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German Pages 196 [198] Year 2018
Band 24 • 2017 Franz Steiner Verlag
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft herausgegeben von Wilhelm Kreutz, Markus Raasch und Karsten Ruppert
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft · Band 24
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Band 24 (2017)
Franz Steiner Verlag
Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft herausgegeben von Wilhelm Kreutz, Markus Raasch und Karsten Ruppert redaktion Markus Raasch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Bosch Druck, Landshut Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0936-501X ISBN 978-3-515-12029-6 (Print) ISBN 978-3-515-12030-2 (E-Book)
VORWORT Das Hambacher Schloss und das Hambacher Fest gehören zu den wichtigen Erinnerungsorten der deutschen Geschichte. Hier wurden 1832 revolutionäre Forderungen gestellt und erstmals in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert: Deutschland sollte ein demokratischer Nationalstaat werden, jeder Bürger über Freiheitsrechte verfügen und die europäische Völkerverständigung forciert werden. 1986, 154 Jahre später, wurde die „Hambach-Gesellschaft für historische Forschung und politische Bildung e. V.“ im Andenken an das Hambacher Fest und seine Ideen gegründet. Ihren Mitgliedern ist bewusst, dass die Werte und Ziele des Hambacher Festes gelebt und immer wieder verinnerlicht werden müssen. Die europäische Einigung, eine dauerhafte Friedenssicherung und eine gerechte Sozialordnung sind nicht Ergebnisse eines abgeschlossenen historischen Prozesses: Daran zu erinnern und für diese Werte einzutreten, sind die zentralen und hockaktuellen Grundsätze der Hambach-Gesellschaft. Das Hambach-Jahrbuch spielt dabei eine wichtige Rolle. Unter den historischen Fachzeitschriften nimmt es einen besonderen Rang ein, weil es sich ausdrücklich dem Dreiklang von Rekonstruktion, Gedenken und konstruktiver Debattenkultur verpflichtet sieht. Das 24. Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft versammelt in diesem Sinne in der Rubrik „Aufsätze“ fünf Beiträge, die einen weiten Bogen spannen: Karl Erhard Schuhmacher gibt einen detaillierten Einblick in Kindheit und Jugend des amerikanischen Eisenbahnmagnaten Henry Villard, der 1835 als Heinrich Hilgard in Speyer geboren wurde. Er schildert dessen großbürgerliche Familienverhältnisse und teilweise schwierigen Ausbildungsweg, berichtet von prägenden Eisenbahnfahrten und illustriert die liberalen Ansichten des Heranwachsenden während der Revolution von 1848/49. Hilgard besuchte mehrere Sitzungen der Frankfurter Nationalversammlung und diverse Volksversammlungen in Zweibrücken, er erwarb einen Heckerhut und schwärmte für den pfälzischen Revolutionär Gottfried Kinkel, er verweigerte 1849 im Religionsunterricht die Fürbitte für den bayerischen König und musste nicht zuletzt deshalb für ein Jahr in ein kirchliches Collège ausweichen. Seine Emigration im Jahre 1853 hatte indes nichts mit Politik zu tun. Hilgard, dessen Onkel während des Pfälzischen Aufstandes eine wichtige Rolle spielte und in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, arrangierte sich schnell mit dem Wiedererstarken der alten politischen Kräfte. Er verließ seine Heimat vor allem, weil er ob seines unsteten Lebenswandels immense Schulden aufgehäuft hatte und einen Neuanfang suchte. Karlheinz Lipp beleuchtet den problematischen Ort der stark von Lehrkräften geprägten Friedenspädagogik im deutschen Kaiserreich. Er erläutert die auf Antimilitarismus, Recht und Internationalismus gründenden Positionen von Eduard Sack, Wilhelm Lamszus, Heinrich Scharrelmann oder Doris Paulus. In besonderer Weise galt das Interesse der Friedenspädagogik dem Geschichtsunterricht, der zum einen statt Militär- mehr All-
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tags-, Sozial- und Kulturhistorie zum Gegenstand haben und zum anderen ungleich stärker auf die gravierenden Begleit- und Folgeerscheinungen von Kriegen eingehen sollte. Lipp thematisiert das friedenspädagogische Engagement wider die Prügelstrafe, geht auf die Zeit des Ersten Weltkrieges ein und skizziert konkrete Angebote, die zum Beispiel im Rahmen der Erwachsenenbildung dem Abbau von Feindbildern dienlich sein sollten. Schließlich kontrastiert er die schwache organisatorische Stellung der deutschen mit der französischen Friedenspädagogik. Jörg Kreutz untersucht die republikanische Festkultur der „Weimarer Republik“. Als Sonde dient ihm die Verfassungsfeier des Reichsbanners Schwarz-RotGold auf dem Hambacher Schloss am 8. und 9. August 1925, an der mehrere tausend Menschen teilnahmen. Auf Basis des Protokollbuchs der Neustadter Ortsgruppe des Reichsbanners und einer systematischen Auswertung der wichtigsten pfälzischen Zeitungen vermag er deren akribische Planung ebenso deutlich zu machen wie die laute politische Gegenpropaganda, zu der auch antisemitische Schmierereien zu zählen sind. Kreutz führt den hohen Mobilisierungsgrad des demokratischen Lagers vor Augen und benennt durchaus positive Folgeerscheinungen, etwa eine zumindest zeitweise günstige Mitgliederentwicklung beim Reichsbanner. Freilich stellt er auch heraus, dass dessen parteiübergreifender Charakter mit der schwindenden Bedeutung von Zentrum und DDP zusehends verlorenging. Laura Fuhrmann beschäftigt sich am Beispiel Frankenthals mit dem nationalsozialistischen Schulsystem. Sie erhellt den weitreichenden Prozess der Nazifizierung, namentlich den Aufstieg der Hitlerjugend (HJ) und des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB), die zum Beispiel Beförderungen von Lehrkräften verhinderten und die Umwandlung der Konfessions- in Gemeinschaftsschulen vorantrieben. Zudem arbeitet sie heraus, dass die Schülerschaft zunehmend in Unterricht sowie bei Schulfahrten und -feiern mit Parteiideologie konfrontiert war, gezielt auf einen Kriegseinsatz vorbereitet und im Sinne der NSRassenhygiene instrumentalisiert wurde. Besonders markant war letzteres bei den Frankenthaler Hilfsschulen. Fuhrmann zeichnet die Segregation jüdischer Schülerinnen und Schüler nach, sensibilisiert aber auch für die relativ schmalen Grenzen der „Gleichschaltung“: Es gab durchaus Kritik an der Ideologisierung des Unterrichts, zumal katholische Lehrkräfte gerieten immer wieder in Konflikt mit den Schulbehörden. Miriam Breß setzt sich mit dem Phänomen der „Schutzhaft“ im Lager Neustadt a. d. Haardt auseinander – einem der lange Zeit vernachlässigten „frühen“ Konzentrationslager, das im März/April 1933 bestand und im Ganzen 454 Gefangene zählte, von denen knapp zwölf Prozent Juden waren. Sie beschreibt seine Entstehung, Organisation und die Haftbedingungen, sie geht den Wegen der Häftlinge nach ihrer Entlassung nach (viele verloren ihre Arbeit; nicht wenige wurden wieder politisch auffällig und engagierten sich im „Widerstand“; etliche suchten sich anzupassen). Eindrucksvoll dekonstruiert sie gängige Deutungen: Mitnichten waren die frühen KZ beispielsweise in erster Linie der Zerschlagung der Arbeiterbewegung dienlich. So waren in Neustadt Juden inhaftiert, die in der SPD und beim Reichsbanner aktiv gewesen waren, aber auch jüdische Mandatsträger anderer Parteien und vor allem jüdische Geschäftsinhaber, Kauf-
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männer, Rechtsanwälte und Ärzte, deren „Schutzhaft“ im Rahmen des antisemitischen Boykottes erfolgte. Die frühen KZ spielten folglich sowohl im Hinblick auf die „Gleichschaltung“ der Kommunalparlamente als auch die nationalsozialistische Ausgrenzungspolitik eine wichtige Rolle. In der Rubrik „Forum“ bietet Hans Fenske eine provokante Interpretation Bismarcks. Er zeichnet ihn mithin vor allem als fortschrittlichen Konstitutionalisten, der Wesentliches für die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie geleistet habe. Michael Braun unterzieht abschließend die jüngere Erinnerungskonjunktur des Ersten Weltkrieges einer eingehenden Betrachtung und vertritt dabei die These, dass diese unbedingt positiv zu werten ist. Allen Autorinnen und Autoren sei herzlich für Ihre Mühen und Ihre anregenden Beiträge gedankt. Zu wünschen sind ihnen lebhaftes Interesse und zahlreiche Leserinnen und Leser. Ein besonderer Dank gilt Kathrin Kiefer, M.A., und Johannes Schweigardt, M.A., ohne deren umsichtige redaktionelle Arbeit dieses Jahrbuch nicht hätte erscheinen können.
Mainz, Dezember 2017
Markus Raasch
INHALT
Vorwort ............................................................................................................. 5
Aufsätze Karl Erhard Schuhmacher Zwischen konservativem Vater und liberaler Großfamilie. Die Pfälzer Jahre des Heinrich Hilgard-Villard ................................................................. 13 Karlheinz Lipp Friedenspädagogik im Kaiserreich ................................................................. 39 Jörg Kreutz Die Verfassungsfeier des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold auf dem Hambacher Schloss am 8. und 9. August 1925 .............................................. 57 Laura Fuhrmann Schule im Nationalsozialismus. Das Beispiel Frankenthal (1933–1939) ....... 79 Miriam Breß In „Schutzhaft“ im (frühen) Konzentrationslager Neustadt a. d. Haardt. Hintergründe und Funktion der „Schutzhaft“ ............................................... 107
Forum Hans Fenske „Ein einiges deutsches Vaterland …“ Bismarck und die deutsche Frage 1848 bis 1871 ................................................................................................ 135 Michael Braun Erinnern als Ereignis: 100 Jahre Erster Weltkrieg........................................ 155 Autoren- und Mitarbeiterverzeichnis ............................................................ 179
AUFSÄTZE
ZWISCHEN KONSERVATIVEM VATER UND LIBERALER GROSSFAMILIE Die Pfälzer Jahre des Heinrich Hilgard-Villard Karl Erhard Schuhmacher
I. EINFÜHRUNG Der 18-jährige Student Heinrich Hilgard hat sich bei seinem misslungenen Einstieg ins Universitätsstudium wiederholt nicht an die Absprachen mit dem Vater gehalten und eine Menge von Schulden angehäuft. Da er sich nicht mehr unter die Augen seines strengen Vaters traute, verließ er ohne Benachrichtigung seiner Eltern im Sommer 1853 Deutschland und wanderte mit geliehenem Geld in die USA aus. Der „Bürger zweier Welten“ – wie er später häufig genannt wurde – legte bei der Einwanderung seinen Namen ab und wagte auf sich alleine gestellt einen Neuanfang. Ohne jegliche Englischkenntnisse, ohne Berufsausbildung und zunächst auch ohne Unterstützung von in den USA lebenden Verwandten und Freunden der Familie erlebte Henry Villard, wie er sich nun nannte, fünf ganz harte Jahre.1 Mit bewundernswerter Zähigkeit steckte er eine Reihe von Misserfolgen weg, überwand immer wieder tiefe Krisen und war diese fünf „Wanderjahre“ in vielen Orten und den verschiedensten Tätigkeiten unterwegs, wo ihm seine humanistische Gymnasialbildung nicht viel weiterhalf. Doch im Jahr 1858, in dem er 23 Jahre alt wurde, schlug er zielstrebig eine Karriere ein, bei der er seine Prägung durch die politisch wache Großfamilie Hilgard und durch sein im Deutschunterricht erworbenes Schreibtalent im politischen Journalismus zur Entfaltung brachte. In einer New Yorker Zeitung berichtete er als Korrespondent von den legendären Debatten zwischen Frederick Douglas und Abraham Lincoln (1858); eine Zeitung aus Cincinatti sandte ihn als Sonderbeobachter zum Wahlkongress der republikanischen Partei nach Chicago (1860), auf dem Lincoln zum Präsidentschaftskandidat gewählt wurde; von dem der demokratischen Partei nahestehenden Verleger J. G. Bennett des mächtigen „New York Herald“ wurde Henry Villard (also Heinrich Hilgard) nach dem Sieg Lincolns in der Präsidentschaftswahl
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Heinrich Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (1835–1900). New York 1906, 160–242; Alexandra Villard de Borchgrave/John Cullen, Villard. The Life and Times of an American Titan. New York 2001, 19–28 und 37–47.
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1860 für fast drei Monate zur journalistischen Begleitung des President Elect nach Springfield geschickt, von wo aus der Mann mit dem Pass des Königreichs Bayern als embedded journalist fast täglich Berichte nach New York sandte, in denen er beschrieb, wie der kommende Präsident der USA sich auf die schier unlösbare Aufgabe vorbereitete, die gespaltene Nation zusammenzuhalten. Als schließlich Lincolns präsidentieller Sonderzug Springfield Ende Februar 1861 mit Ziel Washington verließ, hatte Hilgard als einer von wenigen Journalisten die Ehre, den künftigen Präsidenten zur Amtseinführung zu begleiten. Heinrich Hilgard alias Henry Villard war in ‚Amerika‘ angekommen.2 Vor dem Hintergrund seiner Durchsetzungsfähigkeit, seiner autodidaktischen Lernbefähigung und seinem hohen Anspruch an sich selbst sollen hier Familie, Kindheit und Jugend des Heinrich Hilgard skizziert werden. Aspekte seiner Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung sind zu suchen: in seinem spezifischen Familiennetzwerk, seinen beiden Heimatstädten Zweibrücken und Speyer, in religiösen Gepflogenheiten, der Auswanderungsaffinität seiner Umgebung sowie im weite Kreise der bayerischen Pfalz erfassenden politischen Wandel im Vormärz.
II. HERKUNFT UND KINDHEIT 1. Heinrichs Eltern Heinrich Hilgard kam am 10. April 1835 im Hause seiner Großeltern Pfeiffer, den Eltern seiner Mutter, am Königsplatz in Speyer zur Welt. Er wurde in eine wohlhabende großbürgerliche Familie hinein geboren. Heinrichs Vater, Gustav Leonhard Hilgard (*1807), war erstgeborener Sohn des Georg Friedrich Hilgard, Domänenverwalter, Gutsbesitzer und späterer Bürgermeister von Speyer, und der wohlhabenden Bankierstochter Charlotte (geb. Henrich) aus Neustadt. Heinrichs Mutter, Elisabeth genannt Lisette (geb. Pfeiffer), entstammte der Ehe des seit 1815 in Speyer ansässigen Amtmanns Franz Josef Pfeiffer mit der aus Bad Dürkheim stammenden Anna (geb. Berchtold).3 Die in Speyer bekannten Familien kannten einander und der Gymnasiast Gustav Hilgard hat schon früh ein Auge auf die lebhafte Lisette geworfen, wohl wissend, dass die Familien unterschiedlichen Konfessionen angehörten. Gustav studierte zusammen mit seinem gut ein Jahr jüngeren Bruder Theodor Jura in München, Heidelberg und Würzburg. Der ehr-
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Harold Holzer, Lincoln. President-Elect. New York 2008, 80–83 und 298–301; Harold G. Villard/Oswald Garrison Villard, Lincoln on the Eve of ’61. A Journalist’s Story by Henry Villard, passim; Villard de Borchgrave/Cullen, Villard (wie Anm. 1), 127–137; Michael Burlingame, Abraham Lincoln. Volume I. Baltimore 2013, 704. Gertrud Baecker/Fritz Engelmann, Die kurpfälzischen Familien Engelmann und Hilgard. Ludwigshafen 1958, 55f.; Theodor Erasmus Hilgard, Meine Erinnerungen. Heidelberg 1860, passim; Peter Hilgard, Träume haben kein Recht auf Erfüllung. Die Hilgards in Amerika. Münster 2012, passim.
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geizige Gustav, der stets unter den Klassenbesten im Gymnasium war, absolvierte mit Bravour seine Examina (1828) und ging anschließend für ein Jahr an die Rechtsschule „Collège de France“ in Paris, um in der Pfalz, in der auch nach Übernahme der Herrschaft durch das Königreich Bayern das französische Recht im Rechtswesen weitergalt, eine juristische Karriere einschlagen zu können. Er kehrte in die Pfalz zurück und absolvierte den juristischen Vorbereitungsdienst für eine Staatsanstellung in Zweibrücken. In einem dort verfassten und versandten Brief hielt Heinrich 1830 bei Franz Josef Pfeiffer um die Hand seiner Lisette an. Diese ungewöhnliche förmliche Werbung war der Konfessionsfrage geschuldet. Gustav Hilgard, der persönlich nicht besonders religiös war, stellte sich in seinem Brief in die Tradition seiner Vorfahren von herausragenden protestantischen Pfarrern und machte die protestantische Erziehung der zu erwartenden Kinder zur Bedingung für die Eheschließung. Für den überzeugten Katholiken Franz Pfeiffer war dies unannehmbar. Nach einigem Hin und Her einigte man sich entlang des in der Pfalz lange Zeit üblichen Kompromisses. Eine katholische Trauung einer Mischehe konnte danach vollzogen werden, wenn festgelegt war, dass die Mädchen im Glauben der Mutter, die Jungen in dem des Vaters zu taufen und zu erziehen seien. Man kam weiter darin überein, die Trauung und Hochzeit erst dann anzugehen, wenn Gustav eine gesicherte berufliche Position erreicht haben würde. Die Brautleute hielten diesen Zeitpunkt für gekommen, als Gustav 1833 bei der Staatsanwaltschaft in Frankenthal eine feste Stelle bekam. Aber nun mussten sie als erstes Brautpaar mit gemischter Konfession erfahren, dass die katholische Kirche im Bistum Speyer das lange akzeptierte Verfahren aufgekündigt hatte. Der Speyerer Bischof, Johann Martin Manl, hatte auf Grund einer Instruktion von Papst Gregor XVI. verfügt, dass künftig katholische Geistliche bei der Trauung eines gemischt konfessionellen Paares nur noch mitwirken durften, wenn die Brautleute zusicherten, alle ihre „zu erhoffenden Kinder in der katholischen Religion zu erziehen“.4 Wegen der von Gustav und Lisette getroffenen abweichenden Vereinbarung wurde ihnen in Speyer die katholische Trauung verweigert. Franz Pfeiffer wiederum lehnte eine protestantische Trauung ab und so drohte die Eheschließung ganz zu scheitern. Sogar eine höchstpersönliche Intervention des Regierungspräsidenten der Pfalz beim Speyerer Bischof blieb erfolglos. Der Fall Hilgard-Pfeiffer schlug in der Pfalz hohe Wellen5 und wurde schließlich dem Staatsministerium des Inneren in München vorgelegt. Unter politischem Druck erklärte sich der Bischof schließlich bereit, eine Ausnahme zu machen und trotz der von den Brautleuten gewählten Regelung der Kindererziehung die Trauung
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Hans Fenske, Speyer im 19. Jahrhundert (1814–1918), in: Geschichte der Stadt Speyer, hrsg. von der Stadt Speyer. Stuttgart 1982, 115–290, hier 167; Ludwig Stamer, Kirchengeschichte der Pfalz, Teil IV. Speyer 1964, 78f. Neue Speyerer Zeitung, Ausgaben vom 30.05. und 15.06.1833.
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durchzuführen.6 So konnte am 11. Juni 1833 die Trauung im Dom von statten gehen und die Hochzeit im Kreise der großen Verwandtschaft im „Wittelsbacher Hof“ gefeiert werden. Der Versuch der katholischen Kirche, in der Pfalz bayerische Positionen im Verhältnis der Konfessionen herzustellen, war gescheitert.
2. Heinrichs Kindheit in Zweibrücken und Speyer Gustav Hilgards frühe juristische Laufbahn führte in verschieden Funktionen nach Neustadt, Frankenthal und schließlich nach Zweibrücken, wo er 1839 am höchsten Pfälzischen Gericht zum Stellvertreter des Ersten Staatsanwalts bestellt wurde. Inzwischen waren ihm und seiner Gemahlin Lisette neben dem Sohn Heinrich noch die Töchter Anna und Emma geboren worden. Die fünfköpfige Familie ließ sich daraufhin in der ehemaligen herzoglichen Residenzstadt von PfalzZweibrücken nieder. Zunächst wohnte die junge Familie Hilgard in den Amtswohnungen der in barocker Zeit vom Zweibrücker Herzog Christian IV. im 18. Jahrhundert gebauten ‚Herzogsvorstadt‘. Heinrich, der als Vierjähriger nach Zweibrücken kam, kann sich gut an ihre ersten beiden Wohnungen in dieser Wohnanlage erinnern. Er schildert in großer Anschaulichkeit von Kindheitserlebnissen rund um den Herzogplatz. Größte Anziehung übte für den neugierigen Heinrich der in der Nähe durchfließende Schwarzbach aus. Im Winter testete der mutige Junge die Tragfähigkeit des Eises, im Frühjahr half er bei der allgemeinen Waschung von Schafherden vor deren Schur und im Sommer suchte er mit seinem treuen Hund „Feldmann“ in den Fluten Abkühlung. Dabei erfreuten ihn die „aquatischen Kunststücke“ seines vierbeinigen Freundes so sehr, dass er es ihm gleichtat und beim Spielen mit ihm mehrmals der Länge nach in den Bach stürzte.7 Teil der Wohnanlage waren zwei unbenutzte alte Gebäude, die mit „allerlei Gerümpel“ angefüllt waren: „Sie waren wie geschaffen als Schauplatz für das Spiel der Kinderphantasie, und nichts gewährte uns größere Freude, als ihren aufgeschichteten Inhalt immer wieder aufs Neue zu durchstöbern. [...] Meine Spielkameraden und ich entfernten mit großer Mühe von einigen dazugehörigen halbfaulen Fässern die eisernen Reifen und schleppten sie im Triumphe zu einem stadtbekannten jüdischen Trödler, Samson genannt, der sie uns für eine Kleinigkeit per Pfund abhandelte“.8
Nach seinem fünften Geburtstag im Mai 1840 erlitt Heinrich mehrere Krankheiten und war in seiner Gesundheit so geschwächt, dass man ihn für die folgenden Monate zur „Luftveränderung und Erholung“9 zu seinen Großeltern nach Speyer
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Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 17–19; Stamer, Kirchengeschichte (wie Anm. 4), schreibt auf Seite 79, dass auf Veranlassung von Papst Gregor XVI. 1834 die Verfügung zurückgenommen wurde. Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 23f. Ebd., 23. Ebd., 24f.
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brachte. Großvater Franz und Großmutter Anna Maria Pfeiffer liebten ihre drei Zweibrücker Enkel so sehr, dass sie darauf bestanden, immer eines der Enkel bei sich in Speyer zu haben. So war nun einmal situationsbedingt Heinrich dran. Franz Pfeiffer, Amtmann der Verwaltung des bayerischen Salzmonopols der Pfalz in Speyer, war auf Grund seiner beeindruckenden Persönlichkeit und seiner früheren militärischen Karriere ein weithin geachteter Bürger der Stadt. Zur Familie am Königsplatz gehörte Anna genannt „Nannchen“, die unverheiratete Schwester von Heinrichs Mutter, die ihre Zweibrücker Nichten und den Neffen bei deren Besuchen verwöhnte. Angesichts der allseitigen Zuwendung fühlte sich der kleine Heinrich bei seinen Großeltern in Speyer sichtlich wohl. Als der Herbst mit dem Beginn des Schuljahres herankam, entschieden Eltern und Großeltern, den fünfeinhalbjährigen Heinrich in Speyer zu belassen und ihn in seiner Geburtsstadt einzuschulen. Der Übergang von der unbekümmerten und zugleich wohlbehüteten Kindheit zum reglementierten Schulunterricht fiel dem damals recht sensiblen und scheuen Jungen schwer. Er ertrug die Schule nur widerwillig, wobei der Grund dafür weniger in den Lernanforderungen, als in den schulischen Bedingungen lag. In dieser Zeit gab es in den unteren Klassen enorme Klassenstärken von bis zu 100 Schülern.10 Zudem war Heinrich mit seiner großbürgerlichen Prägung einigermaßen irritiert über die vielen „ärmlich gekleideten und auch sehr unreinlichen Kinder“, die um ihn herumsaßen.11 Bei Beendigung der ersten Klasse sollte Heinrich in einer kleinen Feier einen Buchpreis erhalten und bei der Überreichung ein Gedicht aufsagen. Großvater Franz Pfeiffer ließ sich dieses für seinen Enkel bedeutende Ereignis nicht entgehen. „Ich sehe es noch heute, wie der liebe alte Mann seinen mit blauem Rock, weißen Beinkleidern und Strohhut gekleideten Enkel zur Preisverteilung führte – er stolz, ich aber im Voraus wegen der bevorstehenden öffentlichen Schaustellung äußerst verlegen. [...] Aber schließlich gelang es mir doch, die für diese Gelegenheit erlernten Verse herzusagen, vor die Lehrer hinzutreten und mit einer Verbeugung das Preisbuch entgegenzunehmen“.12
Obwohl Heinrich Hilgard der Tradition der väterlichen Familie entsprechend protestantisch erzogen wurde, so beeindruckten ihn dennoch die Formen katholischer Religiosität, die er als Kind bei seinen katholischen Großeltern kennenlernte. Der Großvater nahm den kleinen Heinrich jeden Sonntag mit in den Dom zur Messe. Heinrich war von der Größe und inneren Weite des Gotteshauses äußerst beeindruckt. Als gerade Sechsjähriger hatte er hier einen besonderen Auftritt und ein nachhaltiges religiöses Erlebnis. Anlässlich der Erstkommunion des Sohnes des Dieners im Haus seines Großvaters war der kleine Heinrich ausersehen worden, bei der Zeremonie der Einsegnung mitzuwirken. Bei der „langsam schreitenden Prozession das Hauptschiff entlang und die Treppen hinauf bis zum Hauptaltar“ 10 Fenske, Speyer (wie Anm. 4), 151; Horst Schiffler, Die pfälzische Schule in bayrischer Zeit, https://www.Schulmuseum-ottweiler.net/magazin/pfaelzische-schule-in-bayerischer-Zeit (Zugriff: 09.06.2017). 11 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 25. 12 Ebd.
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durfte er neben ‚seinem‘ Kommunionskind einhergehend dessen Kommunionskerze tragen. „Die anwesende Menge, der Weihrauch, der Chorgesang, die brausenden Orgeltöne, die Zahl und Gewänderpracht der Geistlichkeit und das überschwellende Glockengeläute“ waren für ihn „wie eine Offenbarung der Macht und des Glanzes der himmlischen Herrschaft“.13 Auch Heinrichs spätere Konfirmation in der Alexanderskirche in Zweibrücken beeindruckte den 13-jährigen Heinrich durch ihren strengen, aber würdevollen Ritus. Allerdings hatte er insgesamt keine feste Glaubensbindung in seiner Kindheit und Jugend aufbauen können und er bezeichnet sich in religiöser Hinsicht als Agnostiker.14 Nach dem ersten Schuljahr ging Heinrichs 15-monatiger Aufenthalt in Speyer zu Ende. Er kam körperlich und ‚geistlich‘ gestärkt zu seinen Eltern und Geschwistern nach Zweibrücken zurück. Nach den Sommerferien ging er dann dort in den nächsten Jahren zur Schule. Mit reifemäßig geschärfter Beobachtung bemerkte der Grundschüler die vielfältigen gesellschaftlichen Grenzziehungen im Schul- und Stadtleben von Zweibrücken. Der Unterricht wurde in Klassen beziehungsweise Schulen erteilt, die je nach Konfession und Geschlecht streng getrennt waren. Heinrich stellte fest, dass in seiner protestantischen Jungenklasse die Mehrzahl der Schüler „den unteren Ständen, d. h. den Schichten der kleinen Geschäftsleute, Handwerker und gewöhnlichen Arbeiter angehörten. Die Söhne der Beamten und der wenigen reicheren und gebildeten Bürgerfamilien bildeten eine schwache Minderzahl. Sehr oft kam es zu Einzelkämpfen oder Massenbalgereien zwischen beiden Parteien, und meine Eltern waren gewohnt, mich mit blutigem Kopf und in zerissenen Kleidern nach Hause kommen zu sehen“.15
Die Sommerferien nach der zweiten und dritten Klasse verbrachte Heinrich wiederum in Speyer. Mit seinem überhöhten Anspruch an sich selbst hatte er es sich in den Kopf gesetzt, die vierte Klasse zu überspringen, um mit seinen älteren Freunden gemeinsam in die erste Klasse der Lateinschule (vierjährige Unterstufe des Gymnasiums) eintreten zu können. Um die Lücke eines ganzen Schuljahres zu schließen und um die Aufnahmeprüfung zu bestehen, erhielt Heinrich in den Sommerferien 1843 von einem regelmäßigen Besucher der großväterlichen Familie Pfeiffer Privatunterricht. Der Freund des Hauses war kein geringerer als der Speyerer Regierungsdirektor Heinrich von Schnellenbühl, der drei Jahre später in Zweibrücken Präsident des Appellationsgerichtshofes wurde (Vater Gustav Hilgard war zu dieser Zeit daselbst 2. Staatsanwalt – „Staatsprokurator“). Heinrich bestand die Aufnahmeprüfung und Ende Oktober 1843 begann für den achteinhalb Jahre alten Jungen der vorgymnasiale Unterricht der Lateinschule in Zwei-
13 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 25f. 14 Vgl. die denkwürdige Unterhaltung zwischen A. Lincoln und H. Hilgard-Villard über Religiosität, in: Henry Villard, Memoirs of Henry Villard, Journalist and Financier 1835–1900. Boston/New York 1904, Volume I., 95f.; vgl. Heinrichs tiefsitzende Abneigung gegen kirchliche Religiosität, in: Villard de Borchgrave/Cullen, Villard (wie Anm.1), 85f. 15 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 27f.
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brücken, obwohl eigentlich ein Mindestalter von zehn Jahren vorausgesetzt war.16 In den schon ab 1887 deutsch verfassten „Jugenderinnerungen“ stellt Heinrich Hilgard-Villard den in dieser Schulstufe wirkenden Lehrern ein vernichtendes Urteil aus. Mit am schlechtesten kommt dabei ausgerechnet sein mit ihm verwandter Klassen- und Religionslehrer, Philipp Ludwig Krafft, weg, dessen Mutter Margarete eine geborene Hilgard war. Gerade von ihm hatte sich die Familie eine besondere Förderung des zu jungen Gymnasiasten erhofft. Doch „bei der geringsten Veranlassung prügelte und zauste [dieser] seine Schüler bei den Haaren und den Ohren ohne Erbarmen. [...] Für mich hatte er den liebenden Ausdruck: ‚Du Schlingel, nun bekommst du eine doppelte Tracht Prügel aus rein verwandtschaftlicher Zuneigung‘. Ohne die Nachhülfe meines Vaters wäre ich überhaupt kaum unter ihm vorwärts gekommen“.17
In der Rückschau führt Henry Villard seine durchweg unbefriedigenden Leistungen in der Lateinschule auf die mangelnde Anregungskraft und Kompetenz seiner Lehrer zurück. Damals wurden in der bayerischen Pfalz von den weiterführenden Schulen Jahresberichte gedruckt und veröffentlicht, in denen für jede Klasse die Rangfolge der Schüler in jedem einzelnen Fach aufgelistet wurde. Heinrich war in allen Klassen der Lateinschule mit seinen schlechten Leistungen immer nur recht weit unten auf den Ranglisten zu finden, was für den Vater und seinen hohen Erwartungen an seinen einzigen Sohn „natürlich eine große Enttäuschung war, die er mich auch fühlen ließ“.18 Diese Jahreslisten verzeichnen aber auch die Geburtsjahre der Schüler. Dabei fällt auf, dass Heinrich Hilgard weitaus jünger war als die Mitschüler seiner Klasse.19 Das zu frühe Überwechseln in die Lateinschule war ein Fehler gewesen; die schwachen Leistungen und die von Heinrich beklagte mangelnde Anregung durch seine Lehrer waren wahrscheinlich die Folgen einer alters- und reifebedingten Überforderung und der zu hohen Ansprüche seines Vaters und seiner selbst. Aus der Rückschau auf seinen Werdegang sieht Heinrich Hilgard es als grundlegenden Fehler, immer übersteigerte Ansprüche an sich selbst gestellt zu haben.
16 Schiffler, Schule (wie Anm. 10), 8. 17 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 49; das „Erste Buch“ seiner „Lebenserinnerungen“ (1906) hatte Heinrich Hilgard-Villard schon ab 1887 unter dem Titel „Jugenderinnerungen“ geschrieben und 1902 separat herausgegeben. Sein Verwandter und früherer Lehrer in der Lateinschule, Philipp Ludwig Krafft (*1811), war im Juli 1884 unter der jubelnden Menge in Zweibrücken, die den großen Wohltäter der Stadt in größten Ehren empfing. Heinrich Hilgard-Villard erkannte und begrüßte ihn in besonderer Herzlichkeit gleich ‚doppelt‘ mit Handschlag und mit Umarmung – aus besonderer verwandtschaftlicher Zuneigung (Speyerer Zeitung, 16.07.1884). 18 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 50. 19 Ende der vierten Klasse (1847) waren Heinrich und ein weiterer Schüler mit 12 Jahren die weitaus Jüngsten; danach folgten 2 Schüler mit 13 Jahren, 4 Schüler mit 14 Jahren, 6 Schüler mit 15 Jahren, 2 Schüler mit 16 Jahren und jeweils ein Schüler mit 17 bzw. 18 Jahren. In: Jahresbericht über das königliche Gymnasium und die Lateinische Schule zu Zweibrücken in der Pfalz 1846/47 (IV. Klasse der Lateinschule). Zweibrücken 1847. Digitalisiert bei MDZ München.
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3. Ferien in Speyer Die ‚Sommerferien‘, die sich damals von Mitte August bis in den Oktober erstreckten, verbrachte Heinrich während seiner vier Jahre in der Lateinschule regelmäßig bei den Großeltern am Königsplatz in Speyer. Hier machte er einmal in der Woche einen Höflichkeitsbesuch bei seinem Großvater väterlicherseits, bei Georg Friedrich Hilgard, der von 1838–1843 Bürgermeister in Speyer war. In dieser Familie erfuhr Heinrich nicht die gleiche warmherzige Aufnahme wie bei den Pfeiffers, so dass dies für ihn eher Pflichtbesuche wurden. Das mag an dem sachlichen Charakter des früheren Domänenverwalters gelegen haben, aber dessen Familiensituation war auch eine ganz andere. Georg Friedrich Hilgard (*1784) war in seiner ersten Ehe mit der sehr vermögenden Bankierstochter Charlotte (geborene Henrich) aus Neustadt verheiratet gewesen. Sie hatten fünf Söhne: Heinrichs Vater Gustav (*1807), Theodor (*1808), Friedrich (*1810), Eduard (*1813) und Otto (*1816). Zwei Jahre nach der Geburt des jüngsten Sohnes Otto verstarb Mutter Charlotte. Georg Friedrich Hilgard nahm daraufhin seine früh verwitwete Mutter Dorothea Hilgard (geborene Engelmann) in seinen Haushalt auf, dem sie bis zu ihrem Lebensende (1845) angehörte. Zehn Jahre nach dem Tod von Charlotte ging der Witwer eine zweite Ehe mit seiner Cousine Margarethe (geborene Engelmann) ein, aus der zwischen 1828 und 1847 weitere neun Kinder hervorgingen. Wenn also der acht- oder neunjährige Heinrich seinen Großvater und dessen rund 20 Jahre jüngere Ehefrau in deren großem Speyerer Haus besuchte, traf er auf eine große Kinderschar im Alter zwischen ein und elf Jahren, die vom Verwandtschaftsgrad her seine Tanten und Onkel waren. Seine betagte Urgroßmutter bewohnte in dem geräumigen Haus einen eigenen Flügel, wo Heinrich ihr bei jedem seiner Besuche Aufwartung machen musste. Er blieb allerdings nie lange bei ihr, denn er empfand die Atmosphäre als beklemmend. „Sie saß mit der Haube und dem weißen Haare kerzengerade in ihrem Lehnstuhl, betrachtete mich mit ihren lebhaften Augen und richtete Frage auf Frage und Mahnung an Mahnung an mich“.20
Dagegen fand Heinrich in dem nur wenig älteren Robert einen guten Freund. Es war eine Freundschaft, die auch Bestand hatte, als beide in die USA ausgewandert waren. Ihr enges Verhältnis rührte auch daher, dass Heinrichs Eltern im Herbst 1843 Robert für vier Jahre in Zweibrücken als eine Art Pflegekind aufnahmen, wohl um die vielköpfige Bürgermeisterfamilie zu entlasten. Robert ging mit Schuljahresbeginn 1843 in die zweite Klasse der Zweibrücker Lateinschule, während der Klassenspringer Heinrich – obwohl damals zweieinhalb Jahre jünger – in die erste Klasse eintrat. Robert war ein guter Schüler, der die vierte Klasse der Lateinschule sogar als Klassenprimus beendete und dafür einen Schulpreis erhielt. Ein Jahr später verließ dann Heinrich mit wesentlich schwächerer Platzierung (Rang 17 von 21 Schülern) die Lateinschule, was nach dem glänzenden Ergebnis
20 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 32.
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seines Freundes und Onkels Robert ein Jahr zuvor für den Vater eine besondere Enttäuschung gewesen sein musste.21 Die darauffolgenden Sommerferien verbrachte der zwölfeinhalbjährige Heinrich wiederum in Speyer am Königsplatz. Dieses Mal wurde jedoch sein Aufenthalt bei seinen Großeltern von einem schmerzlichen Ereignis überschattet. Der bayrische König Ludwig I., der die Ausmalung des Speyerer Domes angeordnet und dafür den Künstler Johannes Schraudolph bestellt hatte, wollte im August 1847 an Ort und Stelle den Fortgang der 1845 begonnenen Arbeiten begutachten.22 Der König hatte für seinen Speyerer Aufenthalt den „Wittelsbacher Hof“ direkt neben dem Pfeiffer’schen Haus als Quartier ausgewählt. Da die ganze Stadt festlich geschmückt wurde, brachte am Vormittag des 27. August auch der 76jährige Franz Pfeiffer zusammen mit seinem Enkel Heinrich an den Fenstern des oberen Stockwerks Girlanden an. In der Mittagszeit wurden beide zum Essen gerufen. Heinrich ging gleich nach unten, während der Großvater selbst nach geraumer Zeit noch nicht am Mittagstisch erschienen war. Heinrich wurde zum Großvater hochgeschickt, um diesen zu erinnern. Als er in einem der Räume nachsah, fand er diesen tot vor einem der Fenster auf dem Fußboden liegen. Dieses Erlebnis fügte dem Jungen einen Schock und größten Schmerz zu: „Ich hatte zum ersten Male die Schrecken des Todes geschaut und war aufs tiefste erschüttert“.23 Mit seinem Großvater verlor Heinrich Hilgard eine zentrale Bezugsperson seiner Kindheit und ein Vorbild für das Hineinwachsen in eine männliche Erwachsenenrolle. Der gestrenge Vater mit seinen hohen Erwartungen an den Sohn und seiner sichtlichen Enttäuschung wirkte in seiner Haltung auf Heinrich eher distanziert und unzugänglich.
4. Ausflüge und Besuche bei den Verwandten der Hilgard’schen Großfamilie Von Speyer aus machte Heinrich Hilgard während seiner Ferienaufenthalte stets Besuche bei dem großen Kreis von Verwandten in der Vorderpfalz. Einer der angenehmsten Ausflüge Heinrichs führte ihn zu dem Gutshaus seines Onkels Otto, des jüngsten Bruders seines Vaters. Dieser Glückspilz hatte bei der Verteilung des mütterlichen Erbes, also der reichen Bürgermeistergattin Charlotte Hilgard geborene Henrich, das reizvolle Barockschloss, das ehemalige Löwensteinische Amtshaus, in St. Johann bei Albersweiler geerbt. Der junge Heinrich Hilgard schätzte bei seinen zahlreichen Besuchen die malerische Lage des Schlösschens am Eingang des Annweiler Tales und den Obstreichtum der Gegend. „Der Onkel war gehörleidend und dadurch oft misslaunisch, aber die Tante und ihre drei netten Mädchen hatten eine große Anziehung für uns“.24 Die Familie war großzügig,
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Jahresbericht Lateinschule IV. Klasse 1846/47 (wie Anm. 19). Jochen Zink, Ludwig I. und der Dom zu Speyer. München 1986, 15, 40. Hilgard-Villard, Jugenderinnerungen 1835–1853. New York 1902, 76. Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 32f.
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gastfreundlich und führte einen gehobenen Lebensstil, was den sich mittlerweile als ‚aristokratisch‘ empfindenden Heinrich schwer beindruckte. Im August 1844 war selbst der damals schon berühmte Felix Mendelssohn Bartholdy bei den Hilgards zu Gast in St. Johann gewesen: Das ist vermutlich auch deren Neffen Heinrich bei seinen Besuchen zu Ohren gekommen und hat ihn gewiss schwer beeindruckt.25 Nicht minder feudal war das von den miteinander verwandten Bankiers Henrich und Grohé in Haardt erbaute Landhaus mit Park, das von Familie Gustav Hilgard häufig aufgesucht wurde. Heinrich war besonders angetan von dem herrschaftlichen Park und prachtvollen Rundblick in die Rheinebene bis hin nach Speyer, den Odenwald und den Schwarzwald. „Der damalige Besitzer – Mitgesellschafter im Bankhaus Henrich – war mein Großonkel Grohé, ein absonderlicher Herr, der sich während seines ganzen Lebens durch Exzentrizitäten auszeichnete. Eine seiner Gewohnheiten war, bei dem jährlichen Kirchweihfeste Hände voll Silberkreuzer unter die Haardter Dorfjugend zu werfen, um sich am Balgen derselben um die Beute zu ergötzen“.
Eine Tochter des Großonkels Grohé, Marie Luise, war mit dem sehr vermögenden Weingutsbesitzer Ludwig Heinrich Wolf in Wachenheim verheiratet. Heinrich berichtet: „Das Paar lebte auf großem Fuße und war sehr gastfrei, und wir genossen gewöhnlich ihre Gastfreundschaft“.26 Die verwandtschaftliche Verbindung mit dieser großbürgerlichen Familie hat Heinrich fasziniert und sollte später noch eine Rolle spielen. Wenn die ganze Pfalz im Banne des Wurstmarktes in Dürkheim stand, hielt Heinrich Hilgard sich häufig eine Woche bei einem Pfeiffer’schen Großonkel und dessen Frau in Ungstein auf. Von hier aus verließ der junge Heinrich fast täglich das Haus, um als geübter Wanderer zur nahen Wurstmarktwiese zu marschieren, „wo für mich die neue Welt von Karussells, Panoramas, Tierausstellungen, Zaubertheatern, Kunstreiterei und sonstige Verlockungen wie magisch unter meinen Augen entstand“.27
Schließlich zog der geheimnisvolle Klosterhof Hane bei Kirchheimbolanden den jungen Heinrich an. Nachdem sein Großvater und Bürgermeister Georg Friedrich
25 Rolf Übel, Das ‚Schlösschen‘ in St. Johann, in: Hans Bosch (Hrsg.), 1000 Jahre AlbersweilerSt. Johann. Annweiler 1991, 89–108, hier 105. 26 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 33; zur Verwandtschaft: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat Johann Ludwig Wolf sen. sein Weingut in Wachenheim enorm erweitert. Nach seinem Tod (1840) ging das Erbe in der nächsten Generation an seine drei Söhne über, die alle ihr eigenes Weingut führten. Der Sohn Ludwig Heinrich Wolf heiratete Marie Louise geborene Grohé vom Bankhaus Henrich-Grohé, die ihr reiches Erbe hier einbrachte. Es ist dieses Ehepaar, von dem Heinrich Hilgard hier spricht. Der Sohn Johan Ludwig Wolf jun. war ebenfalls mit einer Grohé-Tochter verheiratet, nämlich mit Caroline Henriette; deren Tochter Louise heiratete 1875 Dr. Albert Bürklin, womit das heute noch bestehende Weingut Bürklin-Wolf gegründet wurde. Mit Dr. Albert Bürklin und dessen Ehegattin hat Heinrich Hilgard-Villard seit dieser Zeit stets Kontakt gehalten. 27 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 36.
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Hilgard trotz der erneuten Wahl durch den Speyerer Stadtrat von der bayerischen Regierung als Bürgermeister „wegen der liberalen Gesinnung der Familie Hilgard“28 abgelehnt worden war (1843), verließ dieser Speyer und zog sich mit seiner zweiten Ehefrau und seiner Familie resigniert auf das schon 1821 von ihm erworbene Hofgut, den ehemaligen Klosterhof, zurück. Die zum Teil verfallenen Gebäude und die Kirchenruine bildeten ursprünglich das Prämonstratenserkloster „Hane“ in Bolanden. Mit den Ratten und Eulen in den zum Teil leerstehenden Gebäuden war es dem jungen Feriengast Heinrich hier vor allem nachts recht schaurig zumute. Obendrein hatte man ihm noch Geschichten über eingemauerte Mönche erzählt, deren Geister nachts spuken sollten.29 Möglicherweise ist ihm angesichts der Frustration seines Großvaters hier auch der Angriff der bayerischen Regierung gegen den Liberalismus in der Pfalz bewusstgeworden. In seiner Rückschau auf seine Pfälzer Kindheit hebt Heinrich Hilgard zwei Erlebnisse hervor, die als ein Vorverweis auf seine Karriere als Eisenbahnpionier gedeutet werden können. Auf einer seiner Rückfahrten vom Klosterhof nach Zweibrücken stattete er 1845 seiner Großtante Dorothee, der Schwester seines Lehrers Krafft, einen Besuch in Kaiserslautern ab. Da damals unweit der Barbarossastadt für die Bahnlinie in Richtung Hochspeyer der längste Tunnel der Ludwigsbahn, der Heiligenbergtunnel, im Bau war, machte er sich von Kaiserslautern auf den Weg, um diese für ihn einzigartige technische Leistung in Augenschein zu nehmen.30 Einen mindestens ebenso nachhaltigen Eindruck erhielt er von seiner ersten Fahrt mit einem Dampfschiff und mit der Eisenbahn. Im Sommer 1844 durfte er zusammen mit seiner um ein Jahr älteren Schwester Anna unter Aufsicht seiner Tante „Nannchen“ und seinem Lieblingsonkel Friedrich, dem jüngeren Bruder seines Vaters, mit dem Schiff von Speyer nach Mannheim und von da mit der Badischen Hauptbahn nach Heidelberg reisen. Zunächst aber mussten die zwei Kinder und ihre erwachsenen Begleiter sich durch die wolkendichten Schwärme von Stechmücken am Speyerer Landungsplatz durchkämpfen. Das hatte Heinrich bald vergessen, als er das Dampfschiff bestiegen hatte. Während der einstündigen Schifffahrt nach Mannheim hatte er nur Auge und Ohr für das Schiff mit seiner wunderbaren Maschine. Gänzlich fasziniert war dann der neunjährige Junge von der Zugfahrt von Mannheim nach Heidelberg auf der 1840 eingeweihten Strecke. Die schrillen Pfiffe, das dampfende Zischen der Lokomotive und das pfeilschnelle Dahinsausen erschienen ihm geradezu ungeheuerlich. „Wie wenig ließ ich es mir damals träumen, dass die Eisenbahnen die größte Rolle in meinem Leben spielen würden“.31
28 Baecker/Engelmann, Familien (wie Anm. 3), 155. 29 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 53; Alfred Hilgard, Die Familie Hilgard. Heidelberg 1899, 12. 30 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 55. 31 Ebd.
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III. DIE HILGARDS UND DIE REVOLUTION IN DER PFALZ 1. Heinrich und der Heckerhut Im Herbst 1847 erfolgte nach knapp bestandener Aufnahmeprüfung der Übergang des zwölfeinhalbjährigen Heinrich in die erste der vier Klassen des Gymnasiums in Zweibrücken.32 Es war diesem Erfolgserlebnis und der besonderen Anregungskraft des Hauptlehrers der ersten Klasse, Prof. Butters, geschuldet, dass er mit gesteigertem geistigen Interesse dem Unterricht folgte. Hinzu kam, dass im Laufe seines ersten Gymnasialjahres im Februar 1848 in Paris die Revolution ausbrach, die in der Pfalz ein neues politisches Klima schuf, das auch den Gymnasiasten Heinrich erfasste. Wenn auch in Deutschland im Jahr 1848 die revolutionären Ereignisse vor allem auf Berlin, München, Wien und das Großherzogtum Baden beschränkt blieben, so entwickelten sich in der Pfalz vor allem im liberalen Lager heftige Diskussionen um die sogenannten „Märzereignisse“ in den revolutionären Zentren des Deutschen Bundes und um den demokratisch erfolgten Reformversuch hinsichtlich einer neuen Reichsverfassung in der Frankfurter Paulskirche. Die Stimmung in der Pfalz war keineswegs revolutionär, aber vor allem in liberalen Kreisen hoffte man auf die Umsetzung der „Märzerrungenschaften“ in Form von erweiterten Freiheiten und die Zurücknahme der bayerischen Überwachung und Einengung. Heinrich Hilgard, der am 10. April 1848 seinen 13. Geburtstag feierte, wurde wie seine Mitschüler zu einem begierigen Zeitungsleser und eifrig diskutierenden Tagespolitiker.33 Zwischen den liberalen und eher konservativen Blättern (zum Beispiel zwischen der „Neuen Speyerer Zeitung“ und der „Pfälzer Zeitung“) entwickelten sich intensive Auseinandersetzungen über die Hauptfragen dieser Umbruchszeit. In den Städten der Pfalz entstanden im Laufe des Frühjahrs 1848 „Volksvereine“, die der pfälzischen Freiheitsbewegung eine wirkungsvolle und breite Plattform gaben. Ziele waren die demokratisch parlamentarische Mitwirkung in München, die Garantie von Freiheiten wie Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit, die Volksbewaffnung und eine demokratische Reichverfassung für Deutschland. Unter den pfälzischen Volksvereinen waren die Gruppierungen in Neustadt und Kaiserslautern tonangebend. So veranstalteten sie im März und April 1848 weit in die pfälzische Region hineinwirkende Großversammlungen.34 Auch in Zweibrücken war ein Volksverein zustande gekommen, der wöchentliche Zusammenkünfte und größere allgemeine Versammlungen abhielt. Die Zweibrücker Bevölkerung wurde zusehends auf diese Weise mobilisiert, wobei ein Großteil mit der liberalen Bewegung sympathisierte. Es entstand in der Stadt eine allgemeine politische Umbruchsstimmung, die auch den Schüler Heinrich Hilgard
32 Fenske, Speyer (wie Anm. 4), 152. 33 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 61. 34 Karsten Ruppert, Die politischen Vereine der Pfalz in der Revolution 1848/49, in: Hans Fenske u. a. (Hrsg.), Die Pfalz und die Revolution 1848/49. Kaiserslautern 2000, Band I, 57– 242, hier 69.
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erfasste. Er hätte nur zu gerne an den Veranstaltungen des Volksvereins in Zweibrücken teilgenommen, doch der politisch konservative und staatstreue Vater gab ihm dazu keine Erlaubnis. Während Gustavs Brüder und die Mehrzahl der weiteren Verwandten der Engelmann-Hilgard-Familien von den Ideen der liberalen und demokratischen Umgestaltung Deutschlands eingenommen waren, hielt Heinrichs Vater Gustav die Gesellschaft dafür nicht reif genug. Er befürchtete das Eintreten einer unkalkulierbaren ordnungszerstörenden Entwicklung. Als einer der wenigen Zweibrücker Beamten lehnte er die Teilnahme an jeglichen politischen Aktivitäten wie zum Beispiel auch an der neu gegründeten Bürgerwehr strikt ab. Sein von der Freiheitsbewegung erfasster Sohn urteilt: „So kam er nach und nach in den Ruf eines Reaktionärs“.35 Die Tatsache, dass der von dem Gymnasiasten Heinrich verehrte Lehrer, Prof. F. Butters, öffentlich die liberalen Bestrebungen in der Pfalz unterstützte, war vermutlich nicht ohne Wirkung auf Heinrichs politische Haltung geblieben.36 Heinrich folgte in Abgrenzung zu seinem Vater den liberalen Anschauungen der großen Mehrheit der Hilgardfamilie, was die hauptsächlich wegen des mangelnden schulischen Erfolgs bestehende Distanz zwischen Vater und Sohn weiter verstärkte. Die Differenzen auf dem politischen Feld weisen darauf hin, dass beide in Bereichen der Lebensauffassung, der Interessen und Wertvorstellungen zu unterschiedlich waren, um ein harmonisches Verhältnis aufzubauen und zu erhalten.37 Zu dieser Zeit war allerdings ihr Verhältnis noch nicht grundlegend gestört: Der junge Heinrich freute sich, wenn sein Vater ihn zu seinen langen Sonntagsmärschen zu Ausflugszielen in der Umgebung von Zweibrücken mitnahm. So blieb zumindest Heinrichs Vorliebe für lange Fußmärsche eine der wenigen Gemeinsamkeiten mit seinem Vater. Heinrich verfolgte im Laufe des Frühjahrs und Sommers 1848 fasziniert anhand des „Zweibrücker Wochenblatts“ die politischen Geschehnisse. Er hat dabei vermutlich von Friedrich Heckers Aufsehen erregender militärischer Auflehnung im Großherzogtum Baden und der Ausrufung der Republik Baden in Konstanz (12. April 1848) gelesen. Es ist anzunehmen, dass er wie die Mehrheit der liberalen Kräfte in der Pfalz zu dieser Zeit keine radikalen Lösungen gutheißen konnte und eher eine behutsame freiheitliche Entwicklung wünschte. Nach der feierlichen Eröffnung der gewählten Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt (18. Mai 1848) – drei Tage nach seinem 13. Geburtstag – verfolgte er anhand der Zeitungslektüre die Debatten des Parlaments über demokratische Grundrechte und die Gestaltung einer neuen Reichsverfassung mit großem Interesse. Im Laufe des Jahres formte sich in ihm ein besonderer Wunsch, der ihm nach langen Bitten von seinen Eltern erfüllt werden sollte. Im Herbst 1848 durfte er für eine Woche nach
35 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 63. 36 F. Butters, Einige Worte zum Andenken an Professor Dr. Eduard Vogel, Vorwort in: Jahresbericht über das Königliche Gymnasium und die lateinische Schule Zweibrücken in der Pfalz 1848/49; F. Butters, der hier den liberalen Kämpfer Vogel feiert, war selbst der Bürgerwehr beigetreten. 37 Villard de Borchgrave/Cullen, Villard (wie Anm. 1), 8.
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Frankfurt reisen, um als Zuhörer den Parlamentssitzungen in der Paulskirche beizuwohnen zu können. Er wurde dort von seinem Freund und jungen Onkel Robert Hilgard betreut, der zu dieser Zeit in Frankfurt eine kaufmännische Lehre absolvierte. Heinrich war während seines Frankfurter Besuchs mehrmals in der Paulskirche und verfolgte gebannt die Parlamentssitzungen. Um sich in seiner demokratischen Gesinnung erkennen zu geben, kaufte er sich vor seiner Rückkehr nach Zweibrücken in Frankfurt einen „Heckerhut“, der zum Symbol der demokratischen Bewegung geworden war, auch wenn Hecker nach seiner Niederlage im September schon in die Schweiz geflüchtet war. Behütet von einem „Heckerhut“ und das schlimmste von seinem Vater fürchtend kam er in Zweibrücken in seinem Elternhaus an. Dieser reagierte ungerührt und bemerkte nur lakonisch, dass er nichts dagegen hätte, „wenn ich ein Narr wie so viele sein wolle“.38 Die Gelassenheit des Vaters mag auch daher rühren, dass Hecker zu diesem Zeitpunkt als Emigrant auf dem Weg in die USA war und das Momentum des politischen Umbruchs sich deutlich abschwächte. Als Heinrich jedoch die jugendliche Unverfrorenheit hatte, demonstrativ mit dem „Heckerhut“ in der Schule zu erscheinen, schritt der Leiter des Zweibrücker Gymnasiums wenig amüsiert ein. Ohne Umschweife stellte er ihn vor die Alternative: Verzicht auf den Hut oder Verweis von der Schule.39
2. Die Pfälzische Revolution von 1849 Erst im März 1849 wurde in der Paulskirche die neue – „kleindeutsche“ – Reichverfassung verabschiedet. Inzwischen war das Machtpendel schon auf dem Rückschwung zu den alten monarchischen Kräften. Am 4. April 1849 lehnte Friedrich Wilhelm von Preußen die ihm angebotene Kaiserkrone ab und der bayerische König Maximilian und seine Regierung verweigerten am 28. April 1849 der Reichsverfassung ihre Zustimmung. Der bayerische Landtag, der sie angenommen hatte, wurde aufgelöst.40 Während es in allen anderen Kreisen Bayerns daraufhin ruhig blieb, kam es in der Pfalz aus Entrüstung über die undemokratische königliche Blockadepolitik zu einem Aufstand, zu der sogenannten Pfälzischen Revolution. Carl Schurz bringt es auf den Punkt: „Es verstand sich bei den Pfälzern von selbst, dass, wenn der bayrische König nicht deutsch sein wollte, die Pfalz aufhören müsse, bayerisch zu sein“.41 Aus Sicht der pfälzischen Verfechter der demokratischen Reichsverfassung hatte sich der König mit seinem Rückzug von einmal gemachten Zustimmungen sowie mit der Landtagsauflösung widerrechtlich außerhalb der Verfassung gestellt, während sie selbst sich auf dem legalen Boden der Reichsver-
38 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 67. 39 Ebd. 40 Hans Fenske, Deutschland 1848/49. Ereignisse und Probleme, in: Fenske u. a., Pfalz (wie Anm. 34), 9–56, hier 38f. 41 Carl Schurz, Lebenserinnerungen. Offenbach/Frankfurt am Main 1952, 138.
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fassung stehen sahen und daher die bayerische Monarchie nicht mehr anerkennen konnten. In Kaiserslautern fanden ab Ende April von großen Massen besuchte Volksversammlungen statt. Im Rahmen einer von 12 000 Menschen besuchten Versammlung wurde am 2. Mai ein zehnköpfiger „Landesverteidigungsausschuss“ als Exekutivorgan der Erhebung gegründet. Aus diesem Ausschuss ging dann am 17. Mai 1849 die sechs Mitglieder umfassende „Provisorische Regierung der Pfalz“ mit Sitz in der Fruchthalle Kaiserslautern hervor. An der Spitze der Provisorischen Regierung stand der Speyerer Notar Martin Josef Reichard.42 Heinrichs On-kel und Idol, Friedrich Hilgard (geboren 1810), hatte sich nach langem Bitten bereit erklärt, als Zivilkommissär für den Kanton Speyer der Provisorischen Regierung zur Verfügung zu stehen. Er war wie die weiteren elf Kommissäre der Pfalz für die Durchführung der revolutionären Maßnahmen der Provisorischen Regierung, wie Beschlagnahmung der öffentlichen Kassen, Vereidigung der Beamten, Aufbau eines Heeres, verantwortlich. Der nun 14-jährige Heinrich Hilgard fühlte sich vermutlich nicht nur durch die Haltung seines Onkels in diesen Wochen ermuntert, sich dem revolutionären Drang der pfälzischen Freiheitsbewegung anzuschließen. Wie viele der Schüler des Gymnasiums sah auch Heinrich sich nicht mehr als Untertan des bayerischen Königs, sondern als Bürger einer auf dem Boden der neuen Reichsverfassung stehenden pfälzischen Republik. Zusammen mit seinen Klassenkameraden der untersten Gymnasialklasse inszenierte er einen Akt der revolutionären Auflehnung. Wie ernsthaft dies war und wieviel eines Schülerstreichs darin steckte, ist in dem Geschehen schwer auszumachen. Als eines Tages im Religionsunterricht der Schüler Heinrich Hilgard an der Reihe war, das übliche Anfangsgebet zu sprechen, sparte er die obligatorische Fürbitte für den bayerischen König und die königliche Familie aus. Selbst auf Anordnung des staats- und monarchietreuen Stadtpfarrers Dr. Krieger weigerte sich Heinrich hartnäckig, diese aufzusagen. In seinen Jugenderinnerungen begründet Heinrich Hilgard-Villard durchaus politisch: „Nach der Errichtung der Provisorischen Regierung der Pfalz dünkte es uns, dass diese Fürbitte nicht mehr am Platze war, sondern dies eine förmliche Auflehnung gegen die bestehende [neue] Gewalt sei“.43
Es war offensichtlich nicht als Jux gedacht und entsprechend war die Reaktion. Der in Zweibrücken sehr geschätzte Stadtpfarrer sah in der Weigerung seines Schülers und in der Unterstützung durch seine Klassenkameraden eine erstzunehmende Revolte: „Dies ist ja offene Rebellion und Verhöhnung der Religion, des Königs Majestät und meiner selbst. Euch erteile ich keinen Unterricht mehr!“44
42 Jürgen Keddigkeit, Der Landesverteidigungsausschuss und die Provisorische Regierung der Pfalz im Frühjahr 1849, in: Fenske u. a., Pfalz (wie Anm. 34), 3–62, hier 15f. 43 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 69f. 44 Ebd.
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In Zweibrücken wurden die Gerichte geschlossen und „im Namen des Königs“ für vier Wochen vertagt.45 Heinrich Hilgards Vater, der seit 1847 Präsident des Bezirksgerichts Zweibrücken war, verließ Ende Mai die Stadt, indem er einen vorgezogenen Urlaub nahm und dort auf das nach seiner Ansicht baldige Ende der spukartigen Dinge wartete. Seine Familie ließ er in Zweibrücken zurück. Die Destabilisierung der bayerischen Herrschaft und Verwaltung und der Versuch des Aufbaus republikanischer Strukturen in der Pfalz war für Heinrich eine spannende Zeit. In der Abwesenheit des Vaters nahm er sich die Freiheit, um an den in Zweibrücken stattfindenden Volksversammlungen teilzunehmen. Sie hatten großen Zulauf, vor allem, wenn begeisternde auswärtige Redner angesagt waren. Der für Heinrich Hilgard faszinierendste Redner war der Theologe, Schriftsteller und Freiheitskämpfer Gottfried Kinkel (ein Freund und Förderer von Carl Schurz), der seine Professorenstelle in Bonn aufgegeben hatte und sich in den Dienst der pfälzischen Revolution stellte. Selbst in den rückschauenden Erinnerungen schwingt Heinrich Hilgards Begeisterung der Tage mit: „Wie er erschien, eine hohe, kräftige Gestalt, mit schwarzem langen Haupthaar und Vollbart, feinen Zügen, einer mächtigen, wohllautenden Stimme und außerordentlicher Redegewandtheit, mit schwarzem, breitkrämpigem Filzhut mit wallenden Federn, blauer Bluse, roter Halsbinde und Schleppsäbel, war er das vollendete Bild eines Mannes der Revolution und Volksführers. Wie ein Prophet riss er alles durch seine Beredsamkeit hin. Ich war von ihm wie bezaubert und widerstand kaum der Versuchung, alles im Stich zu lassen und ihm als gläubiger Jünger zu folgen“.46
Wie der 14-jährige Gymnasiast Heinrich Hilgard sind viele Zweibrücker der rhetorischen Begabung und dem Charisma des eher radikal republikanischen Vertreters der Revolutionsbewegung verfallen. In der Anklageschrift gegen die Revolutionäre von 1850 heißt es, dass nach der von Gottfried Kinkel in Zweibrücken abgehaltenen Volksversammlung vom 4. Juni 1849 die Macht der bayerischen Staatsgewalt gänzlich zusammengebrochen und „nun eine Menge das Wort führte, die von Ordnung und Gesetz nichts mehr wissen wollte“.47 Heinrich Hilgard schildert, wie Anfang Juni 1849 in Zweibrücken ein Machtvakuum herrschte und das öffentliche Leben zum Erliegen kam: „Binnen kurzem bestand kein Gericht und keine höhere Verwaltungsbehörde mehr [...] Dem Beispiele vom stillen Verschwinden unseres Rektors folgten bald einige Lehrer. Infolge aller dieser Umstände kam im Juni die Anstalt überhaupt zum Stillstand. Der Unterricht hörte einfach wegen Mangels an Lehrern und Schülern auf“.48
45 Otto Fleischmann, Geschichte des pfälzischen Aufstandes im Jahr 1849. Nach den zugänglichen Quellen geschildert. Kaiserslautern 1899, 200. 46 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 71. 47 Pirmin Spieß/Karl Richard Weintz, Der bayerische Hochverratsprozess 1850/51 in Zweibrücken gegen 334 Revolutionäre in der Pfalz im Frühjahr 1849. Neustadt 2006, 118. 48 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 69.
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Im „Wochenblatt für Zweibrücken“ hat Rektor Teller am 1. Juni 1849 den Schulbesuch trotz der „außerordentlichen Ereignisse“ eingefordert. Der Aufruf zeigte keine Wirkung. Ebenfalls wurde in den ersten Junitagen in der Pfalz und so auch in Zweibrücken bekannt, dass preußische Truppen der sogenannten Interventionsarmee unter Führung von Kronprinz Wilhelm (dem späteren Kaiser Wilhelm I.) sich in dem damals preußischen Bad Kreuznach für eine Invasion der Pfalz vorbereiteten.49 Die bayerische Armee war zwar ebenfalls im Anmarsch, befand sich aber in diesen Tagen noch weit weg in Franken. Daher hatte am 1. Juni die bayerische Regierung Preußen gebeten, sich an der Niederwerfung des Aufstandes zu beteiligen.50 Die gut vorbereiteten Preußen begannen unverzüglich mit ihrem Operationsplan, ohne sich im Detail mit Bayern abzustimmen. Die preußischen Truppen marschierten ohne weiteren Widerstand durch Gebiete der Nordpfalz, bis sie bei Kirchheimbolanden auf ein unter der Leitung von Ludwig Bamberger stehendes rheinhessisches Hilfskontingent stießen. Am 14. Juni kam es nördlich des heutigen Schlossparks zu einem harten Gefecht. Um unnötige Verluste gegen die übermächtigen Preußen zu vermeiden, wurde ein Rückzug eingeleitet. Eine an der nordöstlichen Seite der Parkmauer positionierte Nachhut, welche die Entscheidung zum Rückzug nicht mitbekommen hatte, wurde von den Preußen angegriffen, gefangengenommen und erschossen. 17 rheinhessische Freischärler verloren ihr Leben.51 Wenige Tage später erreichte Zweibrücken das Gerücht, dass eine preußische Division von Homburg aus auf Zweibrücken zumarschiere. Der Stadtkommandant (in Zweibrücken) war zwar ohne jede Weisung der provisorischen Regierung, beschloss aber auf eigene Faust eine Rekognoszierung in Richtung Homburg durchzuführen. Er befahl den älteren wehrdienstfähigen Gymnasiasten, sich der Rekognoszierungstruppe anzuschließen. Viele minderjährige Schüler wollten jedoch auch an dem Marsch nach Homburg teilnehmen, sie wurden jedoch zurückgewiesen. Heinrich Hilgard und seine Kameraden, die vermutlich noch nicht von dem Gemetzel in Kirchheimbolanden gehört hatten, brannten aber so von Begierde, etwas vom wirklichen Krieg zu sehen, dass sie der Kolonne auf Fußwegen voraneilten, um sie eine Stunde des Wegs vor der Stadt zu erwarten. Es stellte sich heraus, dass die Preußen Homburg nach kurzem Geplänkel schon eingenommen hatten und in Richtung Kaiserslautern weitermarschierten.52 Der Krieg war an Zweibrücken und dem enttäuschten Heinrich vorbeigezogen. Henry Villard sollte gut ein Dutzend Jahre später während des Amerikanischen Bürgerkriegs als
49 Erich Marcks, Wilhelm I., in: ADB 42, 1897, 558; Fleischmann, Geschichte (wie Anm. 45), 276–279. 50 Keddigkeit, Landesverteidigungsausschuss (wie Anm. 42), 57. 51 Ebd., 58f.; Fleischmann, Geschichte (wie Anm. 45), 284–302. 52 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 72–75; Fleischmann, Geschichte (wie Anm. 45), 302f.
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Kriegsberichterstatter im Feld so viele furchtbare Kampfhandlungen sehen, dass er gründlich seine Faszination am Krieg verlor. Die Provisorische Regierung hatte angesichts der anrückenden preußischen Truppen Kaiserslautern verlassen und war für kurze Zeit in einem Gasthof in Frankweiler untergekommen, um sich dann nach den Gefechten um Rinnthal nach Baden abzusetzen.53 Am 17. Juni traf das schlecht ausgerüstete Volksheer unter August Willich im Annweiler Tal bei Rinnthal auf die weit überlegenen Preußen und musste sich nach heftigen Kämpfen mit einigen Verlusten in die Rheinebene zurückziehen. Dies war das Ende der Kämpfe in der Pfalz. Die pfälzischen und badischen Revolutionstruppen sammelten sich nochmals in Nordbaden. Es kam zu einem dreitägigen Gefecht bei Waghäusel (19.–22. Juni), das mit der Niederlage der Revolutionstruppen endete und zugleich das Ende der Pfälzischen Revolution markierte.54 Der Speyerer Zivilkommissär Friedrich Hilgard, der noch Anfang Juni mit den Truppen von Oberst Blenker an Kämpfen bei Worms und Landau teilgenommenen hatte, setzte sich angesichts des siegreichen Vormarschs der Preußen ins französische Nordelsass ab. Eine Rückkehr in seine Heimatstadt Speyer war undenkbar, denn schon am 16. Juni war um 12.00 Uhr ein Bataillon des preußischen Heeres mit „klingendem Spiele“ in der Kreishauptstadt Speyer eingezogen, „wobei die Bürgerwehr das Gewehr präsentierte“.55 Die pfälzische Revolution war gescheitert und Friedrich Hilgard und alle führenden Freiheitskämpfer wussten, dass sie nach der Wiederherstellung der bayerischen Herrschaft als Hochverräter verfolgt werden würden.
3. Die Bestrafung der Rebellen Nach dem Zusammenbruch der revolutionären Herrschaft normalisierte sich das öffentliche Leben der Pfalz nur sehr allmählich. Zunächst zogen starke bayerische Truppeneinheiten unter der Führung des Generalleutnants Fürst Thurn und Taxis in der Pfalz ein, um der Wiedererrichtung der bayerischen Herrschaft den Weg zu ebnen. Nach und nach nahmen die Beamten, Richter und Lehrer den Dienst in Obrigkeit und Verwaltung wieder auf. Dazu gehörte auch Gustav Hilgard, der nach seiner vier- bis fünfwöchigen Abwesenheit die Position als Präsident des Bezirksgerichts Zweibrücken wieder einnahm. Auch die Lehrer des Gymnasiums in Zweibrücken nahmen ihren Dienst wieder auf. Die Schüler wurden trotz der knappen Zeitspanne bis zu den Sommerferien aufgefordert, sofort wieder in der Schule zu erscheinen. So setzte auch Stadtpfarrer Dr. Krieger seinen Religionsunterricht in Heinrichs Klasse fort. Allerdings war die friedfertige Vergebung nicht
53 Friedrich Engels, Die deutsche Reichsverfassungskampagne, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 7. Berlin 1960, 133–197, hier 168f. 54 Fenske, Speyer (wie Anm. 4), 191f. 55 Zweibrücker Wochenblatt 24.06.1849.
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Dr. Kriegers Stärke. Obwohl der pfälzische Aufstand längst beendet worden war setzte er als Lehrer den Kampf gegen den einstigen Rebellen Heinrich fort. Er begann seine erste Unterrichtstunde nach der Zwangspause mit der Verkündung, dass er dem Schüler Heinrich Hilgard in Ausübung seines Vetorechts die Versetzung in die nächste Klasse wegen Rebellion und Rädelsführerschaft verweigern würde. Darüber hinaus teilte er dem Jungen mit, dass er sich bei dem Schulleiter für dessen Verweis vom Gymnasium einsetzen würde. Diese Strafandrohung für sein schulisches Aufbegehren gegen die Monarchie muss den Schüler in ihrer Rigorosität überrascht haben. Vor allem musste er nun seine Missetat dem gerade zurückgekehrten Vater offenbaren. Vater Gustav war hochgradig erzürnt und fest entschlossen, dem Schulverweis beziehungsweise der Nichtversetzung seines Sohnes zuvorzukommen und ihn als väterliche Strafe von der Schule zu nehmen und ihn direkt in eine Lehre zu geben. Dies hat Heinrich in seinem prätentiösen Selbstverständnis wegen der damit verbunden sozialen Degradierung tief getroffen. Er hat es den inständigen Bitten seiner Mutter zu verdanken, dass eine versöhnliche Lösung gefunden wurde. Heinrich wurde zur Konsolidierung seiner schulischen Leistungen und seiner menschlichen Reifung für ein Jahr an das kirchliche Collège in das französische Phalsbourg geschickt. Nur wenn er sich dort bewähren würde, könnte ein Wiedereintritt ins Gymnasium und zwar in Speyer ins Auge gefasst werden. Heinrich war darüber einerseits erleichtert, aber sein Weg zum Abitur war andererseits von dem gestrengen Urteil seines Vaters abhängig, was ihr gegenseitiges Verhältnis nicht gerade entspannt hat. Auf die Träger und Aktivisten, aber auch auf die Mitläufer des pfälzischen Aufstands kam eine umfassende Säuberungs- und Bestrafungswelle zu. Viele Juristen, Lehrer, Verwaltungsmitarbeiter und Redakteure verloren ihre angestammten Stellen. Die Maschinerie der staatlichen Strafverfolgung setzte mit größter aber auch langwieriger Gründlichkeit in der gesamten Pfalz ein. Sie bestimmte nahezu drei Jahre die kontroverse Diskussion in der Öffentlichkeit. Fast alle führenden Köpfe der Erhebung waren allerdings schon in den letzten Tagen des Zusammenbruchs der Revolution nach Frankreich oder in die Schweiz geflohen und hatten sich so der Verfolgung entzogen. Heinrichs Onkel Friedrich hielt sich vom Frühsommer 1849 an für einige Zeit jenseits der deutsch-französischen Grenze in Weißenburg auf, wo er vergleichsweise freie Kontaktmöglichkeiten mit Familie und Freunden hatte. Eine Rückkehr des unverheirateten Regierungsrevisors nach Speyer war aus seiner Sicht fürs erste ausgeschlossen. Seine Erfahrungen als Verfolgter nach dem Hambacher Fest ließen ihn möglichweise hoffen, dass mit der Zeit Gras über diese Episode wachsen würde. Sein junger Neffe Heinrich, der im Sommer 1849 seinen Austritt aus der Schule und seine bevorstehende „Verbannung“ nach Phalsbourg in Lothringen verarbeiten musste, konnte sich gewiss in die nicht unähnliche Situation seines Onkels einfühlen. Gegen Ende der Ferienzeit, in der er sich auf das Leben in dem französischen Internat vorbereitete, verbrachte er einige Tage auf dem Gut seines Onkels Otto in St. Johann. Mit dessen Erlaubnis unternahm Heinrich einen 30 Kilometer langen Fußmarsch von St. Johann (Albersweiler) nach Weißenburg (Frankreich), um dort seinen asylsuchenden Onkel Friedrich zu besuchen. Er traf
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ihn in einem Gasthaus, wo sich eine gesellige Runde von politischen Flüchtlingen versammelt hatte. Friedrich Hilgard, der seinen Humor nicht verloren hatte, stellte seinen 14-jährigen Neffen Heinrich vor und feierte unter großem Hallo den Schüleraufstand seines Neffen gegen Dr. Krieger.56 Im folgenden Jahr wurden in der Pfingstzeit (1850) alle politischen Flüchtlinge des Elsass auf Anordnung der französischen Regierung in Straßburg zusammengeführt. Vom französischen Internat Phalsbourg aus besuchte der nun 15-jährige Heinrich mit Zustimmung seines Vaters wiederum seinen Onkel Friedrich auch hier in Straßburg. Es scheint, dass neben dem Wunsch Heinrichs, seinen Onkel wiedersehen zu können, er auch im Auftrag seines Vaters den Kontakt der Familie Hilgard mit dem Exilanten Friedrich aufrechterhalten sollte. Dieser Vorgang drückt auch ein neues Vertrauen von Vater Gustav in die Verlässlichkeit des im französischen Internat reifer gewordenen Sohnes aus.57 Als Heinrich in den Osterferien 1850 zum ersten Mal wieder zuhause in Zweibrücken war, hat der Vater als erstes das Französisch des Sohnes geprüft. Er war „davon sehr befriedigt“.58 Nach den erfolgreichen Jahresabschlussprüfungen im Collège Anfang August erhielt Heinrich von seinem Vater erneut einen Auftrag zur Kontaktaufnahme mit seinem Onkel. Friedrich Hilgard war im Sommer 1850, als sich in der Pfalz die Durchführung eines Prozesses gegen die führenden „Freiheitskämpfer“ als Hochverräter abzeichnete, als Asylsuchender in die Schweiz nach Zürich gelangt, wo er zunächst mit vielen anderen Flüchtlingen im Wohnkomplex „Lindenhof“ unterkam.59 Im August reiste Heinrich Hilgard direkt von Phalsbourg aus alleine in die Schweiz, allerdings nicht direkt nach Zürich, sondern zunächst in den schweizerischen Erholungsort Baden, wo es sich vermutlich nicht zufällig gefügt hatte, dass hier in der Nähe von Zürich Heinrichs Mutter und deren Schwester „Nannchen“ sich einem längeren Kuraufenthalt unterzogen. Die drei Kurgäste wurden während dieser Zeit gleich zweimal von Friedrich Hilgard besucht und sie machten dafür nach Beendigung der Kur einen Gegenbesuch in Zürich. Die drei Treffen in kurzer Zeit deuten auf familiäre Besorgtheit und Beschäftigung mit der unsicheren Zukunft des politischen Flüchtlings. Doch der Leser der Autobiographie des Heinrich Hilgard-Villard wird hier mit einer irritierenden Leerstelle konfrontiert. Einmal geht er so gut wie nicht auf den Inhalt der Gespräche sowie die Meinungen und Gefühle der Gesprächspartner und des Familienoberhaupts Gustav Hilgard ein. Zum anderen erwähnt der Autobiograph mit keinem Wort die öffentliche Strafverfolgung der „Hochverräter“, die detaillierte Anklage in der „Anklageschrift“ gegen Friedrich Hilgard. Der leitende Staatsanwalt
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Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 76. Ebd., 96. Ebd. Roland Paul, Pfälzische politische Flüchtlinge 1849 in der Schweiz – zwischen Rückkehr und Übersee-Emigration, in: Fenske u. a. (Hrsg.), Die Pfalz und die Revolution 1848/49, Band II. Kaiserslautern 2000, 263–288, hier 269f. und 283f.; Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 99f.
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der Pfalz („General-Staatsprokurator“), Ludwig Schmitt, – sozusagen ein Kollege des Bezirksgerichtspräsidenten Gustav Hilgard – hat nach einjähriger Arbeit im Frühsommer 1850 die Anklageschrift gegen 333 „Hochverräter“ der Pfalz fertiggestellt. Nach der Drucklegung ließ er ihre widerrechtlich frühe Veröffentlichung zu, was in Sommer und Herbst 1850 in der Pfalz zu aufbrausenden Reaktionen führte. Ehemals als Ehrenmänner angesehene Persönlichkeiten (wie beispielsweise Friedrich Hilgard, Martin Josef Reichard oder auch Gottfried Kinkel) waren öffentlich an den Pranger gestellt worden und zwar Monate, bevor an einen Prozessbeginn zu denken war. G.F. Kolb in seiner „Neuen Speierer Zeitung“ kämpfte für die Auffassung, dass man einer politischen Volksbewegung aus der Mitte der Gesellschaft heraus nicht mit rein strafrechtlichen Mitteln begegnen könne. Er forderte eine königliche Amnestie.60 Im Sommer und Frühherbst 1850 befand sich zudem ein namhaftes Mitglied der Hilgardfamilie61 zu Besuch in der Schweiz und zeitweise auch in Zürich. Es war der herausragende Jurist und erfolgreiche amerikanische Einwanderer Theodor Erasmus Hilgard, der in den USA (in Belleville) den freien republikanischen Geist für sich und seine große Familie suchte und fand. Man hatte ihm, dem vorzüglichen Juristen, sogar angetragen, die Verteidigung der Angeklagten zu übernehmen, was er allerdings ablehnte. Sein Aufenthalt in Zürich bestand in einem längeren Besuch bei seinem Sohn Eugen Waldemar, der hier an der Universität ein Studium aufgenommen hatte. Es wäre sehr verwunderlich, wenn er sich bei dieser Gelegenheit nicht mit den sich ebenfalls dort aufhaltenden Friedrich, Heinrich und Lisette Hilgard getroffen hätte.62 Warum werden in der Autobiographie diese Geschehnisse ausgeblendet, obwohl sie die Hilgards direkt betrafen? Dies kann mit den Geschehnissen des Jahres 1851 erhellt werden. Der Prozess gegen die Revolutionäre fand an dem obersten Gericht („Appellationsgericht“) in Zweibrücken statt. Er begann im Januar 1851 und währte ein Jahr. Der ungeheure Arbeitsanfall machte es zwingend, dass Heinrichs Vater, der zu der Zeit Präsident des Bezirksgerichts war, zusätzlich in den eingesetzten Kammern als Richter tätig wurde. Es scheint, dass der belastbare Jurist dies aus kollegialen Gründen aber auch im Hinblick auf seine weitere Karriere getan hat.63 So geschah es, dass Gustav Hilgard über ein Jahr hinweg in einer Reihe von Sitzungsperioden als beisitzender Richter fungierte und so Urteile über viele der angeklagten „Hochverräter“ mitverantwortete. Das gilt beispielsweise
60 Zweibrücker Wochenblatt 25.06.1850; Neue Speierer Zeitung 18.05.1850; selbst die offiziellen „Anklag-Akte“ konzedieren, dass Friedrich Hilgard in bestimmten Situationen ehrenhaft gehandelt habe, beschuldigen ihn aber wegen verschiedener Maßnahmen dennoch des Hochverrats: Spieß/Weintz, Hochverratsprozess (wie Anm. 47), 173–175. 61 Theodor Erasmus Hilgard, der Bruder des Speyerer Bürgermeisters (Georg Friedich Hilgard) ist der Onkel der Brüder Gustav und Friedrich Hilgard und somit Heinrichs Großonkel. 62 Karl Erhard Schuhmacher, Familiengeschichten: Friedrich Hilgard, sein Vetter Eugen Waldemar, sein Neffe Heinrich und das Ende der Pfälzischen Revolution von 1849, in: Pfälzer Heimat 2, 2014, 79–83, hier 82. 63 Joachim Kermann, Der Massenprozeß gegen die Teilnehmer an der Pfälzischen Revolution von 1849 im Jahre 1851, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 28, 2002, 415–498.
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auch hinsichtlich seines früheren Schulfreunds Martin Josef Reichard aus Speyer, der wie fast alle flüchtigen Revolutionsführer in Abwesenheit („in contumatio“) zum Tode verurteilt wurde. Das gleiche gilt für Heinrichs einstiges Idol Gottfried Kinkel. Bei der Verhandlung über seinen Bruder Friedrich Hilgard, bei der ebenfalls die Todesstrafe in Abwesenheit ausgesprochen wurde, saß Gustav Hilgard verständlicherweise nicht in der betreffenden Kammer. Es ist offensichtlich, dass Heinrich Hilgard-Villard das dunkle Kapitel seiner Familie dadurch übergeht, indem er mit keinem Wort auf die Anklageschrift und die Verfolgung der „Hochverräter“ eingeht, um die Beteiligung der Brüder Gustav und Friedrich und den Riss in der großen Hilgardfamilie zu verschweigen. Der pfälzische Historiker Kurt Baumann schreibt 1965: „Dass Appellationsgerichtsrat Gustav Hilgard [...] in dem Prozess eine aktive Rolle spielte, hat man ihm, zumal der eigene Bruder unter den Angeklagten war, in seiner erzliberalen Familie sehr verübelt“.64
Sein Vater und ehemals streitbarer liberale Bürgermeister von Speyer, Georg Friedrich Hilgard (1784–1859), kann das Verhalten seines ältesten Sohnes nicht gut geheißen haben. Das gilt sicher auch für den jungen Heinrich Hilgard, der ein besonderes Verhältnis zu seinem Onkel Friedrich hatte: „Die wachsende Abneigung und Verstimmung zwischen den beiden hatte festsitzende Ursachen. Vater und Sohn waren zu unterschiedlich in Dingen, die harmonische Beziehungen herbeiführen können, nämlich in Wertvorstellungen und Interessen, und sie waren zu ähnlich in Charakterzügen, die Harmonie verhindern, nämlich Halsstarrigkeit und Intoleranz. [...] Die Geschehnisse [der Revolution von 1848/49] bündelten die politischen Überzeugungen des frühreifen Heinrich und gaben ein weites, klar umrissenes Feld ab, wo er und sein Vater nie zusammenkommen würden“.65
Von daher ist es schon befremdlich, dass Heinrich Hilgard-Villard sich in der Rückschau seiner Memoiren die autobiographische Freiheit nimmt, diese Leerstelle von 1851/52 mit Berichten über eine neu eingekehrte Harmonie im Elternhaus und sorglose Sommerferien in Zweibrücken zu überdecken. Als besonderes Ferienerlebnis für den nun 16-jährigen Gymnasiasten hebt der autobiographische Verfasser in prätentiösem Stolz seinen elitären Reitkurs im Zweibrücker Landesgestüt hervor: „Unsere Klasse bestand aus Rechtskandidaten, Universitätsstudenten und Gymnasiasten“.66
64 Kurt Baumann, Das pfälzische Apellationsgericht in der Zeit 1815–1871, in: Wilhelm Reinheimer (Hrsg.), Festschrift zum 150-jährigen Bestehen des Pfälzischen Oberlandesgerichts. Zweibrücken 1965, 47. 65 Villard de Borchgrave/Cullen, Villard (wie Anm. 1), 8, 10 (Übersetzung des Verfassers). 66 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 109.
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IV. HEINRICH HILGARD ALS ABITURIENT Heinrich Hilgard war nach seinem Internatsjahr in Phalsbourg im Herbst 1850 für zwei Jahre bei seiner Großmutter und seiner Tante am Königsplatz eingezogen, um die beiden letzten Klassen des Gymnasiums in Speyer zu absolvieren. Der Unterricht bereitete dem nun reiferen Schüler kaum noch Schwierigkeiten und der Leistungsanstieg schlug sich deutlich in oberen Plätzen in den Rangfolgen der Schüler nieder. Beste Platzierungen erzielte er in den Fächern Französisch, Deutsch und Mathematik.67 Der Abiturient Hilgard hätte sich manchmal sogar eine noch stärkere Anregung durch erhöhte Anforderungen gewünscht. Dies gilt selbst für den Unterricht seines berühmten Mathematik- und Physiklehrers, Prof. Friedrich Magnus Schwerdt. Er billigt ihm Genie zu, aber stört sich an dessen „bizarren Manieren“ und an seiner „außerordentliche[n] Zerstreutheit“.68 Mit dieser Schülerkritik steht Heinrich Hilgard nicht alleine da. Der spätere Dichter Martin Greif, der ebenfalls in den fünfziger Jahren das Gymnasium Speyer besuchte, vermerkt in seinen Erinnerungen: „Oft versank dieser Krösus im Geist mitten in der Unterrichtsstunde im Nachdenken über die ihn erfüllenden Probleme“.69 Der Primaner entwickelte im Fach Deutsch aufgrund der mit Lehrerlob bedachten Aufsätze mit besonderem Engagement sein Schreibtalent. Zugleich wurde sein Interesse an der Literatur geweckt: Er vertiefte sich über den Schulkanon hinaus in Goethes Werke, in Schillers Essays und Dramen sowie in Heinrich Heines Lyrik. Der zeitgenössische und damals äußerst populäre Autor Karl Gutzkow fand die besondere Bewunderung des Primaners.70 Bei seinen Besuchen in Zweibrücken und Speyer im Jahr 1885 hat der gefeierte Finanzier und Eisenbahnpionier Henry Villard, der nach dem Abitur keine weitere Ausbildung mehr hatte, mehrfach die Bedeutung der von ihm genossenen Schulbildung für seine Karriere hervorgehoben. Außerhalb des Schullebens sind – wenn man Heinrichs Erinnerungen folgt – diese beiden Jahre in Speyer voll mit Geschichten von jugendlichem Übermut. So leistete sich der gute Reiter Heinrich den Jux, auf einem stadtbekannten Ackergaul einmal die Woche für zwei Stunden durch die Straßen der Stadt zu reiten, um der angebeteten Dame seines Herzens zu imponieren. Es nutzte nichts, denn die hübsche Schülerin (Elise Mühlberger) war zu jung, um mit ihm eine Freundschaft aufnehmen zu dürfen.71 Die Einführung in das gesellschaftliche Leben der Kleinstadt vollzog sich bei dem Besuch von Bällen und erforderte von ihm die Befolgung der bürgerlichen Konventionen bis hin zur „Anschaffung des unumgängli-
67 Jahresbericht über das Lyceum, Gymnasium und die Lateinische Schule zu Speyer in der Pfalz 1850/51, III. Klasse des Gymnasiums. 68 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 106f. 69 Zitat nach Fenske, Speyer (wie Anm. 4), 153. 70 Villard de Borchgrave/Cullen, Villard (wie Anm. 1), 17f. 71 Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 107f., 110.
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chen Frackes mit Zubehör“.72 Als die Abiturprüfung nahte, tat er sich als Pionier hervor: Er gebar die Idee eines glänzenden Abiturballes, um das Ende der Gymnasialzeit gebührend zu feiern. Ein Abiturball „erschien mir wie die Offenbarung einer göttlichen Idee, an die sich freilich sehr irdische Beweggründe knüpften. Es schmeichelte meiner Eitelkeit, als Leiter bei derselben die Aufmerksamkeit der ganzen Stadt auf mich zu lenken“.73
Der von den Schülern eigenständig organisierte ‚ABI-Ball‘, heute eine feste Institution bei den Abiturienten, hat damals für einiges Aufsehen in der Stadt ob der jugendlichen Anmaßung gesorgt. Er wurde von Heinrich Hilgard und seinen Freunden peinlich genau nach Regeln der bürgerlichen Stadtgesellschaft geplant und durchgeführt. Um dem Ball gar königlichen Glanz zu verleihen, bot sich der Abiturient Heinrich Hilgard an – seine antimonarchische Haltung von früher vergessend – den gerade (Sommer 1852) in der Villa Edenkoben weilenden (früheren König) Ludwig I. persönlich zu dem Ball einzuladen. Das ging seinen Mitstreitern dann doch etwas zu weit, es ist aber anzunehmen, dass dies ein Hilgard-Jux war. Aber auch ohne Hoheiten war der Ball ein großer Erfolg: „Jedenfalls stand unser Unternehmen einzig und allein in den Annalen des Gymnasiums da“.74 Der immer weiter nach oben schielende Heinrich hat sich schon in Speyer „dem Zauber“ des studentischen Verbindungswesens hingegeben und verbotener Weise Gelage der „Cheruskia“ besucht. Im Gegensatz zu dem einst scheuen und introvertiertem Speyerer Volksschüler war der Primaner und Abiturient ein geselliger, zu Juxen neigender, Führungsaufgaben übernehmender junger Mann geworden. „Der Spiegel der Erinnerung mag mich irreleiten, aber seit ich die Mannesreife erreicht und vom Höhepunkt des Lebens den Blick ruhig prüfend über meiner bewegten Vergangenheit weilen lasse, dünkt es mir mehr und mehr, dass die in Speyer verlebten Jahre 1851 und 1852 die glücklichsten waren, die ich je verbrachte“.75
Man möchte uneingeschränkt zustimmen, wäre da nicht im Hintergrund die Verdrängung der zeitlich parallel verlaufenden Strafverfolgung der liberalen Vorkämpfer.
V. DER BRUCH Die nach dem Abitur einsetzenden und gut ein Jahr dauernden Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn über Studium und studentische Lebensführung nahmen mehrere Wendungen. Trotz wiederholter Vereinbarungen über Studienfächer und Universitätsorte ging der Sohn seine eigenen Wege, ohne den Vater zu informieren. So brach Heinrich eigenmächtig das von Vater Gustav in die Wege
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Ebd., 111. Ebd., 117. Ebd., 118. Hilgard-Villard, Lebenserinnerungen (wie Anm. 1), 116.
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geleitete Studium am Polytechnikum in München ab und immatrikulierte sich heimlich an der Universität im Fach deutsche Literatur. Zudem schlitterte er in ein burschenschaftliches Studentenleben hinein, das ihn zeitlich und finanziell über die Maße forderte. Das vom Vater daraufhin erzwungene Jurastudium an der ‚ruhigen‘ Universität Würzburg nahm Heinrich nicht ernsthaft auf, sondern begann mit ‚privaten Studien‘ in Ästhetik und Literatur. Gleichzeitig verrannte er sich wiederum in beträchtliche Schulden. Sein verzweifelter, wirklichkeitsfremder Versuch, selbständiger Schriftsteller zu werden, misslang. Dabei legte er dem von ihm verehrten Dichter Karl Gutzkow eigene Arbeiten als Proben vor und erwartete dessen Unterstützung für eine literarische Karriere. Das Ganze wurde eine herbe Enttäuschung. Heinrich Hilgard wagte es angesichts dieser Alleingänge nicht mehr, unter die Augen seines Vaters zu treten. Er befürchte, dass dieser mit der Drohung, ihn zum Militär zu schicken, ernst machen würde. Um sich aus dieser Sackgasse zu befreien zu befreien, beschloss der 18-jährige Heinrich Hilgard im Sommer 1853, seine Schulden mit einem ‚Kredit‘ von den begüterten Verwandten Wolf in Wachenheim zu begleichen und nach „Amerika“ auszuwandern.76 Der in die Enge getriebene setzte dies alles um, ohne irgendeinem in seiner engeren Familie – auch nicht seiner geliebten Mutter – Nachricht zu geben. Es war ihm dabei nicht bewusst, wie sehr damit seiner Familie vor den Kopf gestoßen und sie verletzt hatte. Möglicherweise konnten sich seine Mutter und sein Vater entsetzt die Dinge zusammenreimen, als sie von dem Weingutsbesitzer Wolf von Heinrichs Bitte um Geld erfuhren. Sie hörten aber nichts von ihrem Sohn, bis ein Jahr später der ebenfalls in die USA gewanderte Freund und Onkel Robert ihn durch eine Zeitungsannonce ausfindig gemacht hatte. Heinrichs Auswanderung in die USA hatte nichts mit den Motiven der Auswanderung der großen Zahl von Verwandten aus den Familien Hilgard, Engelmann und Krafft nach dem Hambacher Fest zu tun. Während diese dort ein Leben in republikanisch-demokratischer Freiheit gestalten wollten, bot die USA ihm als Gescheitertem die Möglichkeit eines gänzlichen Neuanfangs. Er folgte damit einer spezifisch amerikanischen Vorstellung, dass es die riesige Größe des Landes erlaubte, nach einem Scheitern die Zelte abzubrechen und ‚weiter westlich‘ von vorne zu beginnen. Einer seiner späteren Förderer im journalistischen Geschäft war der Verleger des „New York Tribune“, Horace Greeley77, der diese Idee mit dem schon 1851 geprägten Slogan wirkungsvoll propagierte: „Go West, Young Man!“ Niemand hätte ahnen können, dass der 1853 eingewanderte junge Pfälzer und das schwarze Schaf der Familie, später im amerikanischen Westen und Nordwesten ein Eisenbahnimperium würde aufbauen können. Ein amerikanischer Traum.
76 Ebd., 146.; vgl. Anmerkung 26. 77 Villard de Borchgrave/Cullen, Villard (wie Anm. 1), 114f., 203f.; Coy F. Cross, Go West Young Man!: Horace Greeley’s Vision for America. Albuquerque 1995, passim.
FRIEDENSPÄDAGOGIK IM KAISERREICH Karlheinz Lipp
I. EINFÜHRUNG Die Rahmenbedingungen für die Entstehung und Entwicklung einer Friedensbewegung im Kaiserreich erwiesen sich als denkbar ungünstig.1 Die vielen gut organisierten und finanziell starken nationalistisch-militaristischen Verbände, deren Mitgliedschaft in die Millionen ging, leisteten einen erfolgreichen Beitrag zur Militarisierung der Gesellschaft und Politik.2 Auch Form und Inhalt des Schulunterrichts dienten der sozialen Militarisierung der Untertanen und ergänzten so gezielt die Manöver, Paraden und Sedanfeiern. Der Unterricht war in der Breite autoritär, paramilitärisch und stupide strukturiert, das simple Abfragen von Faktenwissen dominierte.3
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Zur Friedensbewegung im Kaiserreich: Karl Holl, Pazifismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1988, 41–202; Dieter Riesenberger, Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland, von den Anfängen bis 1933. Göttingen 1985, 37–97; Roger Chickering, Imperial Germany and a World without War, the Peace Movement and German Society, 1892–1914. Princeton 1975; Friedrich-Karl Scheer, Die Deutsche Friedensgesellschaft (1892–1933). Organisation, Ideologie, politische Ziele. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1983, 38–235; Karlheinz Lipp/Reinhold Lütgemeier-Davin/Holger Nehring (Hrsg.), Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892–1992. Essen 2010, 43–115; Guido Grünewald (Hrsg.), Nieder die Waffen! Hundert Jahre Deutsche Friedensgesellschaft (1892–1992). Bremen 1992; Brigitte Hamann, Bertha von Suttner. Ein Leben für den Frieden. München 1986; Petra Schönemann– Behrens, Alfred Hermann Fried. Friedensaktivist – Nobelpreisträger. Zürich 2011; Tobias Brenner/Christoph Mauch, Für eine Welt ohne Krieg. Otto Umfrid und die Anfänge der Friedensbewegung. Schönaich 1987. Thomas Rohkrämer, Der Militarismus der ,kleinen Leute‘. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871–1914. München 1990; Roger Chickering, We Man Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League 1886–1914. Boston u. a. 1984; Jost Dülffer/Karl Holl (Hrsg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890–1914. Göttingen 1986; Aus regionaler Perspektive vgl. Rose Kermann, Das pfälzische Kriegervereinswesen nach der Reichsgründung. Aspekte seiner Entwicklung und seiner politischen und gesellschaftlichen Bedeutung, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 85,1987, 279–346. Christa Berg (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band IV, 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 1991; Heinz Lemmermann, Kriegserziehung im Kaiserreich. Studien zur politischen Funktion von Schule und Schulmusik 1890–1918, 2 Bände Lilienthal, Bremen 1984; Ulrich Bendele, Krieg, Kopf und Körper. Lernen für das Leben – Erziehung zum Tod. Berlin 1984; Marieluise Christadler,
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Diese sehr weit verbreitete Kriegspädagogik ist quellenmäßig leicht zugänglich, gut erforscht und daher hinlänglich bekannt. Für die friedenspädagogisch Engagierten gilt dies nicht. Falsch wäre es jedoch davon abzuleiten, dass eine Friedenspädagogik im Kaiserreich überhaupt nicht existiert hätte. Diese Friedenspädagogik im Kaiserreich kritisierte die dominante Kriegspädagogik und machte konstruktive sowie konkrete Vorschläge für eine Alternative zur Kriegspädagogik.4
II. GRUNDSÄTZLICHE POSITIONEN DER FRIEDENSPÄDAGOGIK Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1870/71 entwickelte sich ein aggressiver Nationalismus, der den Kult der Gewalt betonte. Friedenspädagogische Lehrkräfte kritisierten den Chauvinismus, den die Kriege PreußenDeutschlands begünstigten und hinterfragten den militanten Patriotismus, um eine Kultur des Friedens aufzubauen. Das Friedensengagement blieb nicht folgenlos – und brachte diesen Lehrkräften mitunter juristische Verfahren ein bis hin zum Berufsverbot. Der aus Ostpreußen stammende Lehrer Eduard Sack erregte beispielsweise durch seine politischen und pädagogischen Ideen mehrfach das Missfallen der reaktionären Schulbürokratie.5 Über 20 Prozesse wurden gegen ihn angestrengt. Sack wurde zu Geld- und Gefängnisstrafen verurteilt und 1864 aus dem Schuldienst entlassen. Als Journalist der liberalen „Frankfurter Zeitung“ versuchte er weiterhin seine pädagogischen Ziele in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die – aus preußisch-deutscher Sicht – erfolgreichen Kriege von 1864 (gegen Dänemark), 1866 (gegen Österreich-Ungarn) und 1870/71 (gegen Frankreich) markierten für Sack entscheidend den Weg in eine deutliche Militarisierung von Erziehung und Schule. Durch eine bessere Allgemeinbildung – so Sack 1878 – könnten Kriege verhindert werden. Konkrete Vorwürfe erhob er gegen den Religions-, Geschichts- und Sportunterricht, da besonders in diesen Fächern eine permanente
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Kriegserziehung im Jugendbuch. Literarische Mobilmachung in Deutschland und Frankreich vor 1914. Frankfurt am Main 1978; Arbeitsgruppe ,Lehrer und Krieg‘ (Hrsg.), Lehrer helfen siegen. Kriegspädagogik im Kaiserreich mit Beiträgen zur NS-Kriegspädagogik. Berlin 1987; Jochen Löher/Rüdiger Wulf, Furchtbar dräute der Erbfeind! Vaterländische Erziehung in den Schulen des Kaiserreichs 1871–1918. Dortmund o. J. (Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Westfälischen Schulmuseums Dortmund 1996.) Wolfgang Keim, Reformpädagogik und Friedensbewegung, in: Ders./Ulrich Schwedt (Hrsg.), Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933), Teil 1. Frankfurt am Main 2013, 135–167; Karlheinz Lipp, Friedenspädagogik im Kaiserreich. Ein Lesebuch. Baltmannsweiler 2006. Eduard Sack, Die preußische Schule im Dienste gegen die Freiheit. Schulpolitische Kampfschriften. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Karl-Heinz Günther. Berlin 1961; Eduard Sack, Beiträge zu der Schule im Dienste für die Freiheit. Erster Band. Braunschweig 1878. Nachdruck in Ders., Schriften. Band 1. Vaduz 1980.
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Kriegserziehung erfolge. Geschlechtsspezifisch von Interesse ist Sacks Kritik an tradierten Männlichkeitsbildern, insbesondere an Helden und berühmten Männern der Geschichte. Dieser Aspekt taucht auch bei anderen friedenspädagogischen Stimmen mehrfach auf. Als positive Werte setzte Sack gegen die Kriegspädagogik: Erziehung zur Freiheit, Demokratie, Liebe und Menschlichkeit. Eduard Sack sowie weitere friedenspädagogische Personen widmeten sich ausführlich dem Thema Patriotismus und Vaterlandsliebe. Gerade nach 1870/71 sei an deutschen Schulen und Hochschulen eine chauvinistische Welle ohnegleichen entstanden. Kriegsverherrlichende Schriften und Schulbücher fänden reißenden Absatz. Kriegshetzer im pädagogischen Gewande schürten den Völkerhass und verbreiteten gezielt Lügen. Kriege und Gewalt würden romantisiert, verharmlost und glorifiziert. Dagegen wurde aus friedenspädagogischer Sicht auf eine andere, nämlich drastische und grauenvolle Kriegswirklichkeit hingewiesen: Tote, Verletzte, Verstümmelte, Vereinsamung der Hinterbliebenen, Verarmte und Verbitterte. Gegen eine nationalistische Kriegspädagogik wurde eine internationale Friedenspädagogik gefordert, die zur Entfeindung beitrage, alte Ressentiments und Feindbilder überwinde, und sich an einer internationalen, gewaltfreien Konfliktlösung, konkret der Schiedsgerichtsbarkeit (Friede durch Recht), orientieren solle. Das vermutlich bekannteste Beispiel einer Entromantisierung von Krieg und Gewalt stellt das Buch „Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg“ (1912) des Hamburger Volksschullehrers Wilhelm Lamszus dar.6 Drei Aspekte bewogen den Friedenspädagogen zur Abfassung des Buches. Bei einer Reserveübung erlebte Lamszus die Weiterentwicklung der Militärtechnik durch neue Waffen. Ferner reifte in ihm immer stärker die Einsicht, dass auf der anderen Seite der Front auch Menschen stehen, und schließlich sei es viel sinnvoller die hohen Rüstungsausgaben für die Beseitigung von Problemen wie Hunger, Elend und Krankheiten auszugeben. Lamszus schildert in drastischen Bildern die grausame Wirklichkeit des Krieges und gibt einen bitteren sowie prophetischen Vorgeschmack auf den Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs. Das Buch erlebte in drei Monaten 70 Auflagen (!) und wurde in mehrere Sprachen übersetzt – ein großer Erfolg für den Friedenspädagogen. Nach der Veröffentlichung der Erzählung erfolgte ein Disziplinarverfahren gegen Lamszus, das eine kurzzeitige Beurlaubung vom Schuldienst zur Folge hatte. Das preußische Generalkommando verlangte gar die Entlassung des Lehrers, aber der liberale Hamburger Schulsenator verhinderte dies. Daraufhin wurde der Senator auf einen Verwaltungsposten versetzt. Heinrich Scharrelmann gehörte auch zu den Opfern einer antipazifistischen Verwaltung und Schulbürokratie. Der Bremer Reformpädagoge kritisierte die chauvinistische Gesinnung – und wurde 1909 aus dem Schuldienst entlassen. In
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Wilhelm Lamszus, Antikrieg. Die literarische Stimme des Hamburger Schulreformers gegen Massenvernichtungswaffen. Neu hrsg. von Andreas Pehnke. Frankfurt am Main 2003.
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seiner eigenen Zeitschrift „Roland“ schrieb Scharrelmann 1912 angesichts der Marokkokrise: „Wer mit am Webstuhle der Kultur arbeitet, m u ß den Krieg hassen! […] Solange es freilich Nationen gibt, wird es auch Kriege geben. Mit dem Verschwinden der Ländergrenzen erst werden auch diese verschwinden. Wir Lehrer des Volkes aber haben zu tun, was in unseren Kräften steht, um die Unterschiede der Nationalitäten auszumerzen. Wir haben daher auch jeden Patriotismus zu bekämpfen, mag er eine Form annehmen, welche er will. Bewußte Erziehung z u m Patriotismus aber bedeutet immer eine Unterminierung von Gesittung und Kultur im Volke und ist somit direkt unmoralisch. Jede patriotische Regung ist nämlich im tiefsten Kerne unmoralisch. Je internationaler ein Volk denkt, je mehr es Verständnis auch für fremde völkische Eigenheiten und Anschauungen zeigt, desto ethischer denkt es und wird es handeln. […] Es ist der verhängnisvollste Irrtum, wenn man glaubt, daß durch einen Krieg jemals ein Stück Kultur errungen worden sei. Die Wirkung des Krieges ist immer nur eine zerstörende und niemals eine aufbauende gewesen! […] Unsere Aufgabe muß es sein, unermüdlich in dem Volke die Illusionen über die Notwendigkeit und Heiligkeit des Krieges zu zerstören, den Patriotismus zu bekämpfen und die Friedensbewegungen zu propagieren. Ein Volk, das den Krieg verabscheut, wird auch die Macht haben, Kriege zu verhindern.“7
Für Edmund Triebel, der unter anderem im thüringischen Wölfis (südlich von Gotha) als Rektor einer Volksschule wirkte, lag der zentrale Ausgangspunkt seiner friedenspädagogischen Überlegungen darin, den Kindern aufzuzeigen, dass das Wohl der Menschheit in der Solidarität der Völker liege.8 Ausgehend von der unmittelbaren Lebenswelt der Kinder wird, so Triebel, zunächst der Zusammenhang von Berufen verdeutlicht. Danach soll auf die wechselseitigen Beziehungen innerhalb eines Landes eingegangen werden. Schließlich kann die internationale Dimension in den Blick geraten: Gegenseitige Hilfe bei Hungersnöten, Welthandel, Austausch von Kultur und Wissenschaft. Das Problem eines ungerechten Welthandels sowie die Ausbeutung der Kolonien wurden von Triebel nicht thematisiert. Der Volksschullehrer kritisierte ebenfalls den weit verbreiteten Patriotismus, so in einem Vortrag vor der Gothaischen Landeslehrerversammlung zu Friedrichroda am 16. September 1897. „Es könnte den Anschein haben, als sollte nach dem, was bisher gesagt wurde, die Erzeugung und Pflege der Vaterlandsliebe, in der wir bisher eine unserer schönsten und höchsten Aufgaben erblickten, aus der Schule verschwinden und in der Liebe zur Menschheit aufgehen. Nein, hochgeehrte Versammlung, es wird auch ferner unser Ziel sein, die Jugend für ihr Vaterland zu begeistern, ihr deutsche Treue, deutschen Sinn, deutsche Art, deutsche Sitten einzupflanzen, nur läutern, nur säubern wollen wir die Vaterlandsliebe von einigen Schlacken, die ihr noch anhaften. Diese Schlacken sind Haß und Mißachtung gegen fremde Völker, wir wollen sie ersetzen durch Achtung und Wertschätzung der Nachbarn.“9
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Roland, Januar 1912, 2–4. Hervorhebungen im Original. Auch abgedruckt in Heinrich Scharrelmann, Erlebte Pädagogik. Gesammelte Aufsätze und Unterrichtsproben. Hamburg/Berlin 1912, 131–134. Karlheinz Lipp, Friedensinitiativen in der Geschichte. Herbolzheim 2002, 98–105. Edmund Triebel, Was kann die Schule zur Förderung der Friedensbestrebungen beitragen?, in: Wilhelm Meyer-Muskau (Hrsg.), Sammlung pädagogischer Vorträge. Band X. Heft 11.
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Triebel, der Mitglied in der Ortsgruppe Gotha der Deutschen Friedensgesellschaft war, ist sich der wechselseitigen Abhängigkeit der Unterrichtsfächer bewusst. Für ihn ist es daher unvereinbar, in dem einen Fach zum Frieden zu erziehen, während in einem anderen Fach Feindbilder aufgebaut würden. So könne nicht im Religionsunterricht über das Thema Nächstenliebe gesprochen werden, um dann in der nächsten Unterrichtsstunde im Geschichtsunterricht Kriege und Schlachten zu behandeln. Friedenspädagogik erscheint deshalb als ganzheitliches, fächerübergreifendes Lernen. Eine weitere friedenspädagogische Aufgabe sah Triebel in der Überprüfung von Schul- und Volksbüchereien, da Kriegsverherrlichungen einen breiten Teil des Bestandes ausmachten. Triebels Ausführungen von 1897 erschienen im Jahre 1902 in französischer Sprache – ein großer Erfolg eines deutschen, friedenspädagogischen Volksschullehrers. Bürgerliche und sozialistische Friedenspädagoginnen appellierten gezielt an die Mütter, so etwa Doris Paulus im Jahre 1900: „Jede Mutter, die es versäumt ihren Kindern die Heiligkeit des Friedens klar zu machen, hat vor Gott die Thränen einer anderen Mutter zu verantworten, deren Kind im Krieg umkam. Schenkt euren Kindern – dem Alter entsprechend – [statt Kriegsspielzeug] lieber Spiele, Bücher, Bilder, die ihrer Wissbegier die wundervollen Gesetze der Naturgeheimnisse entschleiern; fesselt und erzieht ihre Gedanken durch ergötzliche Berichte, Wiedergabe, aus dem Leben der Tiere, dass sie auch diese lieb gewinnen und schätzen lernen; veredelt ihr Gemüt und den Geschmack durch Erweckung ihres Verständnisses für die Schönheit der Farben und Formen der entzückenden Pflanzenwelt, und vor allem lehrt sie alle, aber auch alle Menschen, welcher Nation, Rasse oder Farbe sie auch angehören, als Ihresgleichen, als Vollmenschen, ansehen und lieben.“10
Und eine unbekannt gebliebene Sozialistin schreibt in einem Buch, das von Clara Zetkin, einer Lehrerin, herausgegeben wurde: „Es ist Pflicht jeder proletarischen Mutter, ihren ganzen Einfluß gegen die in der Schule beliebte Methode der Patriotenzüchtung geltend zu machen. Religion und Hurrapatriotismus werden den jungen Herzen eingepflanzt, noch ehe das kleine Hirn das Abc begriffen hat.“11
Auch Nicht-Pädagogen wandten sich an deutsche Lehrkräfte, um diese für die Sache des Friedens zu gewinnen. Im Jahre 1898 veröffentlichte der Rechtsanwalt und Vorsitzende der Ortsgruppe Breslau der Deutschen Friedensgesellschaft, Adolf Heilberg, eine friedenspädagogische Denkschrift. Der Zeitpunkt war geschickt gewählt, denn an Pfingsten 1898 tagte in Heilbergs Heimatstadt die Deutsche Lehrerversammlung. Dem Juristen ging es besonders um die Propagierung von Friedensideen – und zwar besonders für Lehrer und Lehrerinnen.12 Sei es in
Bonn u. a. 1897, 263–282. Französische Ausgabe: Que peut l’école contre la guerre? Nimes 1902. 10 Friedensblätter, 1902, 129. Hervorhebungen im Original bleiben unberücksichtigt. 11 Clara Zetkin u. a., Die Erziehung der Kinder in der proletarischen Familie. Quellen zur Pädagogik der deutschen Arbeiterbewegung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Gerd Hohendorf. Berlin 1969, 102. 12 Lipp, Friedensinitiativen (wie Anm. 8), 106–111.
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früheren Jahrhunderten zu gewaltsamen Konflikten gekommen, so habe es, nach Heilberg, in den zivilisierten Staaten eine Entwicklung zum Rechtsweg gegeben – maßgeblich beeinflusst durch Bildung und Erziehung. Das Denken eines Juristen und Pazifisten zeigt sich deutlich: Friede durch Recht, gesprochen von einem internationalen Schiedsgericht. Heilberg kritisiert den weit verbreiteten Fatalismus, wonach es Kriege schon immer gegeben habe und immer geben werde. Der Schulunterricht sollte über die Schrecken des Krieges aufklären sowie die enormen Kosten von Aufrüstung und Krieg problematisieren. Als Grundidee resümiert der Rechtsanwalt: „Wir müssen uns und unsere Kinder losreißen von dem trügerischen, blendenden Schein mit dem eine alte Lehre den Krieg und die Kriegsgeschichten vergoldet hat, die Erziehung der Kinder ist nicht zum kleinsten Teil eine Entwöhnung von Unduldsamkeit und Gewalttätigkeit; lehren wir unsere Kinder auch, daß Unduldsamkeit und Gewalttätigkeit Untugenden sind, auch wenn sie im Verhältnis von Staat zu Staat, von Volk zu Volk geübt werden.“13
Ein Blick in die sehr ausführlichen, mitunter stenographischen Berichte in den Presseorganen, die dem Deutschen Lehrerverein nahestanden, zeigt, dass Heilbergs friedenspädagogischen Thesen nicht nur nicht diskutiert wurden – sie wurden von der Deutschen Lehrerversammlung noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. Fünf Jahre später, 1903, richtete die Deutsche Friedensgesellschaft einen „Aufruf an die Lehrer und Lehrerinnen“, in dem es unter anderem heißt: „Es steht in Ihrer Macht, ob Sie die Ihnen anvertrauten Schüler zu Thaten des Krieges oder zu Werken des Friedens begeistern wollen. Möge es Ihnen gelingen in Ihren Zöglingen die Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben und vor dem Recht zu wecken. Möchten Sie uns helfen, das Geschlecht echter Menschlichkeit in die empfänglichen Herzen der Jugend zu pflanzen! Wir hätten viel gewonnen, wenn alle Lehrer darauf verzichten wollten, den Chauvinismus wachzurufen, wenn vielmehr alle darin mit uns einig wären, den wahren Patriotismus zu pflegen, der mit der Feindschaft gegen andere Völker nichts zu thun hat. Wohl uns, wenn wir dazu beigetragen haben, die Versöhnung zwischen den Völkern vorzubereiten!“14
Vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges betrug der Rüstungsetat circa 75 Prozent des gesamten Reichsetats. Diese politische und finanzielle Fokussierung auf das Militär wurde aus friedenspädagogischer Sicht mehrfach kritisiert, so auch von Ludwig Wagner. Dieser Lehrer und Friedenspädagoge organisierte maßgeblich den 7. Friedenskongress der Deutschen Friedensgesellschaft in Kaiserslautern im Mai 1914.15 Wagner äußerte sich in einer friedenspädagogischen Schrift:
13 Adolf Heilberg, Die Erziehung zum Frieden – eine Aufgabe für die Deutsche Lehrerschaft. Festgabe für die zu Pfingsten 1898 in Breslau tagende Deutsche Lehrer-Versammlung überreicht von der Deutschen Friedensgesellschaft, Ortsgruppe Breslau. Breslau 1898, 8. 14 Die Friedens-Warte, 1903, 191. 15 Karlheinz Lipp, Der Friedenspädagoge Ludwig Wagner (Kaiserslautern), in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 93, 1995, 347–356.
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„Immer und überall, wo es sich um die Pflege von Kulturaufgaben handelt, da fehlt es an Geld, weil der Säckel des Militärfiskus wie das Faß der Danaiden niemals voll wird. Unter der Hintansetzung der Kulturaufgaben haben natürlich auch die Kulturarbeiter selbst zu leiden. In der Bereitstellung der Mittel für das heutige Wettrüsten der Völker haben wir daher auch eine Hauptsache dafür zu sehen, daß die Erfüllung unserer berechtigten Lohnforderungen immer wieder auf die lange Bank geschoben wird. […] Die erfolgreiche Militarisierung der Jugend bedeutet zweifellos eine Wertminderung des von uns vertretenen Erziehungsgedankens und damit einen Verlust an unserem Einflusse im öffentlichen Volksleben. Von einer schwarzseherischen Uebertreibung kann hier keine Rede sein, wenn man die Tatsache ins Auge faßt, daß ein sehr großer Teil der männlichen deutschen Jugend bereits unter das chauvinistisch-militaristische Banner geschart ist und zwar nicht bloß die Jugend der sogenannten besseren Stände in den Mittelschulen, sondern auch die des großen Volkes.“16
III. GESCHICHTSUNTERRICHT FÜR DEN FRIEDEN Gerade der Geschichtsunterricht war in einem sehr hohen Maße sowohl der Verinnerlichung von Imperialismus und Militarismus als auch von antirevolutionären, antidemokratischen, antifeministischen und antisozialistischen Verhaltensmustern dienlich.17 Die friedenspädagogische Kritik am Geschichtsunterricht des Kaiserreichs ist zahlreich und höchst bemerkenswert. Der Thüringer Ernst Böhme, der in Kunitz bei Jena wirkte, zählte beispielsweise zur kleinen Zahl der evangelischen Friedenspfarrer im Kaiserreich.18 Zu seinem friedenspolitischen Engagement gehörte auch die Beschäftigung mit der Friedenspädagogik. So formulierte Böhme 1913 im Hinblick auf den Geschichtsunterricht: „Dazu muß wohl vor allem ganz anders als bisher der Geschichtsunterricht ethisch fundiert werden zunächst in dem Sinne, daß kein Krieg mehr glorifiziert, vielmehr der Krieg als Allgemeinerscheinung nach Klopstocks Urteil als ,des Menschengeschlechts Brandmal alle Jahrhunderte hindurch‘ dargestellt, daß somit niemals Kriegsbegeisterung, sondern unter dem Eindruck der aufgezeigten Greuel eines Krieges und seiner unsagbar traurigen Folgen stärkster Abscheu erweckt und die Hemmung des gottgewollten Aufstiegs der Menschheit, nicht nur eines einzelnen Volkes, durch jeden Krieg den zu Unterrichtenden klar und ernst zum Bewußtsein gebracht wird. Hat man bisher viel zu sehr die kriegerischen Heldentaten in den Vordergrund gerückt, viel zu einseitig Siege und vorteilhafte Siegesfolgen für das einzelne
16 Ludwig Wagner, Warum muß der Lehrer Stellung zur heutigen Friedensbewegung nehmen? 2.–3. Aufl. Stuttgart, 8, 11. 17 Klaus Bergmann, Imperialistische Tendenzen in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht ab 1890, in: Ders.:/Gerhard Schneider (Hrsg.), Gesellschaft, Staat, Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 1500– 1980. Düsseldorf 1982, 190–217; Helmut Beilner, Geschichtsunterricht vor 1918, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 40, 1977, 641–675; Bernd Schönemann, Nationale Identität als Aufgabe des Geschichtsunterrichts nach der Reichsgründung, in: Internationale Schulbuchforschung 11, 1989, 107–127; Ernst Weymar, Das Selbstverständnis der Deutschen. Ein Bericht über den Geist des Geschichtsunterrichts der höheren Schulen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1961. 18 Karlheinz Lipp, Der Thüringer Friedenspfarrer Ernst Böhme (1862–1941). Ein Lesebuch. Nordhausen 2010.
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Karlheinz Lipp Volk in der Geschichtsbetrachtung hervorgehoben, so sage man künftig den Kindern, wenn Kriegsereignisse zu erörtern sind, mehr von den traurigen Tatsachen, die infolge eines Krieges, auch für das siegreiche Volk, auf wirtschaftlichem wie auf sittlichem Gebiet zu verzeichnen sind, und weise mit ernstem Nachdruck auf die Verluste und Opfer hin, die durch die Kriegsführung veranlaßt wurden.“19
Eine ähnliche Position vertrat der Pirmasenser Lehrer Peter Herzog.20 Er schrieb: „Was wir lehren, ist größtenteils Kriegs- und Fürstengeschichte. Von den ersten Zusammenstößen unsrer Rasse mit den Römern bis zur Schwelle der Gegenwart – nichts als Kriegslärm, Waffengeklirr und Schlachtengreuel. […] Um den Krieg krystalliert [sic!] sich die ganze geschichtliche Belehrung. Der Raufereienkatalog ist dann und wann noch untermischt mit einem Stückchen bizarrester Fürstenverhimmelung.“21
Doch die friedenspädagogischen Lehrkräfte blieben nicht nur bei ihrer Analyse und Kritik stehen, sondern formulierten konstruktive Alternativen für die Praxis des Geschichtsunterrichts, nämlich Alltags-, Sozial- und Kulturgeschichte statt Kriegsgeschichte. So forderte Peter Herzog: „Die menschliche Geschichte ist so reich an erhebenden Bildern edler Menschlichkeit, so reich an wahrhaft bildenden kulturgeschichtlichen Stoffen, daß man sich fast wundern muß, wie sie trotz eindringlichster theoretischer Mahnungen bis jetzt entweder leichtfertig umgangen oder nur in stiefmütterlichster Weise behandelt werden konnten. Machen wir darum unsre Schüler nicht bloß mit den Trägern der Macht und Gewalt, sondern auch mit den Helden der Forschung und des volkswirtschaftlichen Aufschwungs bekannt! Erzählt vom Leben im altgermanischen Gehöft, im Kloster und der Ritterburg, von den mittelalterlichen Bürgern und Bauern, von Peter Vischer und Washington, vom Fehmgericht und Tabakskollegium, von Schiller und Seume, von den kulturellen Folgen der Kreuzzüge und den unglückseligen sozialen Folgen vor der französischen Revolution! Erzählt, wie unsere Vorfahren gewohnt und gearbeitet, gekauft und gehandelt, wie sie sich gekleidet und genährt, sich betrübt und gefreut haben! Erzählt von den kühnen Wikingergestalten, welche unter tausend Fährden und Nöten die unbekannten Gegenden unsres Planeten erforscht und der menschlichen Arbeit und Kultur neue Felder erschlossen haben, von der erstmaligen Nutzbarmachung fremdländischer Produkte und von der Erfindung der Handel und Wandel revolutionierenden Dampfschiffe und Eisenbahnen.“22
Herzog veröffentlichte seine „Unzeitgemässe Gedanken zum gegenwärtigen Geschichtsunterricht“ im Rahmen eines Preisausschreibens einer pädagogischen Zeitschrift. Es war üblich, dass diese Beiträge ohne Namensnennung erschienen. Bei diesem Wettbewerb erreichte Herzog den achten und letzten Platz und erhielt
19 Ernst Böhme, Friedensbewegung und Lebenserziehung. Leipzig 1913, 16. Hervorhebungen im Original bleiben unberücksichtigt. 20 Lipp, Friedensinitiativen (wie Anm. 8), 91–97. 21 Deutsche Schulpraxis, 1897, 408. 22 Deutsche Schulpraxis, 1897, 409. Ein Teilabdruck von Herzogs Aufsatz erschien in der pazifistischen Zeitschrift Die Waffen nieder!, 1898, 144 f. Zur Militarisierung der männlichen Pirmasenser Jugend durch paramilitärische Übungen an den Sonntagnachmittagen: Die Friedens-Warte, 1900, 12 f. Zum kulturgeschichtlichen Ansatz: Karl Biedermann, Der Geschichtsunterricht auf Schulen nach kulturgeschichtlicher Methode. Wiesbaden 1885.
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25 Mark. Bei der Mitteilung des Ergebnisses wurden dann die Autoren namentlich erwähnt. Auch im internationalen Vergleich können sich Herzogs Überlegungen sehen lassen. Der VII. Internationale Friedenskongress von Budapest (1897) beauftragte das Internationale Friedensbureau in Bern mit der Abfassung und Verbreitung einer friedenspädagogischen Erklärung. Dieser Aufruf an die Lehrkräfte des Faches Geschichte kam zu ähnlichen Erkenntnissen wie Herzog. So werden die Folgen einer militaristischen Erziehung zum Krieg und zum Völkerhass verurteilt. Ebenso werden Gewalt und Nationalismus abgelehnt. Entsprechende Darstellungen in Geschichtsbüchern sollen kritisch hinterfragt werden.23
IV. GEGEN DIE PRÜGELPÄDAGOGIK Prügel gehörten zum festen Repertoire der schulischen und familiären Erziehung im Kaiserreich. Schon früh und oft genug permanent erlebten Kinder und Jugendliche physische Gewalt. Die körperliche Züchtigung junger Menschen erschien als ein weithin akzeptiertes, probates Mittel der Erziehung.24 Gleichwohl gab es auch schon im Kaiserreich eine deutliche Kritik an der Prügelpädagogik. Eduard Sack etwa verwirft die Prügelstrafe grundsätzlich als einen eklatanten Verstoß gegen die Menschenrechte und führt aus, dass die Lehrkräfte sehr wohl ohne Schläge auskommen könnten. Ferner verweist er auf vorhandene Klassenunterschiede im herrschenden dreigliedrigen Schulsystem, das heißt, dass Kinder in der Volksschule wesentlich häufiger Opfer der Prügelpädagogik werden als im Bereich der Realschule oder des Gymnasiums. Höchst aufschlussreich sind Sacks Vorschläge zur Änderung struktureller, schulischer Rahmenbedingungen, die den Weg zu einem gewaltfreien Unterricht ebnen sollen. So fordert Sack unter anderem die Ausstattung der Schulen mit den wichtigsten Unterrichtsmitteln, kleinere Klassen sowie die Diskussion über die Eignung der Lehrkräfte für ihre Aufgabe.25 Nach dem Tod eines Schülers in Berlin-Schöneberg infolge schulischer Prügel – der Lehrer wurde nicht bestraft – forderte Theodor Brix eingehende Konsequenzen, nämlich eine Abkehr von der Gewalt und eine Hinwendung zur Aufklärung und Humanität. Brix konstatierte, ebenso wie Sack, erhebliche soziale Unterschiede bei der Anwendung der Prügelstrafe.26 Auch Mütter und Lehrerinnen befürworteten und praktizierten die Prügelpädagogik. Daher appellierte die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm besonders an die
23 Die Friedens-Warte, 1900, 69 f. 24 Jens-Michael Priester, Das Ende des Züchtigungsrechts. Eine historische, dogmatische und straftheoretische Untersuchung. Baden-Baden 1999. 25 Eduard Sack, Gegen die Prügel-Pädagogen. Braunschweig 1878. Nachdruck in Ders., Schriften Band 2. Vaduz 1980. 26 Theodor Brix, Was in dem Lande der „Denker und Dichter“ passiren kann. Ein Wort über die Schulprügler und ihre Gönner als Beitrag zur Göthefeier. Berlin 1899.
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Frauen, die Prügelstrafe abzulehnen, da diese im krassen Gegensatz zur Mutterliebe stehe.27 Der Sozialist Julian Borchardt sah in den gängigen gewalttätigen Zuchtmitteln ein schweres Hemmnis auf dem Weg zur Herausbildung freier Menschen.28 Die Kritik im Kaiserreich an der Gewalt im schulischen und privaten Bereich stellte einen wichtigen Anfang dar. Dennoch dauerte es bis weit ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts, ehe es zu einem Verbot der Prügelstrafe in der Schule kam. Die UN-Kinderrechtskonvention forderte 1991 eine konsequent gewaltfreie Erziehung, auch im familiären Bereich. Seit November 2000 haben Kinder und Jugendliche in Deutschland nach Paragraf 1631, Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches ein verbrieftes Recht auf eine solche Erziehung: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ In Deutschland ist ebenfalls seit 1997 die Vergewaltigung in der Ehe ein Straftatbestand – ein weiterer bedeutender Schritt hin zu einer Entwicklung der Gewaltfreiheit im privaten Bereich.
V. ABBAU VON FEINDBILDERN Der Abbau von Feindbildern gilt bis heute als klassischer Baustein einer jeden Friedenspädagogik. Im Kaiserreich galt dies primär gegenüber dem sogenannten Erbfeind Frankreich. Als ein großes Hemmnis zur Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Krieg von 1870/71 wurde zu Recht der Sedantag (2. September) zutreffend charakterisiert. Insbesondere die schulischen Feiern zum Sedantag verstärkten die nationale Arroganz.29 Aus friedenspädagogischer Sicht erfuhr dieser nationale Feiertag eine deutliche Kritik – und es folgten Vorschläge zur Umstrukturierung im Sinne einer deutsch-französischen Versöhnung. Edmund Triebel formulierte dies so: „Wieder naht der 2. September, und wieder werden in so manchen Erziehungsanstalten schwungvolle Reden über den ,Erzfeind‘ gehalten werden, der so glorreich niedergeworfen wurde, wird man mit Geringschätzung und Verachtung von unserem Nachbarvolke sprechen, wird man die Jugend begeistern, für jenen herrlichen Krieg und sie zu jenem Tatendrang entflammen, der am liebsten gleich losschlagen möchte. Ach, wie viel Tropfen Gift werden doch an diesem Tag alljährlich in die kindlichen Herzen geträufelt, wie viel von dem, was man sonst durch Unterricht und Erziehung mühsam aufgebaut hat an Nächstenliebe, an Achtung vor dem Menschenleben und der Menschenwürde, wird an diesem Tage grausam zerstört und vernichtet! Möchten doch alle Erzieher der schweren Verantwortung sich bewußt werden,
27 Hedwig Dohm, Die Mütter. Beitrag zur Erziehungsfrage. Berlin 1903. 28 Julian Borchardt, Wie sollen wir unsere Kinder ohne Prügel erziehen? Berlin 1905. 29 Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945. Frankfurt am Main u. a. 1990. Vgl. ferner Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart 1992.
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welche sie auf sich laden, wenn sie in dem Streben, Vaterlandsliebe zu erzeugen, zugleich Menschenhaß predigen und Kriegsbegeisterung, d.h. Mordlust, wecken. Was nützt alle Friedenspropaganda unter den Erwachsenen, die öffentliche Meinung zu gewinnen, solange noch solche Keime in die jugendlichen Herzen gesenkt werden! Und solche Keime gehen auf, solche Eindrücke sind bleibend, sie lassen sich kaum je wieder verwischen. Würden wir wohl einen so erbitterten Kampf gegen Vorurteile, gegen die über den Krieg herrschenden Anschauungen zu führen haben, wenn diese nicht schon in der Jugend erzeugt worden wären? […] Soll der 2. September überhaupt noch gefeiert werden, dann möge er das Gepräge eines Versöhnungsfestes tragen, einer Feier, die nicht das, was uns trennt, sondern das, was uns eint, in den Vordergrund stellt, die da Abscheu vor dem Krieg erzeugt und Begeisterung erweckt für den schönen, großen Gedanken der Menschheitsfamilie. Ich habe versucht, eine Ansprache an die Schüler in diesem Sinne auszuarbeiten und biete diesselbe hiermit denjenigen meiner geehrten Kollegen als Hilfsmittel dar, die geneigt sind, auch durch die Sedanfeier für die Sache des Friedens zu wirken.“30
Direkte internationale Kontakte erwiesen sich als Korrektiv einer stark nationalistisch ausgeprägten pädagogischen Sichtweise. In diesem Sinne kam dem internationalen Austausch von Kindern und Jugendlichen eine große Bedeutung zu. Ein besseres Verständnis von anderen Völkern, Ländern und Kulturen könnte dadurch ermöglicht werden. So sollten der um 1900 begründete internationale Briefwechsel von Schülerinnen und Schülern sowie Schulreisen in das Land des angeblichen Erbfeindes diesem friedenspädagogischen Ansatz dienen.31 Beim Abbau von Feindbildern setzte Ludwig Wagners friedenspädagogische Arbeit im Rahmen seiner Erwachsenenbildung ebenfalls an. Ab 1905 veranstaltete er in Kaiserslautern Ferienkurse für Ausländerinnen und Ausländer. Jeweils im Sommer kamen bis zu 200 Menschen in die Pfalz, um für mehrere Wochen an diesen Kursen teilzunehmen. Da der weitaus größte Teil aus Frankreich anreiste, stellte der deutsch-französische Sprach- und Kulturaustausch den Schwerpunkt des Programms dar. Es handelte sich dabei nicht nur um Vorträge, sondern um Übungen, wobei die Diskussion und der lebendige Austausch im Vordergrund stehen sollten. Ferner wurde besonderes Augenmerk auf Konzerte, Theateraufführungen, Besuch von Ausstellungen und Wanderungen gelegt.32 Ab 1912 verknüpfte Wagner seine Ferienkurse mit Friedensseminaren. In diesen Veranstaltungen ging es um die eigenständige Beschäftigung mit friedenspolitischen Themen in Diskussionsrunden oder durch die Übernahme von Referaten,
30 Erziehe zum Frieden! Eine ernste Mahnung an Eltern und Erzieher. I. Drei Reden von Lehrer H. Brück. II. Schulrede von Rektor E. Triebel. Schriften des Frankfurter Friedensvereins. Heft 2. Frankfurt am Main 1905, 56–58. Vgl. ferner Heinrich Michelis, Geschichte und Ziele der modernen internationalen Friedensbewegung. Eine Sedanrede, teilweise gehalten am 2. September 1906. Königsberg 1906. 31 Karl Markscheffel, Der Internationale Schülerbriefwechsel. Seine Geschichte, Bedeutung, Einrichtung und gegenwärtiger Stand. Marburg 1903. Für Beispiele zu Reisen von Schülerinnen und Schülern ins Ausland: Lipp, Friedenspädagogik im Kaiserreich (wie Anm. 4), 154– 161. 32 Ludwig Wagner (Hrsg.), Ferienkurse für Ausländer in Kaiserslautern. Ausführlicher Bericht über die Entstehung, ihren Zweck, ihre Entwicklung und ihren Verlauf. Kaiserslautern 1909.
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wobei Menschen aus allen vertretenen Nationalitäten zu Wort kamen. Eine ständige Ausstellung und eine Sammlung von Friedensliteratur standen zur Verfügung. Den weit verbreiteten Antipazifismus bekam Wagner durch Diffamierungen (Drohbriefe, Presseartikel) deutlich zu spüren.33
VI. IM SCHATTEN DES ERSTEN WELTKRIEGES Selbst zu Beginn des Ersten Weltkrieges konnten im Unterricht Feindbilder abgebaut werden. Dies zeigt sehr anschaulich eine Erinnerung des bekannten Psychoanalytikers Erich Fromm (Jahrgang 1900) an seine Schulzeit im Jahre 1914. „Bestürzt war ich auch über den hysterischen Haß gegen die Engländer, der damals ganz Deutschland erfüllte. Plötzlich waren es elende, bösartige und skrupellose Söldner, die unsere unschuldigen und allzu vertrauensseligen Helden zu vernichten trachteten. Inmitten dieser nationalen Hysterie ist mir ein entscheidendes Ereignis in Erinnerung geblieben. Wir hatten in unserm Englischunterricht die Aufgabe bekommen, die englische Nationalhymne auswendig zu lernen. Diese Aufgabe war uns vor den Sommerferien gestellt worden, als noch Frieden herrschte. Als dann der Unterricht wieder begann, sagten wir Jungen zu unserem Lehrer – teils aus Ungezogenheit und teils weil wir vom ,Haß gegen England‘ angesteckt waren –, wir weigerten uns, die Nationalhymne unseres schlimmsten Feindes auswendig zu lernen. Ich sehe ihn noch vor der Klasse stehen, wie er mit einem ironischen Lächeln über unseren Protest ruhig sagte: ,Macht euch nichts vor; bis jetzt hat England noch nie einen Krieg verloren.‘ Hier sprach die Stimme der Vernunft und des Wirklichkeitssinns inmitten des aberwitzigen Hasses – und es war die Stimme eines verehrten und bewunderten Lehrers! Dieser eine Satz und die ruhige, vernünftige Art, in der er geäußert wurde, war für mich eine Erleuchtung. Er durchbrach die verrückte Hasswelle und die nationale Selbstvergötterung, und ich begann nachzudenken und mich zu fragen: ,Wie ist so etwas möglich?‘“34
Eng verbunden mit den Feindbildern war, gerade im Ersten Weltkrieg, der Völkerhass. Aus friedenspädagogischer Sicht wurde dieses Phänomen kritisiert. Ludwig Wagner und Friedrich Wilhelm Foerster, die beide bei Kriegsbeginn noch eine ambivalente Haltung zum Krieg einnahmen, äußerten sich 1916 entsprechend. So führte Foerster unter anderem aus: „Jeder, der heute in irgendeinem Lebensverhältnis eine Feindschaft in eine Freundschaft verwandelt; jeder, der ein ungerechtes Urteil hinunterschluckt und ein ritterliches Wort für das Recht und die Not des Gegners findet; jeder, der in seinem Konflikte tapfer der eigenen Mitschuld ins Gesicht sieht und daraus neues Leben gewinnt – der hilft die Blutschuld des Weltkrieges entsühnen, der pflanzt Blumen auf die Massengräber, der verleiht all den namenlosen Opfern einen heiligen Sinn.“35
33 Karlheinz Lipp, Pazifismus in der Pfalz vor und während des Ersten Weltkrieges. Ein Lesebuch. Nordhausen 2015, 63–82. 34 Erich Fromm, Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud. Hamburg 1981, 12. 35 Friedrich Wilhelm Foerster, Die deutsche Jugend und der Weltkrieg. Kriegs- und Friedensaufsätze. 3. Aufl. Leipzig 1916, 31. Zu Foerster: Heinrich Olbertz, Die Friedenspädagogik
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Auch während des Ersten Weltkrieges arbeitete die Friedensbewegung weiter – freilich unter erschwerten politischen Rahmenbedingungen.36 Die friedenspädagogischen Stimmen verstummten ebenfalls nicht. Im Frühjahr 1915 erschien in der pazifistischen Zeitschrift „Völker-Friede“ ein Aufruf (vermutliche Autorin: Elsbeth Friedrichs) an die deutschen Lehrkräfte, der zunächst die Zerstörungen durch den Krieg reflektiert. Dann wird die friedenspädagogische Dimension deutlich, wenn es heißt: „Wir wollen und können die nationalen Unterschiede nicht verwischen. Sie sind da, und das ist auch gut so, denn aus ihnen ergibt sich der Geistes- und Kulturkampf der Nationen, der die Welt nur fördern kann. Doch haben die Erzieher aller Länder die Pflicht, die Eigenart Fremder zu verstehen und zu würdigen und das Einende stets zu betonen. Wollen die Erzieher den Fortschritt der Menschheit, das Wohl der Nationen, das Lebensglück ihrer Kinder, so muß die Verbreitung des Friedensgedankens eine Hauptforderung der Pädagogen aller Länder werden. Das heißt nicht, Politik in die Schule tragen. Dieselbe ist übrigens längst darin heimisch geworden durch die Chauvinisten, die leider nicht ohne Erfolg die Schule zu benutzen versuchen und durch alle möglichen Veranstaltungen (ich denke an die freien Lehrerfahrten unseres Flottenvereins) immer mehr bestrebt sind, sich der Erzieher zu bemächtigen. Mit größerem Recht verlangen wir Pazifisten offene Türen für unsere Arbeit an den Schulen. Wenn es nach diesem Kriege den Regierenden ernst ist, einen dauernden Frieden zu erhalten, so werden sie unsere Ideen, die Menschlichkeit, echte Vaterlandsliebe und wahres Christentum atmen, mit aller Macht fördern. […] Nicht die Völker sollen sie [die Kinder] hassen lernen, sondern den Krieg, der die Menschen verroht und zu Grausamkeiten, die ihnen sonst fern liegen, verleitet. Der Krieg ist es, der vielen von ihnen ihre Väter, Brüder und Verwandten geraubt hat. Fast keine Familie ist von Verlusten verschont geblieben. Ueberall haben unsere Kleinen Gelegenheit gehabt, Verwundete zu sehen, und Mitleid und Bedauern sind in ihren Herzen emporgekeimt. Eltern und Erzieher, nicht die Völker haben das getan, sondern der Krieg! Vergeßt das nicht! Streuet den Samen des Friedens aus statt neue Kriegssaat und Haß zu pflanzen. Laßt endlich die Rede vom Erbfeind, von der Schlechtigkeit anderer Völker!“37
Die Kritik an der Kriegspädagogik verstummte in den Kriegsjahren auch von sozialistischer Seite nicht. Dies zeigt die Rede des Antimilitaristen Karl Liebknecht zum Kultusetat im Preußischen Abgeordnetenhaus vom 16. März 1916. „Es ist darauf hingewiesen worden, wie man Schüler für die Kriegswirtschaft zur Verfügung stellt, zum Sammeln des Kriegsgoldes und zur Propaganda für die Kriegsanleihen systema-
Friedrich Wilhelm Foersters. Aachen 1978. Ferner Ludwig Wagner, Der Völkerhaß. Ein Kultur- und Sittenspiegel der Völker im Kriege. Eßlingen 1916. 36 Wilfried Eisenbeiss, Die bürgerliche Friedensbewegung in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. Organisation, Selbstverständnis und politische Praxis 1913/14–1919. Frankfurt am Main 1980; James D. Shand, Doves among the Eagles. German Pacifists and their Government during World War I, in: Journal of Contemporary History 19, 1975, 95–108; Ludwig Quidde, Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914–1918. Hrsg. von Karl Holl unter Mitwirkung von Helmut Donat. Boppard am Rhein 1979; Karlheinz Lipp, Pazifismus im Ersten Weltkrieg. Ein Lesebuch. Herbolzheim 2004; Ders., Pazifismus im Ersten Weltkrieg – ein Überblick, in: Verein für Sozialgeschichte Mainz (Hrsg.), Mainz und der Erste Weltkrieg (Mainzer Geschichtsblätter, Heft 14.) Mainz 2008, 147–164. 37 Völker-Friede, 1915, 36 f.
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Karlheinz Lipp tisch ausnutzt. […] Die heutige Erziehung geht darauf hinaus, schon in der Schule zu beginnen, die Menschen zu Kriegsmaschinen zu erziehen; sie macht die Schulen zu Dressuranstalten für den Krieg, körperlich und seelisch. Das Ziel der körperlichen Ertüchtigung der Jugend – natürlich an und für sich durchaus zu billigen –, weshalb wird es jetzt lebhafter verfolgt? Wegen der Erkenntnis, daß man die so gekräftigten jugendlichen Körper künftig brauchen wird für den Moloch Militarismus. Also auch diese ,Ertüchtigung‘ steht unter dem Gesichtswinkel des Krieges; die Hebung der menschlichen Gesundheit unter dem Gesichtswinkel eines Ziels, das Vernichtung von Menschenleben ist! Meine Herren, der obrigkeitliche Beeinflussungsapparat, in dem Kirche, Kunst und Wissenschaft, Volksschule, Universität und natürlich auch die höhere Schule, neben Polizei und Gerichten, Zensur und dem ganzen Verwaltungsapparat des Belagerungszustandes zusammenwirken, war noch nie so aufgedeckt wie heute, wo er dem Krieg dient. Aber die Zensur hindert die öffentliche Kennzeichnung. So muß man hier darüber reden.“38
Auguste Kirchhoff verfasste im Sommer 1917 ein Manuskript, das wegen der Zensur erst 1919 erscheinen konnte. Sehr skeptisch beurteilte die Bremer Pazifistin das Kriegsspielzeug. Kindern solle der Blick über den nationalen Tellerrand ermöglicht und das Interesse an anderen Kulturen vermittelt werden. Kirchhoff kritisierte den politisch einseitigen Unterricht und plädierte für multiperspektivische, komplexe und kritische Sichtweisen. „Daraus könnte unserem Vaterlande eine neue Generation erwachsen, die an rechter Stelle zur rechten Zeit Hand anlegt – ein Geschlecht von Männern und Frauen, das mit gesundem Blick soziale Schäden erkennt, das nicht sklavisch an erstarrten Begriffen hängt, sondern sich mit frischer Kraft in den Dienst des Werdenden stellt. Ein Geschlecht, das von innen heraus gestaltend, auch den äußeren Frieden auf festere Garantien gründet, als es die heute im Zeitalter des Kapitalismus lebende Menschheit mit ihrem ,freien Spiel der Kräfte‘, mit ihrem Wettrüsten, ihrer Militarisierung der Jugend, mit allen sogenannten Grenzsicherungen, Defensivbündnissen, Geheimverträgen und Diplomatenkünsten vermochte. Aus dem Bankerott dieses Krieges müssen wir Mütter aller Länder unseren Kindern als wertvollstes Gut die Erkenntnis retten, daß nur ein auf Rechtsgrundsätze aufgebautes Zusammenleben aller Völker der Welt Ruhe, Sicherheit und die nötigen Voraussetzungen zu wirklichem Kulturaufstieg geben kann.“39
38 Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften. Band VIII. August 1914 bis April 1916. Berlin 1982, 534 f. Zu Liebknecht vgl.: Helmut Trotnow, Karl Liebknecht. Eine politische Biographie. München 1982; Annelies Laschitza, Die Liebknechts. Karl und Sophie. Politik und Familie. Berlin 2007. 39 Auguste Kirchhoff, „Mensch sein, heißt Kämpfer sein!“. Schriften für Mutterschutz, Frauenrechte, Frieden und Freiheit 1914–1933. Hrsg. und eingeleitet von Henriette KirchhoffWottrich. Bremen 2004, 99. Zu Kirchhoff:. Henriette Wottrich, Auguste Kirchhoff. Eine Biographie. Bremen 1990.
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VII. FRIEDENSPÄDAGOGIK IM INTERNATIONALEN VERGLEICH: DEUTSCHLAND UND FRANKREICH Die Friedenspädagogik im 19. Jahrhundert lässt sich für einige Länder nachweisen.40 Eine friedenspädagogische Organisation existierte im kaiserlichen Deutschland nicht. Dies sah in Frankreich – qualitativ und quantitativ – völlig anders aus. Ein nicht geringer Teil der französischen Lehrkräfte sah seine politische Heimat im sozialistischen beziehungsweise anarcho-syndikalistischen Spektrum, das eng mit pazifistischen Ideen verknüpft war.41 Wichtige pädagogische Zeitschriften wie „Manuel général de l’Instruction primaire“ (Schriftleitung: Ferdinand Buisson), „Revue de l’enseignement Primaire et Primaire Supérieur“ (Schriftleitung: Gustave Hervé, ab 1905: Jean Jaurès; Auflage: 14 000) und „Le Maitre Pratique“ (Schriftleitung: Kreisschulinspektor A. Sève) standen dem Pazifismus sehr nahe. Die pädagogische Organisation „Amicale“ mit zehntausenden von Mitgliedern verstand sich dezidiert als friedenspädagogisch, da sie sich das Motto „Krieg dem Kriege“ gab. Im Jahre 1901 gründeten Madeleine Carlier und Marguerite Bodin die „Société de l’Éducation pacifique“. Diese spezifisch friedenspädagogische Organisation umfasste in circa 40 Departments circa 35 000 Mitglieder. Die zentrale Richtlinie lautete: „Es gibt nicht zweierlei Moral, eine für das Individuum und eine andere für die Nationen. Die Schule hat friedfertige (nicht kleinmütige!) Herzen zu bilden, die menschliche Brüderlichkeit und die Achtung vor dem Leben zu lehren, den Zerstörungsinstinkt und den Ausländerhaß zu unterdrücken. Sie muß die Kriege als vermeidbar, das Schiedsgericht als verpflichtend hinstellen.“42
Die beiden Friedenspädagoginnen verfassten auch ein Buch mit dem Titel „Pour la paix“, das vom staatlichen Unterrichtsministerium subventioniert und in vielen Departments in die Liste der offiziellen Schulbücher aufgenommen wurde. Von
40 Clinton Fink, Peace Education and the Peace Movement since 1815, in: Peace and Change 6, 1980, 66–73; Thomas Renna, Peace Education. A Historical Overview, in: Peace and Change 6, 1980, 61–65; Aline Stomfay-Stitz, Peace Education in America, 1820–1990. Sourcebook for Education and Research. Metuchen/London 1993; Karl-Ernst Nipkow, Der schwere Weg zum Frieden. Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik von Erasmus bis zur Gegenwart. Gütersloh 2007; Karlheinz Lipp, „Fast will es uns scheinen, als trage die Schule eine Hauptschuld daran, dass der Krieg noch in der Welt ist.“ Der Schweizer Edwin Zollinger (1857–1938) als Friedenspädagoge, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik, 1–2/2004, 147– 152; Johannes C. Barolin, Der Schulstaat. Vorschläge zur Völkerversöhnung und Herbeiführung eines dauerhaften Friedens durch die Schule. Wien und Leipzig 1909. 41 Francis Feeley, French School teachers against Militarism, 1903–1918, in: The Historian 52, 1995, 315–328; Mona L. Siegel, The Moral Disarmament of France. Education, Pacifism, and Patriotism, 1914–1940. Cambridge 2004; Barnett Singer, From Patriots to Pacifists. The French Primary School Teachers, 1880–1940, in: Journal of Contemporary History 12, 1977, 413–434. 42 Zitiert nach Reinhold Lehmann, Die französischen Volksschullehrer als Schrittmacher der Friedensbewegung. 2. Aufl. Ludwigsburg 1922, 18.
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einer derartig deutlichen Verankerung im pädagogischen und gesellschaftlichen Leben konnten friedenspädagogische Lehrkräfte in Deutschland nur träumen. Aspekte der französischen Friedenspädagogik wurden mitunter durch Deutsche rezipiert. So erfolgte eine Skizzierung der friedenspädagogischen Organisationen in Frankreich und im Mai 1916 veröffentlichte „Die Friedens-Warte“ einen Appell der Lehrkräfte des Seine-Departments gegen die Verbreitung des Völkerhasses. Das wichtige Werk „Die Vergangenheit des Krieges und die Zukunft des Friedens“ des Pazifisten Charles Richet, das unter anderem die militaristische Dimension des Geschichtsunterrichts in Frankreich kritisierte, übersetzte Bertha von Suttner.43 Überwiegend handelte es sich jedoch um eine erste Wahrnehmung des großen Engagements in Frankreich – ohne wichtige friedenspädagogische Folgen für die deutsche Seite. Auffällig ist die Tatsache, dass es in Frankreich und in Deutschland (allerdings bedeutend weniger als im Nachbarland) vor allem Lehrkräfte an den Volksschulen waren, die sich besonders friedenspädagogisch engagierten. Im Bereich der Gymnasien und Universitäten gab es in Deutschland kaum Friedensbewegte beziehungsweise bedeutete ein pazifistisches Bekenntnis das Ende der Karriere – dies zeigt eindrucksvoll das Beispiel des Historikers Ludwig Quidde. Seine geniale Satire „Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“ (1894) auf Kaiser Wilhelm II., die über 30 Auflagen erzielte, stoppte abrupt die akademische Laufbahn Quiddes.44 Demgegenüber konnte in Frankreich mit Ferdinand Buisson ein Pazifist, Friedenspädagoge, Menschenrechtler und Sozialist sogar Professor an der Sorbonne sowie Generalinspektor des Bildungswesens werden. Buisson arbeitete als Mitarbeiter des Ministers Jules Ferry maßgeblich an der Trennung von Staat und Kirche, die in Frankreich 1905 umgesetzt wurde. Quidde und Buisson bekamen gemeinsam den Friedensnobelpreis 1927 verliehen.45 Die sehr unterschiedliche politische Kultur der beiden Nachbarländer zeigte sich während des Ersten Weltkrieges unter anderem darin, dass der Antikriegsroman „Le Feu – Journal d’une escouade“ („Das Feuer – Tagebuch einer Korporalschaft“, deutschsprachige Erstübersetzung: Zürich 1918) von Henri Barbusse im Jahre 1916 unzensiert erscheinen konnte – und auch noch den Prix Goncourt gewann, den höchsten Literaturpreis Frankreichs.46 Barbusse beeinflusste mit seinem Werk die Entstehung wichtiger deutscher Antikriegsromane, so Ludwig Renns „Krieg“ (1928) und Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1930).
43 Charles Richet, Die Vergangenheit des Krieges und die Zukunft des Friedens. Dresden/Leipzig 1912. 44 Karl Holl, Ludwig Quidde (1858–1941). Eine Biographie. Düsseldorf 2007. 45 Karlheinz Lipp, Die Friedensnobelpreise 1926 und 1927, in: Wissenschaft und Frieden 4, 2011, 41–43. 46 Almut Lindner-Wirsching, Französische Schriftsteller und ihre Nation im Ersten Weltkrieg. Tübingen 2004.
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Die friedenspädagogischen Bemühungen schienen nach 1918 durch die Weimarer Reichsverfassung gestärkt zu werden. So lautete der Artikel 148, Absatz 1: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben.“ Die pädagogische Realität sah jedoch völlig anders aus. Längst war die Novemberrevolution steckengeblieben. Der Kaiser ging, aber die nationalistisch-militaristischen Lehrkräfte mit ihren innen- und außenpolitischen Feindbildern blieben. Pazifistische, liberale und sozialistische Lehrerinnen und Lehrer stellten eine Minderheit dar. Die überwiegend veralteten Methoden sowie die Inhalte und Schulbücher aus dem Kaiserreich lebten weiter. Seminarleitungen und Schulverwaltungen wurden nach 1918 nicht ausgetauscht. Gleichwohl arbeiteten friedenspädagogisch interessierte und engagierte Menschen für eine Friedenskultur in der Weimarer Republik.47
47 Armin Bernhard/Jürgen Eierdanz (Hrsg.), Der Bund der Entschiedenen Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik. Frankfurt am Main 1991; Edelgard Spaude-Schulze, Macht das Maul auf! Kinder- und Jugendliteratur gegen den Krieg in der Weimarer Republik. Würzburg 1990; Karlheinz Lipp, Unbekannt, vergessen und verdrängt: Friedenserziehung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Bernhard Nolz/Wolfgang Popp (Hrsg.), Erinnerungsarbeit. Grundlage einer Kultur des Friedens. Münster 2000, 157–172.
DIE VERFASSUNGSFEIER DES REICHSBANNERS SCHWARZ-ROT-GOLD AUF DEM HAMBACHER SCHLOSS AM 8. UND 9. AUGUST 1925 Jörg Kreutz
Herrn Dr. Joachim Kermann gewidmet aus Anlass seines 75. Geburtstags am 18. Januar 2017
I. EINFÜHRUNG* Die am 8. und 9. August 1925 im Neustadter Saalbau und auf dem Hambacher Schloss veranstaltete Verfassungsfeier des im Oktober 1924 gegründeten pfälzischen Gaus des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold – Bund der republikanischen Kriegsteilnehmer e.V.“ markiert die eigentliche Geburtsstunde der von SPD, Zentrum und DDP getragenen, republikanischen Schutzorganisation in der Pfalz.1 Zwar hatten bis dahin die vergleichsweise wenigen pfälzischen Reichsbannerortsgruppen auf lokaler Ebene verschiedene kleinere Aktivitäten und Versammlungen zugunsten des am 22. Februar 1924 in Magdeburg auf Initiative des sozialdemokratischen Oberpräsidenten Otto Hörsing gegen rechte und linke Feinde der Wei-
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Überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Druckfassung meines am 17. Februar 2016 bei der „Hambach-Gesellschaft“ und der „Gesellschaft zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung“ in Neustadt an der Weinstraße gehaltenen Vortrags. Er basiert auf meinem in der Festschrift zum 90-jährigen Jubiläum der „Pfälzische[n] Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V.“ 2015 erschienenen Aufsatz (wie Anm. 1). Vgl. zur Gründungsgeschichte des pfälzischen Reichsbanners Jörg Kreutz, Die Verfassungsfeier des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold auf dem Hambacher Schloss am 8. und 9. August 1925. Zur Gründungsgeschichte des Reichsbanners in der Pfalz, in: Peter Diehl/Andreas Imhoff/Lenelotte Möller (Hrsg.), Wissensgesellschaft Pfalz. 90 Jahre Pfälzische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. (Pfälzische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Schriftenreihe, Band 116.) Ubstadt-Weiher u. a. 2015, 277–288; Jörg Kreutz, „Die Fahne der Republik ist Schwarz-Rot-Gold“. Die Anfänge des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in der Rhein-Neckar-Region (1924–1927), in: Martin Krauß/Ulrich Nieß (Hrsg.), Stadt, Land, Heimat. Beiträge zur Geschichte der Metropolregion im Industriezeitalter. Ubstadt-Weiher u. a. 2011, 239–268 (bes. 255–259, mit weiteren Literatur- und Quellenangaben). Vgl. auch Alexander Kraft, Die pfälzische Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. (Mannheimer historische Schriften, Band 9.) Ubstadt-Weiher u. a. 2014, 180–189; Andreas Marquet, Friedrich Wilhelm Wagner. 1894–1971. Eine politische Biografie. (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Band 100.) Bonn 2015, 66–76.
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marer Republik ins Leben gerufenen überparteilichen Schutzbundes durchgeführt.2 Aber die Hambacher Verfassungsfeier am 6. Jahrestag der am 11. August 1919 verabschiedeten Weimarer Reichsverfassung, bei der mehr als 10 000 Teilnehmer ihr Bekenntnis zur jungen Demokratie ablegten, war die erste große politische Machtdemonstration des pfälzischen Reichsbanners. Mit dem Festbankett im Saalbau und dem Aufmarsch zur Schlossbeleuchtung am Samstagabend sowie der Ehrung der Gefallenen, der schwarz-rot-goldenen Marschkolonne zur Massenkundgebung mit prominenten Rednern auf dem Hambacher Schloss und dem abschließenden Volksfest im Schöntal am Sonntag bot das Wochenende beispielhaft das gesamte Repertoire der Festkultur des Reichsbanners und trug entscheidend dazu bei, die Attraktivität des republikanischen Kriegsveteranenbundes in der Pfalz zu stärken. Fortan wirkte das Reichsbanner auch hier als Gegengewicht zu monarchistischen, antidemokratischen und nationalistischen Verbänden und Wehrgruppen, die sich – wie der „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ – nach wie vor unter der alten „schwarz-weiß-roten“ Reichsflagge versammelten und stellte sich als Saalschutz für die Veranstaltungen der Parteien der Weimarer Koalition zur Verfügung. Die Historiker – allen voran Erich Schneider3 – haben die Verfassungsfeier vom August 1925 zwar wiederholt im Kontext der Erinnerungskultur um das Hambacher Fest gewürdigt und im Vergleich mit den anderen Hambacher Ge-
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Vgl. zur allgemeinen Geschichte des Reichsbanners grundlegend Karl Rohe, Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfbünde zur Zeit der Weimarer Republik. (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus, Band 34.) Düsseldorf 1966; Helga Gotschlich, Zwischen Kampf und Kapitulation. Zur Geschichte des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Berlin (Ost) 1987; Landtag von Sachsen-Anhalt (Hrsg.), 75 Jahre Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Dokumentation zur Ausstellung „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ anläßlich des 75. Gründungsjubiläums vom 24. Februar bis 16. April 1999 im Landtag von Sachsen-Anhalt. (Parlamentarische Schriftenreihe, Heft 14.) Magdeburg 1999; Carsten Voigt, Kampfbünde der Arbeiterbewegung. Das Reichsbanner SchwarzRot-Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen 1924–1933 (Geschichte und Politik in Sachsen, Band 26.) Köln u. a. 2009; Benjamin Ziemann, Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. (Friedrich-Ebert-Stiftung – Archiv der sozialen Demokratie, Gesprächskreis Geschichte, Heft 91.) Bonn 2011; Marcel Böhles, Im Gleichschritt für die Republik. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Südwesten, 1924 bis 1933. (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen, Band 62.) Essen 2016. Vgl. Erich Schneider, Sozialdemokratie und Hambacher Fest, in: Willy Rothley/Manfred Geis (Hrsg.), Schon pflanzen sie frech die Freiheitsbäume. 150 Jahre Hambacher Fest. Neustadt an der Weinstraße 1982, 297–374 (bes. 336–338); Erich Schneider, Erinnerungen an die badisch-pfälzische Revolution und die Pflege der 1848/49er Tradition zwischen der Reichsgründung und dem Ende der Weimarer Republik, in: Arbeitskreis der Archive im RheinNeckar-Dreieck (Hrsg.), Der Rhein-Neckar-Raum und die Revolution von 1848/49. Revolutionäre und ihre Gegenspieler. Ubstadt-Weiher u. a. 1998, 327–349; Erich Schneider, Pfälzische Sozialdemokratie und die 1848/49er Tradition vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, in: Manfred Geis/Gerhard Nestler (Hrsg.), Die pfälzische Sozialdemokratie. Beiträge zu ihrer Geschichte von den Anfängen bis 1948/49. Edenkoben 1999, 15–39 (bes. 26–29).
Die Verfassungsfeier des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold
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denkfeiern in der Zeit der Weimarer Republik eingeordnet4; eine detaillierte Einzelstudie sowohl der Vor- und Verlaufsgeschichte des Hambacher Festwochenendes als auch der damit verbundenen Aktivitäten der erst am 28. Februar 1925 gegründeten Neustadter Ortsgruppe, die binnen weniger Wochen mit dem Gauvorstand in Ludwigshafen die Großveranstaltung zu organisieren hatte, fehlte bislang jedoch und wurde erst unlängst vom Verfasser vorgelegt.5 Dabei konnte er sich einerseits auf neu herangezogene Quellen – wie das überlieferte Protokollbuch der Neustadter Ortsgruppe des Reichsbanners – und andererseits auf eine systematische Auswertung der wichtigsten pfälzischen Zeitungen stützen.6 Auf diese Weise lassen sich sowohl präzisere Einblicke in die Aufbauphase und in die frühe Organisationsstruktur des pfälzischen Reichsbanners als auch hinsichtlich der politischen Zusammensetzung seiner Ortsgruppen gewinnen. Auf der breiten Grundlage der (parteiübergreifenden) Presseberichterstattung ist es darüber hinaus möglich, den Ablauf der beiden Tage und die Reden der politischen Protagonisten, deren Wortlaut nirgends überliefert ist, noch eingehender zu rekonstruieren.7 Ungeachtet der politischen Ausrichtung der jeweiligen Redaktionen liefern gerade die vielschichtige Berichterstattung und Kommentierung vor und nach dem Festwochenende weitere wichtige Einzelaspekte, die ein noch klareres Bild von der
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Vgl. daneben auch Klaus-Peter Westrich, Hambacher Schloß – Hambacher Fest. Geschichte und Ideen, in: Stadt Neustadt an der Weinstraße (Hrsg.), Neustadt an der Weinstraße. Beiträge zur Geschichte einer pfälzischen Stadt. Neustadt an der Weinstraße 1975, 399–415 (bes. 410 f.); Anton Maria Keim/Helmut Mathy, Hambach 1832–1982. Ereignis – Grundwerte – Perspektiven. Mainz 1982, bes. III. Perspektiven: Freiheitliches Erbe zwischen Anspruch und Wirklichkeit, 300–443; Dieter Schiffmann, Das Hambacher Fest – Ein deutscher Erinnerungsort. Die Nachgeschichte des Hambacher Fests im Spannungsfeld von kollektivem Gedächtnis und Geschichtspolitik, in: Joachim Kermann/Gerhard Nestler/Dieter Schiffmann (Hrsg.), Freiheit, Einheit und Europa. Das Hambacher Fest von 1832. Ursachen, Ziele, Wirkungen. Ludwigshafen am Rhein 2006, 333–386 (bes. 354–362); Wilhelm Kreutz, Hambach 1832. Deutsches Freiheitsfest und Vorbote des europäischen Völkerfrühlings. 2. Aufl. Mainz 2007, 58–60. Vgl. Kreutz, Verfassungsfeier (wie Anm. 1). Vgl. Stadtarchiv Neustadt (nachfolgend zitiert: STANW), A 5631: Protokollbuch der Reichsbannerortsgruppe Neustadt. Vgl. auch Stadtarchiv Ludwigshafen, Fotosammlung. Für diesen Beitrag wurden insgesamt achtzehn pfälzische, darunter die zwölf auflagenstärksten Zeitungen im Zeitraum Juli und August 1925 näher untersucht. Vgl. auch Anm. 7 und 54. Vgl. zur pfälzischen Presse grundlegend Stephan Pieroth, Parteien und Presse in RheinlandPfalz 1945–1971. Ein Beitrag zur Mediengeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Mainzer SPD-Zeitung „Die Freiheit“. (Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Band 18.) Mainz 1994; Stefan Mörz, Vom Westboten zur Rheinpfalz. Die Geschichte der Presse im Raum Ludwigshafen von den Anfängen bis zur Gegenwart (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Ludwigshafen, Band 19.) Ludwigshafen 1994, 67–106; Stephan Pieroth, Sozialdemokratische Presse 1918–1933, in: Geis/Nestler (Hrsg.), Die pfälzische Sozialdemokratie (wie Anm. 3), 416–424; Karl Waldkirch, 1870–1970. 100 Jahre Waldkirch Ludwigshafen/Rhein. Ludwigshafen/Rhein 1971.
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„performativen Kraft“8 der Hambacher Verfassungsfeier geben; denn sie darf nicht nur als singuläres Ereignis gesehen werden, sondern als Teil der umfassenden Strategie des Reichsbanners, den Verfassungstag, also den 11. August, im Bewusstsein der Bevölkerung als neuen ‚Nationalfeiertag‘ zu verankern, wie die vielen Veranstaltungen in den anderen Gauen und in Berlin unterstreichen.9 In meinem Aufsatz, den ich in vier Abschnitte gegliedert habe, möchte ich dies näher darlegen. Zunächst gehe ich dabei auf die im Vergleich mit anderen Regionen deutlich später einsetzende Gründungsphase des pfälzischen Reichsbanners ein. Anschließend werde ich die Vorbereitungen für die Verfassungsfeier durch den Gauvorstand und die Neustadter Ortsgruppe in den Blick nehmen. Im folgenden Abschnitt möchte ich dann den Verlauf des Festwochenendes rekonstruieren. Und abschließend versuche ich, die Auswirkungen der Verfassungsfeier zu beleuchten und einen skizzenhaften Ausblick auf die nachfolgende Entwicklung des Reichsbanners in der Pfalz zu geben.
II. GRÜNDUNGSPHASE Im Gegensatz zu Baden oder Franken, wo sich bereits Ende Mai in Mannheim und Ende Juni 1924 in Nürnberg regionale Gauvorstände des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold konstituiert hatten, verzögerte sich der organisatorische Aufbau des Kriegsteilnehmerbundes in der Pfalz nicht zuletzt infolge der französischen Besetzung und des Scheiterns der separatistischen Bestrebungen sowie angesichts der sich erst seit Februar 1924 langsam wieder normalisierenden Verhältnisse. Auch wenn das Reichsbanner seit Sommer 1924 reichsweit einen regelrechten Mitgliederboom erlebte und binnen Jahresfrist zu einer Massenorganisation aufstieg – am Jahrestag der Gründung, dem so genannten „Tag der Hunderttausend“ in Magdeburg am 22. Februar 1925, verkündete der Vorsitzende Otto Hörsing, dass das Reichsbanner schon drei Millionen Mitglieder habe10 – so hielt sich die Begeisterung in der Pfalz, wo sich erst im Oktober ein Gauvorstand gebildet hatte, vor allem in den ländlichen Regionen zunächst noch in Grenzen. Gleichwohl beobachtete die bayerische Staatsregierung unter Ministerpräsident Held argwöhnisch die Gründungswelle des Reichsbanners und schloss angesichts der Expansion des Verbands in Franken und der Aktivitäten der im Juli gegründe8
Die aktuelle zeitgeschichtliche Forschung zur Weimarer Republik richtet gerade auf diesen Aspekt ein besonderes Augenmerk. Vgl. stellvertretend Benjamin Ziemann, Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933. Bonn 2014, 12 u. ö. 9 Das Reichbanner, Beilage zu Nr. 16, 15.08.1925: Die Verfassungsfeiern im Reiche; Manuela Achilles, With a Passion for Reason: Celebrating the Constitution in Weimar Germany, in: Central European History 43, 2010, 666–689. 10 Die neuere Forschung hat die von der Reichsbannerführung Mitte der 1920er Jahre propagandistisch überhöhten Mitgliederzahlen in der Zwischenzeit relativiert. Sie geht demgegenüber vielmehr von einem Mitgliederhöchststand von rund einer Million aus. Vgl. Ziemann, Zukunft der Republik (wie Anm. 2), 16–18.
Die Verfassungsfeier des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold
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ten Münchner Ortsgruppe noch im August ein Verbot dieser neuen (para-) militärischen Organisation nicht aus.11 Ausgangspunkt für die Gründung eines pfälzischen Gaus war der „Republikanische Tag“ von Mannheim am 27. und 28. September 1924, zu dem die badische Gauleitung mehr als 10 000 Reichsbannerunterstützer – auch aus der linksrheinischen Pfalz – in der Quadratestadt zur Einweihung des Denkmals für den im Ersten Weltkrieg gefallenen sozialdemokratischen Mannheimer Reichstagabgeordneten Ludwig Frank begrüßen konnte.12 Der imposante Aufmarsch auf dem badischen Gaufest stellte den ersten großen Machtbeweis des Reichsbanners in Südwestdeutschland dar, von dem eine große Strahlkraft ausging, wie die Gründung von vielen neuen Ortsgruppen dokumentiert. Der „Republikanische Tag“ von Mannheim war zugleich der „Geburtstag des Gaues Pfalz“, wie es in einem Artikel der „Pfälzischen Post“ vom 9. Juli 1927 heißt.13 Knapp zwei Wochen später konstituierte sich am 9. Oktober in Ludwigshafen ein provisorischer siebenköpfiger Gauvorstand, dem unter dem Vorsitz des DDPLandtagsabgeordneten und einflussreichen Synodalpräsidenten der Pfälzischen Landeskirche, Justizrat Dr. Richard Müller14, und seines Stellvertreters, dem Ludwigshafener Rechtsanwalt Friedrich Wilhelm Wagner von der SPD15, Vertreter von insgesamt vier Parteien – SPD, Zentrum, DDP und Republikanische Partei – angehörten. Am 15. Oktober folgte bei der ersten großen Versammlung im „Bayerischen Hiesl“ in Ludwigshafen schließlich der formale Gründungsakt des pfälzischen Gaus. Er war gleichzeitig verbunden mit der Gründung der Ortsgruppe Ludwigshafen unter dem Vorsitz des SPD-Arbeitersekretärs Andreas Hub, der
11 Vgl. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (nachfolgend zitiert: HSTAM), MA 100421: Protokollauszug Kabinettssitzung vom 09.08.1924. Zur Geschichte des Reichsbanners in München vgl. Günther Gerstenberg, Sozialdemokratischer Selbstschutz im München der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. 2 Bände. München 1997. 12 Vgl. nachfolgend mit entsprechenden Nachweisen Kreutz, Die Fahne der Republik (wie Anm. 1) und Böhles, Im Gleichschritt (wie Anm. 2), 46–48. 13 Vgl. Pfälzische Post 09.07.1927: Zum 3. Pfälzer Republikanertag am 10. Juli 1927 in Kaiserslautern. Drei Jahre Reichsbanner in der Pfalz. 14 Gelegentlich seit den 1920er Jahren und schließlich offiziell amtlich ab 1937 nahm Richard Müller (1873–1961), um Namensverwechslungen zu vermeiden, als Zusatznamen den Mädchennamen seiner Mutter beziehungsweise Namen seiner Großmutter an und nannte sich „Müller-Mattil“. Vgl. zu seiner Biographie Friedhelm Borggrefe, Erster Justitiar Ludwigshafens, „Linksrat“ und Synodalpräsident. Dr. Richard Müller-Mattil (1873–1961), in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und Religiöse Volkskunde 72, 2005, 109–134; Friedhelm Borggrefe, Dr. Richard Müller-Mattil (1873–1961). Synodalpräsident 1921–1932, in: Friedhelm Hans/Gabriele Stüber (Hrsg.), Pfälzische Kirchen- und Synodalpräsidenten seit 1920. (Veröffentlichung des Vereins für Pfälzische Kirchengeschichte, Band 27.) Karlsruhe 2008, 258–273; Friedhelm Borggrefe, (Art.) Müller-Mattil, Richard Dr. jur., in: Christoph Picker/Gabriele Stüber/Klaus Blümlein/Frank-Matthias Hoffmann (Hrsg.), Protestanten ohne Protest. Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus, Band 2: Kurzbiographien. Speyer/Leipzig 2016, 762–764. 15 Vgl. zur Biographie Wagners jetzt grundlegend Marquet, Wagner (wie Anm. 1).
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ersten rund 200 Mann umfassenden lokalen Reichsbannerorganisation in der Pfalz, deren Mitglieder sich zum Teil schon im Sommer dem im Mai 1924 entstandenen Mannheimer Ortsverein angeschlossen hatten. Unverkennbar war die von Anfang an enge Kooperation der pfälzischen Gauleitung, die in der Ludwigshafener Von-der-Tannstraße 18 ihren Sitz hatte, mit dem badischen Gauvorstand in Mannheim, der den organisatorischen Aufbau im Linksrheinischen tatkräftig unterstützte. Diese enge wechselseitige Verbindung über den Rhein sollte bis zum Verbot der Organisation im März 1933 und noch darüber hinaus bestehen bleiben. Ebenso gab es lose Kontakte zum fränkischen Reichsbanner nach Nürnberg, direkte Verbindungen von Ludwigshafen nach München bestanden dagegen nicht. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des pfälzischen Protestantenvereins und aktiven Weltkriegsoffizier, Dr. Richard Müller(-Mattil), und dem jungen Ludwigshafener Rechtsanwalt Friedrich Wilhelm Wagner fiel zum Jahresbeginn 1925 vor allem dem vom Bundesvorstand zum neuen hauptamtlichen Generalsekretär des pfälzischen Gaus bestellten Adolf Schumacher die Aufgabe zu, das Reichsbanner in der Pfalz zu etablieren. Neben Ludwigshafen verfügte es zum Jahresende nur noch in Pirmasens, der Geburtsstadt des 2. Bundesvorsitzenden Karl Höltermann, über eine zweite Ortsgruppe, die sich am 1. Dezember konstituiert hatte. Erst nach und nach gelang es dem Vorstand, in den folgenden Wochen Fuß zu fassen. Im April 1925 bestanden sieben Ortsgruppen, wie aus einem französischen Überwachungsbericht hervorgeht, der von insgesamt rund 2 000 Mitgliedern in der Pfalz ausgeht. Neben Ludwigshafen und Pirmasens existierten in Speyer (6. Februar), Neustadt (28. Februar), Frankenthal (1. März), Edenkoben und Landau weitere Ortsvereine. Weitere Ortsgruppen – so der Bericht vom 7. April – seien in Kaiserslautern, Zweibrücken, Bad Dürkheim, Oggersheim und Grünstadt im Entstehen begriffen.16 Festzuhalten ist, dass ebenso wie bei der Zusammensetzung des Gauvorstands auch die lokalen Vorstände nach dem von der Magdeburger Bundesleitung vorgegebenen Grundsatz, dass alle drei Weimarer Parteien darin vertreten sein sollten, gebildet wurden, um somit auch dem Eindruck entgegenzuwirken, dass das Reichsbanner nur eine von Sozialdemokraten dominierte Organisation sei. Neben den äußeren politischen Umständen wurde die Gründungsphase auch durch das komplizierte Binnenverhältnis der Vertreter des politischen Katholizismus in der Pfalz, der „Zentrumspartei“ und der „Bayerischen Volkspartei“ (BVP), die bei den Reichstagswahlen im Mai und Dezember 1924 gegeneinander angetre-
16 Vgl. Archives Nationales Paris (nachfolgend zitiert: ANP), AJ 9/5640: Bericht HCI vom 07.04.1925 nach Paris. (Für die Zurverfügungstellung dieser wichtigen Quellen der „Haute Commission interalliée des territoires rhénans (Papiers Tirard)“ aus den „Archives Nationales“ danke ich herzlich Gerhard Nestler, Frankenthal). Tatsächlich wurde der formelle Gründungsakt der Landauer Ortsgruppe, die im März 1925 unter sozialdemokratischer Führung begriffen war, aufgrund der abwartenden Haltung des Zentrums erst nach wiederholten Anläufen im Januar bzw. Juni 1926 vollzogen. Vgl. Kreutz, Die Fahne der Republik (wie Anm. 1), 256.
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ten waren, beeinflusst.17 Während die (vom Speyerer Bischof Ludwig Sebastian unterstützte) BVP, die in der West- und Südpfalz stärkeren Rückhalt hatte, die vermeintlich ‚sozialistische‘ Organisation schroff ablehnte – bezeichnend war die Unterstützung des Kandidaten Paul von Hindenburg beim zweiten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl anstelle des vom Reichsbanner beziehungsweise Volksblock unterstützten Zentrummannes Wilhelm Marx –, war die Haltung des pfälzischen Zentrums gegenüber dem Reichsbanner uneinheitlich. So bekannte sich der Ludwigshafener Zentrumsmann, der Reichstagsabgeordnete und BVP-Abweichler Hermann Hofmann, der gerade in der katholischen Arbeiterschaft der Vorderpfalz und mit der von Albert Finck18 in Ludwigshafen redigierten „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ über einen großen Rückhalt verfügte, offen zum Reichsbanner und trat wiederholt als Redner in Erscheinung. Demgegenüber verhielten sich andere – wie das Landauer „Zentrum“, so die Aufzeichnungen von Gustav Wolff – zunächst abwartend oder wie der Vorsitzende des pfälzischen Zentrums, der Deidesheimer Bürgermeister Dr. Arnold Siben, ablehnend.19 Exemplarisch wird diese uneinheitliche, in der Mehrheit jedoch eher ablehnende Haltung durch die Mitglieder des Neustadter Zentrums widergespiegelt. Friseurmeister Johann Fuhrmann, der seit der Konstituierung der Ortsgruppe am 28. Februar als Beisitzer im Vorstand fungierte, kritisierte in einer Parteiversammlung am 17. März offen die geringe Akzeptanz des Schutzbundes bei seinen Parteifreunden und machte sein weiteres Engagement im Reichsbanner von deren Unterstützung abhängig, wie ein französischer Bericht vom 20. März belegt.20 Das erste größere Ereignis in dieser frühen Phase stellte das Ludwigshafener Reichsbannerfest mit dem Nürnberger Oberbürgermeister Hermann Luppe als Festredner am 17. März 1925 dar, zwei Wochen vor der Reichspräsidentenwahl
17 Vgl. Mathias Hüther, Die Geschichte der deutschen Zentrumspartei und der Bayerischen Volkspartei in Ludwighafen am Rhein. Versuch einer Rekonstruktion anhand der Artikel der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ (1922–1929) und ergänzender Dokumente, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 105, 2007, 335–357; Ernst Otto Bräunche, Die politischen Lager der Pfalz, ihre Parteien und ihr Wähler, in: Gerhard Nestler/Stefan Schaupp/ Hannes Ziegler (Hrsg.), Vom Scheitern der Demokratie. Die Pfalz am Ende der Weimarer Republik. Leinfelden-Echterdingen 2010, 173–198; Gerhard Nestler, Die pfälzische Zentrumspartei in den Jahren 1930–1933, in: ebd., 263–298; Gerhard Nestler, Die Organisation der Bayerischen Volkspartei in der Pfalz 1919 bis 1922. Ein kleiner Beitrag zur pfälzischen Parteiengeschichte in der Weimarer Republik, in: Kaiserslauterer Jahrbuch für Pfälzische Geschichte und Volkskunde 12, 2012, 353–366. 18 Vgl. Theo Schwarzmüller, Albert Finck und die Nationalhymne. Eine Lebensreise vom Kaiserreich zur Bundesrepublik. Annweiler 2002. 19 Vgl. Bericht Wolffs über das Fernbleiben Sibens bei der Verfassungsfeier (wie Anm. 47). Vgl. zu Siben auch Stephan Ph. Wolf, Kein Kornfeld auf der flachen Hand. Deidesheim in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, in: Kurt Andermann/Berthold Schnabel (Hrsg.), Deidesheim. Beiträge zu Geschichte und Kultur einer Stadt im Wandel. Sigmaringen 1995, 269–298. 20 Vgl. Protokollbuch (wie Anm. 6) und ANP, AJ 9/5640: Bericht vom 02.03.1925 (De Metz an Tirard).
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am 29. März, das ganz im Zeichen des Gedenkens an die Märzgefallenen vom 18. März 1848 stand, die – so das ‚neue‘ Geschichtsverständnis des Reichsbanners – als Märtyrer der nationalen und demokratischen Geschichte zu Vorbildern für das eigene Eintreten zum Schutz der Republik avancierten. Eigens waren rund 1 000 Reichskameraden von Mannheim aus geschlossen mit einer Musikkapelle – ohne von den französischen Behörden behindert zu werden – über die Rheinbrücke nach Ludwigshafen marschiert und verliehen der Versammlung besondere Aufmerksamkeit.21
III. VORBEREITUNG DER VERFASSUNGSFEIER In Kontext dieses organisatorischen Neuaufbaus muss auch die Ausrichtung des ersten großen regionalen Republikanertages in der Pfalz gesehen werden, den der Gauvorstand an historischer Stätte auf dem Hambacher Schloss plante. Der genaue Zeitpunkt, wann dieser Entschluss für diese „Vaterländische Gedenk-Feier am Verfassungstag“ gefasst wurde, ist nicht bekannt.22 Am 10. Mai 1925 erschien in der (liberalen) „Pfälzische[n] Volkszeitung“ eine Anzeige des die Gründung der Kaiserlauterer Ortsgruppe vorbereitenden Ausschusses, in dem dieser schon auf das im August bevorstehende Gaufest in Hambach hinwies, an dem möglichst viele Kameraden aus der Barbarossastadt teilnehmen sollten.23 Mit der Erinnerung an die Hambacher Volksversammlung von 1832 griff das Reichsbanner damit direkt auf das politische Erbe des Vormärz’ und der deutschen Revolution zurück und stellte sich – wie bei vielen anderen Veranstaltungen im Reich – demonstrativ in deren unmittelbare Tradition und Nachfolge. Unverkennbar ist dabei der legitimatorisch-symbolische Charakter: Denn an keiner anderen Stätte als auf dem Hambacher Schloss konnte der republikanische, schwarz-rot-goldene Aufbruch in der Pfalz und das (nationale) Bekenntnis zur Verfassung vom 11. August 1919 besser beschworen und zugleich effektiv Werbung für das Reichsbanner gemacht werden. Der Organisationsaufwand war angesichts des Zeitdrucks enorm. Die Gauleitung nutzte dabei alle ihr zur Verfügung stehenden Werbemittel. So ließ sie einerseits ein repräsentatives Plakat drucken, mit dem sie in der gesamten Pfalz die Veranstaltungen am 8. und 9. August bewarb. An ihrer politischen Haltung ließ 21 Vgl. Kreisarchiv Rhein-Neckar-Kreis (nachfolgend zitiert: KARNK), Abt. 20, Nachlass Gärtner 1925/17: Schreiben der Ortsgruppe Ludwigshafen, 09.03.1925. Vgl. auch Pfälzische Post Nr. 65, 18.03.1925 und Das Reichbanner Nr. 7, 01.04.1925. Vgl. zum Geschichtsverständnis des Reichsbanners allgemein Rohe, Reichsbanner (wie Anm. 2); Eric Bryden: Heroes and Martyrs of the Republic. Reichsbanner Geschichtspolitik in Weimar Germany, in: Central European History 43, 2010, 639–655 und Ziemann, Die Zukunft der Republik (wie Anm. 2). 22 So die ersten Ankündigungen unter anderem in: Pfälzische Volkszeitung Nr. 214, 04.08.1925; Pfälzische Bürgerzeitung Nr. 166, 20.07.1925; ebd. Nr. 167, 21.07.1925; ebd. Nr. 173, 28.07.1925; ebd. Nr. 174, 29.07.1925; ebd. Nr. 178, 03.08.1925; ebd. Nr. 181, 06.08.1925. 23 Vgl. Pfälzische Volkszeitung Nr. 129, 10.05.1925.
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sie dabei keine Zweifel aufkommen wie die kämpferisch-pathetische Losung unterstreicht: „Republikaner! Erscheint in Massen! Zeigt der monarchistischen Reaktion, daß ihr auf dem Posten seid! Auf zum Hambacher Schloß, dem Zeugen deutscher Sehnsucht nach Einheit und Freiheit!“24
Zudem verschickte die Gauleitung am 1. Juli ein Rundschreiben mit Fragebogen an die Ortsgruppen in der Pfalz, Hessen und Baden und lud dazu ein, „in Neustadt und am Hambacher Schloß, der Perle in der fröhlichen Pfalz, eine große Verfassungsfeier mit Bannerweihen“ zu begehen.25 Man bat darum, mitzuteilen, in welcher Stärke die jeweiligen Ortsgruppen anreisen wollten und ob sie in Neustadt Übernachtungsmöglichkeiten benötigten. Gleichfalls fragten die Organisatoren ab, wie viele Fahnen und gegebenenfalls auch welche historischen Fahnen des 19. Jahrhunderts die Ortsvereine mitzubringen gedachten. Das Einladungsschreiben deutet freilich nur indirekt an, dass die Schlossruine der Maxburg, die sich im Besitz des Wittelsbacher Ausgleichsfonds befand, für die Veranstaltung selbst nicht zur Verfügung stand, da man in München die Freigabe aus politischen Gründen verweigert hatte.26 Jedoch beeinträchtigte diese Entscheidung weder die Vorbereitungen noch entzog sie dem politischen Erinnerungsort, dem „Zeugen deutscher Sehnsucht nach Einheit und Freiheit“, seine enorme symbolische Anziehungskraft. Der Neustadter Festausschuss27 unter der Leitung des 1. Vorsitzenden Johann Osterbrink (DDP, Besitzer einer Badeanstalt in der Landauer Straße) und seine verschiedenen Unterausschüsse kümmerten sich um die logistisch-technischen und finanziellen Vorkehrungen vor Ort und klärten mit der Stadtverwaltung die Unterbringung auswärtiger Teilnehmer, für die in zwei Schulen kostenlose Schlafquartiere organisiert wurden. Parallel dazu schaltete der Gauvorstand seit Anfang Juli vor allem in den beiden sozialdemokratischen Tageszeitungen, der in Ludwigshafen erscheinenden „Pfälzische[n] Post“ und der in Kaiserslautern verlegten „Pfälzische[n] Freie[n] Presse“, wiederholt Werbeanzeigen, die durch weitere Artikel redaktionell ‚unterstützt‘ wurden. Auf diese Weise hoffte er, die dem Reichsbanner eng verbundenen SPD-Mitglieder in der Pfalz zu mobilisieren. Mehrere Male erschien der gleiche Artikel „Hambacher Fest 1925!“, der das Programm für das Wochenende vorstellte, und mit dem Appell „Am 9. August auf
24 Vgl. Abdruck des Plakats in: Kreutz, Hambach 1832 (wie Anm. 4), 58 und Keim/Mathy, Hambach 1832–1982 (wie Anm. 4), 377. Das Plakat wurde im Verlag „Gerisch & Cie OHG“ gedruckt. Hier erschien auch die „Pfälzische Post“. Vgl. Pieroth, Parteien und Presse (wie Anm. 7), 416. Im Landeshauptarchiv Koblenz (nachfolgend zitiert: LHAK) ist ein Originalplakat überliefert: LHAK 700/145, Sachakte 269/2. 25 KARNK, Abt. 20, Nachlass Gärtner 1925/63: Einladungsrundschreiben an Ortsgruppe Ladenburg, Ludwigshafen, 01.07.1925. 26 Vgl. Westrich, Hambacher Schloß (wie Anm. 4), 411. 27 Zur Zusammensetzung des Festausschusses und der Unterausschüsse vgl. Protokollbuch (wie Anm. 6).
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das Hambacher Schloß!“ endete. Im Rekurs auf das Erbe von Hambach wurde dabei zudem allen Gefolgsleuten noch einmal die republikanische Pflichtaufgabe nähergebracht, für die 1919 errungene Freiheit einzutreten: „Wir weilen einige Stunden auf historischem Boden. Die Ruinen sind Zeugen der Freiheitskämpfe unserer Vorfahren. Wie die Vorkämpfer für die Freiheit im Jahre 1832 demonstrierend auf das Hambacher Schloß gezogen sind, so müssen auch wir in Massen hinaufziehen, um unseren Gegnern zu zeigen, daß wir die erkämpfte Freiheit zu verteidigen wissen“.28
Ein Blick in den Anzeigenteil der „Pfälzische[n] Post“ und „Pfälzische[n] Freie[n] Presse“, wo die Reichsbannerortsgruppen der Vorder- und Westpfalz ihre Mitglieder im Juli und in der ersten Augustwoche verstärkt zu Versammlungen einluden beziehungsweise zu Zusammenkünften einbestellten, unterstreicht den hohen Grad der Mobilisierung und der politischen Disziplinierung der pfälzischen Reichsbannermitglieder. Die Neustädter Ortsgruppe bediente sich daneben vor allem der lokalen Blätter, um ihre Aktionen rechtzeitig anzukündigen, um zu Besprechungen29 oder wie im Falle der Neustadter Gesangsvereine zur gemeinsamen Gesangsprobe in den Burkhardt’schen Saal einzuladen.30 Der eigens berufene Neustadter Presseausschuss, dem die beiden DDP-Mitglieder Dr. Albert Fischer, politischer Redakteur der (unabhängigen) „Pfälzische[n] Bürgerzeitung“, und Malermeister Rebholz sowie der Gewerkschaftssekretär und vormalige SPD-Landtagsabgeordnete Hermann Hartmann und Dr. Schlesinger vom Zentrum angehörten, erstellte eine Festschrift, die in der Pfälzischen Verlagsanstalt gemeinsam mit einer bebilderten historischen Abhandlung „Neustadt an der Haardt und seine Umgebung“ der Verlegergattin Tilly Liesenberg aufgelegt wurde.31 Neben dem detaillierten Programm für die beiden Tage, das als Festredner (irrtümlich) den Bundespräsidenten Otto Hörsing ankündigte, findet sich ebenso ein pathetischer Aufruf des Kriegsveteranenverbands zur Teilnahme in Hambach, der im Gedenken an die Toten des Weltkrieges den völkerverbindenden Frieden und die Humanität als Grundlagen des „Geist[s] der Zukunft“ bestimmt: „Auf Vorposten deutscher Kultur stehen wir hier im besetzten Gebiet. Schwarz-Rot-Gold sollen unsere Fahnen künden von deutscher Weltenliebe. Wir tragen das Banner der Menschlichkeit. Das sei der Sinn unserer Feier: durch Großdeutschland, wie Deutsche es seit Hunder-
28 Vgl. Pfälzische Freie Presse Nr. 171, 27.07.1925; Pfälzische Post Nr. 152, 03.07.1925; ebd. Nr. 158, 10.07.1925; ebd. Nr. 176, 31.07.1925; ebd. Nr. 179, 04.08.1925; ebd. Nr. 181, 06.08.1925. 29 Vgl. Pfälzische Bürgerzeitung Nr. 176, 31.07.1925; ebd. Nr. 177, 01.08.1925; Stadt- und Dorfanzeiger Nr. 176, 31.07.1925. 30 Vgl. Pfälzische Bürgerzeitung Nr. 167, 23.07.1925; Stadt- und Dorfanzeiger Nr. 180, 05.08.1925. 31 Vgl. Festschrift zur Verfassungs-Feier auf dem Hambacher Schloß am 8. und 9. August 1925. Herausgegeben vom Presse-Ausschuß des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold Ortsgruppe Neustadt an der Haardt. Neustadt 1925. Exemplare der Festschrift sind in der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer (G 31.1106), im LHAK (714/3843) und im STANW (A 4403) überliefert.
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ten von Jahren, so ehren wir die Toten des Weltkrieges, so ehren wir den Geist des Hambacher Schlosses. Nicht ein Fest freundlicher Entspannung zu feiern, nicht um gemeinsam zu jubeln sollt Ihr gekommen sein, bekennen sollt Ihr den Geist der Zukunft!“32
Eine Abhandlung zur „Geschichte des Hambacher Schlosses“ und seiner Bedeutung für die Gegenwart sowie ein Plan aller am Festtag ein- und abgehender Züge rundeten die ansprechend gemachte Broschüre ab, die jedoch nicht unumstritten blieb und im Nachhinein sogar zum Austritt des Redakteurs Fischer aus dem Reichsbanner führte.33 Daneben ließ der Festausschuss zusätzlich Andenkenbecher und Festabzeichen produzieren, die als Souvenirs zum Kauf angeboten werden sollten. Ebenso forderte er die Winzer der Region auf, Probeweine zur Verkostung abzuliefern, da man am Festwochenende „den auswärtigen Gästen ein gutes Glas Pfälzer Wein“ anbieten wolle.34 Dass auch dieser Aspekt der Geselligkeitskultur bei einer Großveranstaltung im Sommer mit dem erwarteten Besucheransturm eine wichtige Rolle spielte, macht deutlich, dass das Reichsbanner – auch vor dem Hintergrund der nach wie vor heftig geführten Debatte über die Einführung eines Nationalfeiertags – den Verfassungstag als Teil der nationalen und republikanischen Feiertagskultur etablieren und zugleich als Festtag mit Volksfestcharakter für alle ‚positiv‘ besetzen beziehungsweise inszenieren wollte.35 Deutlich kommen bei der Planung des Hambacher Wochenendes auch Aspekte der Freizeitkultur der Arbeiterbewegung zum Vorschein, die wiederum auf den hohen Anteil von Sozialdemokraten, die das Gros des Reichbanners stellten, rückschließen lässt.36 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Festwirt Adam Fath, zugleich SPD-Stadtrat, über das Festwochenende bis zum offiziellen Verfassungstag am Dienstag, dem 11. August, ein Festzelt mit einer Kapazität von 5 000 bis 6 000 Personen und ein entsprechendes musikalisches Begleit- und Unterhaltungsprogramm mit Fahrgeschäften auf dem Sportplatz im Schöntal organi-
32 Vgl. Festschrift (wie Anm. 31), 4 f. 33 Vgl. Protokollbuch (wie Anm. 6), Sitzung am 29.08.1925. 34 Vgl. Pfälzische Bürgerzeitung Nr. 157, 09.07.1925; ebd. Nr. 159, 11.07.1925; Stadt- und Dorfanzeiger für Neustadt an der Haardt Nr. 157, 09.07.1925. 35 Anzumerken ist in diesem Kontext, dass Anfang Januar die DVP-Fraktion im Reichstag einen Antrag gestellt hatte, den 18. Januar, den Jahrestag der Reichsgründung von 1871, als Nationalfeiertag einzuführen. Vgl. zu den fortgesetzten Diskussionen im Reichstag Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945. (Europäische Hochschulschriften, Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Band 415.) Frankfurt am Main u. a. 1990; Bernd Buchner, Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik. (Historisches Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Band 57.) Bonn 2001, (hier besonders Kapitel 5: Die untergehende Republik und ihre Festkultur: Verfassungstag und Weimarer Traditionen, 301–360). 36 Vgl. hierzu Ziemann, Zukunft der Republik (wie Anm. 2) und Ziemann, Veteranen (wie Anm. 8).
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sierte, für das er mit Großanzeigen und einem eigens verfassten Festgedicht in den Neustadter Zeitungen warb.37 Für den 19. Juli, drei Wochen vor der Feier, hatte der Gauvorstand, dem mittlerweile neben dem Demokraten Richard Müller und den Sozialdemokraten Wagner, Setzer, Walter und Schumacher mit Josef Schaub, Anzeigenleiter der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ (und nach 1945 Verleger der „Rheinpfalz“), und dem Vorsitzenden des Ludwigshafener Caritas-Verbandes und Mitarbeiter der „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“ Heinz, auch zwei Zentrumsmitglieder als Beisitzer angehörten, die erste pfälzische Gaukonferenz nach Neustadt einberufen, zu der fast alle Ortgruppen Vertreter entsandten.38 Dabei zog die Führung eine Zwischenbilanz über die bisherige Entwicklung. Sekretär Schumacher lobte dabei die Kameraden aus Primasens und Neustadt, welche die am besten organisierten Ortsgruppen hätten.39 Zugleich wollte der Gauvorstand die Ortsvereine aber noch einmal auf gemeinsamen ‚Kurs‘ bringen und die letzten organisatorischen Schritte für die Verfassungsfeier koordinieren. Neben Wagner, der für den verhinderten Müller referierte, wandte sich auch das Bundesvorstandsmitglied, Bundessekretär Rudolf Karbaum, an die Teilnehmer, und bat eindringlich, dem Reichsbanner auch in der Pfalz zum weiteren Aufschwung zu verhelfen. Parallel zur Mobilisierung vieler Reichbannerkameraden erwies sich die verlässliche Programmplanung mit den an diesem Wochenende überall begehrten Festrednern als erhebliches Problem. So fand an diesem Wochenende auch in Frankfurt ein „Großdeutscher republikanischer Volkstag für Süddeutschland“ statt, der vor allem den badischen Gau in Zugzwang brachte, der seine Mitglieder sowohl nach Neustadt als auch nach Frankfurt schickte.40 Denn nach den Vorgaben der Bundeszentrale in Magdeburg, die in allen Gauen Verfassungsfeiern organisierte, sollten alle drei im Reichsbanner vertretenen Parteien mit prominenten Rednern gleichberechtigt zu Wort kommen. Dass diese Redner indessen erst relativ spät feststanden, wird durch die Korrespondenz des Vorsitzenden der Neustadter DDP, Studienprofessor Konrad, angedeutet, der am 4. Juli den badischen Staatspräsidenten Willy Hellpach, seinen prominenten Karlsruher Parteifreund, einlud, in Hambach zu sprechen. Mit der Begründung, dass Hellpach an diesem Tag beim Nürnberger Reichsbannertreffen auftrete, teilte das Staatsministerium allerdings erst spät, am 21. Juli, die Absage mit.41 So überrascht es nicht, dass im Vorfeld auf dem Plakat, in der Festschrift oder in den Zeitungsanzeigen – wohl
37 Vgl. Pfälzische Bürgerzeitung Nr. 182, 07.08.1925; ebd. Nr. 183, 08.08.1925; Stadt- und Dorfanzeiger für Neustadt an der Haardt Nr. 182, 07.08.1925; ebd. Nr. 183, 08.08.1925. 38 Vgl. ANP, AJ 9/5640: Bericht des „Service du Sûreté“ vom 30.06.1925 (mit einem Verzeichnis der Funktionäre der wichtigsten Reichsbannerortsgruppen). 39 Vgl. Pfälzische Post Nr. 169, 23.07.1925; Das Reichsbanner Nr. 15, 01.08.1925. 40 Vgl. KARNK, Abt. 20, Nachlass Gärtner 1925/66: Werbeschreiben der Gauleitung HessenNassau, Frankfurt, 12.07.1925 und Schreiben der badischen Gauleitung an die Ortsgruppe Ladenburg, Mannheim, 03.08.1925. Vgl. auch Das Reichsbanner Nr. 15, 01.08.1925. 41 Vgl. Landesarchiv Baden-Württemberg – Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/25982.
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auch aus reinen Werbegründen – Festredner angekündigt wurden, die für Neustadt gar nicht vorgesehen waren (so zum Beispiel Hörsing, Korell, Breitscheid, Luppe, von Unruh, Reichskanzler a. D. Wirth). In der letzten Woche verstärkte die Neustädter Ortsgruppe noch einmal ihre Aktivitäten. Parallel dazu wurden die Werbekampagnen und Aufrufe ‚kämpferischer‘. Sowohl die „Pfälzische Post“ als auch die „Pfälzische Freie Presse“ warben mehrere Male plakativ auf der Fußzeile der Titelseite mit der bekannten Parole – „Auf zum Hambacher Schloß, dem Zeugen deutscher Sehnsucht nach Einheit und Freiheit!“42 – und erhöhten so den politischen Druck auf ihre Anhänger wie auf ihre Gegner, wie der Aufruf vom 4. August in der „Pfälzischen Post“ unterstreicht: „Republikaner, Kameraden der Pfalz! Auf zur Verfassungsfeier nach dem Hambacher Schloß! Der 9. August wird eine Heerschau der pfälzischen Republikaner werden, ein Aufmarsch der kampfbereiten Verteidiger der republikanischen Verfassung!“43
Auch das Ludwigshafener Zentrumsblatt, die „Neue Pfälzische Landes-Zeitung“, das den politischen Kurs von Hermann Hoffman mittrug, warb engagiert für das Reichsbanner.44 Ebenso griffen auch andere Zeitungen das aktuelle Thema „Verfassungstag“ auf und kamen damit zwangsläufig auf das bevorstehende Wochenende in Hambach zu sprechen.45 Nicht minder hielten demgegenüber die Reichsbanner-Gegner still; vielmehr nahmen sie die „schwarz-rot-goldene“ Verfassungsfeier heftig ins parteipolitische Sperrfeuer. Gerade die BVP-Presse – „Der Rheinpfälzer“46 in Landau und der in Kaiserlautern erscheinende „Pfälzische Volksbote“ (der erbitterte Widersacher der Ludwigshafener „Neuen Pfälzischen Landeszeitung“) – nahm den Auftritt des erst im Mai dem Reichbanner beigetretenen Reichskanzlers a. D. Wilhelm Marx, der auch innerhalb des pfälzischen Zentrums nicht unumstritten war47, zum Anlass, mit ihrem politischen Gegner auf der Linken wie mit ihren (katholischen) Kontrahenten des pfälzischen Zentrums abzurechnen. So charakterisierte der „Volksbote“ das bevorstehende Wochenende für die „Pfälzer Katholiken“ als „[d]as große Aergernis“ und stellte klar, dass „das ‚Hambacher Schloß‘ […] für Veranstaltun-
42 Vgl. Pfälzische Post Nr. 181, 06.08.1925; Pfälzische Freie Presse Nr. 180, 06.08.1925; ebd. Nr. 181, 07.08.1925; ebd. Nr. 182, 08.08.1925. 43 Vgl. Pfälzische Post Nr. 179, 04.08.1925. 44 Vgl. Neue Pfälzische Landes-Zeitung Nr. 180, 05.08.1925; ebd. Nr. 183, 08.08.1925. 45 Vgl. Pfälzische Rundschau Nr. 213, 07.08.1925; ebd. Nr. 214, 08.08.1925; General-Anzeiger Ludwigshafen Nr. 183, 07.08.1925; ebd. Nr. 184, 08.08.1925. 46 Vgl. Der Rheinpfälzer Nr. 183, 08.08.1925. 47 Der Vorsitzende des pfälzischen Zentrums, der Deidesheimer Bürgermeister Dr. Arnold Siben, lehnte die Zusammenarbeit mit dem Reichsbanner ab und blieb trotz der Teilnahme seines prominenten Parteifreundes Marx demonstrativ der Hambacher Verfassungsfeier fern. Vgl. Archiv für Christlich-Demokratische Politik Sankt-Augustin, I-100-64 (Aufzeichnungen von Gustav Wolff vom 8./9.08.1925) und Kreutz, Die Fahne der Republik (wie Anm. 1), 257. (Für diesen Hinweis danke ich herzlich Gerhard Nestler, Frankenthal). Vgl. auch Anm. 19.
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gen, bei denen ausgesprochene Katholiken mitwirkten, bisher [stets] ein gemiedener Ort“ gewesen sei. Zugleich rechtfertigte die Zeitung noch einmal die von der BVP unterstützte Wahl des Protestanten Hindenburg zum Reichspräsidenten im zweiten Wahlgang: „Ein Katholikenführer aktiver Festgenosse jener Fürsten- und Priesterhasser an diesem durch revolutionäre Orgien berüchtigten Orte! […] Da war es wahrhaftig besser, den alten treuen Hindenburg zu wählen, als diesen Katholiken Marx!“
Und weiter beklagte der Bericht, dass „die Hambacher Episode“ „die Kluft im politischen Leben der Katholiken“ (noch mehr) erweitere. „Herr Marx als Werberedner des schwarz-rot-goldenen Reichsbanners, Marx, der demonstrative Republikaner, der Streitrufer gegen die monarchistische Reaktion, der gewesene und anscheinend wieder in Aussicht genommene Kandidat der Linken, dieser Marx als gedachter Führer des gesamten deutschen Katholizismus ist für uns eine politische Unmöglichkeit!“48
Und die nationalkonservative „Speierer Zeitung“ setzte sich mit einem Erlass des preußischen Innenministers Severing auseinander, alle Dienstgebäude in Preußen am Verfassungstag schwarz-rot-gold zu beflaggen, und reklamierte für „das deutsche Volk“ die Beibehaltung der alten Farben schwarz-weiß-rot.49 Nicht ganz unschuldig an dieser aufgeheizten Stimmung, die vor allem die Neustadter Ortsgruppe hektisch agieren ließ, war dabei das Verhalten des Neustadter Stadtrats.50 Die Fraktionsvorsitzenden hatten den Reichsbannerantrag, die städtischen Gebäude an diesem Wochenende offiziell schwarz-rot-gold zu beflaggen, mit der Begründung abgelehnt, dass es sich lediglich um eine Vereinsveranstaltung handle und der Stadtrat anderen Vereinen dadurch für die Zukunft keinen Rechtsanspruch einräumen wolle. Stattdessen sollten die kommunalen Gebäude nur am Verfassungstag, dem 11. August, offiziell beflaggt werden, wie dies auch eine Anordnung der Rheinland-Kommission vorsah.51 Am 3. August wurde hierüber noch einmal im Stadtrat diskutiert, der Antrag wurde jedoch ohne Entscheidung wieder an die Fraktionsvorsitzenden zurückverwiesen, die dann allerdings einen Beschluss des Stadtrats herbeiführen wollten. Die auf neuerlichen Antrag auf den 7. August einberufene Stadtratssitzung geriet indessen zur Farce. Denn infolge des Fernbleibens mehrerer Mitglieder der konservativen Parteien war das städtische Gremium an diesem Freitag beschlussunfähig, sodass eine Entschei-
48 Vgl. Pfälzer Volksbote Nr. 211, 08.08.1925; ebd. Nr. 207, 04.08.1925. 49 Vgl. Speierer Zeitung Nr. 183, 08.08.1925. 50 Vgl. STANW, 4403 und Stadt- und Dorfanzeiger Nr. 179, 04.08.1925; Pfälzische Post Nr. 183, 08.08.1925; General-Anzeiger Ludwigshafen Nr. 184, 08.08.1925. 51 Vgl. HSTAM, MA 100421 und MA 103267; STANW, A 4402 und A 4403. Für den 11. August, den offiziellen Verfassungstag am Dienstag, galt aber die – von der bayerischen Regierung nur missmutig aufgenommene – Anweisung der Rheinland-Kommission, die öffentlichen Gebäude in Reichs- und Landesfarben zu beflaggen. Eine Beflaggung nur in den Landesfarben war verboten. Ausnahmen von dieser Regelung waren nur dort zugelassen, wo überhaupt nur ein Fahnenmast zur Verfügung stand. Hier oblag es dem Amtsvorstand zu entscheiden, welche Flagge aufgezogen werden sollte.
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dung vor dem Wochenende nicht mehr getroffen werden konnte und die städtischen Gebäude somit am Samstag und Sonntag ‚unbeflaggt‘ blieben. Die Empörung in der Reichsbanner-Presse am 8. August über die neuerliche Brüskierung war groß.52 Ungeachtet der ausstehenden Entscheidung des Stadtrats hatte der Festausschuss aber schon seit Beginn der Woche in der lokalen Presse die Einwohnerschaft Neustadts und Hambachs wiederholt aufgefordert, am Festwochenende die Privathäuser mit schwarz-rot-goldenen Flaggen zu schmücken. Die lapidare Losung lautete „Fahnen heraus“.53
IV. VERFASSUNGSFEIER AM FESTWOCHENENDE Den Auftakt zur Verfassungsfeier bildete am 8. August ein Begrüßungsabend im Saalbau. Die in Sonderzügen aus der Pfalz, Hessen und Baden anreisenden Gruppen wurden schon an dem – in Reichs- und (bayerischen) Landesfarben beflaggten – Bahnhofsvorplatz von einem mit schwarz-rot-goldenen Obelisken flankierten Triumphbogen mit der Aufschrift „Willkommen Republikaner“ begrüßt und von dort zum Saalbau geleitet, wo um 20.00 Uhr ein von der Stadtkapelle Speyer und dem Gemeinschaftschor der Neustadter Männergesangsvereine musikalisch umrahmtes Festprogramm begann.54 Als Reverenz an den Versammlungsort wurden unter großem Jubel die Hambach-Fahne von 1832 und die HeydenreichFahne von 1848 aus dem Historischen Museum in Speyer im Festsaal aufgestellt. Und unter den Ehrengästen war auch in Zivil der französische Delegierte des Bezirks Neustadt, Capitain Pierre Delalande, dessen Großschwiegervater Daniel Friedrich Ludwig Pistor zu den Aktiven des Hambacher Festes von 1832 gezählt hatte, der später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war.55 Nach einem von Fritz von Unruh verfassten, von Elly Schneider vorgetragenen Festprolog begrüßte der Ludwigshafener Kamerad Walter namens des Gauvorstands die Gäste, von 52 Vgl. Pfälzische Post Nr. 183, 08.08.1925. 53 Vgl. Pfälzische Bürgerzeitung Nr. 174, 29.07.1925; ebd. Nr. 180, 05.08.1925; ebd. Nr. 182, 07.08.1925; ebd. Nr. 183, 08.08.1925; Stadt- und Dorfanzeiger für Neustadt an der Haardt Nr. 176, 31.07.1925; ebd. Nr. 182, 07.08.1925. 54 Die nachfolgende Zusammenfassung des Festabends vom 8. und der Verfassungsfeier vom 9. August basiert auf den – teilweise identischen beziehungsweise in großen Teilen gleichlautenden – Berichten in folgenden Tageszeitungen: Pfälzische Volkszeitung Nr. 220, 10.08.1925; Pfälzer Zeitung Nr. 184, 10.08.1925; Pfälzische Post Nr. 184, 10.08.1925; Pfälzische Freie Presse Nr. 183, 10.08.1925 (Vorbericht) und Nr. 184, Nr. 11.08.1925; Neue Pfälzische Landeszeitung Nr. 184, 10.08.1925; Pfälzischer Kurier Nr. 184, 10.08.1925; Pfälzische Rundschau Nr. 216, 10.08.1925; Landauer Anzeiger, Nr. 184, 10.08.1925; Der Rheinpfälzer Nr. 184, 10.08.1925; Frankenthaler Zeitung 10.08.1925; General-Anzeiger Ludwigshafen Nr. 184, 10.08.1925; Pfälzische Bürgerzeitung Nr. 184, 10.08.1925; Speierer Zeitung Nr. 184, 10.08.1925; Pfälzische Presse Nr. 220, 10.08.1925 und Pfälzischer Merkur Nr. 185, 11.08.1925. Vgl. auch Kreutz, Die Fahne der Republik (wie Anm. 1), 257 f. 55 Vgl. Pfälzischer Kurier Nr. 184, 10.08.1925 und Günther Volz, Zur Geschichte der Familie Pistor aus Bergzabern. (Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft, Sonderband.) Speyer 2002, 39.
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denen er besonders die Delegation aus dem Saargebiet hervorhob. Ihm folgte der Gauvorsitzende und Landtagsabgeordnete Dr. Müller, der in seiner Festansprache die Bedeutung der Weimarer Verfassung beschwor und dabei die Aufgabe des Reichsbanners festschrieb, für die Verfassung, die Reichseinheit und die friedliche Verwirklichung des großdeutschen Gedankens einzutreten. Müllers Redetext ist nicht überliefert, an dieser Stelle sei aber auf einen Aufsatz Müllers mit dem Titel „Im März 1925“ verwiesen, der im „Echo der Jungen Demokratie“, wenige Wochen zuvor, erschienen war. Hier hatte er wohl wesentliche Teile seiner Rede vorweggenommen. Um einen atmosphärischen Eindruck der Rhetorik zu vermitteln, sollen einige Passagen zitiert werden56: „Zu der Freiheit nach innen und außen kommen wir nicht durch Reaktion, sondern durch einen gesunden Fortschritt, durch eine Politik, die geradlinig und zielsicher zustrebt und dient einem großem, einigem deutschen Vaterlande, dessen Wohlfahrt sich aufbaut auf Arbeit und Fleiß gutgesinnter Staatsbürger, auf einer Politik, die, getragen von den Gedanken eines wahrhaft demokratischen Kulturprogramms, einer sozialen Volksgemeinschaft und der Durchdringung unseres Volkslebens mit dem demokratischen Staatsgedanken unser Volk, wenn auch langsam, so doch sicher wieder dereinst auf Höhenwegen führt. Was wir erstreben, ist ein Deutschland, frei von den Alpen bis zum Belt, einig im Innern und stark in der Welt. Unser Sehnen, unser Streben, unsere Arbeit gilt einer starken, einigen deutschen Republik unter der großdeutschen Flagge Schwarz-Rot-Gold.“
Nach einem musikalischen Intermezzo, dem Chor „Vaterland“ von Gustav Wohlgemuth und der Jubelouvertüre von Johann Sebastian Bach, richtete ein Vertreter aus dem Saargebiet, Häuchel, ein Grußwort an die Festversammlung. Ihm folgte – auch ein Indiz für die Kontakte zum fränkischen Reichsbanner – Otto Stündt aus Nürnberg, Vorsitzender der bayerischen demokratischen Jugend und Mitherausgeber des „Echo[s] der Jungen Demokratie“, mit einem leidenschaftlichen, in die Zukunft gerichteten Plädoyer für die Republik, die er mit einer scharfen Kritik an allen „Vernunftrepublikanern“ verband. Das von allen gemeinsam gesungene Hambach-Lied „Der deutsche Mai“ von 1832 mit dem programmatischen Textanfang „Hinauf Patrioten, zum Schloß, zum Schloß“ beendete die Veranstaltung im Saalbau. Daraufhin begab sich die Festversammlung im geschlossenen Zug in die Landauer Straße, wo sie als Schluss- und Höhepunkt des ersten Tags um 22.30 Uhr die „bengalische Beleuchtung“ des Hambacher Schlosses bewundern konnte, die an diesem schönen Sommerabend ganz Neustadt in seinen Bann zog, wie einzelne Berichterstatter schilderten. Das Feuerwerk sollte aber dennoch einige politische Gegner nicht davor abhalten, in der Nacht Häuser jüdischer Bürger mit Hakenkreuzen zu beschmieren, wie die „Pfälzische Post“ meldete.57 Am Sonntagmorgen zog um 8.00 Uhr eine Fahnendeputation aller teilnehmenden Ortsgruppen zum Friedhof, wo Otto Stündt an den Gräbern der Kriegsopfer einen Kranz mit der Aufschrift „Den Opfern des Weltkriegs. Nie wieder
56 Vgl. Richard Müller, Im März 1925, in: Echo der jungen Demokratie. Unabhängiges Monatsblatt für sozialrepublikanische Politik, Heft 3: März 1925, 96–99. 57 Vgl. Pfälzische Post Nr. 184, 10.08.1925.
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Krieg“ niederlegte. Im Anschluss an die Totenehrung nahm ab 9.00 Uhr der Festzug – viele Teilnehmer, wie zum Beispiel die Ladenburger Kameraden, waren erst am Sonntagmorgen angereist – in der Maximilianstraße Aufstellung. Im Spalier zahlreicher Zuschauer zog er – voran eine Radfahrergruppe und Hambacher Bauernmädchen in Pfälzer Tracht und durchsetzt mit mehreren Musikkapellen – ab 9.30 Uhr durch die Stadt zum Schloss hinauf. Auffallend war, so übereinstimmend verschiedene Zeitungsberichte, dass viele Neustadter und Hambacher Privathäuser ‚Flagge zeigten‘ und schwarz-rot-gold geschmückt waren. Ebenso wie am Vorabend wurden auch die beiden historischen Fahnen von 1832 und 1848 mitgeführt und verliehen dem Fahnenzug der Reichsbannergruppen, der von einer großen Besucherschar auf dem Festplatz unterhalb des Schlosses erwartet wurde, die historische Legitimation. Nach der Begrüßung durch den Gauvorsitzenden Richard Müller und dem Festprolog ergriff als erster prominenter Redner der ehemalige SPDReichsinnenminister und Redakteur der „Rheinischen Zeitung“, der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Sollmann, das Wort.58 Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stand mit direktem Verweis auf das Hambacher Fest von 1832 die scharfe Abrechnung mit dem Monarchismus, den die deutsche Gesellschaft nach langen Bemühungen am 9. November 1918 nun endlich überwunden habe. Sollmann, der dem rechten, aktivreformistischen Flügel der SPD nahestand und offen für eine Zusammenarbeit der demokratischen Parteien eintrat, appellierte an die Teilnehmer, sich bedingungslos für die Ideale der Demokratie, der neuen Verfassung und der sozialen Republik einzusetzen, die Deutschland nicht nur die Achtung der anderen Nationen einbringe, sondern auch den Weg zu einem vereinigten Europa eröffne. Im Anschluss sprach für das Zentrum Reichskanzler a. D. Wilhelm Marx, dessen Auftritt von der mehrere tausend Personen umfassenden Zuhörerschar mit großer Spannung erwartet wurde.59 Auch er legte ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Verfassung ab und bekannte, dass die Republik – sechs Jahre nach ihrer Gründung – fester denn je stehe. Seinen Kritikern von der BVP entgegnete er, dass die Verfassung, die es unvermindert weiter zu entwickeln gelte, auf dem festen Fundament des Christentums gründe. Mit dem Blick auf die nationalen Belange der Republik und die von Bayern erhobenen Forderungen erteilte er zugleich allen partikularen Interessen eine schroffe Absage. Nach einer einstündigen Pause sprach als Vertreter der DDP erneut Otto Stündt. Aus dem Blickwinkel des linksliberalen Jugendvertreters warnte er entschieden vor der politischen Stagnation, für die es mittlerweile viele Anzeichen gebe. So sei die Republik äußerlich bereits „stockkonservativ“ geworden. Dieser
58 Zur Biographie von Sollmann vgl. Simon Ebert, Wilhelm Sollmann. Sozialist – Demokrat – Weltbürger (1881–1951). (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Band 97.) Bonn 2014. 59 Vgl. zu Marx unter anderem Bernd Braun, Wilhelm Marx (1863–1946), in: Bernd Braun, Die Weimarer Reichskanzler – Zwölf Lebensläufe in Bildern. (Photodokumente zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 7.) Düsseldorf 2011, 304–337.
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Entwicklung müsse sich das Reichsbanner mit aller Kraft entgegenstellen. Nach seiner Rede stimmte die Versammlung die dritte Strophe des Deutschlandlieds an. Ein Grußwort des Hambacher Bürgers Links folgte. Mit der feierlichen Bannerweihe der Neustadter Ortsgruppe und einer kurzen Ansprache ihres Vorsitzenden Osterbrink, der noch einmal das Hambacher Erbe beschwor, wurde dann der offizielle Teil des ersten großen pfälzischen Republikanertreffens beendet und die Teilnehmer zogen am Nachmittag zum Festplatz im Schöntal, wo sich die gesellige Nachfeier auf dem Volksfest bis in die Abendstunden hinzog. Die Berichterstattung in der pfälzischen Presse zum Wochenbeginn war entsprechend der politischen Ausrichtung der Redaktionen unterschiedlich.60 Dies gilt auch für die Angaben über die Anzahl der Teilnehmer. Dass die SPD-Presse das Ereignis und die positive Resonanz euphorisch feierte, überrascht nicht. So wollte die „Pfälzische Freie Presse“ annähernd 20 000 Besucher in Neustadt und Hambach gezählt haben. Auch die der DDP nahestehende „Pfälzische Volkszeitung“ kommentierte das Wochenende wohlwollend. Positiven Nachklang fand das Treffen ebenso in den unabhängigen, bürgerlichen Zeitungen, die ausführlich über die beiden Tage berichteten. Genaue Angaben über die Teilnehmerzahl finden sich hier aber nicht, lediglich von mehreren tausend Besuchern ist die Rede. Demgegenüber schenkte die BVP-Presse dem Ereignis nur bedingte oder wie der „Volksbote“ überhaupt keine Aufmerksamkeit und berichtete stattdessen von den Feiern in Berlin oder dem bevorstehenden Besuch Hindenburgs in München. Die „Landauer Zeitung“ konnte sich angesichts der Rede von Marx einen herben Seitenhieb nicht verkneifen und rechtfertigte noch einmal die Haltung der BVP, Marx bei der Reichspräsidentenwahl gegen Hindenburg nicht unterstützt zu haben.
V. WIRKUNGSGESCHICHTE UND AUSBLICK Abschließend bleibt die Frage zu beantworten, welche unmittelbaren Folgen das Großereignis für das Reichsbanner in Neustadt und in der Pfalz hatte. Für die Ortsgruppe war der positive Verlauf, abgesehen von den Hakenkreuzschmierereien, zweifelsfrei ein großer Erfolg. Gleichwohl blieben kleinere organisatorische Mängel nicht verborgen, die im Nachhinein im internen Kreis – wie das Protokollbuch belegt – kritisiert wurden. Dabei traten parteipolitische Differenzen hervor, die bei aller ‚Übereinstimmung‘ der drei Weimarer Parteien nach außen ihre unterschiedliche politische Herkunft und ihr unterschiedliches Engagement für das Reichsbanner aufscheinen lassen. Unverkennbar war, dass der sozialdemokratische Einfluss nach dem Rückzug der Vorstandsmitglieder Fuhrmann vom Zentrum und Fischer von der DDP im Ortsverein in der Folge zwangsläufig stärker wurde und dies, obwohl das Reichsbanner auch in Neustadt die Vorstandsposten
60 Vgl. Anm. 54.
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unbedingt nach Parteienproporz besetzen wollte. Dies zeigte sich nicht nur in der Kampagne für das Zustandekommen des Volksbegehrens „Fürsten-Enteignung“ im Frühjahr 1926, sondern auch im Kontext der Proteste gegen die „Reichsflaggen-Verordnung“, die am 16. Mai 1926 immerhin 1 000 Demonstranten gegen die Regierung Hans Luther in Neustadt aufmarschieren ließen.61 Diese immanente Entwicklung steht aber auch zugleich stellvertretend für fast alle Ortsvereine – nicht nur in der Pfalz –, zumal die DDP kontinuierlich an Bedeutung verlor und die Unterstützung durch das Zentrum seit 1926 latent bröckelte.62 Die finanziellen Nachwirkungen dauerten ebenfalls noch einige Zeit an. Noch 1927 forderte die Neustadter Stadtverwaltung für die schwarz-rot-goldene Beflaggung des Bahnhofvorplatzes und die Reinigung der Schulsäle, in denen die auswärtigen Teilnehmer übernachtet hatten, von der Ortsgruppe 321,95 Reichsmark.63 Hatte eine Pfändung lediglich 31 Reichsmark erbracht, so erließ der städtische Haupt- und Finanzausschuss am 9. März 1927 dem Ortsverein die Restsumme, umso mehr, als das Reichsbanner auf die Werbewirkung und die positiven Auswirkungen für die „Geschäftswelt“ durch „den Fremdenstrom, den die Feier hierher leitete“, verwiesen hatte. Interessant sind dabei die vom Reichsbanner gemachten Angaben über die Anzahl der Teilnehmer, die mit 6 000 nun deutlich ‚heruntergerechnet‘ wurden. Nimmt man hingegen den euphorischen Bericht der „Pfälzische[n] Freie[n] Presse“, der am 11. August von 20 000 Besuchern sprach, so stellt sich hier noch einmal die Frage nach deren tatsächlicher Zahl, die doch eher im Bereich von 10 000 bis 12 000 Teilnehmern zu liegen scheint. Ungeachtet der Differenzen über die exakte Teilnehmerzahl hatte das pfälzische Reichsbanner mit der Verfassungsfeier auf dem Hambacher Schloss, „dem Zeugen deutscher Sehnsucht nach Einheit und Freiheit“, seine Bewährungsprobe bestanden und in der Folge gelang es ihm, trotz Beschränkungen der französischen Besatzungsbehörden und ‚Störfeuern‘ aus München, sich als politische Kraft weiter zu etablieren. Bis Ende März 1926 hatten sich rund 60 Ortsgruppen, so ein französischer Überwachungsbericht, in der Pfalz gebildet.64 Wie viele aktive Mitglieder dem pfälzischen Gau jedoch angehörten und wie groß die jeweiligen Ortsgruppen waren, lässt der Bericht ebenso offen, wie Angaben über den tatsächlichen Organisationsgrad. Zwar blieb die Entwicklung der pfälzischen Ortsgruppen deutlich hinter der des badischen Gaus zurück, aber dieser konnte von Anfang an auf die Unterstützung der Karlsruher Regierungskoalition aus
61 Vgl. Protokollbuch (wie Anm. 6), darin: Flugblatt beziehungsweise Aufruf zur Kundgebung. 62 Symptomatisch belegt dies das Verhalten des Hambacher Festredners Wilhelm Marx im Kontext des Streits um die „Reichs-Flaggenverordnung“. 1927 verließ er schließlich vor dem Hintergrund der kritischen Stellungnahme des Bundesvorsitzenden Hörsing gegenüber dem Vorgehen der österreichischen Regierung gegen den Republikschutzbund wieder das Reichsbanner. 63 Vgl. nachfolgend STANW, A 4403. 64 Vgl. ANP, AJ 9/5637: Bericht vom 30.03.1926.
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Zentrum, SPD und DDP bauen. Dass der Gauvorstand in Ludwigshafen mit der positiven Entwicklung jedoch schon ein Jahr später nicht mehr zufrieden war, wie der Artikel „Drei Jahre Reichsbanner in der Pfalz“ des Vorstandsmitglieds Georg Setzer in der „Pfälzische[n] Post“ vom 9. Juli 1927 belegt, überrascht deshalb. Die Stoßrichtung dieses im Vorfeld des 3. Pfälzischen Republikanertages in Kaiserslautern erschienenen Artikels war jedoch eindeutig und hatte Appellcharakter65: Angesichts der stagnierenden Mitgliederentwicklung, die der Verfasser vor allem auf die „Lauheit der Republikaner“ im bürgerlichen Lager zurückführte, die „immer noch nicht glauben, daß die Republik in Gefahr ist“, forderte er „jeden überzeugten Republikaner und, an dieser Stelle sei es besonders betont, […] jeden überzeugten Sozialisten“ dazu auf, sich im Reichsbanner zu engagieren: „Nur die Republik erfüllt von demokratischem und sozialem Geiste, ist der Staat, in dem freie Menschen leben können“. Deutlich ist der wachsende Einfluss der SPD innerhalb des Reichsbanners greifbar, der sich in der Folgezeit nicht nur im pfälzischen Gau unter dem neuen ersten Vorsitzenden Friedrich Wilhelm Wagner abzeichnete, der 1927 anstelle des 21 Jahre älteren Richard Müller(-Mattil) den Vorsitz im Reichsbanner übernahm, und der seit der organisatorischen und kämpferischen Neuausrichtung des Bundesverbands ab 1929 und der Schaffung der „Eisernen Front“ immer dominanter wurde. Welche Ursachen diesen Generationenwechsel an der Spitze des pfälzischen Reichsbanners auslösten, ist unklar. Die Antwort auf die Frage, ob sie im Zusammenhang mit den Problemen bei der Wiederwahl Müller(-Mattils) zum Synodalpräsidenten 1926 gesucht werden müssen, dem wohl zahlreiche nationalkonservative Mitglieder der Synode sein politisches Engagement für den „Katholiken Marx“ gegen den „Protestanten Hindenburg“ verübelten und ihm bei den Wahlen im Juli 1926 einen merklichen Denkzettel verpassten, oder ob sie seinem verstärkten Engagement im pfälzischen Protestantenverein geschuldet waren, kann derzeit nicht eindeutig gegeben werden, und muss weiteren Forschungen vorbehalten bleiben.66 Dies gilt im gleichen Maße für die Aufarbeitung der Geschichte des pfälzischen Reichsbanners bis zum Verbot im März 1933. Wenngleich hierfür jetzt mit der Dissertation von Andreas Marquet über Friedrich Wilhelm Wagner, der nach seiner Rückkehr aus dem politischen Exil 1947 im Jahre 1961 zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts berufen wurde, einerseits eine wichtige biographische Grundlage vorliegt67, so fehlen andererseits noch immer lokale Studien über die Zusammensetzung und Aktivitäten der verschiedenen Ortsgruppen, deren tatsächliche Zahl ebenso im Dunkeln liegt. Dass dies angesichts der disparaten beziehungsweise oftmals unzureichenden Quellen-
65 Vgl. Pfälzische Post, 09.07.1925 (wie Anm. 13). 66 Vgl. Borggrefe, Erster Justitiar (wie Anm. 14), 116 und Erich Schunk, Die pfälzische Landeskirche in der Weimarer Republik, in: Christoph Picker/Gabriele Stüber/Klaus Blümlein/Frank-Matthias Hoffmann (Hrsg.), Protestanten ohne Protest. Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus, Band 1: Sachbeiträge. Speyer/Leipzig 2016, 60. 67 Vgl. Marquet, Wagner (wie Anm. 1).
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überlieferung nach wie vor eine große Herausforderung bleibt, möchte ich nicht verhehlen. Wenn auch für Neustadt die Quellenlage – dank des erhaltenen Protokollbuchs – relativ gut ist, so bleibt es fraglich, ob dies in absehbarer Zeit realisiert werden kann.68 Zu wünschen wäre es, handelt es sich hierbei doch um ein wichtiges Kapitel unserer Demokratiegeschichte, das es verdient, möglichst vollständig aufgearbeitet und erinnert zu werden.
68 Der Verfasser plant eine Edition des Protokollbuchs.
SCHULE IM NATIONALSOZIALISMUS Das Beispiel Frankenthal (1933–1939) Laura Fuhrmann
I. EINFÜHRUNG Das Ziel der Pädagogik im „Dritten Reich“ war die Erziehung des Menschen in der „nationalsozialistischen Prägung“.1 Mit der angestrebten totalen Erfassung des Einzelnen ging die Umstrukturierung des Erziehungswesens einher. Auch Schule und Unterricht waren fortan diesen Entwicklungen ausgesetzt, um den Kindern und Jugendlichen bedingungslosen Einsatz für die nationalsozialistische Bewegung anzuerziehen. Ein solcher Zugriff des nationalsozialistischen Regimes, der sich nicht auf einzelne Bereiche beschränkte, sondern im Sinne des totalitären Anspruchs auf inhaltliche, personelle, organisatorische und alltagsbezogene Gebiete ausgedehnt war, wird in diesem Beitrag unter dem Begriff „Nazifizierung“ zusammengefasst. Die Nazifizierung des Schulwesens vollzog sich jedoch keineswegs einheitlich, sondern war von den jeweiligen vorherrschenden Rahmenbedingungen geprägt. Anordnungen und Gesetzeserlasse trafen auf die lokalen Gegebenheiten und wurden unter diesen Voraussetzungen situationsspezifisch ausgestaltet. Mit einem regionalen Untersuchungskontext kann der vielschichtige Vorgang der Nazifizierung an einem Ausschnitt „kleingearbeitet“2 werden, sodass sich sowohl den gegebenen Bedingungen als auch den daraus entspringenden Handlungsweisen der Beteiligten in ihrer Komplexität angenähert werden kann. Dies ermöglicht eine differenzierte Betrachtung der Vorgänge, da Prozesse nicht als einheitlich vorausgesetzt, sondern innerhalb der spezifischen regionalen Ausgestaltung in ihrem Eigensinn nachvollzogen werden können.3 Trotz dieser Stärke von regionalen Forschungskontexten werden entsprechende Quellen bislang oftmals rein ergänzend genutzt, sodass ihr Potenzial, detailliert Aufschluss über Veränderungen
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Karl Friedrich Sturm, Erziehung für das Dritte Reich, zit. nach: Hans-Jochen Gamm (Hrsg.), Führung und Verführung. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1984, 117. Edwin Dillmann, Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Regionales Prisma der Vergangenheit. Perspektiven der modernen Regionalgeschichte (19./20. Jahrhundert). St. Ingbert 1999, 7–22, hier 9. Ebd.
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unter den jeweiligen Gegebenheiten gewinnen zu können, nicht ausgeschöpft wird.4 Ausgehend vom Forschungspotenzial regionaler Kontexte beleuchtet dieser Beitrag am Beispiel der pfälzischen Stadt Frankenthal anhand ausgewählten Quellenmaterials die Nazifizierung des dortigen Schulwesens.5 Am Fallbeispiel Frankenthal wird dargestellt, wie die Nazifizierung sich vollzog, welches Ausmaß sie erreichte und welche Konsequenzen daraus für die Beteiligten resultierten. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der Entwicklung unter der NS-Herrschaft bis zum Kriegsbeginn 1939, um die Durchsetzung der neu definierten Erziehungsansprüche beschreiben zu können. Die Darstellung erfolgt anhand fünf thematischer Kategorien. Neben der Lehrer- und Schülerschaft werden auch der Schulalltag, die Beziehung der Schulen zur Hitlerjugend und schließlich die jüdischen Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schüler betrachtet. Abschließend werden die Ergebnisse in Relation zu den reichsweiten Vorgängen gesetzt und diskutiert, wie (un-typisch) sich das Schulwesen der Stadt Frankenthal im NS-Gefüge verhielt.
II. DER ZUGRIFF Frankenthal und sein Schulwesen stellen insbesondere aus konfessioneller Perspektive ein interessantes Untersuchungsfeld dar. Die Forschung verweist auf Unterschiede zwischen katholisch und protestantisch geprägten Gebieten hinsichtlich ihrer Affinität zum Nationalsozialismus und dem Grad der „Gleichschaltung“. So gelang es dem NS-Regime in katholischen Gemeinden schwerer an Einfluss zu gewinnen als in protestantisch geprägten Gebieten. Frankenthal als Stadt mit vorwiegend protestantischer Bevölkerung, aber einer starken katholischen Minderheit, stellt sodann einen bedeutsamen Untersuchungsgegenstand dar, um die Einflüsse dieser und weiterer regionaler Bedingungen auf den Prozess der Nazifizierung des Schulwesens zu beleuchten.6 Während der NS-Herrschaft gab es in Frankenthal zehn Schulen. Auf die drei Volksschulen Neumayerschule, Schillerschule und Pestalozzischule bauten das
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Michael Kißener, Chancen und Probleme regionalgeschichtlicher Forschungen zur NS-Zeit in forschungspraktischer Perspektive, in: Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl (Hrsg.), Regionen im Nationalsozialismus. (IZRG-Schriftenreihe, Band 10.) Bielefeld 2003, 58–69, hier 58f. Ursprünglich erfolgte die Untersuchung im Rahmen der gleichnamigen Masterarbeit, siehe dazu Laura Fuhrmann, Erziehung und Schule im Nationalsozialismus am Beispiel der Frankenthaler Schulen in den Jahren 1933–1939. Unveröffentlichte Masterarbeit. Mainz 2015. Für den Artikel wurden zentrale Ereignisse exemplarisch ausgewählt und in verdichteter Form dargestellt. Thomas Fandel, Evangelische und katholische Kirche in der NS-Zeit, in: Gerhard Nestler (Hrsg.), Frankenthal unterm Hakenkreuz. Eine pfälzische Stadt in der NS-Zeit. Ludwigshafen 2004, 301–324; Ulrich von Hehl, Das Kirchenvolk im Dritten Reich, in: Klaus Gotto/Konrad Repgen (Hrsg.), Die Katholiken und das Dritte Reich. Mainz 1990, 93–118, hier 95.
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städtische Mädchenlyzeum Karolinenschule und die zwei staatlichen Anstalten, das Progymnasium und die Realschule auf. Diese drei höheren Schulen führten zur Mittleren Reife, wohingegen das Abitur nur an den Schulen der benachbarten größeren Städte erlangt werden konnte. Neben den höheren Schulen gab es außerdem die Berufsschule, die Landwirtschaftsschule, die pfälzische Meisterschule für Bauhandwerker und die Kreis-Taubstummenanstalt als Hilfsschule.7 Aufgrund ihrer Spezialisierung wurden die Landwirtschaftsschule und die pfälzische Meisterschule nicht in die Analyse einbezogen. Die Quellenanalyse erfolgte mittels eines Spezialvergleichs, da es „um einzelne Institutionen mit spezifischen Zielen, um einzelne Sozialgruppen, Strukturen oder Mentalitäten, um einzelne Ereignisse oder Prozesse“8 geht. Die Mittelstadt Frankenthal wurde dabei als Fallbeispiel betrachtet, um aus dem Vergleich der Schulen den Grad der Nazifizierung des Frankenthaler Schulwesens skizzieren und schließlich allgemeine Aussagen auf der Makroebene verneinen, relativieren oder bestätigen zu können.9 In die Untersuchung wurden Jahresberichte, Klassenbücher sowie Protokolle von Lehrerratssitzungen aufgenommen, die das Schulleben in der Zeit von 1933– 1939 dokumentieren. Allerdings ist das Quellenmaterial lückenhaft, da im Zuge des Zweiten Weltkrieges viele der Schuldokumente vernichtet wurden oder während der Bombenangriffe verbrannten. Für die Analyse sind ein Schultagebuch der Schillerschule10, eine Schulchronik der Berufsschule11, die Jahresberichte sowie Protokolle der Lehrerratssitzungen der Karolinenschule12 und die Jahrbücher der Kreis-Taubstummenanstalt13 erhalten geblieben. Um auch die Schulen ohne entsprechende Quellen mit einzubeziehen und sich einem Gesamtbild des Schulwesens anzunähern, wurden Artikel der „Frankenthaler Zeitung“ und Verordnungen der Regierung herangezogen. Anhand des Quellenmaterials konnten die Vorgänge an den Schulen rekonstruiert und Aufschluss über den Prozess der Nazifi-
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Volker Christmann, Frankenthals Schulen im „Dritten Reich“, in: Nestler (Hrsg.), Frankenthal (wie Anm. 6), 196–219, hier 197. Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1999, 38. Ebd., 17f. Stadtarchiv Frankenthal (StA FT), Abt. VII/3/16. Das Schultagebuch verweist an einigen Stellen auf die Neumayerschule, sodass teilweise auch Ereignisse an dieser Schule rekonstruiert werden können. Landesarchiv Speyer (LASP), Abt. 44, Nr. 164. Schularchiv Karolinengymnasium (SA KG), Frankenthal, 26.–31. Jahresbericht des städtischen Mädchenlyzeums mit realprogymnasialer Abteilung. Karolinenschule (gegründet 1782, erneuert 1818) in Frankenthal für das Schuljahr 1932/33; Ebd., 32. Jahresbericht des städtischen Mädchenlyzeums – Oberschule i. E. – (gegründet 1782, erneuert 1818) in Frankenthal für das Schuljahr 1938/39; Ebd., 33. Jahresbericht der städtischen Mädchenoberschule (Mädchenlyzeum) (gegründet 1782, erneuert 1818) in Frankenthal für das Schuljahr 1939/40; Ebd., Niederschriften über die Lehrerratssitzungen an der Karolinenschule. Zentralarchiv des Bezirksverbandes Pfalz (ZA BVP), Kaiserslautern, Best. 10, Zug.-Nr. 13/2013; Ebd., Zug.-Nr. 13/2014.
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zierung gewonnen werden. Hinsichtlich der didaktischen Umsetzung der Themen und der Wertorientierungen der Beteiligten ist der Erkenntnisgewinn aufgrund von fehlenden Informationen jedoch eingeschränkt. Ob und wie Inhalte den Schülerinnen und Schülern nähergebracht wurden, hing von den individuellen Entscheidungen der Lehrpersonen ab, worüber das Quellenmaterial nur begrenzt Rückschlüsse zulässt. Zur Geschichte Frankenthals im Nationalsozialismus liegen bereits Regionalstudien vor, von denen sich einige auch dem Schulwesen widmen. Das umfassende Werk „Frankenthal unterm Hakenkreuz“ von Gerhard Nestler beinhaltet beispielsweise ein Kapitel über die Schulen. Allerdings beschränkt sich die Untersuchung auf einen Teil der verfügbaren Quellen, sodass die Entwicklungen unter dem NS-Regime nur lückenhaft analysiert werden konnten. Zudem werden die lokalen Abläufe nicht in Verbindung zu den reichsweiten Vorgängen gesetzt, sodass die (Un-)Spezik Frankenthals nicht beurteilt werden kann.14 Zwei weitere Werke von Anna Maus beschäftigen sich mit der Geschichte der Stadt Frankenthal sowie speziell mit der Historie der Karolinenschule. Die Zeit des Nationalsozialismus wird in beiden Werken jedoch nur knapp und unvollständig umrissen, sodass insbesondere für die Karolinenschule eine tiefgehende Analyse noch aussteht.15
III. DIE FRANKENTHALER LEHRERSCHAFT IN DEN JAHREN 1933–1939 Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 folgte die Phase der „Gleichschaltung“, in der sich die Nationalsozialisten die Macht in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen sicherten. Die „Gleichschaltung“ betraf folglich auch das Schulwesen. Gemäß der föderalistischen Struktur der Weimarer Republik unterstand die schulische Verwaltung zunächst noch der Kulturhoheit der einzelnen Länder. Die Regierungs- und Verwaltungsbereiche der Länder wurden im Zuge der „Gleichschaltung“ einer Kontrolle und einem Personalwechsel unterzogen, sodass die Positionen der Kultusminister mit Anhängern der NSDAP ersetzt wurden.16 Weil die Pfalz 1816 bayerisch geworden war, galten für Frankenthal die schulpolitischen Beschlüsse des Bayerischen Kultusministeriums.17 Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten erfuhr die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern eine Neuausrichtung. Als zentralen Auftrag formulierte der baye-
14 Christmann, Frankenthals Schulen (wie Anm. 7), 196–219. 15 Anna Maus, Die Geschichte der Stadt Frankenthal und ihrer Vororte. Frankenthal 1969; Anna Maus, Vom Philanthropin zur Mädchenoberschule 1782–1957. Die Geschichte der Karolinenschule zu Frankenthal/Pfalz. Trautheim 1958. 16 Gert Geißler, Schulgeschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Frankfurt am Main u. a. 2011, 508; Kurt Bauer, Nationalsozialismus. Wien 2008, 205f. 17 Michael Kißener, Von Napoleon zur Postmoderne: Die Pfalz zwischen 1800 und 2000, in: Pfälzer Heimat 2009, 50–55, hier 51.
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rische Kultusminister und Reichswalter des nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) Hans Schemm, dass „es gelte, die heutige Jugend in der nationalsozialistischen Weltanschauung zu erziehen und dafür habe die Lehrerschaft zu arbeiten. Wer an diesem Ziel nicht mitarbeiten wolle, der solle seinen Titel Lehrer ablegen“.18
Die Unterstützung der nationalsozialistischen Bewegung durch Lehrpersonen wurde als verpflichtend deklariert. Als die Zeichen- und Handarbeitslehrerin Regina Stengl und der katholische Religionslehrer Karl Streff an der Karolinenschule die vom NS-Regime durchgeführten juristischen Prozesse gegen Priester in ihren Schulklassen kritisierten, folgte eine Überprüfung des Unterrichts durch das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Bei der Besichtigung des Unterrichts erlangte dessen Abgeordneter nicht den Eindruck, „daß Kaplan Karl Streff die Gewähr für die weltanschauliche Voraussetzung bietet, die von einem Lehrer und Erzieher im Dritten Reich verlangt werden muß“.19 Karl Streff musste daraufhin am 9. Juni 1937 den Religionsunterricht an der Schule niederlegen, ebenso wie Regina Stengl, die am 1. Juli 1937 ihre Tätigkeit als Hauptlehrerin „aus politischen Gründen“20 aufgeben musste.21 Während tätige Lehrerinnen und Lehrer einer Überprüfung ihrer Lehrtätigkeit auf politische Zuverlässigkeit ausgesetzt waren, hatten neu eintretende Studienassessoren bereits eine ideologische Einwirkung durch die Umstrukturierung ihrer Ausbildung nach nationalsozialistischen Grundsätzen ab 1. Januar 1935 erhalten. Die abschließende Prüfung solle so ausgelegt sein, dass sie „die innere Einstellung der Prüfungsteilnehmer zu dem Deutschland Adolf Hitlers erkennen lässt“22 und zielte damit auf die Nachfolge einer treu nationalsozialistischen Lehrerschaft.23 Ein weiteres Element der Kontrolle und Einwirkung auf die Frankenthaler Lehrerschaft stellte der nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB) dar. Als Organisation der NSDAP arbeitete der Verband eng mit der Partei zusammen, was eine
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Frankenthaler Zeitung 29.07.1933. SA KG, Entschließungen der Schulbehörden 1933–1938, Nr. VI 44649, 13.08.1937. Ebd., 31. Jahresbericht 1937/38. Ebd.; Ebd., Entschließungen der Schulbehörden 1933–1938, Nr. VI 39887, 13.07.1937. LA SP, Best. H 3, Nr. 9801. Dieses Beispiel entstammt den Weisungen für die Prüfung der Volksschullehrerinnen und -lehrer vom 14. August 1934. Mit der „Reichsordnung für die pädagogische Prüfung“ vom 7. Juni 1937 stand dann auch für angehende Lehrkräfte höherer Schulen die politische Haltung im Mittelpunkt der Prüfung, siehe dazu Rolf Eilers, Die nationalsozialistische Schulpolitik. Eine Studie zur Funktion der Erziehung im totalitären Staat. Köln/Opladen 1963, 8. 23 SA KG, Niederschrift über die 5. Lehrerratssitzung in der Karolinenschule am 19. Februar 1935; Walter Fürnrohr, Das Schulwesen im NS-Staat, in: Max Liedtke (Hrsg.), Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens. 3. Band. Geschichte der Schulen in Bayern von 1918–1990. Bad Heilbrunn 1997, 173–223, hier 207f.; Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 60f. Ab März wurde von jungen Lehrkräften dann auch die Betätigung in Gliederungen der Partei verlangt, s. dazu SA KG, Entschließungen der Schulbehörden 1933–1938, Nr. VIII 7233, 8. März 1938.
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starke parteiliche Kontrolle der Lehrkräfte ermöglichte. Der NSLB war ab 1933 bestrebt, sich als einziger Lehrerbund durch die Eingliederung beziehungsweise Auflösung anderer Lehrerverbände zu etablieren.24 Dem repressiven Wirken des NSLB war auch der Bayerische Lehrerverein für die Volks- und Sonderschullehrer ausgesetzt, in dem einige Frankenthaler Lehrpersonen vertreten waren. Zwar konnte der Verein bis zur endgültigen Auflösung am 1. Januar 1938 mit der Beibehaltung seines Namens äußerlich noch eine formale Selbstständigkeit bewahren, doch programmatisch erfolgte eine schnelle Vereinheitlichung mit den Zielen des NSLB, die sich mit der Festschreibung der „Förderung des vaterländischen Schulwesens im Sinne des nationalsozialistischen Staates“25 als grundlegende Aufgabe des Vereins äußerte.26 Die Monopolstellung des NSLB bei der Organisation der Lehrerinnen und Lehrer nach der „Gleichschaltung“ der anderen Frankenthaler Verbände manifestierte sich in Fragen der Beschäftigung und Beförderung der Lehrkräfte. Entsprechende Lehrpersonen wurden auf ihre Eignung und Zuverlässigkeit gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung überprüft, in dessen Prozess positive Empfehlungen von NSLB und NSDAP große Bedeutung erhielten.27 In Frankenthal betraf der Eingriff in die Karriere den Volksschullehrer Karl Mappes an der Pestalozzischule. Schon im August 1933 bot er nach Ansicht der Gauleitung keine Garantie für eine einwandfreie Erziehung der Kinder gemäß der nationalsozialistischen Ideologie. Als im März 1935 eine Beförderung vom Haupt- zum Oberlehrer bevorstand, wurde diese durch Wirken des NSLB und der NSDAP um ein Jahr verschoben. Die NSDAP führte als Begründung an, dass er „bis zum Umsturze Führer des Zentrums, im hiesigen Stadtrate Fraktionsführer dieser Partei und als solcher aktiv gegen unsere Beweg. [sic!] tätig“28 gewesen sei. Erst ein Jahr später, am 1. März 1936, wurde der Beförderung dann stattgegeben.29 Eine weitere staatliche Maßnahme, die der NSLB wesentlich beförderte, stellte die Umwandlung der Bekenntnis- in Gemeinschaftsschulen ab 1934 dar, um
24 Willi Feiten, Der nationalsozialistische Lehrerbund. Entwicklung und Organisation. Ein Beitrag zum Aufbau und zur Organisationsstruktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, Band 19.) Weinheim u. a. 1981, 66. In der NSDAP Ortsgruppe Frankenthal hatten einige Lehrer aus Vor- und Nachbarorten Frankenthals leitende Positionen inne. Wie viele Lehrkräfte in der NSDAP insgesamt organisiert waren, lässt sich aufgrund zerstörten Quellenmaterials nicht eindeutig rekonstruieren, siehe dazu Eris J. Keim, Die Frankenthaler NSDAP in der Herrschaftsphase. Bruchstücke ihrer Organisationsgeschichte von 1933–1945, in: Nestler (Hrsg.), Frankenthal (wie Anm. 6), 69–91, hier 77f.; Christmann, Frankenthals Schulen (wie Anm. 7), 198. 25 Frankenthaler Zeitung 29.07.1933. 26 Ebd. 04.04.1933; Fürnrohr, Schulwesen (wie Anm. 23), 3. Band, 177. 27 Fürnrohr, Schulwesen (wie Anm. 23), 3. Band, 178f; Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 131. 28 LA SP, Best. H 4, Nr. 2998. 29 LA SP, Best. H 4, Nr. 2998.
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den kirchlichen Einfluss im Schulwesen einzudämmen und den eigenen Zugriff auf die Schulen auszudehnen.30 In Frankenthal entschied eine Abstimmung über die Einführung der Gemeinschaftsschule. Nachdem Karl Mappes die Teilnahme an der Abstimmung verweigerte, wurde er aus dem NSLB ausgeschlossen, sodass er sein Recht auf soziale Leistungen verlor und sich auf keine finanzielle Absicherung durch den Staat berufen konnte. Einen Ausschluss aus dem NSLB erfuhr auch die Frankenthaler Hauptlehrerin Maria Lederle, da sie nicht aus dem Verein katholischer Lehrerinnen austreten wollte.31 Die Rekonstruktion der Ereignisse anhand des Quellenmaterials verweist einerseits auf die starke Kontrolle des NSLB, der die Auflösung anderer Vereine auch mittels Sanktionierungen vorantrieb. Andererseits wird deutlich, dass vor allem Lehrerinnen und Lehrer mit katholischem Hintergrund im Zuge der Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses in Konflikt mit dem Regime gerieten. Der NSLB zählte auch die inhaltliche Einwirkung auf die Frankenthaler Lehrerschaft in Form einer Umerziehung im nationalsozialistischen Sinne zu seinen Hauptaufgaben. Regelmäßige Schulungen sowie die Erarbeitung von vorgegebenen Themenfeldern durch die Frankenthaler Lehrpersonen im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften zielten auf eine Verinnerlichung ideologisch bedeutsamer Themen und eine entsprechend einprägsame Vermittlung nationalsozialistischer Weltanschauung im Unterricht. Der NSLB stellte somit auch hinsichtlich der Unterrichtsinhalte ein stetiges Instrument der Kontrolle dar, um Einflussmöglichkeiten auf den Unterricht zu haben.32 Obwohl aufgrund der individuellen Prägungen und Überzeugungen der Lehrpersonen keine Gewähr für die tatsächliche Organisation des Unterrichts nach nationalsozialistischer Weltanschauung bestand, wurde die Lehrerschaft der Stadt so umfassend wie möglich einer personellen und ideologischen Ausrichtung unterzogen. Das Zusammenwirken von Staatsministerium, NSLB und NSDAP identifizierte durch das lückenlose Schema aus Gesetzen, Richtlinien und Schulungen abweichendes Verhalten und etablierte gleichzeitig eine ständige inhaltliche Indoktrination.33
IV. DIE SCHÜLERSCHAFT AN DEN FRANKENTHALER SCHULEN 1933–1939 Das Individuum zählte in der nationalsozialistischen Ideologie wenig, stattdessen stand die sogenannte „Volksgemeinschaft“ im Mittelpunkt, die sich unter Aufhebung der sozialen Unterschiede über die Rassenzugehörigkeit definierte. Von dem
30 Ottwilm Ottweiler, Die Volksschule im Nationalsozialismus. Weinheim/Basel 1979, 42f. 31 LA SP, Best. H 3, Nr. 7008; Christmann, Frankenthals Schulen (wie Anm. 7), 207; Feiten, Lehrerbund (wie Anm. 24), 72. 32 ZA BVP, Best. 10, Nr. 198; Feiten, Lehrerbund (wie Anm. 24), 175–178. 33 Ebd., 7f.
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Einzelnen wurde die Unterordnung unter die politischen Ziele verlangt, denn diese wurden als Wohl der Volksgemeinschaft deklariert. Dieses gesellschaftliche Verständnis beeinflusste auch den Bildungsauftrag der Schulen, der sich nun über den Dienst am Staat definierte.34 Nach der Machtübernahme 1933 stand die Inszenierung und Stärkung des propagierten Gemeinschaftsgefühls zunächst im Vordergrund, um eine dauerhafte Machtstabilisierung zu bewirken. Zur Umsetzung dieses Ziels dienten unter anderem die von der Schülerschaft durchgeführten Sammlungen zur Unterstützung von bedürftigen Mitgliedern der Volksgemeinschaft, die als Fürsorge des Staates mit aufwendiger Propaganda inszeniert wurden. Für die vom pfälzischen Gauleiter Josef Bürckel initiierte „Volkssozialistische Selbsthilfe“ wurde ab dem 9. September 1933 mit der Pfennigsammlung für die Bürckelspende an der Schiller- und Karolinenschule gesammelt, bis die Initiative des Gauleiters 1935 in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt überführt wurde.35 Den unterrichtlichen Rahmen bildete in der Schillerschule die Thematisierung von „Opfern, Opferfeier und -bereitschaft“.36 Die Thematik verweist nicht nur auf die den Schülerinnen und Schülern nahegelegte Notwendigkeit von Abgaben, sondern auch auf die Forderung des NS-Regimes nach Opferbereitschaft bis hin zur Selbstaufopferung für die nationalsozialistische Bewegung. Von den Heranwachsenden wurde die Unterwerfung der individuellen Bedürfnisse unter das Kollektiv der Volksgemeinschaft und der bedingungslose Einsatz für die Ziele des Nationalsozialismus verlangt, was vor allem in den Jahren 1939–1945 während des Zweiten Weltkrieges in zahlreichen Diensten und Einsätzen der Kinder und Jugendlichen an der „Heimatfront“ zum Ausdruck kam.37 Auch für die wichtigste Wohlfahrtsorganisation des NS-Staates, das Winterhilfswerk (WHW) der NSDAP, sammelte die Frankenthaler Schuljugend in der Unterrichtszeit regelmäßig.38 Ebenso war die Schülerschaft angehalten, die Verwirklichung der politischen Ziele mit Propagandamärschen vor der Reichstags34 Ulrich Herrmann, „Völkische Erziehung ist wesentlich nichts anderes denn Bindung“. Zum Modell nationalsozialistischer Formierung, in: Ders. (Hrsg.), „Die Formung des Volksgenossen“. Der Erziehungsstaat des Dritten Reiches. Weinheim/Basel 1985, 67–78, hier 67; Heinz Schreckenberg, Ideologie und Alltag im Dritten Reich. Frankfurt am Main u. a. 2003, 101f. 35 SA KG, 27. Jahresbericht 1933/34, 28. Jahresbericht 1934/35, 29. Jahresbericht 1935/36; StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 11.09.1933; Hannes Ziegler, Die Machtergreifung der NSDAP und die Gleichschaltung der städtischen Gesellschaft, in: Nestler (Hrsg.), Frankenthal (wie Anm. 6), 47–67, hier 65. 36 StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 11.09.1933. 37 Kathrin Kollmeier, Erziehungsziel „Volksgemeinschaft“ – Kinder und Jugendliche in der Hitler-Jugend, in: Klaus-Peter Horn/Jörg-W. Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit. Bad Heilbrunn 2011, 59–76, 62f.; Karl Christoph Lingelbach, Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland. (Marburger Forschungen zur Pädagogik, Band 3.) Weinheim u. a. 1970, 117. 38 StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 16.11.1933, 01.12.1933, 29.11.–12.12.1933, 18.12.1933, 20.12.1933, 01.02.1933.
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wahl am 12. November 1933 und am 29. März 1936 zu unterstützen. Bei den Märschen der Frankenthaler Volksschulen durch die Stadt wurden die Bewohnerinnen und Bewohner aufgefordert, „für unseren Führer und Deutschlands Freiheit zu stimmen“.39 Mit den angeordneten Maßnahmen dehnte die NSDAP ihren Zugriff auf die Schulen aus und nutzte die Unterrichtszeit für politische Zwecke. Der Vorrang der Dienste für die Volksgemeinschaft gegenüber den regulären Schulstunden erhielt auch rechtliche Legitimation als der Reichserziehungsminister im Rahmen der Erntehilfe die Beurlaubung der Schülerinnen der Karolinenschule verfügte.40 Ab 1936 stand nicht mehr die Machtsicherung und -stabilisierung im Vordergrund, sondern die wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorbereitung auf den Krieg. An diesem Ziel orientierten sich auch die Tätigkeiten der Frankenthaler Schülerschaft. Sie wurden von Bürgermeister Scholl mit der Betreuung einer Seidenraupenzucht beauftragt, deren Erträge der Industrie für die Herstellung von Fallschirmen dienten. Die Seidenraupen wurden auf dem Dachboden der Schillerschule gehalten und von den Schülerinnen und Schülern mit gesammelten Maulbeerblättern versorgt. Wenige Jahre später konnte Frankenthal mit den in die Turnhalle der Adolf-Hitler-Schule verlagerten Tieren die größte Seidenraupenzucht Deutschlands vermelden.41 Eine gravierende Umfunktionierung erfuhr die Sonderschule in Frankenthal, die Kreis-Taubstummenanstalt. Die Ausführungsverordnung zum Reichschulpflichtgesetz vom 6. Juli 1938 schrieb die Aufgaben „Entlastung“, „Brauchbarmachung“ und „Sammelbecken“ gesetzlich fest. Eine Entlastungsfunktion versprach sich das NS-Regime in Bezug auf die Volksschulen, da die Separierung der vermeintlich schwächer Begabten in den Hilfsschulen zu einer lernförderlichen Wirkung für die übrigen Schülerinnen und Schüler führen sollte. Trotzdem war die Kreis-Taubstummenanstalt, ebenso wie viele andere Sonderschulen im Deutschen Reich, von ständigen Sparmaßnahmen durch die Weltwirtschaftskrise betroffen. Für die Legitimierung der Schule betonte der Direktor, Karl Huber, in den Jahresberichten die Brauchbarmachung im Sinne einer Gleichwertigkeit der Taubstummen, die mit ihrer Arbeitsleistung ebenfalls ihren Dienst für die Volksgemeinschaft erbringen könnten.42
39 Ebd., Schultagebuch 11.11.1933. 40 SA KG, 27. Jahresbericht 1933/34; Ebd., Entschließungen der Schulbehörden 1933–1938, Nr. VIII 56530, 15.09.1938; ZASP, Abt. 44, Nr. 164; Maus, Stadt Frankenthal (wie Anm. 15), 135; Harald Scholtz, Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz. Göttingen 1985, 134. 41 Frankenthaler Zeitung 06.01.1938, 15.06.1938, 11.08.1942; Christmann, Frankenthals Schulen (wie Anm. 7), 201. Die Neumayerschule wurde am 20. April 1934 in Adolf-Hitler-Schule umbenannt, vgl. dazu Frankenthaler Zeitung 19.04.1934 und S. 98 dieses Artikels. 42 ZA BVP, Best. 10, Zug.-Nr. 13/2013, Jahresbericht 1932/33; Ebd., Best. 10, Nr. 198; Gabriele Kremer, Die Sonderschule im Nationalsozialismus: das Beispiel Hilfsschule, in: Horn/ Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse (wie. Anm. 37), 163–184, hier 167ff.; Wolfgang Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur. Band II: Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust. Darmstadt 1997, 114.
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Eng mit dem Aspekt der Brauchbarmachung ging aus den rassenhygienischen Grundsätzen der Nationalsozialisten die Funktion der Hilfsschulen als Sammelbecken einher. In der Kreis-Taubstummenanstalt wurden, wie auch in anderen Hilfsschulen im Reich, vermeintlich erbkranke Kinder „gesammelt“ und auf Grundlage des „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“43 sterilisiert. Mit den eingerichteten Erbgesundheitsgerichten und den durchgeführten „Erbbestandsaufnahmen in Anstalten“ in den Jahren 1938 und 1939 konnten über die von den Familienangehörigen ausgefüllten Sippentafeln genaue Kenntnisse über Krankheiten erlangt sowie eine Kartierung und Überprüfung der Schülerschaft und ihrer Familien auf rassenbiologischer Grundlage durchgeführt werden. Gegenüber den Fragen besorgter Eltern legitimierte Direktor Huber die Sterilisationen mit den rassenbiologischen Maximen, die sich auf einen Schutz vor Erbkrankheiten durch die vorgenommene Sterilisation und die daraus resultierende Erstarkung des „Volkskörpers“ beriefen.44 Die Eltern als Erziehungsberechtigte hatten trotz Widerstände keinen Einfluss auf die Entscheidung und Durchführung der Sterilisationen, die anhand der Gesetze und Verordnungen erfolgte. Da die verschiedenen staatlichen Behörden die Gesetze erließen, besaß folglich der Staat die Verfügungsgewalt über die Schülerinnen und Schüler. Das Zurückdrängen des elterlichen Einflusses zugunsten eines umfangreichen Zugriffs des Staates bildete somit die nötige Voraussetzung, um den totalitären Anspruch des NS-Regimes auf die Kinder durchzusetzen und die rassenbiologischen Prinzipien zu verwirklichen. Über die schulspezifische Aufgabe der Reinhaltung und Stärkung des „Volkskörpers“ erhielten die KreisTaubstummenanstalt und ihre Schülerschaft letztlich ihre Legitimation im nationalsozialistischen System.45
V. DIE AUSRICHTUNG DES FRANKENTHALER SCHULALLTAGS NACH NATIONALSOZIALISTISCHEN GRUNDSÄTZEN Aufgrund der fortbestehenden Entscheidungshoheit der Länder in schulpolitischen Fragen erfolgte zunächst keine einheitliche Gestaltung der Schulpolitik, vielmehr waren länderspezifische Direktmaßnahmen charakteristisch. Parallel dazu erließ
43 Ministerium des Innern (Hrsg.), Reichsgesetzblatt Teil 1 Jahrgang 1933. Berlin 1933, 529– 531. Im Folgenden RGBl abgekürzt. 44 ZA BVP, Best. 10, Zug.-Nr. 13/2013, Jahresbericht 1934/35; Michael Klöcker, Die Schule im NS-Staat: Ihre Rechtsgrundlagen am Beispiel der Volksschule, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 51, 2013, 376–395, hier 382. Wie viele Kinder diesen Operationen in Frankenthal zum Opfer fielen, kann aufgrund fehlender Quellen nicht aufgearbeitet werden; Christmann, Frankenthals Schulen (wie Anm. 7), 213. 45 Bernd Zymek, Schulen, in: Dieter Langewiesche/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V: 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur. München 1989, 155–208, hier 195; Kremer, Sonderschule (wie Anm. 42), 169.
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Reichsinnenminister Wilhelm Frick weitere Gesetze, mit dem Ziel, die Kompetenzen der Länder in bildungspolitischen Angelegenheiten zu beschneiden. Eine sofortige reichseinheitliche Reform der Lehrpläne und -bücher konnte aufgrund fehlender Vorbereitung eines Bildungskonzeptes nach der Machtübernahme nicht durchgeführt werden.46 Als Zeichen der Loyalität und Reformbereitschaft im nationalsozialistischen Sinne verordnete die bayerische Landesregierung im Herbst 1933, noch vor der allgemeinen Verordnung des Reichsinnenministers Frick am 18. Dezember 1933, den deutschen Gruß. Unter den anschließenden Bemühungen Fricks erhielt der Hitlergruß Vorrang vor dem Gebet zu Beginn und Ende des Religionsunterrichts und brachte die Bestrebung, den Einfluss der Kirchen in den Schulen zurückzudrängen und die nationalsozialistische Bewegung an die erste Stelle im Schulleben zu stellen, symbolisch zum Ausdruck.47 Gleichzeitig richteten sich eine Vielzahl von länderspezifischen Erlassen sowie die Handreichung ergänzender Materialien auf die Neuausrichtung des Unterrichts. Da keine neuen Lehrpläne zur Verfügung standen, orientierten sich die Frankenthaler Schulen an der Forderung des bayerischen Kultusministers Hans Schemm im März 1933, das Thema „Aufbruch der Nation 1918–1933“ im Unterricht zu behandeln und mit einer Abschlussfeier nach außen zu transportieren. Den Anordnungen zufolge sollten der Ausgang des Ersten Weltkrieges und die Weimarer Republik von den Lehrkräften als Ursache der Missstände dargestellt werden, während die nationalsozialistische Bewegung demgegenüber als glückliche Fügung hervorzuheben war.48 Allerdings erwiesen sich die inhaltlichen Vorschriften und die vorhandenen Darstellungsweisen für die Kreis-Taubstummenanstalt als zu komplex, sodass die Lehrerinnen und Lehrer den Unterrichtsstoff mittels eines Buchs „Deutschlands Not und Deutschlands Rettung. (Deutsche Geschichte von 1918–1933)“49 schülergerecht aufarbeiteten. Der Einsatz der Lehr-
46 Fürnrohr, Schulwesen (wie Anm. 23), 3. Band, 174f; Ulrich Wiegmann, Lehrpläne im Nationalsozialismus. Zur Entwicklung nationalsozialistischer Lehrplanung für die Volksschule (1933 bis 1939), in: Rudolf W. Keck/Christian Ritzi (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart des Lehrplans. Josef Dolchs „Lehrplan des Abendlandes“ als aktuelle Herausforderung. Baltmannsweiler 2000, 255–277, hier 259–262. 47 Frankenthaler Zeitung 22.12.1933. Die Umsetzung des Grußes im Unterricht lässt sich aus den Quellen allerdings nicht erschließen, StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 29.09.1933; SA KG, Niederschrift über die 3. Lehrerratssitzung in der Karolinenschule am 27.10.1933; Fürnrohr, Schulwesen (wie Anm. 23), 3. Band, 187. 48 Frankenthaler Zeitung 15.07.1933. Die Quellen belegen dies für die Schiller-, die Berufs- und die Karolinenschule. Die weitreichende Umsetzung verweist auf die Bereitschaft der Schulleitung und Lehrerschaft zur Umgestaltung, ZASP, Abt. 44, Nr. 164; StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 04.05.1933, 14.07.1933; SA KG, Niederschrift über die 2. Lehrerratssitzung in der Karolinenschule am 11.07.1933. Siehe zum Stoffgebiet „Aufbruch der Nation“ auch Ottwilm Ottweiler, Die nationalsozialistische Schulpolitik im Bereich des Volksschulwesens, in: Herrmann (Hrsg.), Formung (wie Anm. 34), 235–252, hier 237. 49 ZA BVP, Best. 10, Zug.-Nr. 13/2013, Jahresbericht 1932/33.
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kräfte war damit entscheidend, um eine schnelle Ausrichtung des Unterrichts nach nationalsozialistischen Thematiken zu ermöglichen.50 In der anschließenden Phase der schulpolitischen Entwicklungen erfolgte am 1. Mai 1934 eine Zentralisierung von schulbezogenen Entscheidungen auf das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) unter der Leitung von Bernhard Rust. Zwar erhielten die Erlasse ab diesem Zeitpunkt reichsweite Geltung, doch die Länder versahen sie mit konkreten Durchführungsverordnungen, sodass die länderspezifische Heterogenität hinsichtlich der Maßnahmen nicht aufgehoben war.51 Die Frankenthaler Schulen passten die vorgegebenen Thematiken dann selbstständig an, sodass sich die uneinheitliche Gestaltung des Unterrichts fortsetzte. Für das Fach Geschichte bildeten in der Karolinenschule die entsprechenden Kapitel aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“ die Grundlage der Gestaltung, während sich die Kreis-Taubstummenanstalt an den Richtlinien des Reichsinnenministers Frick orientierte, die das Führerprinzip sowie den heldischen und völkischen Gedanken als Grundsatz des Geschichtsunterrichts vorschrieben.52 In der Schillerschule erfuhr der Unterricht wie auch in der Karolinenschule und der Kreis-Taubstummenanstalt eine starke Ausrichtung auf die aktuellen innenpolitischen Vorgänge sowie außenpolitische Bestrebungen. Dazu zählten die Anordnungen des Bayerischen Staatsministeriums vom 9. März 1934 zur Saarpropaganda, bei der im Rahmen einer monatlichen Saarstunde die angestrebte Rückführung des Saargebietes thematisiert werden sollte.53 Andere Unterrichtsinhalte wurden demgegenüber gekürzt, um eine ausführliche Behandlung zu gewährleisten.54 Ein weiteres wichtiges Fach neben dem Geschichtsunterricht bildete nach nationalsozialistischer Auffassung Biologie, sodass mit der Verfügung des Reichserziehungsministers Rust 1935 neben dem Themengebiet „Aufbruch der Nation“ auch die Inhalte „Erblehre und Rassenkunde“ dauerhaft in den Unterricht aufgenommen wurden. Während in der Karolinenschule eine Sondersitzung zur Umsetzung des Themas im Unterricht abgehalten wurde, fand der Themenkomplex in der Kreis-Taubstummenanstalt und der Schillerschule nur
50 Christmann, Frankenthals Schulen (wie Anm. 7), 200; Wiegmann, Lehrpläne (wie Anm. 46), 258. 51 Karin Lauf-Immesberger, Literatur, Schule und Nationalsozialismus. Zum Lektürekanon im Dritten Reich. (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Band 16.) St. Ingbert 1987, 37; Ottweiler, Volksschule (wie Anm. 30), 20. 52 SA KG, 3. Lehrerratssitzung 27.10.1933; ZA BVP, Best. 10, Zug.-Nr. 13/2014, Jahresbericht 1938/39; Frankenthaler Zeitung 26.07.1933. 53 In der Schillerschule und der Kreis-Taubstummenanstalt wurde auch beim Anschluss Österreichs, des Sudetenlandes und der Besetzung Böhmen und Mährens nach diesem Schema verfahren, SA KG, Entschließungen der Schulbehörden 1933–1938, Nr. I 9798, 09.03.1934; StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 05.11.1935, 08.11.1935. Siehe zum Geschichtsunterricht auch Horst Gies, Geschichtsunterricht als deutschkundliche Weihestunde. Historische Nabelschau in der nationalsozialistischen Schule, in: Reinhard Dithmar (Hrsg.), Schule und Unterricht im Dritten Reich. Neuwied 1989, 39–85, hier 43. 54 StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 16.10.1933, 09.01.1934, 19.09.–10.10.1938.
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begrenzt beziehungsweise gar keine Anwendung.55 Obwohl unter dem Nationalsozialismus auch das Fach Deutsch eine hervorgehobene Stellung erhielt, geht aus dem Quellenmaterial keine entsprechende unterrichtliche Gestaltung hervor.56 Allerdings liegen gerade zu den höheren Schulen keine Dokumente vor, die einen Einblick in die Themen des Deutschunterrichts geben. Daher kann über die Bedeutung dieses Fachs an den Frankenthaler Schulen keine endgültige Aussage getroffen werden. Die ideologischen Grundsätze, an denen der Schulalltag in Frankenthal ausgerichtet war, erfuhren ihre praktische Anwendung im Fach Leibeserziehung. Die nationalsozialistische Überzeugung, dass sportliche Betätigung nicht nur zur körperlichen, sondern auch zur geistigen Gesundheit und so zu einer Wertsteigerung der eigenen Rasse durch einen dauerhaft gesunden „Volkskörper“ beitragen solle, fand ihren Ausdruck in der Erhöhung und Hervorhebung der Sportstunden durch eine Verordnung des Bayerischen Staatsministeriums. Den eigenen Körper gesund zu halten war nicht länger Aufgabe des Individuums, sondern des Staates, der darüber verfügen konnte.57 Die Umgestaltung des Unterrichts wurde von den Lehrkräften der Karolinenschule in Hinblick auf Abschlussprüfungen durchaus kritisch gesehen. Durch die Beschäftigung mit den aktuellen Ereignissen seien „die Klassen in einzelnen Fächern im Lehrstoff zurückgeblieben“.58 Trotz der thematischen Neuausrichtung waren für die Lehrerschaft die vorherigen Anforderungen und Inhalte weiterhin bestimmend. An der Reaktion der Lehrpersonen wird die Problematik, die sich aus Sicht der Nationalsozialisten bei der Umstrukturierung des Unterrichts stellte, ersichtlich: Aufgrund der Abhängigkeit von den persönlichen Einstellungen der Lehrkräfte bot der Unterricht keine absolute Garantie für eine nationalsozialistische Formung der Schülerschaft.59 Um dem entgegenzuwirken, wurde der Frankenthaler Schulalltag um andere Vermittlungselemente ergänzt. Damit ergab sich eine weitaus stärkere Nazifizierung, als eine solche ausschließlich durch den Un55 SA KG, 28. Jahresbericht 1934/35; Ebd., 5. Lehrerratssitzung 19.02.1935; Ebd., Niederschrift über die 1. Lehrerratssitzung an der Karolinenschule am 24.04.1935. In der Kreis-Taubstummenanstalt erhielt die Thematik ausschließlich in der achten und neunten Klasse Anwendung, ZA BVP, Best. 10, Zug.-Nr. 13/2013, Jahresbericht 1934/35. In der Schillerschule wurden die Lehrkräfte auf eine Schulung hingewiesen, doch die Umsetzung der Inhalte im Unterricht blieb aus, StA FT, VII/3/16, Schultagebuch 03.09.1934. 56 Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 15; Ottweiler, Nationalsozialistische Schulpolitik (wie Anm. 48), 238. 57 Frankenthaler Zeitung 03.05.1933; Barbara Schneider, Die Höhere Schule im Nationalsozialismus. Zur Ideologisierung von Bildung und Erziehung. (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Band 21.) Köln u. a. 2000, 366. Die Leibesübungen ergänzte das Bayerische Staatsministerium durch zahlreiche Erlasse zur Ausrichtung von sportlichen Wettkämpfen, wie die Reichsschwimmwoche im Schuljahr 1934/35, an der sich Mädchen der Schiller- und der Karolinenschule beteiligten, StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 20.06.1934; SA KG, 28. Jahresbericht 1934/35. 58 SA KG, Niederschrift über die 4. Lehrerratssitzung in der Karolinenschule am 18.12.1933. 59 Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 18.
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terricht hätte erfolgen können. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Feiern während der Schulzeit zur Intensivierung der unterrichtlichen Inhalte. Das gemeinsame Gedenken und Feiern zielte mit den pseudoreligiösen Erscheinungen und den Emotionen auf die Stärkung der von der nationalsozialistischen Ideologie beschworenen Volksgemeinschaft und der Identifikation mit der Bewegung. Aufgrund der von den Nationalsozialisten zugesprochenen Wichtigkeit der Feiern für die Indoktrination im Schulalltag erhielten die Frankenthaler Schulen ab 1933 Anordnungen, um eine entsprechende Gestaltung im nationalsozialistischen Sinne zu garantieren.60 Im alltäglichen Schulgeschehen erfolgte eine „Parallelisierung zwischen Unterricht und nationalsozialistischem Jahreszyklus“61, indem an den Frankenthaler Schulen alle Ereignisse mit Verbindung zum Nationalsozialismus gefeiert wurden. Vor allem die Person Adolf Hitler und die mit ihm verbundenen innen- sowie außenpolitischen Ereignisse dienten als Anlass für viele Schulfeiern. Besonders stark kam der Führerkult in Frankenthal in den groß ausgelegten Feiern zum Geburtstag Adolf Hitlers am 20. April zum Ausdruck. An seinem 45. Geburtstag erfolgte im Beisein von Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern der Schillerschule die Umbenennung der Neumayerschule in Adolf-Hitler-Schule62, da es in Frankenthal eine Volksschule geben solle, „die den Namen des größten deutschen Politikers trägt“63. Ein weiteres Mittel der Indoktrination stellten der Rundfunk sowie Filmbeiträge dar. Parallel zu den innen- und außenpolitischen Ereignissen und den Festtagen wurden die Reden Adolf Hitlers und der führenden NS-Funktionäre von den drei Volksschulen, der Berufsschule und der Karolinenschule im Schulfunk gehört.64 Um die Effektivität des Mediums sicherzustellen, ordnete der Reichserziehungsminister am 11. April 1935 für jede Klasse einen Rundfunkempfang im Monat verpflichtend an. Ebenso schrieb das Bayerische Staatsministerium Filmbeiträge vor, dessen Inhalte mit ergänzenden Unterrichtsmaterialien vertiefend nachbearbeitet werden konnten. Der Einsatz von filmischen Inszenierungen zielte durch die belebten Bilder auf eine intensivere Vermittlung der dort aufbereiteten politischen Themen.65
60 Gies, Geschichtsunterricht (wie Anm. 53), 41f; Keim, Erziehung (wie Anm. 42), Band II, 52f; Ottweiler, Volksschule (wie Anm. 30), 190f. 61 Kremer, Sonderschule (wie Anm. 42), 177. 62 SA KG, Jahresberichte 1932/1933–1939/1940; ZA BVP, Best. 10, Zug.-Nr. 13/2013; Ebd., Zug.-Nr. 13/2014. 63 Frankenthaler Zeitung 19.04.1934. Siehe dazu auch StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 20.04.1934. 64 Frankenthaler Zeitung 23.01.1934; SA KG, 1. Lehrerratssitzung 24.04.1935; Maus, Philanthropin (wie Anm. 15), 46. Ob auch an Realschule und Progymnasium ein Rundfunkgerät vorhanden war, lässt sich aufgrund fehlender Quellen nicht feststellen. 65 SA KG, 1. Lehrerratssitzung 24.04.1935; Ebd., Niederschrift über die 2. Lehrerratssitzung in der Karolinenschule am 03.06.1935; ZA BVP, Best. 10, Nr. 167. Siehe dazu auch Ottweiler, Volksschule (wie Anm. 30), 189.
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Ab 1937 gab das Reichserziehungsministerium neue Lehrpläne heraus, zu denen das Bayerische Staatsministerium Anordnungen für die konkrete Umsetzung im Unterricht erließ.66 In der Karolinenschule zeigte sich ein autonomes Agieren hinsichtlich der Einbindung der neuen Lehrpläne, denn Direktor Kleiber stellte den reibungslosen Unterrichtsablauf vor die Anordnungen der beteiligten Instanzen. Nur so könne die Umstellung auf die neuen Lehrpläne, „die schließlich nicht aus tausend Vorschriften, sondern aus den besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen jeder Schule ihre Maßstäbe gewinnt“67, lückenlos ablaufen.68 Als am 15. Dezember 1939 die Richtlinien für die gesamte Volksschule veröffentlicht wurden, war die Einführung neuer Lehrpläne an der Schillerschule durch die Anforderungen des Krieges bereits zweitrangig, da sie zum Lazarett umfunktioniert worden war. Schon zu Beginn des Schuljahres 1938/1939 erhielt der Unterricht im Hinblick auf den Krieg mit den notwendig gewordenen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung andere Aufgaben, wie Luftschutzübungen, die in der Schillerund Karolinenschule einen regelmäßigen Bestandteil des Unterrichts bildeten.69 Insgesamt verweisen die Entwicklungen auf die beständige Ausrichtung des Schulalltags an den Bedürfnissen des NS-Staates. Während der Schulalltag in den Jahren 1933 bis 1935 der Machtsicherung diente und für die ideologische Festigung modifiziert wurde, erfolgte ab 1936 eine Hinwendung zur Außenpolitik und zur Vorbereitung auf den Krieg. Die Schule und ihr Erziehungsauftrag wurden für die Ziele des NS-Regimes instrumentalisiert und den als übergeordnet deklarierten Bestimmungen unterworfen.70
VI. DAS VERHÄLTNIS DER FRANKENTHALER SCHULEN ZUR HITLERJUGEND Die Hitlerjugend (HJ)71 als nationalsozialistische Erziehungsinstanz neben Schule und Elternhaus gewann auch in Frankenthal ab 1933 an Einfluss, sodass die Schu-
66 Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 56. Siehe zur Einführung nationalsozialistischer Lehrbücher und Materialien ab 1935 mit dem Reichslesebuch für die Volksschule und ab 1939 mit den Lesebüchern für die höheren Schulen Keim, Erziehung (wie Anm. 42), Band II, 47; LaufImmesberger, Literatur (wie Anm. 51), 57. 67 SA KG, 32. Jahresbericht 1938/39. In den anderen höheren Schulen lässt sich die Anwendung der neuen Lehrpläne nicht nachvollziehen, da entsprechendes Quellenmaterial fehlt. 68 Ebd. 69 StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 15.06.1938, 28.09.1938, Schultagebuch 28.11.1939; SA KG, Niederschrift über die 1. Lehrerratssitzung in der Karolinenschule am 29.05.1934. 70 Karl Christoph Lingelbach, Erziehung und Schule unter brauner Herrschaft, in: Pädagogische Rundschau 38, 1984, 39–51, hier 47. 71 Der Jugendbund gliederte sich in das „Jungvolk“ (JV) für Jungen von 10–14 Jahren und daran anschließend in die „Hitlerjugend“ (HJ) von 14–18 Jahren. Die weibliche Untergliederung stellten die „Jungmädel“ (JM) von 10–14 Jahren und der „Bund Deutscher Mädel“ BDM von 14–18 Jahren dar, Kollmeier, Erziehungsziel (wie Anm. 37), 62f.
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len ihrer zunehmenden Einwirkung ausgesetzt waren. Die Führung der HJ schaltete systematisch konkurrierende Jugendverbände aus, um als einzige Organisation einen umfassenden Zugriff auf die Frankenthaler Schülerschaft durchzusetzen. Die Freizeitaktivitäten der Schülerinnen und Schüler wurden kontrolliert und die Teilnahme in kommunistischen sowie sozialdemokratischen Verbänden, die als politische Gegner des Nationalsozialismus Repressionen und Verfolgungen ausgesetzt waren, strengstens untersagt. Während in der Karolinenschule und dem Progymnasium keine Beteiligungen in „marxistischen Vereinigungen irgend welcher Art“72 bestanden, wurden an der Real- und Berufsschule einige Schülerinnen und Schüler, die sich in marxistisch definierten Organisationen betätigten, zum Austritt gezwungen.73 Durch die „Gleichschaltung“ und die von den Lehrkräften geforderten Werbemaßnahmen erlangte die HJ eine Monopolstellung. An die Schulen erging vom Bayerischen Staatsministerium der Auftrag, die steigenden Mitgliedszahlen der Schüler in der HJ und der Schülerinnen im Bund Deutscher Mädel (BDM) ab 4. Juli 1934 an drei festgelegten Terminen zu vermelden. Das Bayerische Staatsministerium erlangte über die Zahlen Einsicht in die Vorgänge innerhalb der Schulen, da anhand der Mitgliedschaften der Schülerinnen und Schüler auf die Werbung der Lehrkräfte und ihren Einsatz für das NS-System geschlossen werden konnte.74 Die Schulen erhielten bei einer Beteiligung von 95 Prozent der Schülerschaft die HJ-Fahne, sodass das unterschiedliche Engagement der Schulen auch äußerlich gekennzeichnet wurde. Als erste Frankenthaler Schule hisste die Realschule am 9. Dezember 1935 mit einer Beteiligung von 98 Prozent der Schülerinnen und Schüler an der Jugendorganisation die HJ-Fahne.75 In einer Ansprache wurde die Bedeutung der Mitgliedschaft in der HJ hervorgehoben: Die Schuljugend sei durch den Beitritt zur HJ bereit, „dem Führer bedingungslos ohne Wenn und Aber Gefolgschaft zu leisten und mit dem Blick in die Zukunft an der Vollendung seines Werkes mitzuhelfen.“76 Am 23. Oktober 1936 wurde dann auch der Karolinenschule die HJ-Fahne verliehen.77 Ein möglicher Grund für die im Verhältnis zu den anderen Schulen schwächere Beteiligung der Schülerinnen könnte in dem propagierten Rollenver-
72 LA SP, Best. H 3, Nr. 6876. 73 Ebd.; Hermann Giesecke, Jugend in Verbänden und Organisationen, in: Ernst-Günther Skiba/Christoph Wulf/Konrad Wünsche (Hrsg.), Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Band 8: Erziehung im Jugendalter – Sekundarstufe I. Stuttgart 1995, 80–89, hier 84; Wolfgang Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur. Band I: Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung. Darmstadt 1995, 127. 74 LA SP, Best. H 3, Nr. 6876 und 7003. Siehe dazu auch Fürnrohr, Schulwesen (wie Anm. 23), 187; Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 125. 75 Frankenthaler Zeitung 09.12.1935. 76 Frankenthaler Zeitung 09.12.1935. 77 SA KG, 30. Jahresbericht 1936/37; Ebd., Niederschrift über die 4. Lehrerratssitzung in der Karolinenschule am 02.11.1936; Frankenthaler Zeitung 05.11.1936, 09.11.1936.
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ständnis liegen. Die weibliche Jugend wurde in Hinblick auf eine bevölkerungspolitische Komponente zur Frau und Mutter herangezogen, wohingegen die Jungen eine stärker politische Erziehung erhielten, da sie als Nachfolge der nationalsozialistischen Führung gesehen wurden. Aus dem nationalsozialistischen Rollenbild resultierte eine Zurücksetzung des BDM, die sich in einer weniger rigiden Organisationsstruktur niederschlug, sodass sie den umfassenden Anspruch der männlichen Gliederung nicht erreichen konnte.78 Wegen der steigenden Beteiligung der Schülerschaft an der HJ wurde das Verhältnis zwischen dem Verband und der Schule am 7. März 1934 mit Richtlinien vom Bayerischen Staatsministerium in Absprache mit der Reichsjugendführung geregelt, in denen sowohl die Rechte der Schule als auch der HJ definiert wurden. Für die Aktivitäten der HJ wurde neben dem Mittwochnachmittag als Heimabend auch der Samstag als Staatsjugendtag für die 10–14-Jährigen für schulfrei erklärt. Mit den älteren sowie nicht in der HJ und dem BDM organisierten Schülerinnen und Schülern sollte stattdessen nationalpolitischer Unterricht gehalten werden.79 Neben dem gesteigerten Organisationsaufwand für die Frankenthaler Schulen durch die Umlegung der Stunden auf die fünf übrigen Schultage sowie der Planung des samstäglichen Ersatzunterrichts bedeuteten die Aktivitäten am Staatsjugendtag und die verkürzten Schultage bei gleichem Stoff- und Leistungspensum höhere Anforderungen für die Schülerinnen und Schüler. Um einer Überlastung vorzubeugen, mussten die Schulen neben der Unterrichtszeit am Samstag mit weiteren Kürzungen reagieren. Im Zuge dieser Kürzungen stellte die Lehrerschaft der Karolinenschule fest, dass „die Schulleistung und der Schuleinfluss auf die Erziehung des jungen Menschen zurückgegangen sind“.80 Deshalb forderten die Lehrkräfte und Eltern gegenüber dem BDM eine ausgleichende Kompromisslösung, was zu einer stärkeren Eingrenzung der Betätigung im BDM führte. Trotzdem konnte auch die Karolinenschule die Reduzierung von weiteren Unterrichtsstunden nicht verhindern, worin sich die systematische Zurückdrängung des schulischen Einflusses zur Durchsetzung des totalitären Anspruchs im Bereich der Jugenderziehung widerspiegelt.81
78 Kollmeier, Erziehungsziel (wie Anm. 37), 62f; Gisela Miller-Kipp, Der Bund Deutscher Mädel in der Hitler-Jugend – Erziehung zwischen Ideologie und Herrschaftsprozeß, in: Pädagogische Rundschau 36, Sonderheft, 1982, 71–105, hier 73f. 79 LA SP, Best. H 3, Nr. 7003; SA KG, Entschließungen der Schulbehörden 1933–1938, Nr. VIII 728, 05.01.1935; Ottweiler, Volksschule (wie Anm. 30), 83. 80 SA KG, 1. Lehrerratssitzung 29.05.1934. 81 SA KG, Niederschrift über die 3. Lehrerratssitzung in der Karolinenschule am 07.11.1934; StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 07.09. und 12.11.1934. Als der Staatsjugendtag aufgrund organisatorischer Probleme 1937 wieder aufgehoben wurde, mussten die Schulen die Stundenpläne erneut anpassen, StA FT, Abt. VII/3/16, Schultagebuch 08. und 09.01.1937. Siehe dazu auch Peter D. Stachura, Das Dritte Reich und die Jugenderziehung: Die Rolle der Hitlerjugend 1933–1939, in: Manfred Heinemann (Hrsg.), Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 1: Kindergarten, Schule, Jugend, Berufserziehung. (Veröffentlichungen der
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Die Schüler der Kreis-Taubstummenanstalt waren von den regulären Bannen82 der Jugendorganisation ausgeschlossen. Dieser Umstand änderte sich im April 1934, als auf Beschluss des Reichsjugendführers Baldur von Schirach die taubstummen Schüler durch den Bann „Gehörlose“ in das System der HJ eingegliedert werden sollten. Der grundsätzliche Anspruch, die gesamte Jugend des Deutschen Reiches in der HJ einheitlich zu vereinigen, erstreckte sich damit auch auf die gehörlose Schülerschaft.83 Der Schulleiter Direktor Huber äußerte sich positiv zu dieser Entwicklung, da die Schüler nun „als gleichwertige Volks- und Jugendglieder in der Gefolgschaft des Führers marschieren dürfen“.84 Zwar konnten nun alle arischen und körperlich sowie geistig gesunden Schüler in die HJ eintreten, allerdings mussten sie ihren Sonderstatus durch das Tragen einer gelben Armbinde mit drei schwarzen Punkten an der Uniform kenntlich machen. Das Anlegen der Armbinde war verpflichtend, bei einer Weigerung folgte der Ausschluss aus der Jugendorganisation. Die Definition und Kennzeichnung nach rassenbiologischen Kriterien fand somit auch innerhalb der HJ Anwendung.85 Die starren, der Vereinheitlichung und damit der gesamten Erfassung dienenden Vorschriften des Jugendverbandes waren auf die individuellen Entwicklungsspezifika der gehörlosen Schüler der Kreis-Taubstummenanstalt nicht zugeschnitten und verzögerten die zeitlichen Vorgaben zur Organisation der Kinder und Jugendlichen in der HJ. Eine Angleichung an die nationalsozialistischen Anforderungen gestaltete sich im Gegensatz zu anderen Schulen schwieriger und machte eine ständige Kommunikation mit übergeordneten Instanzen notwendig.86 Das Bemühen von Direktor Huber zeigte schließlich Erfolg, als alle Schüler von der sechsten bis zur neunten Klasse, die für die HJ entsprechend den rassischen und altersbedingten Kriterien zugelassen waren, im Februar 1935 in der Jugendorganisation vereinigt waren. Die Teilnahmebereitschaft spiegle sich auch in der inneren Haltung der HJ wider, da sie laut Direktor Huber „von bestem Geist erfüllt ist, vom Geist der Straffheit einer zuchtvollen Haltung, der Kameradschaftlichkeit und einer geradezu rührenden Hingabe an den Führer“.87
Die Aufstellung einer schuleigenen HJ besaß durch den symbolischen Beitrag an der Bewegung eine wichtige Legitimationsfunktion für die Kreis-Taubstummen-
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Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft, Band 4,1.) Stuttgart 1980, 90–112, hier 92–95; Fürnrohr, Schulwesen (wie Anm. 23), 180; Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 121–124. Als Bann wird die Organisationsstruktur der Hitlerjugend bezeichnet, siehe dazu Kollmeier, Erziehungsziel (wie Anm. 37), 64. ZA BVP, Best. 10, Nr. 200; Manfred Höck, Die Hilfsschule im Dritten Reich. Berlin 1979, 271; Kollmeier, Erziehungsziel (wie Anm. 37), 61. ZA BVP, Best. 10, Zug.-Nr. 13/2013. Ebd., Best. 10, Nr. 200. Ebd.; Höck, Hilfsschule (wie Anm. 83), 52. ZA BVP, Best. 10, Zug.-Nr. 13/2013, Jahresbericht 1934/35.
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anstalt, die mit der Verleihung der HJ-Fahne am 7. März 1936 einen sichtbaren Ausdruck fand.88 Die Einwirkung der HJ an den Schulen verstärkte den Grad der Nazifizierung des Frankenthaler Schulwesens erheblich, da nun die Partei durch ihre Jugendorganisation über Mittel zur Einschränkung des schulischen Einflusses verfügte. Trotz Widerständen an einzelnen Schulen konnten Begrenzungen im Schulablauf nicht verhindert werden, sodass die HJ auch in Frankenthal ihre Machtansprüche durchsetzen konnte. Mit dem Gesetz über die HJ vom Dezember 1936 wurde der Verband als Staatsjugend zur gleichberechtigten Erziehungsinstanz neben Schule und Familie erklärt.89 Mit dem Zugriff des Verbandes auf die Schulen ergänzten die Nationalsozialisten die Indoktrination des Schulalltags, um so ihre Erziehungsansprüche ausnahmslos zu verwirklichen. Zwar war die Wirksamkeit auch von den individuellen Einstellungen der Schülerinnen und Schüler und dem Elternhaus geprägt, doch wurden diese Einflüsse systematisch eingeschränkt und ersetzt.90 Die Frankenthaler Schülerschaft war somit einer nationalsozialistischen Einwirkung in allen öffentlichen Bereichen ausgesetzt, der sie sich schwerlich entziehen konnte.
VII. JÜDISCHE LEHRPERSONEN UND SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER AN DEN FRANKENTHALER SCHULEN Für die Erziehung und Ausbildung der deutschen Jugend waren nach nationalsozialistischer Auffassung nicht alle Lehrerinnen und Lehrer in Frankenthal befähigt. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“91 vom 7. April 1933 wurden in Frankenthal die Lehrpersonen entlassen, „bei denen Verfehlungen festgestellt worden sind“92. Diese Verfehlungen stellten vor allem Verstöße gegen die politischen und rassischen Vorstellungen der Nationalsozialisten dar, die mithilfe von Fragebögen ermittelt wurden.93 An der Realschule wurde der Studienrat Alfred Bloch in den dauernden Ruhestand entlassen, da er aufgrund seiner nichtarischen Abstammung von § 3, Absatz 2 des Gesetzes betroffen war.94 Obwohl das Gesetz zu diesem Zeitpunkt noch
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Christmann, Frankenthals Schulen (wie Anm. 7), 213; Höck, Hilfsschule (wie Anm. 83), 273. Stachura, Jugenderziehung (wie Anm. 81), 99; Giesecke, Jugend (wie Anm. 73), 84. Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 121f; Scholtz, Erziehung (wie Anm. 40), 93. RGBl Teil 1 Jahrgang 1933. Berlin 1933, 175–177. Ebd. LA SP, Best. H 3, Nr. 6871; Frankenthaler Zeitung 06.04.1933. LA SP, Best. H 3, Nr. 6871; Frankenthaler Zeitung 27.09.1933. Die Frankenthaler Zeitung bezeichnet ihn als „Alfred Hoch“. Die Feststellung der nichtarischen Abstammung Alfred Blochs durch das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus wurde auf den 7. August 1933 datiert. Da der Vollzug der Entlassung im September stattfand, lässt sich durch die zeitliche Nähe davon ausgehen, dass es sich in der Frankenthaler Zeitung um einen Druckfehler handelt und Alfred Bloch gemeint ist.
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nicht für Pflegepersonal galt, wurde die Überprüfung dieser Personengruppe in Eigeninitiative der Kreisregierung schon frühzeitig vollzogen. Die erweiterte Anwendung des Gesetzes aus eigenem Engagement verweist auf einen hohen Nazifizierungsgrad der regionalen Instanzen.95 Der jüdischen Pflegerin Elise Usner wurde eine Erklärung vorgelegt, mit der sie ihre arische Abstammung sowie keinerlei Betätigung in der kommunistischen Partei beziehungsweise Verbänden versichern sollte. Als sie diese nicht unterzeichnen konnte, bemühten sich Frau Usner selbst und auch der Direktor der Kreis-Taubstummenanstalt mit verschiedenen Schreiben Ausnahmeregelungen des Gesetzes geltend zu machen, doch die Kündigung am 16. August 1933 konnte nicht abgewendet werden.96 Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurde bis 1936 mehrfach modifiziert.97 Mit den neuen Durchführungsbestimmungen radikalisierten sich die rassischen Ausschlusskriterien für Lehrkräfte sowie die Aufnahme von angehenden Beamten, den Studienassessoren. Als neues Einstellungskriterium an der Karolinenschule wurde nicht nur der Nachweis über die eigene arische Abstammung, sondern auch die der Ehefrau verlangt.98 Zudem fixierte der Reichserziehungsminister Rust in einem Erlass am 2. Juli 1937 den Ausschluss aller jüdischen Lehrerinnen und Lehrer, denn „Juden können nicht Lehrer oder Erzieher deutscher Jugend sein“.99 Neben der Formung des Lehrkörpers nach nationalsozialistischen Vorstellungen waren ab 1933 auch die jüdischen Schülerinnen und Schüler in Frankenthal den Repressionen des NS-Regimes ausgesetzt. Bereits am 14. Juli 1933 verließ die jüdische Schülerin Irmgard Schmitz aus der ersten Klasse die Karolinenschule.100 Ab August 1933 wurde mit dem Vollzug des am 25. April 1933 erlassenen „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“101 an den Frankenthaler Schulen die Aufnahme von nichtarischen Schülern systematisch beschränkt. Die Bestimmungen verschärften sich im Oktober 1933 weiter, als der Gesamtanteil der nichtarischen Schülerschaft an den Schulen nur noch fünf Prozent betragen durfte und überzählige Schülerinnen und Schüler von der Schule entlassen werden mussten. Mit dem Eintritt der jüdischen Schülerin Erna Eckhaus zum 1. September 1933 befanden sich insgesamt fünf jüdische Mädchen an der Karolinenschule, was auch nach den neuen Beschränkungen innerhalb des Richt-
95 LA SP, Best. H 3, Nr. 6871; Christmann, Frankenthals Schulen (wie Anm. 7), 199; Keim, Erziehung (wie Anm. 73), Band I, 80. 96 LA SP, Best. H 3, Nr. 6871. 97 Keim, Erziehung (wie Anm. 73), Band I, 79. 98 Die Änderungen gab das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 31. Oktober 1933 bekannt. Den Nachweis mussten die Studienassessoren Dr. Franz Falkenmaier, Irma Schütz und Eduard Bauer erbringen, SA KG, Entschließungen der Schulbehörden 19331938, Nr. IX 3122, 22.01.1935 und Nr. VIII 48389, 31.10.1933. 99 Bernhard Rust, Verschiedene Erlasse des Reichserziehungsministers, zit. nach: Gamm, Führung (wie Anm. 1), 141. 100 SA KG, 27. Jahresbericht 1933/34. 101 RGBl Teil 1 Jahrgang 1933, 225.
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wertes lag.102 Am Progymnasium und der Realschule waren zu diesem Zeitpunkt insgesamt nur noch zwei jüdische Schüler.103 Die Karolinenschule entließ auch in den folgenden Schuljahren 1934/35 und 1935/36 keine der vier verbliebenen jüdischen Schülerinnen. Zudem nahm sie weiterhin jüdische Schülerinnen auf und ermöglichte ihnen trotz der zunehmenden Ausgrenzung das Absolvieren einer Schulausbildung.104 Der Schulalltag an den Frankenthaler Schulen war durch weitere beschränkende Maßnahmen geprägt, mit denen jüdische Schülerinnen und Schüler ausgegrenzt und diskriminiert wurden. So war der Staat nicht mehr bereit für den israelitischen Religionsunterricht aufzukommen, was durch die geringe Gesamtzahl von sieben verbleibenden jüdischen Schülerinnen und Schülern an den drei höheren Schulen begründet wurde. Der jüdische Religionslehrer Kantor Schottland verlor damit sein Einkommen und emigrierte mit seiner Familie 1937 in die USA.105 In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 erreichte die Verfolgung der Frankenthaler Juden mit der systematischen Zerstörung von jüdischem Eigentum einen Höhepunkt. Der Druck durch die Öffentlichkeit und des NS-Regimes verstärkte sich durch die offenkundige Verfolgung der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner Frankenthals und zeigte seine Auswirkungen auch an der Karolinenschule. Noch am 10. November forderte Direktor Kleiber die zwei verbliebenen jüdischen Schülerinnen Lotte Adler und Edith Samuel auf, die Schule zu verlassen. Die beiden Schülerinnen traten daraufhin aus ihren Klassen aus.106 Wenige Tage später, am 14. November 1938, erfolgte ein Erlass des Bayerischen Staatsministeriums, der die Entlassung jüdischer Schülerinnen und Schüler vorschrieb. In den Schulen waren ab diesem Zeitpunkt „sämtliche jüdischen Schüler und Schülerinnen von jedem Unterricht zu beurlauben“107, was mit dem Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 gesetzlich fixiert wurde.108 Die
102 SA KG, Entschließungen der Schulbehörden 1933–1938, Nr. VIII 46072, 24.10.1933; Ebd., 27. Jahresbericht 1933/34. 103 LA SP, Best. H 3, Nr. 8531; Ebd., Nr. 8537. 104 SA KG, 28. Jahresbericht 1934/35; Ebd., 29. Jahresbericht 1935/36. Die jüdische Schülerin Doris Samuel trat am 31. Oktober 1936 aus der Schule aus; Ebd., 30. Jahresbericht 1936/37. 105 LA SP, Best. H 3, Nr. 8531. Seine Tochter Hanna verließ die Karolinenschule aufgrund der Emigration, siehe dazu auch SA KG, 31. Jahresbericht 1937/38; Roland Paul, Diskriminiert, verfolgt, ermordet. Die Frankenthaler Juden, in: Nestler (Hrsg.), Frankenthal (wie Anm. 6), 325–352, hier 335. 106 SA KG, Jahresbericht 1938/1939; Paul, Frankenthaler Juden (wie Anm. 105), 336–339; Maus, Stadt Frankenthal (wie Anm. 15), 136f. 107 SA KG, Entschließungen der Schulbehörden 1933–1938, 14.11.1938. 108 RGBl Teil 1 Jahrgang 1935. Berlin 1935, 1333–1334; Keim, Erziehung (wie Anm. 42), Band II, 19f.
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Schülerin Lotte Adler wurde 1942/43 nach Auschwitz deportiert. Sie überlebte den Aufenthalt nicht.109 Im Gegensatz zu den Schicksalen der jüdischen Schülerinnen an der Karolinenschule lassen sich die der jüdischen Schülerinnen und Schüler an den anderen Frankenthaler Schulen nicht so weit nachverfolgen. An der Kreis-Taubstummenanstalt sowie an der Realschule und dem Progymnasium war die Zahl der jüdischen Schülerinnen und Schüler bereits im Jahre 1934 sehr gering und die Austritte erfolgten früh. Im Vergleich zu diesen Schulen bot die Karolinenschule den jüdischen Schülerinnen noch lange die Möglichkeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Dies lässt auf einen schwächeren nationalsozialistischen Einfluss an der Karolinenschule im Gegensatz zu den anderen Schulen schließen. Trotz der judenfeindlichen Stimmung erfolgte bis zur radikalen Diskriminierung in der Reichspogromnacht keine Aufforderung zum Austritt der Schülerinnen.
VIII. ZUSAMMENFASSENDE BETRACHTUNG DER FRANKENTHALER SCHULEN Die Untersuchung des Schulwesens in den Jahren 1933–1939 zeigt, dass in Frankenthal eine Ausrichtung der schulischen Strukturen auf die Ziele der Nationalsozialisten erfolgte. Vorrangig war fortan die Erziehung der jungen Generation zum nationalsozialistischen Menschen, der loyal und selbstaufopfernd zur Bewegung stand. Die Maßnahmen und Veränderungen, die an den Frankenthaler Schulen durchgeführt wurden, spiegeln dabei weitgehend die reichsweiten Entwicklungen der Schulpolitik wider. Auch in Frankenthal bildeten die Überprüfung der Lehrerschaft und die Entlassungen aufgrund politischer und rassischer Kriterien in der Phase der „Gleichschaltung“ die personelle Voraussetzung für die anschließende inhaltliche Neuausrichtung des Unterrichts. In erster Linie diente die Maßnahme damit der Einschüchterung und Kontrolle der Lehrerschaft, denn die Entlassungen in Frankenthal und auch im Rest von Bayern hielten sich im Gegensatz zu anderen Ländern in Grenzen.110 In Frankenthal bestätigt sich der aktuelle Forschungsstand, dass nicht in den Entlassungen das maßgebliche Mittel zur Kontrolle der Lehrerschaft bestand, sondern der Fokus vielmehr auf eine Umerziehung gelegt wurde. Darauf verweist der hohe Einfluss des NSLB, der an allen Schulen in Frankenthal nachgewiesen werden konnte. Durch die Organisation der Lehrerinnen und Lehrer im Bund und der damit ermöglichten Indoktrination in Schulungen erlangte der NSLB einen starken Zugriff auf die Schule, was den Grad der Nazifizierung deutlich erhöhte.111
109 Paul, Frankenthaler Juden (wie Anm. 105), 350; Maus, Stadt Frankenthal (wie Anm. 15), 137. 110 Zymek, Schulen (wie Anm. 45), 192; Keim, Erziehung (wie Anm. 73), Band I, 182; Ottweiler, Volksschule (wie Anm. 30), 57. 111 Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 3; Ottweiler, Volksschule (wie Anm. 30), 58–62.
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Fortan waren die Lehrtätigkeit und die Karrieremöglichkeiten von der Loyalität zum nationalsozialistischen Regime abhängig. Die Analyse zeigte, dass vor allem Lehrpersonen aus dem katholischen Milieu in Konflikt mit dem NS-Regime gerieten. Dieses Ergebnis folgt den Tendenzen der Forschung, die auf eine Ablehnung des Nationalsozialismus von vielen Vertretern des Katholizismus aufgrund der abweichenden moralischen Grundsätze verweist. Auch der Vergleich der katholisch und protestantisch geprägten Regionen Deutschlands und ihrer Affinität zum Nationalsozialismus unterstreicht diesen Umstand. In katholischen Gemeinden konnte das NS-Regime schwerer an Einfluss gewinnen als in protestantisch geprägten Gebieten. In Frankenthal waren die Protestanten mit 56,7 Prozent im Jahr 1925 im Vergleich zu 38,8 Prozent katholischer Einwohnerinnen und Einwohner in einer zahlenmäßig geringen Mehrheit vertreten.112 Trotz dieses nicht unerheblichen Anteils der Katholiken konnte sich in Frankenthal der Einfluss der Nationalsozialisten schnell etablieren und beständig festigen. Die Kritik der katholisch geprägten Lehrerinnen und Lehrer verliert jedoch nicht seine Bedeutung, sondern kann als ein Beispiel für die „Resistenz“ gegen die Diktatur gelten, die auch Lehrerinnen und Lehrer in Frankenthal leisteten.113 Obwohl es Protest der Frankenthaler Lehrkräfte gab, war die Nazifizierung der Schule und ihrer Umgebung weit fortgeschritten, sodass abweichendes Verhalten schnell identifiziert und sanktioniert werden konnte. Durch die verschiedenen Maßnahmen, den Zugriff unterschiedlicher Instanzen sowie gleichzeitiger Repression und Anpassungsbereitschaft konnte an den Frankenthaler Schulen der nationalsozialistische Einfluss vergrößert werden. Die Nazifizierung des Frankenthaler Schulwesens drückt sich in einer grundlegenden Funktionsveränderung der Schulen aus. Nicht mehr der traditionelle Bildungsauftrag stand im Vordergrund, sondern die Ausrichtung der schulischen Strukturen an den Bedürfnissen der nationalsozialistischen Bewegung. Diese Schwerpunktverlegung fand ihren Ausdruck in der Definition der Schülerschaft über den Dienst, den sie für die Volksgemeinschaft erbringen konnte und für den die eigentliche Unterrichtszeit erheblich gekürzt wurde.114 Einen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die Anwendung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in der Kreis-Taubstummenanstalt, das mit Sterilisationen die Reinhaltung des „Volkskörpers“ garantieren sollte. Der angestrebte totalitäre Zugriff des Staates auf die Jugend trat mit diesen Vorgängen deutlich in Erscheinung und zeigt, dass dieser Anspruch in Frankenthal durchgesetzt wurde. Die Ergebnisse folgen damit den Feststellungen der Forschung, die ein Dienstbarmachen der Schülerschaft für die Volksgemeinschaft als ein wesentliches Kennzeichen der
112 Fandel, Kirche in der NS-Zeit (wie Anm. 6), 301ff; Hehl, Kirchenvolk (wie Anm. 6), 95. 113 Gerhard Nestler, Verfolgung, Widerstand, Resistenz und Verweigerung, in: Ders. (Hrsg.), Frankenthal (wie Anm. 6), 369–383, hier 382f. 114 Lingelbach, Erziehungstheorien (wie Anm. 70), 17.
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Schulen im Nationalsozialismus hervorheben. Das galt sowohl für die regulären Schulen als auch in radikalisierter Form für die Hilfsschulen.115 Wie die Analyse zeigte, erstreckte sich die Neuausrichtung der schulischen Ziele auch auf den Schulalltag. Während dieser in den ersten Jahren vor allem für die ideologische Festigung instrumentalisiert wurde, stand ab 1936 die Vorbereitung für den Krieg im Vordergrund, die durch Themen der Außenpolitik sowie Luftschutzübungen Einzug in den Unterricht erhielt. Im Mittelpunkt standen die Fächer Geschichte, Naturkunde, Erdkunde und Leibeserziehung, deren ursprüngliche Inhalte reduziert und mit Elementen der nationalsozialistischen Ideologie angereichert wurden. Die Forschung verweist auf die erheblichen Unregelmäßigkeiten bei der Umsetzung, da es noch keine reichseinheitlichen Lehrpläne gab und die ersten Veränderungen von den einzelnen Ländern ausgingen.116 Die Untersuchung bestätigte, dass auch an den einzelnen Schulen in Frankenthal gravierende Unterschiede bei der Stoffauswahl und der Intensität der Behandlung bestanden. Dadurch ergaben sich Diskrepanzen zwischen den allgemeinen Vorgaben und den tatsächlichen Umsetzungen in Frankenthal. Während Rassenkunde und Vererbungslehre eine dominierende Rolle als Unterrichtsgegenstand eingeräumt werden, fanden diese Inhalte in den Frankenthaler Schulen nur begrenzt Anwendung. Ähnlich verhält es sich mit dem Fach Deutsch, dessen wichtige Bedeutung im Fächerkanon unter den Nationalsozialisten hervorgehoben wird.117 An den Frankenthaler Schulen konnte die Bedeutung des Faches für die ideologische Durchdringung im Quellenmaterial nicht nachgewiesen werden. An den Ergebnissen wird ein grundlegendes Problem bei der Ausrichtung des Schulunterrichts deutlich, mit dem sich die Nationalsozialisten konfrontiert sahen. Die Erziehung der Schülerschaft im nationalsozialistischen Sinne konnte auch nach der personellen Überprüfung und den regelmäßigen Schulungen von den Lehrkräften nur begrenzt gewährleistet werden, da die Gestaltung des Unterrichts von deren Persönlichkeit und individuellen Einstellungen abhing. Harald Scholtz erklärt diese Faktoren zu Grenzen bei der Durchsetzung des totalen Machtanspruchs an den Schulen.118 Bei der weiteren Analyse des Schulalltags an den Frankenthaler Schulen konnte jedoch verdeutlicht werden, dass die Nationalsozialisten diesen Begrenzungen durch die Integration von weiteren Elementen entgegensteuerten. Mit einer Vielzahl von Festen, dem Besuch von Filmen sowie dem gemeinschaftlichen Rundfunkempfang, zu denen die Frankenthaler Schulen verpflichtet wurden, etablierten sie weitere Instrumente der nationalsozialistischen Indoktrination im Schulalltag. Dabei zeigte die Untersuchung im Zusammenhang mit dem Schulfunk ein deutlich anderes Ergebnis als die These Rolf Eilers, der dem Rundfunkempfang im Vergleich zu den anderen Medien eine geringe Rolle
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Ottweiler, Volksschule (wie Anm. 30), 116. Zymek, Schulen (wie Anm. 45), 190ff; Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 18. Lauf-Immesberger, Literatur (wie Anm. 51), 55; Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 13f. Scholtz, Erziehung (wie Anm. 40), 14.
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zuspricht.119 Zumindest bei der Mehrheit der Frankenthaler Schulen hatte der Rundfunkempfang eine wichtige Stellung bei der Vermittlung der nationalsozialistischen Weltanschauung. Erst durch die Integration dieser Elemente in den Schulalltag konnte das hohe Maß der Indoktrination erreicht werden, wohingegen die reguläre Unterrichtsvermittlung eine deutlich nachgeordnete Rolle erhielt. Die Grenzen des totalen Machtanspruchs, die Scholtz aufzeigt, konnten somit in Frankenthal durch die Verwendung ideologisch wirksamer Medien umgangen werden. Durch diese Neuausrichtung des Schulalltags in Verbindung mit der Integration von Feiern und neuer Medien kompensierten die Nationalsozialisten zudem das Fehlen von Lehrplänen und -büchern.120 Trotz der tiefgreifenden Kontrolle der schulischen Strukturen und der inhaltlichen Veränderung bestätigen die Ergebnisse, dass eine nachhaltige nationalsozialistische Erziehung der jungen Generation für die Nationalsozialisten nicht ausschließlich durch die Schule gewährleistet werden konnte. Es wurde ein starker Zugriff der HJ an allen Frankenthaler Schulen nachgewiesen, der den Einfluss der Schule als Erziehungsinstanz reduzierte. Mit dem umfassenden Beitritt der Frankenthaler Schülerschaft zu der parteilichen Jugendorganisation wurde der totale Anspruch des Staates einmal mehr demonstriert. Die Tendenzen der Forschung, die der weiblichen Gliederung einen geringeren Organisationsgrad zusprechen, bestätigen sich auch im Vergleich der Frankenthaler Schulen.121 Die höheren Knabenschulen konnten sehr viel früher fast den kompletten Beitritt der Schüler verzeichnen, während der Eintritt der Schülerinnen am Mädchenlyzeum zu den Jungmädel beziehungsweise dem BDM zögerlicher erfolgte. Zudem machte die Karolinenschule sehr stark ihre Rechte als Schule gegenüber dem Bund geltend, was durch den schwächeren Einfluss der Jugendorganisation an der Schule begünstigt wurde. Trotzdem konnte sich auch die Karolinenschule dem totalen Anspruch von BDM nicht entziehen, sodass die Einschränkungen des Schulunterrichts auch an dieser Schule akzeptiert werden mussten. Obwohl an jeder Schule die Ausrichtung an nationalsozialistischen Grundsätzen erfolgte, wurden unterschiedliche Tendenzen der Einzelschulen in Frankenthal hinsichtlich der Stärke des erfolgten Zugriffes und der Affinität zum Nationalsozialismus erkennbar. Diese Abstufungen waren sowohl schulartspezifisch als auch abhängig von den Einstellungen der Einzelpersonen, die an den Schulen tätig waren. Besonders deutlich wird dieser Umstand in Zusammenhang mit der jüdischen Schülerschaft in Frankenthal. Die Untersuchung zeigte, dass die Karolinenschule im Gegensatz zu den anderen Schulen trotz der judenfeindlichen Stimmung im Deutschen Reich weiterhin jüdische Schülerinnen aufnahm, die noch bis zur Reichspogromnacht die Schule besuchen konnten. Der Vergleich der Schulen lässt darauf schließen, dass der nationalsozialistische Einfluss an der Karolinenschule geringer war, was auch durch die Ergebnisse aus anderen Kategorien un119 Eilers, Schulpolitik (wie Anm. 22), 32f. 120 Wiegmann, Lehrpläne (wie Anm. 46), 262. 121 Miller-Kipp, Bund Deutscher Mädel (wie Anm. 78), 72f.
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terstützt wird. Neben dem schwächeren Zugriff der HJ stand an der Schule weiterhin der Bildungsauftrag im Vordergrund und wurde gegenüber den einschränkenden Maßnahmen verteidigt. Trotzdem konnte auch die Karolinenschule ihre Autonomie nicht wahren, sondern musste sich den Vorschriften beugen. Im Gegensatz dazu war der Zugriff an der Kreis-Taubstummenanstalt durch ihre Funktion als Sammelschule für vermeintlich erbkranke Schülerinnen und Schüler grundsätzlich stärker als an den übrigen Frankenthaler Schulen. Gleichzeitig förderte die Schulleitung die Anpassung der schulischen Strukturen an die nationalsozialistischen Richtlinien, obwohl dies mit erheblichen Anstrengungen verbunden war. In der Forschung wird die erhöhte Anpassungsbereitschaft und das linientreue Verhalten der Hilfsschulen und ihrer Pädagoginnen und Pädagogen mit der benötigten Legitimation dieser Schulart unter dem Nationalsozialismus erklärt.122 Die Untersuchung bestätigt diese Tendenz für die Kreis-Taubstummenanstalt, denn Direktor Huber betonte verstärkt die Gleichwertigkeit der Schülerschaft und den Nutzen ihrer Arbeitskraft für die Volksgemeinschaft.
IX. FAZIT Die Unterschiede zwischen den Schulen verdeutlichen, dass sich die Durchsetzung des Machtanspruchs in den Jahren 1933–1939 nicht gleichförmig und unbegrenzt vollzog, sondern von den schulspezifischen Charakteristika und den Akteuren abhing. Trotz der Unterschiede konnte sich jedoch keine Schule der tiefgreifenden Nazifizierung entziehen, da eine Vielzahl von Maßnahmen etabliert wurde, die auf Schule und Unterricht einwirkte. Erst durch dieses Zusammenspiel konnte das hohe Ausmaß des Zugriffs erlangt, die schulischen Strukturen an die Zielsetzungen des Regimes angepasst und eine umfassende inhaltliche Indoktrination erreicht werden, um die Schulen für die nationalsozialistische Bewegung nutzbar zu machen.123 Mit dem Eintritt in den Krieg änderte sich der Schulalltag in Frankenthal nochmals grundlegend, da er eine Ausrichtung an den kriegsbedingten Erfordernissen erfuhr. Diese Veränderungen im Frankenthaler Schulwesen ab 1939 bilden einen weiteren interessanten Untersuchungsgegenstand, dessen Bearbeitung an die Ergebnisse dieser Arbeit anknüpfen könnte. Die Durchsetzung des totalen Machtanspruchs an den Schulen stellte die Voraussetzung für die Verwirklichung der nationalsozialistischen Erziehungsansprüche dar, die auf eine tiefverwurzelte Prägung der Jugend mit dem Nationalsozialismus und einen daraus resultierenden bedingungslosen, selbstaufopfernden Einsatz zur Verteidigung seiner Grundsätze zielte. Innerhalb dieses Bedeutungswandels der Erziehung wurden die Kinder und Jugendlichen nicht mehr als Individuen gesehen, deren Förderung die Schule verantwortete, sondern als Ressourcen für 122 Keim, Erziehung (wie Anm. 42), Band II, 114; Kremer, Sonderschule (wie Anm. 42), 168f; Höck, Hilfsschule (wie Anm. 83), 121f. 123 Schreckenberg, Ideologie (wie Anm. 34), 194.
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den Staat verstanden. Resultierend aus dieser rein funktionalen Sicht auf die Heranwachsenden wurde der Erziehung ihr Ziel aberkannt, zur Entwicklung der individuellen Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen beizutragen. Die nationalsozialistische Auslegung entsprach damit vielmehr einer Destruktion von Erziehung, da sie ihre Eigenschaften ins Gegenteil verkehrte.124 Trotz der Zersetzung des erzieherischen Auftrages ermöglichte die Nazifizierung der Schulen die Ausrichtung auf die entfremdeten Erziehungsziele. In der ihnen zugewiesenen Funktion stellten die Schulen dann einen entscheidenden Faktor der Machtsicherung für das NS-Regime dar.
124 Lingelbach, Erziehungstheorien (wie Anm. 70), 22; Klöcker, Schule im NS-Staat (wie Anm. 44), 389.
IN „SCHUTZHAFT“ IM (FRÜHEN) KONZENTRATIONSLAGER NEUSTADT A. D. HAARDT Hintergründe und Funktion der „Schutzhaft“1 Miriam Breß
I. EINFÜHRUNG: DAS (FRÜHE) KONZENTRATIONSLAGER NEUSTADT Nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 setzten überall im Deutschen Reich Massenverhaftungen ein. Legitimiert wurden diese durch das Instrument der „Schutzhaft“, welches keinem Richtervorhalt unterlag und gegen das die Betroffenen auch keine Rechtsmittel einlegen konnten. Bereits seit ihrer Entstehung Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die „Schutzhaft“ den Charakter einer sicherheitspolizeilichen Repressivmaßnahme. Unter der Koalitionsregierung aus NSDAP und DNVP wurden explizit die Bestimmungen von „Schutzhaftmaßnahmen“ verschärft und parallel Grundrechte außer Kraft gesetzt. Bis April 1934 wurde die Verhängung der „Schutzhaft“ auf Länderebene geregelt.2
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Dieser Aufsatz basiert auf den Ergebnissen einer Masterarbeit, die am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vorgelegt wurde. Im Rahmen der Arbeit wurden insgesamt circa 350 Archivbestände insbesondere des Landesarchivs Speyer (LarchSP) ausgewertet sowie der „Landauer Anzeiger“, der „Pfälzer Kurier“ und die „Pfälzische Presse“. Gefördert wurden die Recherchen von der Gedenkstätte Neustadt a.d. Weinstraße. Vgl. zur Geschichte der „Schutzhaft“ insbesondere Klaus Drobisch/Günther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933–1939. Berlin 1993, hier 16–25. Im Folgenden wird der Begriff der „Schutzhaft“ beziehungsweise der „Schutzhaftgefangenen“ genutzt. Dies hat unter anderem den Grund, dass es sich bei der „Schutzhaft“ um ein damals legales polizeiliches Instrument handelte. Die Nutzung der Begriffe „Haft“ beziehungsweise „Gefangene“ würden dies überdecken und einen Einklang mit der Justiz suggerieren. Die Begriffe „(politische) Haft“ bzw. „(politische) Gefangene“ würden hingegen darüber hinaus nahe legen, dass die „Schutzhaftgefangenen“ ausschließlich politisch in Frontstellung zum Nationalsozialismus standen. Gegen den Begriff der „Schutzhaft“ spricht, dass er meistens mit der Vorstellung einer Haft zum eigenen Schutze der Verhafteten verknüpft wird. Blickt man allerdings in Zeitungen und Erlasse 1933/34 wird die „Schutzhaft“ primär mit einem Schutz der Bevölkerung vor den Betroffenen in Verbindung gebracht. Die Nutzung des Begriffes „Schutzhaftlager“ für die (frühen) Konzentrationslager hingegen verkennt, dass das Instrument der „Schutzhaft“ auch in Konzentrationslagern wie Sachsenhausen und Buchenwald Inhaftierungen legitimierte. Ebenfalls wurde der Begriff des „Schutzhaftlagers“ – zumindest für Neustadt – zeitgenössisch kaum genutzt. Hingegen wurde der Begriff des Konzentrationslagers vor allem von „Schutzhaftgefangenen“ bereits ab 1933 und von Bezirksämtern (verstärkt retroperspektiv ab 1936) verwendet. Zum Begriff des (frühen) Konzentrationslagers siehe ausführlich: Carina
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In Bayern, zu dem die Pfalz damals gehörte, hatte der neu eingesetzte bayerische Innenminister, Adolf Wagner, am 10. März 1933 veranlasst „sofort sämtliche kommunistische Funktionäre und Reichsbannerführer im Interesse der öffentlichen Sicherheit in Schutzhaft zu nehmen“.3 Eine feste Definition der Begriffe „kommunistischer Funktionär“ und „Reichsbannerführer“ erfolgte allerdings nicht. Die Auslegung lag in den Händen der Verfolger. So merkte das Bezirksamt Zweibrücken bei der „Schutzhaft“ eines „jüdischen“4 Rechtsanwaltes an, dass „auf keinen Fall […] diese Begriffe aber zu eng oder formalistisch ausgelegt werden“ dürfen.5 Offiziell wurden in Bayern bis zum 1. April 1933 5 000 Personen in „Schutzhaft“ genommen6, davon allein bis zum 28. März 1933 über 900 Personen in der Pfalz7. Die „Schutzhaftgefangenen“ wurden zunächst in Polizei- und Justizgefängnissen festgehalten. Da diese aber bald überfüllt waren, entstanden bereits im März 1933 erste Konzentrationslager. Nach aktueller Forschungslage gab es reichsweit insgesamt circa 100 dieser (frühen) Konzentrationslager.8 Entgegen des Mythos’ der „wilden Konzentrationslager“9 kam es bei den (frühen) Konzentrationslagern zwischen den staatlichen Dienststellen, insbesondere der Polizei, und den NSDAP-Parteiformationen bereits 1933 zu einer engen Zusammenarbeit.10
Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933–34/37. (Geschichte der Konzentrationslager, Band 6.) Berlin 2005, hier 53–62. 3 LarchSP H41 304, Funkspruch (Abschrift) bayerisches Innenministerium Adolf Wagner an die bayerische Polizeidirektionen und Staatspolizeiämter vom 10.03.1933 um 02.31 Uhr. 4 Es soll an dieser Stelle verdeutlicht werden, dass wenn hier von „jüdischen“ „Schutzhaftgefangenen“ gesprochen wird, zwangsläufig die Deutungshoheit der Verfolger übernommen wird. Die Definitionsmacht wer „Jude“ sei, lag nicht bei den Betroffenen selbst. „Juden“ wurden nicht als religiöse, sondern als von ihren Verfolgern „rassisch“ definierte Minderheit verfolgt. 5 LarchSP J1 1098, Bericht des Bezirksamts (Staatspolizeiamt) Zweibrücken vom 20.03.1933. 6 Drobisch/Wieland, System (wie Anm. 2), 37. 7 Landauer Anzeiger (LA) 28.03.1933. Der rapide Anstieg der „Schutzhaftgefangenen“ spiegelte sich auch in der Presse wider. So wurde zunächst von 639 Personen in „Schutzhaft“ berichtet (LA 18.03.1933), dann von 806 (LA 22.03.1933) und von 857 Personen (LA 23.03.1933). 8 Wolfang Benz/Barbara Distel, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Der Ort des Terrors. (Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 2.) München 2005, 9–14, hier 9. 9 Der Mythos der „wilden Konzentrationslager“, der suggeriert, dass eine durch die SA und SS vorgenommene „Schutzhaft“ ohne die Kenntnis und Unterstützung der Polizei und Verwaltung stattfand, entstand in der Nachkriegszeit durch Zeugenaussagen führend Beteiligter bei der Errichtung dieser Konzentrationslager, die ihre Beteiligung herunterspielen wollten. Vgl. hierzu insbesondere Irene Mayer-von Götz, Terror im Zentrum der Macht. Die frühen Konzentrationslager in Berlin 1933/34–1936. (Geschichte der Konzentrationslager, Band 9.) Berlin 2008, hier 40–42. 10 Johannes Tuchel, Organisationsgeschichte der „frühen“ Konzentrationslager, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Instrumentarium der Macht. Frühe Konzentrationslager 1933– 1937. (Geschichte der Konzentrationslager, Band 3.) Berlin 2003, 9–26, hier 13.
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Zum zentralen „Schutzhaftort“ in der Pfalz wurde das am 10. März 1933 eingerichtete (frühe) Konzentrationslager Neustadt.11 Offiziell zum Beauftragten des Lagers Neustadt, zumindest ab dem 20. März 1933, wurde Adam Durein.12 Zuvor hatte diesen Posten wohl Eugen Huber inne.13 Bei den Verhaftungen und der Beaufsichtigung waren Neustadter und Kaiserslauterer Polizeibeamte beteiligt sowie die Schutzpolizei und SA- und SS-Hilfspolizisten.14 Das (frühe) Konzentrationslager wurde in offiziellen Dokumenten der Lagerleitung als „politisches Gefangenenlager“ bezeichnet.15 Von der Justiz wurde der Begriff „Polizeihaftanstalt“ genutzt.16 Anfang April 1933 folgte die Auflösungsorder für Neustadt.17 Insgesamt befanden sich nachweislich im Laufe dessen Bestehens 453 Männer und eine Frau in „Schutzhaft“. Einige waren nur wenige Stunden im Lager, andere mehrere Wochen. Allein mindestens 52 Männer und eine Frau, also knapp 12 Prozent der „Schutzhaftgefangenen“, waren „Juden“. Im Folgenden soll es um die Funktionen der „Schutzhaft“ bei der Konsolidierung des NS-Regimes und der sogenannten „Volksgemeinschaft“18 gehen.
11 LA 17.03.1933; Pfälzische Presse (PP) 20.03.1933. 12 *1883 in Mechtersheim (Kreis Speyer), war SA-Standartenführer, 1930 Beitritt zur NSDAP und SA, bis 1934 Leiter der SA-Ortsgruppe Deidesheim (Kreis Neustadt), ab 1935 hauptamtlicher SA-Führer, † 1948 in Mainz. (Franz Maier, Biographisches Organisationshandbuch der NSDAP und ihrer Gliederungen im Gebiet des heutigen Landes Rheinland-Pfalz. [Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Band 28.] 2. Aufl. Mainz 2009, hier 196f.; vgl. hierzu auch: LarchSP R18 E13216 und LarchSP J72 332). In den lagerinternen Unterlagen befinden sich Schriften mit seiner Unterschrift ab dem 20. März 1933 (vgl. LarchSP H90 58). 13 *13.5.1902 in Mundenheim (Kreis Ludwigshafen), 1928 NSDAP- und SA-Beitritt, seit 1930 Obersturmführer der SS Neustadt und Bad Dürkheim, 1933–37 Angestellter beim Arbeitsamt Ludwigshafen, 1940–45 Wehrmacht, als „Minderbelasteter“ entnazifiziert. (Vgl. LarchSP R18 A21343 sowie LarchSP J72 332). Der Wechsel von Huber zu Durein erfolgte vermutlich wegen dem Öffentlichwerden der schweren Misshandlungen Mitte März 1933. Siehe hierzu auch: Drobisch/Wieland, System (wie Anm. 2), 50. 14 LarchSP J83 2540, Urteil des Sondergerichts für den Oberlandesgerichtsbezirk Zweibrücken beim Landgericht Frankenthal gegen Otto Michel vom 31.5.1933. Diese Angabe der Verantwortlichen für das (frühe) Konzentrationslager Neustadt deckt sich mit den lagerinternen Unterlagen (vgl. LarchSP H90 58) sowie mit den Zeugenaussagen in den Nachkriegsprozessen (vgl. insbesondere LarchSP J72 332 und J72 378). 15 LarchSP H90 58, diverser Schriftverkehr der Lagerverwaltung. 16 LarchSP J1 1098, Schreiben des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Zweibrücken an das Staatsministerium der Justiz München vom 29.03.1933; LarchSP H90 58, Schreiben des Vorstandes des bayer. Amtsgerichts Neustadt an die Polizeihaftanstalt in der Kaserne des freiwilligen Arbeitsdienstes vom 16.03.1933. 17 LarchSP H90 58, Der Beauftragte des Gefangenenlagers Neustadt/Haardt an die Polizeidirektion Kaiserslautern am 05.04.1933 sowie dort enthaltene Listen über die Räumung des Konzentrationslagers; Pfälzer Kurier (PK) 13.04.1933; Chronik der Stadt Neustadt (12.04.1933). 18 Siehe hierzu insbesondere: Frank Bajohr/Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2009.
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II. ZERSTÖRUNG DER ARBEITERBEWEGUNG 1. Zerstörung der Parteistrukturen Blickt man nur in die „Verschubungslisten“19, befanden sich im (frühen) Konzentrationslager Neustadt primär „Reichsbannerführer“ und „kommunistische Funktionäre“. Schaut man aber auf weitere Quellen zu den Betroffenen, fällt auf, dass dort angegebene Funktionen teilweise nicht stimmen und vereinzelt nicht einmal die Parteizugehörigkeit der Realität entspricht. Zudem wurden ihnen oftmals von ihren Verfolgern, insbesondere von den örtlichen Gendarmerien und der Gestapo, für die Zeit vor März 1933 zusehends mehr und andere Funktionen in der KPD und der SPD zugeschrieben. Schon in den „Verschubungslisten“ wurden aus Personen, die nachweislich erst Tage zuvor der KPD beitraten, „kommunistische Funktionäre“. Andere waren nachweislich gar nicht bei der KPD oder traten Jahre zuvor bereits aus. Selbst Sozialdemokraten wurden teilweise mit „KPD“ markiert. Mehrheitlich galten allerdings Sozialdemokraten auf den „Verschubungslisten“ – unabhängig von einer tatsächlichen Funktion im Reichsbanner – als „Reichsbannerführer“. Auch wenn einzelne Markierungen hochgradig hinterfragt werden müssen, da durch diese die „Schutzhaft“ der einzelnen Betroffenen gemäß der Anweisung von Wagner Legitimierung erfuhren, wurde mit der „Schutzhaft“ die Zerschlagung der Parteistrukturen der KPD und SPD betrieben. Ein Großteil der „Schutzhaftgefangenen“ im (frühen) Konzentrationslager Neustadt waren Anhänger, Mitglieder und Funktionäre der KPD und ihren Nebenorganisationen. Bereits durch die am 1. März 1933, noch unter der Regierung des bayerischen Ministerpräsidenten Heinrich Held (BVP), erlassenen Ausführungsbestimmungen des bayerischen Innenministeriums zur „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“, wurden kommunistische periodische Druckschriften für vier Wochen sowie Parteiversammlungen verboten, Parteibüros wurden geschlossen, Hausdurchsuchungen und die Verhaftungen von „kommunistischen Aufwieglern“ ermöglicht.20 So befanden sich bereits vor dem 10. März 1933 einige Kommunisten, die später ins (frühe) Konzentrationslager Neustadt gebracht wurden, nachweislich in „Schutzhaft“. Der Großteil der „Schutzhaftgefangenen“, die der KPD oder deren Nebenorganisationen angehörten, wurde jedoch nach dem Erlass Wagners in „Schutzhaft“ genommen. Laut „Verschubungslisten“ befanden sich im (frühen) Konzentrationslager Neustadt Ortsgruppenleiter, Schriftführer, Kassierer, Kuriere, Literaturobmänner, Redner, Flugblattverteiler der KPD und selbst (ehemalige) Wirte der Parteilokale sowie Anhänger, Mitglieder und Funktionäre der KPD-Nebenorganisationen (Rot-
19 Die „Verschubungslisten“ befinden sich in: LarchSP H90 58. 20 Günter Braun, Verfolgung – Emigration – Widerstand. Pfälzische Sozialdemokraten unter der Naziherrschaft, in: Manfred Geis/Gerhard Nestler (Hrsg.), Die pfälzische Sozialdemokratie. Beiträge zu ihrer Geschichte von den Anfängen bis 1948/49. Edenkoben 1999, 505–531, hier 507.
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frontkämpferbund, Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition, Erwerbslosenausschüsse, KPD-Radioklub, Rote Hilfe, Rot Sport, Kommunistischer Jugendverband [KJVD] und Antifaschistische Aktion). Sie wurden häufig zudem als „(heimlicher) Hetzer“, „(heimlicher) Aufwiegler“, „(ziemlich) frech“, „(äußerst) gehäßig“, „(äußerst) gefährlich“, „verlogen“ und „polizeibekannter Bursche“ beschrieben. Gerade Mitglieder und Jugendleiter der KJVD wurden als „große Faulenzer“, als „unerzogen“ und als „erzieherischer Einwirkung bedürftig“ skizziert. Es fallen aber auch Kommentare wie „bisher nicht auffallend in Erscheinung getreten“ auf. Letztlich waren die „Schutzhaftmaßnahmen“ gegenüber Kommunisten so erfolgreich, da sie sich auf Material stützen konnten, das örtliche Gendarmerien und Polizei seit Jahren gesammelt hatten.21 Vor 1933 konnte die Polizei allerdings die späteren „Schutzhaftgefangenen“ nicht festnehmen, weil „nichts greifbares vorgefunden wurde“.22 Ludwig Heyer wurde offiziell allein deshalb in „Schutzhaft“ genommen, weil er „als seine Genossen ins Gefängnis gebracht wurden, ‚RotFront-Rufe‘ aufbrachte“.23 Mit Franz Braun und Philipp Hügly waren auch zwei Reichstagskandidaten der Wahl vom März 1933 in Neustadt in „Schutzhaft“. Einige „Schutzhaftgefangene“ wurden explizit deshalb in „Schutzhaft“ genommen, weil sie nach dem ersten Schock der Massenverhaftungen versuchten, die Parteistrukturen wiederaufzubauen und in die Illegalität zu überführen. Anders als die KPD hatte sich die SPD nicht ansatzweise auf eine Illegalität vorbereitet. Auch nach Einsetzung des Kabinetts Hitler hielt die SPD-Führung des Reiches an der Legalität fest. Offiziell richteten sich die ersten Maßnahmen im März 1933 nicht gegen die SPD, sondern gegen ihre Presse und ihre Nebenorganisationen (Reichsbanner, Sozialistische Arbeiterjugend [SAJ]). Gemäß der Anweisung Wagners befanden sich auch primär Mitglieder, Schriftführer, technische Führer und Kassierer des Reichsbanners oder Reichsbannerführer sowie SAJMitglieder im (frühen) Konzentrationslager Neustadt. In den „Verschubungslisten“ wurde zwar oftmals auch auf eine tatsächliche oder geglaubte Stellung dieser in der SPD verwiesen – SPD-Führer, SPD-Funktionär, Vorstand der SPDOrtsgruppe, Redner, Roter Betriebsobmann/-rat, SPD-Angehöriger – diese standen aber nur in drei Fällen ohne eine zeitgleiche Verbindung zum Reichsbanner. Oftmals wurden sie weiterhin als „Hasser des Nationalsozialismus“ oder als „großer Nationalistenhasser“ charakterisiert, nur vereinzelt parallel dazu als „Aufwiegler“ und „gefährlicher Agitator“ für Misshandlungen „empfohlen“.24 Auf den 21 Diverse Gestapoakten und Karteien. Die Beobachtung betraf vor allem tatsächliche und vermeintliche Ortsgruppenführer sowie Personen, die sich 1929 als Stadtratskandidaten aufstellen ließen. 22 Vgl. LarchSP H90 58 sowie diverse Gestapobestände. Zitat aus: LarchSP H91 3582, Schreiben der Gendarmeriestation Steinwenden an die Bezirksamtsaußenstelle Landstuhl am 13.01.1933. 23 LA 13.03.1933. Siehe hierzu auch: PP 14.03.1933 und PK 14.03.1933. 24 Vgl. zum Stigma des Verrates und der Vaterlandslosigkeit, das Sozialdemokraten seit dem Kaiserreich angeheftet wurde: Gerhard Paul, Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933. 2 Aufl. Bonn 1992, hier 223–225.
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später angelegten Gestapo-Karteikarten fungierten viele, die 1933 als „Reichsbannerführer“ nach Neustadt verbracht wurden, nur noch als „SPD-Funktionäre“, ohne dass eine Funktion im Reichsbanner erwähnt wird. Anders aber als bei der KPD betrafen die „Schutzhaftmaßnahmen“ gegen Sozialdemokraten nicht die gesamte Partei, sondern vor allem Männer, die sich vor 1933 aktiv gegen die NSDAP gestellt hatten sowie SPD-Mandatsträger. Durch Mehrfachmitgliedschaften und die Auswirkungen auf nicht verhaftete Genossen und Genossinnen wurde aber ein ganzes sozialdemokratisches Milieu durch die „Schutzhaft“ zerstört. Im (frühen) Konzentrationslager Neustadt befanden sich ebenfalls zwei Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP): Ludwig Manderschied und Hans Schreiber. Generell war allerdings die Bedeutung der linken Zwischengruppen in der Pfalz – vor allem außerhalb Ludwigshafens – gering.25 Weiterhin befanden sich in Neustadt zwei Gewerkschaftssekretäre in „Schutzhaft“: Hans Braun aus Lambrecht und Robert Nuthmann aus Kaiserslautern. Ob ihre „Schutzhaft“ vor allem die Gewerkschaft treffen sollte, kann momentan weder bestätigt noch ausgeschlossen werden. Braun war Gemeinderatsmitglied in Mußbach (Kreis Neustadt) und dort „sehr verhasst“.26 Und Nuthmann wurde bei seiner „Verschubung“ neben der Gewerkschaft noch mit dem Reichsbanner und der SPD in Verbindung gebracht.27 Später wurde er als „SPD-Funktionär“ erfasst.28 Wegen „Abwicklung gewerkschaftlicher Angelegenheiten“ wurde er bereits am 15. März 1933 aus dem Konzentrationslager entlassen.29 Am 2. Mai 1933 erfolgte auch in der Pfalz die Besetzung der Gewerkschaftshäuser.30
2. Homogenisierung und Kriminalisierung der Arbeiterbewegung Unter den ersten „Schutzhaftgefangenen“ im (frühen) Konzentrationslager Neustadt befanden sich 43 Mitglieder und Anhänger des Touristenvereins „Naturfreunde“, welche während einer Tagung des Musikausschusses in Wachenheim in „Schutzhaft“ genommen wurden.31 Es sei „bekannt“ – so der „Pfälzer Kurier“ – „daß sich in diesem Naturfreundehaus eine größere Anzahl Personen aufhielten,
25 Siehe zu den linken Zwischengruppen aber auch allgemein zur Arbeiterbewegung in der Pfalz: Klaus J. Becker, Gespalten in den gemeinsamen Untergang. Die pfälzischen Arbeiterparteien 1930–1933, in: Gerhard Nestler/Stefan Schaupp/Hannes Ziegler (Hrsg.), Vom Scheitern der Demokratie. Die Pfalz am Ende der Weimarer Republik. Karlsruhe 2010, 229–262. 26 Interview mit Emilie Karl geführt von Karl Fücks 1984. Das Interview liegt der Gedenkstätte Neustadt vor. 27 LarchSP H90 58, Verschubungsliste Kaiserslautern 14.03.1933. 28 LarchSP H91 Kartei Robert Nuthmann. 29 LarchSP H90 58, Schreiben der Polizeidirektion Kaiserslautern an den Stadtkommissar Neustadt am 15.03.1933. 30 Braun, Verfolgung (wie Anm. 20), 513. 31 LarchSP P15 49, Fragebogen bzgl. Entnazifizierung ausgefüllt von Hugo Günther (ohne Datum).
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die der KPD, der SPD und deren Nebenorganisationen angehörten.“32 Als Funktionäre wurden sie nicht bezeichnet. Mit dem Bild einer verbotenen Versammlung von KPD- und SPD-Angehörigen wurde zu einer Zeit, in der die Lokalzeitungen immer wieder von (angeblichen) Waffenfunden bei der Arbeiterbewegung berichteten, das Bild einer gefährlichen und homogenen Arbeiterbewegung gemalt.33 Sprich: der Musikausschuss der Naturfreunde wurde allein dadurch kriminalisiert, dass Worte genutzt wurden wie „verboten“, „KPD“ und „SPD“. Angaben über tatsächliche Gewalttaten oder Waffenfunde fehlen in den Berichten über die „Schutzhaft“ der Naturfreunde. Über die tatsächlichen Parteizugehörigkeiten der 43 Naturfreunde ist fast nichts bekannt, da kaum weitere Quellen über sie vorhanden sind. Alleine zehn von ihnen waren unter 20 Jahren. Der jüngste „Schutzhaftgefangene“ des Neustadter Lagers, der 15-jährige Gustav Endres, war einer von ihnen. Die Definitionsmacht, wer „Reichsbannerführer“ oder „kommunistischer Funktionär“ war, lag in den Händen der Verfolger. Oftmals blieb auch – wie bei den Naturfreunden – ein Verweis auf Funktionen in der Arbeiterbewegung aus und es wurden einfach Begriffe genutzt wie „KPD“, „SPD“, „marxistisch“, „linksradikal“ und „rot“, wobei es auch zu einer enormen Ausdehnung insbesondere der Begriffe „kommunistisch“ und „marxistisch“ kam. Dazu wurden Stereotype genutzt, die schon vor 1933 gesellschaftlich verbreitet und anschlussfähig waren. So wurden „Juden“ als „Geldgeber“ der Arbeiterbewegung in „Schutzhaft“ genommen. Unverkennbar wurde hier auf ein klassisches antisemitisches Stereotyp zurückgegriffen: Das des reichen Juden, der der „Drahtzieher der Arbeiterbewegung“ war.34 Die Arbeiterbewegung wurde aber auch mit Non-Konformismus in Verbindung gebracht. So wurden vermehrt auch Freireligiöse in „Schutzhaft“ genommen. Selbst wenn bekannt war, dass keine Parteizugehörigkeit zur SPD, SAP oder KPD vorlag, wurden diese immer wieder als „kommunistisch“ oder „marxistisch“ bezeichnet.35 Auffällig ist aber auch die Verbindung von „Separatismus“ und
32 PK 14.03.1933. Vgl. auch: LA 14.03.1933 sowie PP 14.03.1933. 33 Im Rahmen meiner Dissertation wird für den Raum „Pfalz“ noch geprüft, ob es einen Unterschied zwischen der Berichterstattung einzelner Lokalzeitungen gab. Bisher wurden nur Presseorgane untersucht, die sich selbst als „national“ bezeichneten. Siehe zur Presselandschaft in der Pfalz: Stephan Pieroth, Parteien und Presse in Rheinland-Pfalz 1945–1971. Ein Beitrag zur Mediengeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Mainzer SPD-Zeitung „Die Freiheit“. (Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Band 18.) Mainz 1994. Insbesondere 23–128. 34 Arnold Paucker, Die Abwehr des Antisemitismus in den Jahren 1893–1933, in: Herbert A. Strauss/Norbert Kampe (Hrsg.), Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 213.) Bonn 1985, 143–171, hier 157. Das Bild des „Geldgebers“ wurde auch zur Legitimation späterer In-Schutzhaftnahmen genutzt. Vgl. hierzu insbesondere LarchSP H91 32. 35 Siehe hierzu vor allem: LarchSP H91 5945 sowie LarchSP R18 3350. Dies soll nicht überdecken, dass einzelne Freireligiöse sich aktiv im Rahmen der Arbeiterbewegung am Kampf ge-
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„Kommunismus“ beziehungsweise eine Verbindung von „Separatisten“, „Kommunisten“ und „kommunistischen Separatisten“ mit Straftaten. Sowohl in Presseberichten, als auch in den „Verschubungslisten“ und Gestapoakten wurde ein Sammelsurium von Mutmaßungen und Verdächtigungen von angeblichen Straftaten wiedergegeben. Stichhaltige Angaben allerdings fehlen und die Betroffenen wurden von ordentlichen Gerichten entweder gar nicht erst angeklagt, freigesprochen oder hatten ihre Strafe bereits verbüßt. Es ging bei der Zerstörung der Arbeiterbewegung also nicht nur darum, Parteistrukturen zu zerstören, sondern auch darum, das Narrativ einer homogenen kriminellen Arbeiterbewegung, die von „Juden“ finanziert wird, auszuweiten und zu etablieren. Und darum, sich gleichzeitig selbst als Ordnungsmacht zu präsentieren, die für „Ruhe und Ordnung“ auf der Straße sorgte. Verbreitete Stereotype und Fremdbilder wurden dazu aufgegriffen und genutzt.
III. AUSSCHALTUNG DER KOMMUNALPARLAMENTE Am 20. März 1933 verfügte Wagner einen Erlass, dass alle berufsmäßigen Gemeinderäte von der KPD und der SPD aus dem Amt entfernt werden sollen und den ehrenamtlichen Gemeinderäten dieser Parteien die Ausübung des Amtes verboten werden soll.36 Einige Tage später erklärte Gauleiter Josef Bürckel, dass sämtliche SPD- und KPD-Bürgermeister und Stadträte, die ihre Ämter bis Dienstag abends nicht „freiwillig niedergelegt haben, unter Angabe von Straße und Hausnummer zu melden“ seien.37 Am 31. März 1933 erfolgte das Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich und am 7. April 1933 das Gesetz zur Gleichschaltung der Gemeinderäte mit Land und Reich, welche die Umstrukturierung der Parlamente beschlossen. In diesem Prozess war die KPD faktisch schon verboten, weshalb im Folgenden die Mandatsträger der KPD im (frühen) Konzentrationslager Neustadt nicht näher aufgeführt werden. Die größte Gruppe der Mandatsträger im (frühen) Konzentrationslager Neustadt gehörte der SPD an. Johann Berger war Bürgermeister von Grethen (Kreis Neustadt), Hans Braun Gemeinderatsmitglied in Mußbach (Kreis Neustadt), Alex Müller 3. Bürgermeister von Kaiserslautern, Peter Stepp Stadtrat in Bad Dürkheim (Kreis Neustadt), Jakob Weber Bürgermeister in Mutterstadt (Kreis Ludwigshafen) und Kreistagsmitglied sowie Heinrich Weber Stadtrat in Pirmasens und Mitglied des Bezirks- und Kreistages. Sie alle wurden im März 1933 in
gen die NSDAP beteiligten. Wie bei kaum einer anderen Häftlingsgruppe des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt kam es aber bei ihnen zu einer Mischung aus tatsächlicher politischer Betätigung in den Arbeiterparteien, zugeschriebenen politischen Betätigungen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Freireligiösen Gemeinde und individuellem Non-Konformismus. 36 Braun, Verfolgung (wie Anm. 20), 513. 37 Karl Fücks/Michael Jäger, Synagogen der Pfälzer Juden. Vom Untergang ihrer Gotteshäuser und Gemeinde. Edesheim/ Böbingen 1988, hier 85.
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„Schutzhaft“ genommen, worüber die Presse berichtete. Mit der „Schutzhaft“ sollten sie zur Niederlegung ihrer Mandate veranlasst werden. So weigerte sich Heinrich Weber am 8. April 1933 eine „ihm vorgelegte Loyalitätserklärung wegen Amtsniederlegung (Kreistags-Mitglied)“ zu unterschreiben, weshalb er zunächst in „Schutzhaft“ blieb.38 Gleichzeitig wurden aus Angst keine Listen mehr mit Gemeinderäten bei der Umstrukturierung der Parlamente eingereicht und Ortsverbände lösten sich auf. Diejenigen, die dennoch bei den ersten Sitzungen der neu umgebildeten Gemeinde- oder Stadtratssitzungen erschienen, wurden nicht selten gewaltsam hinausbefördert und mit einer (erneuten) „Schutzhaft“ bedroht. In Neustadt verkündete der kommissarische Bürgermeister, Dr. Rudolf Hammann, als der neugebildete Stadtrat am 15. Mai 1933 zusammentrat, dass dieser nun „marxistenrein“ sei.39 Neben den Mandatsträgern der SPD waren auch Bürgermeister der BVP und des Zentrums beziehungsweise mit Richard Forthuber auch ein parteiloser Bürgermeister im Lager Neustadt: Friedrich Schreck (Deidesheim, Kreis Neustadt), Jakob Demmerle (Börrstadt, Kreis Rockenhausen), Franz Thiery (Venningen, Kreis Landau) und Richard Forthuber (Neustadt). Auch über ihre „Schutzhaft“ berichtete die Presse ausführlich. Ihrer „Schutzhaft“ gingen lokale Konflikte mit den NSDAP- und SA-Ortsgruppen voraus. So wurde Friedrich Schreck unter anderem vorgehalten, dass er eine Wahlkundgebung des Jüdischen Frontkämpferbundes in Deidesheim besuchte.40 Auch soll er, so erzählt es sein Nachfolger 1941, im März 1933 die „Hakenkreuzfahne am Rathaus mit den Worten ‚Der Fetzen muss herunter‘ abgerissen“ haben.41 Als der Stadtrat nach der Machtübernahme der NSDAP zusammentrat, wurde er unter anderem von Durein aufgefordert vom Bürgermeisteramt zurückzutreten, was er verweigerte, woraufhin er einige Tage später in „Schutzhaft“ kam.42 Franz Thiery wurde laut Presseberichten „von der Hilfspolizei in „Schutzhaft“ genommen, weil er sich wiederholt gegen die nationale Erhebung und die NSDAP geäußert hat“.43 Laut Selbstangabe in der Nachkriegszeit erfolgte die „Schutzhaft“ primär deshalb, weil er den örtlichen Nationalsozialisten verweigerte, die Fackeln der Feuerwehr zur „Feier der nationalen Erhebung“ zu verwenden.44 Richard Forthuber befand sich seit 1926 in einem Dauerkonflikt mit der NSDAP und wurde von dieser als „Separatist“ diffa-
38 LarchSP H90 58, Schreiben des Beauftragten des politischen Gefangenenlagers vom 11.04.1933. 39 PK 16.05.1933. 40 LarchSP R18 5677, Meine Einstellung zum Nationalsozialismus von Friedrich Schreck am 25.12.1946. 41 LarchSP H91 6049, Schreiben des Bürgermeister Deidesheim an die Gestapo Neustadt am 21.02.1941. 42 LarchSP R18 5677, Meine Einstellung zum Nationalsozialismus von Friedrich Schreck am 25.12.1946. 43 LA 25.03.1933; PK 27.03.1933. 44 LarchSP R18 A22273, Vernehmung Franz Thiery durch den Untersuchungsausschuss der Spruchkammer Landau am 29.03.1949.
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miert. Er wurde als „Schutzhaftgefangener“ des Lagers Neustadt verzeichnet, befand sich zunächst aber in Zimmerhaft, dann im Amtsgerichtsgefängnis und letztlich im Krankenhaus in „Schutzhaft“, von wo aus er ein Gesuch auf Pensionierung einreichte. Aus der „Schutzhaft“ selbst wurde er erst Ende Juli 1933 entlassen.45 Jakob Demmerle galt allgemein als „schwarzer Bürgermeister“. Er wurde am 18. März 1933 nach Neustadt eingeliefert und einige Tage später als Bürgermeister beurlaubt.46 Ende Juni 1933 wurde Demmerle, nun nur noch Gemeinderatsmitglied, erneut in „Schutzhaft“ genommen und nach Dachau gebracht.47 Im (frühen) Konzentrationslager Neustadt befanden sich auch sechs „jüdische“ Mandatsträger: Gustav Weil (Stadtrat Neustadt und Kreistag, SPD), Richard Joseph (Stadtrat Landau, SPD), Carl Wertheimer (Stadtrat Kaiserslautern, SPD), Eduard Levy (Gemeinderat Thaleischweiler, Kreis Pirmasens, SPD), Julius Bender (Gemeinderat Winnweiler, Kreis Rockenhausen, Wirtschaftspartei) und Leo Löb (3. Bürgermeister Haßloch, Kreis Neustadt, DDP-nahe). Die Forderung nach Niederlegung der Mandate wurde an sie gerichtet, weil sie „Juden“ waren. So forderte Mitte März 1933 Bürckel „sämtliche jüdische […] Bürgermeister und Stadträte […] [auf], ihre Aemter niederzulegen. Im anderen Falle würden diese Personen als Saboteure betrachtet und in Schutzhaft genommen.“48 Gustav Weil legte sein Mandat nach seiner (ersten) „Schutzhaft“ nieder.49 Julius Bender tat dies bereits einen Tag, nachdem er in das (frühe) Konzentrationslager Neustadt verbracht worden war.50 Eduard Levy wurde schon vor seiner Einlieferung „aus dem Bezirksausschuß verwiesen. In der letzten Sitzung des Bezirksausschusses wurde das Bezirksratsmitglied Levy aus Thaleischweiler aus der Sitzung verwiesen, nachdem ihm 2. Bürgermeister Mann erklärt hatte, daß es nicht angängig sei, daß Levy weiterhin als Jude einer öffentlichen Körperschaft wie dem Bezirksausschuß angehöre.“51
Auch Leo Löb wurde vom NSDAP-Ortsgruppenleiter in Haßloch der Zutritt zum Rathaus verweigert. Ihm wurde im Beisein der übrigen Räte erklärt, dass er abgesetzt sei und damit „die jüdische Schmach ein für alle Mal von Haßloch getilgt“ sei – daraufhin wurde Leo Löb in „Schutzhaft“ genommen.52 Am 24. Juni 1933, nach dem Verbot der SPD, wurde Gustav Weil in einem „Schaulauf“ mit Politikern der BVP beziehungsweise des Zentrums durch die Stadt geführt. In diesem Rahmen wurden auch die ehemaligen „jüdischen“ „Schutzhaftgefangenen“ des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt, Max Siegelwachs, Isidor Wohl und The-
45 Zu Forthuber siehe insbesondere Hannes Ziegler, Forthuber gegen Förster. Ein politischer Prozess aus der Pfalz während der Weimarer Republik, in: Pfälzer Heimat 40, 1989, 15–26. 46 LarchSP H91 Kartei Friedrich Schreck. 47 Vgl. Larch H43 1710. 48 LA 18.03.1933. 49 Stadt- und Dorfanzeiger 29.03.1933. 50 Gedenkstätte Neustadt, Rückmeldung Städte und Gemeinden, Auskunft Winnweiler 25.08.2010. 51 LA 17.03.1933. Vgl. auch: PK 21.03.1933; PP 17.03. und 21.03.1933. 52 Fücks/Jäger, Synagogen (wie Anm. 37), 96. Sowie: PP 18./19.03.1933.
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odor Mayer, durch die Straßen geführt. Hinter ihnen marschierten die SA, die SS und die Beamtenschaft. Danach wurde Weil erneut in „Schutzhaft“ genommen, diesmal im Amtsgerichtsgefängnis.53
IV. AUSSCHLUSS VON JUDEN Dass die Exklusion „jüdischer“ Deutscher bereits während der Bestehungszeit des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt offensichtlich war, zeigt ein Blick in die damaligen Lokalzeitungen. Diese sind voll mit Berichten über den Ausschluss von „Juden“. Die Boykotthetze ist dabei nur ein Höhepunkt. Daneben wird unter anderem berichtet, dass „Juden“, die am Umzug zum Nationalfeiertag am 22. März 1933 teilnehmen wollten, von diesem ausgeschlossen wurden; dass „Juden“ nicht mehr mit der schwarz-weiß-roten Fahne flaggen dürften; dass sogenannte „Ostjuden“ zu melden seien. Dazu, sowie zu der generell hohen Anzahl „jüdischer“ „Schutzhaftgefangener“, kommt, dass es eine große Differenz zwischen der namentlichen Nennung der „Schutzhaftgefangenen“ in den untersuchten Zeitungen gab: So wurden circa 16 Prozent der nicht-„jüdischen“ „Schutzhaftgefangenen“, die im Lager Neustadt interniert wurden, in den Berichten über ihre „Schutzhaft“ namentlich erwähnt, unter diesen mehrheitlich Mandatsträger der Kommunalparlamente. Ansonsten blieb es aber bei der Berichterstattung über die „Schutzhaft“ von Nicht-„Juden“ in der Regel bei einer anonymen Masse, die sich in den Presseberichten vornehmlich aus Funktionären der KPD und des Reichsbanner zusammensetzte. Hingegen wurden über 50 Prozent der „jüdischen“ „Schutzhaftgefangenen“ namentlich erwähnt, wie der „Zigarrenfabrikant Wertheimer“, der „Handelsmann Emil Mayer“, der „Lederhändler Marienthal“ und der „prakt. Arzt Dr. Levi“. Seit dem 10. März 1933 standen in der Pfalz immer wieder SA-Posten vor „jüdischen“ Geschäften, die auch wiederholt kurzfristig abgezogen wurden. Die NSDAP versuchte den Boykott zu kanalisieren, da durch Ausschreitungen nicht„jüdische“ Angestellte, die Wirtschaft und durch den Versicherungsschutz die Allgemeinheit geschädigt wurde. Von Bürckel wurde unter anderem die Einrichtung eines Überwachungsdienstes angekündigt, der registrieren sollte, wer in „jüdischen“ Geschäften einkaufte oder „jüdische“ Ärzte und Rechtsanwälte aufsuchte.54 Gleichzeitig wurden vermehrt auch „jüdische“ Geschäftsinhaber und Kaufmänner in „Schutzhaft“ genommen, um sie zur Aufgabe ihres Geschäftes zu zwingen. Einer von ihnen war Max Siegelwachs, der in Neustadt ein Möbelgeschäft besaß. Vor seinem Geschäft standen nach dem 5. März 1933 immer wieder
53 Fücks/Jäger, Synagogen (wie Anm. 37), 172. Sowie: PK 26.06.1933. 54 Siehe hierzu unter anderem LA 11.03., 13.03., 14.03., 16.03. und 18.03.1933; PK 21.03. und 28.03.1933 und PP 21.03. und 25.03.1933. Sowie: LarchSP H41 304, Funkspruch (Abschrift) bayerisches Innenministerium Adolf Wagner an die bayerischen Polizeidirektionen und Staatspolizeiämter vom 14.03.1933.
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SA-Posten, die Schaufenster wurden eingeschlagen und Kunden fotografiert. Mehrfach wurde Siegelwachs in „Schutzhaft“ genommen. Nächtlich wurde die Familie angerufen, bedroht und zur Auswanderung aufgefordert. Auch nächtliche Hausdurchsuchungen der Polizei erfolgten. Ins (frühe) Konzentrationslager Neustadt kam er am 29. März 1933 mit seinem Schwager, dem Metzger Theodor Mayer, und dem Zigarrenhändler Isidor Wohl, wegen „frechen Wesens“ und „regierungsfeindlichen Benehmens“.55 Immer wieder sprachen seine Mieter bei der Polizei vor, berichteten von einer angeblich zu hohen Miete und forderten die Verhaftung Siegelwachs’. Als sich das (frühe) Konzentrationslager Neustadt auflöste, wurde Siegelwachs in das Gefängnis Edenkoben (Kreis Landau) „verschubt“. Seine Frau Eugenie wurde in dieser Zeit vor die Polizei geladen sowie auf die Dresdner Bank, um von ihr eine Mietminderung beziehungsweise den Verkauf eines Anwesens zu erpressen. Als sie ablehnte, wurde Siegelwachs ein kurzer „Hafturlaub“ gewährt und er wurde zur Dresdner Bank beordert, aber auch er lehnte den Verkauf ab. Ende 1933 folgte die behördliche Anweisung, das Geschäft zu schließen. Der Ausverkauf wurde mit allen Mitteln von den neuen Besitzern und der örtlichen NSDAP versucht zu verhindern, wodurch die Restbestände billig an den Neubesitzer gingen. Auch das von ihm vermietete Anwesen musste er Ende des Jahres an seine Mieter verkaufen. Immer mehr verschwanden in diesem Prozess nicht-„jüdische“ Freunde, Bekannte und Kunden, die Frau Siegelwachs während der ersten Schutzhaftzeiten ihres Mannes unterstützen.56 Während die „jüdischen“ Geschäftsinhaber und Kaufmänner selten politisch markiert wurden, galten die sechs Rechtsanwälte und zwei Ärzte im (frühen) Konzentrationslager Neustadt, deren Herausdrängung aus den Berufen durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ bald einen legalen Rahmen bekam, als „Geldgeber“ der Arbeiterparteien, als „kommunistisch“ oder „marxistisch“. Die Ärzte mussten ihre Praxis bald aufgeben. Während den Junganwälten die Anwaltschaft noch während der „Schutzhaft“ entzogen wurde, konnten die sogenannten „Altanwälte“, die vor dem 1. August 1914 zugelassen wurden, ihre Anwaltschaft durch langwierige Kämpfe zunächst halten. Zu ihnen gehörten Dr. Erich Kehr und Dr. Paul Tuteur. „Die Gründe“ für ihre „Schutzhaft“, so wurde es lapidar angegeben, sind „in der politischen Tätigkeit der Genannten zu suchen“.57 Kehr war Stadtrat (DDP) in Kaiserslautern und Vorsitzender der Ortsgruppe Kaiserslautern des Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.). Da es der Anwaltskammer Zweibrücken misslang, ihm „kommunistische Betätigungen“ nachzuweisen, konnte er seine Anwaltschaft bis 1935 ausüben.58 Auch Tuteur konnte seine Zulassung halten. Nach seiner Entlassung
55 PK 29.03.1933. Vgl. auch Chronik der Stadt Neustadt, 29.03.1933. 56 Vgl. zu Max Siegelwachs: LarchSP J6 12398, 15401–15402 und 15462 sowie L28 53–58. 57 LarchSP J1 1098, Schreiben des Präsidenten des Landgerichts Kaiserslautern an den Herrn Präsidenten des Oberlandesgerichts Zweibrücken am 07.04.1933. 58 Reinhard Weber, Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933. München 2006, hier 46.
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aus der „Schutzhaft“ wurde Tuteur immer wieder von Dr. Rudolf Hammann59, aber auch von dem Polizeibeamten Heinrich von Hausen, mit der Einweisung ins Konzentrationslager Dachau bedroht, damit er seine Anwaltschaft niederlegt. Kurzzeitig erwirkte Hammann als Vorstand der pfälzischen Anwaltskammer ein Vertretungsverbot für Tuteur, weil dieser „kommunistisches Gedankengut in sich aufgenommen“ hätte. Noch in der Nachkriegszeit verwies Hammann darauf, dass Tuteur Gelder der Roten Hilfe angenommen hätte beziehungsweise Geldgeber des Reichsbanners gewesen sei. Nach der Pogromnacht, in der er schwer misshandelt wurde, wurde Tuteur aus der Anwaltsliste gestrichen.60 Im (frühen) Konzentrationslager Neustadt befanden sich zahlreiche „Juden“. Wer ihre „Schutzhaft“ ausschließlich als Teil der Zerstörung der Arbeiterbewegung sieht, würde sich antisemitische Stereotype der „jüdischen“ Geldgeber zu eigen machen. In Neustadt befanden sich „Juden“, die sich aktiv in der SPD und beim Reichsbanner engagierten, „jüdische“ Mandatsträger diverser Parteien, aber vor allem „jüdische“ Geschäftsinhaber, Kaufmänner, Rechtsanwälte und Ärzte, deren „Schutzhaft“ im Rahmen des antisemitischen Boykottes erfolgte. Ihre „Schutzhaft“ zeigt aber vor allem auch eins: Die Verstrickung zahlreicher Profiteure in die „Schutzhaftmaßnahmen“. David Dornberger, Paul Tuteur, Hermann Felsenthal und Eugen Levy waren zudem zumindest passive Mitglieder des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus (VAA). Sowohl Dr. Erich Kehr als auch Dr. Rudolf Wertheimer waren stark in die Abwehrarbeit des C.V. involviert. Seit seiner Gründung im Kaiserreich registrierte und thematisierte der Verein – wie der VAA – immer wieder antisemitische Gewalt und strukturellen Antisemitismus sowie seit Beginn der 1920er Jahre den Vormarsch der NS-Bewegung und deren Eindringen in Ämter, Betriebe, Polizei und städtische Verwaltung.61 Vom C.V. wurde als eine der besonders antisemitischen Regionen 1926/27 auch die Pfalz genannt.62 Wertheimer befasste sich in seiner Funktion als Rechtsanwalt insbesondere mit den Möglichkeiten und Grenzen der juristischen Bekämpfung des wirtschaftlichen Boykottes gegen „Juden“.63 Kehr war bereits während des Ersten Weltkrieges aktiv beim C.V. tätig und war spätestens 1927 Vorsitzender des Landesverbandes des C.V. in der Pfalz
59 *17.04.1898 in Meckenheim (Kreis Neustadt), Rechtsanwalt in Kaiserslautern, 1931/32 Eintritt NSDAP und SA, ab 13.03.1933 kommissarischer Oberbürgermeister Neustadt, bis Juni 1934 Leiter der Rechtsanwaltskammer in Zweibrücken. Er ist am 03.02.1971 in Dreisen (Kreis Kirchheimbolanden) gestorben. Maier, Organisationshandbuch (wie Anm. 12), 246– 248 sowie Larch SP J1 1719, J71 428–429, J73 743. 60 Vgl. LarchSP J1 1704 und 1719, J71 428–429, J73 743 und 1181, J8 941. 61 Paucker, Abwehr (wie Anm. 34), 153. 62 Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik. (Politik und Gesellschaftsgeschichte, Band 62.) Bonn 2003, hier 194 sowie 198–200. 63 Rudolf Wertheimer, Der Hetzboykott. Einige Gedanken zum Boykott-Problem. Mit einem Vorwort und unter Mitarbeit von Dr. Erich Kehr. Wiesbaden 1931.
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und zeitgleich Mitglied des Bundesvorstandes in Berlin.64 Dass diese Tätigkeiten aber bei der „Schutzhaft“ eine Rolle spielten, davon legen die gesichteten Quellen kein Zeugnis ab. Vielmehr steht die „Schutzhaft“ der Rechtsanwälte – die Mehrheit von ihnen kam aus Kaiserslautern – in Verbindung mit Dr. Rudolf Hammann. Für einen aktiven Protest gegen die Verdrängung der „jüdischen“ Rechtsanwälte seitens der Justiz gibt es, in den gesichteten Quellen, für die Pfalz keine Anzeichen. Die „jüdischen“ „Schutzhaftgefangenen“ wurden nach ihrer (ersten) „Schutzhaft“ im März 1933 immer mehr aus dem gesellschaftlichen und beruflichen Leben gedrängt. Über ein Drittel der „Schutzhaftgefangenen“, die als „Juden“ verfolgt wurden, sind vor Beginn des Zweiten Weltkrieges – vollständig ausgeplündert – aus ihrer Heimat emigriert oder illegal geflohen. Viele versuchten verzweifelt zu emigrieren oder zumindest ihre Kinder zu retten. David Dornberger, Nathan Eschwege, Richard Joseph, Emil Mayer, Henriette Löb, Albert Liepold, Salomon und Jakob Roelen wurden in Auschwitz ermordet. Isaak Simon starb in Gurs, Hugo Kahn in Majdanek und Berthold Bloch in Theresienstadt. Oskar Mayer wurde zunächst in Dachau inhaftiert und starb am 5. September 1944 in Mannheim. Julius Bender und Leo Löb wurden in Frankreich verhaftet und in Auschwitz ermordet.
V. IM (FRÜHEN) KONZENTRATIONSLAGER NEUSTADT Die „Schutzhaftmaßnahmen“ erfolgten in der Regel durch reguläre Polizisten und Hilfspolizisten, die die „Schutzhaftgefangenen“ zunächst in ein Amtsgerichts-, Landgerichts- oder Polizeigefängnis brachten. Daneben gab es auch Verhaftungen, die nicht von der Polizei begleitet wurden. So berichtet Friedrich Schreck, dass er von einem „wüste[n] Haufen NSDAP-Leute“ in seiner Wohnung festgenommen wurde.65 Und Dr. Oskar Mayer, dass bei seiner Festnahme „weder ein Gendarm noch ein Schutzmann zugegen war.“66 Am 22. März 1933 wurde in der Pfälzischen Presse eine Notiz veröffentlicht, wonach Verhaftungen „ausschließlich Sache der Polizei“ seien und die Hilfspolizei „nur in Verbindung mit der ordentlichen Polizei (Gendarmerie, Gemeindepolizei) eingesetzt“ werde.67 Friedrich Schreck wurde kurz darauf aus dem (frühen) Konzentrationslager Neustadt entlas-
64 Im deutschen Reich 6, Juni 1917, 271; Im deutschen Reich 1, Januar 1920, 37; Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main 4, Dezember 1927, 273. Siehe auch den Nachruf auf Dr. Erich Kehr in: Der Aufbau 7, 1941, 12. 65 LarchSP R18 5677, Meine Einstellung zum Nationalsozialismus von Friedrich Schreck am 25.12.1946. 66 LarchSP H3 8504, Schreiben von Dr. Oskar Mayer an das Bezirksamt Neustadt am 27.03.1933. 67 PK 22.03.1933.
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sen und von der örtlichen Gendarmerie erneut in „Schutzhaft“ genommen, um nach Neustadt transportiert zu werden.68 Nach mehreren Zeugenaussagen der Nachkriegszeit wurden „Schutzhaftgefangene“ von Eugen Huber bei ihrer Ankunft in Neustadt mit einer Rede begrüßt, die ihnen „die Umerziehung in deutsche Menschen in Aussicht stellte“.69 Diese Umerziehung war besonders in den ersten Tagen mit Gewalt besetzt. An dieser waren vor allem SS-Hilfspolizisten aus Ludwigshafen beteiligt. Die Gewalt wurde von diesen – nach ihren Maßstäben – nicht willkürlich angewandt. Da sie aber die Definitionsmacht darüber hatte, wer Gewalt „verdiene“, war sie für die Betroffenen dennoch willkürlich. „Wenn neue Häftlinge eingeliefert wurden“ – so einer der SS-Hilfspolizisten in der Nachkriegszeit – „teilte uns das Begleitpersonal jeweils mit, um wen es sich handelte, was insbesondere dem Betreffenden zur Last liege. Je nachdem fiel der Empfang aus.“70 Auch in den „Verschubungslisten“ wurden „Schutzhaftgefangene“ zur Misshandlung empfohlen. So kann man unter anderem in der „Verschubungsliste“ aus Kaiserslautern lesen: „Ein persönlicher guter Freund der beiden Beamten der politischen Polizei. Ein ganz hinterlistiger Bursche, großer Aufwiegler und Hetzer. Verdient besondere Beachtung.“71
In Neustadt waren vor allem drei Gruppen von Misshandlungen betroffen: Erstens Personen, die man bezichtigte, Gewalt gegen SA-Männer angewandt zu haben. Zweitens Personen, die man als Separatisten empfand. Und letztlich „Juden“. Insbesondere um den 16. März 1933 herum kam es zu einer Orgie der Gewalt. Hermann Zahm und Ludwig Krämer wurde vorgeworfen bei einem Propagandamarsch der NSDAP am 10. Juli 1932 in Neustadt auf beteiligte SA- und SSMänner geschossen zu haben. Damals kam es zu Schüssen, als SA- und SSMänner das Lokal des Reichsbanners stürmten. Krämer wurde in einem Gerichtsprozess vor der Machtübernahme freigesprochen und Zahm wurde gar nicht erst angeklagt, weil er als nicht ausreichend tatverdächtigt galt. Die Misshandlungen der beiden im (frühen) Konzentrationslager Neustadt waren dabei nicht nur ein Teil der Abrechnung mit einem politischen Gegner und ein Akt vermeintlicher Selbstjustiz, sondern sie sollten schlicht auch eine Untersuchungshaft vorbereiten. So berichtete Zahm, dass er zunächst von einem Polizeibeamten verhört wurde, der ihm mit der SS drohte, wenn er seine „Tatbeteiligung“ nicht zugab. Die SSHilfspolizisten misshandelten daraufhin abwechselnd Zahm und Krämer. In Todesangst sprang Zahm aus dem Fenster des 3. Stockes. Während die SSHilfspolizisten versuchten Zahm wieder ins Gebäude zu bringen, wurde dies von einem Offizier des benachbarten Freiwilligen Arbeitsdienstes verhindert. Zahm wurde ins städtische Krankenhaus gebracht, wo er erst am 20. März 1934 entlas-
68 LarchSP R18 5677, Meine Einstellung zum Nationalsozialismus von Friedrich Schreck am 25.12.1946. 69 Vgl. diverse Zeugenaussagen in: LarchSP J72 332. 70 Ebd. 71 LarchSP H90 58, Verschubungsliste Kaiserslautern am 14.03.1933.
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sen werden konnte. Die Misshandlungen von Krämer und Leo Vieten, dem Eugen Huber vorwarf, an Fasnacht eine Hakenkreuzfahne durch die Straße geschleift zu haben, gingen weiter bis zum nächsten oder gar übernächsten Tag. Parallel wurden „Separatisten“ durch Stahlruten, Gummiknüppel, Fußtritte und Ohrfeigen als „Vaterlandsverräter“ schwer misshandelt. Über die Stockwerke hinweg mussten sie Spießrutenlaufen. Zwischendurch mussten sie spät abends mit anderen „Schutzhaftgefangenen“ bei einem Bauern Stroh holen, wo sie auf dem Weg gedemütigt und misshandelt wurden. Den Wagen zogen vor allem auch „jüdische“ „Schutzhaftgefangene“. Die den Wagen begleitenden Wachmänner, die teilweise auch auf diesem saßen, schossen dabei wild um sich.72 Insgesamt befanden sich im Lager Neustadt über 30 Schutzhaftgefangene, die von ihren Verfolgern als „Separatisten“ markiert wurden. Sie galten als solche, weil sie angeblich im Ersten Weltkrieg desertierten, sich an der Novemberrevolution 1918 beteiligten, Kontakte zu französischen Besatzungssoldaten, Zivilpersonen oder zum Nachrichtendienst hatten, sich 1923 den Bruch des passiven Widerstandes „zuschulden“ hatten kommen lassen oder sich als separatistische Dolmetscher, separatistische Soldaten, separatistische Bürgermeister beziehungsweise separatistische Polizeikommissare in den Dienst der Franzosen gestellt hatten. Wie willkürlich die Zuschreibungen waren, zeigt, dass selbst Männer, die 1923 17 Jahre alt waren, als separatistische Polizeikommissare bezeichnet wurden. Immer wieder wurden die vermeintlichen und tatsächlichen „Separatisten“ auf den „Verschubungslisten“ „wärmstens empfohlen“. Vermutlich am Sonntag, den 19. März 1933, wurde das Lager besichtigt. Mehrere Zeugen in den Strafverfahren nach 1945 sprachen davon, dass Gauleiter Bürckel ins Lager gekommen sei, und nannten teilweise auch Rudolf Hammann.73 Fritz Müller berichtete später auch davon, dass eine „Journalistengesellschaft“ durch die Polizei Kaiserslautern, insbesondere durch von Hausen, durch das Lager geführt worden sei.74 Und Walter Blauth berichtete von einer Kommission des Roten Kreuzes aus Genf, die von Hammann begleitet worden sei.75 Nach der Besichtigung folgten drei größere Presseberichte über das Konzentrationslager, die primär die nach dem Öffentlichwerden der Misshandlungen von Zahm erlassene Lagerordnung wiedergaben.76 Die Radikalität der Gewalttaten und vor allem deren Sichtbarkeit nach außen nahmen nach einigen Zeugenaussagen danach spürbar ab. Sie verstummten allerdings nicht, wie bei der Gewalt gegen „jüdische“ „Schutzhaftgefangene“ sichtbar wurde. So wurde von den Zeugen der Nachkriegsprozesse vermehrt über die Misshandlungen von Emil Mayer („Er war derartig zusammengeschlagen, dass er
72 Vgl. diverse Zeugenaussagen in: LarchSP J71 428–429 und LarchSP J72 332. Vgl. zu den Misshandlungen auch: LarchSP J6 8848, J6 9018 und J83 3219. 73 Vgl. diverse Zeugenaussagen in: LarchSP J72 332, J71 428 und J71 429. 74 GarchNW, Bestand Fritz Müller, Interview Fritz Müller 19.10.1985. 75 GarchNW, Bestand Walter Blauth, Lokalzeitung Stadtführer [ohne Datum]. 76 NSZ-Rheinfront 23.03.1933; PK 21.03.1933; LA 30.03.1933.
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sich nicht mehr bewegen konnte“) berichtet. Mayer wurde erst am 21. März 1933 nach Neustadt gebracht, also nach dem Besuch Bürckels und der angeblichen Eindämmung der Misshandlungen.77 Generell hatten die Misshandlungen von „Juden“ eine andere Qualität: Sie standen nicht in Verbindung mit „ermittlungsbedingten Absichten“, waren nicht an „konkrete Anschuldigungen“ geknüpft und sie betrafen vor allem ältere Männer. So berichtete unter anderem Fritz Ciriaci: „Einmal sah ich ferner, wie drei Juden im Alter etwa von 60 Jahren im Hof der Kaserne unter Kommandos wie ‚Hinlegen‘, ‚Aufstehen‘, ‚Marsch – Marsch‘ exerzieren mussten. Die alten Männer konnten natürlich den Kommandos nicht nachkommen, worauf ihnen durch Fusstritte und Schläge mit Gummiknüppeln nachgeholfen wurde.“78
Zahlreiche „Schutzhaftgefangene“ des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt litten ihr Leben lang unter den schweren Misshandlungen, die ihnen während ihrer dortigen „Schutzhaft“ zugefügt wurden. Einige „Schutzhaftgefangene“ starben 1933/1934, teilweise noch in „Schutzhaft“. Sigmund Farnbacher wurde am 1. April 1933 ins städtische Krankenhaus verlegt und von dort bei der Auflösung des Lagers in das Gefängnislazarett Zweibrücken „verschubt“. Dort starb er einige Tage später im Alter von 62 Jahren.79 Auch Jakob Weber wurde bei der Auflösung des Lagers „verschubt“. Im Herbst wurde er ins Krankenhaus eingeliefert und starb am 28. November 1933 mit 60 Jahren.80 Dr. Alfons Kalter, seit dem 29. März 1933 im Konzentrationslager Neustadt, schnitt sich laut der Lagerleitung am 12. April 1933 die Kehle auf und wurde daraufhin ins Krankenhaus gebracht.81 „Im Hetzelstift“ – so Hermann Zahm – „lag neben mir ein Jude mit durchschnittener Kehle […]. Er fantasierte immer von der SS.“82 Nach der Aufhebung seiner „Schutzhaft“ im Juni 1933 zog Dr. Kalter nach Frankenthal, später nach Mannheim. Dort nahm er sich, nachdem jegliche Versuche gescheitert waren, seine
77 LarchSP H90 58, Gefangenliste vom 04.04.1933; LarchSP J72 332, Zeugenaussagen von Heinrich Wagner und Leo Vieten vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Frankenthal vom 07.12.1949 [Zitat aus der Aussage von Wagner]. Ebenfalls erwähnten mehrere Zeugen die Misshandlung eines „jüdischen“ „Schutzhaftgefangenen“ (mit Holzbein) aus Geinsheim (Kreis Neustadt) (LarchSP J72 332, Zeugenaussagen von Eugen Reichert und Hermann Zahm vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Frankenthal vom 07.12.1949). Laut der aktuellen Liste der „Schutzhaftgefangenen“ befand sich allerdings niemand aus Geinsheim im Konzentrationslager Neustadt, wer von den „jüdischen“ „Schutzhaftgefangenen“ aus den Gemeinden um Neustadt ein Holzbein hatte, ist momentan nicht bekannt. 78 LarchSP J72 332, Zeugenaussage von Fritz Ciriaci vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Frankenthal am 07.12.1949. Siehe zur Misshandlung „jüdischer“ „Schutzhaftgefangener“ in Verbindung mit Exerzierforderungen: GarchNW, Tondokumente, Interview Willi Wessel 11.10.1984. 79 Vgl. LarchSP H90 58; LarchSP J6 13106; LA 23.03.1933; PP 22.03.1933; PK 22.03.1933. 80 SPD Ortsverein Mutterstadt, SPD Mutterstadt. 125 Jahre Gründung 50 Jahre Wiedergründung. Mutterstadt 1996, 39. 81 Vgl. LarchSP H90 58, diverse Listen und Schriftwechsel zur Lagerauflösung. 82 LarchSP J72 332, Zeugenaussage von Hermann Zahm vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Frankenthal vom 07.12.1949.
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Anwaltschaft zu verlegen und er wiederholt von der Gestapo verhört worden war, am 29. Oktober 1934 mit 55 Jahren das Leben.83 Zwei Tage zuvor starb Eduard Levy, nachdem er 1933 und 1934 immer wieder in „Schutzhaft“ genommen wurde, mit 59 Jahren „nach vorausgegangener Inhaftierung als Opfer der Zeit“.84 Als am 21. April 1933 eine Bekanntmachung Bürckels veröffentlicht wurde, dass „Juden […] in Zukunft nur noch entlassen werden, wenn je zwei Bittsteller bzw. die die Juden krankschreibenden Ärzte anstelle der Juden die Haft antreten“, war das (frühe) Konzentrationslager Neustadt bereits geschlossen.85 Dass es allerdings eine antisemitische Tendenz auch bei den Entlassungen gab, zeigt ein Blick in das Gefangenbuch des Amtsgerichtsgefängnis Edenkobens (Kreis Landau): Während die meisten nicht-„jüdischen“ Schutzhaftgefangenen in der Regel nach wenigen Tagen entlassen wurden, blieben Isidor Wohl und Arnold Feibelmann 39 Tage dort in „Schutzhaft“, Emil Mayer 40, die Gebrüder Spilberg 43 und Max Siegelwachs 49.86 Richard Joseph und August Schönfeld wurden nach der Auflösung des Lagers in „Schutzhaft“ in die Fortkaserne Landau gebracht. Dort wurden sie Ende Mai 1933 entlassen. Vom Bürgermeisteramt Landau bekamen sie am 11. August 1933 – wie andere „jüdische“ Schutzhaftgefangene des Lagers in Landau – für die Zeit ihrer „Schutzhaft“ 9,40 Reichsmark pro Tag in Rechnung gestellt. Die Kommune versuchte dadurch die Kosten des Lagers zu decken.87
VI. ERZIEHUNG ZUR „VOLKSGEMEINSCHAFT“ In Presseberichten wurden die (frühen) Konzentrationslager zu „Erziehungseinrichtungen“ erklärt, in denen die „Schutzhaftgefangenen“ – primär durch körperliche Arbeit – vom „Marxismus“ entgiftet werden sollten, um (wieder) ein Teil der „Volksgemeinschaft“ werden zu können. Die „Erziehung zur Volksgemeinschaft“ führte demnach über eine „Erziehung zur Arbeit“.88 So fungierte auch das (frühe) Konzentrationslager Neustadt in der Lokalpresse primär als Arbeitslager oder Arbeitsdienstlager89, stark vereinzelt auch als Untersuchungslager, Sammellager, Internierungslager und Zwangsarbeiterlager. Laut Presseberichten waren die
83 Weber, Schicksal (wie Anm. 58), 47–49. 84 LarchSP J9 1599, Rechtsanwalt von Lucie Edrich geb. Levy im Wiedergutmachungsprozess Eduard Levy und Familie am Landgericht Zweibrücken (ohne Datum). 85 PK 21.03.1933; Drobisch/Wieland, System (wie Anm. 2), 33. 86 Vgl. LarchSP J15 1512. 87 SarchLD, Mappe „Schutzhaft“, Schreiben des Bürgermeisteramts unter anderem an Richard Joseph und August Schönfeld am 11.08.1933. 88 Vgl. allgemein zur Presse: Falk Pingel, Konzeption und Praxis der nationalsozialistischen Konzentrationslager 1933 bis 1938. Kommentierende Bemerkungen, in: Herbert Ulrich/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band 1. Göttingen 1998, 148–163. 89 Wurde parallel über das Arbeitsdienstlager des Freiwilligen Arbeitsdienstes berichtet, wurde dieses zum Arbeitsfreiwilligendienstlager.
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„Schutzhaftgefangenen“ „bei produktiven körperlichen Arbeiten“90, „mit Wegebauarbeiten“91, bei landwirtschaftlichen Arbeiten92 und bei Gartenarbeiten in der Villa Böhm (Gausitz)93 eingesetzt. Die Arbeit diente vor allem aber auch der Schikane. So wurden „Schutzhaftgefangene“ unter anderem angehalten, mit Glasscherben das Gras aus den Pflastersteinen zu entfernen94 und die Putzdienste, insbesondere der sanitären Anlagen des Lagers, wurden immer wieder begleitet von Erniedrigungen und Misshandlungen seitens der Lagerwachen.95 Viele „Schutzhaftgefangene“ befanden sich aber vor ihrer „Schutzhaft“ in einem festen Arbeitsverhältnis. Teilweise wurden sie gerade deshalb in „Schutzhaft“ genommen, weil sie von ihrer Arbeitsstelle entfernt werden sollten. So wurde im März 1933 Heinrich Seib in „Schutzhaft“ genommen. Als Polizei- und Gemeindediener hatte er vor der Machtübernahme zwei SA-Männer angezeigt, unter anderem wegen der Nichteinhaltung des Uniformverbots. Während seiner „Schutzhaft“ wurde er durch einen Gemeindebeschluss seines Dienstes enthoben. Gegen diesen Beschluss legte er erfolgreich Widerspruch ein, wurde dann aber von der Regierung der Pfalz abgesetzt.96 Ebenfalls verloren Dr. Vogt, Berufsberater beim Arbeitsamt Pirmasens, und Ernst Anselmann, Leiter oder leitender Vermittler des Arbeitsamtes Ludwigshafen, mit ihrer „Schutzhaft“ ihre Anstellungen.97 Der Studienrat Dr. Oskar Mayer, der an einer Realschule in Bad Dürkheim Geographie und Wirtschaftswissenschaften lehrte und sich wissenschaftlich für kommunistische Wirtschaftspläne interessierte, wurde wegen „kommunistischer Betätigung“ in „Schutzhaft“ genommen. Durch das parallel erlassene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurde er als Studienrat entlassen.98 Oswald Damian war Pfarrer in Pirmasens und gehörte den religiösen Sozialisten an. Bereits 1930/31 wurde versucht, Damian durch ein kirchliches Dienstverfahren und eine öffentliche Hetzkampagne aus dem Amt zu drängen. Im März 1933 wurde er in „Schutzhaft“ genommen, wurde zwangsweise in den Ruhestand versetzt und dann zwangsversetzt.99 Der Bahnarbeiter Eugen Kennel wurde im Jahr
90 91 92 93 94 95
96 97 98 99
LA 14.03.1933. PK 16.03.1933; LA 16.03.1933. PK 21.03.1933. Stadt- und Dorfanzeiger 16.03.1933. GarchNW, Bestand Fritz Müller, Interview Fritz Müller 19.10.1985. U. a. LarchSP J72 332, Zeugenaussage Fritz Krämer vor dem Untersuchungsrichter beim Landgericht Frankenthal am 14.12.1949; GarchNW, Bestand Fritz Müller, Interview Fritz Müller 19.10.1985. Siehe insbesondere LarchSP H91 6241 und T41 720. Vgl. LA 20.03.1933; PP 21.03.1933; PK 21.03. und 07.04.1933; LarchSP H91 6 und R18 A29308. Der Vorname von Dr. Vogt ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unbekannt. Vgl. PP 21.03.1933; LarchSP H3 8504 und H14 295. Siehe zu Damian insbesondere Karlheinz Lipp, Gegen Faschismus und Krieg. Der Pfälzer Pazifist und religiöse Sozialist Oswald Damian, in: Hans-Georg Meyer/Hans Berkessel (Hrsg.), „Eine nationalsozialistische Revolution ist eine gründliche Angelegenheit“. (Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, Band 1.) Mainz 2000, 50–56.
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1933 ein zweites Mal in „Schutzhaft“ genommen, um seine bereits infolge der ersten „Schutzhaft“ erfolgte Entlassung bei der Bahn „in tariflicher Hinsicht begründen zu können“.100 Unabhängig davon, weshalb sie in „Schutzhaft“ kamen, folgte für viele nach der Entlassung aus der „Schutzhaft“ eine langjährige Arbeitslosigkeit. Bei der „Erziehung zur Arbeit“ ging es darum, dass durch den Verlust der Arbeitsstelle eine Rolle in der „Volksgemeinschaft“ zugewiesen wurde. Dabei wurde aus einem Leiter eines Arbeitsamtes ein Winzertagner. Letztlich sollte jeder deutsche Volksgenosse an dem Platz in der Arbeitswelt stehen, für den er bestimmt war. Um überhaupt eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben und ihre Familien ernähren zu können, gingen einige ehemalige „Schutzhaftgefangene“ Mitgliedschaften in NS-Organisationen ein. Sie wurden aber niemals mit einem Blick unabhängig von ihrer politischen Beurteilung vor 1933 betrachtet. So prüfte die Gestapo 1938 zahlreiche Westwallbauarbeiter auf ihre politische Zuverlässigkeit, für viele ehemalige „Schutzhaftgefangene“ des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt bedeutete dies die erneute Entlassung. Ende März 1933 berichtete die Presse, dass das Stahlhelm-Haus in Neustadt besetzt wurde und führende Persönlichkeiten des Stahlhelms in „Schutzhaft“ genommen wurden. Unter ihnen auch der Stahlhelmführer Franz Multerer, der in das (frühe) Konzentrationslager Neustadt gebracht wurde. Die Presse berichtete, dass die Aktionen gegen den Stahlhelm deshalb erfolgt waren, weil „aus einer Reihe von Gemeinden der geschlossene Uebertritt von Marxisten in den Stahlhelm erfolgt sei“.101 Die „Schutzhaft“ der Stahlhelmführer war demnach eine Maßnahme um „marxistische Wühlarbeit“ zu verhindern. Allerdings teilte „die Reichspressestelle des Stahlhelms“ mit, dass es zu „Unstimmigkeiten und Mißverständnissen in der Besetzung der Stellen bei den Arbeitsämter[n]“ gekommen sei.102 Bettet man diesen Bericht auch in die Gesamtberichterstattung ein, wird deutlich, dass es zwischen der SA und dem Stahlhelm seit der Machtübernahme zu Auseinandersetzungen bezüglich der Besetzung von Stellen kam, die durch die Verfolgungsmaßnahmen der „nationalen Revolution“ frei wurden. Multerer wurde bereits nach einem Tag aus dem Konzentrationslager entlassen.
VII. VERHINDERUNG VON WIDERSTAND „Der Unterzeichnete versichert feierlich, daß er die nationalsozialistische Aufbauarbeit, die zum Ziele hat, die Volksgemeinschaft aller zu sichern, in keiner Weise sei es durch Wort, Schrift oder durch andere Art der Propagierung, zu stören versuchen wird. Er hat insbesondere zur Kenntnis genommen, daß der geringste Versuch dieses Versprechen zu sabotieren nicht mehr die bisherige loyale Behandlung erfahren kann, sondern zu allerschärfsten Maßnahmen
100 LarchSP H91 7378, Vernehmung Eugen Kennels durch die Gestapo am 23.01.1940. 101 LA 30.03.1933. Siehe hierzu auch: LA 28.03.1933. 102 Ebd.
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führen wird, die geeignet sind, jede Wiederholung eines solchen Versuches unmöglich zu machen.“103
Die aus der „Schutzhaft“ Entlassenen mussten alle eine Loyalitätserklärung unterschreiben, in der sie versicherten, die Aufbauarbeit zur „Volksgemeinschaft“ nicht zu stören. Ebenfalls mussten sie sich für einen gewissen Zeitraum täglich – teilweise mehrmals – bei der örtlichen Gendarmerie melden. Widerstand und Flucht wurden dadurch erheblich erschwert, aber auch die (Wieder-)Aufnahme einer Arbeitsstelle. Zudem wurden die Betroffenen dadurch erneut als „Verbrecher“ markiert. Ebenfalls wurde das Sprechen über die „Schutzhaft“ zu einer Versündigung an der „Volksgemeinschaft“ und mit einer erneuten „Schutzhaft“ bedroht. Wer es dennoch tat, wie Otto Michel und Karl Schulz, wurde wegen Verbreitung von Gräuelnachrichten von Gerichten verurteilt.104 Eine erneute „Schutzhaft“ oder eine gerichtliche Verurteilung hatte dabei nicht nur Auswirkungen auf die jeweils Betroffenen, sondern auch auf ihre Familien, was auch von den Verfolgern erkannt wurde. So vermerkte die Polizeidirektion Kaiserslautern über Julius Lang bereits 1934, dass Lang „jede ungewollte Zusammenkunft bezw. Begegnung mit früheren ‚Genossen‘“ vermeidet. Weiter: „Schon mit Rücksicht auf seine Angehörigen, insbesondere auf seine Kinder, an denen er sehr hängt, ist Lang ernstlich bemüht, ja nicht in irgendwelche Unannehmlichkeiten zu kommen“.105 Ehemalige „Schutzhaftgefangene“ und ihre Genossen, die nicht in „Schutzhaft“ waren, hatten Angst Kontakte aufzunehmen, da die Kontaktaufnahme auf beiden Seiten die Gefahr, ins Visier der staatlichen Organe zu kommen und (erneut) in „Schutzhaft“ genommen zu werden, erhöhte. Gerade in den provinzialen Strukturen der Pfalz war eine soziale Kontrolle ausgeprägt, welche einen Widerstand erschwerte. Es kann nicht übersehen werden, dass viele wieder in die Mühlen der Verfolgung kamen, weil sie von Nachbarn, Bekannten, Arbeitskollegen und Angehörigen denunziert wurden. Dazu kamen die Überwachungen durch staatliche Organe wie Gestapo und örtliche Gendarmerie. Unabhängig von einer wirklichen Widerstandshandlung war weder eine politische Beurteilung durch die Gestapo, noch eine polizeiliche Beobachtung oder eine Denunziation losgelöst von einem Blick auf „vor 1933“. Viele ehemalige „Schutzhaftgefangene“ traten in NS-Organisationen, vornehmlich der DAF und dem NSV, aber stark vereinzelt auch der SA und NSDAP, aus beruflichen, persönlichen und sicher auch aus weltanschaulichen Gründen bei. Auch Denunzianten entzog man dadurch eine Angriffsfläche. Nach der Entlassung aus ihrer (ersten) „Schutzhaft“ im Frühjahr 1933 beteiligte sich eine Reihe von „Schutzhaftgefangenen“ des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt am kommunistischen und sozialdemokratischen Widerstand. Sie hielten Kontakte zum Exil, schmuggelten und verteilten Flugblätter und brachten 103 LarchSP H91 3736, Loyalitätserklärung von Karl Steiner. 104 LarchSP J83 2540 und J72 115. 105 LarchSP H91 3513, Schreiben der Polizeidirektion Kaiserslautern an die Kammer des Innern in Speyer am 22.12.1934.
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Parolen gegen das NS-Regime an. Oskar Brill und Otto Michel wurden 1934 wegen dem Versuch KPD-Parteistrukturen aufzubauen zu Zuchthausstrafen verurteilt. Nach der Verbüßung kamen sie in „Schutzhaft“ nach Buchenwald. Brill war dort Mitglied der illegalen Parteiorganisation. Erst im Mai 1945 konnte er nach der Befreiung des Lagers durch die Alliierten nach Kaiserslautern zurückkehren.106 Michel wurde am 13. März 1942 von Buchenwald nach Ravensbrück überführt, wo er am 14. September 1942 starb.107 Nach der Zerschlagung der sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandsgruppen hielten sich noch einige wenige kleinere Gruppen, die sich über Parteigrenzen hinweg annäherten. So gehörte zum Beispiel Richard Lenz zu einem Kreis von Sozialdemokraten, die bis 1938 über Kuriere und persönliche Kontakte enge Verbindungen zum illegalen Organisationszentrum der SAP in Mannheim hielt.108 Durch die Stabilisierung des Systems, durch die Einbrüche der Gestapo, durch Denunziationen und Bespitzelungen, aber auch durch langsame Annäherung oder Rückzug in die „innere Emigration“, wurde der Widerstand gegen das NS-Regime immer mehr zu einer einsamen Angelegenheit. Im Krieg wurden einige ehemalige „Schutzhaftgefangene“ des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt denunziert, weil sie ausländische Sender abhörten oder sich negativ gegen den Krieg und das NS-System äußerten. Friedrich Schreck war 1940 Offizier der Wehrmacht. In der Nachkriegszeit – zu einer Zeit als die Widerstandskämpfer des 20. Juli noch vornehmlich als Vaterlandsverräter galten – gab er an, dass er auf Anraten von KarlHeinrich von Stülpnagel der NSDAP beitrat. Sinn dieses von Stülpnagel vorgeschlagenen Beitrittes war anderen Offizieren und der Gestapo eine Angriffsfläche gegen Schreck zu entziehen und damit die eigenen Handlungsmöglichkeiten für Widerstandshandlungen zu erweitern. Insbesondere setzte er sich im Folgenden für das katholische Leben in den besetzten Gebieten, aber auch für die Zeugen Jehovas unter seinen Soldaten ein.109 Fritz Müller, der 1938 vom Arbeitsamt Kaiserslautern zu den Opel-Werken Rüsselsheim vermittelt wurde und dadurch seiner Bekanntheit in seiner Heimat entfliehen konnte, trat dort dem Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps (NSKK) bei. Gleichzeitig baute er ein Netz von der Gestapo unverdächtigen Kollegen auf, mit denen er kleinere politische Gespräche über die Kriegslage und die Meldungen ausländischer Radiosendungen austauschen konnte. Auch nutzte er seine Bewegungsfreiheiten, die er als Feinmechaniker für Schreibmaschinen hatte, für kleinere Akte des Widerstandes. Unter anderem ließ er seine Gestapo-Karte in der Firma verschwinden und verteilte wohl auch Flugblätter. Durch die Erfahrung der „Schutzhaft“ 1933 wurde er aber vorsichtig und witterte immer wieder Gefahr. Gespräche in der Anwesenheit eines Dritten, dem er nicht voll vertrauen konnte,
106 Joachim Lilla, Der Bayerische Landtag 1918/19 bis 1933. Wahlvorschläge, Zusammensetzung, Biographien. München 2008, hier 134. 107 Vgl. LarchSP H91 6137. 108 GarchNW, Rückmeldung Städte und Gemeinde, Die Rheinpfalz 05.08.1988 (Kopie). 109 Vgl. LarchSP R18 5677.
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vermied er auf das Äußerste.110 Wie einige andere „Schutzhaftgefangene“ des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt wurde er nach 1945 aus der Mehrheitsgesellschaft heraus aufgrund seiner Mitgliedschaft in einer NS-Organisation als „Nazi“ diffamiert. Er schrieb hierauf seiner Tochter nach Kaiserslautern folgende Zeilen: „Als durch die Gestapo erneut in diesem Jahre [1940] Foto und Finderabdruck [sic!] genommen wurden, war doch zu erkennen, dass bei kommenden ernsthaften inneren Schwierigkeiten der Weg durch den Kamin im KZ schon offen stand. Es war doch bekannt und von der Gestapo nicht vergessen, dass ich vor 1933 zu gewaltsamen Widerstand aufgefordert hatte […]. Obwohl nichts gegen mich herausgebracht wurde, wurde ich jeweils im Rahmen der Hitlerattentate erneut auch hierin befragt. Ja, Mut ist viel, aber Klugheit und Tapferkeit doch mehr. Sich aus den dargelegten Erkenntnissen einen so übermächtig gewordenen Gegner beugen, heisst aber nicht, sich in alles fügen und entsagend hoffnungslos werden, wohl aber mit stets wachsendem Misstrauen seine Umwelt zu beobachten. Ich arbeitete in einer Automobilfabrik. Hier die Ablehnung dem NSKK beizutreten, wäre ja nur die Unterstreichung gewesen, dass ich KZ reif bin. […] Wer also nun glaubt, mir einen Vorwurf aus dieser meiner Ansicht machen zu können, soll es laut und vernehmlich tun. Ich bewundere seine schöne und edle Gesinnung. Auch preise ich seine erhabene Charakterstärke – und jenen glücklichen Zufall[,] der ihn behinderte diese in einem Vernichtungslager unter einem harten Beweis stellen zu müssen, und ihn vor einem wenig heroischen Abgang aus dieser Welt kleinlichen Irrtums bewahrte.“111
Es kann in den Einzelfällen nicht bestimmt werden, inwieweit ein Eintritt als Schutz oder Zustimmung vorgenommen wurde. Gerade erstes zu übersehen, wäre bei der Beurteilung – und der daraus oftmals resultierenden Verurteilung – der ehemaligen „Schutzhaftgefangenen“ fatal, da das Leben in der „Volksgemeinschaft“ komplexer war und eine (Nicht-)Mitgliedschaft in den Organisationen von vielen registriert, beobachtet und auch genutzt wurde. Letztlich ist auch eine genauere Analyse von Interesse, wer nach 1945 gegenüber den „Schutzhaftgefangenen“ Vorwürfe erhoben hat, „Nazis“ gewesen zu sein. In den meisten Fällen – sieht man von Streitigkeiten zwischen ehemaligen „Schutzhaftgefangenen“ über das richtige Handeln nach der Entlassung ab – wurden diese von Männern und Frauen erhoben, die nicht in „Schutzhaft“ waren, nicht von einer solchen bedroht waren und sich bereits vor 1933 aktiv für die NSDAP engagierten. Letztlich kann nicht übersehen werden, dass es im Frühjahr 1933 zu keinem nennenswerten Widerstand gegen die „Schutzhaftmaßnahmen“ und (frühen) Konzentrationslager von Seiten der Mehrheitsgesellschaft kam.112 Im Gegenteil wurden die Verhaftung der „Schutzhaftgefangenen“ des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt oft begleitet von einer Menge oder von Einzelnen, die die „Schutz-
110 GarchNW, Bestand Fritz Müller, Interview Fritz Müller 19.10.1985 und 22.02.1989. 111 LarchSP V52 601, Schreiben Fritz Müllers an seine Schwester im Oktober 1945. 112 Siehe hierzu auch: Andreas Wirsching, Die deutsche „Mehrheitsgesellschaft“ und die Etablierung des NS-Regimes im Jahre 1933, in: Ders. (Hrsg.), Das Jahr 1933. Die nationalsozialistische Machteroberung und die deutsche Gesellschaft. (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Band 9.) Göttingen 2009, 9–29.
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haft“ des jeweils Betroffenen forderten und teilweise auch von einer solchen profitierten. In der Bevölkerung erhielten existierende antisemitische, antimarxistische und antiseparatistische Strukturen und Gewalttaten im Zuge der sogenannten „Machtergreifungsphase“ schlechterdings neue Rahmenbedingungen. Verfassungsnormen, die zuvor einklagbar waren, wurden schrittweise außer Kraft gesetzt. Durch das Mittel der Notverordnungen wurden Grundrechte beseitigt und schließlich durch das Ermächtigungsgesetz das Gesetzgebungsrecht auf die Regierung übertragen.113
VIII. NACH 1945 Nach 1945 kam es zu einigen Prozessen gegen Verantwortliche des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt. Unter anderem wurde von Eugen Levy und Dr. Paul Tuteur Anzeige gegen den Polizeipräsidenten von Kaiserslautern von Hausen erstattet, weil er maßgeblich an ihrer „Schutzhaft“ und an ihrer Segregation aus der „Volksgemeinschaft“ beteiligt war.114 Auch gegen den Rechtsanwalt Dr. Hammann wurde Anzeige erstattet.115 Von der Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit (unter anderem wegen der Beteiligung an der Verhaftung Dr. Paul Tuteurs im März 1933) wurde er freigesprochen. Ein ehrengerichtliches Ermittlungsverfahren gegen ihn wurde 1959 endgültig eingestellt. Gegen einige SSHilfspolizisten aus Ludwigshafen, gegen Eugen Huber und einen Polizeibeamten aus Neustadt wurde ein langjähriger Prozess geführt. Die Täter leugneten an Misshandlungen teilgenommen zu haben oder sie haben diese beschönigt, wie der SS-Mann August Schmitt, der erklärte „nicht misshandelt“ sondern „mehr gedächtschelt“ zu haben, da er nur „gelegentlich mit dem Gummiknüppel Häftlinge […] zu flotterer Arbeit“ „ermuntert“ habe.116 Insgesamt wurden vier SS-Männer zu Strafen zwischen acht Monaten und einem Jahr verurteilt. Keiner von ihnen musste sie allerdings absitzen. Das Verfahren gegen Huber wurde eingestellt und der Polizeibeamte, der die Misshandlungen von Zahm angeordnet hatte, wurde freigesprochen. Noch im Urteil wurden die Misshandlungen gerechtfertigt, da sie in einer „Zeit aufgewühlter politischer Leidenschaft“ geschahen.117 Aus Wiedergutmachungszahlungen wurden zahlreiche ehemalige „Schutzhaftgefangene“ des (frühen) Konzentrationslagers ausgeschlossen, vor allem 113 Siehe hierzu auch: Peter Steinbach, Republik ohne Grundkonsens. Grundwerteverlust und Zerstörung der politischen Kultur in der Weimarer Republik, in: Rudolf Lill/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Machtverfall und Machtergreifung. Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus. München 1983, 63–92. 114 Vgl. LarchSP J73 705, J73 943 und J73 1181. 115 Vgl. LarchSP J73 743. 116 Vgl. LarchSP J72 332. Zitat aus der der Vernehmung von August Schmitt am 14.12.1949 (ebd.). 117 LarchSP J72 378, Urteil gegen Huber und Andere des Schwurgerichtes am Landgericht Frankenthal vom 20.04.1950. Siehe auch: J72 330 und 332.
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dann, wenn sie als „Separatisten“ galten. Einige von ihnen litten ihr ganzes Leben lang unter den schweren Misshandlungen, die sie als angebliche „Vaterlandsverräter“ in Neustadt zugefügt bekamen. Nach 1945 galten sie weiterhin als „Separatisten“ und „Vaterlandsverräter“ und ihre Misshandlungen wurden teilweise als gerechte Strafe für den vermeintlichen Vaterlandsverrat angesehen.118 Ehemalige „jüdische“ „Schutzhaftgefangene“, die den Genozid an den europäischen Juden überlebten, wurden in den Wiedergutmachungsverfahren nicht selten als Profiteure beschrieben. Nutznießer der Arisierung und auch Verantwortliche für die „Schutzhaft“, wie der Mieter von Max Siegelwachs, gaben an, dass sie nur aus Nettigkeit zu Käufern wurden und dazu noch einen angeblich überteuerten Preis für wertlose Geschäfte oder Häuser zahlten. Ihre Beteiligung wurde gar nicht erst vom Gericht näher untersucht, dagegen offenkundige Entlastungsstrategien ungeprüft übernommen. Die Beteiligung an der Ausplünderung, Verfolgung und Ermordung von „Juden“ wurde geschönt, weggeschoben, ausgeblendet oder ausgeschnitten, wie in den Akten zur Ausplünderung von Richard Joseph, wo sämtliche Schreiben der Deutschen Bank und des Finanzamtes von NSSymbolik befreit wurden.119 Das (frühe) Konzentrationslager Neustadt galt jahrzehntelang in der Mehrheitsgesellschaft als vergessen. Einzelne – in der Mehrheitsgesellschaft galten sie als „Nestbeschmutzer“ – begannen vor allem ab den 1980er Jahren die Geschichte des Lagers aufzuarbeiten, interviewten noch lebende ehemalige „Schutzhaftgefangene“, sichteten Lokalzeitungen und erste Quellen und führten gemeinsam mit Jugendlichen pädagogische Spurensuchen durch. Nochmal Jahre später folgten die ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum (frühen) Konzentrationslager Neustadt. Ein umfassendes Standardwerk zum (frühen) Konzentrationslager Neustadt fehlt bis heute. Die Ergebnisse der Untersuchung sprechen dafür, dass die Funktion des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt vielfältiger war, als bisher dargestellt. Es diente nicht nur der Machtkonsolidierung durch die Ausschaltung der Arbeiterbewegung und der Verhinderung eines möglichen Widerstandes, sondern auch der gezielten Gleichschaltung der Kommunalparlamente, der „Erziehung zur Volksgemeinschaft“ und vor allem auch der Segregation „jüdischer“ Deutscher. Dabei waren zahlreiche Personen in die „Schutzhaftmaßnahmen“, in die Misshandlungen im Lager aber auch bei der Aushöhlung der Gegnerbegriffe involviert. Letztlich war kaum ein „Schutzhaftgefangener“ des (frühen) Konzentrationslagers Neustadt 1933/1934 nur einmal in „Schutzhaft“. Zahlreiche Namen findet man als „Schutzhaftgefangene“ in den pfälzischen Polizei- und Justizgefängnissen sowie in Dachau wieder. Es wäre an der Zeit, die „Schutzhaftmaßnahmen“ 1933/34 mit ihren heterogenen Gründen und ihren zahlreichen Verstrickungen über das (frühe) Konzentrationslager hinaus zu untersuchen.
118 Siehe hierzu insbesondere LarchSP J6 9018 und J6 8848. 119 Vgl. insbesondere LarchSP L24 136Z3402.
FORUM
„EIN EINIGES DEUTSCHES VATERLAND …“ Bismarck und die deutsche Frage 1848 bis 1871 Hans Fenske
I. FRÜHE POLITISCHE PRÄGUNG Gleich zu Beginn seiner Erinnerungen, die Bismarck im Oktober 1890 seinem langjährigen engen Mitarbeiter Lothar Bucher zu diktieren begann, heißt es, er habe 1832 die Schule „wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung“ verlassen, „daß die Republik die vernünftigste Staatsform“ sei.1 Die in der Kindheit empfangenen Eindrücke, so heißt es wenig später, hätten ihn nicht verjunkert, und die im Elternhaus gewonnenen Auffassungen „waren […] eher liberal als reaktionär.“2 Das Hambacher Fest 1832 dämpfte seine liberale Gesinnung dann etwas. Ihm schwebte aber weiterhin ein Staat mit freier Verfassung vor, denn dort könne „ein jeder, der sich den Staatsangelegenheiten widmet, offen seine ganze Kraft an die Verteidigung und Durchführung jener Maßregeln und Systeme setzen, von deren Gerechtigkeit und Nutzen er die Überzeugung hat.“3
Mit dem Deutschen Bund und den Verfassungsverhältnissen in Deutschland war er nicht zufrieden. Er erwartete eine Änderung in absehbarer Zeit. Mit einem amerikanischen Kommilitonen wettete er 1833, dass die deutsche Einheit in 20 Jahren erreicht sein werde. Den jungen Bismarck darf man als altliberal bezeichnen. Mit vollem Recht sagte der Karlsruher Historiker Walter Bußmann anlässlich des hundertsten Jahrestags der Reichsgründung, man dürfe sich den Blick darauf „nicht durch die gängige Vorstellung trüben lassen, daß Bismarck ein ‚Konservativer‘ war.“4 Bismarck studierte Rechtswissenschaften und bestand im Mai 1835 das erste Staatsexamen. Die weitere juristische Ausbildung schloss er nicht ab. Von 1838
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Otto von Bismarck, Werke in Auswahl. Jahrhundert-Ausgabe zum 23. September 1962. Acht Bände. Hg. von Gustav Adolf Rein u. a. Darmstadt 1962–1983 (zitiert als WiA). Nachweis Zitat siehe Anmerkung 2. Bismarck, Erinnerung und Gedanke, WiA Band 8.1, 1 und 12. Bismarck an Caroline Gräfin von Bismarck-Bohlen, Abschrift im Brief an seinen Vater vom 29.09.1838, ebd. 22–26, Zitat 22. Walter Bußmann, Bismarck: Seine Helfer und Gegner, in: Theodor Schieder/Ernst Deuerlein (Hrsg.), Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen. Stuttgart 1970, 119–147, Zitat 124.
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bis 1841 bewirtschaftete er mit seinem Bruder Bernhard den väterlichen Gutsbesitz in Pommern, dann teilten die Brüder die Güter unter sich auf. Bismarck ging voll in der Aufgabe auf, die von ihm verwalteten Güter – nach dem Tode des Vaters 1845 gehörte dazu auch der Stammsitz Schönhausen an der Elbe – in ihrer Rentabilität nachhaltig zu verbessern. Als Kreisdeputierter und Stellvertretender Landrat sammelte er Erfahrungen in der Selbstverwaltung. Als sich Friedrich Wilhelm IV. im Februar 1847 entschloss, die acht Provinziallandtage zu einem Vereinigten Landtag zusammentreten zu lassen, war es Bismarcks „eifriger Wunsch, Mitglied des Landtags zu sein“, wie er seiner Braut (und ab Juli Ehefrau) Johanna von Puttkamer im Mai schrieb, wenige Tage, nachdem er als Ersatzmann zu einem Mandat gekommen war.5 Im Vereinigten Landtag schloss er sich der gemäßigt konservativen Gruppe an und machte schnell durch seine Reden auf sich aufmerksam. Schon 1848 galt er als ministrabel.
II. BEWERTUNG DER REICHSGRÜNDUNGS-VERSUCHE 1848 BIS 1850 Die Revolution im Frühjahr 1848 missbilligte Bismarck entschieden. Er sprach von einer scheußlichen Zeit und hatte eine große Wut „auf die Hunde in Mannheim“, die radikalen Vorkämpfer der Revolution, die seines Erachtens „das verdrehteste Zeug“ forderten.6 Die Vergangenheit nannte er begraben und er war überzeugt, dass sie niemand wieder erwecken könne. Dem Ende März berufenen liberalen Ministerium Camphausen bescheinigte er, dass es das einzige sei, das einen geordneten und gesetzlichen Zustand wiederherstellen könne, und er hoffte, dass es gelingen werde, „ein einiges deutsches Vaterland“ zu schaffen.7 Die am 5. Dezember von Friedrich Wilhelm IV. erlassene preußische Verfassung begrüßte er, wenn er sie auch nicht zu den vorzüglichsten Konstitutionen zählte. Insbesondere beklagte er, dass die Steuergesetze nur für die Haushaltsperiode gelten sollten. Damit habe jede der beiden Kammern alljährlich die Möglichkeit der Steuerverweigerung. Auf diesem Wege könne schließlich „die ganze Staatsgewalt […] von der Krone auf die Kammern und deren Majoritäten“ verlegt werden. Die gebotene Gleichberechtigung der Krone, der Ersten und der Zweiten Kammer dürfe nicht zum Nachteil der Krone geändert werden.8 An der von der Paulskirche im März 1849 verabschiedeten Verfassung kritisierte Bismarck in einer Rede in der Zweiten Kammer am 21. April, dass sie auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhte, dass sie das allgemeine Wahlrecht und die direkte Wahl vorschrieb und die Linke damit stärkte, dass Preußen im Staatenhaus nicht angemessen vertreten war und dass der Haushalt alljährlich festzusetzen war. Die Vorschrift, dass der Kaiser das ganze Deutschland schaffen
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Bismarck an seine Braut. 18.05.1847, WiA Band 1, 139f., Zitat 140. Bismarck an seinen Bruder Bernhard, 28.03.1848, ebd. 168f., Zitat 169. Rede im Zweiten Vereinigten Landtag, 02.04.1848, ebd. 171. Rede in der Zweiten Kammer, 24.09.1849, ebd. 249–257, Zitat 250.
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sollte, hielt er für falsch. Das könnte Friedrich Wilhelm IV., den die PaulskirchenMehrheit an der Spitze des Reiches sehen wollte, dazu zwingen, den Kaiser von Österreich und den König von Bayern als Rebellen zu behandeln, wenn sie sich der Verfassung nicht unterwerfen wollten. Abschließend sagt er: „Die deutsche Einheit will ein jeder, den man danach fragt, sobald er nur deutsch spricht, mit dieser Verfassung aber will ich sie nicht.“ Der Nationalversammlung warf er vor, mit ihrem Beharren darauf, dass einzig und allein sie über die Verfassung zu befinden habe, „der deutschen Einheit im Wege“ zu stehen. Verweigere die Kammer der Reichsverfassung die Zustimmung, sei Preußen imstande, „die deutsche Einheit auf dem von der Regierung betretenen Wege herbeizuführen.“ Schlimmstenfalls müsse Preußen eben Preußen bleiben.9 Ministerpräsident war seit November 1848 Graf Friedrich Wilhelm von Brandenburg, ein Mann gemäßigt konservativer Haltung. Er hatte die deutschen Staaten am 3. April 1849 zu Verhandlungen über die deutsche Verfassung eingeladen und dafür bei 28 Regierungen Zustimmung gefunden. Geplant war die Schaffung eines Bundesstaates, der mit Österreich zu einer Deutschen Union verbunden werden sollte. Gegenüber dem Ausland sollten der Bundesstaat und Österreich eins sein, sich im Innern aber je selbständig entwickeln und sich dabei durch Verträge möglichst einander angleichen. Die von Preußen mit Sachsen und Hannover Ende Mai vereinbarte Verfassung des Bundesstaates entsprach weitgehend wörtlich der von der Paulskirche verabschiedeten Verfassung, nur war die Reichsgewalt jetzt etwas abgeschwächt, die Stellung der Gliedstaaten mithin gestärkt. Die Grundrechte sollten nur unter Berücksichtigung einzelstaatlicher Besonderheiten gelten. Die endgültige Gestalt der Verfassung sollte mit einem zu diesem Zweck gewählten Parlament ausgehandelt werden. Österreich widersprach dieser Politik entschieden und übte dabei kräftigen Druck auf Sachsen und Hannover aus. Wegen der weitgehenden Übernahme der Paulskirchen-Verfassung beurteilte Bismarck den Verfassungsentwurf kritisch. Das legte er der Zweiten Kammer am 9. September dar und bestritt dabei, dass das preußische Volk das Bedürfnis nach nationaler Wiedergeburt habe. Es wolle, „daß der preußische Adler seine Fittiche von der Memel bis zum Donnersberge schützend und beherrschend ausbreite“, aber frei wolle es ihn sehen, nicht gefesselt durch einen neuen Regensburger Reichstag.10 Er warb für ein von Preußen geführtes Norddeutschland, sprach aber auch von einem Bund mit Österreich. Im Wahlkampf für das verfassungsvereinbarende Parlament erklärte er, Preußen wolle nicht auf Kosten seiner Bundesgenossen groß werden, aber der deutsche Bundesstaat dürfe nicht „zustandekommen […] auf Kosten der Ehre, Unabhängigkeit und Kraft Preußens.“11 Er gewann das angestrebte Mandat und beteiligte sich eifrig an der Arbeit des vom 20. März bis Ende April 1850 in Erfurt tagenden Parlaments. In langer Rede bekannte er sich
9 Rede in der Zweiten Kammer, 21.04.1849, ebd. 214–220, Zitate 219 und 214. 10 Rede in der Zweiten Kammer, 06.09.1849, ebd. 235–242, Zitat 241. 11 Ansprache an die Wähler, 18.12.1849, ebd. 278f.
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zur Schaffung eines Bundesstaates, aber nicht „um den Preis dieser Verfassung.“12 Für Preußen forderte er eine angemessene Stellung, da es an der Bevölkerung einen Anteil von drei Vierteln haben werde. Das Erfurter Parlament nahm die Verfassung zu Beginn seiner Arbeit en bloc an und beschloss in der Folge nur einige Änderungen. Durchsetzen ließ sich der Bundesstaat gegen den Widerstand der Habsburgermonarchie nicht. Im Herbst 1850 führte die Spannung zwischen den beiden deutschen Großmächten fast zum Kriege. Entschärft wurde die Krise durch zwei mit russischer Vermittlung erzielte Vereinbarungen. Am 28. Oktober billigte Preußen die Wiederherstellung des Deutschen Bundes unter Einbeziehung der gesamten Habsburgermonarchie und bekam dafür die Schaffung eines engeren Bundesstaates zugestanden, allerdings unter Verzicht auf die in Erfurt verabschiedete Verfassung. Am 23. November verständigten sich der österreichische Ministerpräsident Fürst Schwarzenberg und der nach dem plötzlichen Tode des Grafen Brandenburg jüngst ins Amt gekommene preußische Ministerpräsident Manteuffel in Olmütz darüber, alle strittigen Fragen auf zwei Konferenzen aller deutscher Staaten beizulegen. Die Olmützer Punktation stieß in der Zweiten Kammer Preußens auf heftigen Widerstand der Liberalen, sie verlangten einen Regierungswechsel. Bismarck verteidigte das Abkommen und warnte vor einem Krieg mit der Donaumonarchie, der zu einem europäischen Krieg werden könne. Eindringlich stellte er den Abgeordneten das mit dem Krieg verbundene Elend vor Augen. Er sprach von „Schlachtfeldern und Brandstätten, Elend und Jammer, von hunderttausend Leichen und hundert Millionen Schulden.“13 Er räumte ein, dass ein Staatsmann in die Verlegenheit kommen könne, sich für einen Krieg entscheiden zu müssen, aber er müsse dabei ein des Krieges würdiges Ziel haben, das anders nicht zu erreichen sei, und sein Handeln vor Gott rechtfertigen können. Der Bezug auf Gott war kein vordergründiges Wort. Mitte der vierziger Jahre hatte Bismarck seine seit der Schulzeit vertretene deistische Haltung aufgegeben und sich wieder dem Glauben zugewandt. Als Leitlinie für die bevorstehenden Konferenzen nannte Bismarck in seiner Rede, Preußen dürfe nicht zugeben, „daß in Deutschland etwas geschieht ohne Preußens Einwilligung, daß das jenige, was Preußen und Österreich nach gemeinschaftlicher unabhängiger Erwägung für vernünftig und politisch richtig halten, durch die beiden gleichberechtigten Schutzmächte Deutschlands gemeinschaftlich ausgeführt“
werde.14 Er wollte im wiederhergestellten Bundestag einen friedlichen Dualismus der beiden Großmächte verwirklicht sehen.
12 Rede im Erfurter Parlament, 15.04.1850, ebd. 287–292, Zitat 289. 13 Rede in der Zweiten Kammer, 03.12.1850, ebd. 333–344, Zitat 335. 14 Ebd. 337.
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III. DEUTSCHLANDPOLITISCHE ÜBERLEGUNGEN DER 50ER UND FRÜHEN 60ER JAHRE Bei der Erneuerung des Bundestags im Frühjahr 1851 berief der König Bismarck zum Bundestagsgesandten. Der teilte das seiner Frau mit der Bemerkung mit, er übernehme „ein unfruchtbares und dornenvolles Amt.“15 In der Tat. In Frankfurt sah Bismarck sehr schnell, dass mit einem friedlichen Dualismus nicht zu rechnen war. Vom Bundestag erwartete er schon nach wenigen Wochen keine organische Entwicklung der deutschen Politik mehr und warb bei Manteuffel dafür, dass Preußen die Befriedigung seiner Bedürfnisse innerhalb des ihm von der Natur vorgegebenen Raumes „auf dem Wege der Separatverträge über Zölle, Gesetzgebung und Militärwesen“ suchen solle.16 In den folgenden Jahren wuchs sein Pessimismus hinsichtlich des Bundes, und gelegentlich fürchtete er einen Krieg zwischen den beiden deutschen Großmächten. Anfang 1859 wurde er Gesandter in St. Petersburg. Auch von dort aus suchte er Einfluss auf die deutsche Frage zu nehmen. Als es im April 1859 in Oberitalien zu einem Krieg Österreichs mit Piemont-Sardinien und Frankreich kam, riet er, die Situation zu nutzen, falls Österreich am Bundestag beschließen lasse, dass der Krieg den Bund angehe. Das könne man als „eine willkürliche Änderung des Bundeszwecks, also einen Bruch der Bundesverträge“ ansehen und die Beziehungen zu den kleineren deutschen Staaten neu definieren.17 Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit in der Öffentlichkeit mit dem Deutschen Bund empfahl er ein verstärktes publizistisches Wirken zugunsten einer Verbesserung der deutschen Verfassungsverhältnisse und schlug die Schaffung einer Volksvertretung am Bunde vor. Das tat er auch in einer König Wilhelm I., der Anfang 1861 auf den Thron gekommen war, im Juli 1861 in Baden-Baden überreichten Denkschrift. Nur eine nationale Vertretung könne den divergierenden Tendenzen dynastischer Sonderpolitik ein Gegengewicht geben. Ihre Kompetenzen sollten das Wehrwesen, die Zoll- und Handelsgesetzgebung und die damit verwandten materiellen Interessen umfassen. In diesem Sinne sollte Preußen eine amtliche Erklärung abgeben. Im September 1862 übernahm Bismarck auf drängenden Wunsch des Königs das Ministerpräsidium und das Außenministerium, schweren Herzens, denn die innenpolitische Situation war wegen des Streits zwischen der liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses und der Regierung um die Heeresreform sehr schwierig. Auf sein Bemühen um einen Ausgleich gingen die Liberalen nicht ein. Deutschlandpolitisch warb er bei dem österreichischen Gesandten Karolyi um eine feste Allianz Österreichs und Preußens, wobei Österreich Preußen die freie Bewegung in Norddeutschland zugestehen sollte. Die Reaktion in Wien darauf war negativ, und Bismarcks Mahnung, eine Fortsetzung der österreichischen Deutschlandpolitik werde schließlich zu einer Katastrophe führen, bewirkte nichts. Im August 15 Bismarck an seine Frau, 28.04.1851, ebd. 374f. 16 Privatschreiben an Minister von Manteuffel, 29.06.1851, ebd. 415–417, Zitat 415. 17 Privatschreiben an Minister von Schleinitz, 12.05.1859, WiA Band 2, 281–286, Zitat 284.
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1863 berieten auf Einladung Kaiser Franz Josephs die deutschen Monarchen und Vertreter der Freien Städte in Frankfurt über einen in Wien erarbeiteten Plan zur Bundesreform. Sie verabschiedeten ihn mit dem Vorbehalt, dass auch Preußen zustimme – Wilhelm I. war auf Drängen Bismarcks nicht nach Frankfurt gekommen. Das Reformprojekt wurde in der Öffentlichkeit überwiegend abgelehnt; es hätte die Bundesverhältnisse nicht verbessert. Preußen legte einen eigenen Reformplan vor. Darin wurden Bismarcks Überlegungen in der Baden-Badener Denkschrift aufgenommen, mit einer Verbesserung. Die Nationalvertretung sollte nicht von den einzelstaatlichen Landtagen gewählt werden, sondern direkt. Darin sah Bismarck ein wirksames Mittel gegen partikularistische Bestrebungen.
IV. DIE SCHLESWIG-HOLSTEINISCHE FRAGE Im Herbst 1863 wurden Schleswig und Holstein zum drängenden Problem. Die beiden Herzogtümer waren seit 1460 mit Dänemark in Personalunion verbunden, dabei war ihnen zugesagt worden, dass sie auf ewig zusammen und ungeteilt bleiben sollten. Seit dem Vormärz waren König und Regierung in Kopenhagen bemüht, Schleswig zu danisieren. In Dänemark und Holstein galt ein unterschiedliches Erbrecht, für Schleswig war die Rechtslage umstritten. Da der Erbfall abzusehen war, legte 1852 eine Konferenz der Großmächte in London fest, dass Prinz Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg König und Herzog werden sollte, er verpflichtete sich, die Rechte der Herzogtümer zu achten und Schleswig nicht in Dänemark einzugliedern. Der Herzog von Schleswig-Holstein-Augustenburg, der auf Holstein Erbansprüche anmelden konnte, wurde veranlasst, darauf zu verzichten. Trotz dieses Abkommens setzte Dänemark die Politik gegenüber Schleswig fort und minderte auch die Rechte der holsteinischen Stände. Dagegen wandte sich der Bundestag mehrfach. Am 1. Oktober 1863 beschloss er, die holsteinischen Rechte notfalls mit einer Bundesexekution durchzusetzen. Sechs Wochen später trat der Erbfall ein. Der nunmehrige König Christian IX. anerkannte sogleich die kurz zuvor vom Parlament verabschiedete Gesamtstaatsverfassung und gliederte Schleswig unter Bruch des Londoner Protokolls in Dänemark ein. Der Sohn des Herzogs von Augustenburg, der dem Verzicht seines Vaters auf das Erbrecht nicht zugestimmt hatte, erklärte sich sogleich als Friedrich VIII. zum Herzog von Schleswig und Holstein. Bismarck fürchtete, dass der Streit um das Erbe zu einem europäischen Krieg führen könne, und erklärte, dass für Preußens Stellung zur Sache „zunächst der Londoner Vertrag von 1852“ maßgeblich sei.18 So dachte auch der österreichische Außenminister Rechberg. Da Christian IX. dem Verlangen des Bundestags auf Achtung des Londoner Protokolls nicht entsprach, beschloss der Bundestag auf Antrag Österreichs und Preußens die Durchführung der Bundesexekution. Hanno-
18 Erklärung im Abgeordnetenhaus, 01.12.1863, WiA Band 3, 191–193, Zitat 181.
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versche und sächsische Truppen rückten in Holstein und im Herzogtum Lauenburg, das seit 1816 ebenfalls mit Dänemark in Personalunion stand, ein, der Augustenburger, ein Liberaler, ging mit dem von ihm gebildeten Ministerium nach Kiel. In der öffentlichen Meinung Deutschlands hatte er großen Rückhalt. Die Mehrheit am Bundestag war nicht mehr bereit, Christian IX. als Herzog anzuerkennen und lehnte deshalb einen Antrag Österreichs und Preußens ab, durch eine Pfandbesetzung Schleswigs Christian IX. zur Einhaltung seiner Verpflichtung zu veranlassen. So handelten die deutschen Großmächte selbstständig und besetzten nach Ablauf des Christian IX. gestellten Ultimatums kampflos Schleswig. Zugleich boten sie eine neuerliche Londoner Konferenz derjenigen Staaten an, die 1852 das Protokoll unterzeichnet hatten. Dänemark blieb unnachgiebig. So begannen Österreich und Preußen im März mit der Besetzung Jütlands; auch dabei gab es kaum Kämpfe. Nun bequemte sich Dänemark zur Teilnahme an der Konferenz, war aber auch dort nicht bereit, die österreichisch-preußischen Vorschläge anzunehmen: Christian IX. sollte weiterhin Herzog der Elbherzogtümer sein, Schleswig aber in den Deutschen Bund aufgenommen werden. Ende Juni wurde die Konferenz ergebnislos abgebrochen, der Krieg begann erneut. Endlich bat Dänemark um Waffenstillstand. In dem am 1. August unterzeichneten Vorfrieden trat es Schleswig, Holstein und Lauenburg an Österreich und Preußen ab. Das wurde durch den Wiener Frieden Ende Oktober bestätigt. Während der Konferenz schlugen Österreich und Preußen schließlich vor, die Elbherzogtümer dem Augustenburger zu unterstellen. Das wollte namentlich Rechberg, aber Bismarck war damit einverstanden. Er wollte allerdings einige Konzessionen des Augustenburgers an Preußen, eine Militärkonvention, den Bau eines Nord-Ostsee-Kanals mit Stationierung preußischer Truppen an dessen Eckpunkten und den Beitritt Schleswig-Holsteins zum Zollverein. Friedrich VIII. war nicht bereit, das zuzugestehen. Bismarck war weiterhin sehr an einer engen Zusammenarbeit mit Österreich gelegen. Ende September warb er bei Rechberg um „ein intimes, die deutsche Politik aktiv leitendes Bündnis beider Großmächte.“19 Wenig später wurde Rechberg aus innenpolitischen Gründen seines Amtes enthoben. Sein Nachfolger Graf Mensdorff-Pouilly war an einem Einvernehmen mit Preußen nicht interessiert. Er wollte Schleswig-Holstein zum Parteigänger Österreichs machen. So verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Wien und Berlin schnell. Ende Mai 1865 wollte König Wilhelm I. Österreich vor die Alternative Anerkennung der preußischen Wünsche an den Augustenburger oder Annexion der Herzogtümer durch Preußen stellen. Das hätte die Spannung verschärft. Bismarck riet zu weiteren Verhandlungen, bei denen die Forderungen an Friedrich VIII. auch herabgesetzt werden könnten. Der Kronrat beschloss entsprechend. Im August hielt Bismarck sich in Bad Gastein auf. Dort schloss er mit dem von Mensdorff beauftragten österreichischen Gesandten in München nach langen Gesprächen eine Konvention
19 Privatschreiben an Graf von Rechberg, 29.09.1864, ebd. 379–381, Zitat 379.
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ab. Danach sollte das Kondominium über die Elbherzogtümer fortdauern. Preußen aber die Verwaltung in Schleswig, Österreich die in Holstein leiten. Preußen durfte den Kanal bauen und erhielt in Holstein Verkehrsrechte. Die Herzogtümer sollten in den Zollverein eintreten. Über ihren künftigen Landesherrn sagte die Konvention nichts. Lauenburg sollte König Wilhelm I. zufallen, Österreich dafür finanziell entschädigt werden.
V. DER DEUTSCHE KRIEG Die Vereinbarung minderte die Spannung nur kurze Zeit, da die Agitation für den Augustenburger in Holstein fortdauerte und Österreich dagegen nichts unternahm. In Paris und Turin ließ Bismarck die Problematik ansprechen und zudem darlegen, dass eine Änderung der staatsrechtlichen Verhältnisse in Norddeutschland nötig sei. Das ließ er auch in München mitteilen. Ministerpräsident v. d. Pfordten war bereit, Preußen einen größeren Einfluss im Norden zuzubilligen. Der Norden, der Süden und Österreich sollten dann einen Staatenbund bilden. Ein Kronrat in Wien sprach sich am 21. Februar 1866 zwar für weitere Verhandlungen aus, hielt die Vorbereitung auf einen Krieg aber für geboten. Am 2. März wurde die Aufstellung einer Nordarmee beschlossen, und die für einen baldigen Krieg nötigen Maßnahmen wurden intensiv vorangetrieben. Im Kronrat am 28. Februar sagte Bismarck, Preußen dürfe von Österreich nicht zurückweichen, der Bruch mit Österreich sei mithin wahrscheinlich. Komme es zum Krieg, sei es ein Fehler, ihm aus dem Wege zu gehen. Die Situation sei wegen des guten Verhältnisses zu Frankreich und wegen der Überlegenheit der preußischen Bewaffnung günstig. Auch jetzt suchte Bismarck den Krieg aber nicht. Er sprach sich für eine Allianz mit Italien aus und hoffte, Österreich werde den Ernst eines solchen Schrittes nicht verkennen, so dass „neue Verhandlungen etwa über die Deutsche Frage […] dann vielleicht besser Eingang finden.“20 Das Bündnis mit Italien kam am 8. April zustande. Es galt für drei Monate. Kam es in dieser Zeit wegen der Bundesreform zu einem Krieg zwischen Österreich und Preußen, sollte auch Italien zu den Waffen greifen. In München schlug Bismarck einen preußisch-bayerischen Antrag auf Wahl eines in Frankfurt tagenden Parlaments zur Mitwirkung an der Bundesreform vor. Die Parlamentsidee unterstützte v. d. Pfordten tatkräftig, zu einem gemeinsamen Antrag war er nicht bereit. So tat Preußen den Schritt allein. Der Antrag wurde einem Ausschuss überwiesen, der sich positiv dazu stellte. Dass Bismarck einen Krieg nicht wollte, zeigt auch sein Eingehen auf einen Vermittlungsvorschlag den der im preußischen Abgeordnetenhaus im Linken Zentrum sitzende Anton von Gablenz mit seinem Bruder Ludwig, dem österreichischen Statthalter in Holstein, ausgearbeitet hatte. Danach sollte ein preußischer
20 Aufzeichnung Molkes über die Kronratssitzung am 28.02.1866, ebd. 652.
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Prinz Landesherr in Schleswig-Holstein werden, den Oberbefehl über die Bundestruppen im Norden der preußische König innehaben, im Süden der Kaiser. Gablenz fuhr deshalb wiederholt nach Wien, erreichte dort aber nichts. Ende Mai sprach Mensdorff die definitive Absage aus. Die österreichische Führung wollte den Krieg und durch ihn nach dem erhofften Sieg eine entscheidende Machtverschiebung in Deutschland. Sachsen, Württemberg und Bayern sollten vergrößert und dafür Mediatisierungen vorgenommen werden, Schlesien wieder Österreich zufallen. Eine hohe Kriegsentschädigung sollte der prekären Finanzlage der Donaumonarchie abhelfen. Der Vertrag, den Mensdorff am 12. Juni mit dem französischen Gesandten Gramont schloss, sprach sich über die Gebietsveränderungen nur in allgemeinen Formulierungen aus. Genauer tat das eine mündliche Zusatzvereinbarung. Darin hieß es auch, dass Österreich keine Einwendungen dagegen erheben werde, dass die rheinischen Provinzen zu einem „unabhängigen deutschen Staat“ gemacht würden.21 Durch die Abtrennung des Rheinlandes und Schlesiens und wohl auch der Provinz Sachsen wäre die preußische Großmachtstellung sehr in Frage gestellt worden. Bei Behandlung des mittelstaatlichen Antrags am Bundestag auf Zurückführung der Rüstung auf Friedensfuß sagte der Präsidialgesandte am 1. Juni, Österreich werde das tun, wenn es keinen Angriff Preußens mehr befürchten müsse. Eine Einigung mit Preußen in der Herzogtümerfrage erklärte er für gescheitert und stellte ihre Lösung dem Bundestag anheim. Das wertete Bismarck als Lossagung von der Gasteiner Konvention und damit „das alte Verhältnis des Kondominats wieder in Wirksamkeit“ gesetzt.22 Zur Demonstration dessen wies er den Gouverneur in Schleswig an, einige Truppen nach Holstein zu verlegen. Dieser informierte Ludwig von Gablenz darüber, der seine Truppen daraufhin ins Königreich Hannover abrücken ließ. Den Plan zur Bundesreform ließ Bismarck v. d. Pfordten und wenige Tage später, am 10. Juni, auch den anderen deutschen Regierungen überreichen und gleichzeitig am Bundestag vorlegen. Danach sollte das außerösterreichische Deutschland zu einem Bundesstaat mit ausgedehnter Kompetenz und sehr moderner Struktur gemacht werden, für die Wahl des Parlaments die Regelung von 1849 gelten. „Die Beziehungen des Bundes zu den deutschen Landesteilen des österreichischen Kaiserstaates“ sollten „durch besondere Verträge“ unter Beteiligung des Parlaments geregelt werden.23 Gedacht war mithin an einen Doppelbund.
21 Herzog von Gramont an Außenminister Drouyn de Lhuys, 12.06.1866, in: Hermann Oncken (Hrsg.), Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. von 1863 bis 1870 und der Ursprung des Krieges von 1870/71. Nach den Staatsakten von Österreich, Preußen und den süddeutschen Mittelstaaten. Band 1. Stuttgart 1926, 268, der Vertrag vom 12.06.1866 ebd. 265–267. 22 Erlaß an den Bundestagsgesandten von Savigny und an die Gesandten in London, Florenz, St. Petersburg und München, 04.06.1866, WiA Band 3, 714–717, Zitat 715. 23 Grundzüge einer neuen Bundesverfassung, 10.06.1866, in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Band 2. Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900. 3. Aufl. Stuttgart 1986, 234–236, Zitat 236.
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In der Bundestagssitzung am 11. Juni nannte der Präsidialgesandte das preußische Vorgehen in Holstein einen Bruch des Wiener Friedens und der Gasteiner Konvention und eine bundesrechtlich verbotene Selbsthilfe. Er beantragte die schleunige Mobilmachung aller nicht zur preußischen Armee gehörenden Truppen des Bundesheeres. Das bewertete das preußische Außenministerium als offene Kriegserklärung, da das für eine Bundesexekution vorgesehene Beschlussverfahren nicht stattgefunden habe und ohnehin kein Grund für eine Bundesexekution vorliege. Der Bundestagsgesandte Savigny wurde angewiesen, sich gegen die Behandlung des österreichischen Antrags zu stellen, da er im Widerspruch zur Bundesverfassung stehe, und sie als erloschen zu bezeichnen, wenn er angenommen werde. Zudem beschloss der Ministerrat, Sachsen, Hannover, Kurhessen und Nassau zur Einstellung ihrer Rüstungen und zum Anschluss an den preußischen Reformvorschlag aufzufordern. Täten sie das, sei ihre Souveränität und ihr Gebietsstand gesichert, andernfalls befänden sie sich mit Preußen im Krieg. Am 14. Juni wurde der österreichische Antrag mit neun zu sechs Stimmen angenommen. Savigny erklärte den Bundesvertrag für erloschen, betonte aber, dass Preußen an der Einheit der Nation festhalte. Zwei Tage später lud Preußen neunzehn Staaten nördlich des Mains dazu ein, an die Stelle des bisherigen Bundesverhältnisses eine neue „Vereinigung zu setzen, welche den Bedürfnissen der deutschen Nation die versagte Befriedigung zu gewähren imstande“ sei.24 Zudem bat sie, ihre Truppen Preußen zur Verfügung zu stellen. Der am 16. Juni beginnende Krieg verlief ganz anders als in Wien erwartet. Schon nach zwei Wochen riet der Befehlshaber der Nordarmee in Wien dringend zum Frieden. Nach der schweren Niederlage bei Königgrätz am 3. Juli bat Wien in Paris um Vermittlung. Bis zum Abschluss des Waffenstillstands dauerte es einige Zeit, da Mensdorff das Ausscheiden Österreichs aus der deutschen Staatenverbindung nicht hinnehmen wollte. Am 21. Juli trat die Waffenruhe ein, eine Woche später wurde in Nikolsburg der Vorfriede abgeschlossen. Österreich musste der Auflösung des Deutschen Bundes und „einer neuen Gestaltung Deutschlands ohne Beteiligung des österreichischen Kaiserstaates“ zustimmen und versprechen, das engere Bundesverhältnis anzuerkennen, das der König von Preußen nördlich des Mains begründen werde. Zudem musste es darin einwilligen, dass die südlich des Mains gelegenen Staaten sich zu einem Verein zusammenschlossen, „dessen nationale Verbindung mit dem Norddeutschen Bunde der weiteren Verständigung zwischen beiden vorbehalten bleibt.“ Österreich sagte ferner zu, gegen Gebietsveränderungen in Norddeutschland keine Einwendungen zu erheben, erreichte aber, dass der Gebietsstand Sachsens unverändert blieb. Die Rechte des Kaisers an Schleswig-Holstein gingen auf König Wilhelm I. über.25 Der endgültige Friede, abgeschlossen in Prag am 23. August, bestätigte das. Die Friedensverträge mit Württemberg, Baden, Bayern und Hessen kamen bis Anfang September 24 Bündnisangebot an die norddeutschen Staaten, in: Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 23), 287. 25 Präliminarfrieden von Nikolsburg, 26.07.1866, ebd. 247–249.
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zustande, der mit Sachsen im Oktober. Sie entsprachen den Nikolsburger Bedingungen. Der Bitte Württembergs, Badens und Hessens um Aufnahme in den Norddeutschen Bund konnte Bismarck nicht zustimmen. Paris hatte sehr deutlich gemacht, dass der Zusammenschluss des ganzen außerösterreichischen Deutschland, wie im Bundesreformplan von 10. Juni vorgesehen, für Frankreich unannehmbar war. Nur der Aufnahme der nördlich des Mains gelegenen Landesteile Hessens in den Bund stimmte Bismarck zu. Hinsichtlich der Zukunft der norddeutschen Staaten, die sich im Krieg gegen Preußen gestellt hatten, war sich Bismarck zunächst nicht sicher, dann entschied er sich dazu, Hannover, Kurhessen, Nassau und die Stadt Frankfurt mit Preußen in Personalunion zu verbinden. Dazu war die Zustimmung der preußischen Kammern erforderlich. In der dem Landtag dazu gemachten Vorlage hieß es, die vier Staaten hätten durch „ihre beharrliche Ablehnung der von Preußen vorgeschlagenen Reform des Deutschen Bundes“ und durch ihre Wendung gegen Preußen im Krieg bewiesen, „daß auf ihre Mitwirkung zur Befriedigung der nationalen Bedürfnisse und berechtigten Wünsche des deutschen Volkes nicht zu rechnen ist.“ Ihr Fortbestand schlösse eine dauernde Gefahr für Preußen ein.26 Das Abgeordnetenhaus hielt eine Personalunion für unbefriedigend. So wurden die vier Staaten in Preußen eingegliedert und aus ihnen die Provinzen Hannover und Hessen-Nassau gebildet. Auch Schleswig-Holstein wurde zur Provinz gemacht.
VI. DIE GRÜNDUNG DES NORDDEUTSCHEN BUNDES Am 18. August schloss Preußen mit den norddeutschen Staaten einen für ein Jahr geltenden Vertrag über die Erarbeitung einer Bundesverfassung auf der Basis der preußischen Grundzüge vom 10. Juni. Bevollmächtigte der Vertragspartner sollten den Verfassungsentwurf feststellen, dieser dann einem gemäß dem Reichswahlgesetz von 1849 gewählten Parlament „zur Beratung und Vereinbarung“ vorgelegt werden.27 Bismarck ließ sich vier Vorlagen von Vertretern verschiedener politischer Richtungen machen, erläuterte in den drei Putbuser Diktaten, wie er sich den Verfassungsorganismus dachte, und arbeitete dann den von Savigny und dem Legationsrat Bucher gefertigten Entwurf sorgsam durch. 17 der 64 Artikel stammten schließlich von ihm. Er wollte die Verfassung so geordnet sehen, dass die süddeutschen Staaten sich dereinst dem Bund ohne besondere Schwierigkeiten anschließen konnten. Deshalb sollte sie in manchen Punkten an das bisherige System anschließen. So sollte die Zentralbehörde ein Bundestag mit dem Stimmverhältnis des bisherigen Bundestags sein, wobei Preußen die Stimmen der annektierten Staaten zufallen sollten, so dass es 17 von 43 Stimmen hatte. Bundesministerien könne man später bilden. Für Verfassungsänderungen sei im Bundestag eine 26 Regierungsentwurf des Annexionsgesetzes, in: Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 23), 254f. 27 Vertrag Preußens mit den norddeutschen Staaten, 18.08.1866, ebd. 268f., Zitat 269.
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Zweidrittelmehrheit vorzuschreiben, die ohne Preußen nicht zu erreichen sei. Auch bei Militärfragen wollte Bismarck ein preußisches Vetorecht. Der von Savigny, Bucher und Bismarck erarbeitete Verfassungstext wurde Mitte Dezember im preußischen Staatsministerium und im Kronrat erörtert und dabei geringfügig verändert. Dann ging er den Bevollmächtigten der norddeutschen Staaten zu. Sie verabschiedeten ihn nach einigen Veränderungen und Ergänzungen Anfang Februar 1867. Der Mitte Februar gewählte Konstituierende Reichstag des Norddeutschen Bundes, in dem die Liberalen die Mehrheit hatten, beriet ab Anfang März über den Verfassungsentwurf, ohne Einschaltung eines Ausschusses. Er erweiterte die Bundeskompetenz, band Verträge mit fremden Staaten an die parlamentarische Zustimmung, wenn sie Materien betrafen, die der Gesetzgebung des Bundes unterlagen, und begrenzte die Haushaltsperiode auf ein Jahr. Die Militärausgaben des Bundes bezog er in den Etat ein. Anträge auf die Einfügung eines Grundrechtskatalogs und auf die Gewährung von Diäten für die Abgeordneten fanden ebensowenig eine Mehrheit wie der Antrag auf Schaffung eines parlamentarisch verantwortlichen Ministeriums. Er legte nur fest, dass die Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidiums – so der Titel des Staatsoberhauptes – im Namen des Bundes ergingen und zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers bedurften, der damit die Verantwortung übernahm. Am 16. April nahm der Reichstag die nun 79 Artikel zählende Verfassung mit 230 gegen 53 Stimmen an, einen Tag später stimmten die verbündeten Regierungen dem Beschluss des Reichstags zu. Die Landtage fast aller Gliedstaaten ratifizierten die Verfassung, wiewohl das im Augustbündnis nicht vorgesehen war. Sie wurde durch einzelstaatliche Patente zum 1. Juli 1867 in Kraft gesetzt. Mit diesem Tag trat der Norddeutsche Bund ins Leben. Von seinen fast 30 Millionen Einwohnern gehörten vier Fünftel Preußen an. Zum Bundeskanzler ernannte das Präsidium, der König von Preußen, am 14. Juli Bismarck. Nach der Präambel der Verfassung bildeten die Monarchen der Gliedstaaten und Senate der Freien Städte einen ewigen Bund zum Schutz des Bundesgebiets und des in ihm geltenden Rechts sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes. Die Bundeskompetenz umfasste weite Bereiche des Rechtswesens, des Wirtschaftslebens und des Verkehrs sowie Landesverteidigung und Militärwesen. Die Gliedstaaten wirkten über den Bundesrat an der Gesetzgebung mit. Für das Zustandekommen eines Gesetzes war die Übereinstimmung von Bundesrat und Reichstag erforderlich. Der Reichstag ging aus allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor. Er tagte öffentlich, die Abgeordneten genossen Immunität und hatten ein freies Mandat. Die Legislaturperiode dauerte drei Jahre, eine vorzeitige Auflösung war auf Beschluss des Bundesrats mit Zustimmung des Präsidiums möglich. Das Präsidium hatte der König von Preußen inne, er war zugleich Bundesfeldherr. Es galt die preußische Militärgesetzgebung. Seine Ausgaben hatte der Bund durch Verbrauchssteuern, Zölle und Überschüsse von Post und Telegraphie zu decken, gegebenenfalls durch Umlagen der Gliedstaaten, in außerordentlichen Fällen durch Anleihen. Auf dem Wege der Gesetzgebung konnte die Verfassung geändert werden, dabei war im Bundesrat eine
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Zweidrittelmehrheit erforderlich. Der abschließende Artikel 79 sagte, dass die Beziehungen zu den süddeutschen Staaten sofort nach Feststellung der Verfassung durch dem Reichstag zur Genehmigung vorzulegende Verträge zu regeln waren. Für ihre Aufnahme in den Bund war ein Gesetz erforderlich, das das Präsidium vorzuschlagen hatte. Im europäischen Vergleich ist der Verfassung des Norddeutschen Bundes ein hohes Maß an Modernität zuzuschreiben, namentlich durch das Wahlrecht. Nirgends hatte die Legislative eine so breite Basis in der Bevölkerung wie im Norddeutschen Bund. Die Entwicklung des Jahres 1866 in Deutschland wurde in Paris mit großem Misstrauen beobachtet. Bismarck konnte zeitweilig einen Krieg nicht ausschließen. In dem Falle hätte er die Reichsverfassung von 1849 als gültig proklamiert, um ganz Deutschland zu mobilisieren. Als Ersatz für die in Paris als unannehmbar bezeichnete Zusammenfassung ganz Deutschlands wurden gleichzeitig mit den Friedensverträgen mit den süddeutschen Staaten Schutz- und Trutzbündnisse abgeschlossen, aber geheim gehalten. Die Vertragspartner garantierten sich ihre territoriale Integrität und sagten sich für den Kriegsfall Beistand zu. So war ganz Deutschland zur Verteidigung verbunden. Ein weiteres Band war der Zollverein. Er wurde 1867 neu geordnet, darauf hatte Bismarck maßgeblichen Einfluss. Der neue Zollvereinsvertrag wurde Anfang Juli unterzeichnet und trat nach der Ratifikation durch die Parlamente der fünf beteiligten Staaten – Norddeutscher Bund, Bayern, Württemberg, Baden und Hessen – am 1. Januar 1868 in Kraft. Es wurde ein Zollparlament gebildet, in dem die Mitglieder des Reichstags und 85 Abgeordnete aus Süddeutschland saßen. Der Bundesrat wurde entsprechend erweitert. Fortan hatten Zollparlament und Zollbundesrat über Zoll- und Handelsfragen zu entscheiden. Für die in Süddeutschland nötigen Wahlen galt das Reichstagswahlrecht, sie fanden Ende Februar und Anfang März statt. Kleindeutsche Bewerber gewannen nur 26 der 85 Mandate, in Hessen alle sechs, in Baden acht von vierzehn. In Bayern und mehr noch in Württemberg blieben sie eindeutig in der Minderheit. Für Bismarck war das ein klares Zeichen dafür, dass die Bayern und die Württemberger noch nicht für die volle deutsche Einheit gewonnen waren.
VII. BISMARCK UND DIE DEUTSCHE FRAGE VON 1867 BIS 1870 Das Streben Frankreichs nach einer Kompensation für den Machtzuwachs Preußens durch die Einigung Norddeutschlands führte 1867 zu einer schweren Krise. Frankreich wollte Luxemburg erwerben, und der französische Kriegsminister erhoffte sich von dieser Frage sogar einen Krieg. Im Mai wurde die Krise durch eine Botschafterkonferenz der Großmächte, Italiens, Belgiens und der Niederlande in London beigelegt. Luxemburg wurde bei Fortbestand der Personalunion mit den Niederlanden zu einem neutralen Staat erklärt. Wenig später waren König Wilhelm I. und Bismarck anlässlich der Weltausstellung in Paris. In den dort geführten politischen Gesprächen erklärten sie,
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Ein einiges deutsches Vaterland „daß wir zu der von so vielen Seiten verlangten […] weiteren nationalen Entwicklung in keiner Weise drängen, daß wir aber der nationalen Bewegung uns nicht entgegenstellen würden und den süddeutschen Regierungen, insoweit sie das Bedürfnis der Anlehnung empfinden, dieselbe zu gewähren uns verpflichtet halten.“28
Sie mahnten zugleich, Frankreich möge sich nicht in die deutschen Angelegenheiten einmischen, da das nur zu neuen Spannungen der beiden Nachbarvölker führen werde. Bismarck ließ das den Regierungen in Europa vertraulich mitteilen. Ähnlich äußerte sich Bismarck auch bei späteren Anlässen. Dabei verwies er auch auf die Eventualität eines Krieges. Werde versucht, die deutsche Einheit auf einen Schlag zu erreichen, könne es dazu kommen. Er betonte, dass er eine solche Eventualität nicht herbeiführen werde. Immer wieder mahnte er zur Geduld. Im Februar 1870 erklärte er im Reichstag, er wolle lieber noch ein Menschenalter warten als Zwang auf die Süddeutschen zu üben. Es sei ja schon viel erreicht. Mit den bestehenden Verträgen habe das Präsidium im Süden „ein Stück kaiserlicher Gewalt“, wie sie die deutschen Kaiser seit Jahrhunderten nicht mehr besessen hätten.29 In einem Erlass an den Gesandten in Karlsruhe sagte er gleichzeitig, es komme darauf an, die öffentliche Meinung namentlich in Frankreich „allmählich damit vertraut zu machen, daß die Einigung Deutschlands unser natürliches, rechtmäßiges und durch die Verträge nicht untersagtes Ziel ist.“30 In einer Presseanweisung empfahl er mit Rücksicht auf Frankreich Zurückhaltung in der deutschen Frage, denn die Kriegspartei in Frankreich wartete nur auf ein Ereignis in Deutschland, das es ihr ermöglichte, Napoleon III. zum Kriege zu bringen. Er meinte, dass der Norddeutsche Bund einen Krieg mit Frankreich erfolgreich führen könne, war aber überzeugt, dass danach weitere Kriege folgen würden. Er nannte es „Torheit, wo nicht Verbrechen“, vom friedlichen Wege abzugehen.31 Anfang 1870 erwog er, den nicht gerade ansprechenden Titel Präsidium durch Kaiser zu ersetzen, sah davon aber ab, als er aus London erfuhr, dass das in Paris als schwere Belastung des deutsch-französischen Verhältnisses angesehen würde.
VIII. DIE SPANISCHE THRONFOLGE-FRAGE UND DER KRIEG Angesichts dieser Zeugnisse ist die Ansicht abwegig, Bismarck habe die seit 1868 offene spanische Thronfrage 1870 dazu benutzt, einen Krieg mit Frankreich zu provozieren, um die Reichsgründung abschließen zu können. Als möglicher Nachfolger der nach einer Revolte im September 1868 ins Ausland geflohenen Königin Isabella wurde in Spanien sehr bald der Erbprinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen betrachtet, ein Mann, der mit den preußischen Hohenzollern nur sehr entfernt verwandt war, mit Napoleon III. aber recht nahe. Bismarck wurde
28 29 30 31
Zirkularerlaß Bismarcks 20.06.1867, in: WiA Band 4, 178. Rede im Reichstag des Norddeutschen Bundes, 24.02.1870, ebd. 400–413, Zitat 407. Erlaß an den Gesandten in Karlsruhe, 28.02.1870, ebd. 413–417, Zitat 415. Moritz Busch, Tagebuchblätter. Neue Ausgabe. Band 1. Leipzig 1902, 7 (28.02.1870).
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Anfang 1870 mit der Frage amtlich befasst. Er hielt es für gut, jenseits Frankreichs ein Land zu haben, auf dessen Sympathie Deutschland rechnen konnte, war also für die Kandidatur Leopolds. Die Neigung zum Kriege in Frankreich hielt er jetzt für geringer als zuvor und meinte, aus Leopolds Kandidatur werde sich nur „eine vorübergehende Beunruhigung“ in Frankreich ergeben, ein fataler Irrtum, wie sich einige Monate später zeigte.32 Der Erbprinz wollte das spanische Angebot nur auf Weisung König Wilhelms I. annehmen. Dazu war der König nicht bereit. Erst am 19. Juni gab Leopold dem spanischen Drängen unter zwei Bedingungen nach: Wilhelm I. sollte die Kandidatur billigen, was bald geschah, und der spanische Ministerpräsident Prim sollte zusichern, dass Napoleon III. keine Einwendungen dagegen hatte. Darüber wollte Prim im Juli mit Napoleon III. sprechen. Ehe das geschah, wurde Leopolds Bereitschaft zur Kandidatur durch Indiskretion in Madrid und unverzüglich danach auch in Paris bekannt. Das löste in Frankreich große Erregung aus. Außenminister Gramont sagte am 6. Juli in der Kammer, Frankreich werde eine Störung des europäischen Gleichgewichts zu seinem Nachteil nicht dulden und gegebenenfalls ohne Zögern seine Pflicht tun. Dem österreichischen Botschafter sagte er unumwunden, es müsse marschiert werden. Die Vorbereitung auf den Krieg begann unverzüglich. Bismarck hoffte gleichwohl auf die Erhaltung des Friedens. Am 12. Juli nannte er für das Festhalten an der Kandidatur Bedingungen, die Leopold nicht erfüllen konnte, und riet damit zum Verzicht. Gegenüber dem Kriegsminister und dem Generalstabschef sagte er, weder Vernunft noch Religion erlaubten die Herbeiführung eines Krieges, nur weil die Aussichten günstig seien. Am selben Tag erfuhr der Vater Leopolds über den belgischen König von Napoleon III., dass der Krieg nur durch den Rücktritt von der Kandidatur verhindert werden könne, und gab sogleich den Verzicht seines auf einer Reise befindlichen Sohnes bekannt. Leopold bestätigte das am Tage danach. Eine Änderung der französischen Haltung brachte das nicht. Gramont verlangte nun eine Entschuldigung König Wilhelms I. bei Napoleon III. für die Einwilligung in die Kandidatur und die Zusage, ihre Erneuerung nicht zu erlauben. Der König, der zur Kur in Bad Ems weilte, lehnte diese vom französischen Botschafter vorgetragene provokante Forderung am 13. Juli ab, in sehr höflicher Form. In Paris billigte am selben Tag der Ministerrat Gramonts harten Kurs. Am Abend des 14. Juli beschloss eine Ministerrunde unter Vorsitz des Kaisers den Krieg. Die von Bismarck etwas verkürzt veröffentlichte Depesche aus Bad Ems, in der ihm über das französische Ansinnen berichtet worden war, hatte auf die Entscheidung keinen Einfluss, sie wurde erst am nächsten Tag in Paris bekannt. Die französische Kriegserklärung wurde am 19. Juli in Berlin übergeben. Das Kriegsziel Frankreichs war die Wiederherstellung der Verhältnisse in Deutschland vor 1866, und es wurde wohl eine noch weitergehende Umgestaltung Mitteleuro-
32 Richard Fester (Hrsg.), Briefe, Aktenstücke und Regesten zur Geschichte der Hohenzollernkandidatur in Spanien. Heft 1. Bis zum 6. Juli 1870. Leipzig 1913, 89f., Anm. 2.
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pas bedacht, im Sinne des österreichisch-französischen Vertrags vom 12. Juni 1866. In Paris erwartete man die Neutralität Süddeutschlands, erstaunlicherweise, denn in der Luxemburg-Krise hatte Bismarck die Schutz- und Trutzbündnisse bekannt gemacht. Der Krieg verlief ganz und gar nicht so, wie man sich das in Frankreich vorgestellt hatte. Er wurde nur auf französischem Boden ausgefochten. Am 2. September geriet Napoleon III. in Gefangenschaft, zwei Tage später wurde in Paris die Republik ausgerufen. Die nunmehrige Regierung der nationalen Verteidigung ließ weiterkämpfen, bis keine Aussicht mehr bestand, das Blatt noch zu wenden. Am 28. Januar 1871 kam es zum Waffenstillstand, und am 26. Februar wurde in Versailles der Vorfriede unterzeichnet. Frankreich hatte das Elsass (ohne Belfort) und den größten Teil Lothringens abzutreten und eine beträchtliche Kriegsentschädigung zu zahlen.
IX. DIE REICHSGRÜNDUNG In Deutschland wurde bei Ausbruch des Krieges weithin erwartet, dass er die volle Einheit bringe. Auch wurde der Wunsch nach dem Kaisertum laut. Bismarck suchte die nationale Stimmung anfänglich noch zu dämpfen, weil er sich Bayerns und Württembergs immer noch nicht sicher war. Deutschlandpolitisch unternahm er zunächst nichts. Er wollte, dass die Anstöße für die weitere Entwicklung vom Süden ausgingen, und ließ das in Karlsruhe wissen. Auf bayerischen Wunsch begannen Ende September Verhandlungen über die künftige Stellung Bayerns. Sie wurden zunächst in München geführt, durch den Leiter des Bundeskanzleramts Staatssekretär Delbrück. Bayern wollte den Anschluss an den Norden in Form eines weiteren Bundes. Das lehnte Bismarck ab. Er schrieb an Ministerpräsident Bray, die Wünsche der deutschen Nation seien auf einen engeren Bund gerichtet, aber auch dabei könne Bayern eine Stellung erhalten, auf die es wegen seiner Bedeutung Anspruch habe. Die Verhandlungen über die Verbindung der süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund wurden Ende Oktober und Anfang November im Hauptquartier in Versailles geführt, wo Bismarck sich aufhielt. Sie kamen gut voran. Mit Baden, Hessen und Württemberg wurde bis zum 6. November eine Übereinkunft über die Gründung eines Deutschen Bundes und dessen Verfassung erzielt. Das Protokoll darüber unterschrieben die Bevollmächtigten des Norddeutschen Bundes, Badens und Hessens am 15. November, ihm wurde die Verfassung des künftigen Bundes als Anhang beigegeben, es war weitgehend die des Norddeutschen Bundes, nur war der föderative Charakter etwas stärker betont. Zudem enthielt das Protokoll einige Übergangsregelungen. Nach der Zustimmung der Parlamente der Vertragspartner sollte es am 1. Januar 1871 in Kraft treten. Der Beitrittsvertrag mit Bayern wurde am 23. November abgeschlossen, er gewährte Bayern einige Sonderrechte. Das bayerische Militär bekam eine Sonderstellung und unterstand in Friedenszeiten dem bayerischen König. Bayern behielt das Gesandtschaftsrecht, und bei Friedensschlüssen sollte ein Bevollmächtigter des bayerischen Königs beigezogen werden, aber seine Instruktion vom Bundes-
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kanzleramt erhalten. Württemberg unterzeichnete am 25. November; es hatte bei den Sonderrechten mit Bayern gleichgestellt werden wollen, erreichte das aber nicht ganz. Durch die Verträge wurde das Recht zur Bundesexekution abgeschwächt und festgelegt, dass das Präsidium Krieg nur mit Zustimmung des Bundesrates erklären konnte. Über den Bundesrats-Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten konnten die Gliedstaaten auf die Außenpolitik einwirken, der Vorsitz stand einem bayerischen Bevollmächtigten zu. Die Reservatrechte Bayerns und Württembergs beim Militär, im Verkehrswesen und bei einigen Steuern konnten nur mit ihrer Zustimmung aufgehoben werden. Nach der Unterzeichnung des bayerischen Vertrags sagte Bismarck seinen Mitarbeitern bewegt „Die deutsche Einheit ist gemacht, und der Kaiser auch.“ Der Vertrag habe seine Mängel, ihm sei es aber darum gegangen, dass die Bayern zufrieden seien. „Was fehlt, mag die Zukunft beschaffen.“33 Der Reichstag beriet ab Ende November über die Verträge. Dabei wurde manche Kritik laut. Die Linksliberalen beklagten den Mangel an freisinnigen Regelungen, den Nationalliberalen gingen die dem Süden gemachten Konzessionen zu weit, und das Zentrum fürchtete, dass über die Möglichkeit der Verfassungsänderung die Bedeutung der Gliedstaaten stetig gemindert werde. Man war sich aber einig, dass die Verträge nicht neu verhandelt werden konnten. Die Verträge mit Hessen, Baden und Württemberg wurden am 5. Dezember fast einstimmig angenommen, der mit Bayern mit großer Mehrheit. Am selben Tag beschloss der Bundesrat im Einverständnis mit den süddeutschen Regierungen die Einführung des Staatsnamens Deutsches Reich und des Kaisertitels. Dem stimmte der Reichstag zu. Die Landtage Badens, Hessens und Württembergs ratifizierten das Vertragswerk noch im Dezember, jeweils mit großer Mehrheit, in Bayern beschloss nur der Reichsrat vor der Jahreswende so. Am 1. Januar 1871 trat das Vertragswerk in Kraft. Damit war das Deutsche Reich geschaffen, große Feierlichkeiten gab es deshalb nicht, da der Krieg noch andauerte. Bayern gehörte ihm noch nicht an, da die Kammer der Abgeordneten noch nicht über das Vertragswerk entschieden hatte. Das geschah nach zehntägiger heftiger Redeschlacht am 21. Januar, wobei die nötige Zweidrittelmehrheit nur ganz knapp erreicht wurde; diejenigen, die nicht zustimmten, fürchteten die Mediatisierung Bayerns. Nach der Zustimmung der Kammer setzte Ludwig II. das Vertragswerk mit Wirkung vom 1. Januar 1871 in Kraft. Am 18. Januar sprach König Wilhelm I. bei einem Staatsakt im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles die Annahme der Kaiserwürde aus; kurz davor hatte er das noch verweigert, weil er den Titel Kaiser von Deutschland wünschte, was Bismarck mit Rücksicht auf die süddeutschen Staaten aber ablehnte. Bald nach diesem feierlichen Akt ernannte er Bismarck zum Reichskanzler, und der Bundesrat wurde in seiner neuen Zusammensetzung einberufen. Die Wahlen zum Reichstag fanden Anfang März statt, dabei gewannen die Nationalliberalen 125 der 382 Sitze, zudem in Bayern, wo sie als Liberale Reichspartei antraten, 30 Mandate.
33 Gespräch mit Mitarbeitern, 23.11.1870, in: WiA Band 4, 576.
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Am 21. März trat der Reichstag zusammen. In der von Bismarck verfassten Thronrede sagte der Kaiser, dass das neue Reich von jeder Versuchung zum Missbrauch seiner durch die Einigung errungenen Kraft frei sei, es werde ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein. Die wichtigste Aufgabe der Abgeordneten war es, aus der Verfassung des Deutschen Bundes, die den Verträgen mit Baden und Hessen beigegeben worden war, und den vielerlei Aussagen in den Novemberverträgen einen einheitlichen Text zu machen. Den Entwurf dazu legte Bismarck vor. Während der Beratungen beantragte das Zentrum die Einfügung einiger Grundrechte zur Kultus- und Vereinsfreiheit, drang damit aber nicht durch. Am 14. April beendete der Reichstag seine redaktionelle Arbeit und verabschiedete die Verfassung mit außerordentlich großer Mehrheit. Es gab nur sieben Gegenstimmen. Der Kaiser fertigte sie am 16. April aus, sie trat am 4. Mai 1871 in Kraft. Bei Kriegsbeginn war sich die große Mehrheit der Deutschen darin einig, dass der Krieg die Vollendung der kleindeutschen Einheit bringen müsse. Der sehr bekannte Schriftsteller Wilhelm Jordan, politisch links stehend, forderte im Juli 1870 in einem „Reichslied“ überschriebenen Gedicht die Deutschen dazu auf, „zum Siegeszug“ sich „heilig zu verbinden Und, ob sich auch die halbe Welt Entgegenstellt, Das deutsche Reich zu gründen.“34 Die vielen Feiern überall in Deutschland anlässlich deutscher Siege, des Waffenstillstands und der Vorfriedens kann man auch als Reichsgründungsfeiern ansehen. Das gilt vor allem für die zentrale Siegesfeier in Berlin am 16. Juni. In seiner Ansprache dankte der Kaiser der Armee, gedachte der Opfer und verknüpfte die Gegenwart mit den Jahren 1813 bis 1815, indem er sagte, es sei auf den damals gelegten Grundlagen weitergebaut worden. Bürgermeister Hedemann rief in seiner kurzen Ansprache am Brandenburger Tor aus: „Vorüber ist die kaiserlose Zeit.“35
X. BEWERTUNG Der während eines halben Jahres ausgefochtene Krieg mit Frankreich forderte auf deutscher Seite 40 000 Menschenleben, auf französischer Seite doppelt so viele. Die Opferzahlen in den beiden vorhergehenden Kriegen waren deutlich niedriger. Bismarck hat keinen dieser Kriege gewollt. Die für den Zusammenprall mit Dänemark Verantwortlichen saßen in Kopenhagen. 1866 war er bis zuletzt um Verständigung bemüht, sie war wegen des Kriegswillens der in Wien maßgeblichen Persönlichkeiten nicht möglich. Und 1870 nutzte die französische Führung die Thronkandidatur des Erbprinzen Leopold in Spanien zu dem Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Bismarck wollte mit seiner Bejahung der Kandidatur keineswegs einen Krieg provozieren, um die deutsche Einigung abschließen zu 34 Wilhelm Jordan, Reichslied, in: Erich Hensing u. a. (Hrsg.), Die Kriegspoesie der Jahre 1870–1871. Geordnet zu einer poetischen Geschichte. Band 1. Mannheim 1873, 8–10. 35 Berliner Sieges-, Einzugs- und Friedenschronik des Jahres 1871. Berlin 1871, 83.
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können. Er war darauf eingestellt, dass es bis dahin noch eine geraume Zeit dauern werde – gelegentlich sprach er von einem Menschenalter. So wäre zu bedenken, ob man die zusammenfassende Bezeichnung Einigungskriege für die drei Kriege von 1864 bis 1870/71 nicht aufgeben sollte. Unzutreffend ist auch die nicht selten zu lesende Ansicht, es habe sich um eine Reichsgründung von oben gehandelt. Der Wunsch nach einer engeren Zusammenfassung der deutschen Staaten war weitverbreitet und wurde seit Jahrzehnten immer wieder ausgesprochen – die Unzufriedenheit mit der lockeren Struktur des Deutschen Bundes war groß und kam in den Medien und auch in den Landtagen vielfach zum Ausdruck. Der erste Realisierungsversuch 1848/49 scheiterte an der mangelnden Bereitschaft der Nationalversammlung in Frankfurt, sich mit den deutschen Staaten ins Benehmen zu setzen. In der Folgezeit wurde das Verlangen nach mehr Einheit immer drängender. Es fand in dem im September 1859 gegründeten Deutschen Nationalverein, der bald Tausende von Mitgliedern zählte, auch organisatorisch seinen Ausdruck. Als die engere Zusammenfassung wenigstens Norddeutschlands 1866 möglich wurde, war die öffentliche Diskussion darüber sehr lebhaft. Bei den Wahlen zu den einzelstaatlichen Parlamenten und zu den Reichstagen 1867 und 1871 waren Mitwirkungsmöglichkeiten gegeben, bei den Reichstagen sogar für jeden unbescholtenen Mann, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt hatte. Die Parlamentarier wirkten am Einigungsprozess tatkräftig und konstruktiv mit. Der eingangs zitierte Historiker Walter Bußmann rechnete die Mitarbeit an der Reichsgründung zu den glücklichsten Jahren des deutschen Liberalismus, und den Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes nannte er „einen Höhepunkte in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus.“36 Die von Bismarck und seinen vertrauten Mitarbeitern Ende 1866 geschriebene Verfassungsvorlage sah den Norddeutschen Bund als konstitutionelle Monarchie mit starker Stellung des Parlaments und entsprach damit ganz dem liberalen Verfassungsdenken. Der Konstituierende Reichstag baute das 1867 noch etwas aus. So entstand eine politische Ordnung, die der Ansicht der Mehrheit der Deutschen entsprach. Das allgemeine Wahlrecht gab dem Norddeutschen Bund nach dem Grade der Modernität seiner Verfassung einen Spitzenplatz in Europa. Zwar hatten Großbritannien und Belgien um 1870 bereits ein faktisch parlamentarisches Regierungssystem, aber in diesen beiden Staaten war das Wahlrecht bei weitem nicht so ausgedehnt wie in Deutschland, erhebliche Teile der Bevölkerung hatten mithin nicht die Möglichkeit der Einflussnahme über die Stimmabgabe. In der parlamentarischen Arbeit der Jahre 1867 bis 1870, die für die Reichsvereinheitlichung in Deutschland reichen Ertrag brachte, zeigte sich, dass der Reichstag sehr großes Gewicht hatte, ein deutlich größeres als der Bundesrat, der bei Differenzen in Fragen der Gesetzgebung mehr Konzessionen als der Reichstag machte. Der Reichstag hatte, wie Klaus Erich Pollmann vor einem Vierteljahrhundert in seiner
36 Bußmann, Bismarck (wie Anm. 4), 128f.
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gründlichen Studie über den Reichstag des Norddeutschen Bundes nachgewiesen hat, „einen Platz im Zentrum des politischen Systems.“37 Mit guten Gründen kann man sagen, dass die Verfassungsordnung des Norddeutschen Bundes und ab 1871 des Deutschen Reiches halb konstitutionell, halb parlamentarisch war. Militär und Außenpolitik waren der Bereich der Regierung, das weite Feld der Gesetzgebung die Domäne des Parlaments. Das Finanzwesen war ein Zwischenbereich, da hierhin auch die Finanzierung des Heeres gehörte. Da der Reichstag so stark war, hatten die Parlamentarier kein Interesse daran, das parlamentarische Regierungssystem zu normieren. Das blieb so bis in den Ersten Weltkrieg hinein. Bismarck sagte am Ende seines Lebens sogar, dass in Deutschland eine latente Parlamentsherrschaft bestehe. Die Ansicht, beim deutschen Kaiserreich habe es sich um „einen autokratischen, halbabsolutistischen Scheinkonstitutionalismus“ gehandelt, geht völlig in die Irre.38 Falscher kann man seine politische Ordnung nicht beschreiben. Bismarck war von seinen jungen Jahren an für die konstitutionelle Monarchie. Seine Kritik am Verfassungswerk der Paulskirche und an der daran anknüpfenden Verfassung des 1849/50 von Preußen gewollten engeren Bundes galt vor allem der geringen Gewichtung der Gliedstaaten. 1866/67 hatte er entscheidenden Anteil daran, die von ihm schon Jahrzehnte zuvor gewollte konstitutionelle Monarchie durchzusetzen und zwar in einer sehr fortschrittlichen Version. Er trug nachhaltig dazu bei, dass Deutschland auf dem Weg zur Demokratie weit vorankam.
37 Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870, Düsseldorf 1985, 514. 38 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. Göttingen 1973, 63.
ERINNERN ALS EREIGNIS: 100 JAHRE ERSTER WELTKRIEG* Michael Braun
I. EINFÜHRUNG „Hubert Rochereau ist ein Opfer des Ersten Weltkriegs – eines von Millionen. Der Offizier starb am 26. April 1918 im Alter von 21 Jahren in einem britischen Feldlazarett, einen Tag nachdem er im Kampf um das belgische Dorf Loker angeschossen worden war. Das ist jetzt mehr als 96 Jahre her – doch Rochereaus Zimmer hat sich seitdem nicht verändert. Seine Eltern beließen es so, wie der Soldat es verlassen hatte, als er an die Front zog. Auf dem Schreibtisch liegt eine angebrochene Packung Zigaretten, über einem Kleiderständer hängt eine von Motten durchlöcherte Uniform. Als die Eltern das Haus Mitte der Dreißigerjahre verkauften, legten sie fest, dass in diesem einen Raum in den kommenden 500 Jahren alles genau so bleiben sollte, wie es war – zum Gedenken an ihren verstorbenen Sohn. Die Käufer hielten sich daran.“1
Das Schicksal Hubert Rochereaus und seiner Eltern macht seit 2014 Schlagzeilen. Mehr als 100 000 Ergebnisse meldet eine bekannte Online-Suchmaschine, darunter Berichte auf spiegel.de, sz-online.de oder theguardian.com. Auch wenn nicht jeder „Click“ im Internet ein Beleg für ein ernsthaftes Interesse ist, bleibt diese mediale Aufmerksamkeit bemerkenswert. Sie scheint sich sogar noch zu vertiefen, gilt das Interesse mittlerweile doch auch Details des Zimmers – zum Beispiel einem Glasfläschchen. Die Eltern Hubert Rochereaus stellten es Jahre später auf seinen Schreibtisch; es trägt die Aufschrift „Boden aus Flandern, auf dem unser Sohn fiel“. Ein vergleichbares Interesse hatte es zu keinem anderen Weltkriegsgedenken gegeben. Man mag diesen Befund als außergewöhnliche Amplitude einer Erinnerungskonjunktur kritisch betrachten – hat doch auch das Vergessen und Verdrängen in einer multimedial geprägten Welt andere Dimensionen und Geschwindigkeiten erreicht. Gleichwohl: vergessen ist Hubert Rochereau heute weniger denn je. Hier gilt es festzuhalten, dass das Erinnern an den Ersten Weltkrieg nach 100 Jahren eine neue Intensität und Qualität erreicht hat. Natürlich verbietet sich eine
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Ich danke Dr. Martin Krauß (Heidelberg) für seinen Rat und seine Unterstützung bei der Bildrecherche. Außerdem danke ich Franziska Pertsch, Sales Manager Corporates (Axel Springer Syndication GmbH), sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Getty Images München für ihre kompetente Unterstützung bei der Recherche und Abwicklung. Widmen will ich diesen Aufsatz meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h. c. Rudolf Morsey; ich habe ihm viel zu verdanken. http://www.spiegel.de/panorama/erster-weltkrieg-das-zimmer-des-soldaten-hubert-rochereaua-1010846.html (Zugriff: 15.09.2017).
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Erinnern als Ereignis: 100 Jahre Erster Weltkrieg
europäische oder gar globale Pauschalisierung. Jede Nation, ja jede Familie und jeder Einzelne erinnert sich an ihren, an seinen (Ersten) Weltkrieg. Dessen Platz als „Grande Guerre“ oder „Great War“ im kollektiven Gedächtnis unserer europäischen Nachbarn im Westen unterscheidet ihn von der deutschen Erinnerung. Bevor Sie weiterlesen sei Ihnen ein kurzer Selbstversuch empfohlen: Wo waren Sie am 9. November 1989 – abends – oder am 11. September 2001 – nachmittags? Wie haben Sie die Nachricht „Wir sind Weltmeister!“ oder „Wir sind Papst!“ aufgenommen? Vielleicht vergleichen Sie Ihre Erinnerung einmal mit der eines Familienmitglieds – anschließend mit der Erinnerung von Menschen außerhalb ihres engeren Umfelds. Sie werden sehen, wie stark diese Erinnerungen einheitlich geprägt wurden. Das geschieht zum einen durch Ritualisierung: Silber, Golden, Diamanten… die aufsteigende Höherwertigkeit ist ein guter Hinweis darauf, dass die Erinnerung nicht generell im Laufe der Zeit schwinden oder verblassen muss. Auch der Schwerpunkt auf „wirklich“ runden Jubiläen ist nicht zwingend. Manch ein 50. Jahrestag vergeht ohne großes Aufsehen und plötzlich ist nach weiteren zehn Jahren der Wunsch, dieses Ereignis zu vergegenwärtigen, allgegenwärtig. Die deutsche Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist dafür ein gutes Beispiel. Sie war und ist von der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg – an Bombenkrieg und Holocaust, an Flucht und Vertreibung – überlagert. Historiker kritisierten im Vorfeld des Gedenkjahrs 2014, dass die deutsche Politik diesem Gedenken hilflos gegenüberstehe und hoffe, sich ins Gedenken an den 70. Jahrestag des Weltkriegsendes 1945 „hinüberretten zu können“.2 Es machte den Anschein, als würde da etwas innerhalb der Bundesregierung zwischen Kanzleramt und Außenministerium hin- und hergeschoben – dies auch in der Hoffnung, dass dieses Gedenken am Ende beim Bundespräsidialamt landen würde. Der Spiegel titelte: „Weltkriege und Mauerfall: Gauck muss das Super-Gedenkjahr retten“.3
II. WIE FUNKTIONIERT DAS ERINNERN? Vielleicht haben Sie ja gerade jemanden nach seiner Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis befragt. Vielleicht mussten Sie dabei erkennen, dass entgegen der These oben diese Erinnerung doch sehr deutlich von der ihren abwich. (Ein Befund sehr zum Leidwesen polizeilicher Ermittlungen). Gibt es also eine falsche oder echte Erinnerung? Erinnern ist ein rekonstruktiver Prozess – die Erinnerung ist rekonstruiert. Es stellt sich die Frage, ob wir beim Ereignis „X“ als Stichwort tatsächlich auch die Bilder „X“ dazu abrufen. Möglicherweise ist gleich nach dem Ereignis oder durch mehrmalige Wiederholungen ein falsches Erinnerungsfragment dazugekommen. Es kann sogar sein, dass wir durch wiederholtes Nacherle-
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Vgl. beispielsweise die Kritik von Gerd Krumeich und Michael Epkenhans in http://www. spiegel.de/politik/deutschland/gauck-bundespraesident-rettet-super-gedenkjahr-a-932405. html (Zugriff: 15.09.2017). Ebd.
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ben zu der falschen Überzeugung gelangen, wir wären bei einem bestimmten Ereignis dabei gewesen – treffend beschrieben mit „implantierter Erinnerung“.4 Das Gegenteil ist wünschenswert: Die Erinnerung soll ein Ereignis objektivieren. Die zeitliche Distanz soll ermöglichen, auch die Folgen eines Ereignisses in den Blick zu nehmen, es durch den Vergleich mit anderen Ereignissen zu relativieren; letztlich kann „richtig“ erinnert eine objektivere Betrachtung möglich sein. Aber: wie wird „Erinnern“ zu „Gedächtnis“? Wer sich an vieles, an vieles weit zurückliegende, wichtiges und unwichtiges erinnert, hat ein gutes Gedächtnis. Der altgriechische Ursprung mnémē bedeutet übrigens beides: Erinnerung und Gedächtnis. Neuropsychologisch versteht man darunter die Fähigkeit des Nervensystems von Lebewesen, aufgenommene Informationen zu behalten, zu ordnen und wieder abzurufen – wobei die Art der Erinnerung entscheidend für den Ort ist, an dem diese abgespeichert wird. Mediziner, Psychologen und Neurobiologen haben in den vergangenen 15 Jahren auf diesem Feld geradezu revolutionäre Antworten gefunden. Aber helfen uns diese – heute – 100 Jahre nach dem Ereignis? Zum Stichwort „Erinnerungsverfälschung“. Kann es sein, dass das Ungeziefer im Schützengraben wirklich das größte Problem des Soldaten X war und nicht die todbringenden Geschosse des Feindes? In welchem Umfang war der bloße Geschützlärm Ursache von Kriegsneurosen und weniger ein traumatisches Ereignis selbst?5 Dass die Erinnerungen der Teilnehmer des Ersten Weltkriegs keinen auch nur einigermaßen einheitlichen Eindruck widerspiegeln, erklärt sich zum einen schon rein quantitativ, zum anderen dadurch, dass das Kriegserlebnis je nach Frontabschnitt, Einheit beziehungsweise Verwendung des Soldaten unterschiedlich war. Als Gemeinsamkeit lässt sich festhalten: Der Militärdienst im Krieg war in den allermeisten Fällen das Gegenteil des (friedlichen) Alltags. Noch weit hinter der Front wurde hunderttausendfach gelitten und gestorben – wurden Ärzte, Schwestern und Sanitäter über ihre Belastungsgrenzen beansprucht. Mitfühlende Wesen wie Prinz Max von Baden waren dieser Tragödie nur kurzzeitig gewachsen und fielen damit durch das Raster einer bereits vor dem Krieg militärisch geprägten Zeit.6 Der starke Gefühlseindruck sorgte in fast allen Fällen für eine langanhaltende und intensive Erinnerung. Dass das traumatische Erlebnis selbst – das Töten und Getötet-Werden in unmittelbarer Nähe beziehungsweise die eigene Verwundung – sehr unterschiedlich verarbeitet wurde, hat seine Ursache in der unterschiedlichen psychischen Konstitution beziehungsweise Widerstandsfähig4 5 6
Vgl. hierzu Julia Shaw, Das trügerische Gedächtnis: wie das Gehirn Erinnerungen fälscht. München 2016. Vgl. zum Beispiel Susanne Michel, Erster Weltkrieg 1914–1918. Gefühlswelten – Konzepte von Angst in der Kriegspsychiatrie, in: Deutsches Ärzteblatt 111, 2014, 33–34. In jüngster Zeit hat eine vielbeachtete Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg diesen Aspekt und seine Folgen – zum Beispiel das Engagement des Prinzen Max für die Kriegsgefangenenfürsorge – neu beleuchtet: „Der Wunschlose – Prinz Max von Baden und seine Welt“; vgl. hierzu auch den gleichnamigen, von Konrad Krimm herausgegebenen Begleitband: Konrad Krimm (Hrsg.), Der Wunschlose. Prinz Max von Baden und seine Welt. Karlsruhe 2016.
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keit (Resilienz) der Betroffenen. Gleichwohl werden aus der millionenfachen unterschiedlichen individuellen Erinnerung generalisierbare Bestandteile eines kollektiven Gedächtnisses. Diese gilt es aufzufinden, wenn man verstehen will, wie sich die Erinnerung seither verändert hat. Allerdings ist der Blick auf diese generalisierbaren Bestandteile durch die große Disparität der Erinnerungen teilweise verstellt. Da beschreibt ein Soldat des Badischen Reserveinfanterieregiments Nr. 94 im Juli 1916 seine Eindrücke: „solange die Welt steht, ist so viel Blut nicht geflossen als wie hier an der Westfront; […] Meterhoch liegen die Leichen vor unseren zerschossenen Gräben“.7 Mehr als nur gelegentlich mischt sich in Schilderungen wie diese das Bemühen, dem Grauen und Leiden einen Sinn zu geben – nicht selten wird das Negative komplett ausgeblendet: „nun sind wir mitten drin in diesem ungeheuerlichsten aller Kriegstage. Die ganzen französischen Linien sind durchbrochen. Von der wahnsinnigen Wut und Gewalt des deutschen Vorsturmes kann sich kein Mensch einen Begriff machen, der das nicht mitgemacht hat.“8
So schreibt es der Maler Franz Marc am 27. Februar 1916 vor Verdun, wenige Tage nach Beginn der Schlacht – und damit wenige Tage vor seinem Tod am 4. März. Man mag mit Erich Maria Remarque und Ernst Jünger noch zwei Antipoden der Kriegsliteratur hinzuziehen und schwerlich verstehen, dass beide über das gleiche Ereignis schreiben.9
III. ERINNERUNGSORTE DES ERSTEN WELTKRIEGS Doch es gibt diese Gemeinsamkeiten – zum Beispiel den Wunsch, Orte zu schaffen, an denen an die Verluste erinnert werden kann: Kriegerdenkmäler. Viele existierten bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Sie erinnerten an die Toten der „Befreiungskriege“ gegen Napoleon oder der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71. Ausdruck der gesellschaftlichen und politischen Dimension dieses Gedenkens ist zum Beispiel das 1896 eingeweihte Kyffhäuserdenkmal bei Bad Frankenhausen in Thüringen.10 Wenige Tage nach dem Tod Kaiser Wilhelms I. regte der „Deutsche 7
„Solange die Welt steht ist so viel Blut nicht geflossen.“ Feldpostbriefe badischer Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg 1914–1918, hrsg. vom Landesverein Badische Heimat e.V. und dem Landesverband Baden-Württemberg im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., ausgewählt, mitgeteilt und kommentiert von Marcel Kellner und Knud Neuhoff. Freiburg/Berlin 2014, 210. 8 Franz Marc. Briefe aus dem Feld. Berlin 1940, 147. 9 Dass der Quelle des Einen – Tagebuchaufzeichnungen – größere Authentizität zugestanden werden kann, mag an dieser Stelle außer Betracht bleiben. 10 Vgl. hierzu Gunther Mai, Das Kyffhäuser-Denkmal 1896–1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext. Köln u. a. 1997; Diana Maria Friz, Kyffhäuserbund und Kyffhäuserdenkmal. Zum 100jährigen Jubiläum der Einweihung des Kyffhäuserdenkmals am 18. Juni 1996. Wiesbaden 1996; Dies.: Wo Barbarossa schläft – der Kyffhäuser. Der Traum vom Deutschen Reich. Weinheim/Basel 1991; Otto Kuntzemueller, Die Denkmäler Kaiser Wilhelms des Großen. Bremen 1902; darin auf den Seiten 10–15 eine Beschreibung des Kyffhäu-
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Kriegerbund“ seine Errichtung an; es mag wie die Kaiser-Wilhelm-Denkmäler an der Porta Westfalica und am Deutschen Eck in Koblenz11 – alle drei im Übrigen nach Plänen des Architekten Bruno Schmitz erbaut – als ein Kaiser-WilhelmDenkmal im engeren Sinne gelten.12 Die Huldigung an Friedrich Barbarossa und die Warnung vor der Sozialdemokratie als Gefahr für die Einheit Deutschlands erweitern aber diesen Fokus und rücken es näher an Nationalmonumente wie das Niederwalddenkmal oder das Völkerschlachtdenkmal, das ebenfalls die Handschrift von Bruno Schmitz trägt. Das Kyffhäuserdenkmal kann für Vieles stehen – noch mehr kann hineininterpretiert werden. Da die nationale Einheit Deutschlands das Ergebnis von Kriegen war, sind Nationaldenkmäler wie dieses zu Teilen auch Krieger- oder Heldendenkmäler.13 Diese Gemengelage der Beweggründe für den Bau eines derartigen Monuments wie auch die damit verbundenen Aussagen, lassen es Anhängern verschiedener politscher Strömungen als Identifikationspunkt dienen. Auch der Verbandsname des vier Jahre nach Einweihung des Kyffhäuserdenkmals 1896 gegründeten „Deutschen Reichskriegerbunds Kyffhäuser“ (nicht zu verwechseln mit dem bereits 1873 gegründeten „Deutschen Kriegerbund“) bringt das zum Ausdruck. Er umfasste schon bald als Dachverband nahezu sämtliche Kriegervereine des Kaiserreichs. Bleiben wir bei den Kriegerdenkmälern im engeren Sinn, ihrer Aussage und Funktion: Sie waren und sind ein Ort des Trauerns – auch für die Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen (sie – wie auch die nachfolgende Generation – trauert vielfach um ein oder mehrere gefallene beziehungsweise vermisste Familienmitglieder). Andere Aussagen beziehungsweise Funktionen von Kriegerdenkmälern sind für das kollektive Gedächtnis gleichermaßen wichtig: Die Ehrung überlebender Soldaten („Den siegreichen Kämpfern“) und die Stärkung des Nationalbewusstseins – wie oben am Beispiel des Kyffhäuserdenkmals gezeigt; seit einigen Jahren bietet zum Beispiel die Seite http://www.denkmalprojekt.org/ einen zunehmend vollständiger werdenden Überblick über die deutschen Kriegerdenkmäler. Diese sind dort fotografisch erfasst, ihre Inschriften transkribiert. Eine repräsentative Interpretation dieser Inschriften müsste Gegenstand eines größer angelegten Forschungsprojektes sein, denn nach einer ernstzunehmenden Schät-
serdenkmals. (Kuntzemueller listet insgesamt 295 Denkmäler auf, an denen 106 Künstler beteiligt waren). Der Kyffhäuserbund besteht bis heute fort; vgl. hierzu http://www.kyffhaeuser bundev.de (Zugriff: 15.09.2017). 11 Vgl. hierzu Gunnar Mertens/Karl Peter Wiemer, Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal am Deutschen Eck in Koblenz. Köln 2015; Marco Zerwas, Lernort ‚Deutsches Eck‘. Zur Variabilität geschichtskultureller Deutungsmuster. Berlin 2015. 12 Dass Schmitz den von ihm entworfenen Denkmälern einen an Wallfahrtsorte erinnernden sakralen Charakter gegeben hat, untersuchte Christel Busch in ihrer Arbeit: Die sakrale Bedeutung der Kaiser-Wilhelm-Denkmäler von Bruno Schmitz. München 2010. 13 So wurde zum Beispiel am Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica 1921 auf Initiative des Akademischen Turnerbundes eine Tafel zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs angebracht.
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zung soll deren Zahl bei circa 100 000 liegen. Allerdings erlauben die Materialien, die vorherrschenden Gestaltungsmerkmale wie bereits der kursorische Einbezug von Inschriften klare Rückschlüsse auf die Institutionen hinter diesen Denkmälern – Städte, Gemeinden, Kirchengemeinden, Kriegerverbände – wie auch deren Motivationen. Die (Selbst-)Einschätzung des „Deutschen Reichskriegerbundes Kyffhäuser“ als „formell unpolitisch“ ist leicht zu widerlegen14 – sowohl für das Kaiserreich als auch die Weimarer Republik. Dort ist der „Deutsche Reichskriegerbund Kyffhäuser“ Sprachrohr für eine Verherrlichung des Weltkriegs und Propagandist der Dolchstoßlegende. Dass er damit maßgeblich zur Art der Verankerung des Ersten Weltkriegs im kollektiven deutschen Gedächtnis beigetragen hat, ist bislang nicht ausreichend erforscht.15 Dieser Befund trifft gleichermaßen auf den 1917 gegründeten „Bund der Kriegsteilnehmer und Kriegsbeschädigten“ zu. Auch er fungierte als „parteipolitisch neutral“, zählte aber zahlreiche Sozialdemokraten unter seinen Funktionsträgern.16 Ab 1918 „Reichsbund der Kriegsbeschädigten und Kriegsteilnehmer“ beziehungsweise 1919 unter dem Namen „Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegerhinterbliebenen“ unterstützte er die bis dahin unzureichenden Versorgungsansprüche der Kriegsopfer – forderte eine „energische Fortführung der gesamten Sozialreform“17, so sein erster Vorsitzender Erich Kuttner. Besonders er positionierte den „Reichsbund“ als (demokratisches) Gegenstück zu den oben erwähnten, monarchistischen und vaterländischen Traditionen verhafteten Kriegervereinen. Insofern ist auch seine Rolle – gerade im Hinblick auf eine nicht verherrlichende, sondern kritische Verankerung des Ersten Weltkriegs im deutschen Kollektivgedächtnis zu berücksichtigen.
14 Vgl. hierzu Karl Führer, Der „Deutsche Reichskriegerbund Kyffhäuser“ 1930–1934. Politik, Ideologie und Funktion eines „unpolitischen“ Verbandes, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2, 1984, 57–76. 15 Aspekte des universitären Kriegergedenkens untersucht zum Beispiel Michaela Stoffels in ihrer Arbeit „Kriegerdenkmale als Kulturobjekte. Trauer- und Nationskonzepte in Monumenten der Weimarer Republik“. Köln u. a. 2011. 16 So zum Beispiel der erste Vorsitzende des Reichsbunds Erich Kuttner; vgl. hierzu Maximilian Ingenthron, „Falls nur die Sache siegt“. Erich Kuttner (1887–1942): Publizist und Politiker. Mannheim 2000; Bart de Cort, „Was ich will, soll Tat werden“. Erich Kuttner 1887–1942: ein Leben für Freiheit und Recht; Ausstellung im Heimatmuseum Tempelhof im Zusammenhang mit der Erstellung des Gedenkbuches für die Opfer des Nationalsozialismus aus dem Bezirk Tempelhof. Berlin 1990. 17 „Die Kriegsbeschädigtenfürsorge ist wie geschaffen, den Sturmbock für eine energische Fortführung der gesamten Sozialreform zu bilden.“ Zitat von Erich Kuttner, ReichsbundVorsitzender. Vorwärts-Ausgabe vom 27.05.1917.
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IV. DIE ENTWICKLUNG DES WELTKRIEGSGEDENKENS Der Befund, dass der Erste Weltkrieg im kollektiven deutschen Gedächtnis weit weniger verankert ist als beispielsweise in Frankreich oder Großbritannien, ist unbestreitbar mehr als nur eine Momentaufnahme aus dem Jahr 2014. Doch was zeigt der Blick auf den gesamten Zeitraum? Und wann soll die Betrachtung beginnen? Es gilt, sich bewusst zu werden, dass die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis bereits mit dem Eintritt dieses Ereignisses beginnt. Ab diesem Zeitpunkt wird das Ereignis zur Vergangenheit. Dies hat zur Folge, dass es nicht länger Gegenstand einer konkreten Beobachtung sein kann, sondern rekonstruiert werden muss. Als der Krieg im November 1918 endete, war klar, dass damit ein Weltkrieg zu Ende gegangen war. Spätestens mit dem Kriegseintritt der USA im April 1917 hatte der Krieg eine globale Dimension erreicht. Der Begriff „Weltkrieg“ findet allerdings weit früher Verwendung. So notierte der Heidelberger Mediävist Karl Hampe schon am 2. August 1914 in sein Tagebuch: „So ist denn heute wirklich der Weltkrieg entbrannt!“18 Dabei ist nicht ganz klar, ob dieser Eintrag wirklich der überdurchschnittlichen Hell- und Einsicht des Verfassers – in Kombination mit Urteilskompetenz – zu verdanken ist, war doch der Begriff „Weltkrieg“ schon vor dieser Zeit vielfach in Verwendung, ohne dass der betreffende militärische Konflikt eine globale Dimension aufweist.19 Interessanter ist die Ersterwähnung von „Erster Weltkrieg“ durch den britischen Offizier und Kriegsberichterstatter Charles à Court Repington im Jahr 1920.20 Dass sich diese Begrifflichkeit durchsetzt, zeigt, dass die militärischen Ereignisse der Jahre 1914–18 von den Zeitgenossen zutreffend als mit früheren Konflikten wie Krimkrieg, napoleonischen Kriegen oder dem Siebenjährigen Krieg nicht vergleichbar angesehen wurden. Zurück in die Zeit des Krieges: Schon 1915 waren die Lehrpläne an den Schulen umgestaltet; ein erhöhtes Geschichtsstundenkontingent sollte es ermöglichen,
18 Karl Hampe, Kriegstagebuch 1914–1919, hrsg. von Folker Reichert und Eike Wolgast (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 63.) 2. Aufl. München 2007, 97. Hampe fährt hier wie folgt fort: „An der Grenze das erste Geplänkel zwischen Russen und Deutschen, das aus der Mobilmachung den Krieg gemacht hat. Schon bei der Überreichung des österreichischen Ultimatums an Serbien sagte ich Lotte [d. i. Charlotte Hampe, die Frau Karl Hampes], das sei der Weltkrieg. Die Ablehnung am Samstagabend, dem 25. Juli, machte es sicher, da Rußlands Absicht daraus ersichtlich wurde. Dann hat sich alles automatisch weiter entwickelt. Daß es mit so reißender Schnelle geschehe, konnte man nicht ahnen.“ Für die Möglichkeit, dieses Zitat zu diskutieren und weitergehende Informationen geht mein vielfacher Dank an Prof. Dr. Folker Reichert. 19 So weist das Deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm eine Erwähnung des Wortes „Weltkrieg“ aus dem Jahr 1599 aus (http://woerterbuchnetz.de/DWB/?lemma=weltkrieg [Zugriff: 15.09.2017]). 20 Charles à Court Repington, The First World War, 1914–1918. London 1920.
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den Krieg zu thematisieren.21 So wiesen zum Beispiel die Lehrpläne „Geschichte, Heimat-/Erdkunde für die Kriegsdauer“ („Lokalschulkommissionsvorgaben für Geschichte“) in den Klassenstufen IV bis VIII jeweils eine eigene Unterrichtseinheit – unter insgesamt sechs bis sieben – zum „Weltkrieg“ auf.22 Die Schüler der IV. Klasse sollten mittels eigenem Erleben und weiterer biographischer Perspektiven an das Thema herangeführt werden: „Vom Weltkrieg. (Kriegserlebnisse der Schüler in der Heimat. Beispiele deutschen Heldentums. Deutsche Heerführer.)“; für die zwei Jahre älteren hieß es dann schon „Der Weltkrieg nach seinen Ursachen und seinem bisherigen Verlauf.“23 Ein Schüler, der 1915 die IV. Klasse besuchte, würde also fünf Mal in Folge eine Unterrichtseinheit zum Thema „Weltkrieg“ erleben; nach Kriegsende standen dann die Folgen des Krieges – der Waffenstillstand und bald darauf der Versailler Vertrag – an zentraler Stelle.24 Der Versailler Vertrag – hier besonders der sogenannte „Kriegsschuldartikel“ 231 – war ein wichtiges Movens für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses durch die Nationalversammlung am 20. August 1919, dem Tag der vorletzten Sitzung, die in Weimar stattfand.25 Er sollte, so der Berichterstatter des Verfassungsausschusses, der SPD-Abgeordnete Hugo Sinzheimer, „die Frage nach den Vorgängen, die zum Ausbruch, zur Verlängerung und zum Verlust des Krieges geführt haben [klären]“.26 Dabei war offensichtlich, dass die Fragen, „welche Ursachen unmittelbar zum Verlust des Krieges beigetragen haben“27, von zentraler Bedeutung sein würden. „Wir sind davon überzeugt“, so Sinzheimer, „daß gerade bei dieser Frage auch auf die Frage eingegangen werden muss, inwieweit […] revolutionäre Vorgänge den Verlust des Krieges herbeigeführt haben oder annexionistische Treibereien, die den Sinn des Krieges verdunkelt haben, oder Täuschungen, die über die Siegesgewißheit, die Stärke des Feindes gemacht worden sind.“28
Die Entstehung, Instrumentalisierung und Wirkung der Dolchstoßlegende – um nichts Anderes geht es hier – kann nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags
21 Siehe hierzu die Lehrpläne unter http://www.comenius.gwi.uni-muenchen.de/index.php/ Kategorie:Geschichte (Zugriff: 15.09.2017). Vgl. zu diesem Thema weiter Martin Kronenberg, Kampf der Schule an der „Heimatfront“ im Ersten Weltkrieg. Nagelungen, Hilfsdienste, Sammlungen und Feiern im Deutschen Reich. Hamburg 2014, 354 f. 22 Lehrpläne als Digitalisat verfügbar unter: http://www.comenius.gwi.uni-muenchen.de/index. php?title=Bayern/N%C3%BCrnberg:_Lehrplan_Geschichte_Volksschule_1915 (Zugriff: 15.09.2017). 23 Ebd. 24 Vgl. zum Beispiel die „Vorläufige Lehrordnung für die Volkshauptschulen des Regierungsbezirkes Mittelfranken“ unter http://www.comenius.gwi.uni-muenchen.de/index.php?Title =Bayern/Mittelfranken:_Lehrplan_Geschichte_Volksschule_1921 (Zugriff: 15.09.2017). 25 Stenografische Berichte der Verhandlungen der Nationalversammlung, Band 329, 84. Sitzung, 20.08.1919, 2698–2700. 26 Ebd., 2700. 27 Ebd., „welche Ursachen unmittelbar zum Verlust des Krieges beigetragen“ im Original fett gedruckt. 28 Ebd.
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sein. Hier bleibt lediglich festzuhalten, dass zum Zeitpunkt der oben zitierten Verhandlung – 20. August 1919 – die Dolchstoßlegende schon mehrfach Gegenstand heftiger Debatten in der Nationalversammlung war.29 Diese Debatten stießen auch stets auf großes Interesse in der deutschen Öffentlichkeit, innerhalb derer ein großer Teil nicht willens war, die Kriegsniederlage nachzuvollziehen – mit anderen Worten ihr ins Auge zu sehen. Wie sehr – oder besser: wie wenig – ein Untersuchungsausschuss der Wahrheitsfindung dienen würde, sollte sich bald herausstellen. Die Weimarer Verfassung hatte in Artikel 34 das „Verfahren des Ausschusses“ wie auch seine Mitgliederzahl bewusst der Geschäftsordnung des Reichstags überlassen.30 Bemerkenswert ist die Uneinigkeit – zuweilen auch Unsicherheit – der Parlamentarier hinsichtlich der Zusammensetzung dieses Untersuchungsausschusses. Welche Voraussetzungen, so könnte man fragen, sollte ein Ausschussmitglied mitbringen, um die gewünschten Erinnerungsergebnisse zu liefern? Wäre eine aus Historikern und Juristen bestehende Kommission, wie sie der DVPFraktionsvorsitzende Rudolf Heinze beantragt hatte, hierfür geeignet, oder eher ein „rein parlamentarischer Untersuchungsausschuss“?31 „Wir haben uns nach längerer Beratung“, so der SPD-Abgeordnete Hugo Sinzheimer als Berichterstatter, „für die Einsetzung eines ausschließlich parlamentarischen Untersuchungs-
29 So hatte beispielsweise in der 66. Sitzung der Nationalversammlung am 25. Juli 1919 der DNVP-Abgeordnete Albrecht von Graefe die Dolchstoßlegende mit folgenden Worten propagiert: „Meine Herren, es wird Ihnen nichts die Schuld abwaschen, soweit Sie daran beteiligt sind, (andauernde große Unruhe bei den Sozialdemokraten) daß einzig und allein die Zermürbung unseres Heeres den tatsächlichen Zusammenbruch unserer Armee herbeigeführt hat, (erneute erregte Zurufe links) und daß die Revolution (Andauernde große Unruhe.) – Ja, Sie mögen das nicht gern hören; das kann ich Ihnen nachfühlen! (Wiederholte erregte Zurufe von den Sozialdemokraten. – Glocke des Präsidenten.) Präsident: Ich bitte, den Herrn Redner nicht zu unterbrechen! v. Graefe, Abgeordneter: – und daß einzig und allein die Revolution schließlich der Durchführung dieser Zermürbung diesem Erfolge den letzten kraftvollen Stoß gegeben hat. (Zuruf von den Sozialdemokraten: Nein, die Massenschlächterei!).“ (Verhandlungen Nationalversammlung, Band 328, 1914). 30 Art. 34: „Der Reichstag hat das Recht und auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Die Öffentlichkeit kann vom Untersuchungsausschuß mit Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen werden. Die Geschäftsordnung regelt das Verfahren des Ausschusses und bestimmt die Zahl seiner Mitglieder. Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen vorzulegen. Auf die Erhebungen der Ausschüsse und der von ihnen ersuchten Behörden finden die Vorschriften der Strafprozeßordnung sinngemäße Anwendung, doch bleibt das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis unberührt.“ (Reichsgesetzblatt 1919, 1390). 31 Vgl. hierzu den Bericht des SPD-Abgeordneten Hugo Sinzheimer in der 84. Sitzung der Nationalversammlung am 20.08.1919 (Verhandlungen Nationalversammlung, Band 329, 2698– 2700).
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ausschusses wie ihn die Reichsverfassung vorsieht, entschieden“.32 Seine Argumentation verdient eine ausführlichere Darlegung: „Eine Kommission sogenannter objektiv urteilender Historiker und Juristen“, so Sinzheimer, „sollte nach Ansicht der Antragsteller eine größere Unbefangenheit haben, als sie ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss aufbringen könnte.“ Sein Veto lautete: „es scheint uns falsch zu sein, daran zu glauben, daß tatsächlich Historiker und Juristen als Geisteswissenschaftler, aber vor allen Dingen als Männer, die nicht nur mit ihrem kühlen Verstande, sondern auch mit ihrer Leidenschaft, ihrem Haß und ihrer Liebe an den Ergebnissen und Erlebnissen der Kriegszeit teilgenommen haben, unbefangener seien als etwa Parlamentarier. Wir wissen, daß auch die Geisteswissenschaft, insbesondere die Geschichte und Jurisprudenz von bestimmten Voraussetzungen der Weltanschauung ausgeht, (sehr richtig! Bei den Sozialdemokraten) und daß es unmöglich ist, diese besonderen bestimmten Voraussetzungen eines bestimmten Glaubens oder Werturteils auch bei angeblich objektiver Beurteilung irgendwie auszuschalten (Sehr wahr! Bei den Sozialdemokraten.) Deswegen können wir vor allem auch nach den Erfahrungen, die mit Historikern erster Klasse und mit hervorragenden Juristen in der Kriegszeit auf Grund ihrer kriegsliterarischen Erzeugnisse gemacht worden sind, nicht das Vertrauen haben, daß wir diese Männer, diese unbefangenen Historiker und Juristen, irgendwie finden können. (Sehr wahr! Bei den Sozialdemokraten.)“33
Das ist ein zweifellos hartes, zu Teilen aber durchaus berechtigtes Urteil, waren Historiker während des Krieges doch willens und fähig, auch weitgehende deutsche Annexionsansprüche historisch zu legitimieren. Dieser Disziplin aber – und auch gleich noch den Vertretern der Jurisprudenz – pauschal fortdauernde Befangenheit und damit auch fehlende Lernfähigkeit zu unterstellen, geht zu weit. Der Ausschuss wurde als parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt und sollte General Paul von Hindenburg ein ideales Forum bieten, um seine Sicht der Dinge – das deutsche Heer sei von hinten erdolcht worden, darzulegen.34 Es ist bekannt, dass diese Fehldeutung Hindenburgs bei vielen Deutschen auf fruchtbaren Boden fiel; sie schienen bereits wenige Monate nach Kriegsende vergessen zu haben, wie desolat die militärische Lage Deutschlands spätestens ab dem endgültigen Scheitern der deutschen Offensiven im Frühsommer 1918 war.35 Die Dolchstoßlegende würde während der Weimarer Republik nicht mehr von der politischen Agenda verschwinden: zu willkommen war diese Interpretation in den Augen und Ohren vieler Deutscher. Ob Kriegsteilnehmer oder nicht – in das kollektive Gedächtnis der Deutschen brannte sich die Erinnerung an einen langen 32 Verhandlungen Nationalversammlung, Band 329, 2699. 33 Ebd. 34 Am 18. November 1919 führte dieser vor dem Ausschuss aus: „Ein englischer General sagte mit Recht: ‚Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.‘ Den guten Kern des Heeres trifft keine Schuld. Seine Leistung ist ebenso bewunderungswürdig wie die des Offizierkorps. Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen. Bedurfte es noch eines Beweises, so liegt er in dem angeführten Ausspruche des englischen Generals und in dem maßlosen Erstaunen unserer Feinde über ihren Sieg.“ (Stenographischer Bericht über die öffentlichen Verhandlungen des Untersuchungsausschusses. Berlin 1919, 731). 35 Vgl. hierzu auch Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933. Düsseldorf 2003.
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und opfervollen Krieg, an dessen Ende der vermeintliche Sieger, dessen Truppen noch immer im Feindesland standen, kurz vor Schluss durch eine Verschwörung um den Sieg gebracht worden sei. Wie sehr Deutschland tatsächlich der Unterlegene dieses Krieges war, war allen Deutschen durch den Versailler Vertrag bewusstgeworden. Bis dahin, so die treffende Formulierung von Ernst Troeltsch, lebten viele von ihnen im „Traumland der Waffenstillstandsperiode“.36 Es liegt auf der Hand, dass die Nationalsozialisten die Dolchstoßlegende auch nach 1933 – und besonders nach der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs 1939 – intensiv weiter propagierten, auch dahingehend, dass es in diesem Krieg keinen „9. November“ geben dürfe.37
V. DAS (KOLLEKTIVE) WELTKRIEGSGEDENKEN Der Blick auf das Jahr 2014 zeigt: Man konnte sich Ausstellungen anschauen, Fernsehdokumentationen samt Web-Specials, die mit gut gewählten Beispielen Teil der kollektiven Erinnerung werden können – das heißt Teil unserer Erinnerung. Das ist noch ein bemerkenswerter Punkt. An bestimmte Ereignisse erinnert sich eine Vielzahl von Menschen gleich – ihre Erinnerungen sind identisch. Die Schlagzeile „Wir sind Papst“ der Bild-Zeitung am 20. April 2005, einen Tag nach der Wahl Joseph Kardinal Ratzingers zum Papst, ruft bei Allen, die diesen Tag bewusst erlebt haben, ein bestimmtes Bild hervor – genauso wie die Schlagzeile „Wir sind Weltmeister“ (2014). Dass wir uns an vieles in gleicher Weise, mit den gleichen Bildern, Parolen usw. erinnern, hat einen Namen: Kollektives Gedächtnis. Warum das so ist? Das Erinnern braucht „Bezugsrahmen“ – „cadres sociaux“, wie das der französische Soziologe Maurice Halbwachs genannt hat. Diese Bezugsrahmen sind für die Angehörigen einer Nation gleich: Sprache, Ort, Zeit. Die Erinnerung braucht das als Bezugsrahmen und umgekehrt wirkt die Erinnerung auf diese Bezugsrahmen und verändert sie. An unserem bisherigen Befund – dass der Erste Weltkrieg in Deutschland nicht in dem Umfang wie das in anderen Nationen der Fall ist, Teil des kollektiven Gedächtnisses ist – hat sich nichts geändert. Es gibt in Deutschland keine
36 Ernst Troeltsch, SpektatorBriefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918–1922, hrsg. v. Hans Baron. Tübingen 1924, 69. 37 „Und doch hat nicht die gesunkene Kampfkraft der Front, sondern die Revolution in der Heimat, der ‚Dolchstoß‘ in den Rücken des kämpfenden Heeres, dazu gezwungen, am 11. November 1918 das feindliche Waffenstillstandsdiktat anzunehmen, ohne die letzten Mittel des Widerstands erschöpft zu haben.“ (Der Weltkrieg 1914–1918. Im Auftrag des Oberkommandos des Heeres bearbeitet und herausgegeben von der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres. Die militärischen Operationen zu Lande. 14. Band, Berlin 1944 [Nachdruck des Bundesarchivs 1956.], 768.
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Tradition, die mit der in Frankreich oder Großbritannien vergleichbar wäre. „The Great War“ – „La Grande Guerre“ ist ein inhaltlich und emotional hoch aufgeladener Begriff. Der Tag des Waffenstillstands/ des Kriegsendes „Armistice“, der 11. November, ist in Frankreich nach wie vor ein offizieller Feiertag. Aber warum diese Unterschiede? Eine Antwort gelingt mittels der Bestandteile der Weltkriegserinnerung wie dem Attentat von Sarajewo, der Nibelungentreue (zum Verbündeten ÖsterreichUngarn), der Julikrise, der (vermeintlichen) Kriegsbegeisterung (Augusterlebnis) und schließlich dem Schützengraben und Stellungskrieg, die zu einem Symbol dieses Krieges werden sollten. Diese Ereignisse assoziieren Viele (die nötige Allgemeinbildung vorausgesetzt), wenn es um den Ersten Weltkrieg geht. Das bis dahin unvorstellbare Grauen dieses hoch technisierten Kriegs mit seinen mehr als zehn Millionen Opfern wurde schnell Teil des kommunikativen, des kulturellen und kollektiven Gedächtnisses in Deutschland. Machen wir uns klar, wie umfassend der Zivilisationsbruch war, den der Krieg mit sich brachte. Alle modernen Errungenschaften – die Fortbewegungsmittel zu Land, zu Wasser und in der Luft, innovative Kommunikationsmöglichkeiten – alles diente nur noch militärischen Zwecken, sollte dem Kriegsgegner schaden, ihn vernichten. Angriffe mit Giftgas, dem Flammenwerfer, das Unterminieren ganzer Berge, Tausende von Menschenopfern für ein paar Quadratmeter Land… es war bald klar, dass nichts mehr so sein würde wie vorher. Oder wie der britische Außenminister Edward Grey sagte: „Die Lampen gehen in ganz Europa aus, wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.“38 Kurz zur Rolle des Vergessens beim Erinnern: Sie bietet Stoff für viele Untersuchungen. Jahrhundertelang fand sich in Friedensverträgen eine sogenannte Oblivionsklausel39: Wir wollen vergessen was passiert ist – das Erinnern an die Ursachen und Folgen eines Krieges sollte keinen Anlass für neue Streitigkeiten geben.40 Was soll man dazu sagen? 1918 hatten sich alle Versprechungen der Militärs als falsch erwiesen.41 Deutschland war im Herbst 1918 militärisch besiegt. Dass deutsche Truppen zu diesem Zeitpunkt noch den größten Teil Belgiens, Luxemburg wie auch einen
38 Edward Grey, Fünfundzwanzig Jahre Politik. Memoiren 1892–1916. Band 2. München 1926, 18. 39 Vgl. zum Beispiel im Frieden von Utrecht 1713: „All offences, injuries, harms, and damages which the aforesaid Queen of Great Britain, and her subjects, or the aforesaid most Christian King, and his subjects, have suffered the one from the other, during this war, shall be buried in oblivion.” (Zit. nach http://en.wikisource.org/wiki/Peace_and_Friendship_Treaty_of_Utrecht_between_France_an d_Great_Britain, Zugriff: 15.09.2017). 40 Vgl. hierzu Christian Meier, Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. München 2010. 41 Ein gutes Beispiel hierfür sind die von den Militärs vorhergesagten Ergebnisse des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs.
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kleinen Teil Nordfrankreichs besetzt hielten, ließ Raum für Spekulationen, wonach die militärische Situation noch nicht aussichtslos sei – was sie in Wirklichkeit jedoch war. Auch was unmittelbar nach dem Krieg folgte – das Unverständnis angesichts der deutschen Kriegsniederlage, das in der Legende vom Dolchstoß in den Rücken des angeblich noch siegreichen Heeres gipfelte – wurde und blieb Teil des kollektiven Gedächtnisses. Hinzu kam der Versailler Vertrag, dessen Bestimmungen kaum ein Deutscher als gerecht empfinden konnte. Dass der Frieden von Brest-Litowsk, den die Deutschen nur gut ein Jahr zuvor, im März 1918, mit dem jungen Sowjetrussland abgeschlossen hatten, härter war, schien niemanden zu interessieren, wurde „vergessen“. Gepflegt wurde das Andenken an einen Krieg, in dem die deutschen Armeen angeblich von keinem Feind überwunden worden seien. Deutsche Außenpolitik nach 1918 lässt sich reduzieren auf „AntiVersailles“ – je nach politischem Standort in unterschiedlicher Intensität. Dass die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs 1939 durch das nationalsozialistische Deutschland keine Kriegsbegeisterung auslöste ist zweifellos ein Ergebnis der Erinnerung an die Schrecken des Ersten Weltkriegs. Diese Schrecken, das ist unbestreitbar, wurden spätestens in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges und im millionenfachen Holocaust überlagert. Daran hat sich jahrzehntelang nichts geändert. Historiker diskutierten mit einem zuweilen erstaunlichen Presseecho über die deutsche Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Bekannt wurde dies als „Fischer-Kontroverse“42; auch das hat bis 1959 gedauert und begann mit einem Aufsatz in der Historischen Zeitschrift (HZ) mit dem Titel „Deutsche Kriegsziele – Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914–1918“43. Bis dahin waren die Ergebnisse der deutschen Weltkriegsforschung der 1920er und 1930er-Jahre im Wesentlichen unverändert übernommen worden. Fischers These: „Expansive Kriegsziele“, hier zitiere ich Wolfgang Schieder, „vertraten während des Ersten Weltkrieges nicht nur extrem nationalistische Gruppen wie die Alldeutschen, nicht nur die dritte OHL unter Ludendorff, vielmehr wurde die ‚deutsche Kriegszielpolitik‘ von ‚breiten Kräften‘ getragen, deren politischer Exponent ‚weit mehr als bisher angenommen‘ die zivile Reichsleitung, besonders der Reichskanzler Bethmann Hollweg war.“44
Es brauchte natürlich weitere Akteure, um daraus eine Kontroverse zu machen: Hans Herzfeld, der wie Gerhard Ritter – der eine Jahrgang 1892, der andere 1888 – ihre Schul- und Studienzeit noch im Kaiserreich erlebt hatten.45 Und es braucht einen griffigeren Titel als „Deutsche Kriegsziele – Revolutionierung und Separat-
42 Vgl. hierzu Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1961. 43 Fritz Fischer, Deutsche Kriegsziele – Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914– 1918, in: HZ 188, 1959, 249–310. 44 Wolfgang Schieder, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Erster Weltkrieg. Ursachen, Entstehung und Kriegsziele. Köln/Berlin 1969, 11–28, hier 11. 45 Vgl. hierzu Michael Epkenhans, Das Bild des Ersten Weltkriegs von Hans Herzfeld bis heute, in: Geschichte für heute 4, 2011, 34–48.
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frieden im Osten 1914–1918“. Damit sind wir – 1961 – bei dem Versuch, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg in einen Zusammenhang zu bringen: Das „Kontinuitätsproblem“ in der deutschen Geschichte; es ist nötig, in diesem Zusammenhang auch Hans-Ulrich Wehler und seine Geschichte des Deutschen Kaiserreichs aus dem Jahr 1973 zu erwähnen.46 Später kommen Erster und Zweiter Weltkrieg in einen zwingenden Kausalzusammenhang. Dass einer der Hauptvertreter dieses Ansatzes, der Historiker Ernst Nolte, damit auch die kommunistischen Verbrechen in einen direkten Zusammenhang mit denen des nationalsozialistischen Deutschlands stellte47, führte in den 1980er-Jahren zum sogenannten Historikerstreit. Aber egal ob FischerKontroverse oder Historikerstreit: Der Erste Weltkrieg blieb in hintere Reihen der Erinnerung verdrängt.
VI. DAS WELTKRIEGSGEDENKEN 2014 Jetzt plötzlich, 2014, schien die Erinnerung keine Grenzen mehr zu kennen. Das Internet mit diversen Seiten48, das Fernsehen – ob öffentlich oder privat –, Neuerscheinungen mit gelegentlich griffigen Titeln wie „Die Schlafwandler“ oder „Die Büchse der Pandora“ sowie beachtenswerte Ausstellungen. Warum beachtenswert? Greifen wir aus einer Vielzahl von Projekten weltweit drei Projekte heraus. Stichwort „weltweit“: In ganz Europa, den USA, der Türkei, in vielen ehemaligen Kolonien wurde des 100. Jahrestags des Kriegsausbruchs gedacht; geht man beispielsweise auf die Seite www.centenarynews.com und gibt irgendein Land der Erde ein, wird man mit großer Sicherheit fündig, was eine Veranstaltung zum Ersten Weltkrieg angeht. Gleichermaßen interessant ist http://worldwar-1centennial.org/ – die Seite der US-100-Jahr-Feier-Kommission – oder www.europeana1914-1918.eu/de. Die Erinnerung als Ereignis! Zu den Projekten, die die Bezeichnung „Ereignis“ verdienen: Die Auswahl aus einer gut dreistelligen Anzahl fällt schwer. Egal ob in Hannover oder in Leipzig, in Offenburg oder Heidelberg: Es heißt „…im Ersten Weltkrieg“. Die Frage nach dem Erkenntnisfortschritt ist nicht nur erlaubt, sie ist zwingend. Was soll der Unterschied gewesen sein, ob man in Hannover oder in Leipzig hungernd den Steckrübenwinter 1916/17 erlebte – oder die deutsche Bitte um einen Waffenstillstand. Provozierend gefragt: Wissen wir nicht längst alles über diesen Krieg? Oder: Was wollen wir noch alles wissen? Was ändert sich am Wissensstand? Möglicherweise eine ganze Menge. Ein näherer Blick auf zwei Zitate aus dem Sommer 1914 mag das verdeutlichen.
46 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich. Göttingen 1973. 47 Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg, 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus. Frankfurt am Main u. a. 1987. 48 Beispielsweise http://centenaire.org/fr oder http://www.centenarynews.com/.
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Kaiser Wilhelm II. am 6. Juli 1914 vor Antritt seiner traditionellen Nordlandreise: „An größere kriegerische Verwicklungen glaube ich nicht. Der Zar wird sich nicht auf die Seite der Prinzenmörder stellen. Außerdem sind weder Russland noch Frankreich bereit. Um keine Beunruhigung zu schaffen, werde ich auf Rat des Reichskanzlers die Nordlandreise antreten.“ 49
Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in der Reichstagssitzung am 4. August 1914: „Ein gewaltiges Schicksal bricht über Europa herein. Seit wir uns das Deutsche Reich und Ansehen in der Welt erkämpften, haben wir 44 Jahre lang in Frieden gelebt und den Frieden Europas geschirmt. In friedlicher Arbeit sind wir stark und mächtig geworden und darum beneidet. Mit zäher Geduld haben wir es ertragen, wie unter dem Vorwande, dass Deutschland kriegslüstern sei, in Ost und West Feindschaften genährt und Fesseln gegen uns geschmiedet wurden. Der Wind, der da gesäet wurde, geht jetzt als Sturm auf.“ 50
Das ist der Reichskanzler, der wenige Jahre zuvor das Pflanzen von Bäumen in der Nähe seines Wohnsitzes Hohenfinow in Brandenburg mit den Worten kommentierte, es lohne sich nicht, in ein paar Jahren wären ohnehin die Russen da. Kriegsbegeistert ist das nicht. Schaut man auf die Sozialdemokratie, so kann man ein gemeinsames Flugblatt der deutschen und französischen Sozialdemokratie gegen Kriegsrüstungen finden; im März 1913 hieß es da: „Kampf den Kriegshetzern! Nieder mit der Heeresvorlage! Noch hat sich das düstere Gewölk nicht völlig verzogen, mit dem der Balkankrieg den Himmel Europas bedeckt, noch sind die Spannungen nicht ganz gewichen, die im Gefolge dieses Krieges zwischen Österreich und Rußland, zwischen Rumänien und Bulgarien entstanden, und schon wird Europa von neuem in Unruhe und Schrecken versetzt. Nachdem das Deutsche Reich erst in den beiden letzten Jahren 1911 und 1912 bedeutende Verstärkungen seines Heeres durchgeführt hat, ist jetzt abermals eine neue Militärvorlage von gewaltigem Umfange angekündigt worden, die – soweit bisher Nachrichten darüber vorliegen – das deutsche Volk abermals mit rund Zweihundertfünfzig Millionen Mark jährlicher Mehrausgaben und außerdem mit einer einmaligen Aufwendung von etwa einer Milliarde Mark belasten soll, ganz abgesehen von den gewaltigen persönlichen Opfern, die dadurch bedingt sind, dass die deutsche Armee um achtundsechzigtausend Mann vermehrt werden soll.“51
Diesen Aufruf kann und sollte man lesen: In der Ausstellung „‚Heimatfront‘. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen im Rhein-Neckar-Raum (1914–1924)“. Bei der Eröffnung im Landesarchiv/Landesbibliothekszentrum Speyer berichtete der ehemalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck von seinem 49 https://science.apa.at/rubrik/kultur_und_gesellschaft/1914_2014_-_Zitate_zur_Julikrise_und_ zum_Kriegsausbruch/SCI_20140305_SCI54612457617294502 (Zugriff: 15.09.2017). 50 http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003402_00014.html 5 (Zugriff: 15.09.2017). 51 In: Martin Krauß/Walter Rummel (Hrsg.), „Heimatfront“. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen im Rhein-Neckar-Raum (1914–1924). Ubstadt-Weiher 2014, 22.
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Großvater. Der wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs fast 60-jährig zum „Volkssturm“ einberufen. 30 Jahre zuvor hatte er im Ersten Weltkrieg bei einem Gasangriff einen Teil seiner Lunge eingebüßt. Die Ausstellung ist eine Fundgrube – im positiven Sinn. Da sind nicht die altbekannten, immer wieder verwendeten Bildmotive: ein grimmig-entschlossen dreinblickender Kaiser Wilhelm II., der so grimmig-entschlossen dann nicht mehr war; eine Hüte schwenkende Menge – nein: Wir finden Dokumente, Fotografien, auch einige Exponate von außergewöhnlicher Aussagekraft. Da ist beispielweise: die „Mitteilung des bayerischen Generalkommandos II in Würzburg an das Bürgermeisteramt Weyher [der Ort Weyher zwischen Neustadt und Landau] betreffend das Gesuch der Witwe Barbara Ziegler vom 27. Mai 1918 um Erlaubnis zur Rückführung der Leiche ihres am 25. April 1918 gefallenen und bei Armentières (Nähe Lille) begrabenen Sohnes Georg nach Weyher.“
Es kann passieren, dass man sich vom Beamtendeutsch abschrecken lässt, und nicht weiterliest, was schade wäre. Liest man weiter, erfährt man: „Die Witwe Barbara Ziegler hatte ihr Bittschreiben vom 27. Mai 1918 erst beim Bürgermeisteramt in Weyher eingereicht, wo es „wärmstens befürwortet“ wurde. Gleichwohl lehnte die zuständige Stelle beim II. Armeekorps das Ansinnen mit Bescheid vom 5. Juni 1918 an das Bürgermeisteramt Weyher vorerst ab „mit dem Ersuchen, das Gesuch im September wieder in Vorlage zu bringen, da Ausgrabungen von Leichen zwecks Rückführung in die Heimat in den Sommermonaten verboten sind.“ Mit Schreiben vom 28. August 1918 erneuert die Witwe Ziegler beim Bürgermeisteramt Weyher ihr Gesuch. Am 11. September 1918 antwortete das Armeekommando, dass dem Gesuch „leider nicht stattgegeben werden“ könne, da sich der betreffende Ort „z. Zeit in Feindeshand“ befinde. Georg Ziegler war der dritte Sohn, den Barbara Ziegler, wie sie schrieb, „dem Vaterland hin gab“, zugleich der älteste von insgesamt sechs im Fronteinsatz befindlichen Söhnen. Allein im Rahmen der militärischen Operation, die Georg Ziegler das Leben gekostet hatte, der Frühjahrsoffensive 1918, fielen 230 000 deutsche Soldaten. Die Ausstellung hat wie der Titel schon sagt den Fokus auf der „Heimatfront“. Ihre Moral und ihre wirtschaftlichen Ressourcen würden kriegsentscheidend sein. So galten die offiziellen Durchhalteparolen mindestens ebenso sehr der Zivilbevölkerung wie den Soldaten. Ergebnis des Kriegs sollte ein „Siegfrieden“ sein – als Alternative drohte das Schreckgespenst „Hungerfrieden“. Urheber dieses Szenarios waren völkisch-nationalistische wie auch nationalliberale Kreise, politisch organisiert im „Alldeutschen Verband“ oder in der erst im September 1917 gegründeten Vaterlandspartei.52
52 Einer der Gründer und erster Vorsitzender des bayerischen Landesverbandes war Reichsrat Franz von Buhl aus Bad Dürkheim.
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Wie hält man durch? Not macht erfinderisch. „Im Zuge der Mobilisierung sämtlicher Ressourcen für die Kriegswirtschaft“, so informiert uns der Begleitband zur Ausstellung, „wurden nicht nur Metalle gesammelt und verwertet, sondern alle möglichen Materialien. Aus Brennnesseln wurden Fasern zur Herstellung von Geweben gewonnen, Obstkerne dienten der Gewinnung von Speiseöl und das Laub von Bäumen wurde in der Landwirtschaft als Futtermittel verwendet.“53
Während die Brennnesseln, Obstkerne und das Laub wieder nachwuchsen, war eine andere „Ernte“ schwerer zu verkraften. So sind auf einer etwas gelbstichigen Fotografie aus dem Jahr 1917 elf Honoratioren der Stadt Neustadt versammelt.54 Im Hintergrund sieht man Bahnanlagen und drei große Glocken der Neustädter Stiftskirche.55 Sie ahnen es: Die Glocken hatten, so ist es auf der Fotografie vermerkt, „am 24. Juli von 12 bis 1 Uhr ihren Abschiedsgruß geläutet“. Aber das ist doch bekannt, dass Kirchenglocken eingeschmolzen wurden, mag man hier einwenden. Die besondere Qualität der Fotografie und ihre Erläuterung rechtfertigt ein Nachdenken. Sie lassen an die Zeitgenossen denken, die von der Stille dieser Kriegsjahre berichten. Sie haben richtig gelesen: die Stille – nachdem vielerorts die letzten Kirchenglocken entfernt worden waren. Wie unersetzlich war der Verlust der Glocken für viele Gemeinden. Sicher hatte man insgeheim gehofft, nach einem siegreichen Ende des Krieges sich bei den Verlierern bedienen zu können. „Sich bei den Verlierern bedienen“: Das war ohnehin und logischerweise das Ziel der deutschen Regierung. Man stelle sich die gesamte deutsche Kriegsmaschinerie als eine Aktiengesellschaft vor. Die Aktien heißen „Kriegsanleihen“. Die Stückelung – in der Ausstellung sehen wir zum Beispiel eine Kriegsanleihe im Wert von fünf Mark – zeigt: Hier wird gezielt der Kleinsparer angesprochen.56 „Das Kapital samt Zinsen sollte ‚zwei Jahre nach Friedensschluss‘ zurückgezahlt werden“57 – von den unterlegenen Kriegsgegnern. Die Rechnung ging nicht auf. Es ist eine besondere Leistung dieser Ausstellung, dass sie nicht wie viele andere, mit dem Waffenstillstand im November 1918 endet. Sie nimmt gleichermaßen die Folgen von Krieg und Kriegsniederlage, die die meisten in Deutschland unvorbereitet traf, in den Blick: Hunger, politische Wirren, Separatismus, Inflation etc. Eine schon sprachlich schwierigere Kooperation als die Zusammenarbeit der Archive im Rhein-Neckar-Kreis war das zweite Projekt – auch ein Ereignis: Die Ausstellung „Menschen im Krieg 1914–1918 am Oberrhein“/ „Vivre en temps de guerre des deux côtés du Rhin 1914–1918“ – Ergebnis einer Zusammenarbeit
53 54 55 56 57
Krauß/Rummel, Heimatfront (wie Anm. 51), 97. Ebd., 94. Ebd. Ebd., 104; (Stadtarchiv Mannheim – ISG, Kleine Erwerbungen, 1509K). Ebd., 105.
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zwischen dem Landesarchiv Baden-Württemberg und den Archives Départementales du Haut-Rhin mit Sitz in Colmar.58 Die Ansprüche waren hoch. Zitat: „Einhundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wagen es erstmals Archivare und Historiker aus Deutschland und Frankreich, die traditionellen nationalen Grenzen und Sichtweisen zu überschreiten und gemeinsam die Geschichte des Oberrheingebiets in jenen Jahren in den Blick zu nehmen.“59
Das war sensationell – sowohl die Zusammenarbeit im Vorfeld des Gedenkjahrs 2014 als auch das Ergebnis. Man mag das in Zweifel ziehen, denn französischdeutsche Partnerschaften gibt es seit den frühen 1950er-Jahren (die erste Städtepartnerschaft war die zwischen Ludwigsburg und Montbéliard im Jahr 1950) und man könnte vermuten, dass sich durch jahrelangen intensiven Austausch die Sichtweisen angenähert haben. Das war bis vor kurzem leider nicht der Fall. Was es bedeutete, dass die französische Hauptstadt Paris in diesem Krieg mehrfach in die Reichweite deutscher Artillerie kam, dieser Beschuss auch tatsächlich viele Tote und mehrere Hundert Verletzte forderte, taucht in einer deutschen Geschichte des Ersten Weltkriegs allenfalls am Rande auf. Bekannter ist dagegen die Aktion des Generals Gallieni, angesichts der Bedrohung von Paris Soldaten mit Taxis an die Front zu fahren. In den meisten Fällen wird es schnell schwarz-weiß: Der Eine ist der Sieger, der Andere der Verlierer… Wer diese Ausstellung anschaut, die Trümmer, die härter als sonst arbeitende Landbevölkerung, weil die Männer als Arbeitskräfte fehlen, muss genau hinschauen, um zu sehen, ob es sich um Deutsche oder Franzosen handelt. Wenn es an einer Stelle in der Ausstellung heißt: „Großes Trommelfeuer, man meinte, die Hölle käme“60, dann handelt es sich um ein Zitat eines katholischen Feldgeistlichen – in diesem Fall ein Deutscher, Benedict Kreutz; es könnte genauso gut ein Franzose sein, gerade am schwer umkämpften Hartmannsweilerkopf. Unter dem Datum 22./24. Dez. (1915) notiert er in sein Tagebuch: „Besuche in Lazaretten, Verbandsplätzen und Beerdigungen den ganzen Tag über zum Teil auch in der Nacht.“61 Dieser Feldgeistliche ist einer von 32 Menschen, die uns die Ausstellung eindringlich nahebringt. Da sind zwei französische Brüder, ein deutscher Spion, ein deutscher Deserteur, dessen Spur sich in der Schweiz verliert. Und man begegnet Friedrich Ebert. Zwei Söhne – Heinrich und Georg – verliert die Familie in diesem Krieg, beide in der ersten Jahreshälfte 1917, 19 und 21 Jahre jung.62 Für die
58 Vgl. den Begleitband zur Ausstellung: Rainer Brüning/Laëtitia Brasseur-Wild (Hrsg.), „Menschen im Krieg 1914–1918 am Oberrhein“/ „Vivre en temps de guerre des deux côtés du Rhin 1914–1918“. Für das Landesarchiv Baden-Württemberg und die Archives Départementales du Haut-Rhin. Stuttgart 2014. 59 Ebd., 8. 60 Ebd., 79. 61 Ebd., 83. 62 Brüning/Brasseur-Wild, Menschen im Krieg (wie Anm. 58), 287.
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Familie Ebert hieß es: „Wir müssen uns trösten mit den vielen anderen, die ihr Liebstes verloren.“63 Das dritte Projekt ist möglicherweise bekannter als die erwähnten Ausstellungen; das ist mehreren Fernsehsendern – ARTE, NDR, SWR, WDR und ORF – und dem Webspecial „http://www.14-tagebuecher.de/“ zu verdanken; aber auch der guten, tragfähigen Idee, die dahinter steckt: „14 Tagebücher des Ersten Weltkriegs“. „Im Mittelpunkt stehen keine Staaten“, so Gorch Pieken, Wissenschaftlicher Direktor und Wissenschaftlicher Leiter Ausstellungen, Sammlung und Forschung am Militärhistorischen Museum der Bundeswehr, „sondern stets die einfachen Menschen“.64 Dieses Projekt steht in enger Verbindung mit „14 – Menschen – Krieg“, einer Ausstellung des Militärhistorischen Museums Dresden.65 In dieser Ausstellung wird der Besucher hin- und hergerissen zum Beispiel zwischen massenhaft demonstrierter Stärke und individueller Schwäche und Angst. Die in der Ausstellung gezeigten Glücksbringer – bis hin zu einer Engelserscheinung – legen ein beredtes Zeugnis davon ab.66 Eindringlich ist auch die Zeitungsseite mit den Todesanzeigen der Opfer eines Explosionsunglücks in einer Plauener Munitionsfabrik: 301 Tote, darunter 296 Frauen mit einem Durchschnittsalter von 23 Jahren. Das war eine große Opferzahl aber kein Einzelfall: Wir erfahren von 86 650 Unfällen in Munitionsfabriken zwischen 1914 und 1918.67 Kommen wir zu den 14 Tagebüchern des Ersten Weltkriegs. „Zum ersten Mal wird der Erste Weltkrieg in einer [mehrteiligen] Fernsehdokumentation und einem Webspecial aus multinationaler Perspektive statt nur aus der Perspektive eines Landes erzählt. […] Zum ersten Mal stehen in einer Fernseh-Dokumentation nicht die Ereignisse, Schlachten und Daten, sondern das Erleben aller Beteiligten – der Mütter, der Väter, der Kinder – im Vordergrund. Eine Dokumentarserie wird mit den dramaturgischen Mitteln einer fiktionalen Fernsehserie erzählt, ohne dabei den Boden des Dokumentarischen zu verlassen. Ein weltweites Netzwerk von Historikern […] unterstützt das Projekt.“68
Wie muss man sich das konkret vorstellen? Die 14 Menschen, die vorgestellt werden, sind real, waren real und wurden deshalb ausgewählt, weil sich ihr Leben aufgrund von Tagebüchern und Briefen gut rekonstruieren lässt. Es sind nicht „Generäle und Staatenlenker, sondern Soldaten im Schlamm der Schützengräben, Hausfrauen, Kinder, denen der Krieg als Alptraum, aber auch als Abenteuer erscheint, sowie Krankenschwestern, die außer Illusionen auch jeglichen Glauben verlieren. Es sind Männer, Frauen
63 Friedrich Ebert in einem Brief vom 15.02.1917. (Archiv der Reichspräsident-Friedrich-EbertGedenkstätte). 64 Gorch Pieken: Vorwort, in Gerhard Bauer u. a. (Hrsg.), 14 – Menschen – Krieg. Essays zur Ausstellung zum Ersten Weltkrieg. Dresden 2014, 12–21, hier 14. 65 Den folgenden Ausführungen liegt ein Besuch dieser Ausstellung im Oktober 2014 zugrunde, ferner der Katalog: Gerhard Bauer (Hrsg.), 14 – Menschen – Krieg. Dresden 2014. 66 Ebd., 169. 67 Ebd., 173 f. 68 www.14-tagebuecher.de (Zugriff: 15.09.2017).
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Und weiter: „Im Vordergrund […] stehen vor allem die Gefühle und Überzeugungen, die diese Menschen damals leiteten. Welche Ängste bestimmten ihr Handeln? Fühlten sie sich bedroht oder wollten sie sich bewähren? Warum waren so viele bereit, mit Begeisterung in den Krieg zu ziehen? Wie veränderten sie sich durch die Erfahrungen des Infernos, durch Leid und Hunger? Vor dem Hintergrund der politischen und militärischen Entwicklungen entsteht so eine Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs.“
Neben den Menschen und bestimmten zum Symbol gewordenen Orten wie Tannenberg, Ypern oder Verdun, werden auch wichtige Fragen gestellt und beantwortet: Warum machen die Menschen den Krieg so lange mit? Wäre der Krieg zu verhindern gewesen? Das alles ist sehr lohnenswert. Am Eindringlichsten aber sind natürlich die Menschen – die Opfer. Von ihnen lesen wir: „Die Jungen werden in diesem Tollwerden doch nicht mittun! Dann wie ein kalter Strahl: Sie müssen.“ (Käthe Kollwitz) „Versprich mir, Marie, dass Du niemals einem anderen gehören willst – auch nicht nach meinem Tod.“ Das schreibt der französische Soldat Paul Pireaud an seine junge Frau Marie. Sie an ihn: „Wann werden wir uns wiedersehen, mein Paul? Ich würde dir einen Vorgeschmack auf das Paradies geben.“ Zur Bilanz des bisherigen Gedenkens gehören auch unbedingt die Neuerscheinungen aus der Feder von Historikern und Politikwissenschaftlern. Skepsis, ob es richtig Neues zu lesen geben möge, war angebracht. Allerdings: Wer vorhatte, eine Neuerscheinung zu lesen, traf mit „Der Große Krieg“69 von Herfried Münkler, Professor an der Humboldt-Universität Berlin, keine schlechte Wahl. Die Lektüre lohnt sich eigentlich bereits des ersten Kapitels wegen, in dem Münkler unter der Überschrift „Lange und kurze Wege in den Krieg“ den Kriegsausbruch und die Kriegsschuld analysiert. Mit seinen Ergebnissen stellt er die bisherige Forschung nicht auf den Kopf; seine Darstellung ist trotzdem lesenswert und darf als best-practice Beispiel gelten, wie man wissenschaftlich fundiert, gleichwohl verständlich, eine solche Frage erörtert. Am Schluss moniert die FAZ lediglich: „Für eine Neuauflage wäre eine knappe Zeittafel hilfreich, zumal im Inhaltsverzeichnis nur ein Ereignis datiert wird: Sarajevo, 28. Juni 1914.“70 Erstaunlich ist und bleibt, dass dieses Werk aus dem Rowohlt-Verlag mit 924 Seiten ein derartiger Verkaufserfolg wurde. Bereits im Mai 2014, knapp sechs Monate nach Erscheinen, meldete Alexander Cammann in „Die ZEIT“ 50 000 verkaufte Exemplare. Die pfiffige Überschrift: „Dick und teuer. Siehe da: An-
69 Herfried Münkler, Der Große Krieg. Berlin 2013. 70 Werner Rahn: http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/herfried-muenkler-dergrosse-krieg-auf-see-nicht-sattelfest-12793057-p3.html (Zugriff: 15.09.2017).
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spruchsvolle Bücher verkaufen sich heute glänzend.“71 Im gleichen Artikel wird von einem noch größeren Verkaufserfolg berichtet. Sie ahnen es: „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark. Der ganze – provokante – Titel lautet im Original: „The Sleepwalkers. How Europe went to war“; „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“.72 „Unvorstellbare 200.000 Exemplare seiner in Teilen unkonventionellen Studie ‚Die Schlafwandler‘ über die diplomatische Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gingen über den Ladentisch; wochenlang hielt sich sein immerhin 40 Euro teurer Wälzer auf Platz eins der Bestsellerliste.“73
Die Ankündigung durch die Deutsche Verlagsanstalt hatte es in sich: Von „Bahnbrechende[n] neue[n] Erkenntnisse[n] über den Weg in den Ersten Weltkrieg 1914“ war die Rede74, und „DER TAGESSPIEGEL“ vom 11.09.2013(!) jubiliert: „Christopher Clarks Buch [...] ist ein Meisterwerk. […] Es ist diese Verschränkung von Ereignis- und Wahrnehmungsebene, die das Buch so bedeutend macht.“ Nebenbei: Das Buch war auch gut getimt – kam als erste große Neuerscheinung zum Weltkrieg auf den Markt. Auf „SWR1 Leute“ auf seinen Erfolg angesprochen sagte Clark: „Ich glaube, ich habe unterschätzt, wie viel Emotion in diesem Thema drinsteckt.“75 Sein Buch ist bereits bei seinem Erscheinen in England 2012 auf die jubelnde Zustimmung einiger deutscher Fachkollegen gestoßen. „Die Deutschen tragen Schuld am Ersten Weltkrieg – aber nicht mehr als andere“, fasste Holger Afflerbach den Befund im „Spiegel“ zusammen.76 Und Gerd Krumeich prophezeite in der „Süddeutschen Zeitung“, endlich könne man „Abschied nehmen von der so lange quasi sakrosankten These, dass in erster Linie die Weltmachtambitionen Deutschlands Europa in den Abgrund gestoßen hätten“. Doch kann man das wirklich? Ist eine Revision der Revision fällig? Wir sollten genau hinschauen – uns fragen: Was macht Clark? Im Einzelnen wirkt er nicht sonderlich unkonventionell – beginnt mit einer kritischen Einschätzung des enormen Quellenmaterials. Ein Beispiel: Allein die deutsche Publikation „Die große Politik der europäischen Kabinette“ umfasst 15 889 Dokumente77 – gesammelt und ediert in der Hoffnung, „die Offenlegung der Quellen vor dem Krieg werde ausreichen, um die in den Bestimmungen des
71 So Alexander Cammann: http://www.zeit.de/2014/18/erfolg-historische-sachbuecher (Zugriff: 15.09.2017). 72 Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. 12. Aufl. München 2014. 73 http://www.zeit.de/2014/18/erfolg-historische-sachbuecher (Zugriff: 15.09.2017). 74 http://www.randomhouse.de/Buch/Die-Schlafwandler-Wie-Europa-in-den-Ersten-Weltkriegzog/Christopher-Clark/e272295.rhd (Zugriff: 15.09.2017). 75 https://www.youtube.com/watch?v=dHWmWzoWVvs (Zugriff: 15.09.2017). 76 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-88754330.html (Zugriff: 15.09.2017). 77 Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Im Auftrag des Auswärtigen Amtes herausgegeben von Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Thimme. Berlin 1922–1927.
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Versailler Friedensvertrags enthaltene These der ‚Kriegsschuld‘ zu widerlegen.“78 Diese apologetische Zielrichtung stellt Clark zutreffend gleichermaßen bei den Quellensammlungen anderer Nationen fest. „Mit einem Wort“, so Clark, „die großen europäischen Quelleneditionen waren, bei all ihrem unleugbaren Wert für die Forscher, Munition in einem ‚Weltkrieg der Dokumente‘“.79 Nach einer ebenso kritischen Einschätzung der Memoirenliteratur aus dieser Zeit80, konstatiert er: „Überdies bestehen immer noch beträchtliche Wissenslücken.“81 Und Clark weiter: „So gut wie jede Sichtweise der Ursprünge lässt sich anhand einer Auswahl der verfügbaren Quellen belegen.“82 Dies erkläre „wiederum zum Teil“, weshalb die Literatur zu den Anfängen des Ersten Weltkriegs so gigantische Ausmaße erreicht habe, dass kein einziger Historiker jemals hoffen könne, alle diese Werke zu Lebzeiten zu lesen.83 Man mag von diesen Sätzen enttäuscht sein. Gleichwohl: Clark ist fast immer auf der richtigen Spur. „Die Morde [in Sarajewo] allein lösten nichts aus. Erst die Art und Weise, wie dieses Ereignis ausgenutzt wurde, führte die Nationen in den Krieg.“84 Allerdings stammt dies nicht originär von Clark, sondern von Richard F. Hamilton und Holger Herwig; sie haben das in ihrer Studie „Decisions for War 1914–1917“ bereits 2004 festgestellt.85 Dann aber macht Clark am Beispiel des Anteils, den Serbien an den Kriegen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren, an Massenmorden und anderen schwer vorstellbaren Grausamkeiten hatte, deutlich, wie sich unsere Sichtweisen ändern können. Am Ende seiner instruktiven Einleitung zitiert Clark Holger Afflerbach, manchen auch durch seine Falkenhayn-Biographie86 bekannt. „In einer der interessantesten jüngeren Publikationen über diesen Krieg“, so Clark, „wird die These aufgestellt, dass er nicht nur keineswegs unvermeidlich, sondern tatsächlich ‚unwahrscheinlich‘ gewesen sei – zumindest bis zu seinem Ausbruch.“87
Noch eine Empfehlung: Ebenso innovativ wie Clark und Münkler, hat sich der Freiburger Historiker Jörn Leonhard mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt88; sein Werk ist mehr als eine Ergänzung zu den Büchern von Clark und Münkler.
78 Clark, Schlafwandler (wie Anm. 72), 10. 79 Ebd., bei „Weltkrieg der Dokumente“ handelt es sich um eine Formulierung des deutschen Militärhistorikers Bernhard Schwertfeger aus dem Jahr 1929. (Bernhard Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente. Zehn Jahre Kriegsschuldforschung und ihr Ergebnis. Berlin 1929). 80 Clark, Schlafwandler (wie Anm. 72), 10 f. 81 Ebd., 12. 82 Ebd., 14. 83 Ebd. 84 Ebd., 15 f., zitiert aus Richard F. Hamilton/Holger Herwig, Decisions for War. Cambridge 2004, 46. 85 Hamilton/Herwig, Decisions (wie Anm. 84). 86 Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich. München 1994. 87 Clark, Schlafwandler (wie Anm. 72), 19.
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VII. FAZIT 2014 wurde nicht nur an die 100. Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs erinnert: Der 75. Jahrestag des Beginnes des Zweiten Weltkriegs und die Erinnerung an 25 Jahre Mauerfall standen gleichermaßen im Zentrum der Erinnerung: „Heute dürfte es in Deutschland nur noch wenige Menschen geben“, so Joachim Gauck, „die persönliche Schuld für die Verbrechen des NS-Staates tragen. [Sie merken, wir sind beim Gedenken an den 75. Jahrestag der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs]. Ich selbst war gerade fünf Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging. Aber als Nachfahre einer Generation, die brutale Verbrechen begangen oder geduldet hat, und als Nachfahre eines Staates, der Menschen ihr Menschsein absprach, empfinde ich tiefe Scham und tiefes Mitgefühl mit jenen, die unter Deutschen gelitten haben. Für mich, für uns, für alle Nachgeborenen in Deutschland, erwächst aus der Schuld von gestern eine besondere Verantwortung für heute und morgen.“89
Diese Sätze stammen aus Joachim Gaucks Danziger Rede am 1. September 2014. Mit Rückgriff auf das 70-jährige Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs stellt er fest: „Wohl niemand hat damals geahnt, wie dünn das politische Eis war, auf dem wir uns bewegten. Wie irrig der Glaube, die Wahrung von Stabilität und Frieden habe endgültig Vorrang gewonnen gegenüber Machtstreben. Und so war es ein Schock, als wir mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass am Rande von Europa wieder eine kriegerische Auseinandersetzung geführt wird. Eine kriegerische Auseinandersetzung um neue Grenzen und um eine neue Ordnung. Ja, es ist eine Tatsache: Stabilität und Frieden auf unserem Kontinent sind wieder in Gefahr.“90
Auch das gehörte zum Gedenkjahr 2014. Das Erinnern an ein drittes Ereignis hat ebenfalls Qualitäten, die die Erinnerung selbst zum Ereignis machen; nicht nur wegen Tausender Luftballons, die am 9. November 2014 den Himmel über Berlin füllten. „Nach meiner Kenntnis ist das sofort…unverzüglich“91; diese Worte Günter Schabowskis bei der Pressekonferenz am 9. November 1989 gehören zu unserem kollektiven Gedächtnis. „Bis heute“, so ein Befund von Ehrhart Neubert, „ist ein Großteil der Erinnerungen an die Revolution“ – gemeint ist die friedliche Revolution 1989/90 – an Sprachereignisse geknüpft: ‚Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‘ ‚Wir wollen raus‘ und ‚Wir bleiben hier‘ ‚Wir sind das Volk‘ und ‚wir sind ein Volk‘
88 Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. 5. Aufl. München 2014. 89 www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2014/09/140901-Rede-Gedenk en-Westerplatte.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff: 15.09.2017). 90 www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2014/09/140901-Rede-Gedenk en-Westerplatte.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff: 15.09.2017). 91 Zit. nach: http://www.faz.net/aktuell/politik/25-jahre-mauerfall/mauerfall-schabowski-wusste -um-wirkung-seiner-worte-13253030.html (Zugriff: 15.09.2017).
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Erinnern als Ereignis: 100 Jahre Erster Weltkrieg
‚Ich liebe euch doch alle‘, ‚Der Sozialismus steht nicht zur Disposition‘, ‚Sofort, unverzüglich‘, ‚Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört‘ und ‚Überwindung der Teilung durch Teilen‘.92 „Die Revolution“, so noch einmal Ehrhart Neubert, „legte die Grundlagen für die Erinnerung an die Revolution.“ In der Dessauer Magnetbandfabrik gründeten fünf Betriebsangehörige Anfang Dezember 1989 die ‚Initiativgruppe 6. Dezember‘, die die Entwaffnung der SED-Kampfgruppen durchsetzte. Sie fanden 1250 Kalaschnikows, 174 Maschinengewehre, 87 Panzerbüchsen und 171 Pistolen. Die Gruppe erreichte, dass diese Waffen eingeschmolzen wurden. Die Schmelze ergab einen Block von vier Tonnen Stahl, aus dem eine Glocke gegossen wurde. Sie steht seit dem 3. Oktober 2001 vor dem Dessauer Rathaus mit der Inschrift: ‚Keine Gewalt – Ich läute für Frieden und Freiheit – ohne Freiheit kein Frieden – ohne Frieden keine Freiheit‘.93 Für uns Deutsche, für uns als Deutsche war das Erinnern im Jahr 2014 europäischer als in den Gedenkjahren zuvor; es war vielgestaltiger, ideenreicher, interessanter und vielfach selbstverständlicher – nicht beliebiger; es war beeindruckender, wofür das neue Mahnmal in Notre-Dame de Lorette ein gutes Beispiel ist. Dort sind die Namen aller fast 600 000 Gefallenen alphabetisch – ohne Berücksichtigung ihrer Nation aufgelistet. Ob wir aus der Geschichte lernen, mag man mit Skepsis sehen. Dass sich Deutsche 2014 und seit 2014 so intensiv erinnern ist eine gute Entwicklung.
92 Ehrhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. München/Zürich 2008, 19. 93 Ebd., 22 f.
AUTOREN- UND MITARBEITERVERZEICHNIS Dr. Michael Braun studierte Geschichte, Politische Wissenschaften und Jura an der Universität Mannheim und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er wurde mit der Arbeit „Der Badische Landtag 1918–1933“ (zugl. Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus) promoviert. Nach freien Mitarbeiten, u. a. im Historischen Museum der Pfalz (Speyer) und in der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte (Rastatt), war er von 1999 bis 2012 für die politisch-historische Bildungsarbeit der StiftungReichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte verantwortlich. Seit 2012 ist er dort wissenschaftlicher Mitarbeiter – daneben Lehrbeauftragter der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er beschäftigt sich u. a. mit der Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland und mit Konzepten von Museen, Ausstellungen, Gedenkorten und Denkmälern sowie ihrer Bedeutung für die Erinnerungskultur und das historische Lernen. Miriam Breß, M.A., nahm zum Wintersemester 2006/2007 ein Studium der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain auf, welches sie im Januar 2010 mit einer B.A.-Arbeit über die Erinnerungsarbeit in Neustadt a.d.W. abschloss. Nach der staatlichen Anerkennung als Sozialarbeiterin begann sie an der JGU Mainz Geschichte (B.A. sowie M.A.) und bald darauf parallel Erziehungswissenschaften (M.A.) zu studieren. Beide Studiengänge schloss sie Anfang 2017 ab. Seit 2009/10 ist sie in diversen Erinnerungsinitiativen tätig, u. a. gehört sie dem Vorstand der Gedenkstätte in Neustadt an. Sie verfasst zurzeit eine Dissertation zu Schutzhaftmaßnahmen 1933/34 in der Pfalz. Prof. Dr. Hans Fenske studierte Geschichte, Politische Wissenschaft und Geographie in Tübingen und Freiburg. Er habilitierte sich 1971 in Freiburg (Breisgau) mit der Arbeit „Wahlrecht und Parteiensystem. Ein Beitrag zur deutschen Parteiengeschichte“. Von 1963 bis 1971 war er wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, dann bis Ende 1973 am Auslands- und Dolmetscherinstitut der Universität Mainz in Germersheim, wo er seit 1969 einen Lehrauftrag hatte. Von 1973 bis 1977 lehrte er als Universitätsdozent und danach bis 2001 als Professor an der Universität Freiburg (Breisgau) Neuere Geschichte. Sein Hauptarbeitsgebiet ist die deutsche Geschichte vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1918. Laura Fuhrmann, M.A., studierte Geschichte und Biologie auf Lehramt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2015 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG Schulpädagogik/ Schulforschung am Institut für Erziehungswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dort verfasst
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sie eine Dissertation über das Thema der unterrichtlichen Hausaufgabenpraxis. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die schulische Leistungsbewertung, qualitative Sozialforschung und Ethnografie. Kathrin Kiefer, M.A., studierte die Fächer Geschichte, Theologie und Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die sie im Rahmen eines Doppelstudiums mit dem Master of Arts und dem Master of Education abschloss. Sie war als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Alte Kirchengeschichte und am Zentrum für Bildungs- und Hochschulforschung der JGU Mainz sowie als Tutorin am Arbeitsbereich Zeitgeschichte beschäftigt. Ihre Dissertation verfasst sie zum Thema „Geschwisterbeziehungen in den beiden Weltkriegen“. Dr. Jörg Kreutz studierte Geschichte und Germanistik an der Universität Mannheim. Er wurde dort mit einer Arbeit über „Cosimo Alessandro Collini (1727– 1806) – Ein europäischer Aufklärer am kurpfälzischen Hof“ promoviert. Im Anschluss an sein Studium absolvierte er bei der Landesarchivdirektion BadenWürttemberg eine Ausbildung für den Archivdienst und arbeitete zunächst beim Generallandesarchiv Karlsruhe. Seit 1990 leitet er das Kreisarchiv des RheinNeckar-Kreises in Ladenburg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören neben der (kur)pfälzisch-badischen Landesgeschichte u. a. die Geschichte der frankophonen Periodika im deutschen Südwesten vor 1803, die Geschichte des deutschfranzösischen Kulturtransfers im Ancien Régime (Buchhandel und Verlage) sowie die Geschichte des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in Baden und in der Pfalz. 2011 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. gewählt. Dr. Karlheinz Lipp studierte Geschichte und Evangelische Theologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er wurde mit der Arbeit „Religiöser Sozialismus und Pazifismus. Der Friedenskampf des Bundes der religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik“ an der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Frankfurt am Main promoviert. Er ist Studienrat im Schuldienst, ferner Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedens-und Konfliktforschung sowie Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin, der Technischen Universität Berlin und der Universität der Künste Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Historische Friedensforschung, Religiöser Sozialismus und die Geschichte der Pfalz. PD Dr. Markus Raasch studierte Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Er habilitierte sich mit der Arbeit „Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890)“. Von 2006 bis 2016 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Oberassistent an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zuletzt vertrat er den Lehrstuhl von Prof. Dr. Joachim Scholtyseck in der Abteilung Geschichte der Neuzeit an der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms-Universität Bonn. Zu seinen Forschungs-
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schwerpunkten gehören u. a. Adel, Katholizismus sowie Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen, vor allem Kinder im Krieg. Karl Erhard Schuhmacher, StD i.R., studierte Geschichte und Englisch an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er war Assistent an der Queen Elizabeth Grammar School Barnet und nahm an dem Fachleiterprogramm des German Marshall Fund in Washington D.C. teil. Er war Lehrer am Speyerer HansPurrmann-Gymnasium, außerdem Fachleiter für Englisch am Staatlichen Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Speyer und in der Lehrerfortbildung tätig. Er verfasste zahlreiche Publikationen im Bereich der Literatur und Landeskunde Großbritanniens und der USA sowie einige Aufsätze in der „Pfälzer Heimat“. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die deutsche Auswanderung in die USA sowie der Bezug englischer Königsdynastien zu Deutschland, insbesondere zur Pfalz. Johannes Schweigardt, M.A., studierte Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er war dort als Tutor und Studentische Hilfskraft an der Professur für Vergleichende Landesgeschichte und am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte tätig. Zurzeit verfasst er eine Dissertation zum Thema „Adel und evangelische Kirche zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik“, die einen Schwerpunkt auf die evangelische Landeskirche legt.
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Abbildungen zum Beitrag von Karl Erhard Schuhmacher (S. 13–37)
Heinrich Hilgard-Villard, Speyer (Foto: 2015)
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Abbildungen zum Beitrag von Jörg Kreutz (S. 57–77)
Einladungsplakat des Reichsbanners zur Verfassungsfeier auf dem Hambacher Schloss. (Vorlage: Landeshauptarchiv Koblenz 700/145, Sachakte 269/2)
Titelbild der Festschrift zur Verfassungs-Feier auf dem Hambacher Schloß am 8. und 9. August 1925. Herausgegeben vom Presse-Ausschuß des Reichsbanner Schwarz-RotGold Ortsgruppe Neustadt an der Haardt. Neustadt 1925. (Vorlage: Pfälzische Landesbibliothek Speyer G 31.1106)
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Programm der Verfassungsfeier, in: Festschrift zur Verfassungs-Feier auf dem Hambacher Schloß am 8. und 9. August 1925. Herausgegeben vom Presse-Ausschuß des Reichsbanner Schwarz-RotGold Ortsgruppe Neustadt an der Haardt. Neustadt 1925. (Vorlage: Pfälzische Landesbibliothek Speyer G 31.1106)
Marsch des Reichsbanners am 9. August von Neustadt zum Hambacher Schloss. (Vorlage: Stadtarchiv Ludwigshafen, Fotosammlung)
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Abbildungen zum Beitrag von Michael Braun (S. 155–178)
Das seit seinem Tod im April 1918 unveränderte Zimmer des Soldaten Hubert Rochereau. (Foto: Guillaume Souvant / AFP / Getty Images)
Mit diesem Plakat warb die rechtsnationalistische DNVP bei der Reichstagswahl im Dezember 1924 um Stimmen. (Bundesarchiv Koblenz: Plakat 002-029-031 / Grafiker Hans Schweitzer)
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„Wir sind Weltmeister“ hieß es am Ende der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien im Juli 2014. (Foto: Fabrice Coffrini / AFP / Getty Images)
Der deutsche Kaiser Wilhelm II., um 1902
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Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, um 1912
Das Cover des Begleitbands zur Ausstellung „Heimatfront. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen im Rhein-Neckar-Raum (1914–1924)“. Es zeigt die Granatenfertigung bei den Lederwerken Cornelius Heyl in Worms (Stadtarchiv Worms) und ein Stahlhelm-Motiv von Max Slevogt (Landesbibliothekszentrum/Pfälzische Landesbibliothek Speyer).
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Neustadt liefert seine Glocken ab, 25.7.1917. Am 24.7. hatten sie von 12–1 ihren Abschiedsgruß geläutet. Im Bildvordergrund vor den Glocken: Pfarrer Georg Heinrich Fickeisen, H. Fettig, H. Heintz, H. Stark, H. Koch, H. Jung, Pfarrer Jakob Paul, H. Böckler, H. Walther, H. Waffenschmidt, H. Hammell (v.li.n.re.). (Repro: Zentralarchiv der Ev. Kirche der Pfalz, Abt. 154 Nr. 883)
Anteilschein über fünf Mark zur sechsten Kriegsanleihe, 1917. (Stadtarchiv Mannheim – ISG, Kleine Erwerbungen, 1509K)
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Bundespräsident Joachim Gauck während seiner Danziger Rede am 1. September 2014. (Bildnachweis: Bundesregierung / Sandra Steins)
Das Kyffhäuserdenkmal bei Bad Frankenhausen (Sachsen-Anhalt). (Foto: Heiko Kolbe)
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„Sammelt Laubheu“ (Repro: Stadtarchiv Worms)
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Michael Dreyer / Andreas Braune (Hg.)
Weimar als Herausforderung Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert
Weimarer Schriften zur republik – band 1 die herauSgeber Michael Dreyer ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der FriedrichSchillerUniversität Jena, Vorstandsvorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik. Andreas Braune ist Politikwis senschaftler und stellvertreten der Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der FriedrichSchillerUniversität Jena.
Die deutsche Demokratie steht im 21. Jahrhundert vor neuen und vielfältigen Herausforderungen: Sinkende Wahlbeteiligung und steigende Politikverdrossenheit, neue Parteien und Protest bewegungen (zum Teil mit sehr alten Ideen), Terror in der Welt und die Rückkehr des Krieges nach Europa, soziale Ungleich gewichte in Europa und in Deutschland – die Liste ließe sich verlängern. Soll ausgerechnet die Weimarer Republik, die „überforderte Republik“ (Ursula Büttner), Antworten auf diese Fragen parat haben? Mit dem näher rückenden Zentenarium der ersten deut schen Demokratie untersuchen die Autorinnen und Autoren, welche Herausforderungen „Weimar“ heute an Wissenschaft und museale Vermittlung, an politische Bildung und politische Praxis stellt – und wie „Weimar“ helfen kann, unsere Demokratie heute zu beleben. mit beiträgen von Heiko Maas, Alexander Gallus, Andreas Braune, Marcus Llanque, Tim B. Müller, Ursula Büttner, Detlef Lehnert, Christoph Gusy, Franz Josef Düwell, Walter Mühlhausen, Torsten Oppelland, Martin Sabrow, Arnulf Scriba, Alf Rößner, Thomas Schleper, Stephan Zänker, Christian Faludi, Moritz Kilger, Michael Dreyer
2016 XVI, 310 Seiten mit 11 s/w-Fotos, 10 s/w-Abbildungen und 3 Tabellen 978-3-515-11591-9 kart. 978-3-515-11592-6 e-book
Hier bestellen: www.steiner-verlag.de
Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.)
Republikanischer Alltag Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität
Weimarer schriften zur republik - band 2 die herausgeber Andreas Braune ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Michael Dreyer ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Vorstandsvorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik.
2017 XVIII, 353 Seiten mit s/w-4 Fotos, 4 s/w-Abbildungen und 3 Tabellen 978-3-515-11952-8 kart. 978-3-515-11954-2 e-book
Die Jahre von 1918/19 bis 1933 sind eine turbulente Zeit in der deutschen Geschichte. Zwischen Putschversuchen und Wirtschaftskrisen, Straßenkämpfen und einem „Staatsstreich auf Raten“ kannte die Weimarer Republik nur eine kurze Phase der Stabilität. Für die Zeitgenossen war sie aber das politische System, das das Kaiserreich abgelöst hatte und nun das politische und gesellschaftliche Leben der Bürgerinnen und Bürger prägte – und zwar vermeintlich auf Dauer. Überall deuteten sich ein neues republikanisches Selbstverständnis, neue demokratische Spielregeln und Handlungsformen an. Die Republik wurde mehr und mehr zur Normalität. Einen selbstverständlichen und unangefochtenen republikanischen Alltag gab es in der Weimarer Republik jedoch nicht. „Weimar“ war eine Transformationsgesellschaft, die nach dem Alltag der Republik suchte und um ihn rang. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes bieten mit den hier vereinten aktuellen Forschungen ein Kaleidoskop der Normalitäten, mit allen Anfeindungen und Erfolgen, die die Weimarer Republik kennzeichneten. mit beiträgen von Marcel Böhles, Andreas Braune & Michael Dreyer, Albert Dikovich, Sebastian Elsbach, Christian Faludi, Reiner Fenske, Anne Gnausch, Oded Heilbronner, Dominik Herzner, Florian Heßdörfer, Friederike Höhn, Volker Köhler, Paul Köppen, Daniel Münzner, Ronny Noak, Martin Platt, Sebastian Schäfer, Antonia Schilling, Rebecca Schröder, Thomas Schubert, Alexander Wierzock, Verena Wirtz
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Thomas Höpel / Hannes Siegrist (Hg.)
Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert
europäische geschichte in Quellen und essays – band 3 die herausgeber Thomas Höpel ist Historiker und außerplanmäßiger Professor am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Leipzig. Er forscht und lehrt zur vergleichenden europäischen Geschichte. Hannes Siegrist ist Historiker und Sozialwissenschaftler. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er als Professor für vergleichende europäische Kultur- und Gesellschaftsgeschichte am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig.
2017 270 Seiten mit 10 Farb- und 5 s/w-Abbildungen 978-3-515-11933-7 kart. 978-3-515-11935-1 e-book
Die Entwicklung der Künste war in den letzten zwei Jahrhunderten von Prozessen der Nationalisierung, Internationalisierung und Transnationalisierung und den daraus entstandenen Spannungen geprägt. Diese Wechselwirkungen von Kunst, Politik und Gesellschaft in der Moderne untersuchen die Autorinnen und Autoren in diesem Band. Anhand ausgewählter Quellen setzen sie dabei die Geschichte der Herstellung, Vermittlung, Rezeption und Nutzung künstlerischer Werke in Bezug zur Geschichte der europäischen Gesellschaften sowie der politischen und wirtschaftlichen Systeme. Ihr Fokus liegt auf grenzüberschreitenden Austauschprozessen und Beziehungen. Der als Studien- und Lehrbuch konzipierte Band gliedert sich in drei Teile. Teil eins befasst sich mit der Rolle der Kunst in der bürgerlichen Öffentlichkeit und mit der Entwicklung des Kunstmarktes. Teil zwei analysiert die Funktionen von Kultur, Kunst und Künstlern in verschiedenen politischen Systemen und im Spannungsfeld zwischen der Nationalisierung und Internationalisierung kultureller Beziehungen. Teil drei thematisiert das Verhältnis von Kunst, Architektur und Stadtentwicklung in Europa. mit beiträgen von Jürgen Osterhammel, Joachim Eibach, Sven Oliver Müller, Tobias Becker, Gabriele B. Clemens, Axel Körner, Bertrand Tillier, Rüdiger vom Bruch, Thomas Höpel, Falk-Thoralf Günther, Helmut Peitsch, Hannes Siegrist, Isabella Löhr, Eckhart Gillen, Jeannine Harder, Anne-Marie Pailhès, Martin Schieder, Eli Rubin, Daniel Habit
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Das Erbe des Hambacher Festes von 1832 verpflichtet. Die europäische Einigung, eine dauerhafte Friedenssicherung und eine gerechte Sozialordnung sind nicht die Ergebnisse eines abgeschlossenen historischen Prozesses: Daran zu erinnern und für diese Werte einzutreten, sind die zentralen Grundsätze der Hambach-Gesellschaft. Das Hambach-Jahrbuch spielt dabei eine wichtige Rolle. Es sieht sich ausdrücklich dem Dreiklang von Rekonstruktion, Gedenken und konstruktiver Debattenkultur verpflichtet und ist damit eine historische Fachzeitschrift eigener Art.
In der Rubrik Aufsätze versammelt diese Ausgabe fünf Beiträge, die einen weiten Bogen spannen: vom aus der Pfalz stammenden Eisenbahnmagnaten Henry Villard über die schwierige Rolle der Friedenspädagogik vor 1914 und die Verfassungsfeier des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold auf dem Hambacher Schloss im Jahre 1925 bis zu Frankenthaler Schulen im Nationalsozialismus und der Bedeutung des Konzentrationslagers Neustadt a. d. Haardt. In der Rubrik Forum wird eine alternative Bismarckinterpretation angeboten und die Erinnerungskonjunktur des Ersten Weltkrieges einer eingehenden Betrachtung unterzogen.
ISBN 978-3-515-12029-6
9
7835 1 5 1 20296
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag