter bzw. notwendiger Terminus technicus in der modernen Forschung Bestand hat. 2. Beispiele sog. cellae memoriae im Rheinland 2.1. Das Gräberfeld unter St. Viktor in Xanten 2.1.1. Quellen und Forschung Die erste historische Nennung Xantens findet sich bei Gregor von Tours um 590 nC. In Kapitel 62 des Liber in gloria Martyrum heißt es, dass der heilige Mallosus sein Martyrium bei ›Bertuna‹ (apud Bertunensim oppidum) erlitten habe, seine Begräbnisstätte jedoch unbekannt geblieben sei4. Dennoch sei ein oratorium errichtet worden, welches unter dem Kölner Bischof Ebergisil5 zu einer basilica erweitert worden sei und den bereits bestehenden Bau als Apsis integriert habe6. Nach einem nicht benannten Zeitraum soll ein Diakon aus Metz die Gebeine des Mallosus, zentral in der Apsis liegend, gefunden haben. Vom Bischof gehoben wurden sie in die Basilika überführt und beigesetzt7. Desweiteren wird berichtet, dass ebenso der Märtyrer Viktor begraben sei, dieser sich jedoch noch nicht offenbart habe8. Um das Jahr 1200 überliefert Heliandus von Froidmont in der Passio sanctorum Gereonis, Victoris, Cassii et Florentii Thebaeorum martyrum, dass es sich bei Viktor um einen Befehlshaber der Thebäischen Legion handele, welcher mit bis ins Rheinland fliehen konnte und in Xanten mit weiteren 330 Mann getötet wurde9. Aufgrund der fortgeführten Überlieferungstradition der Legende wurde die Grablege des Mallosus und des Viktor stets unter dem heutigen Xantener Dom St. Viktor
Greg. Tur. in glor. mart. 62 (MG Scr. rer. Mer. 1,2, 80). Mit deutscher Übersetzung und Kommentar Kremer 1993, 134/9. Weiterhin umstritten ist die Identifizierung von »apud Bertunensim oppidum« mit Xanten. Runde 2003, 190/207 zieht zwar eine Identifizierung mit Bonn oder Verdun in Betracht, hält aufgrund der archäologischen Befunde jedoch Xanten für am wahrscheinlichsten. Ebenso Otten 2004, 727. 5 Mit »supradictus vero pontifex« wird eine Verknüpfung zu Kapitel 61, in welchem Ebergisil namentlich erwähnt wird, geschaffen. Runde 2003, 183/6. Der Tod des Bischofs Ebergisil kann in den Zeitraum zwischen 590 und 594 gesetzt werden, so dass der in der Quelle beschriebene Bau während des 6. Jh. ausgebaut worden sein muss. Bader 1985, 54f. 6 »Supradictus vero pontifex in honore eius basilicam aedificavit, ut scilicet, cum aliquid revelationis de martyre acciperet, in ea beatos artus, Domino annuente, transfer4
ret. Denique in latere basilicae, id est in pariete, qui a parte erat oratorii, in absida collegit, praestolans Domini misericordiam quid iuberet de martyre revelari«, Greg. Tur. in glor. mart. 62 (MG Scr. rer. Mer. 1,2, 80). Kremer 1993, 134. 7 »Post haec diaconus quidam Mettensis per visum ductus, ubi martyr quiesceret, est edoctus. [. . .] ait episcopo: ›Hic effode, et invenies corpus sancti‹, id est in medio absidae. [. . .] corpus sanctum in basilica transtulit, cum laude debita sepelivit«, Greg. Tur. in glor. mart. 62 (MG Scr. rer. Mer. 1,2, 80). Kremer 1993, 134. 8 »Ferunt ibidem et Victorem martyrem esse sepultum, sed non eum adhuc cognovimus revelatum«, Greg. Tur. in glor. mart. 62 (MG Scr. rer. Mer. 1,2, 80). Kremer 1993, 134. 9 Passio Gereonis 15 (PL 212, 766A). Die Legende geht auf die Passio Acaunensium Martyrium des Lyoner Bischof Eucherius (etwa 435–450/455) zurück. MG Scr. rer. Mer. 3, 20/41. Kremer 1993, 201/6.
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angenommen; die Ausgrabungen waren damit bereits von der Erwartung einer Märtyrergrablege geprägt. Sie wurden vor allem ab 1933 durch das Rheinische Landesmuseum Bonn unter der Leitung Walter Baders durchgeführt und in einem umfangreichen Abschlussbericht publiziert10. In den Jahren zwischen 1955 und 1966 konnte Hugo Borger die Grabungen abschließen11. Eine vollständige Neubearbeitung der Grabungsergebnisse im Areal des Doms legte 2003 Thomas Otten vor12. Im Kontext dieser Arbeit ist der 1933 aufgedeckte Bau IA mit dem Doppelgrab B44, welches aufgrund der zwei gewaltsam getöteten Bestatteten von Bader als »das bisher einzige ungestörte Märtyrergrab nördlich der Alpen«13 angesprochen wird, von Wichtigkeit. Dieses habe bereits in spätrömischer Zeit eine zentrale Position im Gräberfeld eingenommen und sei der Ursprung des christlichen Bestattungsareales. Die beiden getöteten Männer erklärt Bader zu Opfern einer Christenverfolgung unter Kaiser Julian, ohne dass diese archäologisch oder historisch belegbar wäre14. Die darüber liegende »Märtyrercella« habe zunächst als Raum zur Abhaltung der christlich bestimmten Totenmähler gedient und sei ab der Bauphase IIIA des 6. Jh. als »Märtyrerkirche«, die von Gregor von Tours beschriebene basilica, von zentraler Bedeutung für alle nachfolgenden Anlagen im Bereich15. Zwar ergeben sich im Interpretationsmodell Baders Widersprüche in der absoluten Datierung, dennoch konnten sich die zeitliche Fixierung und die Einstufung als Märtyrergrab in der Archäologie etablieren16. Borger sprach sich zunächst nur vorsichtig gegen das Märtyrerdogma Baders aus und negierte in den 1990er Jahren erstmals ein Martyrium17. Otten stellt die Bauabfolgen in seiner Dissertation detailliert dar und legt mit diversen Artikeln eine neutrale Neubewertung vor18.
2.1.2. Die archäologischen Befunde Der heutige Dom zu Xanten liegt im Areal einer römerzeitlichen Nekropole, welche beiderseits der Ausfallstraße der Colonia Ulpia Traiana (CUT) angelegt wurde19. Ab spätantiker Zeit verlagert sich zunehmend der Siedlungsschwerpunkt in dieses Gebiet, so dass die Nekropole damit als Ausgangspunkt des mittelalterlichen Domes und der Stadt interpretiert werden darf20. Die Entwicklung des Gräberfeldes wird von Otten in mehrere aufeinander folgende Nutzungsphasen unterteilt21. Im Bereich der 10 Bader 1985. – Zusammenfassend zur Grabungsgeschichte Xantens Bridger 1987, 64/85. Runde 2003, 20/3. 110/34. Otten 2003, 9/12. Im Gegensatz zur frühen Geschichte der mittelalterlichen Stadt Xanten sind die Erschließung der Frühgeschichte und die Bearbeitung der Stiftsgeschichte St. Viktors bereits umfassend bearbeitet. Wichtig sind vor allem die Ergebnisse von Borger 1969, Bader 1985 und Otten 2003. 11 Borger 1961, 413/22 Taf. 77/9. Borger 1969, 1/ 41. 5 Abb. 1. 12 Otten 2003. 13 Bader 1946, 17. Die von Bader vorgegebene Richtung der Interpretation muss eng im Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen der
1930er Jahre gesehen werden. Kraus 1994. Bridger 1987, 65f mit Anm. 18. Runde 2003, 116/9. 14 Bader 1985, 313/8. 15 Bader 1985, 400/26. Die Bezeichnungen als Märtyrergrab und christliche memoria lassen eine Orientierung am aufgedeckten Bau unter dem Bonner Münster erkennen (s. u.). 16 Bridger 1987, 79/82. Otten 2004, 74. 17 Borger 1961, 404/6. 415f. Borger 1998, 16. 18 Etwa Otten 2004. 19 Zur topographischen Entwicklung des Xantener Raumes Bridger 1987, 86/119. 20 Bridger 1987, 96/111. 115/8. Otten 2003, 6f. 21 Otten 2003. Die zahlreichen Untersuchungen zu den Strukturen des Domareals führen zu unter-
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späteren Domkrypta liegen die Phasen A/C, welche den hier relevanten Zeitraum abdecken und an der sich die folgenden Gliederungen und Bezeichnungen orientieren.
Nutzungsphase A Phase A umfasst die Strukturen, die im Verlauf des 4. Jh. auf der Nekropole entstehen (Abb. 1)22. Neben den locker über die Fläche verstreuten Körpergräbern werden in dieser Phase sechs oberirdischen Grabanlagen errichtet23. Diese werden in den wichtigeren Publikationen als cellae memoriae angesprochen und liegen relativ eng beieinander, ohne jedoch eine zentrale Stellung im Bestattungsareal zu übernehmen24. Die meisten Anlagen sind als zweischalige Steinbauten errichtet. Sie sind überwiegend rechteckig angelegt; eine Ausnahme bildet nur Bau III1B mit seiner sigmaförmigen Grundrissgestaltung. Bis auf Anlage C–D, eine flache Umfriedung ohne direkte Bezugnahme auf ein Grab, handelt es sich bei allen Anlagen um gedeckte Grabgebäude, die je mindestens ein Grab umschließen. Erwähnenswert ist Anlage IIK, die bereits aufgrund ihrer massiven Bauweise auffällt. Der rechteckige, sorgfältig ausgeführte und verputzte Steinbau wurde im späten 4. Jh. westlich von Bau IA über der Sarkophagbestattung 66/36 angelegt. Das Grab ist zwar beigabenlos, dennoch zeichnet sich der Reichtum des hier bestatteten, enthaupteten Mannes durch die gefärbten Textilreste im Sarkophag ab25. Bau IA (Abb. 5) wurde im späten 4. bzw. frühen 5. Jh. errichtet und ist damit vermutlich das jüngste Gebäude der Phase A26. Der Bau ist die einzige bekannte Holzkonstruktion der Nekropole und anhand der Balkenabdrücke im Lehmestrich I,6 und dem auf diesem liegenden Kalkestrich I,5 nachweisbar27. Die Außenmaße der Anlage werden von Otten bei einer Wandstärke von etwa 0,20 m mit 3,15 m x 4,20 m angenommen28. Angelegt wurde der Bau für die beigabenlose Bestattung B44, welche aufgrund eines Münzfundes aus der Grabgrube nach 346 datiert werden muss29. In einem Holzsarkophag wurden zwei beieinander liegende Männer beigesetzt30.
schiedlichen Bezeichnungen. Otten orientiert sich vor allem an den Bezeichnungen Baders bzw. setzt die abweichenden Formulierungen übersichtlich einander gegenüber. 22 Der älteste Bau ist die schlecht erhaltene Anlage IIL des frühen bis mittleren 4. Jh. Die Errichtung der weiteren Bauten erfolgte in einem kurzen Zeitraum der zweiten Hälfte des 4. Jh. Aufgrund der beigabenlosen Bestattungssitte kann kaum eine relative Abfolge bestimmt werden. Otten 2003, 35/44. 23 Beschreibungen der Befunde und Funde: Bau IA: Bader 1985, 353/5. Otten 2003, 44/9. 64. 254f (Befunde I,5/I,9a). – Bau IC-D: Bader 1985, 320f Abb. 27f Taf. 4. 6 Schnitt 4. Taf. 10 Schnitt 12. Otten 2003, 51. 254 (Fund X24) Taf. 3. 4; 259f (Fundamente I,24f). – Bau III1B: Otten 2003, 51/6. 259 (Befund I,22). 334f (Befund X,11). 353f (Befund XII,6). – Bau IIG: 2003, 56/8. 353 (Befund
XII,5). 369f (Befund XIV,21 [a]). – Bau IIK: Otten 2003, 58/60. 394/8 (Befunde XV,11/16). – Bau IIL: Otten 2003, 60/3. 398/400 (Befunde XV,17/20). 24 Otten 2003, 35/104. 25 J. P. Wild, Die Textilfunde aus der Memoria IIK in Xanten: BonnJbb 170 (1970) 267/70. Otten 2003, 60. 26 Auflistung datierbarer Funde bei Bader 1985, 352f. 297 nr. 66. 352f. 27 Bader 1985, 326/8. 352f Taf. 12. Otten 2003, 254. 28 Die Maße der Holzbauphasen lassen sich aufgrund des Erhaltungszustandes nur grob angeben. Otten 2003, 46. 29 Bader 1985, 306. 30 Bader 1985, 305/9. Ergebnisse der anthropologischen Untersuchungen bei Bader 1985, 309/13. Die Beisetzung erfolgte kurz nach der Tötung.
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Abb. 1. Xanten. Gleichzeitige Gräber und Grabbauten im Domareal während der Phase A (2. Hälfte 4. Jh. nC.).
Abb. 2. Xanten. Gleichzeitige Gräber und Grabbauten im Domareal während der Phase B (spätes 4./frühes 5. Jh. nC).
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Direkt vor der anzunehmenden Nordwand von Bau A fand sich der aufgemauerte und verputzte Steintisch I,8, welcher über der Grabgrube, jedoch nicht direkt über Grab B44 angelegt wurde31. Der Tisch wurde auf dem Estrich I,6 aus einzelnen Steinquadern errichtet, von denen die zwei unteren Lagen vollständig erhalten sind32. Unter der aufliegenden Tragplatte bilden sich zwei Hohlräume, von denen der unter dem nördlichen Plattenende bei der Auffindung mit Schutt, darunter diverse Tierknochen, verfüllt war33. Über die Ausgestaltung des Innenraumes geben Fragmente des Wandverputzes Auskunft34. Ob die Malereien einem bestimmten Thema folgten, lässt sich anhand der geringen Anzahl von Fragmenten nicht entscheiden35. Abgeschrägte Verputzstücke und die auf dem Boden befindlichen Fensterglassplitter könnten desweiteren auf Fensteröffnungen im Bau Hinweis geben36. Der Rekonstruktionsvorschlag Baders37 kann eine Vorstellung der Bauanlage geben, muss jedoch in Bezug auf den aufgehenden Bau in vielem spekulativ bleiben. Allgemein ist eine gedeckte Fachwerkkonstruktion anzunehmen38, für die aufgrund der fehlenden Pfostenlöcher ein verzapfter Schwellenrahmen rekonstruiert werden kann39. Die von Bader angenommene Zweiteilung der Anlage und Einfügung einer zweiten Tischaufmauerung im Süden des Baus können in der Phase IA nicht belegt werden40.
Nutzungsphase B Nutzungsphase B umfasst zeitlich den Übergang vom 4. zum 5. Jh. Während dieser Phase nehmen die Gräber in ihrer Streuung eine größere Fläche ein und zeigen sich wie in Phase A locker verteilt (Abb. 2). Die Grabbauten, die in Phase A errichtet wurden, werden weiterhin genutzt. Aufgegeben wird der Grabbau IIL; neu errichtet werden die Anlagen IIB und IIC41. Nachdem Bau IA durch einen Brand zerstört wurde, wird kurze Zeit später der Holzpfostenbau IIA errichtet, welcher sich mit geringfügig verkleinertem Grundriss an seinem Vorgängerbau orientiert (Abb. 6)42. Während der Otten 2003, 46. Maße des Tisches: L. 1,18 m, B. 0,66 m. Anhand von Mörtel- und Steinfragmenten entlang der obersten Steinlage lässt sich eine weitere Schichtung annehmen, so dass insgesamt mit einer Höhe von 0,80 m gerechnet wird (falls die abschließende Schicht wie die unteren Lagen ebenso 0,20 m hoch gewesen ist). Bader 1985, 328/31 Abb. 32f Taf. 59/ 61. Otten 2003, 254. – Zur Lage der Steinaufmauerung in Bezug auf das Grab Bader 1985, 305. 33 Otten 2003, 254f (Befund I,8). Eine genaue Analyse der vorhandenen Tierknochen findet sich bei Bader 1985, 385 (Fund-nr. X16). Desweiteren lagen Tierknochen, teilweise mit Schnittspuren, im näheren Umfeld der Aufmauerung I,8 auf dem Estrich. Bader 1985, 356/9 (Funde X5/X7). 34 Bader 1985, 334 Abb. 35. 35 Zusammen mit den Funden aus dem Hohlraum von I,8 ist eine Fläche von etwa 1,00 m2 der Wandverkleidung erhalten, welche mit Pilaster- und Aediculaartigen Motiven bemalt ist. Detaillierte Beschrei31 32
bung bei Bader 1985, 331/47 (Fund-nr. X17) Abb. 34/8. 36 Bader 1985, 336/8. 335 Abb. 36. 347f. Otten 2003, 47. 37 Bader 1985, 397 Abb. 45. 38 Bader 1985, 351 mit Anm. 61. 39 Bader 1985, 327f Taf. 12. Otten 2003, 253. 255. 40 Otten 2003, 46 beweist unter stratigraphischer Argumentation, dass der für Baders Rekonstruktion genutzte Pfostenabdruck I,9b der Phase IIA angehört. 41 Beschreibungen der Funde und Befunde: Bau IIB: Otten 2003, 64f. 257f (Befunde I,15/I,17). 261. – Bau IIC: Bader 1985, 391/3. 397 Abb. 45. Otten 2003, 65f. Bau IIB folgt dem Bauschema der rechteckigen Steinanlagen der Phase A. Anlage IIC ist ein Grabmonument für Grab B11. 42 Der neue Laufboden I,4 liegt unmittelbar über dem alten Laufboden I,5. Aufgrund fehlender Funde muss also allgemein auch ein terminus post quem von 388 gelten. Otten schlägt grob die erste
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neue Lehm-Estrich I,4 etwa 0,20 m über dem alten eingezogen wird, findet der Steintisch I,8 weiter Nutzung und dürfte damit eine Höhe von etwa 0,60 m bemessen haben. Der bereits erwähnte Schwellbalkenabdruck I,9b kann nun dem Bau zugeordnet werden und weist damit auf eine Unterteilung des Innenraumes hin43. Der im neuen Estrich eingebettete rechteckige Stein könnte Hinweis auf einen zweiten Steintisch, den Bader fälschlich bereits für Bau IA annimmt, geben44. Während die lichte Breite der Anlage auf etwa 1,70 m festgelegt werden kann, kann aufgrund von Störungen im Befund eine Gesamtlänge der Anlage von etwa 3,75 m nur vermutet werden45. Da keine Wandgräben nachgewiesen werden konnten, rekonstruiert Bader Bau IIA als einen offenen Holzpfostenbau46. Otten sieht in den geringfügigen Abweichungen in der Anordnung der Pfosten einen Hinweis auf einen möglicherweise ungedeckten Bau47. Hinweise auf Wandbemalung oder weitere Ausstattung neben den Steinaufmauerungen fehlen, so dass Bader in Erwägung zieht, Bau IIA sei nur eine Übergangslösung gewesen48.
Nutzungsphase C Nutzungsphase C umfasst insgesamt den Zeitraum des späten 5. bis zum frühen 8. Jh. und wird von Otten in drei Teilphasen untergliedert (Abb. 3). Zu Beginn der Phase zeichnet sich eine Veränderung der Belegungsstruktur ab: Die Gräber nehmen fortan zunehmend Bezug auf die einzigen weiter genutzten Aufbauten IIK und IIIA (der Nachfolgebau von IIA). In Phase C1 (spätes 5. Jh. – Mitte 6. Jh.) ist vor allem die Westseite von Bau IIIA Bezugspunkt der Bestattungen49. Mit Errichtung eines westlichen Anbaus an Bau IIIA (Bau III2) in Phase C2 (Mitte 5. Jh. – 1. Hälfte 7. Jh.) finden die Bestattungen hier ein Ende und konzentrieren sich fortan auf das Areal von IIK50. Mitte des 6. Jh., zeitgleich zu dem Ausbau von IIIA zu III2, wird der Eingang von IIK von der Süd- an die Ostwand verlegt. Im Verlauf der Phase C2 muss es zu einem (allmählichen) Abriss des aufgehenden Mauerwerks der Anlage IIK gekommen sein, die als umfriedeter Grabbezirk weiter Nutzung gefunden hat51. Nach Abriss des Westbaus in Phase C3 (2. Hälfte 7. Jh. – frühes 8. Jh.) werden die meisten Bestattungen zwischen der Ostwand von IIK und der Westwand von IIIA angelegt52.
Hälfte des 5. Jh. für die Entstehung von IIA vor. Otten 2003, 46. 48. 63. 43 Ob die Trennwand über einen Durchgang verfügte, lässt sich anhand des Befundes nicht klären. Bader 1985, 327. Otten rekonstruiert die Trennwand als »niedrige Abschrankung«, da in dem von ihm angenommenen ungedeckten Bau eine hohe Trennwand nicht zweckmäßig sei. Otten 2003, 64. 44 Maße der Steinplatte: L. 0,62 m, B. 0,20 m, H. 0,14. Bader 1985, 327. 45 Otten 2003, 64. 46 Bader 1985, 390. 397 Abb. 45. Bader lässt außer Betracht, dass die Wände erst über dem Boden angesetzt haben könnten. Die von Bader vorgeschlagene geschlossene Nordwand ist hypothetisch.
Otten 2003, 64. Bader 1985, 390f. 49 Die weiteren, einzeln verteilten, gleichzeitigen Gräber der Nekropole weisen eine andere Ausrichtung auf. Damit wird die Bezugnahme der an das Gebäude IIIA grenzenden Gräber auf dieses deutlich. Otten 2003, 85. 50 Eine Überbelegung des Gräberfeldareals kann in dieser Zeit ausgeschlossen werden. Dennoch liegen die Gräber unmittelbar an der Mauer von Bau IIK. Otten 2003, 87f. 51 Otten 2004, 86. 52 Otten 2003, 95. 47 48
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In den Gebäuden IIK und IIIA/2 sind lediglich einzelne Bestattungen nachweisbar, welche aufgrund fehlender Beigaben nur grob datiert werden können und keine weiteren Aufschlüsse über die Stellung der Toten geben. Mit Ausnahme einer Kinderbestattung in Bau IIK finden die Bestattungen ab der Phase C3 im Inneren der Anlagen ein Ende53. Nach Niederlegung der Anlage IIA wird zwischen dem späten 5. und mittleren 6. Jh. ein erster Steinbau errichtet (Abb. 7)54. Die Anlage orientiert sich in ihrer Ausrichtung weiterhin an den Vorgängerbauten, nimmt jedoch eine wesentlich größere Fläche ein. Damit liegt die Anlage zentral im Bereich des späteren Mittelschiffes und gibt exakt die karolingischen bis gotischen Baufluchten vor55. Trotz vermehrter Störungen im Bereich ist die Anlage in ihrer Grundstruktur erhalten, so dass Möglichkeiten der Rekonstruktion gegeben sind56. Der Bau wurde in einer sorgfältigen, massiven Bauweise aus Tuffblöcken errichtet57. Für die Grundfläche ergibt sich ein Innenmaß von 7,75 m Länge und 5,70 m Breite. Der neue Laufboden I,3 erstreckt sich in seiner Ausdehnung über den Grundriss des Baus IIIA hinaus, so dass Otten das erweiterte Begehungsniveau in Form eines Vorplatzes rekonstruiert58. Der Steintisch I,8 bleibt weiter in Nutzung und liegt in der neuen Ausrichtung des Gebäudes in der Nord-Ost-Ecke des Baus59. Die von Bader angenommene zweite Steinaufmauerung wird spätestens in dieser Bauphase aufgegeben60. Südlich von I,8 verläuft der Befund I,13, ein in einem Graben eingetiefter Balken, der auf eine Abschrankung vor I,8 hinzuweisen scheint61. Anhand des Grundrisses lässt sich wenig über die aufgehende Struktur sagen. Bader rekonstruiert auf Grundlage von Vergleichen einen rechteckigen Saalbau mit einer Tür, einer Fensterzone und einem Satteldach62. In der zweiten Hälfte des 6. Jh. wird an dem weiterhin bestehenden Bau IIIA im Westen ein Erweiterungsbau angefügt (Abb. 8)63. Aufgrund großflächiger Störungen im Bereich ist eine Rekonstruktion des Westbaus in seiner Ausdehnung schwierig. Otten nimmt die Anlage als einen längsrechteckigen, im Inneren dreigeteilten Bau von 10 m × 5,75 m an64. Dieser bleibt frei von Bestattungen; Funde, die Hinweise auf die Nutzung geben, fehlen. Etwa zeitgleich mit der Errichtung des Westbaus wird in Bau IIIA die Gruft B34 eingerichtet, welche den gesamten südöstlichen Bereich südlich
Otten 2004, 84/6. Bader 1985, 407f. Otten 2003, 81/7. 253 Taf. 2,15. 55 Otten 2003, 81. 56 Bader 1985, 400f. Otten 2003, 81. 57 Mauerstärke: 0,52–0,55 m. Otten 2003, 84. 58 Otten 2003, 82f. 59 Aufgrund des neuen Lehmestrichs ist der Steinsockel nun mit einer Höhe von etwa 0,40 m anzunehmen. Otten 2003, 81. 60 Bader 1985, 402 vermutet, in seiner Auslegung als zweite »mensa martyrum«, einen Gedächtnis-Verlust oder eine Übertragung des Gedächtnisses auf I,8. 61 Bader 1985, 406. Otten 2003, 83. 257 (Befund I,13). Wann genau die Abschrankung eingezogen 53 54
wurde, lässt sich nicht entscheiden. Vermutlich steht sie in Verbindung zu der später eingelassenen Gruft B34, welche sich südlich anschließt. 62 Bader 1985, 404f. 405 Abb. 49. 63 Problematisch ist das Ansetzen einer Datierung. Ein terminus post quem ist lediglich durch das durch den Westbau überlagerte Grab B89, welches spätestens Mitte des 6. Jh. angelegt wurde, gegeben. Otten 2003, 94f. 64 Außenmaße: 11,20 m × 6,35 m. Argumentation der Rekonstruktion bei Otten 2003, 89. – Zur inneren Unterteilung: Aufgrund der schwachen Fundamentierung nimmt Otten niedrige Abschrankungen an. Der nördliche Raum ist 2,50 m, die beiden südlichen 3,50 m breit. Otten 2003, 92.
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Abb. 3. Xanten. Gleichzeitige Gräber und Grabbauten im Domareal während der Phase C1 (spätes 5./Mitte 6. Jh. nC.).
Abb. 4. Xanten. Gleichzeitige Gräber und Grabbauten im Domareal während der Phase C2 (2. Hälfte 6./1. Hälfte 7. Jh. nC.).
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der Trennwand I,13 einnimmt65. In Phase C3 wird die Anlage bereits wieder abgerissen. Dagegen wird Kernbau IIIA bis zum karolingischen Anbau eines Rechteckbaus im Osten in der Phase D (Bau IV; 2. Hälfte 8. Jh.) unverändert weitergenutzt. Im 9. Jh. wird die Anlage erheblich nach Westen verlängert (Bau V)66; ab spätkarolingischer Zeit (Bau VI) sind im Innern keine Gräber mehr nachweisbar67.
2.2. Das römische Gräberfeld unter St. Severin in Köln 2.2.1. Quellen und Forschung Der heilige Severin wird erstmals in den Schriften Gregors von Tours im späten 6. Jh. als dritter Bischof Kölns genannt und findet in der Folgezeit zunächst keine weitere Erwähnung in den Quellen68. Erstaunlich ist das Fehlen der Überlieferung einer Severinsverehrung im Martyrologium Hieronymianum69. Das Severins-Patrozinium wird zum ersten Mal in der sog. Guntharschen Güterumschreibung aus dem Jahre 866 erwähnt70. Die Vita Severini des 10. Jh. überliefert, dass die Gebeine des Kölner Bischofs Severin in der Kirche der Märtyrerbischöfe Cornelius von Rom (gestorben 253) und Cyprian von Karthago (gestorben 257/258) beigesetzt worden seien71. Eine Urkunde des 12. Jh. gibt die Überführung der Gebeine des Severin in die noch in der heutigen romanischen Krypta erhaltene confessio durch Bischof Wichfried für das Jahr 948 an72. Erstmalig untersucht wurde der Nekropolen-Abschnitt unter der heutigen Severinskirche, dem Kreuzgang und in der näheren Umgebung zwischen 1925 und 1957 unter der Leitung Fritz Fremersdorfs73. Dieser zielt in seiner Interpretation darauf ab, die frühchristlichen Ursprünge von St. Severin zu beweisen: Bau A74 wird dabei als »Martyrion« angesprochen und als kirchlicher Vorgänger der romanischen Kirche interpretiert. Die Bestattung III,9 wird in dieser Auslegung als Grab des Severin verstanden75. Dass neben Bau A weitere Grabbauten bestanden, wird allgemein kaum beachtet. Da die Befunde vor allem in interpretativen Vorberichten publiziert wurden, fiel eine Beurteilung der Annahmen Fremersdorfs lange schwer und die Ansprache von Bau A als »St. Severin« konnte sich in der Literatur verbreiten76. Seit 1992 liegt mit der Dissertation Bernd Päffgens eine umfassende Neubearbeitung der römischen bis merowingerzeitlichen Grabfunde vor. Damit werden die Befunde detailliert ausformuliert, eine Neuinterpretation der hier interessanten Anlagen wird jedoch nicht geboten77. In späteren Aufsätzen werden zwar Überlegungen zur Auslegung vorgeFür die Gruft lassen sich drei Bauphasen bis zur endgültigen Aufgabe und Überlagerung durch die Chorschranken zu Bau IV nachweisen. Bader 1985, 418/22. 420 Abb. 53. Otten 2003, 92/4. 66 Otten 2003, 119. 67 Otten 2003, 104. 68 MG Scr. rer. Mer. 1,2, 140. Knappe Zusammenfassung bei Ristow 2007, 108f. 69 Gierlich 1990, 261 nimmt daher ein Aufkommen des Kultes ab dem 7./8. Jh. an. 70 »Monasterium sancti Severini Christi confessoris«. Zusammenfassend bei Gierlich 1990, 259 mit Anm. 25. 65
Gierlich 1990, 260 mit Anm. 27. Gierlich 1990, 259f. 73 Fremersdorf 1956. Ein umfangreicher Abschlussbericht bleibt offen. 74 Alle im Folgenden verwendeten Bezeichnungen beziehen sich auf Päffgen 1992a/c. 75 Fremersdorf 1956, 15f. 76 Zusammenfassend bei Ristow 2007, 136. 77 Päffgen 1992a/c. Übersichtliche Zusammenstellung der Ergebnisse in der Rezension von H. Steuer, B. Päffgen, Die Ausgrabungen in St. Severin zu Köln: BonnJbb 196 (1996) 890/5. 71 72
Abb. 6. Xanten. Grabbauten IIA, IIB und IIC (Phase B) und vermutlich zeitgleiche Gräber.
Abb. 8. Xanten. Rekonstruktionsvorschlag von Bau III2 mit Gruft B34 und Westanbau.
Abb. 5. Xanten. Grabbauten IA und C-D (Phase A) und vermutlich zeitgleiche Gräber.
Abb. 7. Xanten. Bau IIIA und vermutlich zeitgleiche Gräber.
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stellt78, jedoch kann damit bisher kaum die Fülle der Grabungsergebnisse erfasst werden. Päffgen distanziert sich von der Interpretation Fremersdorfs und vermutet für das Areal eine gemeinsame Belegung durch Christen und Heiden; der betrachtete Bereich ist dabei lediglich ein kleiner Ausschnitt einer großen Nekropole79.
2.2.2. Die archäologischen Befunde Das römische Gräberfeld liegt entlang der Ausfallstraße der Colonia Claudia Ara Agrippinensium (CCAA) in Richtung Süden80. Anhand der bisher untersuchten relativ kleinen Ausschnitte ist eine Belegung vom 1. Jh. nC. bis in das frühe Mittelalter nachweisbar81. Die Nekropole des 2./3. Jh. weist neben Grabsteinen und -gärten Fundamente mehrerer rechteckiger Grabmonumente auf82. In spätantiker Zeit entstehen, konzentriert in einem kleinen Areal liegend, mehrere Steinbauten in Form von ebenerdigen Anlagen und Hypogäen, die Päffgen in ihrer Gesamtheit als cellae memoriae anspricht (Abb. 9)83. Erwähnenswert sind desweiteren die etwa 200 m weiter nördlich liegenden, derselben Nekropole angehörenden Grabkammern »an der Jakobsstraße«84. Alle diese Anlagen müssen in einem relativ kurzen Zeitraum des 4. Jh. entstanden sein; eine genauere zeitliche Eingrenzung fällt aufgrund eines Mangels an Funden schwer85. Im Areal von St. Severin liegt, vollständig in den Boden eingetieft, die rechteckige, tonnenüberwölbte Anlage I,115 mit vier in den Boden eingelassenen formae, einem östlichen Vorraum und einer nordöstlich angeschlossenen Zugangstreppe86. Hinzu kommen zwei weitere nicht vollständig eingetiefte, rechteckige Bauten mit Tonnengewölbe: Die nordwestlich abgelegene Anlage VI,31 und die Kammer VIII,21, welche als gemauertes Grab denkbar ist87. Ebenerdig sind der annähernd quadratische Bau IV,45 und die rechteckige Anlage III,1388. IV,45, ein Bau, der bis in die Merowingerzeit genutzt wird, zeichnet sich durch den auffällig breiten Fundamentabsatz und den verputzten Innenraum mit Marmorinkrustationen aus89. Bau III,134 ist ausschließlich in seiner Nordseite als rechteckiger Bau erhalten, steht Bau A westlich gegenüber und wurde erst im späten 6. Jh. vor der Errichtung des Atriums von Bau C aufgegeben90. Befund IV,60 scheint ein weiteres Gebäude zu sein, jedoch kann der Befund aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes nicht eindeutig interpretiert werden91. Aufwendig ist die Architektur der Anlage III,263 (Abb. 13) gestaltet: Der im äußeren Grundriss hexagonale, zweigeschossige Bau verfügt über einen eingetieften, innen oktogonal ausgearbeiteten, tonnenüberwölbten Grabraum mit Treppenzugang im Etwa Päffgen 2004. Ristow 2007, 131/44. Päffgen 1992a, 64/71. 129. 80 Päffgen 1992a, 65f Abb. 15. Die römische Straße verlief in unmittelbarer Nähe zu dem Bereich unter St. Severin. 81 Päffgen 1992a, 115. 82 Päffgen 1992a, 83/5. 85 Abb. 22. 83 Päffgen 1992a, 82/96. 84 U. Friedhoff, Der römische Friedhof an der Jakobsstraße zu Köln = Kölner Forschungen 3 (Mainz 1991) 66/75. Päffgen 1992a, 37 Abb. 6. 78 79
Päffgen 1992a, 95f. Päffgen 1992a, 88 Abb. 24. Päffgen 1992b, 78/ 85. 87 Päffgen 1992a, 89. Beschreibung der Befunde und Funde: Bau VI, 31: Päffgen 1992c, 624. – Bau VIII,21: Päffgen 1992c, 643/6. 88 Päffgen 1992a, 89. Zu III,134 Päffgen 1992b, 299f. – IV,45: Päffgen 1992b, 415/22. 89 Päffgen 1992a, 95f. 90 Päffgen 1992a, 96. 91 Päffgen 1992a, 95. Päffgen 1992b, 434/8. 85 86
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Abb. 9. Köln. Spätantike Grabbauten im Bereich von St. Severin.
Abb. 10. Köln. Bau A und vermutlich zeitgleiche Gräber (Mitte 4. Jh. nC.).
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Osten92. Darüber liegt das sechseckige Obergeschoss, das vermutlich ebenso durch eine im Westen liegende Treppe zugänglich war. Das für den Eingang des Unterbaus abgeschrägte Gewölbe wurde im Obergeschoss zu einem rechteckigen Bodenabsatz aufgemauert93. Die von Päffgen in der Rekonstruktion vorgeschlagene Pultdachdeckung muss spekulativ bleiben. Bau A ist unter den erwähnten Anlagen die größte und lässt sich in mehreren Bauphasen rekonstruieren. Insgesamt befindet er sich jedoch in einem schlechten Erhaltungszustand, der nur bedingt Aussagen zulässt94. Aufgrund dessen und des Mangels an Funden kann die Errichtung der Anlage nur grob in die Mitte des 4. Jh. gesetzt werden95. Der in opus quadratum errichtete Bau weist eine innere Grundfläche von 9,5 m × 7,5 m auf (Abb. 10)96. An der westlichen Schmalseite wird der rechteckige Bau von einer zwei Meter tiefen, großflächig gestörten Apsis abgeschlossen97. Die Eingangssituation kann aufgrund des Erhaltungszustandes nicht geklärt werden, darf jedoch ebenerdig angenommen werden98. Im 5., wahrscheinlicher jedoch im 6. Jh. wird Bau A um einen östlichen Vorbau von etwa 18 m × 3,5 m und einen bzw. zwei seitliche Annexe erweitert (Bau B; Abb. 11)99. In einer weiteren Bauphase (Bau C) im 7. Jh. wird die Anlage um eine westliche, etwa 19,5 m × 11,5 m große Umfriedung (Abb. 12) ergänzt100. Etwa zeitgleich wird mittig vor der Ostwand ein sauber verputztes Podest aufgemauert101. In und um den Bau lassen sich zu jeder Zeitperiode Bestattungen nachweisen102. Bau A können mehrere Gräber zugeordnet werden, ohne dass sich eine auffällige Bezugnahme abzeichnet103. In den Anlagen B/C häufen sich die Gräber sowohl in dem ursprünglichen Rechteckbau als auch in dem nun nördlich angeschlossenen Annex. Insbesondere die beiden Kinderbestattungen III,64 und 65 sind aufgrund ihrer reichen Ausstattung erwähnenswert104. Die Beisetzungen im Innern des Gebäudes finden im 7. Jh. ein Ende.
Päffgen 1992b, 345/59. Gräber konnten nicht nachgewiesen werden. Aufgrund von Vergleichen nimmt Päffgen 1992a, 90 Abb. 26; 91 Abb. 27; 93 Abb. 29 die Aufstellung von Sarkophagen an. 93 Päffgen 1992a, 93. 94 Eine umfangreiche Auswertung der Baubefunde liegt nicht vor, so dass nur ein Überblick über die Bauphasen gegeben werden kann. 95 Päffgen 1992b, 175/82. 314f. 96 Die Mauerstärke beträgt 0,60 m. 97 Päffgen 1992b, 180 Abb. 38f; 181/5 (Befund III,6g). 98 Die Mauerfragmente III,9a und III,13 könnten auf eine Eingangskonstruktion in Form eines Vorbaus im Osten hinweisen. Päffgen 1992b, 191. Ristow 2007, 132. 99 Östlicher Vorbau: Mauern III; 7, 8, 55, 61, 502, 504. Seitliche Annexe: Mauern III, 79, 91, 91a. Ein 92
Anbau ist lediglich an der Nordwand von Bau A nachweisbar, der aus Gründen der Symmetrie auch im Süden ergänzt wird. Häufig wird Bau B als dreischiffige Anlage bezeichnet, für welche Befunde wie eine abtrennende Stützenreihe jedoch nicht nachgewiesen werden können. Ristow 2007, 134. 100 Der Erhaltungszustand der umlaufenden Abgrenzung III, 140 ist fragmentarisch, so dass über die Breite keine Aussagen getroffen werden können. Zusammenfassend Ristow 2007, 134f. 101 Maße: L. noch 2,80 m, Br. 1,90 m, H. 0,60 m. Päffgen 1992b, 219f (Befund III,47). 102 Päffgen 1992b, 167/392. 103 Die beigabenlosen Sarkophagbestattungen III, 86, 97, 101 und 102. Päffgen 1992b, 248. 276. 284f. 104 Fund- und Befundbeschreibung bei Päffgen 1992b, 227/30. Abbildungen bei Päffgen 1992c Taf. 124.
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2.3. Die sog. cella memoriae in Bonn 2.3.1. Quellen und Forschung Für die spätantike Zeit ist die Quellenlage zu Bonn allgemein stark beschränkt105. Die Überlieferung einer Märtyrerlegende beginnt erst im 7. Jh.: Im Martyrologium Hieronymianum des frühen 7. Jh. werden die Namen der Märtyrer Cassius und Florentius genannt, jedoch nicht in Verbindung mit Bonn gebracht. Erst eine Schenkungsurkunde von 691/692 erwähnt beide Namen im Zusammenhang mit einer basilica sanctorum in Bonn106. Eine Quelle aus dem Jahre 787/788 benennt für sie desweiteren ein Atrium107. Etwa zur selben Zeit darf die Gründung des Cassius-Stiftes angenommen werden. Spätestens im 10./11. Jh. scheinen die beiden Namen mit der Legende der Thebäischen Legion verknüpft worden zu sein108. Aus dem Jahre 1236 ist eine Legende, nach der die heilige Helena eine Kirche am Begräbnisort der Märtyrer gegründet haben soll, überliefert109. Bader und Lehner führten zwischen 1928 und 1930 um und unter dem Bonner Münster St. Martin, der Kirche des ehemaligen Cassius-Stiftes, Ausgrabungen durch110. Bis 1965 konnten im Areal weitere Flächen freigelegt werden, die einen Gesamteindruck der spätantiken Nutzung geben können und Teile des römischen bis frühmittelalterlichen Gräberfeldes vermitteln111. Ulrike Müssemeier und Christopher Keller legten in den letzten Jahren Neubearbeitungen der merowinger- und karolingerzeitlichen Funde vor112. Gemeinsam entwickeln sie ein Interpretationsmodell für die Baustrukturen ab dem 4. Jh.113 Bader und Lehner nehmen auf der Fläche ein größeres, ab dem 1. Jh. nC. belegtes Gräberfeld an, auf welchem zwei übereinander liegende Baustrukturen eine zentrale Position einnehmen114: die stratigraphisch tiefer liegende, von Bader und Lehner als cella memoriae bezeichnete Struktur A und die diese mit einem größeren Grundriss überlagernde Anlage D115. Bader und Lehner gehen von einer baulichen Kontinuität von Bau A bis zur Errichtung der romanischen Kirche aus. Dabei wird Bau A als Grablege der Märtyrer Cassius und Florentius und Bau D als erste Kirche interpretiert116. Um Anlage A mit der Verfolgung der Thebäischen Legion in Verbindung bringen zu können, nehmen die Ausgräber eine Errichtung im 3. Jh. an117. Bau D in Ristow 2007, 151. »Pro Dei intuitu vel pro mercedis augmento vel remedio animae nostrae cedimus ad basilicam sanctorum Cassii et Florentii sociorum[que] eorum sub oppido castro Bonna constructa in villa, [. . .]«. Levison 1932, 236f. 107 »In atrio sanctorum Cassii et Florentii urbis Bonnae«. Levison 1932, 242 Perlbach nr. 14. 108 Kremer 1993, 218f. Zusammenfassung der weiteren historischen Quellen in Bezug auf die Märtyrerverehrung in Bonn bei Kremer 1993, 214/28. Allgemein zur Ausbreitung der Thebäer-Verehrung Seeliger 2005. 109 Höroldt 1957, 35/9. 110 Lehner 1932. 111 P. Wieland / F. Oelmann, Fundbericht Bonn: BonnJbb 149 (1949) 356/61. H. Borger, Bemerkungen zur Entstehung der Stadt Bonn im Mittelalter: E. Ennen / D. Höroldt (Hrsg.), Aus Ge105 106
schichte und Volkskunde von Stadt und Raum Bonn, Festschr. Josef Dietz = Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn 10 (Bonn 1973) 10/42. – Allgemein zur Forschungsgeschichte E. Dassmann, Die Anfänge der Kirche in Deutschland. Von der Spätantike bis zur frühfränkischen Zeit (Stuttgart 1993) 142/5. 112 Keller 2001. Keller 2002. U. Müssemeier, Die merowingerzeitlichen Funde aus der Stadt Bonn und ihrem Umland, Diss. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (2003). 113 Etwa Keller 2004. Höroldt 2010. 114 Lehner 1932, 210. 115 Alle im Folgenden verwendeten Bezeichnungen orientieren sich an der Benennung bei Lehner 1932. 116 Lehner 1932, 35. 117 Lehner 1932, 38/41. 178.
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das 4. Jh. zu datieren, begründet sich auf der Annahme, dass die Anlage als direkter Nachfolgerbau und als Kirchenraum in einer ersten Blütezeit des Christentums im Rheinland entstanden sei118. Schon früh wurde diese Auslegung in der Literatur in Zweifel gezogen119, bis schließlich Keller und Müssemeier die Frühdatierung anhand weiterer Funde widerlegen konnten. Ihren Untersuchungen zufolge ist die Vermutung eines größeren Gräberfeldes abzulehnen. So ist im 4. Jh. lediglich ein kleines Areal mit etwa 20 Körperbestattungen anzunehmen. Aufgrund der exponierten Lage (s. u.) werden Überlegungen angestellt, ob es sich um eine kleine Nekropole mit »christlichem Charakter« handeln könnte120.
2.3.2. Die archäologischen Befunde Die sog. cella memoriae liegt auf einem kleinen, locker belegten Gräberfeld, welches am Westrand der römischen canabae legionis121, der Siedlung außerhalb des Legionslagers, abseits in einer Senke liegt122. Die ersten Bestattungen wurden hier in der zweiten Hälfte des 3. Jh. angelegt123. Alle bekannten Gräber sind Körperbestattungen, denen bis in das 6. Jh. hinein keine Beigaben beigefügt werden124. Im mittleren 4. Jh. entsteht Anlage A (Abb. 14) im Areal des Gräberfeldes125. Diese nimmt mit einem rechteckigen Grundriss eine Fläche von 3,35 m × 2,55 m ein und kann mit keinem bestimmten Grab in Verbindung gebracht werden126. Mit ihrer Nordost-Südwest-Ausrichtung weicht sie von der der früheren und zeitgleichen Gräber ab127. Erhalten ist der Bau als eine flache, leicht in den Boden eingetiefte, U-förmige Aufmauerung aus Bruchsteinen. Mit dieser Form umschließt sie zwei gemauerte Steinblöcke: Den nahezu vollständig erhaltenen Block c und, im Abstand von etwa einem Meter südwestlich von ihm, den in einer Flucht stehenden Block b128. Block c wurde unter Aussparung der nicht sichtbaren Nordseite verputzt und an seiner Oberfläche mit einer eingelassenen terra sigillata-Schale und einem Standring ausgestattet129. Block b ist in seiner Höhe nicht vollständig erhalten, insgesamt jedoch einfacher und kleiner als Block c gestaltet130. Lehner und Bader rekonstruieren einen offenen Bau mit niedriger Umfriedung (Abb. 15)131. Höroldt vermutet zusätzlich ein Dach auf Fachwerkwänden132. Lehner 1932, 35. Etwa Klauser 1947. Schaefer 1991, 20/4. 120 Keller 2001, 289. 121 Dazu M. Gechter, Canabae legionis, 43–274 nC.: M. van Rey (Hrsg.), Bonn von der Vorgeschichte bis zum Ende der Römerzeit = Geschichte der Stadt Bonn 1 (Bonn 2001) 156/70. 122 Das Gräberfeld liegt in einer abfallenden Senke, die in römischer Zeit einen Höhenunterschied von mehr als fünf Meter zur besiedelten Hochfläche aufwies und damit von der Straße aus nicht einsehbar war. Keller 2001, 289. Ristow 2007, 153f merkt an, dass »der Forschungsstand Ursache für das Bild der isolierten Lage« sein könnte. 123 Höroldt 2010, 20. 124 Höroldt 2010, 20/6. 125 Keller 2002, 422. 118 119
126 Aus statischen Gründen konnte unter dem Fußboden des Baus A nicht abgetieft werden, so dass weiterhin nicht geklärt ist, ob unter der Anlage Gräber liegen. Die Annahme zweier Bestattungen wurde aufgrund der beiden Steinvorrichtungen angenommen. Lehner 1932, 195f. Keller 2002, 422. Lichte Breite des Baus 2,95 m × 1,74 m. Lehner 1932, 40. 127 Keller 2001, 304. Keller 2002, 421f. 128 Maße Block b: H. 0,32 m, Br. 0,70 m, L. 0,80 m. Maße Block c: H. 0,88–0,92 m, Br. 0,76–0,89 m, L. 0,74 m. Lehner 1932, 38f. 129 Lehner 1932, 38. 130 Lehner 1932, 39. 131 Lehner 1932, 38/41. 132 Höroldt 2010, 20.
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Abb. 11. Köln. Bau B und vermutlich zeitgleiche Gräber und Grabbauten (5./6. Jh. nC.).
Abb. 12. Köln. Bau C und vermutlich zeitgleiche Gräber (7. Jh. nC.).
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Im späten 4. Jh. wird die Anlage A abgerissen und zugeschüttet133; das Areal wird jedoch auch weiterhin als Bestattungsplatz genutzt134. Mitte des 6. Jh. wird über der ehemaligen Anlage A der 13,77 m × 8,88 m große, rechteckige Steinbau D (Abb. 14) errichtet, der vermutlich von Südwesten aus zugänglich war135. Die Architektur weicht in ihrer Ausrichtung von Bau A ab, überlagert ihn jedoch zentral. Trotz dieser Bezugnahme besteht aus archäologischer Sicht eine Nutzungsunterbrechung136. Die in der Literatur verbreitete Überlegung, dass auf Bau A ein Holzbau folgte, auf dessen Fundamenten der Steinbau D errichtet wurde, zielt darauf ab die Lücke zu umgehen und eine Baukontinuität zu konstruieren137. Diese Annahme konnte bisher weder widerlegt noch bestätigt werden138. Die Ausführung des Mauerwerks von Bau D zeigt sich massiv, es ist sorgfältig bearbeitet und verputzt139. Die früheste Bestattung im Bau, Steinplattengrab 32, wurde noch vor Einzug des Estrichs angelegt140. Das reich ausgestattete Grab erhielt eine Markierung durch ein Kreuz aus Marmorplättchen141. Ebenso verweisen die weiteren, noch im 6. Jh. eingefügten Gräber durch die Beigaben auf einen höheren sozialen Rang der Bestatteten142. Wie die Störungen des Estrichs belegen, werden in der Folgezeit mehrere Gräber in dem Bau angelegt, die aufgrund mangelnder stratigraphischer Bezüge und fehlender Funde nicht genau datiert werden können143. Ab dem späten 6. Jh. kommt es zu Um- bzw. Ausbauten von Bau D: Im Nordosten wird parallel zur schmalen Außenseite das Fundament q eingezogen, dessen Funktion nicht klar zu erkennen ist144. Die Bauveränderungen ab dem 7. Jh. können in ihrer relativen und absoluten Abfolge nur beschränkt zugeordnet werden. Früh dürfte Anbau E an der Südostwand von D, der vermutlich eigens für Plattengrab 8 angelegt wurde, angesetzt worden sein145. Raum M und der an diesen etwas später angebaute Raum S an der Nordost-Wand von Bau D enthalten keine Bestattungen. Raum O mit seinem apsidialen Abschluss umfasst das vorher angelegte Grab 74. Im 8. Jh. erfolgt ein massiver Umbau zu einer dreiteiligen Anlage, in deren Ursprungsbau D bis zur Mitte des 8. Jh. reiche Bestattungen eingebracht werden146.
Keller 2001, 289. Keller 2004, 189. 135 Zur Datierung Kremer 1993, 247/79. 289f. Keller 2001, 291f. Angegeben ist die lichte Breite. Die Mauerstärke beträgt 0,47–0,53 m. Lehner 1932, 43. 136 Keller 2001, 289. 137 Klauser 1947, 38. Bis zu der Neubearbeitung durch Keller und Müssemeier ging man davon aus, dass die in Bau D liegenden Gräber größtenteils älter seien als die Errichtung der Anlage. Lehner 1932, 184. Der Vorschlag eines hölzernen Zwischenbaus versucht damit ebenso die exakte Bezugnahme der Gräber auf den Bau zu erklären. Keller 2001, 290/2. 138 Otten 2003, 100. 139 Genaue Beschreibung des Mauerwerks bei Keller 2001, 290. 295.
Keller 2001, 292/5. Ristow 2007, Taf. 45a. Auf die hohe Stellung der hier bestatteten Frau verweisen Schmuckelemente. Keller 2001, 293/5. 142 Lehner 1932, 22f. 183. Keller 2001, 294/6. 143 Keller 2001, 297. 144 Lehner und Bader rekonstruieren diesem gegenüberliegend das Fundament q1, welches aufgrund einer Störung jedoch nicht nachweisbar ist. Die Fundamente werden in ihrer Interpretation als den Altarraum abgrenzende Schranken ausgelegt, was nicht belegt werden kann. Keller 2001, 296f. 145 Lehner 1932, 46. Keller 2001, 297. 146 Eine Zusammenfassung der wichtigsten Funde und genaue Beschreibung der Bauphasen findet sich bei Keller 2001, 298/304.
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2.4. Aussagegehalt der Befunde Unter zeitlicher Verschiebung zeichnen sich auf den römerzeitlich angelegten Nekropolen Xantens, Kölns und Bonns Parallelen ab. Während die Beispiele aus Xanten und Köln bei bautypologischen Unterschieden die Gesamtentwicklung gemein haben, ist in Bezug auf Bonn der Vergleich der Ausstattung von Wichtigkeit. Geprüft werden müssen Gemeinsamkeiten und Unterschiede vor allem in Hinblick auf die Nutzung der Anlagen. Dazu sollen zunächst die allgemeinen Entwicklungstendenzen der Nekropolen zusammengefasst werden, anhand welcher sich ein Wandel in der Bedeutung der Bauten im Nekropolenareal ablesen lässt. Anhand der archäologischen und historischen Quellen muss aufgeschlüsselt werden, ob und ab wann den Anlagen ein bestimmter kultischer Hintergrund zugeschrieben werden kann. Sowohl in Köln als auch in Xanten entstehen ab dem 4. Jh. unterschiedlich gestaltete, begehbare Grabarchitekturen. Diese meist einfachen Anlagen befinden sich mehrere Generationen lang in Nutzung, nehmen keine zentrale Position in den Nekropolen ein und sind von etwa gleichgroßen Bauten umgeben. Die zeitgleichen Gräber sind über die gesamte Fläche gestreut. Während Bau A in Köln aufgrund seiner Größe zumindest auffallend im Bereich der Nekropole liegt, kann im Fall Xanten in keiner Weise davon gesprochen werden. Erst die unüblich lange Nutzung der Bauten IA und A lässt ihnen eine besondere Stellung zukommen: Im Verlaufe des 6. Jh. werden die meisten anderen Grabgebäude aufgegeben, die Anlagen beanspruchen mit ihren Ausbauten nun einen wesentlich größeren Raum und die Gräber nehmen deutlich Bezug auf die verbleibenden Architekturen. In Xanten zeichnet sich diese Tendenz zunächst in Bezug auf die Anlagen IIK und IIIA ab. Erst im späten 6. Jh. entwickelt sich Bau IIIA/III2 zum Hauptanziehungspunkt. In Köln ist eine Konzentration der Beisetzungen in Richtung Bau B/C ab der zweiten Hälfte des 6. Jh. greifbar. Das Gräberfeld in Bonn ist in seiner Gesamtausdehnung und zeitlichen Entwicklung nicht gesichert zu fassen, so dass die Bedeutung der Anlagen A und D für die Nekropole nicht klar charakterisiert werden kann. Die Annahme eines kleinen Bestattungsareals und die Lage in der Senke könnten für eine bewusste Separierung sprechen und den Bauten eine zentrale Stellung einräumen. Diese als christlich anzunehmen, wie Keller und Müssemeier es sich vorstellen können, würde jedoch zu weit führen147. In Betracht gezogen werden können jegliche Formen einer ethnischen oder sozialen Abgrenzung. Dass Bau D bereits wenige Zeit nach seiner Errichtung ausgebaut wird und reiche Bestattungen eingefügt werden, könnte für eine von vorne herein bedeutende Rolle für die hier bestattende Gruppe sprechen. Alle drei Beispiele sind vor allem ab dem 6. Jh. archäologisch betrachtet für größere, nicht sicher spezifizierbare Gruppen von Relevanz und werden zu einem Bezugspunkt der Bestattungen. Dennoch lässt sich fragen, ob bereits für die Anlagen des 4. Jh. ein bestimmter religiöser Hintergrund, wenn auch nicht mit derart zentralem Stellenwert im Kontext der Nekropole, nachweisbar ist. Schwierig bei einer Beurteilung ist das Wissen, dass in der ausgehenden Antike Heiden und Christen gemeinschaftlich Bestattungsareale nutzten; eine sich archäologisch abzeichnende Unterscheidung, So ist allgemein eher davon auszugehen, dass gerade die frühen Christen nicht separat in eigenen
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Arealen bestatten. Ristow 2007, 154. Keller 2001, 289.
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etwa anhand der Bestattungsweise, lässt sich im seltensten Falle erkennen148. So lassen sich bisher in den hier betrachteten Nekropolen im 4./5. Jh. keine eindeutig christlichen Hinweise erkennen149. Die Befunde der Beispiel-Bauten geben ebenso wenig Aufschluss: Während die Gräber beigabenlos sind, lässt die Ausstattung der Bauten eine religiöse Eingrenzung nicht zu. Wie es unten genauer zu besprechen gilt, verweisen die in Xanten und Bonn eingelassenen Steinsockel nur allgemein auf einen sowohl paganen als auch christlichen Totenkult. Im Kölner Bau A sind Einbauten erst ab dem 7. Jh. nachweisbar. Für die Zeit des 4. Jh. kann demnach weder von paganen noch von christlichen Kultbauten gesprochen werden. Erst mit der bereits beschriebenen Bedeutungszunahme der Anlagen im Nekropolenareal könnte archäologisch für eine christliche Intention der Bauten argumentiert werden: Einhergehend mit dem Neubau IIIA in Xanten und den Ausbauten in Köln des 5. und 6. Jh. ist die deutliche Verbindung der Gräber zu den Bauten erkennbar, was durchaus mit dem Phänomen der ad sanctos-Bestattungen in Beziehung gebracht werden könnte150. Aufgrund dieser intensiv gesuchten Nähe zum Bau und der historisch manifestierten Kenntnis über eine Märtyrerverehrung in Xanten erscheint die Badersche Einstufung als »Versammlungsraum der [.. .] Christengemeinde«151 in dieser Zeit also gut möglich. Zwar kann der Bau IIIA/III2 des 6. Jh. noch nicht als Kirche bezeichnet werden, jedoch scheint in dieser Zeit der Märtyrer-Kult etabliert zu sein. Der sukzessive Ausbau könnte das Interesse widerspiegeln, einen christlichen Versammlungsraum zunehmend den liturgischen Ansprüchen anzupassen. In Köln könnten desweiteren die Anbauten, welche weitestgehend frei von Bestattungen bleiben und mit einem Bestattungsverbot im Kirchengebäude verbunden sein könnten, Hinweis auf die liturgische Nutzung geben152. Besonders reich ausgestattete Gräber wurden vornehmlich im Ursprungsbau A angelegt, so dass Ristow ihnen am ehesten die Bezeichnung »Kirchengräber« zuweisen möchte153. Die Errichtung des Podestes im 7. Jh. könnte vor diesem Hintergrund und nach den Schriftquellen durchaus als liturgische Einrichtung verstanden werden154; ab dieser Zeit scheint die Ansprache als Kirche gerechtfertigt zu sein. Über Anlage A in Bonn können kaum Aussagen getroffen werden, da sie relativ kurz Nutzung fand, nicht ausgebaut wurde und mit keiner bestimmten Bestattung in Verbindung gebracht werden kann155. Eindeutiger sind die Befunde des 6. Jh.: Bereits das früheste Grab 32 in Bau D verweist mit dem markierenden Marmorkreuz auf den christlichen Glauben der Bestatteten. Insgesamt hat der Bau eine relativ geringe Größe und eine recht einfache Ausstattung, die keine Anzeichen von spezifischen Einrichtungen erkennen lässt. Somit kann nur allgemein von einem Grabsaal »mit allenfalls untergeordneten liturgischen Funktionen« gesprochen werden156. Die Weiterentwicklung der Anlage ist mit Xanten und Köln vergleichbar: Die Ausbauten und die Gräber um den und in dem Bau geben zunehmend Hinweise auf einen christlichen Schmidt 2000, 422. Einzig der Grabstein des Batimodus, vermutlich aus dem 5. Jh., mit einer Crux monogrammatica beweist christliche Bestattungen in Xanten. Otten 2003, 77/9. 77 Abb. 27. 150 Kötting 1965, 24/8. 151 Bader 1985, 402. 148 149
Kötting 1965, 28/36. Ristow 2007, 139. Ristow 2007, 139. 154 Ristow 2006, 239. 155 Vgl. Höroldt 2010, 31. 156 Ristow 2007, 156. Kremer 1993, 261 deutet Bau D als eine »Eigengrabkirche«. 152 153
Abb. 16. Rekonstruktionsvorschlag Remesal Rodríguez’ zur Beschreibung aus dem Lingonen-Testament (A = Altar, L = Lectica, P = Postament mit Skulptur, S = Subselia).
Abb. 14. Bonn. Grundriss der cella memoriae (A) des Grabbaus (D) und der spätmerowingisch-karolingischen Anbauten unter dem Bonner Münster.
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Abb. 15. Bonn. Rekonstruktionsvorschlag W. Baders und H. Lehners zu Bau A.
Abb. 13. Köln. Rekonstruktionsvorschlag Päffgens zu III,263 (Längsschnitt).
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Kultraum, der jedoch noch nicht als Kirche bezeichnet werden darf157. Mit der Überlieferung einer Klerikergemeinschaft im 7. Jh. kann mit Wahrscheinlichkeit von einer Kirchennutzung für Bau D gesprochen werden158. Erst mit Ende der Bestattungstätigkeit nach Mitte des 8. Jh. ist ein Funktionswechsel von Grab- und Memorialstätte zur Kirche mit rein liturgischen Funktionen eindeutig nachweisbar159. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ab dem 6. Jh. ein verbreiteter christlicher Glaube mit einem bedeutender werdenden Kult wahrscheinlich ist. Dieses Ergebnis darf jedoch nicht auf die Anlagen des 4. Jh. bezogen werden. Prinzipiell kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu einer Umnutzung bereits vorhandener, eventuell privater Grabkammern kam160. Höroldt verweist auf die Bedeutung der mündlichen Traditionen im frühen Mittelalter und darauf, dass diese »im Laufe der Zeit ihren Inhalt bis zur Unkenntlichkeit verwandeln« können161. In Xanten könnten etwa die beiden gewaltsam getöteten Männer aufgrund anderer Verdienste in der Gemeinschaft Verehrung gefunden haben und erst später zu Märtyrern deklariert worden sein162. Ab dem 6. Jh. lässt sich im Westen die Tendenz der Verknüpfung von Heiligenlegenden mit Memorialbauten im Zuge einer erneuten Konsolidierung des Christentums nach der Taufe Chlodwigs nachweisen163. In diesem Zusammenhang könnte also die sich nun festsetzende Tradition des Kultes in Xanten, Köln und Bonn stehen. Das Ergebnis zeigt, dass eine Orts- und Baukontinuität nicht mit einer Bedeutungskontinuität gleichgesetzt werden darf: Aus einem sukzessiven Ausbau, der im Mittelalter in einem Kirchenbau mündet, kann kein christlicher Kult für die Bebauung des 4. Jh. abgeleitet werden. Ist dies in der Forschung zwar allgemein anerkannt, wurde bisher nicht die Frage gestellt, ob die Einstufung der Bauten als cellae memoriae weiterhin gerechtfertigt sei oder im Zuge einer neuen Bewertung der Befunde überdacht werden müsse. Aus der Tatsache heraus, dass für die ersten Anlagen keine christliche Nutzung festgestellt werden darf und die Möglichkeit eines Umnutzungsprozesses besteht, ergeben sich mehrere Fragestellungen: Darf der cella memoriae-Begriff auf die verschiedenen Bauphasen angewandt werden – auch wenn sie sich in Größe und möglicherweise auch in ihrer Funktion unterscheiden? Wo müssen Grenzen der Bezeichnung gezogen werden? Gibt der Begriff eine spezifische Kultfunktion vor? 3. Zum Begriff der cella memoriae 3.1. Nutzung und archäologische Nachweisbarkeit Wurden bisher die Fragen nach dem religiösen Hintergrund der Anlagen gestellt, soll im Folgenden eine Einordnung der Nutzung, die über die der Grablege hinausreicht, geleistet werden. Die Skizzierung der Totenkultrituale soll zum einen
Höroldt 2010, 32. Höroldt 2010, 29. 159 Jäggi 2005, 178. Ristow 2007, 156f. 160 Diese Tendenz ist im Westen häufig nachweisbar. Siehe etwa Schmidt 2000, 221f. Ristow 2006, 232/ 5. Ristow 2007, 61/82. 161 Höroldt 2010, 31f. 157 158
So überlegen etwa Borger 1998, 16 und Runde 2003, 218f die Tötung der beiden Männer mit den Unruhen in der zweiten Hälfte des 4. Jh. in Verbindung zu bringen. 163 Die kirchliche Restauration setzte im Kölner Frankenreich erst unter Chlodwigs Nachfolger Theoderich I (511–533) ein. Ewig 1980, 14/7. 162
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ihre archäologische Nachweisbarkeit klären und zum anderen zu einer Diskussion des cella memoriae-Begriffs überleiten. Zentrales Element des paganen Totengedächtnisses war das Totenmahl, welches sowohl die Speisung des Verstorbenen als auch das gemeinschaftliche Gedächtnis beim Mahl umfasste. Dieses fand primär am Grab, welches als das »Haus des Toten« verstanden wurde, in Grabüberbauten oder sub divo statt164. Die Durchführung war in der Regel von der Initiative der Familie des Verstorbenen abhängig und konnte in der Praxis im Rahmen größerer Festmähler, kleinerer Gaben oder auch als Opfer wie der libatio geschehen. Als Ausdruck der Familienzugehörigkeit wurden Totenmähler von Einzelpersonen oder im Kollektiv der Verwandtschaft ausgerichtet165. Daneben standen collegia tenuiorum/funeraticia, welche als organisierte Vereine Bestattungen und Kultfeiern, also auch größere Kollegienmähler, veranstalteten166. In Bezug auf die frühchristlichen Totenkultformen167 sind primär die Quellen über die Märtyrerverehrung von Belang, welche Rückschlüsse auf die »alltäglichen« Gedächtnis- und Verehrungsformen zulassen168. Daran lässt sich aufzeigen, dass das (private) Gedächtnis zunächst in Lokalität, Ablauf und Größenordnung pagane Traditionen adaptierte169. So sind für die ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte keine spezifisch christlichen Elemente des Totenkultes nachweisbar. Mit der Verbreitung des Christentums und sich entwickelnder Gemeindestrukturen konnten sich sukzessiv charakteristische Formen des christlichen Totenkultes ausbilden. Eine wichtige Stellung in dieser Entwicklung übernahm, vor allem mit den ersten reichsweiten Maßnahmen gegen Christen ab der Mitte des 3. Jh., die Märtyrerverehrung170. Häufig der lokalen Gemeinde unterliegend, konnte der Kult zunehmend in den liturgischen Rahmen der kirchlichen Gottesdienstfeiern eingebunden werden171. Während die Verehrung der Märtyrer weiter an den Gräbern bzw. den errichteten Gedächtnisstätten stattfand, tritt ab dem 4. Jh. in den Quellen die Forderung hervor, das private Gedächtnis in die Kirche zu verlegen172. Im Areal der Nekropolen kam es somit zur Errichtung von Bauten mit neuen Funktionen: Neben der monumentalen Ausgestaltung von Märtyrergrabstätten verbreiten sich Friedhofskirchen, die neben der Eucharistiefeier dem privaten Gedächtnis dienten173. Dass jedoch bis in das 8. Jh. private Toten-
164 Oexle 1984a, 385f spricht von einer »Gegenwart der Toten« als Teilnehmer des Mahles. 165 Klauser 1928, 604. 166 Diese verbreiteten sich vor allem in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten. Jastrzebowska 1981, 183/7. Braune 2008, 207/14. 167 Allgemein dazu Klauser 1927. Klauser 1928. Eine Zusammenfassung der Entwicklung findet sich bei Schmidt 2000, 218/24. Zu den mittelalterlichen Formen des Totengedächtnisses Oexle 1984. 168 Die Überlieferung des privaten Gedächtnisses ist stark beschränkt. Schmidt 2000, 218. 169 Deutlich nachweisbar ist das Gedächtnis in den Coemeterien, wie es in der zweiten Hälfte des 3. Jh. etwa in der syrischen Didascalia gefordert wird. Didascalia 6,22,2. Die weite Verbreitung des Totenkultes am Grab verdeutlicht ein Dekret des Valerian
aus dem Jahre 257 nC. Eus. h. e. 7,11,10. Schmidt 2000, 220f. 234. Braune 2008, 215/24. Dass Heiligen- und Totenkult gemeinsamen Ursprung im paganen Kult haben, weist Oexle 1976, 70/4 auf. 170 So etwa in Smyrna (Izmir). Mart. Polyc. 18. Schmidt 2000, 219f. 171 Schmidt 2000, 222. 172 So etwa bei Aug. de cura pro mortuis 210. Schmidt 2000, 221f. 236/41. Der Fund einer mensa in der Alexanderbasilika in Tipasa legt nahe, dass von kirchlicher Seite aus das private Totenmahl zunächst toleriert wurde und neben der Eucharistie stehen konnte. Deichmann 1970, 166f. Schmidt 2000, 315. 173 Deutlich zeigt sich die Verbreitung auf christlichen Nekropolen Nordafrikas. Saxer 1980, 173/97. Schmidt 2000, 223f. 234f.
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kultfeiern in paganer Tradition an den Gräbern stattfanden, belegen die in den Quellen mehrfach wiederholten Verbote der Versammlungen am Grabe174. Es lässt sich schließen, dass der Totenkult einen festen Platz im gesellschaftlichen Denken der Antike und Spätantike hatte. Damit darf angenommen werden, dass es an den meisten Gräbern zu Äußerungen des Gedächtnisses in irgendeiner Form kam. Diese jedoch archäologisch nachzuweisen fällt aufgrund des Fehlens spezifischer Vorrichtungen für den Kult175 schwer und muss sich häufig auf Speisereste wie Knochen stützen. Können diese meist nur unter vorsichtiger Formulierung als Beleg für Totenmähler bewertet werden, weisen Befunde wie in Xanten und Bonn eindeutig auf Totenkult hin: Die Steinaufmauerungen, die als mensae zu bezeichnen sind176, waren in antiken Nekropolen als Grabplatzausstattung zur Durchführung des Totenkultes verbreitet177. Eine Unterscheidung zwischen paganen und christlichen Vorrichtungen lässt sich dabei nicht treffen: Mit den kirchlichen Bemühungen, den pagan geprägten Kult zurückzudrängen, wurde auch der mensa eine neue Bedeutung zugeschrieben, so dass sie weiter in Nutzung bleiben konnte178. Der dauerhafte Gebrauch der mensa I,8 in Xanten könnte so, wie oben bereits erwähnt, einem Umnutzungsprozess, der vom paganen zum christlichen Kult überleitet, geschuldet sein. Eine archäologische Nachweisbarkeit einer spezifischen Kultfunktion muss damit auch hier ausbleiben. Insgesamt ist festzuhalten, dass der pagane und christliche Totenkult weder eine bestimmte Architektur noch eine spezifische Vorrichtung verlangt. Ist dieser in Xanten und Bonn anhand der Einrichtungen nachgewiesen, dürfen Kultpraktiken, trotz fehlender archäologischer Nachweise, ebenso in begehbaren Bauten wie in Köln angenommen werden. Allgemein lässt sich jedoch nichts über die weitere Funktion der Anlagen aussagen. So wurden auf Nekropolen Gebäude von verschiedener Art und Größe errichtet, in welchen mit unterschiedlicher Gewichtung und unterschiedlichen Kulthandlungen des Toten gedacht wurde. Aufgrund fehlender eindeutig zuzuordnender Einrichtungen und Funde kann nicht ausgeschlossen werden, dass den Anlagen Xantens, Kölns und Bonns von Privatpersonen bzw. von (religiös motivierten) Gruppen unterschiedliche Bedeutung beigemessen wurde. Da keine der frühen Anlagen in ihrer eigentlichen Bedeutung dingfest gemacht werden kann, muss überlegt werden, ob es gerechtfertigt ist, die Anlagen unter dem cella memoriae-Begriff zusammenzufassen. Hierzu soll zunächst die historische Bedeutung des Begriffs vorgestellt werden.
Etwa MG Leg. 3; MG Conc. 2,1,2 (1906) 1/7. Ristow 2007, 49. 175 Zu mobilen Bankettarrangements, die sich häufig der archäologischen Nachweisbarkeit entziehen, Braune 2008, 29/39. 176 Diskussion zu den Begriffen mensa, Altar und Altargrab bei Deichmann 1970. 177 Klauser 1927, 98/115. Schneider 1927, 292/6. von Hesberg 1992, 164/70. Zur Ausstattung von paganen Grabbezirken für Gedächtnisfeiern Calza 174
1940, 69/74. Eine Zusammenstellung paganer und christlicher Totenkulteinrichtungen findet sich bei Jastrzebowska 1981, 14/164. Braune 2008, 16/54. 178 So dient die mensa nach Augustinus nicht zur Durchführung des Totenmahles, sondern zur Darbringung eines Opfers an Gott. Die mensa martyrum stände damit für den Ort, an welchem sich ein Märtyrer selbst als Opfer dargebracht habe. Aug. serm. 113. Schmidt 2000, 222.
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3.2. Historische Quellen und deren Auslegung Die älteste Quelle, die den cella memoriae-Begriff aufgreift, ist ein inschriftlich überliefertes Testament aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. nC.179 Es beschreibt das zu errichtende Grabmal für den Verstorbenen, einen wohlhabenden Gallier aus der Civitas foederata Lingonum. Da dies zugleich die einzige Quelle ist, die explizit die Formulierung cella memoriae aufweist, ist sie wichtiger Referenzpunkt für die Definition dieses Begriffs. Im Testament heißt es, dass der Grabbau in Form einer cella memoriae, welche mit einer exedra zu verbinden sei, errichtet werden solle. Über die Grabausstattung werden detaillierte Informationen gegeben: Eine Sitzstatue des Verstorbenen aus Bronze oder Marmor solle vor der exedra aufgestellt werden. Diese wiederum sei mit marmornem Mobiliar (lectica, subsellia) zu umstellen; die Totenasche solle in einem Altar (ara) aufbewahrt werden180. Wurde bereits auf den Zusammenhang zwischen Möbeln und Totenkult verwiesen, wird dieser hier ausdrücklich gefordert: Die Türen müssten leicht zu öffnen sein, um den Bau jeder Zeit betreten zu können181. Die regelmäßige Andacht sollte durch Wächter (curatores) gewährleistet werden, welche ebenso wie Gärtner (topiarii) die gesamte Anlage zu pflegen hätten182. Die Umgebung der cella sei durch einen Garten (pomaria) und Wasserbecken (lacus) zu gestalten183. Eine weitere Quelle, die in Bezug auf den cella memoriae-Begriff in der Forschung stets genannt wird184, ist eine im christlichen Kontext stehende Inschrift des 3. Jh. aus Caesarea in der Maueretania Caesariensis185. In dieser wird berichtet, dass der Senator M. A. I. Severianus eine Inschrift wiederhergestellt habe, die er offensichtlich im Zusammenhang mit der Stiftung einer »area« und einer »cella« hatte errichten lassen. Diese auch als memoria bezeichnete Anlage hinterließ er einer Kirche186. Wird zwar nicht explizit der Begriff der cella memoriae verwendet, nehmen dennoch ›cella‹ und
CIL 13, 5708. Der Text liegt in einer Abschrift des 10. Jh. vor. Zur Datierungsproblematik Remesal Rodríguez 1995, 101f. 180 »[Cellam quam a]edificavi memoriae, perfici volo ad exemplar quod dedi ita, ut exe[d]dra sit eo [loco], in qua statua sedens ponatur marmorea ex lapide quam optumo transmarino, ubi aenea ex aere tabulari quam optumo altam ne minus p(edes). Le[c]tica fiat sub exedra et II subsellia ad duo latera ex lapide transmarino. Stratui ibi sit quod sternatur per eos dies quibus cella memoriae aperietur, et II lodices et cervicalia duo par(ia) cenator(ia) et aboll[ae] II [et] tunica. Araq(ue) ponatur ante id aedific(ium) ex lapide Lunensi, quam optimo sculpta quam optume, in qua ossa mea reponantur«, CIL 13, 5708, I, 1/9. Ergänzungen nach Remesal Rodríguez 1995, 105. 181 »Cludaturq(ue) id aedifi(cium) lapide Lunensi ita, ut facile aperiri et denuo cludi possit«, CIL 13, 5708, I, 9f. 182 »Mandoque hanc curam Prisco Phoebo Philadelpho [V]ero; pos[t obitum me]um [ii] curatores qui ita nom[i]nati qui quotannis in ara quae s(upra) s(cripta) est Kalednis Aprilibus Maiis Iuniis Iuliis August(is) Octobris. Mando autem curam funeris mei [et] exequiarum et re179
rum omnium et aedificiorum monumentorumque meorum [. . .]«, CIL 13, 5708, II, 14/8. Remesal Rodríguez 1995, 106. 117f. 183 CIL 13, 5708, I, 9/18. 184 Etwa F. W. Deichmann, Art. Cella: RAC 2 (1954) 942. 185 Aus dem Befund geht keine Eingrenzung der Datierung hervor. Eck verweist auf eine mögliche Identifizierung mit dem Märtyrer Severianus aus Caesarea, der entweder 258 oder 304 hingerichtet wurde. Der Aufstellungskontext der Inschrift ist nicht bekannt. Eck 1971, 390f. 186 »Aream at sepulchra cultor verbi contulit|et cellam struxit suis cunctis sumptibus: | ec[c]lesiae sanctae hanc reliquit memoriam. | Salvete, fraters puro corde et simplici: | Euelpius vos sal[u]to sancto spiritu. | Ec[c]lesia fratruum hunc restituit titulum. | M. A. I. Severiani c(larissimi) v(iri) | ex ing(enio) Asteri«. ILCV 1583 = CIL 8, 9585. Meist werden die Begriffe cella und memoria in der Ausdeutung der Quelle gleichgesetzt. Etwa Leclercq 1910, 2891. Deichmann, Cella (o. Anm. 84) 942. De Rossi 1877, 454f geht dagegen von einer »costruzione d’una cella e memoria nell’area« aus.
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›memoria‹ Bezug aufeinander187. Eine spezifische Nutzung und Bautypologie lassen sich aus der Inschrift nicht ableiten. Gesichert ist lediglich der Sepulkralkontext; damit ist also auch am Übergang zur Spätantike der Begriff in der allgemeinen Beziehung auf eine Anlage mit Totengedächtnischarakter belegt. Während sich der Aussagewert der zweiten Quelle darauf beschränkt, dass cella memoriae nicht nur in paganem, sondern auch in christlichem sepulkralem Kontext stehen kann, enthält die erste Quelle weitere Informationen, die eine detaillierte Betrachtung ermöglichen. Bei einer Auslegung des Textes muss notwendiger Weise eine Interpretation der Termini und ihrer architektonischen Umsetzung erfolgen. Zwar wurden dabei bislang Versuche einer klaren Eingrenzung des cella memoriae-Begriffs umgangen, dennoch zeichnet sich das moderne Verständnis des antiken Begriffs ab. So übersetzt Henri Leclercq 1910 »cellam, quam aedificavi memoriae, perfici volo ad exemplar quod dedi«188 frei mit »›la chapelle que j’ai élevée à ma mémoire‹, mais il doit se construire avec cella«189. Ebenso impliziert Marcel Le Glay 1991 indirekt einen christlichen Charakter der Anlage, indem auch er die Übersetzung »chapelle avec exedra« wählt190. André Le Bohec stellt sich den Bau als »sanctuaire de héros« oder als »tombeau-temple« vor191. Ähnlich denkt André Buisson, der aufgrund der reichen Grabausstattung und anhand von epigraphischen Vergleichen den Bau als »Heroon« anspricht192. José Remesal Rodríguez lässt sich in seiner Auslegung primär von dem (in pagan-kultischer Bedeutung interpretierten) Begriff cella leiten und stellt sich den Bau »en forma de templo« vor (Abb. 16)193. Neutraler wirkt die Bezeichnung als »memorial shrine« von Jocelyn M. C. Toynbee194. Die Diskussion um die Architektur wird indirekt anhand von Versuchen geführt, das Verhältnis der einzelnen Bau- und Ausstattungselemente untereinander zu klären195: Toynbee geht von zwei gleichwertig nebeneinander stehenden Größen, cella und exedra, aus196. Le Bohec verweist auf den Singular aedificium und schließt, dass exedra und cella eine Einheit bilden müssten197. Ebenso wie Remesal Rodríguez schlägt er vor, die exedra als einen apsidialen Abschluss einer (rechteckigen) cella zu deuten198. Pierre Sage spekuliert aufgrund der Formulierung »perfici volo exemplar ad quod dedi ita ut exedra« auf eine freistehende exedra in der cella199. Buisson orientiert sich in seiner Rekonstruktion an den pompejianischen Gräberstraßen und schlägt eine näher an der Gräberstraße stehende exedra und eine räumlich zurückgesetzte cella vor200. Allgemein bleibt bei diesen Vorschlägen unberücksichtigt, dass die einzelnen Rekonstruktionsmöglichkeiten Einfluss auf die Größe der Anlage nehmen. So entscheidet die Lage der exedra über die Größe des Baus, da mit ihr der Aufstellungsort der Statue und der Möbel angegeben wird. Befinden sich diese im Gebäude, wie es bei Die explizite Auslegung der Bauelemente bereitet Schwierigkeiten. So spricht de Rossi 1877, 454 von einer »cella e memoria nell’area«, während Leclercq 1910, 2891 von einer »cella avec area« spricht. Cella und memoria setzt er gleich. Deichmann, Cella (o. Anm. 84) 942 greift die Formulierung zu cella memoriae zusammen. 188 CIL 13, 5708, I, 1. 189 Leclercq 1910, 2885. Ebenso Sage 1991, 19 bezeichnet die Anlage als »chapelle funéraire«. 190 Le Glay 1991, 58. 187
Le Bohec 1991, 46. Buisson 1991, 65. 193 Remesal Rodríguez 1995, 118/26. 194 Toynbee 1971, 62. 195 Zur Übersetzungsproblematik und Gegenüberstellung der wichtigsten Auslegungen s. Sage 1991. 196 Toynbee 1971, 62f. 197 Le Bohec 1991, 47. 198 Remesal Rodríguez 1995, 118/26. 199 Buisson 1991, 683. 200 Buisson 1991, 68. 72 Abb. 191 192
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den Vorschlägen Le Bohecs, Sages und Remesal Rodríguez’ der Fall wäre, würde die Anlage eine beachtliche Größe verlangen. Ob bereits der Begriff cella Aussage über die Größe der Anlage treffen und somit die Wahrscheinlichkeit einer freistehenden exedra in der cella klären könnte, wird in der Literatur in keiner Weise angesprochen. Buisson merkt zwar zurecht an, dass die Anordnung der Ausstattung der entscheidende Unterschied für die antike Begriffswahl sein könnte201, letztlich verzichtet jedoch auch er auf ausführliche Überlegungen. Aufgrund fehlender archäologischer Nachweise und erklärender Primärquellen können keinerlei Unterschiede in den historischen Formulierungen erschlossen werden. Anstatt einer Berücksichtigung dieser Tatsache zeichnet sich in der Forschung eine Durchmischung der Begriffe und der verschiedenen Ebenen der funktionalen Zuordnung ab. Anhand anderer Fachtermini wird der Begriff der cella memoriae unpräzise übersetzt. Dienen die gewählten Formulierungen auch eher dem Zweck, einen allgemeinen Eindruck widerzugeben, darf nicht außer Betracht gelassen werden, dass Begriffen wie Kapelle, Heroon und Tempel per definitionem spezifische Funktionen zugeschrieben sind. Ihre Anwendung auf den cella memoriae-Begriff klammert die nötige Diskussion der Frage, ob cella memoriae eine bestimmte Gattung mit eindeutigen Funktionen und charakteristischer Architektur wiedergeben kann, aus. Hinzu kommen Gleichsetzungen verschiedener Begriffe, deren inhaltliche Verwandtschaft nicht untersucht wird. So bewerten etwa de Rossi und Leclercq die stadtrömischen Grabinschriften cubiculum memoriae202 und cella aeterna als Synonyme zu cella memoriae203. Diese seien durch Formulierungen wie cellula martyrum und memoriae martyrum spezifizierbar204. Ein weiteres Synonym sieht Joseph Sauer in der Formulierung cella coemeterialis205. Der Frage, ob cella memoriae als antik feststehender Ausdruck gewertet werden darf und sich damit von anderen überlieferten Formulierungen abhebt, wird dabei keine Beachtung geschenkt. Diese bestimmende Nutzung und Gleichsetzung von antiken Termini in der Forschung verhindert ein transparentes Verständnis der Begriffsund der Befund-Auslegung. Die angeführten Begriffe wirken zwar einander verwandt und stehen in vergleichbaren Kontexten, jedoch fehlen auch hier Möglichkeiten, die Formulierungen inhaltlich genau zu definieren und damit vergleichbar zu machen. So führt die Vielzahl der Begriffe dazu, dass ein Befund unterschiedliche Bezeichnung finden kann, ohne dass jedoch eine spezifische, interpretierende Aussage getroffen wird. Gleichzeitig regen diese nur vereinzelt belegten Termini zu weiteren Fragen an: Könnte der Begriff cella memoriae ein »unicum«206 sein, so dass es gerechtfertigt wäre, Nach Buisson 1991, 68 sei die cella memoriae als »un monument d’une importance plus grand qu’une simple memoria« vorstellbar. 202 »Claudiorum | Ungeito et Irene | cubiculum memo| riae atquesierunt | communi impendis suis | fecerunt libertis lib|ertabusque posteris | quae eorum gauden|tiorum«. CIL VI, 10276. – »(Eu)morfus cum Fe(lici)|(ta)te co(n) iugi sua m(emo)|(re)s fecerunt cella aet(erna)«. ICUR 8, 23143 (= ILCV 03697). 203 De Rossi 1877, 455. 474f. Leclercq 1910, 2885. De Rossi 1877, 454/64 setzt sich detailliert mit den überlieferten Begriffen für Grabgebäude auseinander und greift sie zu einer Gruppe zusammen. 201
De Rossi 1877, 455. Leclercq 1910, 2885. Zu cellula martyrum: De Rossi 1864, 128/30. Die Bezeichnung memoriae martyrum ist 401 auf dem Konzil von Karthago für Bauten »nam quae per somnia et per inanes quasi revelationes quorumlibet hominum ubicumque constituntur altaria omnimodo improbentur« belegt. CCL 149, 204. 205 J. Sauer, Art. cella coemeterialis: Wasmuths Lexikon der Baukunst 2 (1930) 24. 206 Le Bohec 1991, 46. 204
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ihn als einen rein modernen Terminus technicus zu definieren? Le Bohec denkt daran, dass der Begriff im Lingonen-Testament nur Anwendung fand, da memoria im 2. Jh. nC. noch keine gängige Grabbezeichnung gewesen sei. Vor allem das Christentum habe eine Vielzahl von memoriae-Bauformen (s. u.) entwickelt, so dass der Beisatz cella ab spätantiker Zeit entfallen konnte207. Wirkt die Erklärung in Anbetracht der ›architektonischen memoriae‹ in frühchristlicher Zeit zunächst sinnvoll, stellt sich dennoch die Frage nach der Intention des Lingonen: Warum grenzt das Testament die Begriffe cella memoriae und exedra von einander ab und fasst sie an anderer Stelle unter Bezeichnungen wie aedificium, locus und monimentum zusammen? Begriffe, die im Sepulkralkontext häufig belegbar sind und, wie nachgewiesen, ausreichen, um dem antiken Betrachter die Totenkult-Nutzung kenntlich zu machen208. Muss damit cella als Hinweis auf die Größe der Anlage verstanden werden, während memoria nur die Totenkultfunktion betonen soll? Ist die cella memoriae nur ein Raumabschnitt des aedificium? Oder soll lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass die Anlage derart reich auszustatten sei, dass sie nicht nur den Zweck des Totengedächtnisses erfülle, sondern nahezu einer »Heroisierung«209 gleichkomme? Die antike Intention des cella memoriae-Begriffs kann jedoch nicht erfasst werden, so dass die Fragen im Raum stehen bleiben. Daher muss sich der inhaltliche Aussagewert auf eine moderne Terminus technicus-Bildung fixieren. Im Folgenden sollen zunächst die Begriffe cella und memoria auf ihren Bedeutungswert untersucht werden, um die Grundlage der modernen Auslegung zu entschlüsseln und kritisieren zu können.
3.3. Begriffsauslegung in der modernen Forschung 3.3.1. Cella und memoria Der Begriff cella findet in antiker Zeit neben einer Anwendung im vitruvschen Sinne als paganer Tempelinnenraum210 eine profane Nutzung: Offensichtlich konnte jeder kleinere Raum, dessen Zweckbestimmung durch ein beigesetztes Attribut spezifiziert werden konnte, cella genannt werden211. Die spätantike Verwendung von cella schließt im profanen Kontext an die antike an. Eventuell unter Bezugnahme auf die pagane Tempel-cella konnten im christlichen Kontext kleinere Kirchen als cellae bezeichnet werden212. Der in Nordafrika überlieferte Begriff der »circumcelliones« verweist auf die cella-Bezeichnung für Märtyrergedächtnisstätten213. Allgemein begegnet der BeLe Bohec 1991, 46. Le Glay 1991, 58. In Gallien etwa nachweisbar als locus monumenti (CIL 12, 4192), locus monumenti sepulturaeque (Buisson 1991, 671 verweist auf CIL 12, 2124), locus sepulturae (CIL 12, 524. 4042. 4887. 5031. 5308. 5834) und in Formulierung wie »locus eligendi sepulturae obtulit« (CIL 12, 3658). Monimentum findet sich zB. bei Monumentum sive locus (CIL 13, 5489. 5554. 5581. 5712. 5718. 5853), monumentum sive sepulcrum (CIL 13, 5886. 11206) und »H(oc) M(onumentum) s(ive) L (ocus)« (etwa CIL 13, 2494). – Ausführlich zum Verhältnis und zur Bedeutung der Begriffe monumentum und memoria Häusle 1980, 29/40. 207 208
Ein Eindruck, den Buisson vermutlich mit »Heroon« zu umschreiben versucht. 210 Vitruv. 3,3. 4,4. 211 H. Dessau, Art. cella: PW 3,2 (1899) 1871/9. 212 Aus dem 6. und 7. Jh. stammen etwa die Formulierungen cellola scae ecclesiae (ILCV, 1805) und cella scae Mariae (ILCV 2112). 213 W. H. C. Frend, The Donatist Church. A movement of protest in Roman North Africa (Oxford 1952) 173. Deichmann übersetzt circumcelliones mit »Leute[n], die sich bei den Märtyrer-Cellae herumtreiben«. Deichmann, Cella (o. Anm. 84) 943. 209
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griff der cella, nachweisbar sind ebenso Formen wie cellula, vermehrt im christlichen Sepulkralkontext214. Im Bereich des Mönchtums erhält der Begriff eine neue Bedeutung. So werden die meist einfachen Behausungen der anachoretischen Eremiten als cellae bezeichnet215. Aus diesem Sprachgebrauch geht schließich die Nutzung des Wortes hervor, Klosteranlagen als cellae anzusprechen216. Wegen der vielfältigen Anwendungen des Begriffs schlägt Friedrich Wilhelm Deichmann eine deutsche Übersetzung mit »Kammer« vor217. Die Ausrichtung der Definition des Worts memoria ist vor allem von Seiten der Christlichen Archäologie geprägt und aufgrund der vielseitigen Anwendung in den Quellen weiterhin umstritten218. Otto Gerhard Oexle versucht zunächst die Phänomene, die der lateinische Begriff memoria enthält, aufzuspalten. Demnach unterscheidet er zwischen Gedächtnis (mneme) und Erinnerung (anamnesis). Während das Gedächtnis die Fähigkeit, sich an Vergangenes zu erinnern sei, wird die Erinnerung als »bewußt vollzogene Vergegenwärtigung des Vergangenen« definiert219. Anamnesis wird damit zu einer wichtigen Grundlage von »Gedächtnisreligionen« wie dem Christentum; dort findet sie Einbindung in den liturgischen Rahmen wie etwa im eucharistischen Mahl als ein Erinnern an konkrete Ereignisse220. Daneben kann im Rahmen von Mählern ebenso Personen gedacht werden, wie es im paganen und christlichen Totenkult deutlich wird. Insbesondere der daraus abgeleitete, zunehmend in die Liturgie eingebundene Heiligenkult habe dazu geführt, dass vermehrt an (Märtyrer-)Gräbern »bauliche ›Memorien‹, einfache Kultgebäude oder auch Basiliken geschaffen« worden seien221. Ebenso Sible de Blaauw interpretiert memoria als »Ruhestätte(n) heiliger Menschen«, die durch »Denkmäler oder kleine Cellae« markiert wurden und »der Verehrungspraxis der Christen dienten«222. Martyrium wird von ihm als Bezeichnung für eine »direkte bauliche Umschließung des heiligen Ortes« verwendet223. Deichmann schließt aus dem Vergleich lateinischer und griechischer Quellen, dass memoria vor allem im römischen Westen als »Gedenkbau für den Märtyrer« begriffen wurde, während im Osten martyrium im selben Kontext begriffliche Präferenz fand224. In der praktischen Umsetzung ist die memoria im Sinne von mneme und anamnesis sowohl im paganen und christlichen Kult bedeutend. Als causa finalis des monumentum kann der Begriff ebenso als Bezeichnung für das Grabdenkmal selbst angewandt werden225. Lässt sich dies schon in paganen Inschriften nachweisen, gewinnt der memoriaAuf die Formulierung cellula martyrium wurde oben bereits verwiesen. Weitere Formen bei de Rossi 1877, 455. 215 Zum Beispiel: Hieron. vit. Hilarion.: PL 23, 35B / 88 Bastiaensen. Johannes Cassianus, de institutis coenibiorum 4,10. 216 So etwa Gregor der Große, ep. 1,54. ILCV 1646. 217 Deichmann, Cella (o. Anm. 84) 942f. C. Höcker, Art. cella: NPauly 2 (1997) 1050 übersetzt desweiteren mit »Raum« und »Zelle«. 218 Einführend in die Problemstellung Deichmann 1970. 219 Oexle 1976, 79/86 mit umfassenden Literaturangaben und Darlegung der Problemstellung der Begriffsdefinitionen. 220 So erinnert die Eucharistie traditionell an das Ereignis des letztes Mahles bzw. setzt erinnernd die 214
täglichen Mahle Jesu und seiner Jünger fort. H. Lietzmann, Messe und Herrenmahl. Eine Studie zur Geschichte der Liturgie = Arbeiten zur Kirchengeschichte 8 (Bonn 1926) 249/63. C. Leonard, Art. Mahl: RAC 23 (2010) 1067/70. 221 Oexle 1976, 82. Saxer 1980, 125/33. 222 De Blaauw 2008, 316. 223 Die Frage, ob es sich bei den Anlagen um bloße martyria oder um die Integration eines martyrium und eines liturgischen Versammlungsraums handele, ist seiner Meinung nach kasuistisch. De Blaauw 2008, 316. 224 Mit belegenden Quellen bei Deichmann 1970, 146/55 (bes. 151). De Blaauw 2008, 315/9. 225 Zum Verhältnis zwischen memoria und monumentum mit ephigraphischen Belegen Häusle 1980, 29/ 40.
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Begriff vor allem ab spätantiker Zeit Bedeutung im (Märtyrer-)Kult und führt im allgemeinen, modernen Verständnis eher zu einer christlich initiierten Assoziation. Für die Ausdrücke cella und memoria sind die Verwendungskontexte so vielseitig, dass eine knappe Definition ausbleiben muss. Beide Begriffe finden keine architektonische Eingrenzung: Weder bei der Größenordnung noch bei der Bauform erfolgt eine sprachliche Separierung. Eine funktionale Eingrenzung des Begriffs zeichnet sich ebenso wenig ab. Es können Bauten im profanen, paganen und christlichen Kontext beschrieben werden. 3.3.2. Cella memoriae Im christlich-sepulkralen Zusammenhang lassen sich also die Begriffe cella und memoria häufig in den Quellen zur Märtyrerverehrung nachweisen. Dies führt dazu, dass auch der Terminus cella memoriae ohne kritische Diskussion vor allem von Seiten der Christlichen Archäologie ausgedeutet wird226. Prägend für das Begriffsverständnis sind die begrifflichen Untersuchungen des 19. Jh., auf welche weiterhin häufig Bezug genommen wird. So setzt sich Giovanni B. de Rossi erstmals ausführlich mit den epigraphischen Formulierungen auseinander und schafft so eine wichtige Grundlage der Diskussion227. Er betont den paganen Ursprung der cella memoriae und interpretiert den Begriff als eine von zahlreichen Formulierungen für Grabbauten unterschiedlichster Form228. Einen eigenen und speziellen Typus erkennt er demnach nicht dahinter. So schließt er allgemein, dass auf den Nekropolen eine Vielzahl von »memoriae, cellae, basilicae, [und] ecclesiae« existierte, was er im christlichen Kontext mit stadtrömischen Beispielen belegt229. Dieser Tendenz folgt die Forschung im frühen 20. Jh. und führt damit zu einer einseitigen Diskussion um den cella memoriae-Begiff. So findet sich der einzige umfangreiche Aufsatz zu dem Schlagwort cella memoriae im Dictionnaire d’Archéologie Chrétienne et de Liturgie von Leclercq. Dort heißt es, dass die Gattung der cella memoriae den Übergang zwischen paganen und christlichen Bräuchen markiere230. Undifferenziert stellt Leclercq Beispiele aus christlich-sepulkralem Kontext nebeneinander231, ohne jedoch Argumente (Ausstattungen, Inschriften o. ä.) für seine Zuordnung zu formulieren. Für Leclercq steht der Aspekt des Grabgebäudes mit Gedächtnisfunktion im Vordergrund, ohne dass er Unterscheidungen in der Bedeutung und Gestaltung der Architekturen trifft232. Den Begriff versteht er, in Anlehnung an de Rossi, als »terme[s] plus ou moins générique[s] appliqué[s] à des édifices funéraires«, welcher architektonisch vom »locolus« bis zum »Mausoleum« reichen könne233. Zwar betont Sauer 1930 abermals, dass der Bautypus im paganen Kult gebräuchlich war und sich ab dem 4. Jh. als Grabmal für »angesehenere Christen« verbreitete234. Dennoch findet sich auch in der modernen Literatur häufig die Auffassung, dass es Etwa Kraus 1895, 261/5. Marucchi 1905, 139. De Rossi 1866. 1877. 228 Etwa de Rossi 1866, 101. De Rossi 1877, 456f. 229 De Rossi 1866, 210. 230 »[. . .] à marquer la transition entre les usages chrétiens et les coutumes païennes«, Leclercq 1910, 2881.
Leclercq 1910, 2888/905. Auf die unpräzise Übersetzung »Grabkapelle« wurde bereits verwiesen. Daneben stehen weitere Bezeichnungen wie Zelle, Basilika und Oratorium. Leclercq 1910. 233 Leclercq 1910, 2885. Vgl. de Rossi 1877, 457. 234 Sauer, cella coemetrialis (o. Anm. 205) 24.
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sich um einen christlichen Sondertypus handele235. Erst in den letzten Jahrzehnten wird – eng im Zusammenhang mit den Aufarbeitungen von Alt-Funden wie in Xanten, Köln und Bonn stehend – zunehmend herausgestellt, dass die Bezeichnung keine Aussage über einen religiösen Hintergrund treffen könne236. Über diese Anmerkung hinaus werden jedoch keine neuen Ansätze für die Auslegung vorgebracht. Die Funktion als Totenkultstätte wird als selbstverständlich vorausgesetzt, Versuche einer architektonischen Definition werden nur vereinzelt und ohne herleitende Begründungen formuliert. Einen frühen Versuch der architektonischen Festlegung unternahm André Louis 1883. Er legt den cella memoriae-Begriff auf zweistöckige Bauten mit einer Grabkammer im Erdgeschoss und einer meist offenen exedra im Obergeschoss fest237. Eine starre Übertragung von Louis’ Annahme auf eine cella memoriae-Gattung ist abzulehnen, wenn sie auch in relativierender Auslegung weiterhin in der Forschung verwendet wird. So legt Nikolaus Kyll 1972 eine differenziertere Vorstellung von Grabanlagen vor: Unter Gleichsetzung der Begriffe »Grabhäuschen«, »Grabkapelle«. und »Grabkammer« unterscheidet er zwischen Bauten mit ebenerdigem Zugang, begehbaren Hypogäen und zweigeschossigen Grabbauten, die aus einem Kellergewölbe (»Gruft«) und einem Erdgeschossraum (»cella memoriae«) als Stätte der Gedächtnisfeier bestehen238. In die Definition lässt er soziale Aspekte mit einfließen: Prinzipiell sei das pagane und christliche Totengedächtnis ebenso sub divo durchführbar (s. o.), so dass eine cella memoriae aufgrund der Bau- und Unterhaltungskosten wirtschaftlich gut gestellten Einzelpersonen bzw. Familien vorbehalten sei239. In Kylls Beurteilung können Grab- und Gedächtnisraum einander entsprechen oder aber auch – so im Fall der zweigeschossigen Anlagen – getrennt angelegt sein. Damit wird letztlich das Problem der archäologischen Nachweisbarkeit angesprochen: Kyll erkennt den memoriaAspekt für alle Grabanlagen an, benennt mit cellae memoriae jedoch nur die Bauwerke, bei denen ein Raum für das Gedächtnis mit hoher Wahrscheinlichkeit, wie es bei den mehrstöckigen Bauten der Fall ist, nachweisbar ist. Es zeigt sich, dass die Verwendung des Terminus cella memoriae vielseitig ist. In Bezug auf die Architektur lässt sich fragen, mit welcher Rechtfertigung die Zuordnung abgeleitet wird. Leclercqs undifferenzierte Zuordnung wirkt eher unverständlich. Sauer und Kyll nennen nur allgemeine, häufig auftretende Charakteristika, die sie von weit verbreiteten Grabaufbauten ableiten. Wo nun jedoch der Unterschied zu anderen Grabarchitekturen liegt, wird nicht erwähnt. Diese subjektiven Zuordnungen können an den Beispielen des Rheinlands verdeutlicht werden. Päffgen spricht die Gesamtheit der Kölner Anlagen als cellae memoriae an und fasst so Hypogäen und unterschiedlich gestaltete oberirdische Aufbauten unter dem Begriff zusammen. Er scheint die funktionale Ebene vorauszusetzen ohne sie explizit einzugrenzen240. Wäh-
Zum Beispiel Carbonell Esteller 2008, 68. Otten 2003, 44. 237 Louis 1883, 259. 238 Kyll 1972, 176f. Vgl. etwa die Anlage III,263 in Köln. 239 Kyll 1972, 181. Ähnlich Braune 2008, 193/200, die den Nutzen der Grabbauten zum einen in der Möglichkeit der repräsentativen Selbstdarstellung 235 236
und zum anderen das Bedürfnis der privaten Zurückgezogenheit erkennt. 240 Einzig in Bezug auf den zweigeschossigen Bau III,263 wird darauf verwiesen, dass ein oberer Aufbau nur Sinn habe, wenn der unten liegende Bestattungsraum zu niedrig zur Abhaltung des Totengedächtnisses sei. Päffgen 1992a, 87.
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rend in Xanten die als cellae memoriae angesprochenen Bauten architektonisch vergleichbar sind, zeigt sich vor allem die Badersche Begriffsverwendung als widersprüchlich: Bei seinen Überlegungen zur Rekonstruktion des Baus C-D heißt es, dass an »eine Cella Memoriae oder einen ummauerten Grabbezirk zu denken« sei241. Hier tritt die funktionale Definition hinter einer architektonischen zurück. In Bezug auf die Bonner Anlage, welche wie Bau C-D vermutlich als flache Aufmauerung angelegt wurde, widerspricht Bader jedoch seiner eigenen Auslegung und bezeichnet sie ebenso als cella memoriae242. In diesem Fall steht für Bader also die funktionale Ebene im Vordergrund. Die Bonner Anlage macht mit ihrer Architektur ein weiteres Zuordnungsproblem deutlich, indem sie nicht der gewöhnlichen »Grabhaus«-Assoziation entspricht243. Höroldt, Keller und Müssemeier definieren den Begriff der cella memoriae daher als »Bauwerk zur Durchführung von Totengedächtnisfeiern« und versuchen so eine rein funktionale Auslegung244. Was rechtfertigt also eine Zuordnung als cella memoriae? Die architektonische Ebene findet kaum Berücksichtigung, während die funktionale Ebene auf nahezu alle Grabbauten bezogen werden kann. Wo sollten Unterschiede durch eine Zuordnung des Terminus formuliert werden? In Bezug auf die Anlage IA in Xanten und A in Bonn würde die Ansprache als cella memoriae den Sinn haben, zu betonen, dass es sich um Grabbauten mit archäologisch nachweisbaren Totenkultfunktionen handelt. Griffe man jedoch unter dem cella memoriae-Begriff nur Bauten mit derart eindeutigen Befunden zusammen, wird lediglich eine sehr kleine Gruppe aus der Gesamtheit erfasst. Zum einen ist es fraglich, ob so nicht eine künstliche und damit nicht zweckmäßige Teilung einer Gruppe von Grabarchitekturen geschaffen wird (zumal sich die Gesamtzahl der cellae memoriae in den Nord-West-Provinzen zu einer kleinen Einheit zusammenfügen würde). Zum anderen würde die klare Zuordnung Probleme bereiten. So ist etwa die Anlage III,263 in Köln im oberen Geschoss mit einer rechteckigen Aufmauerung versehen. Reicht hier der archäologische Befund aus, um eine Totenkultfunktion mit mensa-Einrichtung zu bestätigen oder sollte primärer Zweck des Sockels eine Begradigung des Treppenaufganges des Untergeschosses sein? Reichen der Befund und die von Päffgen formulierte Annahme des Gedächtnisraumes im Oberbau aus, um die Anlage in die Gruppe der cellae memoriae aufzunehmen? Oder muss der Kölner Bau aufgrund eines Mangels eindeutiger Funde und Einrichtungen, wie sie in Xanten und Bonn vorliegen, neutral als zweigeschossiger Grabbau bezeichnet werden?245 Da in keiner Weise ein Architektur-Typus aus dem cella memoriae-Begriff abgeleitet werden kann und damit auch nicht wesentlicher Bestandteil der inhaltlichen Auslegung sein sollte, muss die Definition des Terminus primär auf funktionaler Ebene erfolgen. Dennoch sollte dabei der Begriff der cella nicht völlig außer Acht gelassen werden. Wie oben aufgezeigt, lässt sich keine klare Eingrenzung in der architektoBader 1985, 320. Bader 1946, 13. 243 G. Binding, Art. cella: LexMA 2 (1983) 1606 stellt »Grabbau« und »cella memoriae« synonym nebeneinander. Borger 1968, 258/70 spricht die Xantener Architekturen sowohl als »Grabhäuser« als auch als »Memorien« an. 244 Höroldt 2010, 22. 241 242
Braune 2008, 41 verweist darauf, dass allgemein die Bankettnutzung des Obergeschosses zwar wahrscheinlich sei, die Befunde bisher jedoch keine eindeutigen Hinweise zur einstigen Möblierung und damit zur Nutzung geben. Daher müsse in Betracht gezogen werden, dass es sich um grabeigene Aussichts- oder multifunktionale Kulträume handele. 245
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nischen Grundform und Größe finden. Da in der Regel jedoch kleinere Räume, »Kammern«, mit dem Begriff cella belegt werden, lässt sich fragen: Wie starr bzw. fließend sollten die Übergänge der Zuordnung sein? Das gemeinsame Charakteristikum der hier im Vordergrund stehenden Anlagen ist der rechteckige Grundriss, jedoch variiert dieser in seiner Größe zwischen 8,54 m² (Bau A, Bonn) und 71,25 m² (Bau A, Köln). Hinzu kommt, dass die Bonner Anlage nicht als cella im eigentlichen Sinne angelegt ist. Wählte man den cella memoriae-Begriff also unter der Prämisse, dass jede (subjektiv zu beurteilende) kleinere Architektur im sepulkralen Kontext der Gruppe angeschlossen werden dürfte, ergibt sich dennoch ein Konglomerat diverser Funktionsbauten (s. o.). Nur in Einzelfällen ließe sich archäologisch eine Unterscheidung zwischen privaten Grabbauten, gemeinschaftlich genutzten Bauten (collegia-»Vereinshäuser«, kleinere Coemeterien, öffentliche Räume für das private Gedächtnis etc.) und kleineren Friedhofskirchen treffen. Letztlich setzen sich auch diese Kategorien aus »Bauwerk[en] zur Durchführung von Totengedächtnisfeiern« – wenn auch unter unterschiedlichen Gewichtung des privaten und kollektiven Kultes – zusammen. Cella memoriae würde damit zu einem Oberbegriff mit unklaren Grenzen werden, so dass die Anwendung des Begriffs wenig Vorteile bietet. Abschließend lässt sich sagen, dass der cella memoriae-Begriff, wie er derzeit in der Fachliteratur Anwendung findet, widersprüchlich ist. Notwendig für eine Benutzung als Terminus wäre eine klare Eingrenzung, die schlüssig aufzeigt, dass cella memoriae einen eigenen Typus bezeichnet und damit zurecht einen Terminus technicus etabliert. Vom derzeitigen Standpunkt aus ist jedoch zu bezweifeln, dass eine begriffliche Separierung zur Klärung beitragen würde und klare Abgrenzungen schaffen kann. Es wird der Eindruck erweckt, der cella memoriae-Begriff würde verwendet, um der trivial klingenden Bezeichnung »Grabbau« einen spezifischeren, wenn auch gehaltlosen Ausdruck zu verleihen, was den Zugang zu archäologisch erfassten Strukturen erschweren kann. Neutraler und damit hilfreich bei der Frage, wie die Anlagen in Xanten, Köln und Bonn bezeichnet werden können, ist die Definition Klaus Stählers zum Begriff der »Hausgräber«: Diese legt er als »zumeist einfachere[r] Form von Grabbauten mit rechteckigem, vielfach quadratischem Grundriß« mit Bestattungen im Boden oder in einer Krypta aus. Der Typus zeichne sich häufig durch eine eingezogene Apsis oder auch eine Vorhalle aus; Apsishaus und Exedra können dabei nebeneinander vorkommen246. Damit wird, unter Verzicht auf den cella memoriae-Begriff, präzise die Gestaltung von Anlagen wie in Köln und Xanten benannt und die Problemstellung der kultischen Funktion umgangen. Diese kann vor dem Hintergrund der Kenntnisse über den Totenkult angenommen und, falls anhand des archäologischen Befundes näher charakterisierbar, zusätzlich benannt werden. Die neutrale Bezeichnung »Hausgrab« kann, zumindest bei den frühen Phasen der Beispiele, ebenso die Problematik der oben formulierten Überlegung, dass die Bauten einem Umnutzungsprozess unterlegen sein könnten, umgehen: Ausgangspunkt der Entwicklung ist stets eine Grablege, die in ihrer weiteren Bedeutung für die Bestattenden nicht benannt werden kann. In Xanten könnten etwa die Phasen IA–IIIA mit dem Begriff des Hausgrabes belegt werden; die Befunde wären somit auf einer architektonischen Ebene bezeichnet, ohne dabei 246
K. Stähler, Art. Grabbau: RAC 12 (1983) 421.
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Bezug auf die (sich möglichweise ändernden) Funktionen zu nehmen. In Köln könnte der Begriff auf Bau A angewandt werden; für Bau B müsste aufgrund der nun aufwendigeren Baustruktur mit Annexbauten nach einer anderen, sinnvollen Bezeichnung gesucht werde247. In Bonn wäre der Begriff für die flache Umfriedung nicht treffend. Hier könnte etwa die von Sarah Braune vorgeschlagene Untergliederung zu der »Konzeption von Banketträumen im Grabkontext« hinzugezogen werden248: So könnte der Bonner Bau A als »hypäthraler Hofplatz« bezeichnet werden249. Damit wäre die Anlage begrifflich von den anderen Beispielbauten abgegrenzt, ohne dass eine spezifische Nutzung festgesetzt wäre.
4. Zusammenfassung Allgemein gilt es festzuhalten, dass ebenerdige Baustrukturen eine häufige spätantike Erscheinung darstellen. Neutral sind diese zunächst als wirtschaftlich aufwendigere Grabbauten zu bewerten, die entweder gemeinschaftliche Nutzung finden oder den Versuch einer Separierung darstellen können. Diese abgrenzende Bestattungsform kann sowohl eine privat initiierte soziale Hierarchisierung als auch eine Heraushebung einer für die Gesellschaft wichtigen Persönlichkeit bedeuten. So fällt etwa im Kölner Bau A und im Bonner Bau D auf, dass im Grabbau vermehrt reich ausgestattete Gräber angelegt wurden. In Xanten kann dies aufgrund fehlender Beigaben nicht beurteilt werden, scheint jedoch ähnlich zu bewerten zu sein250. Was die intentionelle Grundlage für die Errichtung der Anlagen (soziale Separierung, Märtyrerverehrung, Verehrung eines wichtigen Gemeindemitglieds etc.) ist, lässt sich nicht beurteilen. Ein Umdeutungsprozess der Anlagen in Folge der mündlichen Tradierung ist gut denkbar und würde den Entwicklungstendenzen der Christianisierung im Rheinland entsprechen. Neben repräsentativen Zwecken kann die Nutzung der Anlagen mit dem Totengedächtnis umschrieben werden, welches in Bonn und Xanten anhand der mensae belegt und für Köln ebenso anzunehmen ist. Dies führt dazu, die allen Anlagen gemeinsame Bezeichnung als cellae memoriae infrage stellen zu müssen: Bei eingehender Betrachtung lässt sich schließen, dass der Begriff inhaltlich lediglich kleinere Grabanlage jeglicher Form mit Totenkultfunktion bezeichnet. Da aufgezeigt wurde, dass diese Cha-
Ob der von Ristow 2007, 37 gewählte Begriff des coemeterium subteglatum als neutrale Beschreibung nützlich sein kann, muss diskutiert werden. Auch hier scheint ein christlicher Charakter vorweggenommen zu werden, sodass der Terminus ebenso problematisch wäre. 248 Braune 2008, 16/41. 249 Braune 2008, 34. Den Begriff ordnet sie ihrer Gruppe der »Bankettplätze in Grabhöfen« zu. In diesem Zusammenhang könnte diskutiert werden, ob der inschriftlich belegte Begriff des hypaethrum (CIL 6, 1947. 5532) für die Anlage zutreffend ist. Braune 2008, 32/4. 250 Einen Hinweis auf reiche Bestattungsformen könnten die Textilreste aus der Bestattung in Bau IIK geben. 247
Abbildungsnachweis: Abb. 1: Otten 2003, Plan 5. – Abb. 2: Otten 2003, Plan 6. – Abb. 3: Otten 2003, Plan 7. – Abb. 4: Otten 2003, Plan 8. – Abb. 5: Otten 2003, 45 Abb. 15. – Abb. 6: Otten 2003, 61 Abb. 23. – Abb. 7: Otten 2003, 82 Abb. 29. – Abb. 8: Otten 2003, 90 Abb. 31. – Abb. 9: Päffgen 1992a, 86 Abb. 23. – Abb. 10: Ristow 2007, 132 Abb. 36. – Abb. 11 Ristow 2007, 135 Abb. 37. – Abb. 12: Ristow 2007, 135 Abb. 38. – Abb. 13: Päffgen 1992a, 93 Abb. 29. – Abb. 14: Ristow 2007, 154 Abb. 44. – Abb. 15: Ristow 2007, 154 Abb. 44. – Abb. 16: Remesal Rodríguez 1995, 125 Abb. 1.
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rakterisierung auf eine Vielzahl von Grabbauten zutrifft, ist der Aussagegehalt des Terminus fraglich und somit sein Nutzen nicht greifbar. Der Terminus ist zwar in den historischen Quellen belegt, jedoch kann nicht erschlossen werden, ob damit eine rechtliche, architektonische oder intentionelle Unterscheidung getroffen wurde. Somit muss aus einer modernen Perspektive heraus eine Eingrenzung des Terminus technicus erfolgen, wenn auf ihn nicht verzichtet werden soll. Dabei muss Grundlage das Wissen sein, dass es eine sichtbare und empfundene Differenzierung zwischen Baustrukturen wie etwa Kollegien, Friedhofskirchen, privaten Grabbauten und Märtyrer-Memorien gegeben hat. Da diese Heterogenität aufgrund fehlender Einrichtungen am Befund meist nicht nachgewiesen werden kann, ist im Allgemeinen eine präzise Charakterisierung von Sepulkralstrukturen schwierig. Im Speziellen lässt dies eine Etablierung des cella memoriae-Begriffs wenig sinnvoll erscheinen, da dieser nur auf eine kleine Gruppe von Bauten mit archäologisch nachweisbarer memoria-Funktion angewandt werden könnte. Sinnvoller wäre etwa die Bezeichnung als Hausgrab für Befunde wie in Xanten und Köln. Sie vermittelt eine Vorstellung der Architektur, trifft darüber hinaus jedoch keine Aussagen über die nicht eindeutigen Befunde. Der Begriff würde damit eine Interpretation des archäologischen Befundes nicht vorwegnehmen. Diese Fallstudie zeigt, dass zum einen eine Verifizierung historischer Quellen durch einen archäologischen Befund vorsichtig formuliert werden muss. Zum anderen führt sie die Problematik von der Anwendung unklar definierter Termini auf Baustrukturen vor. Die Durchmischung der funktionalen und architektonischen Zuordnung kann so zu einer unsauberen und verzerrten Darstellung archäologischer Strukturen führen. Notwendig sind hier klar definierte Fachbegriffe, die dem tatsächlichen Aussagewert der Befunde entsprechen. Bonn
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ÄLTESTER FRÜHCHRISTLICHER FUND AUS AACHEN Eine spätantike Sigillatascherbe mit christlicher Symbolik vom Katschhof
Im Jahr 2011 wurden im Zuge der Vorbereitung des Ausbaus der Fernwärmeversorgung auf dem Aachener Katschhof, unmittelbar südlich des Rathauses, auch spätantike fundführende Schichten angeschnitten1. Ohne an dieser Stelle auf die Bedeutung dieser Befunde im Detail eingehen zu können, sei bereits bemerkt, dass es sich um einen Graben handelt, dessen Verfüllung nach den darin enthaltenen Scherben zu urteilen im Verlauf des 5. Jahrhunderts, wohl gegen Ende seiner ersten Hälfte, angenommen werden darf. Das homogene Fundmaterial stammt jedenfalls nach erster Sichtung aus der zweiten Hälfte des 4. und dem ersten Drittel des 5. Jahrhunderts. Bei der hier vorgestellten Scherbe handelt es sich um eine Oberflächenabplatzung einer so genannten Argonnensigillata mit Rollstempelverzierung, wie sie zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert im Rhein-Maas-Gebiet vorkommen kann. Das feintonige Keramikfragment ist im Bruch und an der erhaltenen Außenoberfläche orange–orange-braun-rot2. Die bekannten Vergleichsbeispiele von mit diesem Rollstempel verzierter Keramik stammen von der kalottenförmigen Schüssel Chenet 3203. Das Besondere ist in diesem Fall aber weder Machart oder Gefäßform, sondern vielmehr die Stempelverzierung. Gut zu erkennen sind neben rahmenden Bestandteilen und Zierfeldern mit geometrischen Mustern auch zwei hochrechteckige Felder von 0,85 × 0,65 cm Größe, in denen ein Kelch und darüber eine Traube zu sehen sind (Taf. 1c). Bei dieser Verzierung handelt es sich um einen Teil eines mit einem Rollstempel aufgetragenen Rapports, dessen Fortsetzung anhand vollständig erhaltener Vergleichsbeispiele gesichert werden kann. Bei diesen vollständig erhaltenen Beispielen wird die Reihe der Motive durch Felder mit einer Taube und einem Kreuz mit oberem Rhobogen fortgesetzt (Abb. 1), sodass der christliche Charakter dieser Verzierungen eindeutig ist. Die Stempel dieser Art werden als Typ Chenet 181 eingeordnet und gehören nach der Chronologie von Wim Dijkman, entwickelt nach den schichtgebundenen Funden aus den Grabungen von Mabro und Derlon in Maastricht, in ihrem ersten Auftreten – kenntlich an der orangen Farbe, auch im Bruch, die auch das Aachener Stück zeigt – in das erste Viertel des 5. Jahrhunderts4. Angefertigt wurden Die Befunde und Funde der Grabungsmaßnahme NW 2011/0066 der Aachener Stadtarchäologie werden an anderer Stelle ausführlich im Rahmen der durch die Stadt Aachen und die RWTH Aachen geförderten Aufarbeitung der Grabungen von Dom und Pfalz vorgelegt, hier wird lediglich das eine Keramikfragment mit seiner für Aachen und das Rheinland bisher einzigartigen Verzierung vorgestellt. 2 Näherungsweise innerhalb folgender Farbgruppen: nach Munsell 5YR, nach RAL 2010 (Signalorange). 1
G. Chenet, La céramique gallo-romaine d’Argonne du IVe siècle et la terre sigillée décorée à la molette (Mâcon 1941). – Vgl. die Form Alzey 1 nach W. Unverzagt, Die Keramik des Kastells Alzey = Mat. zur röm.-germ. Keramik 2 (Frankfurt 1916 bzw. Bonn 1968). 4 W. Dijkman, La terre sigillée décorée à la molette à motifs chrétiens dans la stratigraphie maastrichtoise (Pays-Bas) et dans le nord-ouest de l’Europe: Gallia 49 (1992) 129/72, hier 150. 152; bes. zu den drei an der Machart unterscheidbaren Gruppen S. 151. – Zur weiteren Bearbeitung der so genannten 3
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Ältester frühchristlicher Fund aus Aachen
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Abb. 1. Musterrapporte der christlichen Rollstempelverzierungen von Argonnensigillata des 5. Jahrhunderts aus Maastricht, hier nr. 5. 7. 13f. 19. 28. – Nach Dijkman 1992 (Anm. 4) 133 Fig. 3.
die so gestempelten Gefäße in Chatel-Chéhéry in den Argonnen, dem südlichen Ausläufer der französischen Ardennen5. Die auf den Rollstempeln verwendete christliche Symbolik gibt der gesamten Keramikgattung den Namen: Sigillée Chrétienne. Argonnensigillata durch ein international besetztes Archäologenteam L. Bakker / W. Dijkman / P. van Ossel, Corpus de la céramique sigillée d’Argonne de l’Antiquité tardive: Soc. Franç. étude céra-
mique ant. en Gaule, Actes Congr. Dijon 1996 (Marseille 1996) 423/6. 5 Dijkman 1992 (Anm. 4) 155/8 (Lit.); vgl. W. Hübener, Eine Studie zur spätrömischen Räd-
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Sebastian Ristow
Bemerkenswert ist, dass diese im äußersten Nordosten des spätrömischen Machtbereichs hergestellte Keramik zwar weit über den Produktionsort hinaus Verbreitung gefunden hat6, jedoch im Rheinland bzw. östlich der Maas nur höchst selten aufgefunden worden ist und dort bisher überhaupt erst in Formen ab der Zeit um 440/50 bekannt ist7. Das Aachener Stück belegt jetzt – wenn sich die zurzeit gültige Chronologie dieser Stempel aufrecht erhalten lässt8 – erstmals, dass die hochpreisige Keramik mit christlichen Verzierungen im ersten Drittel des 5. Jahrhunderts, also noch zur Zeit bestehender römischer Macht- und Ordnungsstrukturen, im Ort Aachen Abnehmer gefunden hat. Damit sind verschiedene Themenfelder der aktuellen Forschungen zur Aachener Archäologie berührt. Die jüngsten Funde und das hier vorgestellte Stück zeigen, dass römische Präsenz noch bis in das erste Drittel des 5. Jahrhunderts vorausgesetzt werden darf und dass Ort und Infrastruktur auch bis mindestens in diese Zeit eine gewisse Bedeutung besessen haben dürften. Wenn unter den Aachener Funden jetzt solche des 5. Jahrhunderts dokumentiert sind, dann zeigt dies an, dass für die weitere Erforschung Aachens nunmehr die Lücke zwischen Römerzeit und Frühmittelalter geschlossen werden kann9. Schließlich ist nach der Geschichte des frühen Christentums in Aachen zu fragen und nach der chronologischen Einordnung der Funde und Befunde, die vor christlichem Hintergrund interpretiert werden müssen10. Neben verschiedentlich vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts geäußerten Hypothesen, etwa zum hohen Alter der Aldegundiskapelle11, die jedoch nicht nachprüfbar sind, sind es vor allem Berichte über den anzunehmenden Bestand einer in der Karolingerzeit bereits vorhandenen Kirche, in der Pippin und nach ihm Karl der Große schon vor dem Bau des Domes Gottesdienste gefeiert haben12. Die Diskussion um die Baubefunde, die sich bisher chensigillata (Argonnensigillata): BonnJbb 168 (1968) 241/98, hier 266/8; zum hier vorgestellten Stempel ebd. 267 Abb. 40 nr. 181. – Der Aachener Stempel gehört zu Hübeners Gruppe 8, deren Chronologie von Dijkman spezifiziert wurde. 6 Dazu die Kartierungen bei Dijkman 1992 (Anm. 4). 7 Mit Lit. und Fundorten S. Ristow, Frühes Christentum im Rheinland. Die Zeugnisse der archäologischen und historischen Quellen an Rhein, Maas und Mosel (Münster 2007) 276. 8 Aufgrund des Fehlens der besagten Stempel im Material der einschlägigen spätantiken Fundorte an Rhein, Maas und Mosel nimmt Lothar Bakker allerdings an, dass die Stempel, wie sie aus Maastricht bekannt sind, vielleicht generell erst aus der Mitte des 5. Jahrhunderts stammen (freundliche mündliche Auskunft Lothar Bakker/Augsburg). – Dem steht die Überlegung gegenüber, dass Keramik mit solchen christlichen Stempeln östlich der Maas schlicht keine Abnehmerkreise mehr gefunden hat und deshalb gar nicht aus den Argonnen bis dorthin transportiert worden ist. 9 Einschlägige Funde und Belege bei A. Schaub, Gedanken zur Siedlungskontinuität in Aachen zwischen römischer und karolingischer Zeit: BonnJbb 208 (2008 [2010]) 161/72.
10 Den Befunden ist in der Deutungsqualität hierbei zwar der Vorrang vor den Funden zu geben, sie fehlen aber bisher in Aachen. Zu den Deutungsfragen S. Ristow, Christliches im archäologischen Befund – Terminologie, Erkennbarkeit, Diskussionswürdigkeit: N. Krohn / S. Ristow (Hrsg.), Wechsel der Religionen – Religionen des Wechsels, Tagungsbeiträge der AG Spätantike und Frühmittelalter 5 = Stud. zu Spätant. u. Frühmittelalter 4 (Hamburg 2012) 1/26. 11 R. Pick, Die kirchlichen Zustände Aachens in vorkarolingischer Zeit: Aus Aachens Vorzeit 1 (1888) 3/24; C. Rhoen, Die ältere Topographie der Stadt Aachen (Aachen 1891), bes. 11f. 12 Zum Jahreswechsel 765/66 berichten die Annales regni Francorum über Pippin d. J.: celebravit natalem Domini in Aquis villa et pascha similiter (MG Scr. rer. Germ. 6, 22); Karl der Große hielt sich bereits vor dem Bau der Marienkirche zum Weihnachts- und Osterfest 788/89 in Aachen auf (Reg. Imp. 1, 298b, 301). – Eine nutzbare Kirche ist demnach mindestens kurz nach der Mitte des 8. Jahrhunderts als gesichert vorauszusetzen, die es den beiden hochrangigen Personen jeweils zu den christlichen Festtagen ermöglichte, einen standesgemäßen Gottesdienst zu feiern.
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Ältester frühchristlicher Fund aus Aachen
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nicht in Richtung einer solchen frühen Kirche interpretieren lassen13, ist mit der Aufarbeitung der Altgrabungen und der aktuellen Untersuchungen vom Aachener Dom gerade erst begonnen worden14. Unter den wenigen Funden, die in Aachen bisher in frühchristliche Zusammenhänge gerückt werden, nimmt das neue Sigillatafragment eine Sonderstellung ein. Während der Silberlöffel des 4. Jahrhunderts mit der Aufschrift MAURI VIVAS überhaupt nicht sicher vor christlichem Hintergrund gedeutet werden kann15, gibt es aus Aachen bisher nur frühchristliche Grabinschriften und Fragmente solcher Inschriften, deren Zeitstellung nicht immer genau eingegrenzt werden kann. Der bekannte Helaciusstein, gefunden am 18. April 1912 im gotischen Mauerwerk außerhalb des Domes an dessen Südwestseite, stammt wohl aus wenig späterer Zeit als die hier vorgestellte Scherbe, also vielleicht noch aus dem 5. Jahrhundert. Er weist jedoch keine eindeutig als christlich zu qualifizierenden Inschriftenbestandteile auf16. Die weiteren Aachener Inschriftenzeugnisse mit christlichen Symbolen oder Formularbestandteilen gehören gesichert erst ins Frühmittelalter17, wie auch das zuletzt in den Fundamenten des Domes entdeckte Fragment eines Inschriftensteins mit einem Kreuzsymbol innerhalb der Beschriftung, das aus dem 6. oder 7. Jahrhundert stammt18. Das neue Keramikfragment ist insofern einstweilen der älteste christliche Fund aus Aachen und es zeigt, dass auch schon zu römischer Zeit, die in Aachen wie im gesamten Rheinland sicher noch das erste Drittel des 5. Jahrhunderts umfasst, möglicherweise Christen an diesem zentralen Ort anwesend waren, die als Abnehmer dieses exklusiven Geschirrs in Frage kommen. Selbstverständlich können aber schon aufgrund der geringen Größe dieser Stempel auch andere Erwerber- bzw. Nutzerkreise nicht ausgeschlossen werden. Köln
Ristow 2007 (Anm. 7) 83f. Zuletzt A. Schaub, Neue archäologische Untersuchungen im Aachener Dom: H. Maintz (Hrsg.), Dombaumeistertagung in Aachen 2009, Vorträge zum Aachener Dom = Schriftenr. Karlsverein-Dombauverein 13 (2011) 101/8. – Die Auswertung der Altbefunde und -funde erfolgt zurzeit in einem umfangreichen Forschungsprogramm. Dem Verf. obliegt dabei die Bearbeitung von Spätantike und Frühmittelalter. 15 Ristow 2007 (Anm. 7) 318 nr. 1. 13 14
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16 H. Giersiepen, Die Inschriften des Aachener Doms = Die Deutschen Inschriften 31, Düsseldorfer R. 1 (Wiesbaden 1992) 3 nr. 1. – Die Datierung wird seit der Einordnung von J. Klinkenberg, Frühchristliches aus Aachen und Umgegend: ZsAachenerGeschver 37 (1915) 337/50, hier 340, in das 5. Jahrhundert verlegt, ohne dass dies wirklich zwingend erscheint. 17 Ristow 2007 (Anm. 7) 83f (Lit.). 18 Schaub 2008 (Anm. 9) 165. 168 Abb. 6.
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DAS SCHEITELMOSAIK UND DAS EPIGRAMM DES PAPSTES XYSTUS III (432–440) AM TRIUMPHBOGEN VON S. MARIA MAGGIORE IN ROM* Seit dem Mittelalter wird Santa Maria Maggiore zu den sieben Hauptkirchen Roms gezählt. Am 5. 8. 434 wurde sie durch Papst Xystus III geweiht1. Berühmt ist sie unter anderem für ihre Mosaiken aus der Entstehungszeit. Unsere Aufmerksamkeit gilt den Mosaiken des Triumphbogens, der ehemaligen Apsisstirnwand, speziell aber dem Scheitelmosaik. Es steht im Mittelpunkt des Triumphbogenmosaikzyklus und trägt die Widmungsinschrift »XYSTUS EPISCOPUS PLEBI DEI« (Taf. 5a)2.
I. Einführung 1. Beschreibung des Scheitelmosaiks und seines Erhaltungszustands vor der letzten Restaurierung unter Papst Pius XI (1922–1939)3 Im Scheitel des Triumphbogens sieht man ein vielfarbiges rundes Medaillon, das einen Thron umgibt. Dem mit Perlen und blauen Gemmen reich verzierten Thron mit den Insignien Christi, der von den akklamierenden Apostelfürsten flankiert ist, huldigen in den Wolken vier Lebewesen mit goldenen Kränzen in der Hand: Links vom Medaillon ruhen die Halbfiguren eines Stieres und eines Menschen, rechts von
* Abgekürzt zitierte Literatur: B. Brenk, Die frühchristlichen Mosaiken in S. Maria Maggiore zu Rom (Wiesbaden 1975). F. W. Deichmann, Ravenna. Hauptstadt des spätantiken Abendlandes 2. Kommentar 1. Teil (Wiesbaden 1974); 2. Teil (Wiesbaden 1976); 3. Teil (Stuttgart 1989). J. Engemann, Zu den Apsis-Tituli des Paulinus von Nola: JbAC 17 (1974) 21/46. R. Gryson, Apocalypsis Johannis nach der Vetus Latina = Vetus Latina 26,2 (Freiburg im Breisgau 2000/2003). G. Jeremias, Die Holztür der Basilika S. Sabina in Rom (Tübingen 1980). J. Martin, Der Weg zur Ewigkeit führt über Rom. Die Frühgeschichte des Papsttums und die Darstellung der neutestamentlichen Heilsgeschichte im Triumphbogenmosaik von Santa Maria Maggiore in Rom (Regensburg 2010). G. Steigerwald, Neue Aspekte zum Verständnis der Triumphbogenmosaiken von S. Maria Maggiore in Rom: RömQS 102 (2007) 161/203. –, Das Königtum Mariens in der Literatur und Kunst der ersten sechs Jahrhunderte, Diss. theol. masch. (Freiburg im Breisgau 1965). –, Purpurgewänder biblischer und kirchlicher Personen als Bedeutungsträger in der frühchristlichen Kunst = Hereditas. Studien zur Alten Kirchengeschichte 16 (Bonn 1999).
J. Wilpert, Die römischen Mosaiken und Malereien der kirchlichen Bauten Roms vom IV. bis XIII. Jahrhundert 3. Tafeln. Mosaiken (Freiburg im Breisgau 1916). – / W. N. Schumacher, Die römischen Mosaiken der kirchlichen Bauten vom IV. bis XIII. Jahrhundert (Freiburg im Breisgau 1976) 1 Die Weihe der Kirche durch den Papst ist durch das Weihegedicht des Xystus gesichert (G. B. De Rossi, Inscriptiones Christianae urbis Romae septimo saeculo antiquiores 2,1 [Rom 1888] 71 nr. 42. Das Datum wird durch das Martyrologium Hieronymianum (Acta Sanctorum Nov. 2,2 [1931] 418/9) gestützt; erschlossen von Th. Klauser, Rom und der Kult der Gottesmutter Maria: JbAC 15 (1972) 13046. 123; vgl. noch Martin 147; Steigerwald, Aspekte 200. 2 Wilpert Taf. 70/2; Wilpert/Schumacher 75f Taf. 68/70; C. Cecchelli, I mosaici della basilica di S. Maria Maggiore (Turin 1956) 197f Taf. 48; H. Karpp, Die frühchristlichen und mittelalterlichen Mosaiken in S. Maria Maggiore zu Rom (Baden-Baden1966) Taf. 1/3. 210. 3 Orientierung an der Beschreibung Brenks 15 bzw. 14f für den Erhaltungszustand. Zur Restaurierung ebd. 5.
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Das Scheitelmosaik und das Epigramm des Papstes Xystus III
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ihm die eines Löwen und eines Adlers. Die Apostel tragen einen aufgeschlagenen Codex in der Linken, während ihre Rechte erhoben ist. Die rechteckige Lehne des Thrones ist reich verziert mit Juwelen und Perlen. An ihren oberen Ecken sind auf beiden Seiten zwei Widder-/Löwenköpfe angebracht, die eine goldene Kette mit einem blauen Stein in ihrem Mund tragen. Auf der Sitzbank des Gemmenthrones liegt ein weißes Thronkissen. Vor ihm steht ein hohes goldenes, über die Rückenlehne hinausragendes lateinisches Kreuz, geschmückt mit Perlen und blauen Edelsteinen. Vor seinem Fußende liegt ein Diadem, besetzt mit blauen Steinen und umgeben von einem mit goldenen Gammadia bestickten, schwarzblauen Pallium. Auf dem Suppedaneum befindet sich eine Buchrolle, verschlossen mit sieben Siegeln. Unter der beschriebenen Darstellung verläuft das genannte Epigramm, das weit in die Kirche hinein leuchtet. Die Mittelzone mit dem Thron und den Aposteln ist gut erhalten, ebenso die Gestalt des Paulus. Der Kopf des Petrus fehlt, der von Paulus ist weitgehend noch vorhanden. Von den vier Lebewesen sind nur kleine Reste übrig, gut erhalten ist nur der Löwe und weitgehend sein Goldkranz. Die Inschrift des Xystus ist trotz einiger Schäden gut lesbar.
2. Die biblische Orientierung des Scheitelmosaiks In der Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass sich die Ideengeber dieses Mosaiks hauptsächlich von den Kapiteln 4 und 5 der Johannesoffenbarung inspirieren ließen4. In lateinischer Übersetzung war die griechisch verfasste Johannesapokalypse den Römern sowohl in älteren Versionen bekannt, die heute als »Vetus latina«5 bezeichnet werden, als auch in der neuen Übersetzung der »Vulgata« des Hieronymus († 419 oder 420)6. In der gegenwärtigen exegetischen Arbeit findet die Ansicht immer mehr Zustimmung, dass die »Kapitel 4 und 5 der Johannesoffenbarung eine großartige Schilderung des himmlischen Gottesdienstes sind und den eigentlichen Ausgangspunkt und zugleich die Grundlage der Apokalypse, ja des ganzen Heilsgeschehens, darstellen«7. In den ersten Jahrhunderten der Kirche findet die Johannesoffenbarung in Ost und West ein geteiltes Echo8. Im Westen besteht eine besondere Vorliebe für sie. Hier erscheinen auch die ersten Kommentare9. Größtes Interesse finden die Abschnitte, die sich mit der Wiederkunft Christi und dem 1000jährigen Reich beschäftigen (Apc. 20). Doch sprechen die altlateinischen Schriftsteller kaum von dieser ProblemaÜbersicht: Brenk 16; Martin 128. Text der Vetus-Latina-Übersetzungen: Gryson 240/97. 6 Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem ed. H. Fischer3 (Stuttgart 1983) 1885/7. 7 M. Hengel, Die Throngemeinschaft des Lammes mit Gott in der Johannesapokalypse: TheolBeitr 27 (1996) 159/75, bes. 160; G. Schimanowski, Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes. Die frühjüdischen Traditionen in Offenbarung 4–5 unter Einschluß der Hekhalotliteratur = WUNT 4 5
2. R. 154 (Tübingen 2002); F. Tóth, Der himmlische Gottesdienst in Offenbarung 4–5: Spes Christiana 15/16 (2004/2005) 35/51. 8 O. Böcher, Art. Johannes-Apokalypse: RAC 18 (1998) 631/7; H. Ritt, Art. Offenbarung des Johannes: LThK3 7 (1998) 995/8. 9 W. Bousset, Die Offenbarung Johannis6 = KEK 16 (Göttingen 1906 bzw. 1966) 53/6: Die ältesten Ausleger der lateinischen Kirche. Kommentierende Anmerkungen zu Apc. 4f von altlateinischen Vätern: Gryson 240/97.
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tik, wenn sie die Kapitel 4 und 5 der Offenbarung kommentieren. Vielmehr schenken sie der Himmlischen Liturgie mit der Anbetung Gottes und des Lammes ihre Aufmerksamkeit.
3. Ein Vergleich des Scheitelmosaiks mit dem Text von Apc. 4f 10 Aus der Johannesoffenbarung sind ins Bild übernommen: der im Himmel stehende Thron, die Aureole rings um den Thron, die vier Lebewesen und schließlich die Buchrolle mit den sieben Siegeln. Nicht dargestellt werden: Der ewige Gott auf seinem Thron, das geschlachtete und doch lebende Lamm, die 24 Ältesten, die sieben Feuerfackeln und das gläserne Meer vor dem Thron. Neu hinzu kommen: Das Gemmenkreuz mit dem Juwelendiadem und dem schwarzblauen Pallium auf dem himmlischen Thron, die goldenen Kränze in der Hand der vier Lebewesen, die Apostel Petrus und Paulus mit ihren Codices und das Epigramm des Xystus. Die Künstler haben eine Auswahl aus dem Bibeltext getroffen und neue Elemente hinzugefügt. Man kann davon ausgehen, dass sie dabei von einer bestimmten Idee geleitet waren. Gerade die interessiert in dieser Untersuchung. Dabei stellt sich zunächst die Frage nach der Originalität dieses Konzepts. Ein Blick auf die frühchristlichen Darstellungen, die sich an diesem Bibeltext orientieren, soll darauf zunächst eine Antwort geben.
4. Das Scheitelmosaik von S. Maria Maggiore und die frühchristliche Kunst bis zur Mitte des 5. Jh. Die Künstler von S. Maria Maggiore waren nicht die ersten, die sich von den Kapiteln 4 und 5 der Apc. inspirieren ließen11. Schon in den Mosaiken des Baptisteriums von S. Giovanni in fonte in Neapel (um 400)12 sind ein Sternenhimmel mit dem Monogrammkreuz Christi im Zenit der Kuppel und die vier lebenden Wesen in der Trompenzone zu sehen. Im oberen Teil des Apsismosaiks von S. Pudenziana in Rom (402–417)13 sind die vier Lebewesen am Himmel vor einem Kreuz abgebildet, das sich inmitten der Stadt Jerusalem befindet. Fast gleichzeitig mit den Mosaiken von S. Maria Maggiore entstanden auf der Westwand von S. Sabina in Rom (zwischen 422 und 432)14 ein heute verlorenes weiteres Bild mit apokalyptischem Inhalt15 sowie auf der Holz10 Nach Brenk 16; Steigerwald, Purpurgewänder 44. 11 Überblick: Deichmann, Kommentar 3, 304/9; Brenk 16/9. 12 Wilpert Taf. 29. 33/5. 39; Wilpert/Schumacher 31/7 Abb. 11; Taf. 8. 12/4. 18. 13 Wilpert Taf. 42/4; Wilpert/Schumacher Taf. 20/2. 14 Zur Datierung Deichmann, Kommentar 3, 306. 15 G. Ciampini, Vetera monimenta2 1. A primo Christi saeculo ad quintum (Rom 1747) Taf. XLVIII;
Brenk Abb.10; vgl. 34110. In der oberen Zone der Westwand waren die vier Lebewesen abgebildet, darunter links und rechts neben den Fenstern Petrus und Paulus. Zur Zeit, als die Zeichnung entstand, war über Petrus die Hand Gottes zu sehen, die ein Buch zu ihm hinhielt. Vielleicht war ursprünglich auch über Paulus dasselbe Motiv angebracht. Darunter, in der untersten Zone, sind Frauengestalten in Purpurkleidern nach den Beischriften als Symbole der Juden- und Heidenkirche dargestellt.
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tür dieser Kirche ein Relief (Taf. 5d), das den Gottessohn in himmlischer Glorie, umgeben von den vier Lebewesen zeigt16 (431–433). Ferner sind in einer Lünette der Kapelle S. Matrona in S. Prisco bei Capua Vetere (vor der Mitte des 5. Jh.17) zwei lebende Wesen zu sehen, die den apokalyptischen Thron umgeben18. Dazu kommen weitere apokalyptische Motive in den anderen Lünetten19. Für die erste Hälfte des 5. Jh. ist noch das Mosaik im Vierungsgewölbe des sog. Mausoleums der Galla Placidia in Ravenna (um 450) zu nennen, mit den vier lebenden Wesen und einem Kreuz am Sternhimmel20. Dass das verlorene Apsismosaik der Lateranbasilika (ca. 440) apokalyptische Motive zeigte21, muss eine Hypothese bleiben22. Es lassen sich zum Scheitelmosaik in seiner Gesamtheit keine Parallelen finden, so dass man es als originale Schöpfung ansehen muss23, auch wenn für eine Reihe von einzelnen Bildelementen Entsprechungen vorhanden sind.
5. Forschungsstand und Zielsetzung In den letzten Jahrzehnten gewann ein eschatologisches24, auf die Wiederkunft Christi bezogenes Verständnis des Scheitelmosaiks an Zustimmung25. Hierfür maßgebend waren die Arbeiten Josef Engemanns26. Er begründet dieses Verständnis mit dem ikonographischen Gesamtzusammenhang. In mittelalterlichen Darstellungen komme deutlich zum Ausdruck, dass Apc. 4f im Kontext mit Apc. 20,11/5 und Mt. 24f gesehen wurde. Dasselbe dürfe man für die frühchristliche Kunst voraussetzen. Dabei hebt er die Vielschichtigkeit der Bildaussage hervor, also neben der Wiederkunft Christi dessen zeitlose Herrschaft und aktuelle Gegenwart in der Liturgie. Dieser Ansicht habe auch ich mich in einer früheren Untersuchung angeschlossen27. Im Laufe der weiteren Arbeit erkannte ich, dass die bisherige Forschung, die sich auf das Motiv des leeren Thrones mit seinen Beigaben konzentrierte, ergänzt
16 Rom, S. Sabina, Holztürrelief, Parusie: Jeremias 80/8 Abb. 14; Taf. 68f. 17 Für diese Datierung plädiert Deichmann, Kommentar 3, 308. 18 Wilpert Taf. 77; Wilpert/Schumacher Taf. 84. 19 Beschr. von Brenk 17; Wilpert Taf. 76; Wilpert/Schumacher Taf. 83. 20 F. W. Deichmann, Frühchristliche Bauten und Mosaiken von Ravenna2 (Wiesbaden 1995) Taf. 19. 21 T. Buddensieg, Le coffret en ivoire de Pola, Saint-Pierre et le Latran: CahArch 10 (1959) 177/ 80 Abb. 30. 22 H. Brandenburg, Ein frühchristliches Relief in Berlin: RömMitt 79 (1972) 13844: »Auch wenn die Rückführung der Motive des Kästchens auf eine Mosaikkomposition wahrscheinlich ist, bleibt die Frage nach den Details doch offen«. 23 Brenk 16: »Die spezifische Motivkombination von S. Maria Maggiore findet sich in keinem anderen Monument wieder«.
24 Ich verwende im Unterschied zu ›apokalyptisch‹ den Begriff ›eschatologisch‹ für die Wiederkunft Christi mit den Ereignissen, die der Zweiten Ankunft des Herrn unmittelbar vorausgehen oder ihr folgen, zB. das Weltgericht, ›apokalyptisch‹ für all das, was zur Johannesoffenbarung gehört und sich von den Ereignissen der Wiederkunft unterscheidet. 25 Martin 170; M. R. Menna, I mosaici della basilica di Santa Maria Maggiore: M. Andaloro / S. Romano, La pittura medievale a Roma. Corpus. La pittura medievale a Roma 1. L’orizzonte tardoantico e le nuove immagini 312–468 (Mailand 2006) 340f; J. Engemann, Auf die die Parusie hinweisende Darstellungen in der frühchristlichen Kunst: JbAC 19 (1976) 149/51; ders., Art. Thronbild: LexMA 8 (1997) 743; Brenk 19; Th. v. Bogyay, Art. Thron (Hetoimasia): LexChristlIkonogr 4 (1972) 307 nennt als Grundthema »die Parusie als ›das Offenbarwerden des erhöhten Herrn in seiner Glorie‹«. 26 S. vorausgehende Anm. 27 Steigerwald, Aspekte 191f.
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werden sollte durch eine umfassendere Analyse des Bildkontextes und seiner Implikationen, begleitet von einem Blick auf das zeitgenössische, also das altlateinische Verständnis des Offenbarungstextes.
II. Ein erneuter Versuch, die Ikonographie des Scheitelmosaiks zu verstehen 1. Betrachtung der Bildelemente im Einzelnen: Der Thron Gottes mit seinen Attributen In der ikonographischen Forschung28 bezeichnet man den leeren Thron, der mit symbolischen Gegenständen belegt ist, in Anlehnung an Ps. 9,8f; 89,15 und 103,19 als »Hetoimasia« (Vorbereitung). Thomas von Bogyay macht darauf aufmerksam, dass dieses Thron-Symbol äußerst vielschichtig ist; im allgemeinen Sinne sei es ein Symbol der Anwesenheit Gottes, der spezielle Sinngehalt hänge jedoch von der Art der Symbole auf dem Thron und von den umgebenden Figuren ab. von Bogyay warnt davor, den Thron nur als Thron des Weltgerichts zu definieren29. Die Geschichte des leeren Thrones in Verbindung mit verschiedenen Gegenständen reicht bis in die hellenistische Epoche zurück30. Seine Verwendung mit den Insignien der Götter im Götter- und Herrscherkult bildet seine Vorgeschichte. Über den römischen Kaiserkult, das Hofzeremoniell und die kaiserliche Ikonographie fand der leere Thron Eingang in die frühchristliche Kunst. Das erste christliche Beispiel, vielleicht schon aus dem dritten Jahrhundert, zeigt auf einem Ring einen leeren Thron mit Kranz und Monogramm Jesu Christi, gestaltet aus dem vereinten Ι Χ und der Gravur »ΙΧΥΘ« auf der Thronlehne (3./4. Jh.)31. Weitere Beispiele folgten32. Um den Sinngehalt dieses Thronbildes zu erheben, sollen Thron und Beigaben im Detail untersucht werden.
28 Th. v. Bogyay, Art. Hetoimasia: RLByzKunst 2 (1974) 1189/92; ders., Thron (o. Anm. 25) 305/9. 29 Ebd. 306. 30 A. Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche3 (Darmstadt 1980) 60f; A. Grabar, L’empereur dans l’art byzantin = Publications de la Faculté des lettres de l’Université de Strasbourg 75 (Paris 1936 bzw. London 1971) 199f; O. Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell (Jena 1938) 32/4; v. Bogyay, Thron (o. Anm. 25) 305f; ders., Hetoimasia (o. Anm. 28) 1192/4. 31 F. J. Dölger, Ἰχθῦς 1. Das Fischsymbol in frühchristlicher Zeit2 (Münster 1928) 343/5 nr. 73 Taf. III 15. 15a. 32 Ein Sarkophag des 4. Jh. aus Tusculum in Frascati, Villa Taverna-Parisi, zeigt einen Thron mit einem
Kranz, in den ein Christusmonogramm einbeschrieben ist: G. Wilpert, I sarcofagi antichi 1 (Rom 1929) 3 Abb. 1; Berlin, Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst, Marmorrelief, Thron mit Diadem und Chlamys: A. Effenberger / H. G. Severin, Das Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst zu Berlin (Mainz 1992) 108f nr. 32 mit Abb; Brandenburg (o. Anm. 22) 123/54 Taf. 66. 68,1; Kapelle der hl. Matrona in S. Prisco bei Capua vetere, Thron mit der Siebensiegelrolle (vor Mitte 5. Jh.): Wilpert, Taf. 77; Wilpert/Schumacher 322 Taf. 84; Elfenbeinkästchen aus Pola, leerer Thron mit einem Kissen und einem Tuch: Buddensieg (o. Anm. 21) 157/95 Abb. 47/50; Ravenna, Kuppelmosaik des Baptisteriums der Arianer, Thron mit Kreuz und darauf gelegt ein Purpurpallium: Wilpert Taf. 101; Wilpert/Schumacher 328 Taf. 100.
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a. Der Thron Gottes an sich (Taf. 5b) Im Vergleich mit frühchristlichen Bildern vom apokalyptischen Thron33 ist der Thron Gottes in S. Maria Maggiore einzigartig34. Seine außergewöhnlichen Charakteristika sind: der fast durchweg blaue Edelsteinbelag (Jaspis, Hyazinthe, Saphire)35, die seitlich angebrachten Löwenköpfe und die Bildnisse von Petrus und Paulus an den Thronknäufen. Die blauen Steine entsprechen wohl der Beschreibung des Aussehens Gottes im Bibeltext: »und auf dem Thron saß einer und der darauf saß, war seinem Aussehen nach wie ein Jaspis und Sarder (Karneol)« (Apc. 4,2f). Altlateinische Kommentare beschreiben den Jaspis als wasserblauen Stein36. Er könnte also für den Schmuck am Thron gewählt sein, um diesen als Thron Gottes zu kennzeichnen. Der Sarder (Karneol) als weiterer im biblischen Text erwähnter Edelstein findet keine Verwendung, vielleicht, weil er mit seiner blutroten37 Farbe an die Farbe des kaiserlichen Blattapurpurs38 und damit an den Thron des Kaisers erinnert39. Für die seitlich angebrachten Löwenköpfe gab es, wie schon André Grabar40 feststellte, Parallelen am Thron der Dea Roma (Taf. 5c). Wahrscheinlich dienten sie als Vorbild. Man findet sie auch am Thron der Constantinopolis 41. Sie scheinen im Prozess der Angleichung des Münzbildes der Constantinopolis an dasjenige der Roma vom Thron der Roma übernommen worden zu sein42. Dort sind sie allerdings an der Sitzbank angebracht. Für die Pendilien gibt es keine exakten Parallelen43. Die Bildnisse der Apostelfürsten an den Handknäufen der Armlehnen finden ihre Vorbilder, wie Beat Brenk beobachtete, in den Clipei an der Sitzbank der Sella curulis des Consuls auf Consulardiptychen mit den Bildern der Roma und Constantinopolis44. Derartige Clipei sind auch an den apokalyptischen Thronen in der Kapelle der hl. Matrona in S. Prisco bei Santa Maria Capua Vetere45 zu sehen. Es sind jedoch dort nicht die Bildnisse der Apostelfürsten wie in S. Maria Maggiore, sondern ein Christusmonogramm.
33 Vergleichsbeispiele: vorausgehende Anm.; vgl. Brenk 16f; v. Bogyay, Thron (o. Anm. 25) 306/8. 34 Martin 169 begründet eingehend, warum die Ansicht Brenks 15, dieser Thron entspreche dem Thron Christi in der Magierszene, nicht zutrifft. 35 Nur die Thronstützen zeigen Smaragde. Bei der Bestimmung der Farben orientiere ich mich ausschließlich an Wilpert Taf. 70/2 und nicht an Fotos späterer Publikationen, weil sie das restaurierte Bild zeigen. 36 AN Apc. 4,3 (8 = L.M.R. 73,132) »iaspis colorem habet quasi maris« (Gryson 245 Sp. 2). 37 Ebd. »sardius quasi sanguinis«. 38 Zu dieser speziellen Purpursorte G. Steigerwald, Die Purpursorten im Preisedikt Diokletians vom Jahre 301: ByzForsch 15 (1990) 234/7. 39 Steigerwald, Purpurgewänder 1f: Es geht wohl darum, den Unterschied des Gottesthrones zum Thron des Kaisers deutlich zu machen. 40 Grabar (o. Anm. 30) 215f mit Anm. 4. Er weist hin auf das Silbermultiplum des Priscus Attalus (Taf.
5c; 409/410 nC.): H. Cohen, Description historique des monnaies frappées sous l’empire romain 8 (Paris 1892 bzw. Graz 1955) 205 nr. 5; vgl. R. A. G. Carson / J. P. C. Kent / A. M. Burnett (Hrsg.), The Roman imperial coinage (RIC) 10. The divided empire and the fall of the western parts AD 395–491 (London 1994) 344 nr. 1408 Taf. 43. 41 Belege G. Bühl, Constantinopolis und Roma. Stadtpersonifikationen der Spätantike (Zürich 1995) 649. 42 Ebd. 61/77. Das entgeht Martin 169. 43 Brenk 1940. 44 Diptychon des Anastasius, Konstantinopel 517: W. F. Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters3 (Mainz 1976) 36 nr. 21 Taf. 9,21. Zu den Bildern der Roma und Constantinopolis Bühl 35. 45 S. Prisco, Kapelle der hl. Matrona in S. Prisco bei Capua Vetere: Wilpert Taf. 77; Wilpert/Schumacher 322 Taf. 84.
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Bemerkenswert ist, dass der Künstler nicht irgendeinen Herrscherthron als Sitz des Allerhöchsten verwendet, sondern ihn mit einem Charakteristikum des Thrones der Roma, den seitlich angebrachten Löwenköpfen, ausstattet. Diese Kombination ist einmalig in der frühchristlichen Kunst. Der Gemmenthron war in der Spätantike eines der Hauptinsignien kaiserlicher Herrschaft46. Der Thron der Roma im Speziellen war nach der Bildgeschichte des Römischen Reiches Sinnbild der Stadt Rom und des Imperium Romanum mit seinem imperialen, militärischen, kulturellen weltweiten Herrschaftsanspruch47. Wenn der gekreuzigte und auferstandene Christus in Gestalt des Gemmenkreuzes auf dem Thron der Roma dargestellt wird, besagt das, dass nicht mehr die Dea Roma, sondern Jesus Christus der Herrscher über die Stadt und ihr Imperium ist. In diese Herrschaft sind auch Petrus und Paulus einbezogen. Zum Zeichen dessen sind wohl ihre Bildnisse am Thron der Roma und des Christus angebracht. Die Apostelfürsten können hier, wie wir sehen werden, als Gründer der christlichen Stadt Rom48 und darüber hinaus als Repräsentanten der Gesamtkirche49 fungieren. In diesem Thronbild werden Elemente einer neuen christlichen Romidee sichtbar, wie sie schriftlich erst später bei Papst Leo dem Großen (440–461) nachweisbar sind. Leo wirkte jedoch als Erzdiakon bereits zur Zeit der Präzisierung50 des Programms der Mosaiken von S. Maria Maggiore mit großem Einfluss in Rom51. Er war wohl einer der Ideengeber52 des Mosaikzyklus. Nach seinen Schriften war die heidnische römische Reichsidee mit der Dea Roma als Zentrum für ihn tot. Rom und seine weltweite Herrschaft gründet Leo vielmehr auf Jesus Christus. An der Spitze des Reiches steht
46 Alföldi (o. Anm. 30) 243/5; J. Engemann, Art. Thron: LexMA 8 (1997) 738f; P. Schreiner, Art. Thron in Byzanz: ebd. 741f; Engemann, Art. Thronbild: ebd. 743; E. Hug, Art. Thronos: PW 6A,1 (1936) 613f. 47 B. Kleer, Roma auf Kontorniaten: Spätantike und frühes Christentum, Ausstellungskat. Frankfurt/Main, Liebieghaus (1984) 73f; R. Mellor, The goddess Roma: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2,17,2 (Berlin/New York 1981) 1017. 48 Belege s. Anm. 55. 49 V. Saxer, Le culte des apôtres Pierre et Paul dans les plus vieux formulaires romains de la messe du 29 juin: Saecularia Petri et Pauli = Studi di Antichità Cristiana 28 (Città del Vaticano 1969) 232f. 50 Bestimmte Bildelemente des Triumphbogenzyklus und Umstände des nestorianischen Streits machen für die Planung und Verwirklichung des Bildprogramms eine Zeitspanne vom Herbst 430 bis zur Weihe am 5. August 434 wahrscheinlich (Steigerwald, Aspekte 199/201). Man darf voraussetzen, dass man schon seit Beginn der Bauzeit der Basilika, wahrscheinlich unter Cölestin I (422–432), an einem Entwurf für das Bildprogramm arbeitete. Wenn nach dem ursprünglichen Titel der Kirche »ad sanctam Mariam« dabei die Jungfrau Maria
eine Rolle spielte, bot sich die Kindheit Jesu als Bildprogramm an. Diesen Entwurf, aber auch die ersten Bilder der Schiffsmosaiken konnte man dann unter dem Eindruck der Auseinandersetzung mit Nestorius verändern. Der Name der Basilika ist nicht direkt überliefert, sondern wird vom Liber pontificalis im Zusammenhang des Baptisteriums der Kirche erwähnt, das Xystus gebaut haben soll: »(Xystus) fecit et fontem baptisterii ad sanctam Mariam« (Lib. pont. 46,7 [1, 234 Duchesne]). 51 Sein Einfluss muss bedeutend gewesen sein: beim Streit gegen Nestorius veranlasst er Cassianus zu seiner Streitschrift »De incarnatione Domini contra Nestorium«, 431 versichert sich Kyrill v. Alexandrien († 444) seiner Unterstützung in seiner Gegnerschaft gegen einen Patriarchatsrang Jerusalems. Beim Tod Xystus’ III 440 war er in politischer Mission in Gallien und wurde in Abwesenheit zum Nachfolger gewählt (H. Arens, Art. Leo I.: LThK3 6 [1997] 820/ 2). 52 Brenk 39: »Damit gewinnt die These an Wahrscheinlichkeit, daß die Mosaiken am Triumphbogen, namentlich das Thronbild und die Inschrift Sixtus III vielleicht unter Anleitung Leos d. Gr. zusammen geplant und inhaltlich aufeinander abgestimmt worden sind«.
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Christus53, »in dessen Vollmacht der Kaiser regiert, von dem aber auch der Papst seine Autorität herleitet«54. Leo sieht auch die Urbs in einem völlig neuen Licht. Für ihn existiert die heidnische Hauptstadt, die durch Romulus und Remus entstand, nicht mehr. Durch Petrus und Paulus wurde sie neu gegründet. »Diese sind es«, sagt Leo in einer Predigt zum Fest der Apostelfürsten Petrus und Paulus, Rom vor Augen habend, »die dich zu solchem Ruhm erhoben haben, so dass du eine heilige Gemeinde, ein auserwähltes Volk, eine priesterliche und königliche Stadt und wegen des (Bischofs-) Sitzes des hl. Petrus zur Hauptstadt der Welt wurdest, so dass du durch die christliche Religion deine Herrschaft weiter ausbreitest als einst durch deine weltliche Macht«55. Mit den Worten von Klaus Schatz kann man dazu bemerken: »Jetzt verbindet sich der Geist der ›Roma aeterna‹ – Rom als caput mundi – mit dem Rom der Apostel«56. Entsprechende Deutungen des apokalyptischen Thrones sucht man bei den zeitgenössischen altlateinischen Kommentatoren des Apokalypsetextes vergeblich57.
b. Die Attribute des himmlischen Thrones: Das Gemmenkreuz, das Juwelendiadem, das Pallium, die Siebensiegelrolle und die Mandorla Das Kreuz auf dem Bild ist nicht das blanke Kreuz der historischen Kreuzigung wie auf einem Relief der fast gleichzeitig (zwischen 431 und 433)58 entstandenen Holztür von S. Sabina in Rom (Taf. 5d)59 und auf dem zwischen 420 und 430 geschaffenen Passionskästchen in London60, sondern ein Gemmenkreuz wie in der Apsis von S. Pudenziana in Rom (402–417)61, jedoch erheblich kleiner. Das Kreuz als solches bezeichnete zunächst die schmachvollste Hinrichtungsart der Antike und dann für Christen Christi Kreuzestod und sein furchtbares Leiden. Durch den Schlachtensieg Kaiser Konstantins des Großen († 337) im Zeichen des Kreuzes62 an der Milvischen Brücke 312 »wird das Kreuz hoffähig und kaiserliches P. Stockmeier, Leo I. des Großen Beurteilung der kaiserlichen Reichspolitik = Münchener Theologische Studien I, Histor. Abteilung 14 (1959) 45f (mit Belegen) u. ö. 54 P. Stockmeier, »Imperium« bei Papst Leo dem Großen: Studia Patristica 3 = TU 78 (1961) 419. 55 »Isti sunt, qui te ad hanc gloriam provexerunt, ut gens sancta, populus electus, civitas sacerdotalis et regia, per sacram beati Petri sedem caput totius orbis effecta, latius praesideres religione divina quam dominatione terrena« (Leo M. serm. 69,1 [SC 200, 48 Dolle]). 56 K. Schatz, Der päpstliche Primat. Seine Geschichte von den Ursprüngen bis zur Gegenwart (Würzburg 1990) 47. 57 In den kommentierenden Vetus-Latina-Texten zu Apc. 4,6 wird gesagt: der Thron sei die Kirche (BEA Apc pr 3,3,17 [281= R.-P. 467,16; Gryson 253 Sp. 2, Mitte]; BED Apc 1,5,53 [281; Gryson 254 Sp. 1]) oder der Thron des Gerichts (CAE Apc. 3 [220,2; Gryson 254 Sp. 1]; HI Apc 4,2 [49,5; Gryson 254 Sp. 2]; PRIM cap 1 [49,78; Gryson 255 Sp. 1]). 53
Jeremias 107. Ebd. 80/8 Taf. 68 Abb. 14. 60 London, British Museum (Volbach [o. Anm. 44] 82 nr. 116 Taf. 61). 61 Wilpert Taf. 42/4; Wilpert/Schumacher Taf. 20/2; W. F. Volbach / M. Hirmer, Frühchristliche Kunst (München 1958) Abb. 130; Steigerwald, Purpurgewänder 26/38. 62 Laktanz († wohl 325) sprach von einem »caeleste signum dei« (mort. pers. 44,5f [CSEL 27,2, 223,17 Brandt/Laubmann] und meinte das Chrismon, während Eusebius eine Kreuzerscheinung am Tag (vit. Const. 1,28 [Fontes Christiani 83, 182,13f Schneider]) von der Traumvision des Namens Christi (ebd. 1,29 [184,4/10 Schneider]) unterscheidet. Vgl. Ch. Ihm, Die Programme der christlichen Apsismalerei vom vierten Jahrhundert bis zur Mitte des achten Jahrhunderts = Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 4 (Wiesbaden 1960) 8737. 58 59
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Schutzpanier, weil es sich als siegwirkend erwiesen hat«63. Indem es sich die kaiserliche Symbolsprache aneignete64, wurde das Kreuz in der frühchristlichen Kunst zum Zeichen des Sieges65 Christi über den Tod, Satan und die Sünde66. Den Charakter des Siegeszeichens heben in unserem Mosaik die verbreiterten Enden des Querbalkens zusätzlich hervor67. Durch den Edelsteinbelag erinnert das Kreuz an ein kaiserliches Insigne68 und wird zum Herrschaftszeichen69. Das Kreuz ist Sinnbild des Todes und der Auferstehung Christi. »Der innere Zusammenhang der beiden zeitlich auseinanderliegenden und in ihrem äußeren Vorgange so gegensätzlichen Ereignisse des Sterbens und der Auferstehung Christi ließ sich nicht in einem einzigen Bilde von historisierendem Realismus wiedergeben, sondern nur in einem Sinnbild«, stellt Eduard Stommel70 fest. Somit symbolisiert das Gemmenkreuz den gekreuzigten und auferstandenen Christus. Man sollte beachten, dass ausschließlich der blaue Stein (Jaspis, Hyazinth, Saphir), der den Thron Gottes schmückt, für das Kreuz Verwendung findet. Dadurch kann auf die göttliche Würde dieses Siegers hingewiesen werden. Es bleibt jedoch offen, ob dem Gemmenkreuz des Scheitelmosaiks ein eschatologischer Charakter eignet und es als Zeichen der Wiederkunft nach Mt. 24,3071 verstanden werden kann. Für diese Deutung fehlen eindeutige Merkmale wie der Lichtglanz bei der Kreuzerscheinung72, auch ein Schweben des Kreuzes73. Der Goldglanz allein kann kaum ein sicheres Kennzeichen sein74, weil das Kreuz Christi auch in anderem Kontext golden dargestellt ist75.
63 E. Dinkler / E. Dinkler-v. Schubert, Art. Kreuz: RLByzKunst 5 (1995) 40. 64 S. Heid, Art. Kreuz: RAC 21 (2006) 1124; E. Peterson, Frühkirche, Judentum und Gnosis (Freiburg im Breisgau 1959) 34f. 65 Hieronymus nennt das Kreuz »vexillum victoriae triumphantis« (comm. in Mt. 24,30 [PL 26, 187B]); vgl. Brenk 19; zum Ganzen E. Dinkler, Bemerkungen zum Kreuz als Tropaion: Mullus, Festschr. Th. Klauser = JbAC Erg.-Bd. 1 (Münster 1964) 71/8; vgl. J. Kollwitz, Oströmische Plastik der theodosianischen Zeit = Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 12 (Berlin 1941) 137. 66 Zum Ganzen P. Stockmeier, Theologie und Kult des Kreuzes bei Johannes Chrysostomus: TrierThStud 18 (1966) 68/73. 67 Zu den verbreiterten Enden des Kreuzes als Charakteristikum des Siegeszeichens Dinkler, Bemerkungen 71/4. 68 Alföldi (o. Anm. 30) 183. 288 s. v. Edelsteinverzierung. Kaiser Leo I (457–474) hat dem Kaiser und seinem Hause »margaritae«, »smaragdi«, »hyacinthi« in einem Gesetz reserviert und sie allen anderen Personen im Reiche verboten »Nulli prorsus liceat in frenis et equestribus sellis vel in balteis suis margaritas (Perlen) et smaragdos (Smaragde) et hyacinthos (Jaspis, Saphir) aptare posthac vel inserere, aliis autem gemmis frena et equestres sellas et balteos suos privatos exornare permittimus« (Cod. Iust. 11,12,1). Auch der Edelsteinbesatz von Kleidern, von Schuhen, des Nimbus und des Thrones war dem Kaiser vorbehalten.
69 So nennt es Joh. Chrysostomus, de cruce et latrone 1,4 (PG 49, 403 unten); vgl. Kollwitz, Oström. Plastik 139. 137. 70 E. Stommel, Beiträge zur Ikonographie der konstantinischen Sarkophagplastik = Theophaneia 10 (Bonn 1954) 76. 71 So Ihm (o. Anm. 62) 91; V. Quarles van Ufford, Bemerkungen über den eschatologischen Sinn der Hetoimasia in der frühchristlichen Kunst: BullAntBesch 46 (1971) 200; E. Dinkler-v. Schubert, Art. Kreuz: LexChristlIkonogr 2 (1970) 578. 72 Für Nola bezeugt bei Paulinus: »crucem corona lucido cingit globo« (ep. 32,10 [CSEL 29, 286,11 de Hartel]); sonst bei Joh. Chrys. hom. in illud, quod dicebant Iudaei (Joh. 7,15) 3 (PG 59, 649); Rom, S. Sabina, Holztürrelief: Die Parusie (Jeremias 83/5 Taf. 69 Abb. 14); dazu Dinkler-v. Schubert, Art. Kreuz 578: »unter dem erhöhten Herrn schwebt v. oben herab ein K(reuz) ›in Art eines Kometen‹« (nach B. Brenk, Tradition und Neuerung in der christlichen Kunst des 1. Jahrtausends [Wien 1966] 60); Ravenna, Kuppelmosaik des sog. Mausoleums der Galla Placidia (Deichmann, Bauten [o. Anm. 20] Taf. 19), dazu Peterson, Frühkirche (o. Anm. 64) 3244. 73 Dieses Kreuz schwebt nicht frei (Engemann, Apsis-Tituli 43144). 74 So Peterson, Frühkirche 3344. 75 Ravenna, Baptisterium der Arianer, Kuppelmosaik (Wilpert Taf. 101; Wilpert/Schumacher Taf. 100): nicht Parusie Christi, sondern seine Investitur (s. Steigerwald, Purpurgewänder 46).
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Christus hat also als Gekreuzigter und Auferstandener auf dem Thron Gottes Platz genommen, nimmt damit an Gottes Herrschaft teil und ist im Zeichen der Roma auch Herrscher über das Imperium Romanum und seine Hauptstadt. Die weitere Beigabe, das Juwelendiadem, besteht aus einem festen, perlengesäumten, goldenen Kronreif, besetzt mit goldgefassten, blauen Steinen (Jaspis, Hyazinthen, Saphiren) zwischen den Perlensäumen. Dieser Kopfschmuck darf nicht mit einem Goldkranz gleichgesetzt werden, den etwa die Hand Gottes in anderen Denkmälern über Christus bzw. sein Symbol hält76. Das Diadem hat keine Zweigstruktur. Diademe mit einem festen Kronreif finden sich erstmals gegen Ende des 4. Jh. unter den spätrömisch-frühbyzantinischen Kaiserdiademen, die ebenfalls perlengesäumt und mit verschiedenartigen Edelsteinen belegt sind77. Das fehlende Stirnjuwel spricht nicht gegen diese Zuordnung. Es gibt auch Kaiserdiademe ohne dasselbe78. Das Perlendiadem auf dem Gottesthron ist also ein spätrömisches/frühbyzantinisches Augustusdiadem und zeichnet den Gekreuzigten als kaiserlichen Herrscher aus. Das Juwelendiadem war seit der Alleinherrschaft Konstantins des Großen im Jahre 324 neben der Purpurchlamys das wichtigste Insigne des spätrömischen Kaisers79. Es ist nicht das erste Beispiel solch einer kaiserlichen Ehrung Christi. Den wohl frühesten bekannten Beleg bietet die Berliner Marmortafel80, die ursprünglich zur Wandverkleidung einer Kirche gehörte. Jedoch ist zu beachten, dass im Scheitelmosaik erstmals der Gekreuzigte und Auferstandene auf himmlischem Thron gekrönt wird und damit an der Herrschaft des Vaters teilnimmt81. Das weitere Attribut ist das schwarzblaue Pallium. Das Pallium ist als solches erkennbar durch die (goldenen) Gammadia82. Seine Farbe entspricht der Farbe des Hyazinthpurpurs83, der am Triumphbogen in imperialen Szenen den kaiserlichen schwarzroten Blattapurpur vertritt84. Das blattapurpurne Pallium für Christus in S. Maria Maggiore war für Rom keine Neuschöpfung. Es war schon im originalen Pallium Christi im Apsismosaik von S. Pudenziana85 (402–417) zu sehen, wird aber für das Christusbild bereits der Zeit Theodosius’ des Großen (379–395) vermutet86. Allerdings ist in Verbindung mit dem leeren Thron kein früheres gesichertes Beispiel bekannt als das in S.
76 Beispiel: Neapel, S. Giovanni in fonte, Kuppelmosaik (Wilpert Taf. 29; Wilpert/Schumacher Taf. 8). 77 K. Wessel / E. Piltz / C. Nicolescu, Art. Insignien: RLByzKunst 3 (1978) 378f; M. Restle, Art. Herrschaftszeichen: RAC 14 (1988) 953; zB. Istanbul, Archäologisches Museum, Statue Valentinians II (R. Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts von Constantinus Magnus bis zum Ende des Westreichs = Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 8 [Berlin/Leipzig 1933] 196 Taf. 92). 78 Wessel/Piltz/Nicolescu 381: Washingtoner Tafel, Konstantin I; K. Weitzmann, Ivories and steatites = Catalogue of the Byzantine and early mediaeval antiquities in the Dumbarton Oaks Collection 3 (Washington, D.C. 1972) 58/60 nr. 25. 79 R. Delbrueck, Der spätantike Kaiserornat: Die Antike 8 (1932) 15/8; Alföldi (o. Anm. 30) 26 und Belege bei vorvorhergehender Anm.
80 Berlin, Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst, Marmorrelief (Brandenburg [o. Anm. 22] 123/54 Taf. 66. 68,1): Teil einer Wandverkleidung; Steigerwald, Purpurgewänder 42f. 81 Es ist auch noch darauf aufmerksam zu machen, dass im frühchristlichen Christusbild eine Distanz zum offiziellen Kaiserbild konsequent eingehalten wird: der Christus-Basileus wurde so gut wie nie mit dem Juwelendiadem auf dem Haupt dargestellt. 82 Steigerwald, Purpurgewänder 43. 83 Zu dieser speziellen Purpursorte Steigerwald, Purpursorten (o. Anm. 38) 255168. 84 Steigerwald, Purpurgewänder 43294. 85 Wilpert Taf. 42/4; Wilpert/Schumacher Taf. 20/2: Christus war im Original nicht wie heute mit einem goldenen, sondern mit einem blattapurpurnen Kostüm bekleidet: Steigerwald, Purpurgewänder 27f. 86 Ebd. 66f.
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Maria Maggiore87. Erst wieder in den Kuppelmosaiken des Dombaptisteriums (430– 458)88 und des Baptisteriums der Arianer (um 500) in Ravenna89 findet man ein Purpurpallium in kleinerem Format90. Es ist bemerkenswert, dass im Scheitelmosaik das kaiserliche Juwelendiadem nicht mit der kaiserlichen Chlamys wie auf der Berliner Marmortafel, sondern mit einem Purpurpallium verbunden ist. Bald nach dem Beginn des 5. Jh. findet sich in den bekannten Christusbildern die Purpurchlamys nur noch in Siegesszenen, aber nicht im Repräsentationsbild91. Die Purpurchlamys wird hier gemieden, und an ihrer Stelle avancierte das blattapurpurne Palliumkostüm (Pallium kombiniert mit einer Dalmatica/Tunica) bzw. das blattapurpurne Pallium allein zum Insigne des Königtums Christi, das ihm auf Jahrhunderte allein vorbehalten blieb92. Das blattapurpurne Pallium ist Insigne seiner Königsherrschaft93 und demonstriert seine königliche Würde und die Einzigartigkeit seines Königtums94, das von anderer Art ist als dasjenige der Herrscher dieser Welt. Sein Königtum überragt jede weltliche Herrschaft95. Deswegen führt Christus auch nicht wie der Kaiser die Machtzeichen des römisch-byzantinischen Kaisers, Juwelendiadem und Purpurchlamys, an seinem Leib. Er ist Herrscher von göttlicher Würde96. 87 Das Purpurtuch am Kreuz, das die Rekonstruktion J. Engemanns vom Apsisbild für die vorgesehene Kirche in Fundi (Engemann, Apsis-Tituli 29 Abb. 5) zeigt, wird gar nicht im Titulus genannt (vgl. Paul. Nol. ep. 32,17 [CSEL 29, 292 de Hartel]). Für das Wort »purpura« im Apsistitulus des Paulinus für die Kirche von Nola (ep. 32,10 [CSEL 29, 286,18 de Hartel]) gibt es noch eine andere Erklärung als das Purpurtuch auf dem Tropaion (Engemann ebd. 24f). Mit »purpura« könnte die Purpurfarbe gemeint sein, mit der das Fell des Christus-Lammes gefärbt ist. Chromatius von Aquileia († 407/408) nennt den von Maria Geborenen »jenes purpurne Lamm, das heißt Christus, den König«, und er fährt begründend fort: »Zu Recht aber wird das purpurne Lamm als Christus der Herr verstanden, weil er nicht zum König gemacht, sondern als König geboren wurde« (»[Maria] purpureum illum agnum, id est regem Christum, generavit. Recte autem purpureus agnus Christus dominus intellegitur, quia rex non factus sed natus est«; Chrom. Aquil. serm. 23,3 [SC 164, 64f. 65/9 Lemarié]). Tertullian († nach 220) erwähnt solche mit Purpur und mit blauer Farbe gefärbte Schafe und lehnt sie ab: »Non placet Deo quod non ipse produxit; nisi si non potuit purpureas et aerinas (dunkelblaue) oves nasci iubere. Si potuit, ergo iam noluit; quod Deus noluit utique non licet fingi (Tert. cult. fem. 1,8, 2 [SC 173, 78 Turcan]).« 88 Wilpert Taf. 81; Wilpert/Schumacher Taf. 90; Deichmann, Bauten Taf. 64; Steigerwald, Purpurgewänder 46/8. 89 Wilpert Taf. 101; Wilpert/Schumacher Taf. 100; Deichmann, Bauten Taf. 256: Steigerwald, Purpurgewänder 45f. 90 Wegen der Ähnlichkeit des Purpurtuchs, das auf das Kreuz gelegt ist, mit einer Chlamys auf einem
römischen Tropaion (Hippo, Römisches Tropaion; abgebildet bei Engemann, Apsis-Tituli 25 Abb. 3b) ist man sich sicher, dass das christliche Motiv von dort inspiriert sei (ebd. 24f; Grabar [o. Anm. 30] 240f; E. Dinkler, Das Apsismosaik von S. Apollinare in Classe [Köln 1964] 531). Diese Herleitung ist jedoch bezüglich des aufgehängten Kleidungsstücks bzw. des Purpurs problematisch, weil am römischen Tropaion nicht die Chlamys des Siegers, sondern des besiegten Feindes hing. Es wäre also nicht die Chlamys Christi, sondern diejenige des Teufels, also die Siegesbeute, die Christus durch seinen Sieg am Kreuz über den Teufel gewonnen hat. Ein solches Verständnis wird durch eine Predigt des Chromatius von Aquileia bestätigt, der darauf aufmerksam macht, dass die Könige nach ihren Siegen ein Tropaion errichteten, woran sie zu ewigem Angedenken die erbeuteten Waffen der Feinde aufhängten. In diesem Zusammenhang kommt er auf den Triumph Christi am Kreuz (tropaeum) zu sprechen, an dem die dem Teufel und den Dämonen abgenommenen Waffen hängen: »Nam et reges magni dudum cum debellatis gentibus nobilem victoriam reportarent, in modum crucis tropaeum victoriae faciebant, ubi ad signum aeternae memoriae hostium capta spolia penderent. [. . .] Denique triumpho crucis Christi, spolia daemonum captiva dependent, cum signo crucis Christi hodieque daemones pendent« (Chrom. Aquil. serm. 19,6 [SC 164, 28,141/6. 151/3 Lemarié). 91 Steigerwald, Purpurgewänder 67. 92 Ebd. 65/7. 93 Cyrill. Hieros. hom. in paral. 12 (PG 33, 1145B). 94 Steigerwald, Purpurgewänder 65/7. 95 Ebd., bes. 66. 96 Dazu ebd. 196f. 202f.
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Kreuz, Juwelendiadem und Pupurpallium werden als Beigaben des himmlischen Throns im Offenbarungstext nicht erwähnt. Sie wurden von den Ideengebern ausgewählt. Dabei geschieht Bedeutungsvolles: Die Symbole Christi auf dem himmlischen Thron treten an die Stelle dessen, der nach der Offenbarung »wie ein Jaspis und ein Karneol ausssah« (Apc. 4,3), also Gottvaters. Es findet also eine christologische Akzentuierung statt. Dagegen wurden Buchrolle und Mandorla ins Bild übernommen. Die Buchrolle ist innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln verschlossen (Apc. 5,1). Doch sie befindet sich auf dem Suppedaneum. Die gewaltige Bedeutung der Buchrolle zeigt sich in der Johannesoffenbarung daran, dass nur das Lamm die Siegel zu brechen und das Buch zu lesen vermag (Apc. 5,2/5). Sie ist im Bild noch geschlossen. Die Ereignisse stehen noch aus. Sie liegen in der Macht dessen, der auf dem Thron Platz genommen hat. Brenk schreibt im Sinne wohl auch anderer Forscher, die Buchrolle begründe den »eschatologischen Charakter der Komposition«97. Diese Bewertung findet zwar in den Ereignissen eine Stütze, die mit der Öffnung des sechsten Siegels verbunden sind: »Die Sonne wird schwarz .. . der Mond wie Blut .. . und die Sterne fallen vom Himmel auf die Erde . . . der Himmel verschwindet« (Apc. 6,12/4). Doch die Frage ist, wie man zur Entstehungszeit der Mosaiken die Siebensiegelrolle verstanden hat. Die altlateinischen Schriftsteller deuten die Rolle unterschiedlich. Für die einen symbolisiert sie die Schriften des Alten und Neuen Testaments, während die sieben Siegel die Gaben des Heiligen Geistes98 versinnbildlichen. Andere sehen darin die Hl. Schrift, die allein unser Erlöser öffnen konnte, der Mensch wurde und durch seinen Tod, seine Auferstehung, seine Himmelfahrt alle Geheimnisse offenlegte, die sie enthielt99. Für andere beinhaltet diese Rolle alle Mysterien über Christus100, wieder andere sehen in ihr Christus selbst und, weil sie innen und außen beschrieben ist, seine Gottheit und Menschheit101. Ein eschatologisches Verständnis scheint unbekannt zu sein. Eine altlateinische Deutung der Siebensiegelrolle liegt auch für das Scheitelmosaik nicht ganz fern. Die Schriftrolle könnte auf die göttliche und menschliche Natur des Gottessohnes hinweisen. Sie könnte auch die Hl. Schrift, die Christus durch sein Wirken erschlossen hat, und alle Geheimnisse über ihn beinhalten. Im zeitgenössischen Verständnishorizont ist also eine eschatologische Deutung kaum anzunehmen, aber nach dem Schrifttext auch nicht ganz auszuschließen. Den Thron umgibt nach der Apokalypse ein smaragdgrüner Regenbogen (Apc. 4,3). Im Bild wird er wie eine Mandorla/Aureole dargestellt mit den Farben Dunkelblau, Hellblau, Hellgrün, Weiß und Hellgrau, den antiken Farben der Luft102. Man kennt kein früheres Beispiel in der christlichen Kunst für eine Aureole oder Man97 Brenk 37; Brandenburg (o. Anm. 22) 136; vgl. Engemann, Apsis-Tituli 43. 98 AN Apc. 5,1 q Ev 1,47 (143,357; Gryson 268 Sp. 1, unten): »iste liber intellegetur omnes scripturas tam veteris quam novi testamenti, et septem dona spiritus sancti«. 99 GR-M dia 4,44,2 (158,10: Ps. 85,13; Gryson 269 Sp. 2): »sacra scriptura signatur, quam solus redemptor noster aperuit, qui homo factus moriendo resurgendo ascendendo cuncta mysteria, quae in ea fuerant clausa, patefecit«.
»Nobis vero, quibus dominus noster Jesus Christus ostendit, quod omnia de ipso essent in lege conscripta, quibus nihil est occultum, quod non reveletur, et posteaquam signatum illum septem sigillis librum nemo alter potuit reserare quam Christus« (Greg. Illib. [Ende 4. Jh.] de Salomone 3,7 [CCL 69, 254,48/52 Bulhart]). 101 El 1,118 (92,3545; Gryson 268 Sp 2, unten): »librum, intus et foris scribtum, id est deum et hominem brebi quasi caractere signaberit«. 102 Brenk 15. 100
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dorla103 als die Mosaiken von S. Maria Maggiore. Einen fast gleichzeitigen weiteren Beleg bietet das Parusie-Relief auf der Holztür von S. Sabina104 in Rom (zwischen 431 und 433; Taf. 5d). Hier umkreist eine Aureole nicht den apokalyptischen Thron mit Gottvater, sondern an seiner Stelle den erhöhten Gottessohn, angebetet von den vier Lebewesen. Die christologische Aussage des Bildes ist wohl vergleichbar mit der des Scheitelmosaiks von S. Maria Maggiore105. In S. Maria Maggiore wird die Mandorla gleich dreimal verwendet: zunächst in diesem Mosaik, dann beim Besuch der drei Männer bei Abraham (Gen. 18), wobei die mittlere Person106 von einer Aureole umgeben ist, und bei der versuchten Steinigung von Mose und Aaron (Num. 14,10)107, bei der eine Aureole unter der ausgestreckten Hand Gottes die drei Männer einhüllt. Die ursprüngliche Bedeutung der Aureole ist wohl im Scheitelmosaik erkennbar. Die Aureole symbolisiert nach dem dazugehörenden Offenbarungstext den »Lichtglanz, der den Thron Gottes umgibt«108. Im Bild grenzt sie den Gottessohn von den anderen Wesen des Himmels ab und bezeugt so seine Gottheit109. Bestätigt wird diese Deutung durch die Mandorla, die den mittleren Mann bei der Begrüßung der drei Männer durch Abraham umgibt. Sie kann diese Person als den Gottessohn kennzeichnen und Joh. 8,56 verbildlichen, wonach »Abraham den Tag des Gottessohnes bereits gesehen hat«. Bei der versuchten Steinigung des Mose weist die Mandorla wohl auf die Anwesenheit Jahwes und seine schützende Hand hin. Zusammenfassend ist für die Mandorla festzuhalten: Die Mandorla, die den in seinen Symbolen anwesenden Christus auf dem apokalyptischen Thron umgibt, offenbart seine Gottheit und macht deutlich, dass der erhöhte Gekreuzigte und Auferstandene nicht nur König des Himmels und der Erde ist, sondern Gott ist wie der Vater, auf dessen Thron er Platz genommen hat.
2. Das Scheitelmosaik als Einheit a. Die Inthronisation des Gekreuzigten und Auferstandenen auf dem Thron Gottes im Rahmen der himmlischen Liturgie Das Thronbild unterscheidet sich von den vorausgehenden und den etwa gleichzeitigen christlichen Beispielen des leeren Thrones110 nicht nur durch die singuläre Auswahl der Thronbeigaben – sie fanden als Einzelstücke schon früher Verwendung –, sondern auch durch ihre Anordnung: die Inszenierung des Ganzen als Aktion. Sie vollzieht sich dadurch, dass das Diadem mit dem Gemmenkreuz verbunden ist und das Purpurpallium ›hautnah‹ um das Diadem gewunden erscheint. In diese Handlung sind die vier lebenden Wesen und die Apostelfürsten einbezogen: die lebenden Wesen, indem sie sich zum Throngeschehen hinwenden und huldigend einen Goldkranz offerieren, Petrus und Paulus, indem sie sich mit erhobener Rechter akklamierend dem Thron zuwenden.
103 A. Böck, Art. Mandorla: RLByzKunst 6 (2005) 1/ 17; W. Messerer, Art. Mandorla: LexChristlIkonogr 3 (1971) 147/9. 104 Jeremias 83/5 Taf. 69 Abb. 14. 105 S. dazu auf dieser Seite unten.
106 107 108 109 110
Wilpert Taf. 9; Wilpert/Schumacher Taf. 29. Wilpert Taf. 21; Wilpert/Schumacher Taf. 43. Apc. 4,3. Böck 1. Beispiele schon oben S. 148f.
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Dieses Arrangement kann den Eindruck einer Investiturszene erwecken. Vorbild wäre die Investitur eines Kandidaten zum Augustus des Imperium Romanum. Dabei wurde dieser mit einem Juwelendiadem gekrönt und ihm unter den Akklamationen111 des Heeres, des Senats bzw. der Untertanen eine blattapurpurne Chlamys um die Schulter gelegt112. Perlendiadem, Purpurchlamys und Gemmenthron waren seit der Alleinherrschaft Konstantins des Großen († 337) die fundamentalen Insignien kaiserlicher Herrschaft113. Der Gekreuzigte und Auferstandene, versinnbildlicht durch das Gemmenkreuz, ist auf den Thron des Ewigen gesetzt. Dadurch empfängt der menschgewordene Gottessohn auch seiner menschlichen Natur nach die göttliche Würde. Gleichzeitig wird er zum König Himmels und der Erde gekrönt, indem er das kaiserliche Juwelendiadem und den Purpurmantel empfängt. Es ist das Purpurpallium des ewigen Königs, das ihn über jeden irdischen Herrscher erhebt. Er ist ewiger Gott und Pantokrator. Details des Thrones der Roma weisen speziell auf seine Herrschaft über die Stadt Rom und das Imperium Romanum hin. Als Mitakteure sind die vier lebenden Wesen mit ihrem aurum coronarium und die Apostelfürsten mit ihren Akklamationen in die Investitur eingebunden. Die vier lebenden Wesen sind hier in der frühchristlichen Kunst nicht erstmals dargestellt. Schon das Baptisterium S. Giovanni in fonte in Neapel (um 400)114 bietet das erste bekannte Beispiel, dem noch andere folgten115. Jedoch ist das Goldkranzpräsent der lebenden Wesen in S. Maria Maggiore einzigartig unter den vorhandenen Beispielen. Die heutigen Forscher sind sich nicht darüber einig, was diese Lebewesen darstellen. Die einen bleiben bei der biblisch vorgegebenen Bedeutung, also den vier lebenden Wesen, andere betrachten sie als Evangelistensymbole116. Auch die altlateinischen Schriftsteller deuten sie unterschiedlich117. Manche sehen in ihnen Symbole des Wirkens des Gottessohnes: seine Menschwerdung in der Figur des Menschen, seinen Opfertod im Stier, seine Auferstehung im Löwen und die Himmelfahrt im Adler. Andere bringen sie mit den vier Evangelien in Verbindung. Anfangs ist man sich über die Zuweisung der vier Lebewesen zu den vier Evangelisten noch uneinig. Die Autorität des Hieronymus († 419 oder 420) bewirkte, dass die Identifizierung des Menschen mit Matthäus, des Stiers mit Lukas, des Löwen mit Markus und des Adlers mit Johannes sich durchsetzte118 und im Westen allgemein übernommen wurde119. Die östliche Theologie lehnte dagegen die Deutung der vier Wesen als Evangelistensymbole ab.
Alföldi 79/88; Treitinger 71/4 (beide o. Anm. 30); Th. Klauser, Art. Akklamation: RAC 1 (1957) 216/33. 112 Treitinger 8/11. 113 Alföldi 267 (Diadem). 168f (Purpurchlamys, Diadem). 243/5 (Gemmenthron). 114 Wilpert Taf. 39; Wilpert/Schumacher 31 Abb. 11 Taf. 18. 111
Die weiteren Beispiele s. o. S. 148f. ZB. Menna (o. Anm. 25) 340; U. Nilgen, Art. Evangelisten: LexChristlIkonogr 1 (1968) 698. 117 Zum Folgenden bes. D. Gerstl, Art. Evangelistensymbole: LThK3 3 (1995)1057; Nilgen 696f. 118 Hieron. comm. in Hes. 1,1 (PL 25, 21f. 14f). 119 Belege: Gryson 252/5 zu Apc. 4,6. 115 116
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Als sicheres Kriterium für die Deutung als Evangelistensymbole können nur die Evangelienbücher in ihren Händen gelten120. Der apokalyptische Kontext des Scheitelmosaiks und der Verzicht auf die Evangelienbücher sprechen dafür, die vier Figuren als die vier Lebewesen der Johannesoffenbarung zu deuten. Diese Argumentation trifft nach Friedrich Wilhelm Deichmann auch für die anderen Beispiele von lebenden Wesen bis zur Mitte des 5. Jh. zu121. Die vier lebenden Wesen sind entsprechend der Johannesoffenbarung nach Gott die höchsten und mächtigsten Wesen des Himmels (Apc. 4, 6/10). Bedeutungsvoll ist ihre Goldkranzspende. Eine Goldkranzspende an Christus zeigt die frühchristliche Kunst bei mannigfachen Gelegenheiten122: bei der Huldigung der Magier, anlässlich seiner Taufe und Inthronisation. Außerdem verehren die 24 Ältesten der Offenbarung den ewigen Gott mit einem Goldkranz. Erst seit dem 6. Jh. gibt es Beispiele einer Goldkranzspende von Heiligen und von Engeln, die Christus bei der Auffahrt in den Himmel mit einem Goldkranz huldigen123. Die Bedeutung des aurum coronarium ergibt sich aus dem jeweiligen Kontext des Bildes. Unser Scheitelmosaik zeigt eine Investiturszene. Das Goldkranzpräsent an Christus, den König, bei seiner Investitur auf himmlischem Thron hat seinen ursprünglichen Ort im Herrscherkult124. Dem Kaiser wurde, vornehmlich bei seiner Erhebung zum Augustus125, von den Senatoren das aurum oblaticium126, von den Untertanen und unterworfenen Feinden127 das aurum coronarium übergeben. Das aurum coronarium diente dazu, die Verehrung und Unterwerfung unter die Majestät des Kaisers zu bekunden und damit dessen Herrschaft anzuerkennen128. Das Goldkranzpräsent der vier Lebewesen, die eher mit dem kaiserlichen Senat vergleichbar sind, wird an dessen aurum oblaticium erinnern. Die nach Gott höchsten Mächte des Himmels huldigen also dem Gekreuzigten und Auferweckten anlässlich seiner Investitur wie der Senat bei der Krönung den spätrömischen Kaiser verehrte und anerkennen ihn damit als Herrscher des Himmels und ihren Herrn und Gott.
ZB. London, Victoria and Albert Museum, Elfenbeintafel (Volbach, Elfenbeinarbeiten3 83 nr. 118 Taf. 62); Thessaloniki, Hosios David, Apsismosaik (Ihm [o. Anm. 62] 182/4 Taf. 13,1; Steigerwald, Purpurgewänder 53f). 121 Deichmann, Kommentar 3, 304/9; ders., Rez. zu J. L. Maier, Le baptistère de Naples et ses mosaïques = Paradosis 19 (Fribourg 1964): ByzZs 61 (1968) 121; K. Wessel, Art. Evangelistensymbole: RLByzKunst 2 (1971) 508f. 122 Zum Folgenden mit Belegen: Redaktion des LexChristlIkonogr, Art. Aurum coronarium: LexChristlIkonogr 1 (1968) 227f; Th. Klauser, Art. Aurum coronarium: RAC 1 (1950) 1011/7. 123 Klauser aO. 1010; LexChristlIkonogr 282. 124 K. Wessel, Art. Aurum coronarium und aurum oblaticium: RLByzKunst 11 (1966) 448/52; Klauser, Aurum coronarium 1016/9. 125 Aber auch bei anderen Anlässen, zB. bei der Geburt des Thronfolgers (Steigerwald, Purpurgewänder128372). 120
Das Aurum oblaticium war im 4. und 5. Jh. die dem aurum coronarium entsprechende Geldleistung, die die Senatoren an die kaiserliche Kasse entrichteten (Cod. Theod. 6,2,11. 15 [245. 246 Mommsen]); einziges vorhandenes S. Maria Maggiore vorausgehendes Beispiel im Bild: Konstantinopel, Arcadiussäule, Ostseite (Kollwitz, Oström. Plastik [o. Anm. 65] 51 Beilage 7); vgl. das aurum oblaticium zur Investitur Kaiser Leos I (457): Const. Porph. caerim. 1,91 (414,15/7 Reiske). Dazu P. Charanis, The imperial crown modiolus and the constitutional significance: Byzantion 12 (1937) 191f. Es wird darauf hingewiesen, dass der Modiolus eine goldene Krone war und die Übergabe desselben einer hergebrachten Sitte entsprach. 127 Plin. n. h. 33,16,54 (33, 46 König); Cod. Theod. 12,13,4 (731 Mommsen). 128 Klauser, Aurum coronarium 1016. 126
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Zu beachten ist noch, dass in den Vetus-Latina-Kommentaren goldene Kronen auch als Siegeskronen charakterisiert werden, die den Sieg Christi über Teufel und Tod bedeuten129. Im Imperium Romanum wurde die Sieghaftigkeit des Kaisers mit der kaiserlichen Herrschaft gleichgesetzt130. So wird auch Christus wegen seines Sieges als kaiserlicher Herrscher anerkannt. Auch die Akklamationen der Apostelfürsten haben eine Parallele im spätantiken kaiserlichen Krönungszeremoniell131. Sie erinnern an die Hochrufe des Heeres und des Senats bzw. der Untertanen nach der Ausrüstung des erwählten Kaisers mit dem Juwelendiadem und der Purpurchlamys, also den Insignien seiner Herrschaft132. Die Akklamationen galten als konstitutioneller Akt für die rechtmäßige Übertragung der kaiserlichen Herrschaft133. Auf die Akklamationen von Petrus und Paulus übertragen bedeutet das: Durch ihre Zurufe anerkennen die Apostelfürsten den zum Himmel erhobenen Gekreuzigten und Auferstandenen als Herrn und Gott, jedoch nicht nur für ihre Person, sondern auch für die römische Kirche, deren Gründer sie sind134, und für die Weltkirche, die sich aus Juden und Heiden gebildet hat135.
b. Die mögliche Herkunft der Idee von der Inthronisation Christi auf himmlischem Thron Nicht auf den ersten Blick erkennt man, dass sich die Ideengeber für das Scheitelmosaik sowohl an den Grunddaten als auch an Details der himmlischen Liturgie nach Apc. 4f orientiert haben. Sie haben die einzelnen Phasen des himmlischen Gottesdienstes nicht wortwörtlich bzw. Bild für Bild übernommen, aber deren Inhalte in ihre eigene spätantike Lebenswelt mit ihrer speziellen Christologie und Kultur übertragen. Dabei findet das geschlachtete Lamm, das den Tod überwunden hat und lebt (Apc. 5,6) und das den Gekreuzigten und Auferstandenen136 repräsentiert, seine Entsprechung im Gemmenkreuz. Auch die Inthronisation des Gekreuzigten auf dem Thron des Allerhöchsten scheint sich an diesem Bibeltext bzw. an seiner VetusLatina-Exegese zu orientieren. Im Offenbarungstext hat das Christus-Lamm nicht wie der Ewige auf seinem Thron einen festen Platz, sondern es ist auf dem Weg zum Thron Gottes. Am Beginn des himmlischen Gottesdienstes steht es zuerst entfernt vom Thron (5,6). Dann schreitet es zum Thron des Allerhöchsten, um ein Buch mit sieben Siegeln zu empfangen (5,7), und schließlich nimmt es Platz auf dem Thron Gottes. »Der Empfang der Rolle aus Gottes rechter Hand entspricht in gewisser Weise BEA Apc. 3,3,129 (304 = R.P. 503,13; Gryson 266 Sp. 1): »(seniores) proiecerunt coronas (suas) sub pedibus eius, id est propter eminentem victoriam Christi omnes victorias sub pedibus eius«. Weitere Belege: Gryson 266f. 130 M. R.-Alföldi, Bild und Bildersprache der römischen Kaiser (Mainz 1999) 107/9. 131 Alföldi (o. Anm. 30) 79/88. 216/33; Treitinger (o. Anm. 30) 71/4; Klauser, Akklamation (o. Anm. 111). 132 Zu den Insignien s. o. S. 155. Auch nach der Krönung Mariens zur Königin erschallen die Akklama129
tionen des Himmels, der Erde und der Unterwelt (Venant. Fort. laud. Mar. 315/44 [MG AA 4, 379 Leo]). Kommentar: G. Steigerwald, Das Königtum Mariens in der Literatur der ersten sechs Jahrhunderte: Marianum 37 (1945) 45/7. 133 Treitinger 8/11. 134 Belege s. o. S. 153. 135 Saxer (o. Anm. 49) 232f. 136 Apc. El 2,31 (126,882; Gryson 294 Sp. 1, unten): »nos adoramus agnum, qui occisus est et resurrexit«.
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dem Akt der Erhöhung zur Rechten Gottes nach Psalm 110«137, urteilt Martin Hengel138. »Die Apokalypse zeigt eine derart enge Throngemeinschaft zwischen Gott und dem Lamm, dass ab Apc. 5,13 je und je unter Θεός auch τὸ ἀρνίον subsumiert werden kann«139. Damit schildert der apokalyptische Seher die Investitur des Christuslammes in seiner Gottheit auf dem Thron Gottes im Rahmen des himmlischen Gottesdienstes. Proskynese, Lobpreis, Saitenspiel mit Gesang sind seine Elemente. Es zeigt sich, wie nahe unsere Auslegung des Scheitelmosaiks diesem biblischen Befund kommt. Bis der Glaube an Christus als Gott und Pantokrator jedoch Allgemeingut der Kirche wurde, war seit der Niederschrift der Johannesoffenbarung noch ein langes christologisches Bemühen nötig. Die entscheidenden Schritte vollzogen das Konzil von Nikaia (325)140, das die Gottgleichheit des Sohnes mit dem Vater vor seiner Menschwerdung sowie seine allumfassende Herrschaft verkündete, und das Konzil von Ephesus (431)141, das die Gottheit des Menschgewordenen definierte. In der altlateinischen Exegese von Apc. 5,6f wird dieses Bekenntnis in folgenden Zeugnissen greifbar. Bezüglich der Gottheit des Lammes wird gesagt: »Nachdem das Lamm den Teufel besiegt hatte und zum Himmel aufgefahren war, hat das Fleisch (die Menschheit) die Gottheit empfangen«142. Bezüglich seiner Herrschergewalt, die es nun erhält, ist zu lesen: »Das Lamm, das er selbst (Johannes) am Kreuze geopfert gesehen hatte, erblickte er nun als König«143. Dem Johannes wird in den Mund gelegt: »Ich sah ein Lamm gleichsam geschlachtet, Christus, Sohn Gottes, der du als geschlachtetes Lamm zur Herrlichkeit auferstehst«144. Die Investitur des Lammes auf dem Thron Gottes entsprechend der Apokalypse und ihren altlateinischen Exegeten und die Inthronisation des Gemmenkreuzes mit dem Purpurpallium und dem kaiserlichen Juwelendiadem im Scheitelmosaik von S. Maria Maggiore enthalten Übereinstimmendes: Der gekreuzigte und auferstandene
»Es spricht der Herr zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde dir als Schemel zu Füßen lege«. 138 Hengel (o. Anm. 7) 166. 139 Ebd. 170. 172; zum Ganzen ebd. 169/74. Tóth (o. Anm. 7) 45 unter Verwendung eines Zitates aus K.-P. Jörns, Das hymnische Evangelium. Untersuchungen zu Aufbau, Funktion und Herkunft der hymnischen Stücke in der Johannesoffenbarung = SNT 5 (Gütersloh 1971) 31: »›Mit 4,9 hebt also etwas Neues an, das die Darbringung des Trishagion beendet‹ und gleichzeitig auf das Kommen des Lammes und seine Dynamisergreifung vorausblickt«. 140 Das Konzil lehrte, der Sohn sei gleichen göttlichen Wesens wie der Vater. In diesem Kontext erhielt der Sohn Titel, die vorher dem Vater vorbehalten waren, wie den Titel ›Pantokrator‹. Vgl. H. Ch. Brenneke, Art. Nicaea I: TRE 24 (1994) 433f. 445; H. J. Sieben, Art. Nizäa: LThK3 3 (1998) 884f. 141 Cyrill. 2 ep. ad Nest. 3 (ACO I, 1/1 S. 26, Z. 20/ 5): »Das nun hat die heilige und große Synode . . . gesagt, er selbst, der aus Gott-Vater der Natur nach geborene, einzige Sohn, der wahre Gott aus wahrem Gott, das Licht aus dem Licht, er, durch den der Va137
ter alles erschaffen hat, sei herabgestiegen, Fleisch und Mensch geworden, habe gelitten, sei auferstanden am dritten Tag und in die Himmel aufgestiegen« (Übersetzung nach J. Wohlmuth [Hrsg.], Dekrete der ökumenischen Konzilien 12 [Paderborn 1998] 41). Es ist also dieselbe göttliche Person, die aus dem Vater hervorgegangen und Mensch geworden ist. Der Sohn ist als Mensch aus der Frau hervorgegangen, ohne aufzuhören, Gott zu sein. Nestorius hatte es als Irrliehre hingestellt, diese Tatsachen von der göttlichen Person auszusagen. 142 AN Apc 5,12 (10 = L.M.R. 79,178; Gryson 293f Sp. 2, unten): »postqam diabolum vicit; et divinitatem, postquam caelos ascendit, secundum carnem assumptam«. Viele weitere Beispiele gerade für die Gottheit des in den Himmel Aufgenommenen bei Gryson 294f. 143 GR-M Rg 4,174 (389,3567; Gryson 281 Sp. 2): »agnum . . . et ipse in cruce oblatum viderat, iam regnantem conspexit«. 144 ORA Vis 956 (307,21; Gryson 282 Sp. 1, unten): »vidi agnum quasi occisum, Christe dei filius, qui occisus agnus resurgis in gloriam«.
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Jesus wird nach Vollendung seines irdischen Lebens auf dem himmlischen Thron investiert: er ist ewiger Gott und Pantokrator auch nach seiner menschlichen Natur. Der Grund für die Inthronisation Christi (des Lammes) wird im Preislied der Himmlischen genannt: »Würdig ist das Lamm, das geschlachtet wurde, Macht zu empfangen, Reichtum und Weisheit, Kraft und Ehre und Herrlichkeit« (Apc. 5,12). Der Tod am Kreuz ist also der Grund der Erhöhung Christi. Der Hebräerbrief sagt dasselbe mit anderen Worten: »Weil Jesus den Tod erlitten hat, ist er mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt worden« (Hebr. 2,9). Ein paar Jahrzehnte vor der Errichtung von S. Maria Maggiore formulierte Ambrosius von Mailand († 397) dieselbe Begründung: »Es ist sein Leiden, das seine Königsherrschaft über uns bewirken wird«145.
3. Das Scheitelmosaik und die Eucharistiefeier in S. Maria Maggiore Es ist zu beachten, dass der Ort dieses Bildes der himmlischen Liturgie sich direkt über dem Altar der Basilika von S. Maria Maggiore befindet. Die Feier der Liturgie war für die römische Kirche keine rein irdische Angelegenheit, sondern wurde in Verbindung mit der himmlischen Liturgie gesehen. Im Canon missae Romanus wird die Bitte vorgetragen: »Dein heiliger Engel möge dieses Opfer zum himmlischen Altar emportragen vor das Angesicht deiner göttlichen Majestät«146. Der himmlische Altar wird zwar nicht bei der himmlischen Liturgie erwähnt, aber sonst öfters in der Apokalypse147. »Der eigentliche Altar der Eucharistie ist im Himmel, wohin auch unsere Gebete und Opfer zielen«, sagte schon Irenäus von Lyon († um 202)148. Neben seiner Bedeutung als aurum oblaticium kann, wie Beat Brenk149 und Friedrich Wilhelm Deichmann150 schon vorgetragen haben, der Goldkranz in den Händen der vier lebenden Wesen auch Symbol für den Lobpreis sein, mit dem die lebenden Wesen den Gekreuzigten als Gott und Pantokrator auf dem Thron Gottes feiern. Jedenfalls wird diese Interpretation durch eine altlateinische Exegese zu den Kronen der 24 Ältesten bestätigt151. Das Preislied lautet »Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung; er war, er ist, und er kommt«152. Der Huldigung der vier Wesen schließt sich die (römische) Kirche bei der Eucharistiefeier zum Ende der Präfation mit dem Sanctus an: »Darum singen wir mit den Engeln und Erzengeln, den Thronen und Mächten und mit all den Scharen des himmlischen Heeres den Hochgesang von deiner göttlichen Herrlichkeit und singen ohne Unterlass: Heilig, heilig, heilig, Herr Gott aller Mächte und Gewalten. Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit . . .«153. Die Kränze des Lobes stellen Ambr. in Lc. 10,104 (SC 52,190 Tissot). Canon Romanus: »Supplices te rogamus, omnipotens Deus, iube haec perferri per manus sancti Angeli tui in sublime altare tuum, in conspectu divinae maiestatis tuae« (Der Große Sonntags-Schott für die Lesejahre A-B-C [Freiburg im Breisgau 1975] 638). 147 Apc. 6,9; 8,3; 8,5; 9,13; 11,1; 14,18. 148 »Est ergo altare in caelis, illuc enim preces nostrae et oblationes diriguntur« (Iren. Lugd. haer. 4,18,6 [SC 100,2, 614,141f Rousseau]). 149 Brenk 16.
Deichmann, Kommentar 3, 307. AN Apc 4,10 (10 = L.M.R. 77,167; Gryson 265 Sp. 1, unten): »mittunt coronas suas, id est laudes suas et virtutes, postquam victus est diabolus«. 152 Apc. 4,8. 153 Präfation und Sanctus des Missale Romanum: »Et ideo cum angelis et archangelis, cum thronis et dominationibus, cumque omni militia caelestis exercitus, hymnum gloriae tuae canimus, sine fine dicentes: Sanctus, sanctus, sanctus, Dominus, Deus Sabaoth. Pleni sunt caeli et terra gloria tua . . .«.
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also auch eine Verbindung zur Eucharistiefeier des Gottesvolkes von Rom und der ganzen Weltkirche her. Der auf dem Thron des Himmels als Gott und Pantokrator investierte Christus empfängt Lob und Verehrung von der Kirche auf Erden. Er und seine Gemeinde sind in der Eucharistiefeier miteinander verbunden. Allerdings ist anzumerken, dass die Vorstellung von der gemeinsamen Feier von himmlischer und irdischer Liturgie sonst in der römischen Liturgie nicht anzutreffen ist154.
4. Ein Vergleich zwischen dem Christusbild des Scheitelmosaiks und dem von Apc. 4f Nach der Inthronisation thront der Gekreuzigte und Auferstandene im Scheitelmosaik allein auf dem himmlischen Thron. In der Johannesoffenbarung sitzt das Lamm zusammen mit dem Allmächtigen dort (Apc. 5,17). Im Scheitelmosaik dagegen wird zwischen Gottvater und Sohn nicht unterschieden. Der Sohn nimmt den Platz des ewigen Gottes ein. Das verwundert, wenn man damit altlateinische Kommentare zu den einschlägigen Stellen von Apc. 4f vergleicht: Hier wird das Lamm (Christus) niemals allein, sondern immer zusammen mit dem Vater auf dem apokalyptischen himmlischen Thron gesehen155. Beispielsweise sagt Chromatius von Aquileia († 409): »Er (Johannes) sah den Thron Gottes im Himmel; er sah den Sohn Gottes sitzend zur Rechten des Vaters; er sah die Chöre der Engel; er sah die 24 Ältesten und die vier Lebewesen«156. Oder ein weiterer Schriftsteller: »Die Ehre sei dem Vater, Lob und Preis dem Lamm, das auf dem väterlichen Thron im Himmel sitzt und mit dem Vater regiert und dem Heiligen Geist«157. Die Komposition des Scheitelmosaiks unterscheidet sich also bezüglich der Stellung Christi auf dem himmlischen Thron auch von den Vorstellungen der etwa gleichzeitigen Theologen. Das kann nicht ohne Absicht geschehen sein. Es geht im Scheitelmosaik nicht darum, dass der Sohn an die Stelle des Vaters tritt, sondern darum, die Gottheit des in den Himmel aufgenommenen Christus zu demonstrieren. Als Beispiel diene die Erklärung des Satzes des Apostolicums ›Er sitzet zur Rechten des Vaters‹ durch Rufin von Aquileia († 410): »Er stieg nun in den Himmel auf als zu einem Ort, wo vorher das Fleisch gewordene Wort seinen Sitz nicht gehabt hat«158. Das bedeutet, dass die Vollendung nicht für die göttliche Natur
K. Gamber, Der altgallikanische Meßritus als Abbild himmlischer Liturgie = StudPatrLiturg Beih. 14 (Regensburg 1984) 23. 155 Mit weiteren fast gleichlautenden Belegen Gryson 295. 156 »Vidit enim thronum dei in caelo; vidit filium dei sedentem a dextris patris; vidit choros angelorum; vidit viginti quatuor seniores, et quatuor animalia plena oculis ante et retro, incessabili voce in laudem domini clamantia et dicentia: ›sanctus, sanctus, sanctus, dominus deus sabaoth. Pleni sunt caeli et terra gloria tua. Hosanna in excelsis‹. ad quorum similitudinem id ipsum cotidie omnis fidelium turba in laudem dei clamat in ecclesia« (Chromat. Aquil. serm. de s. Joanne 1 [CCL 9A Suppl. 97,16/24 Étaix/Lemarié]). 154
HYM Sp 37,9 (89; Gryson 295 Sp. 2, unten): »gloria patri, laus, benedictio agno sedenti supra thronum in caelis (paternum) cum patre regnat et cum sancto spiritu«. Weitere Belege: Gryson 295/7. Interessant ist folgende Stelle, die das Lamm mit der Kirche identifiziert:: »omnes, inquit, audivi dicentes: sedenti in throno, id est patri et filio, et agno, id est ecclesiae, benedictio et honor et claritas et potentia in saecula saeculorum« (BEA Apc 3,4, 127 [332=R.P. 548,13; Gryson 295 Sp. 1, unten]). 158 »Ascendit igitur ad caelos, non ubi verbum deus ante non fuerat (quippe qui erat semper in caelis, et manebat in patre), sed ubi verbum caro factum ante non sederat« (Rufin. symb 29 [CCL 20, 165,17/20 Simonetti]). 157
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Christi, sondern für seine menschliche Natur bestimmt ist. Das Scheitelmosaik bringt diese Idee insofern überspitzt zur Sprache, als jeglicher Hinweis auf den Vater – etwa durch die Hand Gottes über der Szene – unterbleibt. Dabei kommt zum Ausdruck: Der Menschgewordene ist gottgleich! Offensichtlich war diese Akzentuierung damals der römischen Kirche ein Anliegen; denn auch das fast zur gleichen Zeit wie die Mosaiken von S. Maria Maggiore geschaffene Parusie-Relief auf der Holztür von S. Sabina (zwischen 431 und 433; Taf. 5d)159 zeigt eine vergleichbare Christusidee. Es stellt den Himmel der Apokalypse dar, allerdings ohne den apokalyptischen Thron des Vaters. An seiner Stelle steht ein jugendlicher, herrscherlicher Christus in der Mandorla, angebetet von den vier Lebewesen. Christus fungiert als der menschgewordene Sohn Gottes in der Herrlichkeit Gottes, eben weil er als Mensch in diesem Kontext dargestellt ist. Die Mandorla hebt seine Gottheit besonders hervor, indem sie ihn von den mächtigen vier Wesen des Himmels abgrenzt, die ihn verehren. Diese Profilierung lässt sich auf dem Hintergrund des Streites mit Nestorius verstehen, der als Patriarch von Konstantinopel (428–431) Zweifel an der Gottheit des Menschgewordenen, aber nicht des Ewigen Gottessohnes verbreitet hatte160. Die Entscheidung der römischen Synode von 430161 und des kyrillischen Konzils von Ephesus (431)162 für die immerwährende Gottheit Christi könnte der Anlass gewesen sein, den Gekreuzigten und Auferstandenen zweifelsfrei als Gott in S. Maria Maggiore darzustellen.
5. Die Hetoimasia, die akklamierenden Apostelfürsten und das Epigramm Xystus’ III Die Inschrift XYSTUS EPISCOPUS PLEBI DEI gehört zum originalen Bestand und ist nicht erst später eingefügt worden. Neueste Analysen führen Beat Brenk zu diesem wohl endgültigen Ergebnis163. Wie bedeutend das Epigramm ist, zeigen seine
Jeremias 83/5 Taf. 69 Abb. 14. Dazu Steigerwald, Aspekte 197. 161 Greifbar im Brief Cölestins an Volk und Klerus von Konstantinopel: Caelest. ep. ad Const. 5,2 (ACO I, 2 S. 15, Z. 18f). Zur Synode von Rom A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche3 1 (Freiburg/Basel/Wien 1990) 671; Ch. Fraisse-Coué, Die theologische Diskussion zur Zeit Theodosius’ II.: Ch. und L. Pietri, Entstehen der einen Christenheit (250–430) = Geschichte des Christentums 2 (Freiburg im Breisgau 2005) 587f; T. Krannich, Von Leporius bis zu Leo dem Großen. Studien zur lateinischsprachigen Christologie im fünften Jahrhundert = Studien und Texte zu Antike und Christentum 32 (Tübingen 2005) 111/5. 162 S. o. Anm. 141. Zum Ephesinum Grillmaier 642/60; Fraisse-Coué 578/617; Krannich 108/35; E. Caspar, Geschichte des Papsttums 1 (Tübingen 1930) 384/416. 163 B. Brenk, La tecnica di mosaici paleocristiani di S. Maria Maggiore a Roma: E. Borsook / F. G. Su159 160
perbi / G. Pagliarulo (Hrsg.), Medieval mosaics. Light, color, materials = The Harvard University Centre for Italian Renaissance Studies 17 (Cinisello Balsamo 2000) 140/4. Diese neue Untersuchung Brenks ist Martin 148f offensichtlich unbekannt. Er hält die Inschrift für später eingesetzt. Brenk bekräftigt damit seine frühere Überzeugung (Brenk 1526), die auch E. Kitzinger, Byzantinische Kunst im Werden (Köln 1984) 26210 und Menna (o. Anm. 25) 340 teilen. Wichtig ist noch folgende Beobachtung Byvanks: »Diejenigen, die während der Restaurierungsarbeiten Gelegenheit hatten, das Mosaik aus der Nähe zu untersuchen, versichern, dass die Inschrift, das Medaillon und die Apostel (Petrus und Paulus) gleichzeitig gearbeitet sind. Die Betrachtung des Abgusses führt zum gleichen Ergebnis« (A. W. Byvank, Das Problem der Mosaiken von Santa Maria Maggiore: Festschr. H. R. Hahnloser zum 60. Geburtstag [Basel/Stuttgart 1961] 17).
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Platzierung an der markantesten Stelle des Triumphbogens, seine enge Verbundenheit mit dem himmlischen Thron des Gottessohnes, wie auch die auffallende Schrift164. Die Buchstaben erscheinen nur auf den ersten Blick unordentlich zusammengeschoben. In Wirklichkeit sind sie überlegt platziert, vor allem im Amtstitel EPISCOPUS und im Namen XYSTUS. Damit sie auffallen, nahm man in Kauf, dass für PLEBI DEI der vorgesehene Platz kaum ausreichte. Für das Epigramm scheint nur der Platz zwischen dem rechten bzw. linken Fuß des Petrus bzw. des Paulus vorgesehen gewesen zu sein. Das dominante Wort ist offensichtlich EPISCOPUS, das exakt mittig unter das Suppedaneum des Thrones Christi gesetzt und etwas gesperrter geschrieben ist. Es wird also eine Verbindung zwischen dem Amt des Xystus als Episcopus und dem in Symbolen auf seinem Thron sitzenden Christus hergestellt. Auch der Name XYSTUS ist wohlüberlegt unter dem Apostelfürsten Petrus angebracht. So wird eine Verbindung zwischen dem Namen Xystus und dem Apostel Petrus hergestellt. Damit erscheinen die Hetoimasia, auf der Christus, der ewige Gott und Pantokrator symbolisch thront, die vier Lebewesen, die akklamierenden Apostelfürsten Petrus und Paulus und Name und Amtstitel von Xystus als Elemente einer einzigen Bildeinheit. Das Verdienst, auf die Einheit dieser Elemente aufmerksam gemacht zu haben, hat Beat Brenk165. Er sieht in diesem Bildensemble die drei Dimensionen der Zeit, Vergangenheit (Petrus und Paulus), Gegenwart (Xystus) und Zukunft (der Thron und die vier Lebewesen) zu einer Einheit zusammengefasst, die in der Ewigkeit Gottes aufgehoben ist. Dieser Zeitbezug erscheint freilich etwas konstruiert, weil er in den Bildelementen selbst kaum erkennbar ist. Vielmehr scheint dieses Ensemble in S. Maria Maggiore der Investitur eines Beamten durch den Kaiser nachgebildet166, und zwar mit folgenden Strukturelementen: Vor dem im Zentrum erhöht thronenden Herrscher (Taf. 5e)167, umgeben von Thronassistenten, wirft sich der Erwählte zum Fußschemel zur Proskynese168 nieder. Er küsst den Kaiser, empfängt die Ernennungsurkunde und dankt dem Kaiser unter der Akklamation des Senates169. Unser Bildensemble kann an eine kaiserliche Investitur erinnern. Der in seinen Symbolen anwesende Christus würde die Stelle des Kaisers übernehmen, der das Amt verleiht, die Apostel hätten die Funktion der akklamierenden Hofbeamten und Papst Xystus die Aufgaben des investierten Beamten. In diesem Kontext würden die Buchstaben »Episcopus« Xystus in seinem Amt als Episcopus vertreten. Weil dieser Titel als Teil des Epigramms mit der perlenund edelsteinverzierten Fußbank verbunden ist, kann das auf die Proskynese des Xystus vor dem Christus hinweisen und somit darauf, dass Xystus durch Christus in Schon von U. Schubert, Der politische Primatanspruch des Papstes, dargestellt am Triumphbogen von S. Maria Maggiore: Kairos 13 (1971) 197 beobachtet; ferner Menna 340. 165 B. Brenk, L’anno 410 e il suo effetto sull’arte chiesastica a Roma: F. Guidobaldi / A. Guiglia Guidobaldi (Hrsg.), Ecclesiae Urbis, Atti del Congresso Internazionale di studi sulle chiese di Roma (IV–X secolo), Roma, 4–10 settembre 2000, 2 (Città del Vaticano 2002) 1015f; ders., Architettura e immagini del sacro nella tarda antichità = Studi Ricerche di Archeologia e Storia dell’Arte 6 (Spoleto 2005) 234. 164
Vgl. zur Investitur von Beamten Ihm 20f; Grabar (o. Anm. 30) 201. 167 Beispiel einer Beamteninvestitur nach Grabar ebd.: Madrid, Akademie, Missorium des Theodosius I (Volbach/Hirmer [o. Anm. 61] Taf. 53). 168 Treitinger (o. Anm. 30) 88: »Lange Zeit stellt diese Huldigung vor dem Kaiser den Höhepunkt der Beamtenlaufbahn dar und bedeutet zugleich den Vollzug der Investitur«. Die Proskynese wird aber oft nicht abgebildet. 169 Die Einzelheiten Const. Porph. caerim. 1,47 (238, 8/13. 20f Reiske). 166
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sein Amt als Episcopus eingesetzt ist. Auch könnte die Nähe des Namens Xystus zur Gestalt des Petrus darauf aufmerksam machen, dass Xystus der Nachfolger Petri auf dem Stuhl des römischen Bischofs ist und an dessen Autorität teilnimmt170. Die Akklamation gehört zum Zeremoniell der Investitur. So hätte die Akklamation der Apostelfürsten eine zusätzliche Bedeutung zur Akklamation bei der Investitur des Pantokrators Christus. Das Thema der Investitur ist nicht neu in der frühchristlichen Kunst. Schon André Grabar bewies mit einem Zitat aus einer Predigt des Johannes Chrysostomus171, dass die spätantiken Künstler bei der Darstellung der Gesetzesübergabe durch Christus an Petrus vom Zeremoniell der kaiserlichen Beamten-Investitur inspiriert waren172. Es ist also höchst wahrscheinlich, dass Petrus und Paulus im Scheitelmosaik nicht nur als Thronassistenten fungieren, sondern mit dem Codex in ihrer Linken auch als durch Christus amtlich beauftragte Verkünder der lex des Reiches Christi173. Ebenso kann die Nähe des Namens Xystus zur Gestalt des Petrus darauf hinweisen, dass Xystus der Nachfolger Petri auf dem Stuhl des römischen Bischofs ist und an seiner Autorität teilnimmt: »Der Papst als fortlebender Petrus und Inhaber sowie Erbe seiner Gewalt«174. Die Investitur des Xystus zum Episcopus im Thronbild entspräche den Fakten: Xystus wurde am 31. 7. 432 zum Episcopus Romanus gewählt und geweiht175. Das Bild könnte daran erinnern. Es drängt sich die Frage auf, ob das Epigramm »Xystus episcopus plebi Dei« im Kontext seiner Beauftragung durch Jesus Christus verstanden werden soll und durch den Bildzusammenhang eigens darauf hingewiesen werden soll, dass seine Autorität und Macht ihm von Jesus Christus verliehen ist. Zusammenfassend ergibt sich, dass das Epigramm wohl eher im Sinne der Investitur des Papstes Xystus III zu verstehen ist als im Sinne einer Widmung der Basilika und ihres Schmuckes an die Plebs Dei, wie es gewöhnlich interpretiert wird. Wie Martin Helzle, ehemals Professor der Alten Sprachen an der Universität Cleveland (USA) mir mitteilt176, ist dieses Verständnis des Dativs als Dativus finalis (episcopus plebi dei) grammatikalisch auch sonst belegt. In der römischen Republik gab es beispielsweise das Amt des tribunus plebi. Interessanterweise findet man diesen eigentlich festen Amtstitel durchaus variert mit Dativ, zB. bei Cicero, De divinatione: »ante quam tribunus plebi C. Gracchus factus esset«177 und schließlich noch am Ende des 4. Jh. im Aeneis-Kommentar des Servius Grammaticus178. Durch diesen ikonographischen Kontext des Epigramms wird bestätigt, dass das Epigramm ursprünglich von Xystus III eingesetzt wurde. Bekräftigt wird seine Originalität durch eine weitere Feststellung: Für die Inschrift scheint nur der Platz zwischen dem rechten Fuß des Petrus und dem linken Fuß des Paulus vorgesehen gewesen zu sein. Damit ist die mögliche Anzahl der Buchstaben begrenzt. Für den Namen des
Schatz (o. Anm. 56) 47. Joh. Chrys. hom. in illud: Vidi Dominum 2,2 (PG 56, 110). 172 Grabar (o. Anm. 30) 201; Kollwitz, Oström. Plastik (o. Anm. 65) 157. 173 A. Blaise, Dictionnaire latin-français des auteurs chrétiennes (Turnhout 1954) 493 s. v. lex 2. 3.
Schatz (o. Anm. 56) 47. G. Schwaiger, Art. Sixtus III.: LThK3 9 (2000) 644. 176 Mail vom 2. 8. 2011. 177 Cic. div. 1,56 (35,214f Giomini). 178 Serv. in Verg. Aen. 8,682 (2, 300,7 Thilo).
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Vorgängers von Xystus im päpstlichen Amt, Coelestinus – nur dieser käme in Frage – hätte bei gleicher Buchstabengröße der vorhandene Platz nicht ausgereicht. Wer ist dieses Volk Gottes, die »Plebs Dei«?179 Die Mosaiken des Langhauses und Triumphbogens illustrieren diesen Begriff. Volk Gottes ist das Volk, das Gott durch die Berufung Abrahams, Isaaks und Jakobs gründete (linke Schiffswand), das unter der Führung des Mose von Gott sein Gesetz erhielt und unter Josua in zahlreichen Siegen das Gelobte Land als sein Land eroberte (rechte Schiffswand). Sein Zentrum hat das Volk Gottes in der Menschwerdung und im Wirken des Gottessohnes (Triumphbogen). Vom Thron Gottes aus leitet der Christus als Gott und Pantokrator sein Volk durch den Episcopus Xystus. Das Zentrum des Volkes Gottes auf Erden ist die römische Christengemeinde. »Plebs Dei« war ein beliebter Titel der stadtrömischen Gemeinde180. Xystus ist Episcopus der stadtrömischen Gemeinde. Man kann fragen, ob er für sein Amt im Kontext des Thrones der Roma, auf dem der beauftragende Christus Platz genommen hat, entsprechend dem Imperium Romanum auch eine weltweite Bedeutung beansprucht? Offenbart sich hier die Machtbesessenheit eines Papstes? In dem Brief, den Papst Cölestin I (422–432), der Vorgänger des Papstes Xystus III, im Fall des Nestorius nach der genannten römischen Synode (430) an die Kleriker und das Volk von Konstantinopel richtete, steht zu lesen: »Der Bischof Nestorius predigt Gottloses über die jungfräuliche Geburt und über die Gottheit unseres Gottes und Erlösers, gleichwie er seine Ehrfurcht und das gemeinsame Heil aller vergab«181. Hinter der Entscheidung für die Gestaltung des Triumphbogens und seiner Mosaiken steht die brennende Sorge um das Heil der Menschheit, also nicht die Demonstration päpstlicher Macht. Auf jener Synode beschuldigte Papst Cölestin I den Nestorius, er nehme, indem er die Gottheit Christi bestritt, »allen Früheren, den Gegenwärtigen und den Zukünftigen die Wohltat des Heiles weg«182. »Es geht mir darum«, fährt Cölestin fort, »dass mir der Grund für meine Hoffnung genommen wird«183. Man darf annehmen, dass Xystus als Nachfolger Cölestins von ähnlichen Motiven bewegt war.
6. Das Gesamtprogramm des Mosaikzyklus und das Scheitelmosaik In einer früheren Arbeit habe ich gezeigt, dass die zentrale Botschaft der Triumphbogenmosaiken die Gottheit des menschgewordenen Gottessohnes und ihre vielfältige Bezeugung im Kampf gegen Nestorius ist184. Der Patriarch von Konstantinopel hatte in der Sicht der römischen Kirche und des Patriarchen Kyrill von Alexandrien († 444) die Gottheit Christi und damit auch die Gottesmutterschaft Mariens in Zweifel gezogen185. Nach den Verunsicherungen, die diese Auseinandersetzung ausGrundlegend Brenk 35/9. Ebd. 36. 181 Caelest. ep. ad Const. 5,2 (ACO I, 2 S. 15, Z. 18f). 182 Caelest. ep. Nest. 2,11 (ACO I, 2 S. 10, Z. 13f); H. J. Vogt, Papst Cölestin und Nestorius: Konzil und Papst. Beiträge zur Frage der höchsten Gewalt in 179 180
der Kirche, Festschr. H. Tüchle (München/Paderborn/Wien 1975) 92f. 183 Ebd. 2,12 (ACO I, 2 S. 10, Z. 17); Vogt aO. 184 Steigerwald, Aspekte 164/92. 185 Fraisse-Coué 578/617; Grillmeier 642/60; Krannich 108/35 (alle o. Anm. 160); Caspar 384/ 416 (o. Anm. 161).
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gelöst hatte, wollte Papst Xystus III den durch die römische Synode vom 10. August 430186 und das Konzil von Ephesus (431)187 bekräftigten Glauben an die Gottheit Christi in einem Bilddenkmal in der neu erbauten Marienkirche für alle Zeiten festhalten. Er wählte im Kampf gegen Nestorius hauptsächlich Episoden aus der Kindheit Jesu, weil Nestorius gerade die Gottheit des Kindes Jesu bestritten hatte188. Dabei war ihm wichtig, die Verlässlichkeit dieses Glaubens durch Zeugen zu bekräftigen. Am Triumphbogen wird diese Botschaft durch ein Bildprogramm189 kundgetan, das in vier Streifen aufgebaut ist190. Für das erste Register ist links die Verkündigung an Maria und die Zerstreuung der Zweifel Josefs191 gewählt, rechts die Darstellung Jesu im Tempel von Jerusalem und die Aufforderung zur Flucht nach Ägypten. Während bei der Verkündigung an Maria der als Taube sichtbare Heilige Geist die Gottheit des zu empfangenden Kindes Jesu offenbart, geschieht dasselbe bei der Zerstreuung der Zweifel durch den Hinweis auf das Wort des Engels an den Mann Mariens: »Josef, fürchte Dich nicht, Maria als Deine Frau heimzuführen, denn, was sie empfangen hat, stammt vom Hl. Geist« (Mt. 1,20). Die Kombination der beiden Szenen zeigt, dass nicht Josef, der Mann Marias, der Vater ihres Kindes ist, sondern Gott selbst. Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach seiner Geburt, bei der Darstellung im Tempel von Jerusalem, wird dem Kind Jesus durch Vertreter des jüdischen Volkes gehuldigt192. Damit wird es als wirklicher Gottessohn anerkannt. Außerdem wird das göttliche Kind von der Tempelpriesterschaft als neuer Hohepriester willkommen geheißen193. Im zweiten Streifen weitet sich der Kreis der Zeugen für die Gottheit des Kindes über das Judentum hinaus in die Heidenwelt aus. Auf der linken Seite sind es die Magier194 bei ihrer Audienz beim Kind, die als Vertreter der Barbarenvölker das Kind als ihren Gott und Herrscher anerkennen, zusammen mit der Seherin Sibylle. Auf der rechten Seite195 erfüllen denselben Auftrag Kaiser Augustus als Vertreter des Imperium Romanum und der römische Dichter Vergil. Sibylle und Vergil treten als Zeugen der Gottheit des Kindes auf und weisen im Bild darauf hin, dass sich ihre Prophezeiungen über die Ankunft eines göttlichen Kindes in dem Kind Jesus erfüllt haben. Im nächsten Register – mit dem Kindermord in Bethlehem links196 und der Audienz der Weisen bei Herodes rechts – wird die Gottheit des Kindes Jesus einerseits durch die Kinder von Bethlehem und ihre Mütter bezeugt, andererseits197 durch die Erfüllung einer göttlichen Prophetie über die Geburt des Gottessohnes in der Davidsstadt Bethlehem.
S. o. Anm. 141. Verwiesen sei abermals auf den Brief des Coelestin; vgl. o. Anm. 181. Zur Synode von Rom Grillmeier 671f; Fraisse-Coué 587f; Krannich 111/5. 187 Fraisse-Coué 602/6. 188 Erinnert sei an seinen Ausspruch beim Konzil in Ephesus: Synodi Relatio ad Caelestinum 82,6 (ACO I, 1/3 S. 7, Z 10): »Ich kann einen zwei oder drei Monate alten Gott nicht anerkennen«. Dieses Wort war Papst Coelestin I (422–432) durch einen Brief der kyrillischen Konzilsväter vom Juli 431 spätestens seit Weihnachten 431 (Krannich 127. 130) oder schon früher durch die zurückkehrenden Gesandten bekannt; vgl. Steigerwald, Aspekte 194f. 197/200. 186
189 Menna (o. Anm. 25) Taf. 35; zum Ganzen Steigerwald, Aspekte 162/94. 190 Übersichtsskizze ebd. 164 mit Abb. 2 und 3. 191 Ebd. 164/6. 192 Ebd. 166/8. 193 G. Steigerwald, Die Darstellung Jesu im Tempel auf dem Triumphbogenmosaik von S. Maria Maggiore in Rom: JbAC 43 (2000) 191/3. 196f. 194 Steigerwald, Aspekte 168/75. 195 Ebd. 175/87. 196 Ebd. 187f. 197 Ebd. 188f.
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Das Scheitelmosaik schließlich zeigt die Erhöhung des auferweckten Sohnes Gottes nach dem Ende seines irdischen Lebensweges im schmachvollen Kreuzestod: Er wird auf dem Thron Gottes als Ewiger Gott und Pantokrator eingesetzt. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, dass der Anspruch des Menschgewordenen der Wahrheit entspricht: Der menschgewordene und gekreuzigte Gottessohn ist wirklich Ewiger Gott und Pantokrator. Seiner Glaubensverkündigung im Bild ließ Xystus das Scheitelmosaik mit seiner Berufung durch Christus zum »Xystus episcopus plebi Dei« voranstellen, um möglicherweise den Anschein zu erwecken, dass die Botschaft der Mosaiken im Auftrag Christi selbst und mit der Autorität des Apostels Petrus erfolge und dadurch in höchstem Masse zuverlässig sei. So ergibt sich auch, dass die Wiederkunft Christi wohl nicht das tragende Thema des Scheitelmosaiks ist. Eschatologische Aspekte sind jedoch nicht unwahrscheinlich. Anhaltspunkte dafür könnten trotz der anderslautenden altlateinischen Kommentare die ursprüngliche, biblische Bedeutung der Siebensiegelrolle und die Deutung des Gottesthrones als Thron des kommenden Richters in der altlateinischen Literatur198 sein. Dass Christus, der Ewige Gott, auch der kommende Richter ist, vor dem die Menschheit sich verantworten muss, ist im Apostolischen Glaubensbekenntnis199 verankert.
III. Ergebnisse der Untersuchung Hier wird ein neuer Vorschlag zum Verständnis des Scheitelmosaiks vorgelegt. Schon lange ist bekannt, dass sich die Ideengeber von dem 4. und 5. Kapitel der Johannesoffenbarung inspirieren ließen. Bei der Interpretation der biblischen Bilder des Scheitelmosaiks erforschte man bisher aber nicht umfassend genug den Kontext des leeren Thrones im Scheitelmosaik und den Zusammenhang des Bildes mit der Thematik von Apc. 4f. Vieles spricht dafür, dass das Scheitelmosaik die Inthronisation des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus als ewiger Gott und Pantokrator im Rahmen der himmlischen Liturgie nach der Johannesoffenbarung zum Thema hat. Die Inthronisation erscheint nach den Vorgaben des spätrömischen/frühbyzantinischen Zeremoniells für die Investitur eines Kaisers gestaltet, zu der die Verleihung der kaiserlichen Insignien Diadem und Purpurmantel und die Huldigung durch die Untertanen gehörten. Mit der Spende des Aurum coronarium/oblaticium anerkennt der Himmel 198 CAE Apc 3 (220,2; Gryson 254 Sp. 1): »in conspectu throni mare vitreum: mare vitreum fontem baptismi; ante thronum dixit, id est ante iudicium«; vgl. HI Apc 4,2 (49,5; Gryson 254 Sp. 2); PRIM cap. 1 (49,78; Gryson 255, Sp. 1). 199 D. Sattler, Art. Apostolisches Glaubensbekenntnis: LThK3 1 (1993) 878.
Abbildungsverzeichnis: Taf. 5a: Rom, S. Maria Maggiore, Triumphbogen. Scheitelmosaik. Nach: M. Andaloro / S. Romano, La pittura medievale a Roma. Corpus. La pittura
medievale a Roma 1. L’orizzonte tardoantico e le nuove immagini 312–468 (Mailand 2006) 342 Abb. 45. – b: Rom, S. Maria Maggiore, Triumphbogen. Scheitelmosaik, Detail: Thron. Nach Wilpert/ Schumacher Taf. 68/70. – c: Gold-Solidus des Priscus Attalus. RS: Roma. Nach http://www.dirtyoldcoins.com/roman/id/priscus/att002.jpg. – d: Rom, S. Sabina. Holztür, Parusie, Ausschnitt: Christus. Nach Jeremias Taf. 68. – e: Madrid, Real Academia de la Historia. Missorium des Theodosius I. Nach Volbach/Hirmer Taf. 53.
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in Gestalt der vier lebenden Wesen im Rahmen der himmlischen Liturgie und die Kirche auf Erden durch die Akklamationen der Apostel Petrus und Paulus die Gottheit und Herrschaft Christi im Himmel wie auf Erden. Außerdem vollzieht sich im Bild eine Neuformulierung der Rom-Idee: Nicht mehr die Dea Roma, sondern der Gekreuzigte und Auferstandene hat auf dem Thron der Roma Platz genommen und ist der Herrscher über die Stadt und das Reich. Dabei nehmen die Apostel Petrus und Paulus die Rolle der Gründer der christlichen Stadt Rom ein. Mit der Inthronisation des menschgewordenen Gottessohnes auf dem Thron des ewigen Gottes verbindet Papst Xystus seine Investitur zum Bischof von Rom. Die Hetoimasia mit den Symbolen Christi, die assistierenden Apostelfürsten und die Amtsbezeichnung des Xystus EPISCOPUS, die ihn vertritt, bilden eine Einheit und erinnern in ihrer Struktur an die Investitur eines Beamten durch den Kaiser. Die Inschrift XYSTUS EPISCOPUS PLEBI DEI kann in diesem Kontext ein Zweifaches zum Ausdruck bringen: Zum einen, dass Xystus als Episcopus für das Volk Gottes durch den Ewigen Gott und Pantokrator eingesetzt ist, zum anderen, dass der Bischof von Rom diese Kirche mit ihrer Ausstattung dem Volk Gottes, also der Kirche der Stadt Rom und des Erdkreises zum Geschenk macht. Nürtingen
Gerhard Steigerwald
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BESPRECHUNGEN Elisabeth Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung in der griechisch-römischen Welt = Studienbücher Antike 15 (Hildesheim/Zürich/New York, Olms 2009), 8°, 263 S., brosch. Euro 19,80. ISBN 978–3– 487–14251–7. Auch wenn die Literatur zur antiken Sklaverei unüberschaubar zu werden droht: Ein einschlägiges Studienbuch liegt bislang noch nicht vor. Dem Georg Olms Verlag ist es mit der vorzustellenden Studie daher nicht nur gelungen, eine solche Lücke zu schließen, sondern er hat darüber hinaus eine ausgewiesene Kennerin der Thematik verpflichtet: Die Trierer Professorin für Alte Geschichte, Elisabeth Herrmann-Otto, die die Erfahrungen und Ergebnisse ihrer jahrzehntelangen Forschungen in dieses Werk hat einfließen lassen. Entstanden ist eine 230 Seiten umfassende, spannende Darstellung, die in ihrer Einleitung zunächst das Problem der Sklaverei in Antike und Moderne thematisiert, anschließend in zwei unterschiedlich umfangreichen Hauptkapiteln die Sklaverei in der griechischen und hellenistischen Welt und die römische Sklaverei vorstellt, um schließlich mögliche »Wege in die Freiheit« und die Ergebnisse in einer Zusammenfassung zu präsentieren. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein detailliertes Register und zwei Abbildungen (231/63) runden die Studie ab. Was kann ein solches Studienbuch leisten? Die Verfasserin formuliert selbst das Ziel, »ein ausdifferenziertes Bild des vielgestaltigen Phänomens Sklaverei zu präsentieren und zugleich den Leser mit den wichtigsten Forschungsströmungen und Debatten vertraut zu machen« (7). Dafür wechselt sie geschickt zwischen beschreibenden Passagen, die sie mit übersetzten Quellenauszügen illustriert, und zahlreichen Hinweisen auf aktuelle Forschungsdiskussionen ab. Dort bezieht sie begründet und kritisch Stellung, beispielsweise zu den verschiedenen Versuchen, den numerischen Anteil der Sklaven an der Gesamtbevölkerung zu ermitteln: Selbst neue demographische Modelle führten hier nicht zu zuverlässigen Ergebnissen (123/5).
In pädagogischer Absicht mahnt H.-O. zur Vorsicht im Umgang mit den literarischen Quellen und verweist auf erkennbare und offenzulegende Tendenzen ihrer Verfasser, die Lückenhaftigkeit oder das Schweigen der Überlieferung etc. Zugleich erhebt sie verschiedentlich das konkrete Schicksal einzelner Sklavengestalten oder -gruppen in einer empathischen Weise, zB. das der Sklavin Neaira (96/9), römischer Sklavenkinder (169/75) oder des in einem Statusprozess in die Sklaverei geführten ehemals freien Römers Eros (195f). Im Grunde ist der Titel »Sklaverei und Freilassung in der griechisch-römischen Welt« eine Untertreibung, weil das Studienbuch seinen Lesern deutlich mehr bietet. So gelingt es der Autorin, mit wenigen Federstrichen die unterschiedlichen Forschungsansätze und internationalen Schulen zu charakterisieren, um dann zB. an der Frage nach dem Charakter der frühen römischen Sklaverei zu zeigen, wie schillernd und problembehaftet sich der von marxistischer und nichtmarxistischer Forschung gleichermaßen gebrauchte Begriff »patriarchalische (Haus-)Sklaverei« darstellt (115f). Auch die kontroverse Beurteilung der Sklavenaufstände in der späten Republik ist in diesem Zusammenhang zu nennen, die nicht nur von unterschiedlich positionierten Forschern, sondern auch von der »Unterhaltungsindustrie« (128) geprägt ist. Gleiches gilt insbesondere für die Person des Spartakus (137/43). Anregend sind schließlich ihre Ausführungen zur Rezeption der antiken Sklaverei, die einmal mehr die Standortgebundenheit jeglichen historischen Forschens vor Augen führen. Schließlich reichen die von H.-O. aus der Antike gezogenen Linien nicht nur bis in die jüngste Gegenwart hinein, sondern berühren gelegentlich auch die Frage nach der Haltung des Islam zur Sklaverei. Die Darstellung der Sklaverei in der griechischen und hellenistischen Welt von der mykenischen Palastwirtschaft an behandelt u. a. die Probleme in der Beantwortung der Frage, wann diese erstmalig in Griechenland nachzuweisen sei. Die Verfasserin diskutiert den Wert von Ilias und Odyssee hinsichtlich deren
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H. Grieser: Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung
Äußerungen zur Sklaverei und beschäftigt sich mit Kriegsgefangenschaft, Geburt und Verkauf von Kindern als wichtigsten Quellen von Sklaverei. Vorgestellt werden weitere Bevölkerungsgruppen in sklavenähnlichen Verhältnissen; schließlich geht es dank der guten Quellenlage um die Lebensbedingungen und die Anzahl attischer Sklaven im 5. und 4. Jahrhundert innerhalb der demokratischen Verfassung. In diesem Kontext ist es nach Auffassung der Autorin nicht adäquat, von einer »Sklaven(halter)gesellschaft« zu sprechen, besser eigne sich der Begriff »Gesellschaft mit Sklaven«. Zudem bedingten sich Demokratie und Sklaverei nicht gegenseitig: »Die Verhältnisse sind viel komplizierter« (87). Anfänge eines Sklavereidiskurses etwa seit dem Peloponnesischen Krieg stellen die Naturgegebenheit der Sklaverei infrage, ab dem 4. vorchristlichen Jahrhundert gewinnt schließlich die Freilassung zunehmend an Bedeutung und beeinflusst den ökonomischen und sozialen Bereich. Aufschlussreich sind die von H.-O. vorgestellten Berufe und Tätigkeitsfelder der Sklaven, wobei der abschließende Überblick über Sklaverei und Freilassung in der hellenistischen Welt aufgrund bislang fehlender Forschungsarbeiten notwendigerweise kürzer ausfällt. Den Schwerpunkt ihrer Ausführungen legt die Autorin auf die römische Sklaverei, die sich in Rom vermutlich zwischen 510 und 450 vC. etabliert habe (115). Immer wieder verweist sie im Folgenden auf unterschiedliche Positionen einzelner Forschungsrichtungen, beispielsweise in der Frage nach den Anfängen der Beteiligung Roms am Sklavenhandel oder nach der Bedeutung versklavter Kriegsgefangener neben anderen Quellen der Sklaverei. Detailliert analysiert H.-O. Motive und Umstände der verschiedenen Sklavenaufstände in republikanischer Zeit und beschreibt, unterschiedliche Quellengattungen berücksichtigend, die Lebensbedingungen der Sklaven in der Landwirtschaft (familia rustica) und in den städtischen Privathaushalten (familia urbana). Überzeugend diskutiert sie die Bedeutung der natürlichen Reproduktion von Sklaven und stellt die Interessen der Sklavenbesitzer denen der versklavten Mütter (gelegentlich auch der leiblichen Väter) gegenüber. Im besonderen Fokus ihrer Aufmerksamkeit stehen schließlich Sklaven und Freigelassene mit quasi öffentlichen Aufgaben, die in der Kaiserzeit vor allem als Mit-
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glieder der familia Caesaris verantwortungsvolle Funktionen in Verwaltung und Politik übernahmen und dabei ausschließlich dem Kaiser verpflichtet waren. An ihnen, ihrem Vermögen und ihren Befugnissen lässt sich besonders gut die »Statusinkonsistenz« (186) innerhalb der römischen Gesellschaft illustrieren. Zugleich zeichnet sich diese im Unterschied zur griechischen »Gesellschaft mit Sklaven« durch eine ausgeprägte soziale Mobilität mit der »Chance eines ungeahnten sozialen Aufstiegs« für Sklaven (202) aus. Den Nachweis für diese Einschätzung erbringt die Verfasserin u. a. mithilfe der verschiedenen römischen Freilassungsformen, denen sie ein eigenes Unterkapitel gewidmet hat. Spätestens an dieser Stelle wird klar, warum die Thematik der Sklaverei nicht ohne den Blick auf mögliche Arten der Beendigung dieses Zustands abgehandelt werden kann: Da die römischen Juristen einerseits von einer naturrechtlich verankerten Freiheit und Gleichheit aller Menschen ausgingen, andererseits zugleich aber auch eine iusta servitus als Einrichtung des Völker- und Zivilrechts akzeptierten, war es innerhalb dieses Konstrukts zwingend erforderlich, die Möglichkeit zum Erhalt der (vollen) Freiheit durch verschiedene Freilassungsarten zu gewährleisten. Die prinzipielle Chance einer solchen restitutio entband die Theoretiker allerdings zugleich davon, über die grundsätzliche Abschaffung der Sklaverei nachzudenken und wirkte somit letztlich systemstabilisierend. Gleiches gilt im Übrigen nach Einschätzung der Autorin auch für die häufig konstatierte »Humanisierung der Sklavengesetzgebung« in der Kaiserzeit (198f). Unter der mit einem Fragezeichen versehenen Überschrift »Wege in die Freiheit« analysiert H.-O. schließlich nach einigen bereits vorausgeschickten theoretischen Erörterungen im Einleitungskapitel (28/34) die Haltung von Judentum und Christentum zur Sklaverei (203/15). Im Zentrum steht die Frage nach einem möglichen Beitrag des Christentums zur Abschaffung der Sklaverei, die H.-O. zusammen mit vielen anderen Forschern gegen eine zum Teil apologetische, zumeist ältere Forschung strikt verneint (28). Tatsächlich haben christliche antike Autoren keine grundsätzlichen Aufforderungen zur Abschaffung der Sklaverei formuliert, sondern diese, sofern sie sich überhaupt kritisch äußerten, vor allem in ihren denkbaren Auswüchsen zu regulieren versucht. Die Verfasse-
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G. Stemberger: Schäfer, Die Geburt des Judentums
rin führt berechtigt verschiedene Gründe für eine solche Haltung an, die von der Vorstellung der Gleichheit aller vor Gott über die anfängliche Naherwartung, die Akzeptanz der bestehenden Gesellschaftsordnung, den vorwiegend metaphorischen Gebrauch der Sklaventerminologie und der damit verbundenen Relativierung konkreter Abhängigkeitsverhältnisse (wie auch zB. in der Stoa) bis hin zu genuin theologischen Erklärungs- und Begründungsversuchen der Sklaverei reichen. Dass solche Deutungen nicht nur stabilisierend wirkten, sondern aus heutiger Perspektive zudem eine Jahrhunderte andauernde fatale Wirkungsgeschichte auslösten, steht zweifellos fest. Dennoch sollte man die eingangs gestellte Frage etwas differenzierter beantworten, wie am Beispiel der Sklavenfreilassung illustriert werden soll. Sehr pauschal urteilt die Verfasserin hier, die christliche Kirche habe »auf der Grundlage der paulinischen Aussagen die Herren nie zur Freilassung ermuntert« (213). Dabei bezieht sie sich u. a. auf die in ihrer Interpretation umstrittene paulinische Aufforderung in 1 Cor. 7,17/22 und entscheidet sich gegen neuere Tendenzen der exegetischen Forschung für die Deutung von Vers 21 als Empfehlung, im Sklavenstand zu bleiben und nicht eine mögliche Chance des Erhalts der Freiheit zu nutzen (28f). Selbst wenn man diese Detailfrage außer Acht lässt, ist nach meiner Einschätzung zu berücksichtigen, dass nicht nur in »marginalen« (asketischen) Gruppen die Freilassung von Sklaven bzw. der Verzicht auf ihre Leistungen als Ausdruck von Frömmigkeit und Heiligkeit beurteilt wurde. Dadurch warb die populäre hagiographische Literatur zumindest subtil für ein solches »ideales« Verhalten, dessen Wertschätzung durch die christliche Interpretation einer Freilassung als remedium animae zusätzlich gesteigert wurde. Die gleichzeitige Erschwerung der Freilassung von Sklaven der Kirche, auf die H.-O. zu Recht verweist, hat andere Ursachen: Sie ist nicht nur mit der grundsätzlichen Akzeptanz hierarchischer Verhältnisse, sondern weitaus mehr noch mit dem kirchlichen Selbstverständnis zu erklären. Diese letzten Anmerkungen sind als ergänzende Hinweise gedacht und sollen zeigen, wie anregend die Lektüre des Studienbuches ist. Sein Ziel hat es sicherlich erreicht: H.-O. inspiriert ihre Leser mit einer Fülle souverän präsentierter Informationen zu einer kriti-
schen Auseinandersetzung mit einem bis heute aktuellen Thema. Mainz Heike Grieser
Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums = Tria Corda 6 (Tübingen, Mohr Siebeck 2010), kl8°, XVII, 210 S., brosch. Euro 24,–. ISBN 978–3–16–150256– 9. Der vorliegende kleine Band gibt Peter Schäfers Tria Corda-Vorlesungen an der Universität Jena 2009 wieder; eine deutlich erweiterte englische Fassung ist eben erschienen: The Jewish Jesus. How Judaism and Christianity Shaped Each Other (Princeton University Press, Priceton 2012). Das gemeinsame Thema sind die Beziehungen zwischen dem rabbinischen Judentum und der christlichen Tradition. Entgegen der noch weithin üblichen Meinung, wonach zwar das Christentum ein reiches jüdisches Erbe übernommen, das Judentum dagegen, abgesehen von manchen antichristlichen Polemiken, vom Christentum nicht beeinflusst wurde, zeigt Sch. an einer Reihe von Beispielen, wie sehr wohl auch manche Rabbinen in ihrem Denken auf christliche Vorstellungen reagierten und daraus viel übernahmen. Im ersten der fünf Kapitel befasst sich Sch. mit der Erzählung von der Geburt und Entrückung des Messiaskindes zu Betlehem in yBerakhot 2,4 (Ekha Rabbati 1,16). Sch. sieht in dieser innerhalb der rabbinischen Literatur einzigartigen kurzen Erzählung zu Recht eine Aufnahme und ironische Umkehrung der Erzählung von der Geburt Jesu in den Evangelien. Fast alle Motive haben hier ihre Parallelen (auch die von Sch. nicht genannten Windeln Lc. 2,7, während die Mutter des Messiaskindes im Talmud sich weigert, dem Kind Windeln zu kaufen). Fraglich bleibt in der Erzählung allein die Rolle der Mutter; dass sie genannt wird, weil sie auch in der christlichen Version so wichtig ist, ist klar; doch kann sie zugleich auch als das Judentum, als Mutter des Christentums und seines Messias (dessen Echtheit die Erzählung nicht ablehnt) verstanden werden? Auch die Entrückung des Kindes ist nicht ohne Spannungen mit der christlichen Erwartung der Wiederkunft des Messias
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G. Stemberger: Schäfer, Die Geburt des Judentums
bzw. der Parusieverzögerung zu verbinden. In der i. A. sehr plausiblen Deutung von Sch. bestätigt der Text die noch immer bestehende und so anerkannte Zugehörigkeit des Christentums zum Judentum und zeigt zugleich auch Spannungen innerhalb des Judentums auf. Im zweiten Kapitel geht es um die Auseinandersetzung zwischen R. Simlai und den Häretikern, ob es nur einen Gott oder mehrere Götter gibt (Bereshit Rabba 8,9; yBerakhot 9,1,12d). Wenn man, wie heute immer mehr üblich, mit der Möglichkeit rechnet, dass die Grenzen zwischen Judentum und Christentum oder auch dem Gnostizismus noch lange fließend waren, wird die Frage nach dem genauen Verständnis des Monotheismus und wieweit dieser zumindest auch binitarische Ansätze ermöglichte, auch eine interne jüdische Frage, der man nicht ausweichen konnte. Die Diskussion um den Plural Elohim ist traditionell, besonders auch in der Auslegung von »Lasst uns einen Menschen machen« (Gen. 1,26f). Die Nähe der Auslegung R. Simlais zu jener des Paulus in 1 Cor. 11,11 ist auffällig und wurde schon früher betont. Eine direkte Abhängigkeit R. Simlais von diesem Text ist jedoch kaum anzunehmen, eher an gemeinsame Auslegungstradition zu denken. In der Fortsetzung erklärt R. Simlai, die drei Gottesnamen in Jos. 22,22 (vgl. Ps. 50,1) bezeichnen einen einzigen Gott, so wie Basileus, Caesar, Augustus den einen Herrscher meinen; das Verb sei ja im Singular. Doch bezeichnen die Titel Augustus und Caesar nicht notwendig dieselbe Person und sind in der diokletianischen Ordnung nicht ranggleich (erst später kommt es zu zwei gleichberechtigten Augusti), was auch theologische Auswirkungen hat. Wieweit Simlai schon die trinitarische Debatte reflektiert und ob er dabei den Sohn oder doch vielleicht den hl. Geist anspricht, ist nicht sicher. Es geht bei ihm wohl primär um das Verhältnis Vater-Sohn, was auch zur Reform Diokletians passen würde. Besonders die Auslegung des Basilius von Caesarea macht deutlich: »R. Simlai und die Mehrheit der Rabbinen kannten die Diskussionen darüber [d. h. über die Trinität und hier v. a. über die Christologie] nicht nur, sie nahmen darauf Bezug und setzten sich damit auseinander« (59). Ebenso beziehen sich die Kirchenväter explizit auf rabbinische Auslegungen.
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Das dritte Kapitel »Der alte und der junge Gott« befasst sich mit den verschiedenen Erscheinungsformen Gottes in der Bibel. Mekhilta ba-h.odesh 5 und Parallelen diskutieren dies ausführlich aufgrund verschiedener Bibeltexte, die Gott einmal als alten Mann, dann wieder als jugendlichen Kriegshelden zeichnen; er ist dennoch derselbe, womit die Behauptung der »zwei Mächte« widerlegt ist. Zentral in der Diskussion sind Ex. 24,10 und Dan. 7,9f. In Ex. 24 interessiert besonders der Saphir-Ziegel, der als Fußschemel Gottes dient und ihn an die Knechtschaft Israels in Ägypten erinnert; die Deutung stützt sich v. a. auf den Targum Pseudo-Jonatan zur Stelle – ich würde diesen allerdings nicht als »eine der alten aramäischen Bibelübersetzungen« bezeichnen (69), ist doch der Text kaum früher als 8. Jh. und sind auch seine Details spät. Die breite Auslegung Sch.s zum Saphir-Ziegel ist allerdings der Mekhilta selbst nur mit Mühe zu entnehmen, die diesen Teil von Ex. 24,10 hier gar nicht explizit bringt (wohl aber in Pish.a 14). Was die »Throne« in Dan. 7,9 betrifft, wird der Plural in der Mekhilta übergangen und erst in bSanhedrin 38b auf den Thron Gotttes und jenen für David bzw. für die göttliche Gerechtigkeit bzw. Barmherzigkeit gedeutet. In der Mekhilta genügt schon die Aussage des Verses, dass sich nur einer, der Hochbetagte, auf den Thron setzt, als hinreichende Widerlegung der Völker und ihrer Behauptung von »zwei Mächten«. Mit David ist hier tatsächlich auf den Menschensohn von Dan. 7,13f verwiesen, nicht aber in der Mekhilta; diese bezieht den zweiten Thron noch nicht auf den Menschensohn, vielmehr auf den alten und auf den jungen Gott, das auch aus der klassischen Literatur bekannte puer-senex-Motiv. Zu Recht betont Sch. die innerjüdische Traditionskette zum Menschensohn, der eine messianische Gestalt und sogar Gottes Sohn ist (1 Hen. 71; 4 Esr. 13; Mt. 26,23f); doch kann man wirklich in bSanhedrin die Position Aqivas – der zweite Thron ist für David – im Sinn der jüdischen Traditionskette ohne christliche Implikationen verstehen (93), zugleich aber den Talmudtext als rabbinische Polemik und seinen Messianismus sehen (94)? Will man die Zuschreibung an Aqiva nicht historisch werten, gibt es keinen Grund, nicht den ganzen Bavli-Text als Reaktion auf ein schon ausgeformtes Christentum zu verstehen, das auch in jüdischen Kreisen eine gewisse Attraktion entfaltet. Weit-
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G. Stemberger: Schäfer, Die Geburt des Judentums
hin zustimmen kann ich Sch.: Der Talmud »reflektiert eindeutig einen Diskurs nicht mit einzelnen christlichen Lehren, sondern setzt die Kenntnis des Neuen Testaments als einer kanonischen Schrift voraus, während die Mekhilta . . . und die meisten anderen palästinischen Quellen sich noch mit wenig spezifischen und amorphen Ideen beschäftigen« (94: die Einschränkung bezieht sich auf das NT als kanonische Schrift – sind auch viele Texte des NT eindeutig den Redaktoren des Bavli bekannt und zwar wohl in schriftlicher Form, bleibt doch der Umfang der ihnen bekannten Schriften unsicher). Auch im nächsten Kapitel geht es um die Einheit Gottes, genauer um das Verhältnis zwischen Gott und Metatron. Grundtext ist wieder bSanhedrin 38b, die direkte Fortsetzung des zuvor zitierten Textes. Ex. 24,1 (»Steig hinauf zum Herrn« statt des zu erwartenden »zu mir«) wird in Verbindung mit 23,21 (»Denn mein Name ist in ihm«) auf Metatron gedeutet, was wieder zur Häresie der »zwei Mächte im Himmel« führen kann. Der in 1 Hen. 71,14 offenbar in einen Engel umgewandelte und mit dem Menschensohn von Daniel gleichgesetzte Henoch wird später zu Metatron, in 3 Henoch und Targum PseudoJonatan als »kleiner JHWH« bezeichnet. Der in bSanhedrin 38b als Sprecher genannte Rav Idit (4. oder 5. Jh.) kennt schon diese Tradition, die er aus einer unbekannten Quelle von 3 Henoch bezogen hat (107; die Zuschreibung an einen bestimmten Rabbi scheint Sch. auch hier ziemlich ernst zu nehmen; auch würde ich lieber von einer »Tradition« statt von einer »Quelle« sprechen, die schon eine literarisch feste Gestalt hätte). Den Namen Metatron leitet Sch. von metathronos im Sinn von synthronos ab, nicht vom lateinischen metator, dem römischen Offizier, der dem Heer als Wegbereiter dient (so in Sifre Dtn. 338). Als ein potentiell göttliches oder semigöttliches Wesen finden wir Metatron nur im babylonischen Talmud und in der HekhalotLiteratur. Hochinteressant ist Sch.s Vergleich der Metatronvorstellung im Bavli und in 3 Henoch mit dem Christushymnus von Phil. 2,6/11: Metatron ist hier eine Erlöserfigur, ein Mensch, der in ein göttliches Wesen verwandelt wurde und der zusammen mit Gott Himmel und Erde richtet. Diese Deutung Metatrons als Retter, der »wahrer Mensch und neuer Gott« ist und bei seiner Rückkehr auf die Erde die Erlösung vollenden wird, sei »als
Antwort auf Jesu Funktion im Christentum« zu verstehen (132). Hier ist Vieles schon in der Auslegung der jüdischen Texte sehr spekulativ, ganz abgesehen davon, ob man im babylonischen Judentum wirklich einen Text wie Phil. 2 gekannt hat; doch der strukturelle Vergleich überzeugt weithin. Das letzte Kapitel ist dem »leidenden Messias Efraim« gewidmet. Ein Messias ben Efraim, der neben dem davidischen Messias auftritt und im endzeitlichen Kampf getötet wird, findet sich in späten jüdischen Texten – Targumim, bSukka 52a und dem Sefer Serubbabel. Doch allein in der Pesiqta Rabbati 34 und 36f ist sein Name Efraim und hat er nicht David als zweiten Messias neben sich. Die Messiaserwartung rückt hier in den Mittelpunkt; wer die Tora liebt, aber nicht auf das Königtum Gottes wartet, ist ein Frevler. Als Bedingung für die Erfüllung seiner Mission muss dieser Messias Leiden und die Sünden der Menschheit auf sich nehmen; Jes. 53 ist zwar nicht explizit zitiert, doch durch zahlreiche Anspielungen steter Kontext; in Pesiqta Rabbati 36 wird das Leiden des Messias mit Ps. 22 beschrieben. Zwar kennt man die Vorstellung des Leidens eines endzeitlichen Retters jetzt auch aus Qumran (4Q541; 471b; 491c); doch die deutlichsten Parallelen findet man im Neuen Testament, v. a. 1 Petr. 2,21/5. Die prämundane Existenz des Messias, die Heilsnotwendigkeit seines Sühneleidens und eine Reihe anderer Details hat Pesiqta Rabbati 36 mit dem Neuen Testament gemeinsam. Es ist daher ohne Zweifel anzunehmen, dass die Rabbinen, die im 7. Jh., jedenfalls nach 632, diese Kapitel der Pesiqta verfassten, das Neue Testament kannten und selbstbewusst auf das Christentum reagierten. Sch. bietet in diesem schmalen Band einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der theologischen Beziehungen zwischen dem rabbinischen Judentum und dem Christentum. Was Israel Yuval (Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter [Göttingen 2007]) schon zuvor für das mittelalterliche Judentum gezeigt hat, gilt auch für das rabbinische Judentum: Es kennt christliche Lehren und Texte viel mehr, als weithin angenommen, und sieht sich immer wieder genötigt, auch zentrale eigene religiöse Vorstellungen und Lehren nicht nur in polemischer Ablehnung, sondern auch in Übernahme und Umwandlung christlicher Positio-
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D. Börner-Klein: Boyarin, Abgrenzungen
nen zu entwickeln. Beide Religionen sind nicht nur in ihren Anfängen aufeinander bezogen, sondern bleiben auf Dauer miteinander verflochten. Dies zeigt Sch. anhand von exemplarischen rabbinischen wie christlichen Texten klar auf. Seine Auslegung folgt stets ganz eng dem jeweiligen Text, bleibt dabei aber von Anfang bis Ende sehr gut lesbar, ja ausgesprochen spannend. Wer an der Entwicklung des jüdischen wie auch des christlichen Denkens interessiert ist, sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen. Wien Günter Stemberger
Daniel Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums. Aus dem Amerikanischen von Gesine Palmer = Arbeiten zur Neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte (ANTZ), hrsg. von Rüdiger Liwak, 10/Institut Kirche und Judentum, Arbeiten zur Bibel und ihrer Umwelt (ABU), hrsg. von Andreas Bendenbender, 1 (Berlin/Dortmund, Lehrhaus e.V., 2009), 8°, IX, 373 S., geb. Euro 22,80. ISBN 978–3– 923095–70–4. Das englische Original von Daniel Boyarins »Abgrenzungen« erschien 2004 unter dem Titel »Border Lines: The Partition of Judaeo-Christianity«, University of Pensylvania Press. In seiner Einleitung fasst B. das Problem, um das es ihm geht, die Frage, wie »Religion« zu definieren und was in dem Zuge unter »Judentum« und »Christentum« zu verstehen sei, pointiert zusammen: »In westlichen Sprachen spricht man gewohnheitsmäßig – sowohl in den wissenschaftlichen als auch in den alltagssprachlichen Registern – von ›Judentum‹ und ›Christentum‹ (und deswegen auch Islam, Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus und Hinduismus) als mit einer einzigen Kategorie erfaßbaren Größen: (Namen von) Religionen oder sogar – Glaubensgemeinschaften. Diese wissenschaftlich und auch sonst geläufige Praxis impliziert, wie besonders die letzte Bezeichnung offenbart, die Reproduktion einer christlichen Weltsicht. Wie fragwürdig die Angemessenheit der Projektion einer christlichen Weltsicht oder des christlichen Modells auf Völker und Praktiken ist, die nicht ganz dazu passen oder nicht einmal wünschen, zu dieser
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Weltsicht zu passen, sollte offensichtlich sein« (S. 10). B. legt einleitend dar, dass der Ausdruck Ioudaismos, wie er zB. im 2. Makkabäerbuch gebraucht werde, nicht »Judentum als Religion« bedeute, »sondern den gesamten Komplex von Loyalitäten und Praktiken, die das Volk Israel auszeichnen« (S. 10). Unklar bleibt dabei, was hier unter »das Volk Israel« zu verstehen ist, da sicher gerade zur Zeit, in der sich das 2. Makkabäerbuch verorten will, unterschiedliche Loyaliten und Praktiken der Priester, Leviten und der nicht in den Tempelkult involvierten Personen in und um Jerusalem benannt werden könnten. Unklar ist dies auch, da das 2. Makkabäerbuch von korrupten Hohenpriestern berichtet und von einer radikalen Hellenisierung Jerusalems, der sich einige aus Israel widersetzen, andere wiederum nicht. – Die Frage, »wie verhielt es sich nun mit Juden und Judentum« (S. 13) müsse, so B., diachron entdeckt werden: »Auf der ersten Stufe der Entwicklung [. . .] des rabbinischen Judentums, versuchten die Rabbinen ernsthaft, jene Bereiche der Praxis, der Rede usw., die andere [nämlich die christlichen Theologen] ausgebettet (disembedded) hatten, aufzunehmen und als besonders bedeutsam zu qualifizieren und daraus das Judentum als eine Religion zu konstruieren. [. . .] Später jedoch, nämlich in der Zeit der ›definitiven‹ Fixierung des rabbinischen Judentums im babylonischen Talmud, wiesen die Rabbinen, so meine Hypothese, diese Option zurück und forcierten statt dessen das ausgewiesene ekklesiologische Prinzip, daß ›ein Israelit, selbst wenn er sündigt, ein Israelit bleibt‹« (S. 13). Das Christentum wiederum habe, um Religion werden zu können, die religiöse Differenz, nämlich das Judentum, gebraucht, »als die Religion, die falsch ist« (S. 15). Die Frage, wie in diesem Kontext »Orthodoxie« und »Häresie« definiert wird, ist für B. zentral. Zentral ist auch, dass die Christen, so B., mit Justin dem Märtyrer beginnend, eine neue Identität entwickelten. Sie verstanden christianismos, Christentum, als eine Gemeinschaft, »die dadurch definiert war, daß sie einem bestimmten Kanon von Lehre und Praxis anhing« (S. 23). »Diese Idee, daß Identität erworben und nicht durch Geburt, Geschichte, Sprache und geographisches Befinden gegeben sei,
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D. Börner-Klein: Boyarin, Abgrenzungen
war das Novum, das Religion hervorbrachte und, so vermute ich, damit das gesamte semantische System von Identitäten in der mediterranen Welt beeinflusste«. Damit ist schon hier gesagt, warum »das Judentum« keine Religion sein kann: Als Jude bzw. Israelit wird man geboren und bleibt es, »auch wenn man sündigt« (S. 23). B.s Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil »Einen Unterschied machen: Die häresiologischen Anfänge von Christentum und Judentum« behandelt B. Texte aus dem zweiten und dritten Jahrhundert, »die mit dem Prozeß der Erzeugung eines Unterschieds zwischen Judentum und Christentum beschäftigt sind« (S. 37), d. h. deren Autoren sich um eine Definition von Orthodoxie und Häresie bemühen. Anhand von Justins Dialog mit den Juden zeigt B., dass dieser bestrebt war, eine christliche Idendität zu definieren, indem er falsche religiöse Vorstellungen ausgrenzte. Dabei ist Judentum »für Justin nicht eine gegebene Entität, zu der er in Gegensatz steht und die er mehr oder weniger genau beschreibt oder an die er eine Apologie adressiert, sondern eine Entität, die er im textuellen Prozeß zu konstruieren versucht« (S. 38). Im Dialog mit Trypho beschreibt Justin, so B., das Christentum aus seiner Perspektive als Orthodoxie, indem er Nichtchristliches ausgrenzt und als Judentum darstellt. Dies verdeutlicht B. am Fall der Logostheologie, die ursprünglich kein wesentliches Unterscheidungsmerkmal des Christentums gegenüber dem Judentum gewesen sei, sondern ein gemeinsames theologisches Erbe. Mit Justin und seinen Nachfolgern auf der einen und den Rabbinen auf der anderen Seite sei die Logostheologie zu einem Unterscheidungsmerkmal konstruiert worden, das zur Produktion von zwei Orthodoxien, der christlichen und der jüdischen, und einer Idee der Religion als abtrennbar von »Ethnizität« geführt habe. Den Herausforderungen des Heidenchristentums, vertreten durch Gestalten wie Justin, begegneten, so B., die Rabbinen, indem sie ihrerseits ebenfalls eine Orthodoxie entwickelten, indem sie Diskurspraktiken festlegten, »die sich sowohl in der Sprache als auch in Handlungen ausdrückten, welche dazu dienten zu bestimmen, wer innerhalb und wer außerhalb der Religionsgemeinschaft ist« (S. 39). Zur Ausgrenzung von der rabbinischen Orthodoxie prägten sie den hebräi-
schen Neologismus miut. Als zweites Kriterium neben der Logostheologie benennt B. die apostolische Sukzession, »die Behauptung einer lückenlosen Kette der Tradition« (S. 40) als zentral für die Etablierung einer Orthodoxie. Im zweiten Teil, »Die Kreuzigung des Logos«, behandelt B. die Verwandlung der Logoslehre, »nach der es zwischen Gott und der Welt eine zweite göttliche Entität, Gottes Wort (Logos) oder Gottes Weisheit, gibt, die zwischen der ganz und gar transzendenten Gottheit und der materiellen Welt vermittelt« (S. 41), in die Lehre, die die theologische Differenz zwischen Judentum und Christentum beinhaltet. Die so verstandene Logoslehre sei unter Juden in der vorchristlichen Zeit sehr verbreitet und nach den Anfängen des Christentums in christlichen Kreisen ebenso umstritten gewesen. Hauptthese B.s ist nun, dass erst im vierten Jahrhundert Juden, die eine Logoslehre vertraten, und Christen, die sie ablehnten, als Häretiker bezeichnet wurden. Um die Entwicklung hin zu dieser Position nachzuzeichnen, liest B. den Johannesprolog als »jüdischen Midrasch«, um die Abkunft des Prologs von midraschischen Quellen nachzuweisen und die Verbreitung dieser Lehre in vorrabbinischen Schriften aufzuzeigen. Die Rabbinen, so B., seien nun »in einer interessanten Art von Komplizenschaft« einverstanden gewesen, »die jüdische Logostheologie an das Christentum abzutreten« (S. 42), sodass eine ältere Form von ehemals »orthodoxem« Glauben zur Häresie werden konnte. Die Strategie, dies zu erreichen, sei gewesen, frühere Materialien signifikant zu überarbeiten und zu rekontextualisieren. Dabei haben, so B., die im späten fünften und sechsten Jahrhundert aktiven anonymen Redaktoren des babylonischen Talmud eine besondere Rolle gespielt, deren Arbeit er im Kontext patristischer Gelehrsamkeit produziert sieht. Dies versucht er, an den talmudischen Erzählungen aus Javne zu belegen. Im Schlusskapitel des Buches fasst B. die Argumente für eine asymmetrische Entwicklung des Religionsbegriffes zusammen: Während die Kirche das Judentum als Religion definiert, weisen die Rabbinen dies zurück »und re-ethnifizieren ihre Unterscheidung von den Christen, die ihrerseits auf diese Weise einfach ein Beispiel, das exemplarische Beispiel für Heidenvölker [gentiles] werden« (S. 44).
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D. Börner-Klein: Boyarin, Abgrenzungen
Das von großer Belesenheit zeugende Buch B.s richtet sich an die theologisch gebildeten Juden und Christen, die sowohl in die Literatur über die Zeit des formativen Judentums als auch in die Literatur über die Entstehung und Entwicklung der Urkirche und des Christentums eingearbeitet sind. B.s Fußnoten sind gespickt mit persönlichen Lesarten der analysierten Quellen und der Sekundärliteratur, die er aus dem Verständnishorizont seiner persönlichen Leseerfahrung bewertet und verortet. Dies verlangsamt die Lektüre, da zum einen der Informationskern, den B. vermitteln will, von seiner jeweiligen Lesart dieser Information getrennt, geprüft und bewertet werden muss. Dies wiederum erweist sich als komplex, da B. seine Thesen gerne pointiert und zum Teil provokativ formuliert. Hier sei als Beispiel auf seine Entmythologisierung der rabbinischen Ursprungslegende von Javne verwiesen, als deren Zweck er angibt, die Vorherrschaft der Rabbinen zu sichern (S. 64). Da Rekontextualisierungen wie diese in der rabbinischen Literatur ausfindig zu machen seien, müsse man die vorrabbinischen Schriften (Josephus, Philo, das Neue Testament, die Qumrandokumente, die Apokryphen) vergleichend heranziehen, um den Unterschied zwischen ihnen und der späteren rabbinischen Darstellung benennen zu können. Dies geschieht zwar im Anschluss, allerdings in Verflechtung mit Thesen, die zur Weiterentwicklung von B.s Hypothese über die Bedingtheit von Orthodoxie und Häresie dienlich sind. Aufschlussreich ist hier auch die Analyse von Mischna Edujot 5,6, wonach die Rabbinen Akavja ben Mehalalel exkommunizierten und seinen Sarg steinigten. B. zieht hier eine Parallele zu der Häresiologie der »falschen Propheten«, wie sie Alain Le Boulluec (La notion d’hérésie dans la littérature grecque, IIe–IIIe siècles [Paris 1985] 65 und 33f) bei Justin nachgewiesen und gedeutet hat. Da darüber hinaus eine tannaitische Quelle im babylonischen Talmud (Sanhedrin 89b) als Strafe für die Betätigung als »falscher Prophet« die Steinigung festsetze, lasse dies vermuten, dass Akavja als Häretiker gesteinigt wurde, da er als »falscher Prophet« eingeordnet worden sei. In einer Anmerkung weist B. aber darauf hin, dass Aharon Shemesh (Law and Prophecy. False Prophet and Rebellious Elder [hebr.]: Renewing Jewish Commitment. The Work and Thought of David Hartman, edited by Avi Sagi and Zvi Zohar [Jerusalem
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2001] 923/41) Akavja als »rebellischen Ältesten« versteht und Christine Hayes (Displaced Self-Perceptions: The Deployment of Minim and Romans in B. Sanhedrin 90b–91a: Religious and Ethnic Communities in Later Roman Palestine, edited by Hayim Lapin [Lanham 1999] 249/89) betont habe, »daß es insofern einen Unterschied zwischen christlicher und rabbinischer Häresiologie gibt, als die Verfluchung von Akavja (und Rabbi Eli’eser) mehr durch halachische Differenzen als durch Glaubensfragen ausgelöst wurden. Wir stimmen aber darin überein, daß dies den darunterliegenden Vergleich nicht ungültig macht«. Dem Leser bleibt allerdings überlassen, in diesem doch zentralen Fall von Argumentationsentwicklung selbst zu prüfen, inwiefern dieser Vergleich trotz grundlegender Differenzen bestehen bleiben sollte. – Problematisch ist auch die Datierung der rabbinischen Parallele »zur zweiten Säule des neuen christlichen Diskurses von Orthodoxie« (S. 108), der apostolischen Sukzession, die B. in die zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts datiert. B. fährt zur Stelle fort: »Für die Rabbinen mögen einige Elemente des neuen häresiologischen Diskurses vor dem späten zweiten Jahrhundert da gewesen sein, aber ich würde vorschlagen, daß das Aggregat, welches das rabbinische Judentum hervorgebracht hat, erst in der Mischna ganz am Ende des fraglichen Jahrhunderts formuliert wurde« (S. 108). Sowohl im entstehenden Judentum als auch im entstehenden Christentum sei der Begriff der apostolischen Sukzession »eine Entwicklung aus der hellenistischen diadochē, einer Nachfolgerliste von anerkannten Lehrern, die mit dem gründenden ›Vater‹ der Schule beginnt« (S. 110). Bei beiden sei die Idee jedoch in das Dogma einer Sukzession von Amtsinhabern »mit dem Anspruch auf die alleinige Wahrheit der Tradition und mit der Macht, diesen Anspruch durchzusetzen« (S. 110) transformiert worden. Hier fehlt der Verweis darauf, dass Mischna Avot mit guten Gründen spät datiert und in die Auseinandersetzung mit dem Islam oder den Karäern eingeordnet wurde (siehe A. Guttmann, Tractate Abot – Its Place in Rabbinic Literature: JQR 41 [1950f] 181/93 = ders., Studies in Rabbinic Judaism [New York 1976] 102/14 und G. Stemberger, Die innerrabbinische Überlieferung von Mischna Abot: Geschichte – Tradition – Reflexion, Festschr. M. Hengel, hrsg. von H. Cancik / H. Lichtenberger / P.
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E. Dassmann: Bockmuehl, The Remembered Peter
Schäfer 1 [Tübingen 1996] 511/27). Eine derartige Spätdatierung wiederum würde B.s diesbezügliche These wesentlich schwächen. – Am wenigsten überzeugend sind angesichts der rigorosen Formulierung des ersten Gebotes in Ex. 20,2 und Dtn. 6,7 (»du sollst keine anderen Götter neben mir haben«) B.s Ausführungen zur Logostheologie, wonach die meisten Juden in den ersten zwei Jahrhunderten an den Lehren einer zweiten Gottheit festgehalten hätten, die dann wechselnd »Logos, Memra, Sophia, Metatron oder Jahoel genannt wurde« (S. 135. 193). B. bringt eine Fülle von Texten, die er als Gründungsmythen von Orthodoxien versteht, wobei er Texte der Kirchenväterliteratur mit Texten der rabbinischen Literatur parallel liest. Dabei stehen vor allem Texte des babylonischen Talmud im Vordergrund. Mögen die einzelnen Beispiele im Kontext von B.s Gedankengebäude plausibel sein, so bleibt dennoch offen, warum die innerrabbinische Diskussion um »Rechtgläubigkeit« sich in Auseinandersetzung mit Ideen des spätantiken Christentums und nicht eher in Auseinandersetzung mit Samaritanern oder später mit Karäern herausgebildet haben sollte. Viele Argumente hängen hier an Datierungsfragen der Texte, die nicht überzeugend beantwortet werden. Das Buch stellt daher viele plausible Argumente gerade für den jüdisch-christlichen Dialog zur Verfügung, bringt aber kaum unanfechtbare Argumente über die Aufspaltung eines Judäo-Christentums. Anzumerken bleibt schlussendlich zu S. 263, dass die Frau von Rabbi Eli’eser »Imma Schalom« heißt und nicht »Mutter Frieden« (»Eli’eser« wird ja auch nicht mit »Gotthilf« übersetzt). Wertvoll ist B.s Buch, weil es klarstellt, dass nach Absteckung der Grenzen für das Judentum »das Christentum nicht länger als eine subversive Gefahr für gläubige Juden angesehen wurde« (S. 318). Düsseldorf Dagmar Börner-Klein
Markus Bockmuehl, The Remembered Peter in Ancient Reception and Modern Debate = WUNT 262 (Tübingen, Mohr Siebeck 2010), 8°, XIII, 263 S., Gln. Euro 79,–. ISBN 978–3–16–150580–5. Bockmuehls »Remembered Peter« ist das erste von zwei geplanten Petrus-Büchern, in
dem nach 2004 veröffentlichte Aufsätze verarbeitet sind. Es behandelt in einem ersten Teil die Erinnerung an Petrus im frühesten Christentum als Maßstab für die ihm zukommende Bedeutung, im zweiten Teil Petrustraditionen vor allem im syrischen Raum sowie in Rom und im dritten Teil das biblische Petrusbild als Grundlage für das sich entwickelnde prosopographische Profil des Apostels. Der zweite Band, den der Verfasser in Jahresfrist liefern zu können hofft, soll direkter und systematischer die neutestamentlichen Zeugnisse für Petrus behandeln (S. Vf). Im Einzelnen fragt er im ersten Teil in einem quasi Einleitungskapitel, woher das Interesse an der Aufdeckung der Spuren des Petrus in den ersten beiden Jahrhunderten rührt. Eigentlich erscheint es unverständlich, denn nichts Ungewöhnliches und Besonderes war an diesem »small-time spokesman« einer Handvoll Enthusiasten, die zudem in einem zwiespältigen Verhältnis zu ihm standen. Der Herrenbruder Jakobus oder Paulus besaßen ein ganz anderes Gewicht als der seit Porphyrios von nicht wenigen Kritikern als »Dummkopf«, »Überläufer« und »Feigling« eingeschätzte Petrus (S. 3). Dass viele Forscher ihm nicht zugetraut haben, Rom erreicht oder Palästina jemals verlassen zu haben, verwundert nicht (S. 3/5). Als Gründe für seine eigene intensive Beschäftigung mit Petrus führt B. an: 1. dessen in der gesamten frühchristlichen Literatur bezeugte außergewöhnliche Verbindung mit der Jesustradition; 2. seine in der neutestamentlichen Tradition respektierte Stellung als Erster (in den Jüngerlisten, beim Messiasbekenntnis, als Auferstehungszeuge) und 3. die zentrale historische und theologische Bedeutung dieses zumindest in der protestantischen Forschung nach Meinung M. Hengels »underestimated disciple« (S. 5/7). Wohingegen B. sich eloquent und mit einer Fülle von unverbrauchten, teilweise auch ungewohnten Ausdrücken bemüht, den pivotal place des pivotal Peter (pivotal: ein Lieblingsausdruck des Autors) zu unterstreichen, der consistently, authoritatively und in gewisser Hinsicht sogar uniquely mit der Jesustradition verbunden ist (S. 5f und weiter bis S. 30). Das 2. Kapitel behandelt die Stellung, die Petrus zwischen Jesus und Paulus in der exegetischen Forschung zugewiesen wird. Dabei werden die kontroversen Positionen der historischen und kerygmatischen Jesusforschung sowie das vergebliche Bemühen um
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E. Dassmann: Bockmuehl, The Remembered Peter
den von B. als elusive eingeschätzten third quest kurz skizziert. Etwas positiver betrachtet B. das Bemühen um eine neue Einordnung des Paulus. B. zieht eine Fülle von Forschern heran, die zuweilen mit einem leicht ironischen Unterton eingeordnet und klassifiziert werden. Ob sich alle an der richtigen Stelle platziert finden, mag offen bleiben. Kommt neben Jesus und Paulus Petrus ins Spiel, lässt sich die wissenschaftliche Diskussion auf wenige Autoren konzentrieren. B. beschränkt sich auf E. P. Sanders, J. D. Crossan, N. T. Wright und J. D. G. Dunn (S. 36/57). Das Resultat erscheint ihm enttäuschend, weil aus unterschiedlichen Gründen alle vier Autoren über die Ergebnisse früherer Forschergenerationen nicht hinausgekommen sind, obwohl sie mehr darüber geschrieben haben, als ein normaler Mensch jemals lesen kann. Sie ignorieren die (außerneutestamentlichen) frühchristlichen Traditionen, die das Verhältnis zwischen Jesus, Petrus und Paulus verlebendigen könnten, so dass Petrus nicht zu einem »ideological straw man« oder zu einem »literary whipping boy« schrumpfen muss (S. 58) – was immer damit gemeint sein mag. Das dritte Kapitel des Einleitungsteils (S. 61/70) fragt nach dem historischen Verhältnis zwischen Petrus und Paulus und seiner Beurteilung in der sich anschließenden Rezeptionsgeschichte. Dabei ist B. sichtlich bemüht, das von F. C. Baur in der Nachfolge Luthers propagierte und von den exegetischen »Giants« (S. 62) W. Wrede, R. Bultmann und E. Käsemann weiter ausgebaute Konstrukt eines fundamentalen Gegensatzes zwischen der in der paulinischen Heidenmission verkündeten Rechtfertigung aus Gnade allein und der rivalisierenden petrinischen Mission für die Juden auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Der angebliche Gegensatz zwischen charismatischer Freiheit und hierarchischem Institutionalismus, wie er sich in Gal. 2 sowie 1 und 2 Cor. zeigen soll, wird dabei kritisch hinterfragt. Bei allen Parteiungen – Paulus, Petrus und Apollos waren Diener Christi und Ausspender der Geheimnisse Gottes. Vor allem die nachfolgende Wirkungsgeschichte – angefangen von den Act. über 1 Clem., Ignatius, Irenäus bis hin zu Damasus und der frühchristlichen Kunst – betont die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Aposteln. Auch Mc. und Mt. und der 1 Petr. unterstreichen paulinisches Gedankengut in der petrinischen
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Verkündigung; sogar für den 2 Petr. 3,15 ist Paulus dem Petrus ein »geliebter Bruder«. In einem eigenen Kapitel (5, S. 94/113) entschärft B. noch den Antipaulinismus der Ps.Klementinen. Für B. sind sie nicht ebionitisch und ihr Simon Magus ist nicht Paulus. Natürlich kann man wenn nicht die Spannung zwischen den beiden Aposteln so doch die Fremdheit des Paulus und seiner Theologie in frühchristlicher Zeit weitaus stärker akzentuieren (vgl. E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch [Münster 1979] 222/89; ders., San Pablo en la primera teología cristiana hasta Ireneo: Anuario de Historia de la Iglesia 18 [2009] 239/57). Im 2. Teil seiner Aufsatzsammlung sammelt B. die Erinnerungen an Petrus in der syrischen und römischen Tradition. Im 4. Kapitel schildert er zunächst das Nachleben des Apostels bei Serapion, Justin und Ignatius von Antiochien, im schon erwähnten 5. Kapitel seine Beurteilung in den Ps.-Klementinen. Von besonderem Interesse ist Kapitel 6: Peter’s death in Rom? (S. 114/32) wegen der Aufmerksamkeit, die dieses Thema in jüngster Zeit erfahren hat. Ausgelöst durch eine Studie von O. Zwierlein, Petrus in Rom = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 96 (2Berlin 2010) haben sich 2010 allein zwei Tagungen der Görresgesellschaft ausschließlich diesem Thema zugewandt. Nachdem B. die Ansichten von M. D. Goulder (Did Peter Ever Go to Rome?: Scottish Journal of Theology 57 [2004] 377/96), der Petrus nie nach Rom gekommen, vielmehr um 55 in seinem Bett in Jerusalem gestorben sein lässt, als stumpfes »Rasiermesser« und von Ch. Grappe (Images de Pierre aux deux premiers siècles [Paris 1995]) als blindes »Kaleidoskop« unverbunden nebeneinander stehender Petrusbilder bewertet hat, sucht er selbst einen Ausweg aus diesen und anderen negativen Urteilen über den Romaufenthalt des Petrus, indem er versucht, die in zahllosen Untersuchungen »geschundenen« Quellentexte aus der Enge ausschließlich philologischer Interpretationen zu befreien und in den Traditionsstrom der lebendigen Erinnerung der römischen Gemeinde einzufügen. B. ist überzeugt, dass es neben der zu Literatur geronnenen Überlieferung eine lebendige Erinnerung an Petrus (und die Apostel) gibt, die weit bis ins 2. Jahrhundert reicht. Was Irenäus über Petrus weiß, braucht er nicht irgendwelchen Texten zu entnehmen. Er selbst hatte in seiner Jugend
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E. Dassmann: Bockmuehl, The Remembered Peter
noch gehört, was Polykarp von Smyrna über die Apostel zu berichten wusste. Unabhängig von der Stichhaltigkeit der B.schen Argumente sei die Frage erlaubt, ob das Problem des Romaufenthalts Petri nach der Flut von Veröffentlichungen in ausführlichen Monographien und kaum noch zu überschauenden Zeitschriftenartikeln in letzter Zeit, die gegenüber früheren Arbeiten seit Harnack, Lietzmann, Cullmann, Dinkler, Aland und vielen anderen (vgl. E. Dassmann, Petrus in Rom? Zu den Hintergründen eines alten Streites: S. Heid (Hrsg.), Petrus und Paulus in Rom [Freiburg 2011] 13/31) kaum einen Erkenntnisfortschritt gebracht haben, nicht für die nächste Zeit in Ruhe gelassen werden sollte. Da es keine Eintragung des römischen Einwohnermeldeamtes aus dem 1. Jahrhundert gibt, welche die Anwesenheit des Petrus in Rom gegen jeden Zweifel sichert, wird man über die vorhandenen Quellen weiter streiten können, ohne zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Die philologische, althistorische und patristische Forschung sollte das ausgequetschte Problem verlassen und sich auf Themen konzentrieren, die den Einsatz von Zeit und Mitteln eher rechtfertigen. Im 3. Teil fasst B. unter der Überschrift »The Memory of Peter’s Futures« wiederum 3 Kapitel zusammen. In Kapitel 7 (S. 133/57) untersucht er Vorkommen und Bedeutung der für Petrus gebräuchlichen Namen (Simon, Simon bar Jonah, Kephas und Petros) in den jüdischen Quellen. »Simon« ist schon ein 200 Jahre vor dem Apostel bekannter Name, Simon bar Jonah eine ganz normale jüdische Namensform, Kephas nur als Beiname für den biblischen Petrus nachgewiesen und Petros, der im griechischen Sprachraum meist benutzte Name, auch in jüdischen Quellen bezeugt. Ein kurzer Abschnitt geht auf die »Simon bar Jonah«-Inschrift eines 1953 am Ölberg gefundenen Ossuars ein, das ein lebhaftes Medienecho ausgelöst hat, weil es für die Theorie herangezogen werden konnte, Petrus sei in Jerusalem und nicht in Rom gestorben (S. 146/8). Abgesehen von den Unsicherheiten der Entzifferung bleibt die Übertragung des Namens auf den Apostel willkürlich. Kap. 8 (S. 158/87) beschäftigt sich ausführlich mit den Beziehungen zwischen Petrus und Bethsaida. Der Ort spielt sowohl in der synoptischen als auch in der johanneischen Tradition eine Rolle und ist wegen seiner
Lage in heidnischer Umgebung und der anzunehmenden Zweisprachigkeit seiner Bewohner für die Einschätzung der Mentalität und Bildung des Petrus von Bedeutung – so denn Joh. 1,44 zutrifft und Petrus wirklich aus Bethsaida stammt. B. macht darauf aufmerksam, dass schon O. Cullmann 1953 darauf hingewiesen und in Verbindung mit Act. 10f dem Petrus einen Universalismus und theologischen Weitblick zugetraut hatte, der von dem des Paulus gar nicht so verschieden gewesen sein muss (S. 158). Cullmann besaß noch kaum archäologische Kenntnisse über Bethsaida. Das hat sich inzwischen geändert, ist aber – wie B. verwundert feststellt – in der Petrusforschung bis heute kaum ausgewertet worden. Diesen Mangel behebt B., indem er den heutigen Wissensstand über Geographie und Geologie, sozialen Status, Wirtschaft, Lebensumstände und Architektur Bethsaidas zusammenstellt und für den sozialen Hintergrund des Petrus auswertet. Alles spricht dafür, dass Petrus aufwuchs »in predominantly Gentile surroundings« (S. 186). Selbst wenn er nicht den Horizont des Paulus gehabt haben wird, er teilte auch nicht die Enge des Jakobus. Das letzte (9.) Kapitel (S. 188/205) behandelt die Lc. 22,31f von Jesus vorhergesagte »Bekehrung« des Petrus, die in der nachfolgenden Rezeption bei weitem nicht die Beachtung gefunden hat wie die des Paulus. Was sich in der Erinnerung erhalten hat, versucht B. mit dem hagiographischen, allegorischen und exegetischen Schlüssel zu erschließen. Neben möglichen Reflexen des Lukasverses in 1 Petr. 1,3 und Joh. 21,2/14 streift B. auch die Szene Christus-Petrus mit dem Hahn in der frühchristlichen Kunst (S. 196/ 9). Was dieses kurze Streiflicht zur Erklärung von Lc. 22,33 beitragen soll, wird nicht ganz deutlich. Die Szene ist im Zusammenhang mit dem ikonographischen Kontext, in dem sie erscheint, sehr verschieden interpretiert worden und lässt sich nur schwer für eine konkrete Auslegung vereinnahmen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass B.s »Remembered Peter« eine spannend zu lesende Lektüre bietet, die erfrischend neue Aspekte der Petrusrezeption eröffnet und den Erkenntnisgewinn mancher umfangreicherer Petrusbücher übertrifft. Vor allem die ermüdende Petrus-Rom-Diskussion der letzten Jahre – falls sie weiter geführt werden sollte –
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E. Dassmann: Schmidt, Petrus und sein Grab in Rom
vermag sie aufzumischen und mit bedenkenswerten Anstößen zu versehen. Bonn Ernst Dassmann
Josef Schmidt, Petrus und sein Grab in Rom. Gemeindegründung, Martyrium und Petrusnachfolge in der Offenbarung des Johannes und im Hirt des Hermas = Theologische Texte und Studien 16 (Hildesheim/Zürich/New York, Olms 2010), 8°, 536 S., brosch. Euro 68,–. ISBN 978–3–487– 14483–2. Schmidt, der neutestamentliche Exegese an der theologischen Hochschule St. Augustin bei Bonn lehrt, besitzt eine ausgesprochene Vorliebe für Interpretation und Verwertung neutestamentlicher und früher nachapostolischer Texte, die seiner Meinung nach aufgrund der frühchristlichen Arkandisziplin von ihren Verfassern kryptisch verschlüsselt worden sind, um die berichteten historischen Ereignisse für den unbefugten Leser unerkennbar zu machen. Er kommt dabei zu frappierenden Ergebnissen, die so in der gesamten exegetischen und patristischen Forschung noch nicht erzielt worden sind. Schon in seiner an der Römischen Päpstlichen Universität Gregoriana entstandenen und in der von G. Fischer und Th. Söding herausgegebenen renommierten Reihe »Forschung zur Bibel« erschienenen Dissertation löst er strittige Einleitungsfragen zum Matthäus-Evangelium in überraschender Manier und erweist den aus Act. bekannten »Diakon« Philippus als seinen Verfasser (vgl. Gesetzesfreie Heilsverkündigung im Evangelium nach Matthäus = Forschung zur Bibel 113 [Würzburg 2007] 264/9). Mit Hilfe der Auflösung kryptischer Verschlüsselungen kommt Sch. zu ungeahnten Ergebnissen. So verbirgt sich das um 200 bezeugte Akrostichon ΙΧΘΥΣ bereits in Mt. 16,16. Wenn Petrus bekennt: σὺ εἶ => Ἰησους => Ι => Χ ὁ χριστός => Υ ὁ ὑιός τοῦ θεοῦ τοῦ ζῶντος => Θ stößt man auf die ersten vier Buchstaben des Fischnamens (ΙΧΘΥΣ). Das Σ fehlt noch, weil die Erlöserfunktion Christi von Petrus in seinem vorösterlichen Christusbekenntnis noch nicht erkannt werden konnte (Gesetzesfreie Heilsverkündigung 152/4).
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Die in der Dissertation angewandte Methode hatte Sch. bereits in einer ersten umfangreichen Untersuchung über »Das Gewand der Engel. Der historische Hintergrund von Mk 16,1–8 par und dessen Einfluß auf die Thematik und literarische Form der Apostelgeschichte« entwickelt. Das Werk wurde noch nicht in einer von Herausgebern verantworteten Reihe, sondern als selbständige Monographie im Hofbauer Verlag (Bonn 1999) herausgegeben. Außerordentlich ergiebig für die Gewinnung unerwarteter Einsichten erwies sich in dieser ersten Untersuchung der Stammbaum Jesu in Lc. 3,23/31. Sch. konstruiert zB. aus den vier Namen Amos, Nahum, Hesli und Naggai durch Rückwärtslesen sowie das Hinzufügen, Auslassen und Umstellen von Buchstaben den Satz: Mein Leib (Amos rückwärts = Soma) ist das Heilige [des Volkes] Israel. Aus der gesamten Namensaufzählung in 3,23/31 wird auf diese Weise ein Text, den Sch. so übersetzt: Hanna empfing den Sohn Gottes. Mein Leib enthält das Heilige Israels. Du teilst ›Christus‹ zu. Ich preise Hanna. In Damaskus erlangte ich Frieden. Ich kenne Maria, (die Mutter des) Sohnes Gottes, und preise sie. Ob Jonier oder Grieche – wer auch immer du bist – ich lerne dich kennen (Sch., Gewand der Engel 338f). Kirchengeschichtlich ausgewertet – und der größere Teil der Untersuchung Sch.s über das »Gewand der Engel« befasst sich mit der Interpretation des lukanischen Doppelwerks »als kirchenhistorische Quelle« (ebd. S. 178/367) – wird dieser Text zu einer Inschrift, die Lukas einem Haus in Bethlehem und einem Haus in Nazaret – »sie waren einmal Tempel Gottes – als schmückende Erinnerung zugedacht hat« (ebd. 366). Dieser Blick auf die ersten beiden Veröffentlichungen Sch.s kann helfen, seine Arbeitsweise in dem hier vorzustellenden Buch besser zu verstehen – dessen Lektüre zunächst ratlos macht. Schon drei Jahre nach der Dissertation erschien in der ohne eigene Herausgeber vom Verlag Olms publizierten Reihe »Theologische Texte und Studien« Bd. 16, Sch.s umfangreiche Untersuchung über »Petrus und sein Grab in Rom«, die unabhängig von allen kritischen Einwänden zunächst einmal von der bewundernswerten Arbeitskraft des Verfassers zeugt. Titel und Inhalt entsprechen den Schwerpunkten seines Forschungsinteresses: Petrus und die kryptische Literatur. Bereits im Engelbuch war Sch. bemüht, Le-
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E. Dassmann: Schmidt, Petrus und sein Grab in Rom
ben und Wirken des Apostels bis zu seinem Tod und Begräbnis mit Hilfe der Visionen des Hermas nachzuzeichnen, während er in der Dissertation versuchte, das Matthäusevangelium als »petrinisches« Evangelium zu erweisen. Vergegenwärtigt man sich die endlosen Diskussionen und ausufernden Publikationen, die gerade in jüngster Zeit sich mit Aufenthalt, Tod und Begräbnis des Petrus in Rom befasst haben – erinnert sei nur an die beiden Tagungen der Görres-Gesellschaft zu diesem Thema in Rom und Freiburg in 2010 oder an die Veröffentlichungen von O. Zwierlein und M. Bockmuehl 2009 bzw. 2010 –, liest man mit Erstaunen die von Sch. wie selbstverständlich vorgetragene Feststellung, das von Hermas angelegte Erdgrab des Apostels sei drei Jahrhunderte intakt geblieben, die Gebeine dann unter Konstantin in das Marmorfach nahe der »Roten Mauer« umgebettet worden, von wo sie Mitte des 20. Jahrhunderts entnommen wurden, ohne als Gebeine des Petrus erkannt zu werden; erst die Epigraphikerin M. Guarducci habe 10 Jahre später ihre wahre Identität festgestellt. Geirrt habe sich Guarducci allerdings hinsichtlich des kostbaren, mit Goldfäden durchwebten Purpurstoffes; der stamme nicht von Konstantin, sondern sei am 13. Oktober des Jahres 64 von Hermas aus dem Zirkus des Nero entwendet und zusammen mit den Gebeinen Petri der Erde übergeben worden (S. 330/49; vgl. S. 42. 365f). Sch. lässt sich von den in den letzten 10 Jahren erschienenen Untersuchungen zum Thema »Petrus in Rom« nicht beeindrucken. Wo er neuere Arbeiten zur Kenntnis nimmt und zitiert, haben sie keinen Einfluss auf seine Argumentation. Zwierleins umfassende Kritik am Romaufenthalt des Petrus zB. wird zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht diskutiert (vgl. die beiden Erwähnungen Zwierleins S. 115. 476, die Nebensächlichkeiten betreffen), die neueren Einlassungen aus dem angelsächsischen Raum (Goulder) oder Frankreich (Grappe) übergangen. Wenn Kirschbaum und Prandi ebenso wie deren Kritiker Thümmel und Gerkan aufgrund eines datierten Ziegels glauben, Grab γ könne nicht vor 115 entstanden sein, brauchen sie nicht widerlegt zu werden, denn sie unterliegen einem »fatalen Fehlschluss«: Da das Grab nicht in »intaktem Zustand, sondern in einem von Pius manipulierten Zustand aufgefunden wurde, ist der Rückschluß auf das Alter von
Grab γ methodisch nicht nur riskant, sondern in diesem Fall sogar definitiv falsch« (S. 449f523, Hervorhebung von Sch.). Mit Pius ist Papst Pius I gemeint, der die Similitudines 8/10 des Hermas verfasst habe (vgl. S. 330. 335/ 40). Bei solcher Argumentation erscheint eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Fachliteratur in der Tat unmöglich. In seinem Engelbuch hat Sch. selbst begründet, warum er nicht in ein direktes Gespräch mit den Vertretern der entsprechenden Disziplinen eingetreten ist: Es war das »geradezu befremdlich wirkende Bild, das zu entwickeln ich mich genötigt sah. Gerade die von mir zu Rate gezogene fachwissenschaftliche Literatur hat mir . . . vor Augen geführt, mit wie wenig Akzeptanz dieses Buch zu rechnen hat, wenn seine Thesen nicht wirklich detailliert und zugleich umfassend begründet sind« (Sch., Gewand der Engel 368). Diese Einschätzung gilt auch für das Petrusbuch. Doch gelingt Sch. in ihm eine detaillierte und umfassende Begründung seiner Thesen? Wie detailliert und umfassend seine Untersuchungen angelegt sind, zeigt eindrucksvoll das Inhaltsverzeichnis. Das Buch gliedert sich in die Teile A bis F, von denen A: »Petrusamt und Petrusnachfolge in der Offenbarung des Johannes« (S. 18/113), B: »Neutestamentliche Ergänzungen« (S. 114/94), C: »Die Gründung der römischen Gemeinde im Spiegel des Markusevangeliums und der Grußliste des Römerbriefs« (S. 195/234), D: den »historische(n) Ursprung des Petrusdienstes nach dem Evangelium des Johannes Markus« (S. 235/69), E: »Die verborgene Präsenz der Mutter Jesu in der Zeit der frühen Christenheit« (S. 270/ 323) und F: den »Hirt(en) des Hermas« (S. 324/469) behandelt. Es folgen 12 (kurze) Exkurse, die Abbildungen zur »Petrusmemorie im ersten und zweiten Jahrhundert«, ein Literaturverzeichnis, Stellenregister, Namen- und Sachregister, Autorenregister sowie ein Verzeichnis der Abbildungen (470/536). Eine fortlaufende Besprechung der Arbeit ist nicht möglich, denn es findet sich im ganzen Buch kaum eine Seite, die nicht zu einer kritischen Stellungnahme herausfordert. Manche Zwischenüberschriften verblüffen; so wenn zB. in Teil A. 1,8,2 die Vermessung der Apostelgräber aus Apc. 11,1/3 herausgelesen (S. 38/40) oder in A. 3,7 die Beschreibung der Apostelmemorie unter St. Peter mit Hilfe von Apc. 21 vorgenommen wird (100/2). Letztere sei hier kurz vorgeführt, um die
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E. Dassmann: Schmidt, Petrus und sein Grab in Rom
allenthalben anzutreffende Argumentationsweise des Verfassers an einem Beispiel zu verdeutlichen. In Apc. 21,9 (Und es kam einer von den sieben Engeln . . .) tritt dem Leser »der Custos der Petrusmemorie entgegen: Es ist Hermas, der den Apostel bestattet und die erste Ausgestaltung der Petrusmemorie in Angriff genommen hatte«. Was anschließend in Apc. 21,9/11 beschrieben wird, meint – seiner arkandisziplinären Verhüllung entkleidet: »Komm, ich will dir die Braut zeigen, die Frau des Lammes. Da entrückte er mich in der Verzückung auf einen hohen Berg (mons Vaticanus) und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem (Petrusgrab), wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam. . . . Ihr Leuchter (Grab γ) war aus kostbarem Stein (= Marmorverkleidung) wie glänzender Jaspis (Offb 21,11)«. Das Grab in der römischen Nekropole wird in Apc. 21,12 beschrieben, denn der Schrifttext: Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln darauf. Auf die Tore sind Namen geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels meint in Wirklichkeit: »Die Stadt (Nekropole) hat eine große und hohe Mauer (hohe Mauer an der Frontseite der Mausoleen S und O) mit zwölf Toren (›zwölf‹ = Apostelgrab; Tor = Eingänge zu den Mausoleen) und zwölf Engeln (Inschriften über den Eingängen) darauf. Über den Toren (Eingänge der Mausoleen) sind Namen (Verstorbener) geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels (= verstorbene Vorfahren einer Familie) (Apc. 21,12). Das Petrusgrab befindet sich in einer Stadt mit vielen Toren und einem Fluss, der (in Rom) von Norden nach Süden führt . . .«. In Apc. 21,15 »ist es der Custos selbst, der im Bereich der Petrusmemorie genau drei Messungen vornimmt«: »a) die Vermessung des Kubus (Grab γ)« (vgl. Apc. 21,16); »b) die Vermessung der Petrusmemorie« (vgl. Apc. 21,17); »c) Identifizierung der Libationsröhre an Grab γ« (Apc. 21,18). D. h. die Topographie der Stadt Rom und der Ausgrabungen unter St. Peter wird punktgenau und vollständig der Offenbarung des Johannes entnommen, was umgekehrt bedeutet – nicht nur in diesem Fall, sondern ebenso hinsichtlich der zahlreichen anderen von Sch. behandelten literarischen Texte und archäologischen Monumente –: Die Interpretation der historischen Befunde gründet in Aussagen der Heiligen Schrift und hat offenbarungsmäßigen Rang.
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In der Auslegung von Apc. 21, 9/21 tauchte unvermittelt ein Custos-Hermas auf, der neben dem Apokalyptiker Johannes für Sch. die Hauptquelle seiner Petrusauslegung darstellt. Beide, Hermas und Johannes, ergänzen und bedingen einander, ihre Aussagen können gegenseitig aufgerechnet und nach entsprechender Dechiffrierung als kirchengeschichtliche Quelle benutzt werden. Dem Beweis für die kirchengeschichtliche Zuverlässigkeit des »Hirten des Hermas« dient der umfangreiche Abschnitt F (vgl. o. S. 184), dessen Ertrag Sch. schon zu Beginn seiner Untersuchung auswertet, um die Bezeugung des Martyriums der Apostelfürsten in Apc. 1/3 und 10 nachweisen zu können. Was den Tod und die Bestattung des Petrus angeht, entnimmt er der 3. Vision des Hermas – ausführlich behandelt S. 365/86 – bereits auf S. 42 als Quintessenz: »Während die Zirkusspiele im Gange waren, hielt sich Hermas in der vatikanischen Nekropole versteckt. Auch nach dem Ende der Spiele . . . hielt er sich noch geraume Zeit verborgen; erst gegen 22 Uhr betrat er den menschenleeren Zirkus. In schnellem Laufschritt passierte er zunächst den Obelisken und fand in dessen Nähe den (mit dem Kopf nach unten) gekreuzigten Apostel. Mit einem Beil durchtrennte er die Stricke, mit denen man den Rumpf des Apostels am Kreuz festgebunden hatte. . . . Auf der Suche nach einem Tuch, in das die Leiche eingewickelt werden konnte, fiel sein Blick auf die Loge des Kaisers, wo ein purpurnes und mit Goldfäden besticktes Tuch zurückgeblieben war. Hermas wickelte die Leiche des Apostels in dieses Tuch und trug sie an den Ort, den er zur Bestattung ausgesucht hatte«. Wie gesagt, bei dieser Schilderung handelt es sich nicht um einen apokryphen Märtyrerbericht oder die freie Nacherzählung und Ausschmückung historischer Andeutungen in antiken Quellen, sondern sie soll sich, wie Sch. S. 365f ausführt, aus Hermas, visio 3,1,1/5 entnehmen lassen. Gleiches gilt für die weiteren Aktionen des Hermas und des Papstes Pius, von dem die Hermas-Gleichnisse 8/10 stammen sollen, bis hin zu den Arbeiten der konstantinischen Bauleute. Was Hermas und Pius beschreiben, spiegelt sich zugleich in den archäologischen Funden im Bereich des Grabhofs P wieder. Sch.s Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Spontan möchte man O. Zwierlein zustimmen, der urteilt: »Es ist das völlige Abgleiten von Christlicher Archäologie, Patri-
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stik und Theologie in die Irrationalität« (Kritisches zur römischen Petrustradition und zur Datierung des Ersten Clemensbriefes: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 13 [2010] 140). Andererseits ist die Arbeit voll von treffenden Beobachtungen, glänzend geschrieben und in sich betrachtet von beeindruckender wissenschaftlicher Methodik. Sie ruht durchaus auf den allgemein akzeptierten Erkenntnissen, die Philologie, Kirchengeschichte und Christliche Archäologie über Person und Wirken des Petrus zusammengetragen haben. Doch sie geht weit darüber hinaus – nicht im Sinne eines Romans, der phantasievolle Ergänzungen an historische Versatzstücke anknüpft, sondern mit dem Anspruch, dass ihr Überschuss an Ergebnissen sich aus einer exegetischen Dechiffrierung der Johannesoffenbarung, der Schriften des Hermas und der übrigen von ihr benutzten biblischen Quellen exakt erheben lässt. Dass die historische Petrusforschung darin zustimmt, ist nicht anzunehmen. Bonn Ernst Dassmann
Ulrich Mell, Christliche Hauskirche und Neues Testament. Die Ikonologie des Baptisteriums von Dura Europos und das Diatessaron Tatians = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments 77 (Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2010), 8°, 340 S., geb. Euro 70,–. ISBN 978–3–525–53394–9. Normalerweise präzisiert bei einem Buchtitel der Untertitel den Haupttitel. Das würde bedeuten, dass im vorliegenden Fall die Erforschung der frühchristlichen Hauskirchen anhand einer Untersuchung des Baptisteriums von Dura-Europos weitergebracht werden soll. In Wirklichkeit stehen beide Titel eher nebeneinander, denn die »Christliche Hauskirche« gibt nicht nur das Ziel an, auf das hin der archäologische Befund von Dura-Eurapos untersucht werden soll, sondern bildet selbst einen Untersuchungsgegenstand, dem sich der Vf. in den ersten drei Abschnitten seines Buches intensiv widmet, bevor er sich der im Untertitel angegebenen Aufgabe zuwendet. Nun sind christliche Hauskirchen, die Bildausstattung des Baptisteriums von Dura-Europos und auch Evangelienharmonien nicht ge-
rade Themen, die von der einschlägigen Forschung bisher unbeachtet geblieben sind. Darum begründet M. im Vorwort zunächst, warum er sie nochmals aufgreift: Sie sind bisher nur »in sektional intensiver, aber auch fachlich eingegrenzter Weise thematisiert« worden. Demgegenüber will der Vf. versuchen, alle »im Bereich historischer Forschung eingeführten Wissenschaftszweige . . . an der Erschließung und Deutung eines christlichen Kulturdenkmals zu beteiligen« (S. 5). Das Baptisterium von Dura-Europos soll »interdisziplinär« oder – wie der Vf. lieber sagt – »transdisziplinär«, d. h. in diesem Fall aus neutestamentlicher Sicht erschlossen werden. Auch auf die Frage, warum sich ein Neutestamentler statt mit Texten urchristlicher Autoren mit einem Monument aus dem 3. Jh. beschäftigt, liefert M. eine Antwort: 1. wegen der Bedeutung der syrischen Kirchengeschichte für »das Verstehen der urchristlichen Sozial-, Literatur- und Theologiegeschichte vor 150 n. Chr.«, 2. wegen der historischen Einmaligkeit der Hauskirche von Dura-Europos, die 3. in der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft bisher »stiefmütterlich« behandelt worden sein soll (S. 6f). M. ist der Meinung, dass die von Kraeling/Welles herausgegebenen Forschungsberichte und -ergebnisse im »Final Report« Bd. VIII/II von 1967 bisher kaum Eingang in das »kollektive christliche Gedächtnis« gefunden haben. Sie der historischen Fachwelt sowie den geschichtlich Interessierten zugänglich zu machen, würde Sinn und Zweck seines Buches bereits bestens erfüllen (S. 7). Neben dieser Wissensvermittlung würde sich der eigene Forschungsbeitrag auf den ikonographischen und ikonologischen Vergleich des Bildprogramms von Dura-Europos mit Tatians Diatessaron (S. 253/ 9) konzentrieren. Die Gliederung reiht in 16 unterschiedlich langen Abschnitten die behandelten Gegenstände aneinander. Kurz behandelt werden 1. »Die archäologische Besonderheit der christlichen Hauskirche von Dura Europos« und 2. ihre forschungsgeschichtliche Rezeption (S. 19/32). Ebenfalls konzentriert gefasst bietet der 3. Abschnitt eine Übersicht »zur Geschichte von Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum« (S. 33/57), dem in einem 4. Kapitel eine ausführlichere Beschreibung des Ortes Dura-Europos und seiner Geschichte, der Geschichte des christlichen Ge-
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bäudes in der Zeit von 232/33 bis ca. 240 und von 240 bis 256/57 sowie der christlichen Gemeinde und ihres Gottesdienstes folgt (S. 59/ 105). Will man Haupt- und Untertitel des Buches näher aufeinander beziehen, könnte man die Ausführungen bis hierhin auch als eine breit angelegte Einleitung zu den jetzt folgenden Untersuchungen über Dura-Europos betrachten. Nach knappen Einlassungen zur »Archäologie des Baptisteriums« (Abschnitt 5: S. 107/ 11) bilden die Abschnitte 6 über die Ikonographie – mit einem Exkurs über das biblische »Bilderverbot« angesichts der Bilderfülle in der Hauskirche (S. 120/6) – und 8 über die Ikonologie der Ausmalung des Baptisteriums – unterbrochen von einer kurzen Übersicht über die Inschriften und Graffiti (Abschnitt 7: S. 157/62) – den einen Schwerpunkt der Untersuchung (S. 113/87). Den anderen markieren die Untersuchungen zu den frühchristlichen Evangelienharmonien. Zunächst wird in Abschnitt 9 das griechische Dura-Fragment 0212 vorgestellt (S. 189/204); sodann im Hauptabschnitt 10 Tatians Leben und Werk (S. 205/52). In den abschließenden Abschnitten werden in knappen Bemerkungen die Konsequenzen für Wahl und Bedeutung des Bildprogramms in Dura-Europos gezogen, sowohl was »die Deutung des Auferstehungszyklus im Licht von Tatians Evangelienharmonie« in Abschnitt 11 (S. 253/6) als auch umgekehrt »die Bedeutung der Bilder des Baptisteriums für die Rekonstruktion von Tatians Evangelienharmonie« in Abschnitt 12 (S. 257/9) angeht. Angehängt werden in Abschnitt 13 (S. 262/4) ein paar Überlegungen, welche »die Taufe als rituelle Aneignung von Christi Auferstehung« erweisen und in einem Exkurs »zur gottesdienstlichen Zeit des Taufgottesdienstes« Stellung nehmen. Erst jetzt wird in Kapitel 14 eine theologisch-ikonologische Interpretation der Rückwand des Baptisteriums mit dem alles entscheidenden Hirtenbild geboten (S. 265/87) und in 15 die Illustrationen als biblische Tauftheologie charakterisiert (S. 289/93). Als eine Art Anhang wird dann noch in Abschnitt 16 das »Problem der Evangelienpluralität« in der neutestamentlichen Wissenschaft behandelt (S. 295/314). Ein Abkürzungsverzeichnis, ein Verzeichnis der zahlreichen Abbildungen, Figuren und Karten am Anfang sowie ein Literaturverzeichnis, ein Stellen- und (äußerst knappes) Personen-
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und Sachregister am Schluss erschließen den Inhalt des Buches. Insgesamt macht die Gliederung einen etwas unausgewogenen Eindruck, der sich in der sehr unterschiedlichen Länge der einzelnen Abschnitte bemerkbar macht. Da M.s Untersuchung weniger die Erschließung unbenutzter Quellen zur Entwicklung und Begründung neuer Forschungsergebnisse, sondern mehr die Zusammenstellung, kritische Sichtung und Kommentierung bekannter Sachverhalte zum Inhalt hat, soll im Folgenden der Gedankengang der Arbeit nicht vollständig referiert und auf seine Plausibilität hin überprüft werden. Es seien nur einige Beobachtungen mitgeteilt, welche dem interessierten Leser, der aber nicht unbedingt Spezialist für Christliche Archäologie im Allgemeinen und Dura-Europos im Besonderen ist, M.s Arbeitsweise, seine hauptsächlichen Anliegen und den positiven Ertrag seiner Untersuchung verdeutlichen können. Zuweilen erschwert sich der Autor seine Arbeit, indem er unnötige Fragen stellt und Alternativen aufbaut. So schon am Beginn mit dem Hinweis: »Die Christianisierung der vorkonstantinischen Zeit konnte in Hinsicht auf eine Architektur, die von einer nichtchristlichen Öffentlichkeit wahrgenommen werden konnte und sollte, auf verschiedene Weise erfolgen« (S. 19). M. denkt dabei an die bauliche Gestaltung von Märtyrergedächtnisstätten und christlichen Versammlungsorten. Bei Letzteren unterscheidet er Privathäuser mit christlichen Emblemen, Häuser mit eingebauten christlichen Kapellen und zu Hauskirchen umgebaute Privathäuser. Doch ließen die sich wirklich und für alle sichtbar mit architektonischen Mitteln als christliche Gebäude kenntlich machen? Der Vf. scheint selbst Zweifel zu haben, wenn er (in einem schwer verständlichen und grammatikalisch verunglückten Satz) bemerkt: »Schon die archäologische Frage: ›Woran kann ein Haus als Ort christlicher Versammlungen erkannt werden?‹ macht darauf aufmerksam, dass der religiöse Charakter des regelmäßigen christlichen Gottesdienst[es?] mit der Versammlung der Gläubigen zu Wortverkündigung und Kultmahl dazu führt, dass es zu keinen archäologisch nachweisbaren Spuren an den zur Kultausübung benutzen [sic!] Hausbauten kommt« (S. 19f). Im Folgenden werden dann wiederum Beispiele diskutiert, bei denen dennoch architektonische bzw. ikonographische
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Spuren christlicher Nutzung nachgewiesen werden konnten. Anschließend wird das Gebäude von Dura-Europos vorgestellt (S. 23/ 5), das trotz seiner Besonderheit und einzigartigen Bedeutung in der deutschsprachigen Forschungsgeschichte kaum rezipiert worden sein soll (S. 27/32). Neben kurzen Lexikonartikeln im LThK und RGG habe sich nach dem Erscheinen des Final Reports 1967 ein einziger Aufsatz mit dem Thema befasst (S. 27). Das Ergebnis erscheint weniger desolat, wenn man die fremdsprachige Literatur und die Beachtung der architektonischen und ikonographischen Aspekte der Hauskirche in einschlägigen, Dura-Europos übergreifenden christlich-archäologischen Studien mit einbezieht (vgl. die Literaturhinweise bei D. Korol, Gehen die David- und Goliath-Darstellungen im ›Baptisterium‹ von Dura-Europos sowie im Vatopedi Psalter »auf den gleichen Archetyp« zurück? Neues zum ursprünglichen Aussehen und zur Deutung der Darstellung im ›Baptisterium‹: Syrien und seine Nachbarn von der Spätantike bis in die islamische Zeit. Hrsg. von I. Eichner / V. Tsamakda [Wiesbaden 2009] 147/52; E. Dassmann, Sündenvergebung durch Taufe, Buße und Martyrerfürbitte in frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst = Münsterische Beiträge zur Theologie 36 [Münster 1973] 42/5. 374/7). Zum Schluss der einleitenden Abschnitte gibt M. unter sorgfältiger Beachtung der Forschungsliteratur einen umfassenden Überblick über alle frühchristlichen Zeugnisse, die von Hausgemeinden und Hauskirchen berichten (S. 33/57). Die Ausführungen über das Bildprogramm der Hauskirche von Dura-Europos beginnen mit einer Beschreibung des Ortes, seiner verkehrsgeographischen Lage, der Namensbedeutung, der Stadtanlage und Stadtgeschichte sowie der Lage und Baugeschichte des christlichen Gebäudes (S. 59/111). M. unterscheidet zwischen dem christlichen Haus in der Zeit zwischen 232/33 bis 242 und der daraus umgebauten Hauskirche nach 240 bis zur Zerstörung der Stadt, die einen multifunktionalen Charakter gehabt hat, »denn vorhanden sind mehrteilig strukturierte Gottesdiensträume, eine Sakristei, ein Raum für Katechumenenunterricht, eine kleine Wohnung für den ›Küster‹ und . . . ein Baptisterium« (S. 99). Die anschauliche Beschreibung der Räumlichkeiten sowie des Gottesdienstes zunächst im Privathaus, später
dann in der Hauskirche, ist so zuverlässig wie die Literatur, auf die der Verfasser sich stützt – im Wesentlichen der Final Report Kraelings und P. Maser, Synagoge und Ekklesia. Erwägungen zur Frühgeschichte des Kirchenbaus: Begegnungen zwischen Christentum und Judentum, Festschr. H. Schreckenberg (Göttingen 1993) 271/92. Entgegenstehende Meinungen werden abgelehnt. Verbindet man die baulichen Beobachtungen mit Nachrichten aus Apostelakten und Kirchenordnungen, entsteht ein anschauliches Bild davon, wie es in Dura-Europos gewesen sein könnte. Den wichtigen Abschnitt über die Ikonographie des Baptisteriums beginnt M. vernünftigerweise mit methodischen Überlegungen zur Bildinterpretation frühchristlicher Monumente und angesichts der reichhaltigen Ausmalung des Taufraums mit einem Exkurs über das biblische »Bilderverbot« (S. 114/ 26). Er beruft sich dabei neben Deichmann und Panofsky vor allem »auf die wegweisenden Überlegungen zur Interpretation frühchristlicher Bildwerke« von J. Engemann, Deutung und Bedeutung frühchristlicher Bildwerke (Darmstadt 1997), dessen Dreischritt: Beschreibung, Erklärung und Deutung M. aber wieder auf die beiden Schritte Ikonographie und Ikonologie reduziert (S. 119f). Im Exkurs über das Bilderverbot werden vor allem »fast alle Vermutungen von Th. Klauser als haltlos widerlegt« (S. 122). Auch die Positionen von W. Elliger, J. Kollwitz und H. von Campenhausen müssen als unzutreffend und überholt gelten. Dass sich M. das eindrucksvolle Bildmaterial aus Dura-Europos nicht als Ausrutscher einer unbedeutenden, vielleicht sogar heterodoxen christlichen Gruppe am Rande der christlichen Ökumene im Widerspruch zur offiziellen Bilderverbotstheologie der Großkirche marginalisieren lassen will, ist verständlich, seine Beweisführung, welche die inzwischen vorgetragenen Argumente gegen die Geltung eines Bilderverbots in der Kirche bis ins 4. Jahrhundert hinein anführt, einsichtig. Die ikonographische Beschreibung ruht auf den in der Literatur vorhandenen Beschreibungen, Abbildungen und Skizzen. Der Vf. hat sich alle Mühe gegeben, die Angaben und Abbildungen im Final Report durch vorhergehende und nachfolgende Ergänzungen, Skizzen, briefliche Mitteilungen der Ausgräber und in der Forschung diskutierte Rekonstruktionsversuche zu ergänzen. Zahlreiche
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Strichzeichnungen, die in der Regel übernommen, hin und wieder aber auch von M. bearbeitet worden sind (vgl. Abb. 22. 23), komplettieren die Beschreibung. Die ikonographische Erklärung des Bildmaterials kann nur so zuverlässig sein, wie es die dem Vf. zur Verfügung stehenden Quellen hergeben; sie geht über bisher Bekanntes nicht wesentlich hinaus. Dass intensive Forschung ein gutes Stück weiterkommt, zeigt die Studie von D. Korol über die David- und Goliathszene (s. o. S. 188). M. muss sich bei seiner Beschreibung mit Kraeling, ergänzt durch Hopkins, der David mit der linken Hand den abgeschlagenen Kopf des Goliath halten sieht (S. 133), begnügen. In der ikonologischen Deutung wird die Szene unter die Überschrift »Das christliche Leben als Tod des Todes« subsumiert (S. 169/73). Korol geht dagegen auf ältere Abbildungen zurück, zB. auf eine Feldfotografie, die kurz nach der Auffindung des Bildes entstanden und neuestens am Computer überarbeitet und verbessert worden ist, sowie ein weiteres Foto, das die Malerei vor der 1934 erfolgten Montage des Baptisteriums in der ›Yale Art Gallery‹ zeigt (Korol, Davidund Goliath-Darstellungen 131/3). Korol glaubt Armspangen und Halsschmuck an den Figuren von David und Goliath nachweisen zu können, was die Darstellung als typisches Produkt der Grenzregion zwischen Römer- und Perserreich und Hinweis auf die gefährdete Lage der Christen in Dura-Europas erklären würde (ebd. 145f). Ob mit Korols historischer Interpretation die Szene aus jeder theologisch-baptismalen Deutung herausfällt, muss damit freilich nicht gesagt sein. Besondere Aufmerksamkeit schenkt M. dem Hirtenbild auf der Lünettenwand über dem Trog auf der Westwand mit dem zentralen Hirtenbild, das unter ikonographischen (S. 150/4) und – erst nach den Ausführungen über Tatian und weiteren Abschnitten – ikonologischen Aspekten (S. 266/86) als »das zentrale Heilsbildarrangement« der gesamten malerischen Ausstattung des Baptisteriums thematisiert wird. Die ikonographische Erklärung ist allerdings sehr knapp und lässt wichtige Fragen ganz außer Acht: Wie ist zB. das zeitliche Verhältnis zwischen Hirten- und Sündenfallbild? Entstanden beide gleichzeitig oder ergänzt bzw. präzisiert das eine Bild das andere (vgl. Dassmann [o. S. ##] 375f)? Waren auf dem jetzt bildfreien Raum rechts neben dem Sündenfallbild weitere Szenen ei-
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nes biblischen Zyklus dargestellt oder geplant? Im ikonologischen Teil setzt sich M. dagegen ausführlich mit der Herkunft und Bedeutung des Hirtenbildes auseinander, wobei er auf einige zuverlässige Vorgänger zurückgreifen kann (Engemann, Himmelmann-Wildschütz u. a. m.), die ihn sicher durch eine nahezu undurchdringliche Meinungsvielfalt in der bisherigen Forschung leiten. Mit Rückgriff auf klare Aussagen in der patristischen und apokryphen Literatur ordnet er die Metaphorik von Hirt und Herde in einen baptismalen Kontext ein, der sich auch von der Verwendung der Bilder in einem Baptisterium her nahelegt (S. 271/3). Der viel bemühte Becherhirte des Tertullian (den man nicht zum Bischof von Karthago machen sollte [S. 279]) ist ihm Beweis dafür, dass der Schafträger zwar nicht schon ein Christusbild ist, aber bereits zu dieser Zeit von einer kirchlichen Autorität »zum Zwecke der Illustration eines christlichen Grundsatzes« – d. h. der Möglichkeit postbaptismaler Sündenvergebung – in Auftrag gegeben werden konnte (S. 280f). Zwischen den Kapiteln über die Ikonologie des Baptisteriums insgesamt und der Westwand im Besonderen referiert M. in einem ausführlichen Abschnitt über Tatians Leben und Werk, insbesondere seine Evangelienharmonie, zum Zweck eines besseren Verständnisses des Auferstehungszyklus im Taufraum von Dura-Europos. Die Verbindung beider Objekte legt sich nicht nur durch die räumliche Nähe (Ostsyrien) nahe, sondern auch durch das griechische Dura-Fragment 0212, das möglicherweise einige Zeilen aus Tatians Diatessaron wiedergibt (S. 189/204, bes. 203). M. setzt sich dabei durchaus bewusst einem circulus vitiosus aus, der »die Deutung des Auferstehungszyklus im Licht von Tatians Evangelienharmonie« versucht und die »Bilder des Baptisteriums für die Rekonstruktion der Evangelienharmonie« heranzieht (S. 253/9). M.s Fazit im Hinblick auf die Frauen am Grabe lautet zum einen, »dass die Evangelienharmonie Tatians von den in den vier Evangelien enthaltenen Erzählung[en] zum Thema ›Das leere Grab‹ eine eigene Version herstellte«, in der vier namentlich genannte Frauen (Maria von Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus, Salome und Johanna) sowie eine anonyme Frauengruppe als Zeuginnen der Auferstehung genannt werden (S. 258). Im Gegenzug sollen vier der im Baptisterium dargestellten Frauenfiguren die vier bei Ta-
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tian namentlich genannten Frauen darstellen, die fünfte für »die eine anonyme Frauengruppe« stehen. Auf diese Weise ist der Freskenmaler »den literarischen Vorgaben der in der Gemeinde von Dura Europos kursierenden Evangelientradition in der literarischen Gestalt von Tatians Diatessaron am nächsten« gekommen (S. 256). Ob M.s Verknüpfungen zwischen Diatessaron und Ausmalung zutreffen, wird in der zu erwartenden Diskussion weiter erörtert werden müssen. Immerhin enthalten sie einen originellen Beitrag zur Erforschung des Bildprogramms im Taufraum von Dura-Europos. Der größere Teil von M.s Untersuchung bietet weithin Bekanntes, das dem mit Dura-Europos, der Hauskirchenproblematik sowie der Diskussion um das eine Evangelium in viererlei Gestalt nicht speziell vertrauten Leser sehr wohl als lohnende Lektüre empfohlen werden kann. Bonn Ernst Dassmann
Vasiliki M. Limberis, Architects of Piety. The Cappadocian Fathers and the Cult of the Martyrs (Oxford, Oxford University Press 2011), 8°, XVIII, 232 S., Abb., geb. GBP 45,–. ISBN 978–0–19–973088–9. Nachdem Mario Girardi 1990 bereits eine Monographie über den Märtyrerkult bei Basilius von Caesarea vorgelegt hatte (Basilio di Cesarea e il culto dei martiri nel IV secolo. Scrittura e tradizione = Quaderni di »Vetera Christianorum« 21 [Istituto di Studi classici e cristiani, Università di Bari 1990]), weitet die amerikanische Autorin mit griechischem Namen nun die Fragestellung über Basilius hinaus auf die beiden anderen Kappadokier Gregor von Nyssa, den leiblichen Bruder des Erstgenannten, und Gregor von Nazianz, den Freund beider, aus, um von den überlieferten schriftlichen Zeugnissen der drei Autoren her die zentrale Rolle der Märtyrerverehrung in den zwei begüterten kappadokischen Großfamilien insgesamt zu beleuchten. Dass sie dabei nicht ein ausschließlich patristisches Fachpublikum vor Augen hat, wird bereits deutlich in der Einleitung, in der sie erzählt, wie die Griechen 1924 beim politisch erzwungenen Auszug aus Prokopion = türkisch Ürgüp westlich von Kayseri, dem antiken kappadokischen Caesarea, die Gebeine ihres Lokalheiligen Johannes von Russland, der als Kriegs-
gefangener dort 1730 gestorben war, in einen Teppich gerollt als großen Schatz nach Griechenland überführten; die Grundlagen einer solchen Frömmigkeit wurden in ebendieser Region schon im 4. Jahrhundert gelegt. Auf den Seiten 5/7 erklärt die Autorin den Aufbau ihrer Arbeit in den einzelnen Kapiteln, die sie mit übereinanderliegenden Schichten einer archäologischen Ausgrabung vergleicht; entsprechend will sie von unten her die verschiedenen Bedeutungsebenen eines zusammengehörenden Corpus von Schriften der Reihe nach in den Blick nehmen. Eine hilfreiche geographische Karte ist dem Buch vorangestellt (XV). Unter dem Titel »Life centered around the martyrs« behandelt das erste Kapitel den liturgischen Kalender Mitte des 4. Jahrhunderts, die große Bedeutung und den Verlauf der Märtyrerfeste sowie die wichtige Stellung der Märtyrerfrömmigkeit, wie sie in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen in den Schriften der drei kappadokischen Bischöfe begegnet. Schon hier zeigt sich, wie sehr sie den Kult der Märtyrer förderten und gleichzeitig dabei dessen Gestaltung kontrollieren konnten. – Das zweite Kapitel trägt den Titel »Ekphrasis: Materializing martyria then and now« und geht im Besonderen ein auf die Beschreibungen der Bilder und des Bauwerks in Gregors von Nyssa Rede auf Theodor, den Rekruten, die bei der Festfeier wohl 380 oder 381 in Euchaïta, Pontus, am Grab des Märtyrers vorgetragen wurde, auf Brief 20 desselben Autors an Adelphius mit der Darstellung eines Besuches in einer Märtyrerkapelle, auf das zweite Enkomion ebenso des Nysseners zu Ehren der Vierzig Märtyrer von Sebaste und ihre Heiligtümer in Ibora und Caesarea, auf die vom Vater Gregors von Nazianz gegründete Kirche mit der Familiengrabstätte und schließlich die Konstruktion eines Martyrions, über die wieder der Nyssener in Brief 25 an seinen Freund Amphilochius von Ikonion spricht und die durch zahlreiche Abbildungen und Vergleiche, besonders mit dem Philippusmartyrion von Hierapolis, veranschaulicht wird. Das dritte Kapitel »Kinship with the martyrs: Saints as relatives and relatives as saints« ist besonders signifikativ für das Verständnis der Frömmigkeit der drei Autoren und ihrer Familien. Die Autorin holt weit aus und untersucht zunächst das Konzept spiritueller Verwandtschaft in der monastischen Welt der Kappadokier und die natürlichen Beziehun-
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C h . T o r n a u : G i o i a , T h e T h e o l o g i c a l E p i s t e m o l o g y o f A u g u s t i n e ’ s D e T r i n i t a t e 191
gen aufgrund von Ehe und Geburt, wobei auch die Genealogien der beiden Familien schematisch dargestellt und ausgewertet werden, die teilweise in die Zeit der Christenverfolgungen zurückgeführt werden können. Neben der Erinnerung an Verfolgung und Martyrium in den eigenen Reihen entwickelte die Familie des Basilius und des Nysseners eine besondere Beziehung zu Gregor dem Wundertäter, Thekla aus den romanhaften Paulusakten und den Vierzig Märtyrern von Sebaste. Gregor von Nyssa erklärte das Faktum, dass man kein Grab des Thaumaturgen kannte, parallel zum Mönch der Vita Antonii durch einen asketischen Wunsch des Bischofs, der keine Verehrung wie ein Märtyrer nach seinem Tode wollte. Meist übernimmt man diese Erklärung, so wohl auch die Autorin dieser Arbeit. Doch konnte ein Bischof um 270 nC. überhaupt nicht damit rechnen, nach seinem Tod wie ein Märtyrer verehrt zu werden. Wahrscheinlich hat man nach einer gewissen Zeit das Grab des Bischofs vergessen, begünstigt durch die pontische Begräbnissitte sukzessiver Belegungen von Felsgräbern. Ein Kult für die Gründergestalt der verklärten Verfolgungszeit konnte sich entsprechend der allgemeinen Entwicklung erst seit der Mitte des 4. Jahrhunderts entwickeln (vgl. Th. Baumeister, Art. Heiligenverehrung I: RAC 14, 96/150, hier 143f). Dieser zuletzt genannten Entwicklung für Angehörige der beiden Familien widmet sich die Autorin im zweiten Teil dieses 3. Kapitels (»Turning their families into martyrs«, 140/56), in dem sie u. a. auf Makrina die Jüngere und Basilius von Caesarea eingeht. Vielleicht könnte man deutlicher auf das schon traditionelle, übernommene Märtyrerbild hinweisen, zu dem gehörte, dass den Blutzeugen nach allgemeiner christlicher Erwartung das volle jenseitige Heil zukommt. Wenn man nun den eigenen Familienangehörigen dieses volle Heil im Tode wünschte, musste man ihr Leben und ihr postmortales Geschick vom Martyrium aus interpretieren. Uneigennützige Wünsche für Nahestehende und Promotion im Sinn gesellschaftlicher und kirchlicher Bedeutsamkeit gehen also Hand in Hand. – Das vierte und letzte Kapitel ist im langen Anlauf dem Thema »Gender and martyr piety« gewidmet. Als Ergebnis umfangreicher Erörterungen, die schließlich auf das eigentliche Thema zurückgelenkt werden, kann festgehalten werden: »Gender, like the everyday world of the
social order, is a condition to be met and dealt with through transformation and transcendence. The highest examples of transformation and transcendence are the martyrs, and everyone is enjoined to imitate them through askesis. The Cappadocians call Christians, both male and female, to transform and transcend the everyday world rather than escape it, all the while reforming and transforming each rung of the hierarchy of social existence, starting with their own gender« (207). Doch lässt sich insgesamt eine Ambiguität feststellen: gender ist da und ist nicht da, überwunden und doch bleibend. Ehrenhaft zu leben, bedeutete beides gleichzeitig: »the . . . transformation of gender and its yet visible presence . . .« (207). Eine letzte Zusammenfassung, eine Bibliographie, in der die Quellen überwiegend in englischer Übersetzung und wohl nur, wenn englische und französische Übersetzungen fehlen, im griechischen Original angegeben werden und in der unter den Studien nur wenige deutsche Titel begegnen, sowie ein Index wichtiger Namen und Begriffe beschließen die anregende Arbeit. Sie ist in einer schönen Sprache geschrieben und vielfältig bemüht, eine fremde Welt kohärent und eindringlich einem modernen Publikum zu erschließen. Lesern vom Fach kann der pädagogische Eros manchmal etwas übertrieben vorkommen, zumal wenn man in musikalischer Hinsicht eher historische Aufführungen und aufs Schauspiel bezogen weniger modernes Regietheater bevorzugt. Ganz deutlich wird, dass alte Vorstellungen, solche Fragestellungen einer Volksreligiosität einfacher Kreise zuzuordnen, überholt sind. Die Kappadokier, die einer gehobenen Schicht angehörten, haben eine Welt geprägt, von der sie aber auch selbst geprägt worden sind. Sinnvoll dürfte es sein, einen Begriff von Volk zu verwenden, der auch die Eliten umfasst. Mainz Theofried Baumeister
Luigi Gioia OSB, The Theological Epistemology of Augustine’s De Trinitate = Oxford Theological Monographs (Oxford, Oxford University Press 2008), 8°, XVI, 330 S. Gln. GBP 79,–. ISBN 978–0–19–955346–4. Die Forschung zu Augustins De trinitate tendiert dazu, die Schrift je nach disziplinärer Zugehörigkeit des Interpreten in einen »theologischen« (Bücher 1/7) und einen »philoso-
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hobenen Vorwurf einer übermäßig metaphysischen, die christlich-heilsgeschichtliche Seite vernachlässigenden Trinitätslehre zu verteidigen. Der Terminus »theologische Epistemologie« darf somit (auch wenn G. das nicht ausdrücklich sagt) programmatisch als Gegenbegriff zur philosophischen Epistemologie verstanden werden. G. gliedert seine Untersuchung in elf Kapitel. Im ersten Kapitel (»Augustine and his Critics«, S. 6/23) positioniert sich G. in der soeben skizzierten Weise in der theologischen Diskussion um De trinitate. Von den verbleibenden Kapiteln befassen sich die Kapitel 2 bis 7 mit den Büchern 1/7 und die Kapitel 8 bis 11 mit den Büchern 8/15. Im zweiten Kapitel (»Against the ›Arians‹: Outline of Books 1 to 7«, S. 24/39) nimmt G. eine lineare Lektüre der ersten Hälfte des Werkes vor und unterscheidet dabei zwischen einer »äußeren« Schicht (»outer layer«) der Argumentation (der Widerlegung der »arianischen« = subordinatianistischen Schriftauslegung) und einer »inneren«, das eigentliche Anliegen Augustins enthaltenden Schicht (»inner layer«): die Frage nach der Möglichkeit der Gotteserkenntnis, deren Antwort in den Ausführungen zu den Sendungen (Bücher 2/3) und zur Inkarnation (Buch 4) enthalten sei. Vom dritten Kapitel an organisiert G. seine Darstellung thematisch und beginnt mit einer näheren Bestimmung des Verhältnisses Augustins zur Philosophie (Kapitel 3: »Augustine and Philosophers«, S. 40/67). G. legt den Akzent auf die antiphilosophischen Passagen des 4. und des 13. Buches (4,20/4; 13,10/2), in denen den Philosophen – selbst wenn sie im Sinne von Rom. 1,20 eine gewisse Erkenntnis Gottes erlangt hätten – wahres Wissen abgesprochen werde, weil ihnen wegen ihres Stolzes (superbia) dessen Voraussetzung, die Liebe, gefehlt habe. G. bestreitet mit Blick auf De civitate Dei mit erwägenswerten Gründen, daß Augustinus den Platonikern die Erkenntnis der Trinität zugestanden habe (allerdings ohne Diskussion der Ausführungen zu Porphyrios’ Chaldäischer Trias, civ. D. 10,23 und 29 = Porph. frg. 284 und 284a Smith). Kern der Studie sind die Kapitel 4/6 zu Christologie, Offenbarung und Pneumatologie, in denen G. vor allem auf der Basis von trin. 1/4 und 13 seine These entfaltet, daß Trinitätserkenntnis für Augustinus einzig über die Heilsgeschichte möglich ist und die Position der drei Personen in der immanenten Trinität über ihre jeweilige Rolle in
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der Heilsgeschichte verstanden werden muß. In der Inkarnation offenbart der Vater sich selbst; der Glaube an den inkarnierten Christus ist die unserem Dasein im Diesseits angemessene Form der Gotteserkenntnis, Glaube und Wissen unterscheiden sich nicht dem Gegenstand, sondern nur dem Modus nach (vgl. trin. 13,24: scientia ergo nostra Christus est, sapientia quoque nostra idem Christus est). Christi Opfer am Kreuz wandelt die Ausrichtung unseres Liebens von der Begierde (cupiditas) zur Liebe (caritas) und ist zugleich der vollkommene Ausdruck der Liebe des Sohnes zum Vater (vgl. Phil. 2,8, zitiert in trin. 13,22); das innertrinitarische Verhältnis von Vater und Sohn äußert sich im soteriologischen Akt und wird durch ihn erkennbar (Kapitel 4: »Christ, Salvation, and Knowledge of God«, S. 68/ 105). Die Sendungen Christi in der Inkarnation und des Hl. Geistes im Pfingstwunder offenbaren die Herkunft beider vom Vater (deus de deo im Sinne der nizänischen Formel) und haben unmittelbar trinitarischen Charakter (Kapitel 5: »Trinity and Revelation«, S. 106/ 24, besonders auf der Basis der Definition von mitti als cognosci quod ab illo [= deo] sit in trin. 4,29). Kapitel 6 (»The Holy Spirit and the Inner-Life of the Trinity«, S. 125/46) stellt Augustins Auffassung des Hl. Geistes als Liebe (caritas) in den Mittelpunkt (nach trin. 15,27/ 39 sowie einigen Stellen aus trin. 6 und 7). Der Hl. Geist, der uns gegeben ist (Rom. 5,5), vereint die Gläubigen in der Liebe zu Christus und ist zugleich die Liebe, die in der immanenten Trinität Vater und Sohn verbindet. Aus dem Verständnis des Geistes als innertrinitarischer Liebe folgt für G. unmittelbar das augustinische filioque, d. h. das Hervorgehen des Geistes nicht nur aus dem Vater, sondern auch aus dem Sohn. G. beschließt seine Ausführungen zur ersten Hälfte von De trinitate mit einem Kapitel zu den Relationen-Büchern 5/7 (»Trinity and Ontology«, S. 147/69). Für G. geht es Augustinus hier vor allem um den Nachweis, daß die (von arianischer Seite aufgebrachte) Anwendung ontologischer Kategorien wie Substanz und Akzidens auf Gott unangemessen ist; ebenso sei das Resultat der Überlegungen zum Personbegriff in Buch 7 primär negativ. Da die moderne theologische Kritik an Augustins vermeintlich rein metaphysischem Trinitätsverständnis sich vor allem an den Büchern 5/7 entzündet hat, fügt G. an dieser Stelle eine Verteidigung Augustins auf
der Grundlage des in den Kapiteln 4/6 anhand der Bücher 1/4 Erarbeiteten ein. Bei den Büchern 8/15 verzichtet G. auf eine dem zweiten Kapitel korrespondierende lineare Lektüre und beginnt seine Ausführungen mit einer eingehenden Interpretation des 8. Buches (Kapitel 8: »Love and Knowledge of God«, S. 170/89). Der entscheidende Satz des Buches steht für G. in trin. 8,12: immo vero vides trinitatem si caritatem vides. G. übersetzt trinitatem hier nach Edmund Hill (Augustine, The Trinity. Introduction, translation, and notes by E. Hill [New York 1991] 253) mit »the Trinity« (statt etwa: »a trinity, a triad«) und folgert, daß in unserer reflexiven Liebe zu der Liebe, mit der wir Gott und den Nächsten lieben und in der uns Gott selbst gegenwärtig ist (trin. 8,11 mit Zitat von 1 Joh. 4,8 und 16: deus dilectio est), bereits die Erkenntnis der Trinität liegt. Die theologische Wurzel dieses Gedankens sei die Soteriologie und Pneumatologie der frühen Bücher, auch wenn Augustinus in Buch 8 nicht explizit darauf zurückkomme. Kapitel 9 (»Knowledge and its Paradoxes«, S. 190/218) ist den im engeren Sinne epistemologischen Büchern 9/15 gewidmet. Methodisch erinnert G.s Vorgehen hier an die klassische neuscholastische Studie von Michael Schmaus (M. Schmaus, Die psychologische Trinitätslehre des hl. Augustinus [Münster 1927]), insofern er ohne Rücksicht auf den Aufbau von Augustins Argumentation die Erkenntnisformen Wahrnehmung, Vorstellung, Illumination und geistige Erkenntnis systematisierend nacheinander vorstellt. Das augustinische Paradoxon, daß der Geist sich zwar dank seiner Selbstgegenwart stets selbst kennt (se nosse), sich aber dennoch nicht explizit zu denken vermag (se cogitare), erläutert G. mit Hilfe der Unterscheidung von »Genießen« und »Gebrauchen« (uti – frui) sowie von caritas und cupiditas (trin. 9,13; 10,13): Die Unfähigkeit, sich zu erkennen, resultiere aus fehlgeleiteter (Selbst-)Liebe; Voraussetzung nicht nur der Gotteserkenntnis, sondern auch der Selbsterkenntnis sei der Letztbezug des menschlichen Liebens auf Gott. Nach einem kurzen Kapitel über Augustins Verständnis von Philosophie als cultus dei in Buch 14 (»Wisdom or Augustine’s Ideal of Philosophy«, S. 219/31) wendet sich G. in dem umfangreichen Schlußkapitel der Frage der Gottebenbildlichkeit des menschlichen Geistes zu (Kapitel 11: »The Image of God«, S. 232/97). Er stellt einleitend Augustins Exegese von
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eher »praktische« Buch 14 gegenüber dem eher »theoretischen« Buch 15). Die von G. herangezogenen und näher diskutierten Textstellen eignen sich nicht immer als Belege für die Aussagen, die G. aus ihnen gewinnt. Beispielsweise ist die Behauptung, daß Augustinus die richtige Art von Liebe als Voraussetzung jeglicher Erkenntnis betrachte, die als solche eine Gabe der Gnade sei, und daher den Philosophen jedes echte Wissen abspreche, stark übertrieben. In trin. 4,20f attestiert Augustinus den Platonikern wahrheitsgemäße Kenntnis der in Gott enthaltenen Ideen – ein Wissen, das zwar wegen des Stolzes (superbia) der Platoniker nicht glückssichernd, aber doch offenbar echte Wahrheitserkenntnis ist (4,21: verissime disputant et documentis certissimis persuadent aeternis rationibus omnia temporalia fieri). Und die Stelle trin. 14,15 (etiam cum sui meminit seque intellegit ac diligit, stulta est), mit der G. zu belegen sucht, daß es ohne Gottesliebe keine Selbstkenntnis gebe (S. 291), scheint bei genauerem Hinsehen gerade das Gegenteil zu besagen. Gewiß ist unsere Fähigkeit zur thematisch-expliziten Selbsterkenntnis (se cogitare) durch die Sünde eingeschränkt, doch gilt dies nicht für die in unserem Wesen als Menschen liegende, unverlierbare Selbstgegenwart und Selbstkenntnis (se nosse); G. unterscheidet diese beiden Formen der Selbsterkenntnis hier nicht präzise genug. Auf S. 280 hebt G. hervor, daß in den Überlegungen zur Strukturähnlichkeit von mens und Gott in trin. 15,10 der Ternar mens, notitia, amor statt des formal befriedigenderen (weil aus drei Relativa statt aus zwei Relativa und dem ad se-Prädikat mens bestehenden) Ternars memoria, intellegentia, voluntas verwendet wird, und verbucht diese vermeintliche Nachlässigkeit als Beleg dafür, daß Augustins Interesse primär der existentiellpraktischen (»image-relation«) und nicht der formalen Seite des Bildbegriffs (»image-exemplar«) gilt. Die Stelle erklärt sich jedoch leicht daraus, daß Augustinus im unmittelbaren Kontext von sapientia, notitia und dilectio spricht, also wie im Ternar mens, notitia, amor ein ad se-Prädikat (sapientia) mit zwei Relativa kombiniert. Für die folgenden Überlegungen des 15. Buches zum inneren Wort und auch zur Pneumatologie ist der Ternar memoria, intellegentia, voluntas grundlegend – was G. nicht erwähnt. Ein anderes Problem hängt damit zusammen. G. widmet (mit der Ausnahme des zweiten Kapitels) der literarischen Form
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G. van Loon: Seeliger/Krumeich, Spätantike Bischofssitze Ägyptens
und dem tatsächlichen Gang der Argumentation von De trinitate keine Aufmerksamkeit. Die Stellen, an denen Augustinus selbst über seine argumentativen Schritte Rechenschaft gibt (zB. 8,14; 10,18; 13,25, eine hochinteressante Passage über das Verhältnis der beiden christologischen Bücher 4 und 13), werden nicht zitiert oder interpretiert. Augustins Überlegungen kommen bei G. deshalb häufig außerhalb ihres ursprünglichen Zusammenhangs zu stehen, was bisweilen zu fragwürdigen Deutungen führt. Hätte G. beispielsweise berücksichtigt, daß nach Augustins eigener Aussage am Ende von Buch 8 der menschliche Geist als »Ort« der Liebestriade und als Bild der göttlichen Trinität gefunden ist (trin. 8,14), so hätte er wohl nicht ohne weiteres sagen können, daß mit der Liebe zur Liebe in uns (dilectio = deus nach 1 Joh. 4,8 und 16) bereits eine Erkenntnis Gottes selbst qua Trinität gegeben ist. Bedenklich ist schließlich, daß G. zwei der wichtigsten monographischen Behandlungen der zweiten Werkhälfte nicht zitiert (A. Schindler, Wort und Analogie in Augustins Trinitätslehre [Tübingen 1965]; J. Brachtendorf, Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in De Trinitate [Hamburg 2000]). Besonders im 9. und 11. Kapitel fällt G. methodisch hinter die sorgfältigen Analysen des Gedankengangs in diesen Studien zurück, und die explizit philosophische Lektüre Brachtendorfs hätte gerade von G.s theologischem Standpunkt aus eine Auseinandersetzung verdient. Als engagierte und klar positive Stellungnahme eines modernen Theologen zu Augustins Trinitätsdenken ist G.s Monographie ohne Frage lesenswert. Aber die von Kany angemahnte, Theologie und Philosophie (wieder-)vereinigende Gesamtinterpretation von De trinitate muß noch immer geschrieben werden. Würzburg Christian Tornau
Hans Reinhard Seeliger / Kirsten Krumeich, Archäologie der antiken Bischofssitze I. Spätantike Bischofssitze Ägyptens = Sprachen und Kulturen des Christlichen Orients 15 (Wiesbaden, Dr. Ludwig Reichert Verlag 2007), 8°, XIII, 128 S., 32 Strichzeichnungen und Schwarz-weiß-Fotos, geb. Euro 49,–. ISBN: 978–3–89500–501–5.
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The first volume of the series »Archäologie der antiken Bischofssitze« (a research project of the Eberhard-Karls-Universität Tübingen) is devoted to Egypt. Often last in line when the Late Antique – Early Christian period is concerned, it is a welcome choice to open a most interesting series with this area. The leading research question in this project is how the data on episcopal sees encountered in historical and literary sources were expressed in building activities initiated or supervised by bishops. What was the material form of these episcopal complexes? Where exactly were they located and what place did they take in the urban landscape? The book consists of two parts. Part One is a historical essay on the dioceses of Late Antique Egypt and the building activities of their bishops by Hans Reinhard Seeliger (pp. 1/ 25). The names of Egyptian bishops and their sees are registered in lists of participants in ecclesiastical councils, chronicles, correspondence and hagiographies. Therefore, we are quite well informed on this subject. A list of episcopal sees (pp. 8/16), including temporary sees and sees which cannot be identified with certainty reflects the situation in Egypt in the sixth-seventh centuries. The author excludes sees now in Libyan territory, as well as Pharan in Sinai, which fell under the aegis of the Patriarchate of Jerusalem. In the aftermath of the Meletian Schism (fourth century) and the Council of Chalcedon (451), two bishops might hold office simultaneously in the same town; Meletian and Chalcedonian sees are listed on pp. 17/8. Bishops usually resided in cities. Monks who were deemed worthy of the episcopal dignity often divided their time between their monastery and their episcopal residence in town. Consequently, from the fourth century and thereafter, an episcopal complex could have been just the part-time abode of a bishop, an arrangement which might have influenced the nature and organization of the buildings in it. S. continues with describing the duties of a bishop and the setting required for carrying out these obligations. The bishop’s liturgical, administrative, judicial and charitable responsibilities – but not necessarily all – were presumably reflected in the architectural layout of the episcopal complex. The main structure and core was the church, which should have a baptistery. The baptistery could have various additional rooms for pre- and
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G. van Loon: Seeliger/Krumeich, Spätantike Bischofssitze Ägyptens
post-baptismal rites. Very probably, the bishop’s living quarters were in the direct vicinity of the church. Charity (care of pilgrims, widows and orphans, and of poor, elderly or sick people) was one of the principal duties of a bishop. The church was used as a multifunctional building: apart from its liturgical function, the western part could be used for gatherings and meetings, even for sleeping. The bishop could hold court in the church. Administrative buildings were essential to house staff and to monitor and record episcopal deeds. Hence the presence of chanceries is well attested. Alms were chiefly given in natura: therefore, storehouses were required to stock oil and wheat, for example. Bakeries might also be included but as were hospitals and housing for the elderly, such buildings were not necessarily located in the episcopal compound and could be found in other parts of town. Part Two by Kirsten Krumeich consists of an essay on episcopal buildings in Late Antique Egypt and the interpretation of archaeological finds, supplemented by a catalogue which describes twelve sites where archaeological remains might be related to episcopal sees known from literary sources, listed in alphabetical order (pp. 26/109). K. states that the amount of data in literary sources about sees, bishops and their building activities does not correspond to archaeological finds. When a city (such as Alexandria) has been continuously inhabited, the original sites of episcopal complexes have often been completely erased. Through the centuries for various reasons churches and their ancillary buildings have been demolished and rebuilt; they fell into ruin or were reconstructed on a different location. Space for buildings in towns was scarce and every square metre was reused. Deserted cities offer more possibilities for gathering evidence (but only when diggers of sebakh [fertilizer] have not devastated archaeological remains as happened, for example, in Oxyrhynchos). K. estimates that the material remains identified so far cover barely fifteen per cent of the episcopal towns and sees mentioned in the literary sources. In what way episcopal building activities changed the layout of a Late Antique town is hard to assess. In the past, more often than not only the churches were the foci of excavations, and their surrounding area was neglected. The few well-documented cases – Her-
mopolis Magna (Al-Ashmunayn), Antinoopolis (Antinoë) and literary sources on Alexandria – show that much thought was devoted to the choice of building location: prominent, easily accessible sites were preferred. The architecture of the churches varies widely, ranging from high profile basilicas (Alexandria, Hermopolis Magna) to simple structures. The preferences and financial means of the bishop in question (plus, no doubt, his political influence – GvL) were probably instrumental both in choice of location and architectural design. Unfortunately, it is almost impossible to link the construction of churches to a specific bishop. Residences, chanceries, alms houses, storerooms, hospitals and so forth, are barely recognisable and in most cases identification must remain hypothetical. The excavation results from twelve sites (Alexandria, Antinoopolis, Athribis, Diospolis Magna [Luxor], Hermonthis, Hermopolis Magna, Koptos, Marea, Ostracine, Pelousion, Philae, and Tentyra [following accepted English spelling as in R. S. Bagnall / D. W. Rathbone, Egypt. From Alexander to the Copts [London 2004]), are examined in the catalogue; unfortunately, the lack of data has made urban development out of scope. Alexandria is included although, as said above, archaeological evidence is lacking. Nevertheless, K. points out that literary data which allow a reconstruction of episcopal complexes within the city layout are precise and abundant. Each entry consists of sections describing toponyms (Greek, Latin, Coptic and Arabic), historical data, a description of the sacral buildings (churches, baptisteries) found on site, a description of additional buildings, epigraphic information about bishops and, under »varia«, all kind of information which might shed light on episcopal foundations. Each lemma ends with a bibliography. An appendix containing various indices and concordances (p. 111/28), maps, plans, and plates concludes the book. The book is well structured and all possible information for each site described, including excellent plans and photographs, has been assembled. The detailed descriptions in the catalogue explain why the question of the place these episcopal foundations occupied in the urban layout is now almost impossible to answer and why it is virtually out of the
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D. Mazzoleni: Marin, Salona IV. Inscriptions de Salone chrétienne
question to designate specific churches or buildings as episcopal foundations. For Antinoopolis (pp. 56/9), it can be added that Peter Grossmann has continued his excavations (under the direction of R. Pintaudi, Istituto Papirologico »G. Vitelli« – Florence) and the paper announced (p. 566) is already published (P. Grossmann, Kirche und mutmaßliches Bishofshaus in Antinoopolis: Aegyptus 86 [2006] 207/15 [published in 2008]). He concludes that the church d,2 and the buildings to the south-east of the church (including a small room with an apse: a private chapel?) were in all probability, the episcopal church and residence. The Antinoë Mission is an ongoing project and will undoubtedly bring more information about churches and urban topography to light. There is, however, another church that almost certainly can be linked to an episcopal presence: the church in the Red Sea town of Berenike. Literary sources tell that in the fourth-fifth century Bishop Nabis of Berenike resided in a church in Koptos. At that time, Berenike was an important Red Sea port, linked to Koptos by a caravan road. A priest and deacon deputized for him in Berenike and he travelled there in person when necessary (G. Gabra, Nabis: The Coptic Encyclopedia 6, 1769/ 70; G. Gabra, Once More: Nabis, Bishop of ’Aidhab/Berenike: G. Gabra / H. N. Takla [eds.], Christianity and Monasticism in Upper Egypt 2: Nag Hammadi–Esna, in press). In the eastern part of this town, a fifth century church complex has been found. A church occupied the southern part. At its western end was a rectangular room, lined with stone benches. To the north-west were extensive kitchen facilities, separated from the church by a long corridor. A doorway divided the corridor into two parts. The western end, with entrances to the church and the kitchen, had a row of stone benches along the southern wall. The northern zone has not been completely excavated, but »one would expect to find evidence of residential activity . . .« (S. Sidebotham / W. Z. Wendrich, Berenike. Archaeological Fieldwork at a Ptolemaic-Roman Port on the Red Sea Coast of Egypt 1999–2001: Sahara 13, 32/5 and figs. 16/21; late Roman pagan religious centres were located in the centre and in the northern part of Berenike [fig. 3]; cf. Gabra, in press). A baptistery, according to S. a crucial element of an episcopal church (p. 21), has not been
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identified so far. The large kitchen with storage rooms and the benches most likely point to charity functions. The diocese of Berenike (not mentioned in the lists S. has assembled) must have existed until the town was abandoned sometime before the middle of the sixth century. In her introduction, K. states that church foundations on pagan sacred space were a recurrent theme in episcopal building activities, replacing pagan gods with Christian saints and highlighting the triumph of Christianity. Although this cultic continuity can be attested in some cases, the reuse of pagan temples or sites for various other purposes in Christian times is part of a complex process of changes in the religious landscape of Late Antique Egypt. Recently, this subject has received new scholarly attention, emphasizing that each case should be reviewed individually, viewed from a local perspective and carefully weighing the literary, epigraphic, papyrological and archaeological evidence (for example J. H. F. Dijkstra, Philae and the End of Ancient Egyptian Religion. A Regional Study of Religious Transformation [298–642 CE] = Orientalia Lovaniensia Analecta 173 [Leuven 2008], a revised and expanded Ph.D. Thesis: J. H. F. Dijkstra, Religious encounters on the southern Egyptian frontier in Late Antiquity [AD 298–642], Groningen [2005]; the thesis was consulted by S. and K.; and J. Hahn / S. Emmel / U. Gotter [eds.], From Temple to Church. Destruction and Renewal of Local Cultic Topography in Late Antiquity = Religions in the Graeco-Roman World 163 [Leiden 2008]) Much more work still needs to be done . This is a practical, valuable, and welcome book, which brings together a wealth of material about urban churches and their history – a field which is not well represented in studies on Christian Egypt. Leuven Gertrud J. M. van Loon
Emilio Marin (ed.), Salona IV. Inscriptions de Salone chrétienne IVe–VIIe siècles. 2 voll. = Collection de l’École Française de Rome 194,4 (Rome/Split, École Française de Rome/Musée Archéologique de Split 2010), 8°, 1363 S., kart. Euro 310,–. ISBN 978–2–7283–0847–7. In un venticinquennio di proficua collaborazione scientifica fra studiosi croati e francesi
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per la pubblicazione dei monumenti salonitani sono stati editi – nella «Collection de l’École Française de Rome» – tre importanti volumi, dedicati rispettivamente alla scultura architettonica (1994), all’architettura della provincia dalmata (1995) e al sito archeologico di Manastirine (2000). È ora apparso il quarto volume della serie, dedicato al corpus completo – e molto atteso – delle epigrafi cristiane (o comunque di età tardoantica) della città dalmata, riferite a un arco cronologico compreso tra il IV e il VII secolo. Essendo incluse anche iscrizioni non cristiane o neutre, opportunamente il titolo precisa che si tratta di Inscriptions de Salone chrétienne, e non di Inscriptions chrétiennes de Salone. La quantità di testi raccolta è cospicua, trattandosi di 825 esemplari, dei quali 742 latini (45 dei quali inediti) e 83 greci (4 inediti), così che – anche se sono numerosi i frammenti – Salona si conferma come uno dei siti del mondo occidentale che conserva il maggior numero di testimonianze iscritte dei primi secoli cristiani. Gli autori – coordinati da Emilio Marin – si sono prefissi un duplice scopo: raccogliere un corpus fondato su basi solide, dopo un attento esame della ricca bibliografia esistente e la ricognizione puntuale dei singoli reperti e nello stesso tempo porre a disposizione dei ricercatori un materiale già compiutamente analizzato nelle sue diverse componenti, così che ognuno possa trovare evidenziati gli spunti utili per le proprie indagini. Anzi, come si specifica nella premessa, per alleggerire i commenti delle singole schede epigrafiche, si è preferito trattare nei capitoli introduttivi di una serie di elementi notevoli e di alcuni termini specifici o formule particolari, numerando i paragrafi per facilitare i rinvii. Così, nel primo capitolo, introduttivo alla materia trattata, sono evidenziate le norme di edizione adottate, le coordinate cronologiche e geografiche, i criteri usati nella scelta delle iscrizioni e nella loro classificazione. In particolare, si è deciso di optare per un raggruppamento tipologico dei testi, in base al supporto e non al luogo di ritrovamento. Il secondo capitolo tratta dei monumenti su cui sono incise le epigrafi, iniziando dalla terminologia ricorrente per indicare i sepolcri, proseguendo con le peculiarità dei formulari funerari, delle espressioni allusive all’acquisto delle tombe e di quelle (deprecatorie, impre-
catorie o con minacce di ammende pecuniarie) usate contro gli eventuali malintenzionati. Nel terzo capitolo si analizzano, invece, i dati onomastici e quelli concernenti il rapporto dei singoli cittadini con gli enti pubblici e dei fedeli con la Chiesa. Nell’appendice si parla dell’«enigma» – ossia del problema del significato esatto – del termine virginius (virginia), ricorrente anche a Salona per indicare il coniuge, mentre tre «annessi» (annexe) sono dedicati rispettivamente ai sarcofagi anteriori al IV secolo, alle iscrizioni talora erroneamente ritenute tarde e a tavole paleografiche con le tipologie delle lettere (elemento, quest’ultimo, da prendere sempre con grande cautela per proporre una sequenza cronologica). Segue il catalogo delle singole epigrafi. Ogni scheda comprende il numero d’inventario, i dati relativi alla provenienza, la bibliografia, le misure con le annotazioni formali; segue la trascrizione del testo con scioglimenti e abbreviazioni (posta normalmente accanto all’immagine), la sua traduzione in francese, infine le osservazioni interlineari, mentre nell’intestazione viene indicata anche una proposta di datazione, più o meno precisa, a seconda degli elementi utili in tal senso. A p. 137 vengono elencati i segni critici e convenzionali usati nella trascrizione delle iscrizioni, che non seguono il sistema chiamato Krummrey/Panciera, molto articolato e generalmente oggi diffuso nelle principali edizioni epigrafiche (cfr. Tituli 2 [1980] 205/15), ma quello tradizionalmente usato nei corpora «storici», con un certo numero di varianti grafiche. In fondo al secondo tomo si trovano le tavole di concordanza con il CIL III, con il Diehl (forse era preferibile adoperare l’abbreviazione ILCV, più usata di ILC), con i numeri inventariali, con i volumi Forschungen in Salona (voll. I/III, [Wien 1926]), e Recherches à Salone (voll. I/II [Copenhague 1928]), con gli aggiornamenti epigrafici al CIL di Anna e Jaro Šašel (editi nel 1963, nel 1978 e nel 1986), con il CIG e con il Wessel (Inscriptiones graecae christianae veteres Occidentis [Bari 1989]). Negli indici sono elencate le date consolari ricorrenti (dal 302 al 539), i nomi, i toponimi, i vocaboli latini e quelli greci. Le iscrizioni edite si possono suddividere in diverse categorie: quelle «civiche», o pagane tardoantiche, alle quali si possono aggiungere quelle di dubbia natura con un formulario neutro; le dediche pertinenti a monumenti
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D. Mazzoleni: Marin, Salona IV. Inscriptions de Salone chrétienne
non cristiani; quelle monumentali cristiane. Fra i testi sepolcrali, poi, che sono anche a Salona in netta maggioranza, si trovano epigrafi su mense riutilizzate, cippi, stele, mosaici iscritti, sarcofagi con iscrizioni (particolarmente numerosi), frammenti su supporto indefinito, frammenti minori. All’interno delle classi, come di consueto, sono prima presentati i testi latini e poi quelli greci. Dei formulari vengono analizzati gli elementi peculiari, fra i quali si possono segnalare, ad esempio, l’incidenza della presenza di militari e il sistema di datazione usato, temi che non erano mai stati specificamente studiati in precedenza per quest’ambito territoriale. Si tratta indubbiamente di un lavoro molto accurato e certamente non facile da portare avanti, anche per coordinare le forze di ben diciotto collaboratori, fra i quali spiccano i nomi di alcuni fra i più qualificati studiosi di epigrafia cristiana greca e latina, da Noël Duval a Nancy Gauthier, da Françoise Prévot a Denis Feissel, da Jean-Pierre Caillet allo stesso curatore principale, Emilio Marin. Non meraviglia il fatto che questa impresa sia durata diversi anni, vista anche la quantità delle iscrizioni da catalogare e da studiare, ma finalmente i risultati sono ora sotto gli occhi dei lettori e sono veramente lodevoli. Il materiale raccolto è così abbondante e le caratteristiche su cui sarebbe opportuno soffermarsi sono tanto numerose che logicamente non è possibile esaurire l’argomento nello spazio di una recensione. Converrà quindi evidenziare per lo meno qualcuno degli spunti interessanti emergenti dall’analisi delle singole iscrizioni. Un primo dato emerge in merito all’incidenza delle epigrafi greche rispetto alle latine: esse sono all’incirca il dieci per cento del totale. Si tratta di una quantità indubbiamente non trascurabile, ma che consente di ridimensionare una concezione diffusa in passato, secondo la quale Salona avrebbe acquisito man mano un’impronta spiccatamente orientale e bizantina. Fra l’altro, come accade anche in altre località del mondo occidentale, i testi in greco sono per la maggior parte pertinenti a stranieri immigrati. Un altro tema rilevante si coglie dall’esame delle datazioni contenute nei testi: quasi tutte seguono la consuetudine romana della menzione dei due consoli eponimi e si pongono
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in un arco cronologico compreso dal 358 al 539. A tale proposito, si era ipotizzato che a partire dal 437 la Dalmazia fosse entrata nella sfera d’influenza dell’Impero d’Oriente, ma in realtà questo passaggio avvenne probabilmente solo dopo la riconquista di Giustiniano. Si era voluto vedere un indizio probante di questa appartenenza alla pars Orientis nell’uso della data indizionale, che sarebbe iniziato in Dalmazia da quel periodo e in un particolare evento storico, ossia nella presunta rinuncia alla provincia da parte di Galla Placidia dopo il matrimonio fra Eudossia e Valentiniano III, celebrato proprio nel 437. Emilio Marin, però, rileva che non ci sono prove valide per sostenere tale teoria e che anzi proprio le iscrizioni contengono diversi indizi per ammettere che la Dalmazia in quel periodo fosse ancora legata alla pars Occidentis. Infatti, in alcune epigrafi vengono citati i consoli secondo l’ordine occidentale e in una (n. 211) è ricordato solo il console eletto in Occidente, mentre altre indicazioni portano a concludere che «c’est alors seulement, entre 535 et 539, qu’eut lieu le vrai changement de la Dalmatie de terre occidentale en terre orientale» (p. 107), all’epoca, cioè, della riconquista di Giustiniano. A proposito della data indizionale, a Salona si conservano le più antiche attestazioni finora note nel mondo occidentale di questo particolare tipo di cronologia, risalenti agli anni dal 416 al 418 (sono i nn. 359, 186 e 187 del catalogo). Marin ritiene che la sua diffusione non abbia nulla a che vedere con la situazione politica del tempo, ma che fosse solo il risultato di un modo di contare gli anni più comodo per i cristiani di Salona. Gli esempi raccolti nel territorio urbano sono quarantasei, mentre nel resto della provincia solo tre sono i casi noti. La ricognizione a tappeto delle testimonianze epigrafiche ha consentito, inoltre, di appurare che 76 pezzi sono andati perduti (più o meno il nove per cento), ma molti di essi non erano stati trovati neppure in passato dai redattori del Corpus Inscriptionum Latinarum. Da segnalare ancora la presenza di una trentina di iscrizioni poetiche. Salona è celebre anche per i riferimenti a martiri locali contenuti nelle iscrizioni, in primo luogo al vescovo e martire Domnio, poi ad Anastasio e agli altri compagni del gruppo di Asterio, i cui sepolcri furono ben presto monumentalizzati. Basti ricordare la
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calebre dedica musiva votiva della basilica di Kapliuć (n. 65), purtroppo mutila nella parte iniziale, che attesta lo scioglimento di un voto ad martirem Asterium. Non mancano nemmeno le allusioni agli Apostoli (ad esempio, sul coperchio di un sarcofago, n. 305) e sporadicamente a santi non locali, come Vincenzo di Saragozza (n. 41), l’egiziano Mena (n. 743) e – forse – Timoteo (n. 744 A/B). Alcune espressioni ricorrenti nei formulari documentano, poi, una venerazione particolare nei riguardi di quei «testimoni della fede» o degli apostoli: ad esempio, in un’iscrizione di Manastirine (n. 612) si legge che il defunto si era preparato un piccolo sarcofago ad medianos martires, ossia «in mezzo ai martiri» e a Vranjic Petros (probabilmente un monaco) afferma con devozione di essere servus sancti Petri (n. 665). Da ricordare anche l’epitaffio, databile intorno al 325, del vescovo Primus, sepolto vicino alla tomba venerata di Domnio, che sostiene di essere nipote del martire, nepos Domniones martores (n. 462). Torna alla mente un’altra parente di una martire, sepolta nella catacomba di S. Mustiola a Chiusi, in Toscana, Iulia Asinia Felicissima, che dice di appartenere alla famiglia dell’eponima di quel cimitero, ex genere Mustiole sanctae (cfr. ICI X, 1). Fra i tanti elementi indagati nei formulari, si è accennato in precedenza ai termini virginius e virginia, sui quali si sofferma Nancy Gauthier. Se tale epiteto, al femminile, poteva designare una sposa arrivata vergine al matrimonio, esso poteva avere una sfumatura più affettiva, visto che spesso è abbinato al possessivo suus o sua e magari unito alla specificazione della durata del rapporto coniugale. Riguardo alla forma maschile del sostantivo, anch’essa potrebbe alludere a un uomo giunto vergine al matrimonio, interpretazione rafforzata dal fatto che talvolta si usa al plurale virginii, per indicare i due sposi che condividevano la medesima condizione. La Gauthier, quindi, conclude che l’appellativo non sembra legato a un fatto essenzialmente religioso, ma piuttosto a un’area geografica e che in esso pare accentuato un significato affettivo. Nell’epigrafia salonitana è interessante anche l’uso di alcuni termini che indicano la tomba: oltre a locus e sepulcrum, arca (con la traslitterazione greca ἄρκα), sarcophagum, σορός e soprattutto piscina, ricorrente per sei volte e che ritorna ad Aquileia (I. B. Brusin, Inscriptiones Aquileiae, III [Udine 1993] 3187), mentre l’omologo greco λουτρά è attestato in
Asia Minore, a Korikos in Cilicia (MAMA I, 747/8). Si discute tuttora se tale epiteto possa alludere semplicemente alla forma a vasca del sarcofago, o se si possa vedere un significato simbolico cristiano, nel senso che come nella piscina battesimale muore l’uomo vecchio e nasce quello nuovo, nel sepolcro muore il corpo ma nasce a nuova vita lo spirito (cfr. G. Cuscito, «Depositus in hanc piscinam». Morte e resurrezione nell’antico cristianesimo aquileiese: AqN 42 [1971] 57/62; N. Duval, «Piscinae» et «mensae» funéraires de Salone et d’Aquilée: Antichità Altoadriatiche 26 [1985] 437/462). Il Duval e la Prévot, autori delle schede epigrafiche salonitane, ritengono invece che «la mention de l’usage de la piscina pour y déposer deux corps est très explicite: c’est un des arguments principaux pour penser que le mot désigne la tombe dans son ensemble en tant que chambre ou fosse (et non sarcophage, comme le pense Šašel)». Un altro elemento spesso ricorrente a Salona sono le minacce di ammende contro i violatori dei sepolcri, attestate in almeno 133 iscrizioni, fra latine e greche (più otto incerte). Una quantità veramente rilevante, che in primo luogo può essere una prova indiretta della notevole diffusione del fenomeno della profanazione delle tombe. I verbi adoperati per indicare tale crimine sono violare, aperire, vexare, mentre in altri casi si allude al divieto di inserire un’altra salma (ponere, imponere, superponere, ordinare, condere). In due soli casi si usa una formula deprecatoria, scongiurando i malintenzionati per Deum et per leges cresteanor(um) (n. 91), o pregando i fratres (confratelli di fede) di non far inserire altri corpi nel sepolcro (n. 667). La questione della effettiva applicabilità delle ammende funerarie ha suscitato in passato un ampio dibattito. La Prévot cita puntualmente alcune fonti letterarie molto indicative in questo senso, da Cicerone ad Ulpiano, fino al giurista Paolo, ritenendo che in linea di massima l’entità delle sanzioni da comminare fosse lasciata alla decisione dei giudici. In ogni modo, fissare una multa e segnalare il beneficiario poteva offrire «une meilleure garantie d’efficacité». A tale proposito, in cinque casi l’ente citato è la città di Salona, in quattordici il fisco, in almeno trentaquattro la Chiesa locale e in uno solo (n. 610) in parte la Chiesa e in parte la città. Giova ricordare che anche nel celebre epigramma del vescovo Abercio di
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D. Mazzoleni: Marin, Salona IV. Inscriptions de Salone chrétienne
Gerapoli l’ammenda va pagata congiuntamente al fisco e alla «nobile patria Gerapoli». L’ammontare di queste pene pecuniarie è molto vario e in dieci casi (fino alla metà circa del IV secolo) è indicato in folles, con un’oscillazione notevole fra cinquanta e mille, mentre altre venticinque volte l’entità della multa è espressa in libbre d’argento, da cinque a cinquanta e in altre undici (probabilmente databili alla seconda metà del IV secolo) in libbre d’oro, da una a cinque. Si rileva, inoltre, un fatto interessante e cioè che dalla metà del V secolo queste minacce di ammenda spariscono dai formulari salonitani. A proposito della natura delle epigrafi, la Prévot osserva come sia difficile distinguere con sicurezza quelle cristiane, perché una gran parte dei testi presentano formulari neutri e non contengono alcun riferimento chiaro alla religione professata dai defunti. La studiosa ha compilato un quadro riassuntivo, in cui sono indicate le iscrizioni certamente appartenenti a fedeli (sono circa 330) e, per ognuna di esse, è precisato il motivo di tale scelta (pp. 84/94). Uno degli indizi più probanti è senza dubbio la presenza di un simbolo cristiano: a tale proposito, si riscontra che non è molto numerosa la loro varietà a Salona. Infatti, si trovano nove (o dieci) cristogrammi costantiniani, una ventina di croci monogrammatiche, poche colombe, una settantina di croci latine e una decina di greche, mentre, ad eccezione di un frammento inedito con parte di un ritratto femminile (n. 127) – non compaiono altre figurazioni incise, così abbondanti, invece, sulle lapidi della non lontana Aquileia. A Salona sono rappresentati vari gradi della gerarchia ecclesiastica: diversi vescovi, presbiteri, diaconi, suddiaconi, lettori, e inoltre due ostiari (nn. 271 e 449) e – esempio finora unico in Occidente – un corepiscopo, Eugrafius (n. 438). Questa carica è attestata dalle fonti letterarie in Oriente fin dal secondo decennio del IV secolo (nel 13° canone del concilio di Ancyra) ma è nota in Occidente solamente dal 439 (canone 3 del Concilio di Riez), anche se essa non si diffuse come nella pars Orientis. I curatori di questa scheda ritengono che la presenza a Salona di un choreepiscopus sia da porsi in relazione con gli stretti rapporti intercorrenti fra la città dalmata e la Siria. Eugrafius poteva essere stato un ausiliare del vescovo salonitano.
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Da ricordare anche un puer s(an)c(t)ae Eccles (iae) Sal(onitanae) – forse facente parte dei giovani cantori o dei lettori (n. 248) –, una badessa originaria di Sirmium, Iohanna, morta a 90 anni (n. 612), forse un mona[chus] (n. 665), un proc(urator) ecclesiae (n. 440) – titolo nuovo in epigrafia, che indica «le représentant personnel d’un mandataire» – e due defensores, in cui si propone di vedere due defensores ecclesiae (nn. 239 e 267), a meno che non si tratti di defensores civitatis. Nel primo caso queste attestazioni si verrebbero ad aggiungere alle poche epigrafiche note di tale ufficio, volto a difendere gli interessi delle singole Chiese in ambito giudiziario o amministrativo, del pavimento musivo della basilica martiriale di Trieste (J. P. Caillet, L’évergétisme monumental chrétien en Italie et à ses marges [Rome 1993] 279/83, 7, 8, 10, 14) e in una lapide proveniente dal cimitero di S. Saturno a Cagliari (A. M. Corda, Le iscrizioni cristiane della Sardegna anteriori al VII secolo [Città del Vaticano 1999] 59/60, CAR018). Come sempre, si rivela particolarmente interessante il riferimento ad alcuni mestieri indicati nei testi funerari, che però a Salona non sono particolarmente numerosi, una decina in tutto: fra di essi si possono menzionare ben quattro caligarii (nn. 250, 271, forse 365 e 445), un pistor (n. 341), un sartor (n. 285), un vitriarius (n. 270) e un magister conquiliarius (n. 393), ossia un «maestro tintore di porpora». I militari sono invece sedici, dei quali tre veterani ed avevano gradi diversi, dai semplici soldati agli ufficiali superiori (tre protectores, un praepositus, un tribunus). Purtroppo, questi documenti epigrafici – come nota Sylvain Janniard – sono poco utili per precisare l’evoluzione della geografia militare della Dalmazia nella tarda antichità. A proposito dell’iscrizione del veterano Antonius Sabinianus (n. 411), purtroppo perduta, essa mostra nell’ultima riga un monogramma, ritenuto come un possibile cristogramma costantiniano incompiuto, senza l’occhiello della P, ma anche un dubbio segno di cristianità (p. 73). In realtà, anche se non è più possibile verificare la lastra originale, potrebbe trattarsi benissimo del terzo tipo di monogramma cristologico, formato dalle iniziali I e X, che fra l’altro è l’unico sicuramente attestato in epigrafia fin dall’epoca precostantiniana (D. Mazzoleni, Origine e cronologia dei monogrammi riflessi nelle iscrizioni dei Musei Vaticani: I. Di Stefano
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Manzella ed., Le iscrizioni dei cristiani in Vaticano [Città del Vaticano 1997] 165/171). A proposito di monogrammi, se ne possono ricordare almeno alcuni, purtroppo in parte lacunosi (nn. 51/4) relativi al vescovo Onorio, databili verso il 500, oppure fra il 527 e il 547, a seconda che si tratti di Onorio I o di Onorio II, del vescovo Petrus (nn. 37/9, riferibile agli anni 554–562), del vescovo Maximus (n. 26, è Massimo II, della fine del VI secolo), del vir clarissimus Romanus (nn. 19/20, del VI secolo), mentre in altri casi lo scioglimento risulta dubbio o problematico (nn. 22, 48). Fra gli stranieri che dichiarano esplicitamente la propria origine, come accade anche altrove i più numerosi sono i siriani, sei dei quali provenienti dalla regione di Apamea (nn. 768, 775, 777, 783, 794, 799) e uno da quella di Antiochia (n. 747), mentre altri erano venuti a Salona dall’Anatolia e dal vicino Oriente e due dall’Egitto (nn. 757, 802). Pochi sono gli occidentali immigrati nella città dalmata e, fra questi, tre cristiani di Sirmium
(nn. 103, 219, 652), uno di Concordia (n. 499) e uno spagnolo (n. 538). Per concludere, come si è detto si tratta di una silloge molto ben strutturata in tutte le sue parti, che sarà un punto di partenza ineludibile per qualsiasi studio futuro sulle antichità cristiane di Salona e che potrebbe servire da modello per altre iniziative di questo genere. Un unico rilievo, sia pure marginale, si può avanzare in merito alla stampa non molto felice delle riproduzioni fotografiche che corredano le schede, non di rado non sufficientemente nitide e rese cupe da un poco indovinato sfondo nero, che rende ancora più ardua la lettura, già inficiata in diversi casi dalla frammentarietà e dallo stato di conservazione precario dei singoli reperti. Danilo Mazzoleni Pontificio Istituto di Archeologia Cristiana Via Napoleone III, 1 I-00185 Roma [email protected]
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BERICHTE FÜR DAS JAHR 2010 Franz Joseph Dölger-Institut zur Erforschung der Spätantike Vom »Reallexikon für Antike und Christentum« erschienen im Jahr 2010 die Lieferungen 183/184 (Lyngurion [Forts.] Mahl VI – [Räume und Bilder]), 185 (Mahl VI [Forts.] – Manes), 186 (Manethon – Markion) und 187 (Markion [Forts.] – Martyrium II). Mit Lieferung 185 war der 23. Band des RAC abgeschlossen. Band 51 (2008) des »Jahrbuchs für Antike und Christentum« wurde im Februar, Band 52 (2009) im Oktober des Berichtsjahres ausgeliefert. Ferner erschien als 36. Ergänzungsband zum JbAC die Monographie »Kirche und Wandmalereien am Karm Al-Ahbariya« von Johanna Witte Orr; in der »Kleinen Reihe« der Ergänzungsbände erschienen als Band 4 Bernd Isele, Kampf um Kirchen. Religiöse Gewalt, heiliger Raum und christliche Topographie in Alexandrien (4. Jh.), als Band 5 Andreas Weckwerth, Ablauf, Organisation und Selbstverständnis westlicher antiker Synoden im Spiegel ihrer Akten, und als Band 6 Markos Giannoulis, Die Moiren. Tradition und Wandel des Motivs der Schicksalsgöttinnen in der antiken byzantinischen Kunst. Das Herausgebergremium des »Reallexikons für Antike und Christentum« kam am 8./9. Januar und am 25./26. Juni 2010 zu seinen regelmäßigen Sitzungen zusammen. Mit der Sitzung am 26. Juni 2010 trat Herr Professor Dr. Dr. Klaus Thraede aus Altersgründen aus dem Herausgebergremium, dem er seit 1967 zunächst für das JbAC, dann auch für das RAC angehörte, aus. Über seine engagierte und fruchtbare Herausgebertätigkeit hinaus verdankt ihm das JbAC viele wertvolle Beiträge und besonders das RAC zahlreiche Artikel über wichtige Schlüsselbegriffe zum Thema Antike und Christentum wie Erfinder, Eschatologie, Euhemerismus, Fortschritt, Frau, Gesellschaft, Gleicheit und viele weitere. Aus dem Mitarbeiterstab des Instituts schieden aus Herr Priv.-Doz. Dr. Alfred Breitenbach, Herr Paul van den Elzen, Herr Urs Mundt und Herr Dr. Dr. Andreas Weckwerth; neu traten ein Herr Hanno Dockter, Herr Markus Fischer, Frau Dr. Christine Mühlenkamp, Herr Sebastian Reuter und Frau Dr. Mechthild Siede. Herr Priv.-Doz. Dr. Wolfram Drews war im Sommersemester 2010 und Wintersemester 2010/11 zur Wahrnehmung einer Lehrstuhlvertretung beurlaubt. Die Nachfolge von Herrn Dr. Breitenbach als Stellvertreter des Direktors übernahm Herr Dr. Christian Hornung. Als Gast arbeitete im Institut Herr Dr. Martin Dennert (Freiburg). Am 23. Dezember 2010 verstarb Frau Anne-Liese Gielen, die mit ihrer Mitgliedschaft im Vorstand des Vereins zur Förderung des F. J. Dölger-Instituts und durch die von ihr ins Leben gerufene Richard und Anne-Liese Gielen-Leyendecker-Stiftung die Arbeit des Dölger-Instituts hochherzig unterstützt hat. Ferner verstarben im Berichtsjahr aus dem Kreis der Freunde und Mitarbeiter des Instituts Herr Professor Dr. Yves Modéran (Caen), Herr Professor Dr. Harald von Petrikovits (Bonn), Herr Professor Dr. Denis Roques (Metz) und Herr Professor Dr. Knut Schäferdiek (Lohmar). Das Institut und seine Mitarbeiter werden den Verstorbenen ein ehrendes Andenken bewahren.
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Berichte für das Jahr 2010
Verein zur Förderung des Franz Joseph Dölger-Instituts der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn e. V. Der Verein hielt seine 55. Jahresversammlung am 25. Juni 2010 im Vorlesungsraum des Gebäudes Oxfordstraße 15 der Universität Bonn. Nach der Mitgliederversammlung sprach Frau Professor Dr. Sabine Schrenk (Bonn) über das Thema »Von Grabtüchern und Kleidungsstücken. Textile Reliquien in frühchristlicher Zeit«. Herrn Professor Dr. Nikolai Grube und seinen Mitarbeitern, besonders Frau Ch. Winter de Velarde, sei auch an dieser Stelle für ihre Gastfreundschaft gedankt. Auf den Vortrag folgte eine kurze Führung der Vereinsmitglieder durch die neuen Räume des Instituts und ein Umtrunk. Am Ende des Berichtsjahres bestand der Vorstand des Vereins aus Herrn Professor Dr. Dr. Klaus Rosen (Bonn, Vorsitzender), Herrn Professor Dr. Georg Schöllgen (Direktor des Dölger-Instituts, Stellvertretender Vorsitzender), Frau Professor Dr. Rotraut Wisskirchen (Bonn, Schatzmeisterin), Herrn Professor Dr. Ernst Dassmann (Bonn), Herrn Dr. Wolfgang Holl (Bonn) und Herrn Dr. Otto Plassmann (Düsseldorf). Im Jahr 2010 verlor der Verein durch den Tod das Mitglied seines Vorstands Frau Anne-Liese Gielen (Bonn). Der Verein wird seinem Vorstandsmitglied und seiner hochherzigen Fördererin ein dankbares Andenken bewahren. Am 31. Dezember 2010 zählte der Verein 103 Mitglieder. Mitglieder, die einen Beitrag von mindestens Euro 20,– (Studierende Euro 10,–) zahlen, können des »Jahrbuch für Antike und Christentum« zu einem Vorzugspreis beziehen. Anmeldungen zur Mitgliedschaft können an den Verein (Anschrift: F. J. DölgerInstitut, Oxfordstraße 15, D-53111 Bonn), an den Institutsdirektor (Professor Dr. Georg Schöllgen) oder an eines der Vorstandsmitglieder gerichtet werden. Konto des Vereins: Sparkasse KölnBonn (BLZ 370 501 98) Nr. 53.322, IBAN: DE 30 3705 0198 0000 0533 22; BIC: COLSDE 33. E-Mail: [email protected]; Internet: http://www. antike-und-christentum.de.
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Jahrbuch für Antik e und Christentum 54 (2011)
Ta fel 1
a. Pizzoli, Chiesa di Santo Stefano, Casa Parrocchiale. Relief aus Amiternum, Mitte 1. Jh. nC. Gelagerte und sitzende Bankett-Teilnehmer. Nach DUNBABIN 2003 Figure 40.
b. Città del Vaticano, Museo Chiaramonti inv. 2165. Sarkophagdeckel, spätes 3. Jh. nC. Gelagerte und sitzende Bankett-Teilnehmer. Nach DUNBABIN 2003 Figure 45.
c. 2011 in Aachen entdecktes Fragment einer Argonnensigillata mit Rollstempelverzierung mit christlichen Symbolen. – Bild: Andreas Schaub, Aachen, bearb. Horst Stelter, Duisburg.
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Jahrbuch für Antik e und Christentum 54 (2011)
Ta fel 2
a. München, Bayerisches Nationalmuseum. Elfenbeinplatte.
c. Monza, Museo del Duomo. Pilgerampulle.
b. Rom, S. Sabina. Holztür, Detail.
d. Florenz, Bibl. Laurenziana. Rabbula-Evangeliar, fol. 13b.
d. e. Thessaloniki, Hagia Sophia. Kuppelmosaik, Details.
Jahrbuch für Antik e und Christentum 54 (2011)
c. Thessaloniki, Hagia Sophia. Kuppelmosaik.
a. b. Berlin, Museum für spätantike und byzantinische Kunst. Elfenbeinpyxis, Details.
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Ta fel 3
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Tafel 4
a. b. München, Sammlung C. Schmidt. Nordafrikanische Tonlampe.
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Jahrbuch für Antik e und Christentum 54 (2011)
Ta fel 5
a. Rom, S. Maria Maggiore, Triumphbogen. Scheitelmosaik.
c. Gold-Solidus des Priscus Attalus. RS: Roma.
b. Ebd. Detail: Thron.
e. Madrid, Real Academia de la Historia. Missorium des Theodosius I.
d. Rom, S. Sabina. Holztür, Parusie, Ausschnitt: Christus.