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German Pages 330 [332] Year 1999
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
9. Sonderheft
Herausgeber WOLFGANG FRÜHWALD, DIETER LANGEWIESCHE,
Wissenschaftlicher
G E O R G JÄGER,
München; Wien.
ALBERTO MARTINO,
Beirat
Göttingen; ROGER Tübingen; KARL BERTAU, Erlangen; MARTIN BIRCHER, Genf; WOLFGANG BRÜCKNER, Würzburg; WERNER BUSCH, Berlin; HORST DENKLER, Berlin; WOLFRAM FISCHER, Berlin; HANS FROMM, München; HANS NORBERT FÜGEN, Heidelberg; GERALD GILLESPIE, Stanford, California; HERBERT G . GÖPFERT, München; KLAUS GRUBMÜLLER, Göttingen; WOLFGANG HARMS, München; RENATE VON HEYDEBRAND, München; HANSJOACHIM KOPPITZ, Mainz; HELMUT KREUZER, Siegen; EBERHARD LÄMMERT, Berlin; PETER LUNDGREEN, Bielefeld; WOLFGANG MARTENS, München; JAND I R K MÜLLER, München; WALTER MÜLLER-SEIDEL, München; O T T O OEXLE, Göttingen; PAUL RAABE, Halle; FRITZ K . RINGER, Boston, Massachusetts; LUTZ RÖHRICH, Freiburg; PIERRE-PAUL SAGAVE, Paris; N E L L O SAITO, Rom; GERHARD SAUDER, Saarbrücken; RUDOLF SCHENDA, Zürich; J Ö R G SCHÖNERT, Hamburg; ALPHONS SILBERMANN, Köln; FRITZ STERN, New York; PETER STROHSCHNEIDER, Dresden; HORST T H O M £ , Stuttgart; JEAN-MARIE VALENTIN, Paris; WILHELM VOSSKAMP, Köln; ERNST-PETER WIECKENBERG, München; MANFRED W I N D FUHR, Düsseldorf; REINHARD WITTMANN, München; DIETER WUTTKE, Bamberg; BERNHARD ZELLER, Marbach a. N.; HANS ZELLER, Fribourg; WOLFGANG ZORN, München. MAX
L.
München; Tübingen;
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Redaktion Wien; N O E , Wien;
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München; München
MIRJAM STORIM,
ALFRED
Interpretation, Beobachtung, Kommunikation Avancierte Literatur und Kunst im Rahmen von Konstruktivismus, Dekonstruktivismus und Systemtheorie Herausgegeben von Oliver Jahraus und Bernd Scheffer unter Mitarbeit von Nina Ort 9. Sonderheft Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999
IASL erscheint in zwei Halbjahresbänden mit etwa 480 Seiten Umfang insgesamt. IASL veröffentlicht Originalbeiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache. Das Merkblatt zur Manuskriptgestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Mitarbeiter werden ersucht, ihre Manuskripte satzfertig an die Redaktion einzusenden und Änderungen in den Korrekturfahnen nach Möglichkeit zu vermeiden, da der Verlag die durch Autorenkorrektur verursachten Mehrkosten nur in beschränktem Maße trägt. Die Zeitschrift zahlt kein Honorar. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Für die hier veröffentlichten Aufsätze hat § 4 UrhRG Gültigkeit. Rezensionsexemplare
werden an die Redaktionen erbeten.
IASL wird in Current Contents/Arts Index ausgewertet. Anschriften der Prof. Prof. Prof. Prof.
Dr. Dr. Dr. Dr.
& Humanities
und im Arts & Humanities
Citation
Herausgeber
Wolfgang Frühwald, Römerstädter Str. 4k, 86199 Augsburg Georg Jäger, Klenzestr. 26a, 80469 München Dieter Langewiesche, Im Rotbad 9, 72076 Tübingen Alberto Martino, Peter-Jordan-Str. 145/1/5, A-1180 Wien
Redaktionen Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3, D-80799 München Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft Berggasse 11/5, A-1090 Wien Redaktion
des Sonderheftes:
Georg Jäger
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Internationales Archiv für Sozialeeschichte der deutschen Literatur / Sonderheft] Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft. - Tübingen: Niemeyer. Reihe Sonderheft zu: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 9. Interpretation, Beobachtung, Kommunikation. - 1999 Interpretation, Beobachtung, Kommunikation : avancierte Literatur und Kunst im Rahmen von Konstruktivismus, Dekonstruktivismus und Systemtheorie / hrsg. von Oliver Jahraus und Bernd Scheffer unter Mitarb. von Nina Ort. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur : Sonderheft ; 9) ISBN 3-484-64006-5
ISSN 0175-9779
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen una die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: ÄZ Druck und Datentechnik, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
OLIVER JAHRAUS UND BERND SCHEFFER
Vorwort
1
SEBASTIAN GÖRNITZ
Hören - Bearbeiten - Konstruieren? Über Interpretation und Adäquatheit anläßlich von sprechenden, strukturinvarianten oder impliziten Texten
7
MAXIMILIAN G . BURKHART UND ANNE CAROLIN GAISER
»Wenn man schon am Anfang zu stolpern beginnt...« Zu Theorie und Praxis der Dekonstruktion, am Beispiel Jacques Derridas KafkaLektüre Prejuges. Vor dem Gesetz
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ANDREAS ROTHEIMER
Kunst am Nullpunkt? oder Die Auferstehung des Interpreten. Eine systemtheoretisch inspirierte (Re-)Konstruktion von Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse
67
MICHAELA KENKUES
Literarische Avantgarde und paradoxe Kommunikation am Beispiel von Konrad Bayers der köpf des vitus bering
113
CORINNA KREBS
Theorie und Praxis in der Prosa Friederike Mayröckers
131
NINA ORT
Versuch über das Medium: das >was sich zeigt
Import< aus Theologie und Jurisprudenz.
2
Oliver Jahraus und Bernd Scheffer
• Interpretation ist mehr als nur eine, wenn auch zentrale Form literaturwissenschaftlicher Praxis und Theorie: Interpretation überstieg schon immer die eng gezogenen Grenzen einer Wissenschaftsklassifikation von den Geisteswissenschaften in Richtung auf die Sozial- und auch auf die Naturwissenschaften. • Interpretation hat auch immer schon Theorie und Praxis miteinander verbunden, sich dabei aber theoretisch immer selbst als Grundlagenmodell verstanden. Nicht erst die sog. Methodendiskussion der 70er Jahre hat gezeigt, daß eine Interpretationstheorie immer auch Grundlagendiskussion in einer Wissenschaft mit sich bringt, deren Praxis aus Interpretation besteht. • Interpretation war schon immer, bislang in jeder theoretischen Konzeptionalisierung, das zentrale und gleichzeitig höchst problematische, vielfach am meisten krisenbehaftete Theorieelement. • Die Geschichte der Interpretation und ihrer Theorie kann zeigen, daß auch in den großen theoretischen Umwälzungen dieses Jahrhunderts, die man mit den Begriffen Psychoanalyse und Strukturalismus benennen kann, Interpretation immer Hauptakteur war, wenn auch in den unterschiedlichsten Verkleidungen und nicht immer auf Anhieb zu erkennen. Unsere Diskussion setzte eigentlich erst dort ein, wo diese Geschichte weitergeht: Mit neueren und neuesten Theorieentwicklungen, wie sie insbesondere unter die Kennzeichnungen von Dekonstruktion, Konstruktivismus und Systemtheorie fallen, ist die Interpretation keineswegs aus dem Blickpunkt verschwunden. Im Gegenteil: Auch wenn die genannten Theorien nicht immer als Interpretationstheorien aufgetreten sind, sie haben doch Standards mit sich gebracht, unter denen Interpretation heute innovativ, jedoch ohne die historisch tradierten Problemtradition abzuschneiden, und unter wesentlich verschärften und wesentlich fundamentaleren Fragestellungen wiederum auf die Tagesordnung gestellt wurden. Bei der Entwicklung und Systematisierung unserer Positionen haben wir eine eigentümliche Erfahrung gemacht. Obschon als allgemein formuliertes Ziel zunächst nur vorgegeben war, zu einer Theorie der Interpretation beizutragen und eine entsprechende Interpretationspraxis im Horizont einer über die Literaturwissenschaft hinausgehenden Medienwissenschaft exemplarisch anzuregen, mußten wir feststellen, daß unsere Meinungen zu dem weit gespannten Thema Interpretation sich um eine relativ geringe Anzahl von Schwerpunktsetzungen herum in einem engen, gemeinsamen konzeptionellen Rahmen entlang weniger Diskussionsstränge gruppierten. Diese Schwerpunktsetzungen stehen in unmittelbaren Zusammenhang mit dem heutigen Theorie-
Vorwort
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und Diskussionsstand, auf den die Beiträger unterschiedlich zwar, aber auch mit vielen Gemeinsamkeiten und Überschneidungen zurückgegriffen haben. Sie verweisen auf folgende Vorgaben, die wir in einer Liste zusammengefaßt haben. Alle Beiträger, wenn auch je mit spezifischer Gewichtung, sind diesen Vorgaben gefolgt, auch wenn wir im folgenden nur einschlägige Beispiele herausgreifen. Wir schätzen daher insgesamt diese Vorgaben als richtungsweisende Forschungsperspektiven ein: • In der Konzeptionalisierung von Interpretation treffen sich die neueren Theorieentwicklungen aus den genannten und derzeit bedeutsamen Theoriearchitekturen von Dekonstruktion, Konstruktivismus und Systemtheorie gerade deswegen, weil sie die Möglichkeit bieten, alte Problembestände in völlig neuem Licht zu sehen und zu bewerten. Der eigentliche Grund dürfte in der radikalen und folgenschweren Umstellung basaler Theorieprinzipien liegen; die Umstellung von der Identität auf Differenz mit all ihren logischen Implikationen liefert dafür das erste Schlagwort. Interpretationstheoretisch hat das weitreichende Konsequenzen: Insbesondere hat das Moment der Krise seinen Schrecken verloren und kann mit Hilfe dieser Architekturen produktiv genutzt werden. Operativ wird dies vor allem im Umgang mit Paradoxien und Unentscheidbarkeiten deutlich, wie es in nahezu allen Beiträgen, explizit bei Michaela Kenklies oder Nina Ort angesprochen wird. Wo für den intendierten Interpretationsbegriff genau jene Begründungsebenen, die diese Theorien einzunehmen versuchen, unmittelbar relevant werden, zeigt es sich, daß der Interpretationsbegriff nur als Fundamentalbegriff überhaupt zu fassen ist. Daß die Beiträge hierbei bewußt auf konzeptionelle Aporien zusteuern, ist bis in einzelne Formulierungen hinein nachzuverfolgen, wenn z.B. von der »primordialen Zweitlosigkeit«, vom »Raum jenseits der Differenz« oder der »Abwesenheit aller Differenz« die Rede ist. Es geht allen Beiträgen darum, mit der Konzeption von Interpretation in kommunikative und kognitive Bereiche vorzustoßen, die sich durch ihre Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit definieren, und dieses kommunikationsbrechende Paradox - ablesbar an den zahlreichen Raummetaphern - dennoch zu kommunizieren. - Daß sich damit wiederum Impulse für die Ausarbeitung dieser Grundlagentheorien ergeben können, steht außer Frage. • Diese Fundamentalisierung des Konzepts von Interpretation zeigt ganz deutlich, daß nicht die wissenschaftliche Praxis Interpretation begründet, sondern umgekehrt das Konzept von Interpretation die Form ihrer Praxis konstituiert und legitimiert. Diese Umkehrung der Begründungsrichtung ist eine Konsequenz aus der Fundamentalisierung, die die Interpretation aus ihrem philologischen Refugium auf die Ebene ihrer kognitiven und kom-
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Oliver Jahraus und Bernd Scheffer
munikativen, psychischen und sozialen Dimensionen ausdehnt und zu einem philologischen, philosophischen oder soziologischen Grundlagenmodell macht. • So argumentiert Bernd Scheffer, daß angesichts der damit einhergehenden radikalisierten Begründungsproblematik die interne Ausdifferenzierung des Interpretationskonzepts neuartige Verhältnisbestimmungen zwischen Analyse und Interpretation erfordert, die sich gleichermaßen auf das Verhältnis von Wissenschaft und Essayismus als Formen der Interpretationspraxis auswirken müssen. Weil sich Interpretation nicht mehr ausschließlich analytisch begründen lassen kann, plädiert er aus konstruktivistischer Perspektive für eine essayistische Interpretationspraxis. Gängige interpretationskonstitutive Differenzierungen zwischen Analyse und Interpretation, zwischen Wissenschaft und Essay (besonders im Beitrag von Bernd Scheffer) und zwischen einer >symbolischem und einer >sozialen Orientierung< von Interpretation (besonders im Beitrag von Oliver Jahraus) werden damit unterlaufen. • In dieselbe Kerbe schlägt Rainer Topitsch mit seinem Beitrag: Die von Lichtenberg initiierte Beobachtungsform rekonstruiert er als eine Interpretationspraxis, die ihren Blick auf das von der Wissenschaft Ausgeschlossene richtet und gegenüber den Verdrängungsmechanismen der Wissenschaft essayistisch-subversiv beobachtet. Auch Sebastian Görnitz greift dieses Verhältnis von Analyse und Interpretation auf, indem er es methodengeschichtlich von der Gadamerschen Hermeneutik (die er als präkonstruktivistisch charakterisiert) über den Strukturalismus bis hin zum Konstruktivismus rekonstruiert. Er plädiert allerdings auf dieser Basis für ein Kooperationsmodell von Analyse und Interpretation. • Vor allem werden Denkfiguren der Unhintergehbarkeit und Uneinholbarkeit relevant. So fließt aus dem Konstruktivismus der Gedanke der Unhintergehbarkeit kognitiver Prozesse ein, der sich mit dem systemtheoretisch entworfenen Zusammenspiel kognitiver und kommunikativer Prozesse verbindet, was wiederum eine symptomatische Parallele im dekonstruktivistischen Gedanken der absoluten und uneinholbaren Differentialität (difference) findet. Die Unhintergehbarkeit der Interpretation im Sinne der differance wird im Beitrag von Burkhart/Gaiser mit der Relektüre von Derridas Kafkas-Lektüre demonstriert und im Beitrag von Oliver Jahraus vor dem Hintergrund literaturwissenschaftlicher Theoriebildung im methodengeschichtlichen Überblick thematisiert. • Damit verbunden ist, wenn auch in den einzelnen Beiträgen unterschiedlich stark ausgeprägt, zumindest ein Ausblick auf Beobachtungskonzepte, auf
Vorwort
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Sinn-, Medien- und Zeichen-Konzepte, die wiederum mit Konzepten von Kommunikation, Gesellschaft, Kunst und Wirklichkeit einhergehen. Insbesondere beleuchtet diesen Zusammenhang der Beitrag von Andreas Rotheimer: er blendet von der problematischen Interpretation auf die kommunikativen Bedingungen von Kunst in der Gesellschaft über, indem er das Verhalten der Mäuse zu Josefines Gesang in Kafkas Erzählung als Paradigma von Interpretation nimmt. Er folgt damit einer Strategie, der schon Derrida mit seiner Kafka-Lektüre (Prejuges. Vor dem Gesetz) gefolgt ist: Kafka nicht zu interpretieren, sondern die Geschichte selbst als Interpretation zu lesen, um gerade durch diesen Ebenenüberstieg die in den Geschichten involvierten Interpretationsaporien offenzulegen. Der Beitrag von Burkhart/Gaiser fügt diesem Verfahren eine weitere Ebene an, indem sie Derridas Kafka-Lektüre noch einmal lesen, um somit die Bedingungen von Dekonstruktion als aporetischer Interpretation in praxi zu beleuchten. • In jedem Fall aber wandelt sich der Interpretationsbegriff von einem unimedialen Verfahrensmodell zu einem inter- oder transmedialen Fundierungsbegriff, ohne die verfahrenstechnischen Implikationen aus dem Blick zu verlieren. Von der Literatur ausgehend, gibt es eine doppelte Erweiterung: vom Literaturmedium auf Medien allgemein und von der Literatur als Kunst auf Kunst insgesamt. So versucht vor allem der Beitrag von Oliver Jahraus, den Interpretationsbegriff auf kognitiv-kommunikativer Ebene an einen entsprechenden Medienbegriff zu binden, der es erlaubt, Interpretation als medienbasiertes Operieren in der Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation zu verstehen. Diese Bemühungen werden von den Überlegungen von Nina Ort flankiert, die versucht, gerade im Rückgriff auf die Mystik den Medienbegriff jenseits seiner kommunikativen Erfaßbarkeit in den Griff zu bekommen. • Bedeutsam werden die hier skizzierten Aspekte der Diskussion gerade auch dort, wo es gelingt, die gängigen und leitenden Differenzen traditioneller Interpretationsbegriffe noch einmal zu verarbeiten, zu unterlaufen oder zu überwinden. Gerade an den literaturbezogenen Beiträgen von Michaela Kenklies zu Konrad Bayer und Corinna Krebs zu Friederike Mayröcker wird deutlich, daß insbesondere avancierte Literatur Interpretation nur noch in der Form zuläßt, daß der Text eine Interpretation der eigenen Interpretationsverweigerung zuläßt. So steht bei Kenklies der immanente Zusammenhang von moderner literarischer Nachkriegs-Avantgarde und paradoxer Kommunikation und bei Krebs das durch den Mayröcker-Text selbst als aporetisch entfaltete Verhältnis von Theorie und Praxis des Textes und der Interpretation im Mittelpunkt des Interesses.
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Oliver Jahraus und Bernd Scheffer
Schon an dieser kleineren Parteiung wird ersichtlich, daß sich insgesamt ein Diskussionsfeld eröffnet hat, das im Grunde genommen von zwei konkurrierenden, aber immer auch diskussionsfähigen Alternativen dominiert wird: Es stehen sich grundsätzlich Positionen gegenüber, die Interpretation als Wissenschaft in Frage stellen oder an ihr festhalten. Wo man auf der einen Seite die Aporien des fundamentalen Interpretationskonzepts zum Anlaß nimmt, eine gänzlich andere Interpretationspraxis ins Auge zu fassen, begreift man auf der anderen Seite Paradoxien und Aporien als Bedingung der Möglichkeit von Interpretation überhaupt. Man hebt hier auf die psychische Indeterminierbarkeit der Interpretation ab, die bestenfalls sozial reglementiert werden kann, und geht dort von der zumindest ansatzweise psychischen Determinierbarkeit aus, wo man zugleich soziale Spielräume zugesteht. So sind die Positionen entweder analyseorientiert oder aber interpretationsorientiert; sie lassen in der Interpretation Objekt- und Metaebene konvergieren, oder sie versuchen, durch weitere Beobachtungsebenen strikt zu trennen. Die einen plädieren für einen Essayismus, die anderen für eine Wissenschaft der Interpretation. Und das interessanteste Ergebnis dabei ist: Es stehen sich nicht radikalere und weniger radikale Positionen gegenüber, sondern unterschiedliche Formen von Radikalität, selbst mit den Beiträgen der beiden Herausgeber: Beide nutzen Aporien und Paradoxien des Interpretationskonzeptes produktiv für eine Neukonzeptionalisierung des Interpretationsbegriffs. Und jede Seite ist auf die andere Seite angewiesen, gibt sie ihr doch erst die notwendige Kontur.
Die Herausgeber danken Herrn Prof. Dr. Georg Jäger, München, der die Publikation dieses Bandes maßgeblich unterstützt und in die Wege geleitet hat. Unser Dank geht auch an die Autorinnen und Autoren für den Beitrag, den sie über ihren jeweiligen Aufsatz hinaus in das Gesamtprojekt investiert haben; er geht insbesondere auch an Sebastian Görnitz und Stephan Kling für ihre redaktionellen Mühen und Hilfeleistungen. Und nicht zuletzt danken wir Nina Ort für ihre unverzichtbare Mitarbeit an diesem Band.
SEBASTIAN GÖRNITZ
Hören - Bearbeiten - Konstruieren? Über Interpretation und Adäquatheit anläßlich von sprechenden, strukturinvarianten oder impliziten Texten
Ausgehend von der Diskussion verschiedener literaturtheoretischer Ansätze soll in diesem Beitrag gezeigt werden, daß eine rein hermeneutische Position in bezug auf Interpretationen keine ausreichende Bestimmung der Frage nach Adäquatheit liefert und daß zugleich eine konsequente Weiterführung hermeneutischer Modelle in einer konstruktivistischen Theoriebildung mündet. Hinsichtlich der Adäquatheitsfrage bietet eine strukturalistische Theorie Lösungspotential, vorausgesetzt, daß sie die eigenen Defizite und Bedingtheiten herausstellt, was auf einer konstruktivistischen Grundlage geschehen kann. Umgekehrt kommt auch ein konstruktivistisches Paradigma aufgrund seiner eigenen Verfaßtheit nicht umhin, die Operationalität eines struktural-hermeneutischen Modells anzuerkennen und es entsprechend der Teilung Standdard-Beobachtung - Individual-Beobachtung im eigenen Paradigma zu integrieren. Der Beitrag verhandelt also die Möglichkeit und Notwendigkeit eines struktural-hermeneutischen Kooperationsmodells auf einer konstruktivistischen Grundlage.
1.
Zum Rahmen des Darstellungsgegenstandes
Der Frage nach der sog. Adäquatheit ist wohl nicht zu entkommen, wenn es um Interpretation oder um Fragen von Interpretation geht. Diese Frage spiegelt die Verhältnisbestimmung zweier >ObjekteObjekten< (und als solche sind auch Literaturtheorien letztlich anzusehen) zu verstehen, was - selbst wiederum als Aussage formuliert - wenig Sinn machen würde. Wie allerdings dieses Verhältnis zwischen interpretiertem >Objekt< und >Interpretat< näher gefaßt werden sollte bzw. wie weit die Adäquatheitsfrage heute noch getrieben werden kann, ist damit noch völlig offen und Gegenstand nachfolgender Überlegungen. Die Beantwortung hängt davon ab, in welcher Hinsicht von >dem Erfassen eines Objekts< gesprochen werden muß oder anders gesagt: was als der bestimmende Faktor von Interpretation auszuweisen ist. Eine sinnvolle Möglichkeit, dies zu diskutieren, besteht darin, innerhalb der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Theoriebildung ein möglichst breites Spektrum an Vorschlägen eben hinsichtlich dessen zu untersuchen, was jeweils der bestimmende Faktor von Interpretation sei und unter welchen Voraussetzungen demnach Interpretation betrieben werden solle. Die spannungsreichste, gegensätzlichste und in diesem Sinne breiteste Konstellation scheint durch Vorschläge hermeneutischer, strukturalistischer und konstruktivistischer Ansätze gegeben. Sie besteht zum einen hinsichtlich des >AktivitätsPassivitätsgrades Beschaffenheit des auszulegenden Gegenstandes. Eine solche Klassifikation setzt voraus, daß es aufgrund der gegenwärtigen literaturtheoretischen Debatte keine (>emstzunehmendenicht-literarischen< Äußerungen das Interpretationsproblem stellen 3 Damit wird nicht die Berechtigung verneint, das »Sozialsystem« Literatur (Meyer/Ort 1990) empirisch zu untersuchen. Es disqualifiziert aber jede Tendenz, dies als den ausschließlichen literatur-theoretischen Untersuchungsgegenstand gegenüber dem »Symbol-« oder »Textsystem« Literatur (ebd.) gelten zu lassen: es handelt sich nur um eine Verlagerung einer auf der basalen Ebene immer vorhandenen »Subjekt-Objekt-Konfundierung« (Groeben 1982, S. 39) - ein Problem, das ja auch von empirischer Seite immer wieder thematisiert wird. 4 Auch ein dekonstruktivistischer Textbegriff läßt sich - nicht nur aus einer konstruktivistischen Sichts - durchaus in dem hier eröffneten Spektrum ansiedeln: das Formulieren eines >entgrenzten Textbegriffs< spiegelt doch wohl die Vorgängigkeit des Interpretationsgegenstandes wieder. Der entgrenzte Text, genauer: die »Spur«, die »differance« (vgl. Derrida 1983) etc. wird als der determinierende Faktor von Interpretation beschrieben, und das ist, abgesehen von der Füllung, eine eher hermeneutische Ansichtß Den drei ausgewählten methodischen Richtungen sind in der Überschrift dieses Beitrags jeweils bestimmte inhaltliche Füllungen hinsichtlich der beiden Kategorien Text und Autor zugeordnet. Diese Zuweisungen sind aber noch nicht apodiktisch zu verstehen: zumindest das Attribut >Hören< kann als Stan-
2 3 4 5 6
Maßstab. Bei Schmidt 1988, S. 146ff., ist die Frage nach dem Autor entsprechend »konsequent empirisiert« (S. 148). Vgl. z.B. Schmidt 1988, S. 144 oder Groeben 1982, S. 32f. Vgl. entsprechend auch Jäger 1994, S. 125. So z.B. Schmidt 1993, S. 3 1 5 f f . Anders allerdings Schmidt 1982, S. 9f., 14 vs. 20f. Vgl. hierzu z.B. Schmidt 1988, S. 151f. Zu einer Kritik am dekonstruktivistischen Verfahren vgl. aus hermeneutischer Sicht Figal 1996, S. 12; ähnlich aus strukturalistischer Sicht implizit Titzmann 1977, S . 4 3 : »Jede Beschreibung einer Veränderung setzt [...] ein übergeordnetes System voraus, das invariant bleibt [...]«. - Anders sieht dies Derrida (z.B. 1983) selbst, vgl. auch Engelmann 1990, S. 31.
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Sebastian
Görnitz
dard-Beschreibung einer hermeneutischen Rezeptionsvorstellung problematisiert werden, da diese innerhalb hermeneutischer Ansätze so gut wie nie konsequent durchgehalten wird. Dies läßt sich bei H.-G. Gadamers Konzeption exemplarisch diskutieren. - Das konstruktivistische Attribut >impliziter Text< ist an die Denkfigur eines >impliziten Lesers< (bzw. >Autorsreal vorkommendem Größe. Ein impliziter Text soll entsprechend etwas sein wie das Korrelat eines > realen Textesontologischenrealem Texte niemals (zumindest eindeutig/mit Sicherheit) >erreiche werden können. - Im Gegensatz zu älteren Positionen des Strukturalismus, auf die möglicherweise >Beschreiben< oder gar >Entnehmen< (und dann >OrdnenBearbeiten< - womit das Bewußtsein von der Vorgängigkeit eines methodischen Apparates bei der Textanalyse assoziiert werden soll - in Übereinstimmung mit der erkenntnistheoretischen Grundlage der etwas neueren Theoriebildung.
2.
Zum Vorgehen
Wenn die Qualität des Gegenstandes Text und die damit verbundene Frage nach Adäquatheit und Wissenschaft innerhalb der verschiedenen Ansätze im folgenden bestimmt wird, ist klar, daß die Behandlung dieses inhaltlichen Problems in einem strengen Sinn schon uneinholbar jedem Entwurf voraus liegt: Erstens geht der Bestimmung dessen, was adäquat sein soll, eine Bestimmung voran, anhand der die Adäquatheit der Bestimmung des Adäquaten letztlich überprüft wird. Zweitens kann eine Darstellung der verschiedenen Methoden selbst nur methodischer Art und damit kontingent sein. Dabei dürfte aber gerade diese Interdependenz zwischen Methodendarstellung und methodischem Darstellen das Ergebnis dieses Darstellens beeinflussen. - Nun teilen bekanntermaßen alle Wissenschaften dieses Problem. Beispielsweise ist in der Physik (als derjenigen Wissenschaft, deren Gegenstandsbereich für alle Naturwissenschaften Geltung hat, wodurch ihr in diesem Sinne Universalität zugesprochen
7
Vgl. zu beidem z.B. Link 1980.
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werden kann) der Unterschied zwischen Gesetz und Anfangsbedingung seit Newton konstitutiv. Anfangsbedingungen haben aber nur dann einen Sinn, wenn sie als kontingent verstanden werden können. Selbst in der universaldeterministischen Interpretation der Quantenphysik von Böhm verbleibt die einzige Anfangsbedingung kontingent. Indem für die Quantentheorie ein Subjekt als Beobachter konstitutiv ist, zugleich aber der Beobachter nicht im selben Moment beobachten und beobachtetes Element des Systems sein kann, als dessen Teil er jedoch gelten muß, wird deutlich, daß er das Beobachtete (also das System und/oder sich selber) durch seine Beobachtung verändert. Auch naturwissenschaftliche Ergebnisse und Theoriebildung können immer nur approximativ sein, da die meisten möglichen Beobachtungen über Systemzustände immer in der Zukunft liegen werden und somit heute unbekannt sind.» In den Geisteswissenschaften sind die Probleme vergleichbar, allerdings sind dort die Validitätskriterien, an die Beobachtungen geknüpft werden, in der Regel weniger >strengberechtigt anzusehen sind, wenn sie möglichst gut funktionieren: sie müssen anwendbar, in sich (relativ) konsistent und nicht (ohne weiteres) falsifizierbar sein. Begrüßenswert ist eine Theorie, die ihre eigenen Prämissen schon im Akt der Theoriebildung gleichsam performativ zur Diskussion stellen kann. Die folgende Diskussion beginnt mit einer kurzen Besprechung von Gadamers Hermeneutik in Wahrheit und Methode. Die Vorschläge Gadamers sollen dahingehend inventarisiert werden, daß deutlich wird, wie bei ihm die Relation Text-Leser bestimmt wird, was theorieimmanente wie allgemein erkenntnistheoretische Probleme offenbart. Als deren Lösung wird vorgeschlagen, daß Gadamer in seinem Hauptwerk eine Art Frühkonstruktivismus (freilich naiver, da nicht reflektierter Art) entwirft. Wenn aber Gadamers Hermeneutik als Frühkonstruktivismus interpretiert wird, muß damit zugleich ein Bestimmungsversuch eines eigentlichen hermeneutischen Paradigmas geliefert werden, wozu auch andere Konzepte wenigstens kursorisch zu berücksichtigen
8
Vgl. z.B. Th. Görnitz 1995 sowie 1996 oder Scheibe 1986 o. 1993. Darüber hinaus scheint es sehr plausibel, daß eine naturwissenschaftliche Universaltheorie eine Kosmologie als den »Endpunkt« ihrer Universalität notwendig macht. Gleichzeitig kann aber Kosmologie selbst nicht mehr Gegenstand einer empirischen Wissenschaft sein, da allgemeine Gesetze nur über allgemeine Phänomene und nicht über ein singuläres Phänomen (wie es die Kosmologie notwendigerweise zum Gegenstand hat) aufgestellt werden können. Sofern sich Geisteswissenschaften eher mit singulären Phänomenen beschäftigen, kann hierin (wie in der Beobachtergebundenheit von Theoriebildung) eine Art Annäherung zwischen den beiden Bereichen hinsichtlich der Prämissen der Theoriebildung behauptet werden.
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Sebastian
Görnitz
sind. Daß aber (unter anderem) Gadamers Theorie eine solche Problemanzeige ermöglicht, legt wiederum nahe, daß konstruktivistische Text-Wahrnehmung auch schon einer hermeneutischen Seite gleichsam immer schon >plausibel< war, auch wenn sie immer anders >verstandenverstehendem Hermeneutik - die Applikation - bleibt aber auch dann unaufgebbarer Bestandteil eines literaturtheoretischen Baukastens. Im Anschluß wird eine Spezifizierung des Interpretationsbegriffs vorgeschlagen, die sich aus dem ungelösten Adäquatheitsproblem ergibt. In der Linie vorangegangener Überlegungen und Modelle sollten Interpretationen auf sog. Standard-Beobachtungen aufbauen, was zu einer Differenzierung in die Bereiche Analyse und Interpretation führt. Als operabelstes Analyseverfahren wird der (neuere) Strukturalismus angesehen. Durch diese Differenzierung sollen im Bereich der Analyse allgemein nachvollziehbare Ergebnisse anläßlich von Texten erbracht werden, wodurch Adäquatheitskriterien an die Hand gegeben sind und ein Nachvollzug des daran anschließenden Interpretats (eher) ermöglicht ist - Bedingungen, um die wissenschaftliches Interpretieren schwerlich umhin kann. Durch eine solche Kooperation von Analyse und Interpretation wird aber der Anspruch auf Vollständigkeit, der mit einem >orthodoxen< strukturalistischen Paradigma in der Regel (so z.B. bei Titzmann) verknüpft ist, aufgegeben, was entsprechend begründet werden muß. Hierfür lassen sich sowohl Argumente anführen, die im strukturalistischen Paradigma selbst angelegt sind, als auch solche, die eher von außen kommen. Geht man von einem konstruktivistischen Textbegriff aus, ist es äußerst umstritten, ob eine analytische Operationsebene überhaupt gerechtfertigt werden kann.io Indem hier (ähnlich wie z.B. Groeben 1982) behauptet wird, daß auf eine Analyseebene nicht verzichtet werden darf, müßte begründet werden, daß bzw. worin relevante Unterschiede zwischen Analyse und Interpretation bestehen. Dies scheint erkenntnistheoretisch nur auf einer operationalen Folgeebene der Textwahrnehmung möglich, dort allerdings mit guten Gründen. Literaturtheoretisch gewendet bedeutet dies: ein strukturalistisches Verfahren muß innerhalb einer konstruktivi-
9 In Anlehnung an Scheffer 1992. 10 So z.B. von Glasersfeld, 1993, Schmidt, 1993 - anders explizit Groeben, 1982.
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stischen Erkenntnistheorie anwendbar sein bzw. diese Anwendung muß sich mit (einer gewissen) Notwendigkeit ergeben. Diesen Ermöglichungsgrund stellt die erkenntnistheoretische Nähe von Konstruktivismus und Strukturalismus dar.n Die Notwendigkeit kann in eher >taktischen< Gründen einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie gesehen werden: sich der Relevanz einer solchen Unterscheidung zu verweigern, würde einen Radikalitätsanspruch mit sich bringen, der den Akt der eigenen Theoriebildung fragwürdig machen könnte, zumindest aber den Anspruch auf operationale Plausibilität einbüßt.
3. Gadamers »Frühkonstruktivismus« Gadamers Ansatz in Wahrheit und Methode12 darzustellen, könnte zu der Überlegung nötigen, daß er nur angemessen mittels eines Verfahrens beschrieben werden kann, das der von ihm geforderten Methode entspricht, da seine Hermeneutik einen universalen (S. XIX) Anspruch erhebt und seine methodologische Grundlegung des Verstehensprozesses in Anlehnung an Heidegger als unhintergehbar (vgl. S. XVIII, 246ff.) beschrieben wird. Dies sollte man aber schon von daher ablehnen, da hier unausweichlich vorausgesetzt werden müßte, was herausbekommen werden soll. Überdies stellt sich die Frage, ob es von der Grundtendenz in Wahrheit und Methode her überhaupt die Möglichkeit zu einer kritischen Darstellung von Gadamers Ansatz geben kann, da er wohl holistisch, sozusagen >auf Verstehen hin< gelesen werden müßte. Dies bedürfte aber einer weitergehenden Untersuchung, da nicht ganz klar ist, ob Gadamer Kunstwerken (nicht doch) einen anderen Wahrheitsgehalt als philosophischen Werken zuspricht. - Gadamer selbst behauptet jedenfalls, daß die hermeneutische Aufgabe »von selbst in eine sachliche Fragestellung« (S. 253) übergehe. Wie ist eine solche Eigendynamik zu begründen? Verstehen ist für Gadamer kein Akt »psychische[r] Transposition« (S. 372) wie s.E. in der romantischen Hermeneutik, sondern es ist vielmehr der »ursprüngliche Seinscharakter des menschlichen Lebens selber« (S.246). Es ist damit an die Kategorien der »Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit« (S. 241) gebunden, also immer relativ in bezug auf eine Objektswahrnehmung. Aus dieser Perspektivität folgt aber für Gadamer (wie schon für Heidegger) keineswegs,
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Meyer/Ort 1990, S . 2 und 4 sprechen hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Grundlagen von einem »integrativen Paradigma«, welches Strukturalismus, Funktionalismus und allgemeine Systemtheorie gemeinsam besetzen. Gadamer 1965. Alle Zitate ohne nähere Literaturangabe beziehen sich in diesem Kapitel auf dieses Werk.
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Sebastian
Görnitz
daß deshalb auch an den »immanenten Kriterien dessen, w a s Erkennen heißt,« (S. 2 4 7 ) gerüttelt werden dürfte: Auch für Heidegger ist das historische Erkennen nicht planendes Entwerfen, nicht die Extrapolierung von Willenszielen, kein Sichzurechtlegen der Dinge nach Wünschen und Vorurteilen oder Suggestionen der Mächtigen, sondern es bleibt eine Anmessung an die Sache, mensuratio ad rem. Nur daß die Sache hier nicht ein factum brutum, ein bloß Vorhandenes [...] und Meßbares ist, sondern zuletzt selbst von der Seinsart des Daseins. (S. 247) Diese >mensuratio ad rem< sei angeblich m ö g l i c h , da es sich nicht um eine »bloße >Gleichartigkeit des Erkennenden und Erkannten« (ebd.) handle: In Wahrheit ist die Anmessung alles Erkennenden an das Erkannte nicht darauf gegründet, daß sie von der gleichen Seinsart sind, sondern empfängt ihren Sinn durch die Besonderheit der Seinsart, die beiden gemeinsam ist. Sie besteht darin, daß weder der Erkennende noch das Erkannte >ontischvorhanden< sind, sondern >historischAnmessung an die Sache< als solche wahrgenommen werden sollte. Was dagegen g e w o n n e n sein soll, wenn sowohl das Subjekt als auch das Objekt (?) der A u s l e g u n g - zumindest >die Sache< b z w . das >Erkannte< - >historisch< sind, und d.h. doch wohl in der perspektivischen Wahrnehmung des Subjekts entworfen werden, ist ebenso unverständlich. A l l e m Anschein nach sieht Gadamer das Historische der Sache als eine Art Wirkungsweise b z w . als eine Art Produkt der Sache selbst und schreibt dies entgegen seiner vorherigen Bestimmung nicht allein der Konstruktion des Erkennenden zu.13 S o l c h e Differenzen werden noch deutlicher, wenn es um das >Sprechen< der Texte und die s o g . Horizontverschmelzung geht.14
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Vgl. z.B. S. 437: Der Text bringt »seine [!] je neuen« Sinn- und Resonanzmöglichkeiten ein, die »durch den [je] anderen Empfänger neu erweitert [!]« werden. Solche Widersprüchlichkeit bildet geradezu ein Grundmuster von Gadamers Darstellung: »Die Mannigfaltigkeit [... bestimmter] Weltansichten bedeutet keine Relativierung der >Weltsachgerecht< in der Tat eine harte Belastung von Logik dar.
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Gadamers Vorstellung v o n der A u s ü b u n g v o n Verständigung ist d i a l o g i s c h konzipiert. S i e gilt für ihn auch für literarisches Verstehen: Wenn wir das hermeneutische Phänomen nach dem Modell des Gespräches, das zwischen Personen statthat, zu betrachten suchen, so besteht die leitende Gemeinsamkeit zwischen diesen so verschiedenen Situationen, dem Textverständnis und der Verständigung im Gespräch, vor allem darin, daß jedes Verstehen und jede Verständigung eine Sache im Auge hat, die vor einen gestellt ist. (360) Sprachliche Verständigung stellt das, worüber sie stattfindet, vor die sich Verständigenden hin, wie einen Streitgegenstand, der zwischen den Parteien in die Mitte niedergelegt wird. Die Welt ist derart der gemeinsame, von keinem betretene und von allen anerkannte Boden, der alle verbindet, die miteinander sprechen. (S. 22)!5 W e n n der g e m a c h t e Vergleich sinnvoll sein soll, dann müßte die g e m e i n s a m e Sache eigentlich etwas v o m Text Unterschiedenes sein. Der Text m u ß g l e i c h sam eine der Parteien darstellen, die ihre Sicht der S a c h e zur Sprache bringt. Dann muß erklärbar sein, w i e man sich das Vor-einen-gestellt-Werden der Sache v o m Text oder zumindest ein »Zur-sprache-kommen
[sie] der S a c h e
selbst« (S. 3 6 0 ) vorzustellen hat. N a c h Gadamer ist es s o , daß nur durch den einen Partner, den Interpret, der andere Partner, der Text, überhaupt zu Wort kommt. Nur durch ihn verwandeln sich die schriftlichen Zeichen zurück in Sinn. 1 7 Gleichwohl kommt durch diese Rückverwandlung in Verstehen die Sache selbst, von der der Text [?!] redet, ihrerseits zur Sprache. (S. 365) D i e s e s Paradoxon wird auch so beschrieben: Der Text bringt eine Sache zur Sprache, aber daß er das tut, ist am Ende Leistung des Interpreten, (ebd.) A b g e s e h e n v o n dieser epistemologischen Spannung (um nicht zu sagen W i dersprüchlichkeit), wird an anderer Stelle A u s l e g u n g d a g e g e n so erklärt, daß dabei (evtl. letztlich und) erstaunlicherweise » k e i n e methodische Aktivität des Subjekts, sondern ein Tun der S a c h e selbst vorfliegt], das das D e n k e n >erleid e t . [...] W a s verstanden werden kann, [... stellt] sich v o n sich aus d e m V e r -
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Angesichts dieser Zitate ist es vielleicht mehr als ein Bonmot, wenn Bernd Scheffer in einer Diskussion H.-G. Gadamers Konzeption mit ihrer optimistischen Erwartungen an das Gespräch als eine »Liebes-Hermeneutik« bezeichnet. Dies deckt sich auch mit (den meisten von) Gadamers Ausführungen, vor allem mit der Horizontverschmelzung. Allerdings können auch »sinnvolle Texte« (S. 251) die »Sache selber sein« (nämlich für Philologen); indessen handeln diese Texte »ihrerseits wieder von Sachen« (ebd.), was wiederum die obige These stützt. Man beachte die (auch sonst häufig vorkommende) Synonymie zwischen »zu Wort kommen« und »Sinn« erhalten. (Vgl. auch S. 4 4 1 , 3 8 1 oder 307.)
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stehen« (S. 450) dar. Und »als was sich etwas darstellt, gehört vielmehr zu seinem eigenen Sein.« (ebd.) Diese Differenz ist schwerlich aufzulösen. Bei Gadamer geht ihr - wie eben (S. 365) gesehen - die Figur voran, daß der zunächst »Fragende zum Gefragten« (S. 437) wird. D.h., daß sich im hermeneutischen Zirkel (vgl. S. 275 u. 277) eine Art Umschlag ereignet, wo die »sachliche Wahrheit« (S. 280) bzw. die »Sinnmeinung« (S. 376) des Textes sich gegen »die eigenen Vorurteile« (S. 436) auszuspielen beginnt. Und dies führt dazu, daß die andere Welt/Sache des Textes eine »Wahrheit in sich« (S. 418) darstellt. — Damit ist möglicherweise die Eigenleistung des Subjekts also >nur< eine Art //ufta/-Moment im Verstehen, es besetzt sozusagen dessen Startposition, von der aus sich dann das weitere bei entsprechenden Bedingungen von der Sache bzw. vorher vom Text aus gleichsam von selbst ergibt. Und aufs Ganze (oder von der Sache her gedacht) gesehen, scheint dann diese Leistung für Gadamer vielleicht vernachlässigbar: Unter dieser Bedingung könnte es letztlich so etwas geben, wie einen »Anspruch, den der Text erhebt« (S.292). - Dennoch: ohne subjektive Rückkopplung ist das auch für Gadamer nicht denkbar, denn »wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen« (S. 253). Setzt man solche Überlegungen in Beziehung zu Gadamers näherer Ausdifferenzierung des Verstehensaktes in der sog. Horizontverschmelzung, kommen vergleichbare Differenzen in geradezu verdichteter Form zutage. Die Horizontverschmelzung soll den Akt des wirkungsgeschichtlichen Verstehens 18 in nuce beschreiben. Auch hier stellt sich die Frage, wie ich aus meinem eigenen Horizont, der zunächst »die Gebundenheit des Denkens an seine endliche Bestimmtheit« ( S . 2 8 6 ) bezeichnet, in einen anderen (historischen) Horizont gelangen kann. Formal-logisch nachvollziehbar ist zunächst die Antwort Gadamers: Wenn sich unser historisches Bewußtsein in historische Horizonte versetzt, so bedeutet das nicht eine Entrückung in fremde Welten, die nichts mit unsrer eigenen verbindet, sondern sie insgesamt bilden den einen, großen, von innen her beweglichen Horizont, der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die Geschichtstiefe
Gemäß dieser Theorie kann es eigentlich keine >echte< Fremdheit geben, da eine »Zugehörigkeit zur Tradition genauso ursprünglich und wesenhaft zu der geschichtlichen Endlichkeit des Daseins gehört wie sein Entworfensein auf zukünftige Möglichkeiten seiner selbst.« (S. 248) In diesem Zusammenhang fällt auch an anderer Stelle der Begriff der »Kunst [!] des historischen Verstehens« (S. 287 u. 370). Von einer solchermaßen terminologisierten Position (Schleiermacher, Dilthey) hatte sich Gadamer deutlich abgegrenzt.
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unseres Selbstbewußtseins umfaßt. In Wahrheit ist es also ein einziger Horizont, der all das umschließt, was unser gegenwärtiges Bewußtsein enthält. (S. 288) Mit H. Link hat man allerdings »Anlaß zu fragen, was dann noch verschmelzen soll.« 19 Und tatsächlich ist für Gadamer »Verstehen der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich [l]für sich seiender Horizonte« (S. 289). Konsequenterweise stellt sich Gadamer selbst die Frage, warum er dann »überhaupt von Horizontverschmelzung und nicht einfach von der Bildung des einen Horizontes« (S. 290) spricht. Dies sei für ihn eine notwendige heuristische Krücke, um nicht einer »naiven Angleichung« (S. 290) zu verfallen, also in den eignen Vorurteilen zu verharren: »Der Entwurf [!] des historischen Horizontes ist also nur ein Phasenmoment im Vollzug des Verstehens« (ebd.). Und ganz offen erklärt er weiter, daß ein Subjekt also letztlich »sich mit sich selbst« (ebd.) vermittelt.20 Gleichwohl wird dieser gesamte Prozeß von Gadamer als »wirkliche Horizontverschmelzung« (ebd.) beschriebest, die sogar vom wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein her einem »kontrollierten Vollzug« (ebd.) unterliegen kann. Insofern stimme ich Link zu: Was aber in dem von Gadamer beschriebenen Vollzug hermeneutisch reflektierten historischen Verstehens abläuft, sind lauter bewußtseinsinterne Ereignisse - eine Kontrolle ist weder durch die erkennende Sache gegeben (schon der Entwurf des historischen Horizonts ist ja subjektive Leistung und dazu nur Phasenmoment) noch durch intersubjektiv abgesicherte Methodik, um die es dem >ästhetisch-historischen Positivismus im Gefolge der romantischen Hermeneutik< (S. 290) zu tun war. 22 So gesehen scheint es naheliegend, Gadamer eine Art zwar naiven, aber dafür überaus latenten Konstruktivismus zu unterstellen, den er nur mit logischen Brüchen >umgehen< kann. Oder positiv(-ironisierend) formuliert: bei Gadamer sind erstaunlicherweise schon zutreffende Beobachtungen konstruktivistischer Erkenntnistheorie anzutreffen (die freilich in Widerspruch zu sonstigen Aussagen stehen). Anläßlich Gadamers Modell dürften es immer die Rezipierenden (also im folgenden wir) selbst sein, die in sich ungefähr folgendes Phänomen erzeugen: Ein konstruierter interner Beobachter entwirft in uns einen Ho-
19 Link 1980, S. 127. 20 Auf die Parallele zu Schleiermacher (vgl. Fn. 24) weise ich hin. 21 Bei Schleiermacher ist ein vergleichbarer Anspruch nicht so deutlich, was gewiß durch das differierende Interpretationsziel mitbedingt ist. Schleiermacher spricht zwar von dem Ziel des »vollkommenefn] Verstehenfs] des Stils« (ders. 1967, S. 152), als die eigentümliche Art des Ineinanders von Gedanke und Sprache im Akt des Urhebens, meint aber gleichwohl, daß dieses Ziel nur »durch Annäherung zu erreichen« (ebd.) sei. (Vgl. auch z.B. ebd., S. 206.) 22 Link 1980, S. 127f.
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Sebastian Görnitz
rizont: unser Vorverständnis. Er entwirft dann gleichsam immer neutraler sich gegenüber werdend einen zweiten, anderen Horizont anhand von Textdaten, deren spezifische Füllung von ihm konstruiert wird (= Texthorizont). Mit diesem Horizont geht wiederum der interne Beobachter so um, daß er ihm soviel Autorität zuspricht, daß ein - wohl zweiter - von uns selbst (in uns) entworfener Horizont (der im Gegensatz zum ersten jetzt uns ganz und gar selbst repräsentiert) mit diesem Texthorizont in einen Austausch gerät. Dieser so entstandene innere >DialogWandlungSinnes an sicheingekörperter Form< vorliegen soll, referiert er grundsätzlich auf etwas Literaturexteriores - auf Welt oder auf Sein. Dem Text wird damit ein Wahrheitsgehalt zugesprochen, er besitzt Wahrheit, die aber in »ihrer vollen Idealität« (S.372) erst zum Tragen kommen muß, indem der Text je neu ausgelegt wird. Texte haben eine »Meinung« (S. 373), Texte sind »dauernd fixierte Lebensäußerungen« (S. 365) usw. Wie es scheint, ist es diese lebensweltlich-bewußtseinsexteriore Verortung, die Gadamer dazu bringen muß, den Texten Subjekthaftigkeit zuzusprechen, was sich in der Vollzugsfigur des sprechenden Textes< niederschlägt. Darauf gründet er eine »eigentümliche Dialektik« des Hörens (vgl. S. 438), die auf die Position der Rezipierenden gemünzt ist: Nicht nur, daß, wer hört, sozusagen angeredet wird. Vielmehr liegt darin auch dies, daß wer angeredet wird, hören muß, ob er will oder nicht. Er kann nicht in gleicher Weise weghören, wie man im Sehen dadurch vom anderen wegsieht, daß man in eine bestimmte Richtung blickt. [...] Es gibt nichts, was nicht durch das Hören mittels der Sprache zugänglich würde. [...] Hören [ist] ein Weg zum Ganzen. (S. 438, Hervorh. S.G.).
Analog dazu gibt es in Gadamers Modell Stellen, die eine solche >Eigenaktivität< des Textes zur Garantin der Interpretation machen wollen. Vergleichbares findet sich auch bei neueren Hermeneuten; so z.B. bei Ricceur: Meiner Auffassung nach besteht sie [die Aufgabe der Hermeneutik, S.G.] darin, in dem Text selber einerseits die innere Dynamik zu untersuchen, die die Strukturierung des Werkes leitet, und andererseits das Vermögen des Werkes, über sich selbst hinauszuweisen und eine Welt zu schaffen, die die wirkliche >Sache< des Textes sein würde. Die innere Dynamik und das äußere Hinausweisen bilden das, was ich die
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Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, wenn in Wahrheit und jeder fünfte Satz mit »in Wahrheit« beginnt.
Methode
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Sebastian Görnitz Arbeit des Textes nenne. Es ist die Aufgabe der Hermeneutik, diese doppelte Arbeit des Textes zu rekonstruieren. (1987, S. 251, Hervorh. S.G.)
Bei M. Frank ist damit partiell vergleichbar, wenn er den Text z.B. als sinntreibende »Bodenhefe« (1989, S. 132) beschreibt. Demgegenüber gibt es aber auch andere Aussagen bei Frank, die als sinngebende Instanzen den Leser und die Kommunikationsgemeinschaft nahelegen (z.B. 1989, S. 130). Ähnlich konstruktivistische Aussagen lassen sich auch bei Schleiermacher finden: Die Kunst [das Mißverstehen zu vermeiden, S.G.] kann ihre Regeln nur aus einer positiven Formel entwickeln, und diese ist das geschichtliche und divinatorische (prophetische) [...] Nachkonstruieren [!] der gegebenen Rede. (1967, S. 146) Aufs ganze gesehen verwundert es dann nicht, wenn neben einer erklärtermaßen vorgängigen Rezeptions-Steuerung durch den Text (und eben andererseits durch den Leser) letztlich das zentrales Moment des Verstehensvorgangs in einem interaktionalen, dialogischen Verhältnis gesehen wird, das zwischen Text und Leser statt findet. Dies kann bei Gadamer allein schon aus der Metapher der Horizontverschmelzung abgeleitet werden und wird als Figur auch bei Ricoeur zentral und bei Frank partiell vertreten.24 Diejenigen Aussagen, in denen die Rezipierenden als der bestimmende Pol des Rezeptions- und Interpretationsvorgangs dargestellt werden, sind jedenfalls als ein hermeneutisches Selbstverständnis zu vernachlässigen. Eine konstruktivistische Theoriebildung muß sie natürlich für bezeichnend halten. Für die hier verwendete Begriffsbestimmung folgt daraus, daß die Rezeptionsseite >Hören< mit >Fragen< zu erweitern ist. Signifikant ist dabei, daß dem Text selbst aber nie die Fähigkeit des Zuhörens bescheinigt wird. Dieser kann terminologisch tatsächlich einzig sprechen. Ein einliniges Sender-Empfänger-Modell wird angesichts dieser Struktur zumindest der Tendenz nach bevorzugt. Faßt man die Diskussion zusammen und vergleicht sie noch mit weiteren Hermeneutik-Konzepten, kann man zu folgender grundlegender Bestimmung kommen: Einem hermeneutischen Verstehen liegt immer ein bilateraler Kommunikationsprozeß zugrunde, der an Subjekte oder subjekthafte Entitäten rückgebunden ist. Dies geschieht konkret in einer dualistischen Akzentuierung
24 Vgl. z.B. Ricoeur 1991, S. 253-293 oder Frank 1989, S. 132. Auch Schleiermachers Argumentation ist diesbezüglich alles andere als konsistent: »[...] die Divination wird sonach aufgeregt [i.e. angeregt; S.G.] durch Vergleichung mit sich selbst.« (1967, S. 154; vgl. auch S. 179 o. 189; Hervorh. S.G.) Zugleich postuliert er aber, daß das Ziel der letztlichen hermeneutischen Aufgabe, »die Gedanken eines anderen als seine Produktion vollkommen zu verstehen« (ebd., S. 189), nur möglich ist, indem »wir uns von uns selbst losmachen« (ebd.).
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des sog. hermeneutischen Dreiecks (Autor - Text - Leser): Entweder geht es hermeneutischen Ansätzen um das Verstehen der Meinung, Intention, Absicht oder um das Erlebnis oder gar die Wahrheit etc. einer Autorin oder eines Autors. Dann wird der Text lediglich als Medium, als Mittler oder Mittel, angesehen, das die Mitteilung des einen Subjekts (Autor) an das andere (Leser) transportiert, was diesen zu einem Nachkonstruieren dieser Intention veranlaßt .2verstehende< Interpretation eine adäquate. Verstehen selbst kann aber wiederum nur durch einen anderen Verstehenden festgestellt und legitimiert werden, wodurch ein tyrannischer Regreß ad infinitum entsteht. Natürlich ist auch einem Regreß ad infinitum bei der Einführung methodischer, an Nachvollziehbarkeit orientierter Kriterien nicht zu entkommen; auch diese sind in ihren Ursprungsbedingungen arbiträr. Indem dies aber zugestanden wird, jederzeit also >bessere< Methoden vorgeschlagen werden können und der Vollzug der Methode selbst an eben diese Kriterien gebunden ist, kann man so dem Tyrannischen weitestgehend entkommen. So gesehen verwundert es nicht, das auch von hermeneutischer Seite in Ansätzen längst vor Gadamer und vermehrt gegenwärtig ein Verfahren angedacht worden ist, daß der > eigentlichem Interpretation vorgeschaltet und eben als Analyse bezeichnet wird. Analyse wird heute auch von hermeneutischer Seite in der Regel mit strukturalistischen Verfahrensweisen und Ansprüchen identifiziert, diese allerdings einer spezifischen Bewertung zugeführt. Dies soll kurz dargelegt werden: Wo eine solche Unterteilung auftritt, kann und wird sie oft als das Zusammensein der beiden ursprünglich konträren >Grundtypen< der Hermeneutik, der subjektiven (= applizierenden) und der objektiven (= analytischen), angesehen, die auf Piaton auf der einen bzw. auf Aristoteles' »Peri hermeneias« auf der anderen Seite zurückgeführt w e r d e n . 2 7 Bei Schleiermacher sind diese beiden Verfahrensweisen innerhalb einer universalen Hermeneutik vereint, was bei dem Theologen nicht überrascht, da ein >objektivierendes< Verfahren in der protestantischen Theologie spätestens seit der Aufklärung in Gestalt der historisch-kritischen Methode institutionalisiert wurde. Gegenwärtig wird ein kooperatives Konzept von hermeneutischer Seite beispielsweise von Autoren wie H. R. Jauß, P. Ricoeur, M. Frank (sowie in der Bibelexegese2®) vertreten. Gemeinsam ist diesen Modellen - und das macht sie zu spezifisch hermeneutischen - , daß in der Analyseebene (nur) eine Art Hilfsfunktion für die >eigentliche< hermeneutische Aufgabe gesehen w i r d : 2 9 das Verhältnis von Analyse- und Interpretationsebene wird also gleichsam hermeneutisch bes t i m m t e Das meint, das dasjenige, was interpretiert wird, nicht in einem ex-
27 Vgl. Ebeling 1959. 28 Vgl. z.B. Egger, 1987 oder Preuss, 1984. 29 Vgl. z.B. Frank, 1989, S. 143 (2. Sp.) oder Ricoeur 1973, S. 115; 1974a, S.50; 1974b, S.30f. oder 1987. 30 Entgegen des Axioms der inneren Abgeschlossenheit des Strukturgefüges eines Textes, was in der Ricoeurschen Terminologie als »Abstraktion der mimesis II« (1988, S. 88), also als das ausschließliche Berücksichtigen der »inneren Gesetze des literarischen Kunstwerks« (ebd.) bezeichnet wird, will Ricoeur einen »hermeneutischen Bogen, der sich aus dem Leben erhebt, durchs literarische Werk hindurchgeht
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pliziten Ableitungsverhältnis zu den Ergebnissen der Analyse stehen soll, sondern daß die Interpretation gleichsam frei über deren Ergebnisse verfügt und damit letztlich über den Text. Das interpretatorische Abschlußverfahren ist also nicht an ein analytisches Gesamtmodell gebunden; die Analyse ist vielmehr in den hermeneutischen Zirkel hineingenommen. Gerade bei Frank oder Ricoeur bleibt letztlich unklar, wozu es der Analyse bedarf, wenn das Eigentliche - der »Stil« oder die »Welt des Textes«3i - sich einer analytischen Beschreibung (angeblich) entzieht. Immerhin muß gesagt werden, daß sich ihre Kritik vor allem gegen eine taxonomisch gepolte strukturalistische Analyse richtet und ihr gegenüber auch berechtigt ist, da syntagmatische Strukturelemente eines Textes natürlich auch zur Gesamtstruktur gehören.32 Und grundsätzlich zustimmen muß man ihnen auch in der Verwerfung des Abgeschlossenheitsanspruchs strukturaler Theoriebildung. Dies ist aber nicht damit zu begründen: weder indem man betont, daß die >Welt des Textes< ein Werk einer »Konfigurationstätigkeit« sei (Ricoeur 1988, S. 106; Hervorh. S.G.), oder indem dem Text die Fähigkeit zur Selbstaktivität zugesprochen wird noch indem man den Stil als die »jeweils singuläre Art und Weise, wie der Autor im sprachlich und formal vorgegebenen Material seine eigentümliche Weltansicht mit zur Geltung bringt« (Frank 1979, S.66f.), bestimmt. - Zwar ist jede Analyse restriktiv zu ihrem Objekt, aber mit Titzmann kann man sagen, daß gerade der Franksche Einwand
und zum Leben zurückkehrt« (1991, S. 254, Fn.l), schlagen. Frank sagt: »Die >andere Seite< [d.h. die nicht-grammatische, S.G.] der Interpretation wird beschritten, sobald man die von der Schrift unterbrochene Verbindung des Textes zur lebendigen Kommunikation wieder herstellt: dann analysiert man ihn nicht mehr, dann interpretiert man ihn: Textanalyse wird Texthermeneutik.« (1989, S.149) 31 Vgl. z.B. Frank 1979, S. 66ff.; etwas differenzierter 1989, S. 156: »Die Arbeit des Interpreten [...] besteht darin, in jedem Strukturmoment des Textes den >individuellen Beisatz< zu entdecken und umgekehrt im individuellen Stil des Autors die aufgehobenen symbolischen Ordnungen nachzuweisen.« Problematisch daran ist freilich, daß der Stil mit Sartre als das »Unsagbare« (ebd.) bestimmt wird, das nur »erraten« (ebd., S. 157) werden kann. Damit ist aber zumindest mir völlig unklar, wie eine »differentielle Interpretation« (ebd.) zum Stilerraten etwas beitragen soll. (Vgl. gegen Franks Bestimmung des Stil die linguistische Stildefinition des sog. Individualstils bei Sanders 1973, S. 6 9 - 8 0 u. 109f. ) - Bei Ricoeur werden in sein Konzept (taxonomisch-)strukturalistische Konzepte als interpretatorische Teilmomente des sog. Konfigurationsaktes integriert. Dabei dürfe allerdings die »Auslegung mit der Strukturanalyse der Werke, und d.h. mit ihrem immanenten Sinn [d.h. mit der Struktur, S.G.]« nicht aufhören, sondern müsse »weiterhin darauf zielfen], die Art von Welt, die ein Werk entwirft, zu entfalten.« (1974a, S . 5 0 - vgl. auch 1988, S. 124,1974b, S . 3 0 f . , 1973, S. 115 etc.). 32 Vgl. Ricoeur 1989, S. 5 2 - 1 0 3 und Frank 1989, S. 131.
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auf einem Denkfehler hinsichtlich des Begriffes der Individualität basiert. Denn wenn das Individuelle das ist, was sich einer Kategorisierung entzieht, ist es überhaupt nicht beschreibbar. [...] Wenn das Individuelle überhaupt beschreibbar ist, ist es zugleich auch präzise, d.h. mit theoretischem Vokabular beschreibbar: [... es] ist also jedermanns oder niemands Problem. (1977, S. 26f.)
Somit kann der Interpretationsbegriff nicht über den Stilbegriff eingefordert werden. - Das >dynamisch-biotische< Textverständnis Ricoeurs (>Welt des Textesrepresentation< gängigen >Realismen< gerichtet«. Vinken 1992,S.20. 22 Culler 1988, S. 170. 23 Vgl. zu dieser Problematik Scheffcyk 1993, S. 240. Culler 1988, S. 167. 25 Culler 1988, S. 165.
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Maximilian
G. Burkhart und Anne Carolin
Gaiser
das Vorgehen der Dekonstruktion wendet sich gegen die Logik26 (und diese wäre ebenfalls schon als ein bisher unhinterfragbares Gesetz oder eine Moral einzustufen), die verbietet, eine Unterscheidung einerseits zu akzeptieren und zu verwenden, sie andererseits aber zu bestreiten, zu dekonstruieren. Dies wäre aber, nach seiner Meinung, auch die Forderung, die Konsequenzen der eigenen Arbeit exakt vorherzusagen .27 Aber gerade das ist nicht das Anliegen der Dekonstruktion, da sie im Diskurs die Aporie vergegenwärtigt, Sprache zu verwenden, um Sprache zu erklären und zu analysieren. Die Dekonstruktion reflektiert die Tatsache, Sprache verwenden zu müssen, um Vorhersagen oder Aussagen treffen zu können, und somit immer schon im selbstbezüglichen Zirkel von Aussagenetzen gefangen zu sein. Paul de Man nun thematisiert den »Widerstand gegen die Theorie« als ständig stattfindenden Diskurs der Theorie über ihre eigenen Methoden, nämlich den Gebrauch von Sprache über Sprache: Es ist daher nicht a priori ausgemacht, daß Literatur eine glaubwürdige Informationsquelle über irgend etwas ist, außer über ihre eigene Sprache. Es wäre beispielsweise verhängnisvoll, die Materialität des Bezeichnenden mit der Materialität dessen, was es bezeichnet, zu verwechseln. [...] Die wirkliche Diskussion führt die Literaturtheorie nicht mit ihren polemischen Gegnern, sondern vielmehr mit ihren eigenen methodologischen Voraussetzungen und Möglichkeiten.28
Die Konsequenzen, die sich daraus für eine dekonstruktive Interpretation ergeben, sind äußerst weitreichend. Statt des Versuchs, irgendeinen im Text verborgenen Sinn - ein transzendentales Signifikat - zu dekodieren, beginnt die Dekonstruktion das (zuweilen paradoxe) Unterfangen, den Brüchen und Faltungen im literarischen Diskurs selbst zu folgen und diese damit gleichzeitig aufzuzeigen. Da sich Objekt- und Metasprache in der Dekonstruktion nicht mehr eindeutig trennen lassen, greifen die Forderungen nach einem präzisen analytischen Beschreibungsinventar nicht mehr; die Dekonstruktion selbst wird literarisch. So schreiben Benjamin Marius und Oliver Jahraus: [Die] Dekonstruktion [...] versucht, die Uneinholbarkeit zu praktizieren, indem sie das Scheitern der Einholungsversuche zu ihrer Praxis macht. [ . . . ] Sie initiiert eine Praxis, in der gesagt wird, was gesagt werden soll, indem nicht gesagt wird, was gesagt werden soll - und genau das wird zum Konstitutionsprinzip einer Rede ge-
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So schreibt Klaus W. Hempfer: »Eine Rationalitätskritik, die Rationalität aufhebt, entzieht sich selbst die Basis möglicher Kritik. >Postverfehlendengegenwärtige< Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal [...] des vergangenen Elements an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner
29 Marius/Jahraus 1997, S. 56. 30 Derrida 1988, S . 3 8 . Alle differance-Zitale werden im folgenden unter der Sigle »1988« im Fließtext nachgewiesen. 31 Vgl. Derrida 1972b, S. 446. 32 Vgl. hierzu die Formulierung Derridas: »Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in einer Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist. Ein solches Spiel, die differance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt« Derrida 1988, S. 37. 33 Derrida 1972a, S. 424. 34 Eine völlig neue Perspektive bietet Giacomo Marramao an, der nach der Dekonstruktion des Raumbegriffes in der Moderne, nun auch eine Verschiebung des Zeitbegriffes fordert, da »weder eine reale, noch eine mögliche Erfahrung der Zeit unabhängig vom Raum« existiert. Er wirft der gesamten abendländischen Philosophie bis hin zu Derrida vor, dem »Unbehagen« gegenüber dem Auflösen des Zeit-Begriffs in der »Selbstreferenz« auszuweichen zu versuchen: »Die Angst angesichts der Zeit als >dürftiger QuelleMann< und >Frau< zu berauben.« Butler 1991, S. 8f. Eine andere Möglichkeit der metaphorischen Subjektkonstitution auf der Basis des markierten Phallus zu umgehen, sieht Elisabeth Bronfen in der Verschiebung der Gespaltenheit in das Subjekt, was durch den Nabel (Omphalos) repräsentiert wird. Vgl. dazu Bronfen 1992, S. 145-158.
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Maximilian G. Burkhart und Anne Carolin Gaiser
3. Jacques Derridas Kafka-Lektüre »Prejuges. Vor dem Gesetz.«
»Ruhe! Ruhe bitte! Unsere Aufgabe ist es, die Regeln, die der Richter der Weisheit aufgeschrieben hat, aufrecht zu erhalten. So bewahren wir unsere perfekte Zivilisation. Wir wollen nicht, daß unser so vollkommenes Dasein zersetzt wird, durch die bösen Sitten der Vergangenheit, die so voll Übel waren. Zersetzt wird - zersetzt wird - zu zerstören...« (Ego on the rocks: 1. unallgemeine
Bestürzung).
»Prejuges« ist sicher eines der bekanntesten Beispiele f ü r den Vollzug einer dekonstruktiven Lektiire.^i In unserem Kontext interessiert daher nicht so sehr eine weitere Interpretation von » V o r dem Gesetz«, sondern eine dekonstruktive Re-Lektüre von Derridas Interpretation.^ Dies erscheint aus mehreren Gründen sinnvoll: Derridas Texte gelten im allgemeinen als relativ schwer verständlich, da Derrida die Quellen, auf die er sich bezieht, in aller Regel nicht explizit benennt; vielmehr reproduziert er, mittels der »Verschiebung«, die im Text wirksamen Diskurse und kritisiert sie so zugleich: Die Dekonstruktion kommt durch Wiederholungen, Abweichungen, Entstellungen zustande. Nur kraft der Iteration kann sie aus den Schriften Derridas und de Mans hervorgehen: durch Nachahmung, Zitat, Verzerrung, Parodie. [...] Die Lebendigkeit jeder intellektuellen Bewegung hängt weitgehend von den Differenzen ab, die eine Auseinandersetzung ermöglichen, ohne definitiv zu entscheiden, was dazugehört und was n i c h t s Die durch diese rhetorischen Verfahren bedingte »Literarizität« der Derridaschen Texte provoziert wiederum eine diskursanalytisch-ideologiekritische Lektüre, mithin eine metadekonstruktive Re-Lektüre, u m zu zeigen, wie und w o die »Verschiebungen« von »Prejuges« der dekonstruktiven »Intention« Derridas zuwiderlaufen. Zwar hat die Forschung einige Texte hervorgebracht, die sich mit »Prejuges« befassen, doch ist dieser W e g noch nicht versucht
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Bernd Scheffer kritisiert zu Recht, daß in der Forschung zumeist »der Kontext des Textes >Vor dem Gesetz< im >ProzeßDekonstruktion< so angelegt zu sein vorgeben, daß mit ihnen genau das >entschlüsseltfreigelegt< wird, was angeblich im >Text selbst< gleichsam >mit Sicherheit verborgen sei; dies scheint mir eine Art autor-intentions-adäquater Interpretation mit negativem Vorzeichen zu seines
Die metaphorische Sinnkonstitution wird jedoch, ebenfalls ex negativo, wieder eingeführt, wenn dem dekonstruktiven Leser unterstellt wird, er würde als »(oft noch genital-gebückte[r]) Tiefen-Hermeneut« 46 der dekonstruktiven Interpretation einen »qualitativen Sonderstatus« (ebd.) beimessen. Zumindest das »Anliegen« von »Prejuges« ist es, genau diese Sinnkonstitution in einer permanenten Bewegung der Verschiebung zu hintertreiben. »Prejuges« vollzieht jene Bewegung, die auch Kafkas Text inhärent ist. So wie der »Mann vom Lande« vor dem Gesetz(estext) steht, so befindet sich auch Derrida vor dem Text; die Interpretation spiegelt den Text. Diese Ebenenverdoppelung wird durch die Re-Lektüre nochmals vollzogen. Wir stehen vor »Prejuges« wie »Vor dem Gesetz« wie Derrida »Vor dem Gesetz« wie der »Mann vom Lande« vor dem Gesetz - in einem unendlichen Aufschub. Das Spiel der Interpretation verliert sich so in der »Dissemination« des Textes, ohne eigentlich Zugang zu ihm zu finden .47
44 Zu nennen wären erstens aus semiotischer Perspektive Herwig 1989; und zweitens aus konstruktivistischer Sicht Roberts 1995. Zur dekonstruktiven Perspektive existieren zwei sehr informative Titel, die jedoch beide lediglich Derridas dekonstruktiver Kafka-Lektüre folgen; erstens Janz 1993; und zweitens Hiebel 1993. 45 Scheffer 1993, S. 153. 46 Bernd Scheffer rekurriert hier auf den Terminus »tiefenhermeneutisches Verstehen«, den Jürgen Habermas in Anlehnung an Freud und in Abgrenzung zu Hans Gadamer geprägt hat, sowie auf die psychoanalytisch-dekonstruktive Fortschreibung von Julia Kristeva. Interessant im Kontext dieser Arbeit ist Habermas' Rekurs auf Gadamers Hermeneutikkonzept: »Die Vorurteilsstruktur des Verstehens vebietet nicht nur, sondern läßt es als sinnlos erscheinen, jenen faktisch eingespielten, unserem Mißverständnis und Unverständnis jeweils zugrundeliegenden Konsensus wiederum in Frage zu stellen.« Habermas 1973, S . 2 9 4 f . Zum Kontext des »tiefenhermeneutischen Verstehens« vgl. auch die Einleitung Reinhold Werners zu Kristeva 1978; vor allem die Seiten 18-20. Allerdings, so Bernd Scheffer in der Diskussion, beziehe sich seine Kritik nicht auf »Prejuges«. 47 Dieses Paradox verweist auf den »selbstreferentiellen Charakter« der Dekonstruktion, den diese, so Benjamin Marius und Oliver Jahraus, mit der Systemtheorie von
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»Wie Jean-Frangois Lyotard beurteilen?« (1992, S. 11) So beginnt Derrida seinen Vortrag im Rahmen eines Lyotard-Kolloquiums und stellt damit, ganz im Sinne der Dekonstruktion, inhaltlich und formal die Frage nach dem vorurteilslosen Anfang, denn die Frage »was ist urteilen?« würde bereits durch das Verfahren des Urteilens ein Vor-Urteil bedeuten: Mit der Frage wie? und nicht mit der Frage was ist? zu beginnen, kann darauf hinauslaufen, das klassische Vorrecht (prerogative) des Urteils zu suspendieren. Ein ontologisches Vorrecht, welches fordert, daß man zunächst das Sein sagt oder denkt, daß man sich zunächst über das Wesen, zum Beispiel einer Verfahrensweise, äußert, bevor man sich fragt, wie zu verfahren sei. (1992, S. 21) Bereits in dieser ersten dekonstruktiven Verschiebung rekurriert Derrida implizit auf die Verbindung von Wissen und Erzählung, wie sie konstitutiv für die Postmodeme ist. Denn die Verschiebung vom was zum wie folgt als Argumentationslinie exakt der postmodernen Ideologie- und Wissenschaftskritik Lyotards: Das spekulative Dispositiv verdeckt zunächst eine Art von Zweideutigkeit im Verhältnis zum Wissen. [...] Man kann [...] sagen, daß der sich in seiner Unmittelbarkeit auf einen Referenten [...] beziehende denotative Diskurs [Was ist ein Urteil?] in Wahrheit nicht weiß, was er zu wissen glaubt. Die positive Wissenschaft ist kein Wissen.48 Das heißt, daß Derrida durch die Verschiebung die Frage nach der Legitimation von Wissenschaft stellt, die, so Lyotard, notwendig ist, um nicht »auf die unterste Stufe, jene der Ideologie oder des Machtinstrumentes« zu fallen, wel-
Niklas Luhmann gemeinsam hat. Beide Konzepte können als autopoietische Supertheorien, die selbstreferentiell geschlossen arbeiten, betrachtet werden. Beiden liegt das Prinzip der Differenz zugrunde, doch wird es je unterschiedlich funktionalisiert: »Wo Systemtheorie dijferance feststellt, wird sie in dekonstruktiven Texten inszeniert. Dekonstruktion verweigert sich konsequent einer solchen Metaebene. Systemtheorie aber behauptet zwar nicht von sich, der dijferance zu entkommen, doch ist dies eine Feststellung, die sich in der Textpraxis nicht wiederspiegelt.« Marius/Jahraus 1997, S.7 bzw. S.72. Dieser andere Umgang der Systemtheorie mit der Differenz ist auf den radikalen Konstruktivismus zurückzuführen, der als Basis für die Systemtheorie fungiert: »Das Problem lautete: Wie ist Erkenntnis möglich, obwohl sie keinen von ihr unabhängigen Zugang zur Realität außer ihr hat. Der radikale Konstruktivismus beginnt dagegen mit der empirischen Feststellung: Erkenntnis ist nur möglich, weil sie keinen Zugang zur Realität außer ihr hat.« Luhmann 1988c, S. 8f. Folglich wird in der Systemtheorie die Kontingenz jeglicher Differenz, auch der Ausgangsdifferenz, grundsätzlich mitreflektiert und tautologisch entfaltet. Die Dekonstruktion arbeitet statt dessen mit dem Aufschub, der dijferance; das Paradox als solches wird durchgehend kommuniziert. 48 Lyotard 1986, S. 113f.
Derridas Kafka-Lektüre
Prejuges
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che, »wie eine >gewöhnliche< Erzählung, von einem vorwissenschaftlichen Wissen abhängig erscheint« .49 Die Kenntlichmachung der pragmatischen Voraussetzungen des Urteilens mittels der Verschiebung ist als Versuch zu werten, zu einer Meta-Spracheso der Kritik (zurück-)zufinden, was allerdings durch die differance a priori zum Scheitern verurteilt ist. Mit diesem Beginn, diesem »Incipit«, kehrt Derrida wieder zu seinem Titel »Prejuges« zurück, der in besonderer Weise die ambigue Struktur von Titeln wiedergibt. Der Titel fungiert als »Eigenname« eines Textes, »selbst wenn die referentielle Struktur dieses Eigennamens vollkommen einzigartig und paradox ist«5i. Der Titel »Prejuges« bedeutet in etwa »Vorurteile« wie auch »Vorverurteilte« (1992, S. 97, Anm. 5). Diese doppelt referentielle Funktion des Titels spiegelt sein Paradoxon: die beiden Funktionen als Nomen und Attribut (Vgl. 1992, S. 16f.). Als Nomen benennt der Titel einen Text im juristischen Sinn des Urheberrechts und bedeutet somit ein Vorurteil, als Attribut ist er Teil des Textes, das Vorverurteilte. Der Titel regelt das juristische Verhältnis des Textes als Einzelfall zum Gesetz als Allgemeinem. Derrida nennt diese Beziehung zum Gesetz das »Singularitätsgesetz« (1992, S.39), das sich in »Vor dem Gesetz« auf dramatische Weise zuspitzt. Die Frage nach dem »wie urteilen?«, welche dazu dient, dem Vor-Urteil zu entgehen, determiniert das Gesetz als »Abwesenheit eines Kriteriums« (1992, S. 23), da man ohne Wissen beginnen muß. Allerdings ist dieser vorurteilslose Anfang, so Derrida im Rückgriff auf Lyotard, nicht möglich: es gibt ein Paradox, und das ist die postmoderne Signatur, in der Tat ist das Urteil weder gründend noch begründet, es ist vielleicht sekundär, aber genau deshalb kann es überhaupt nicht darum gehen, sich davon zu befreien [...]. Durch es [das Urteil] sind s i e p r e - j u g e s , und sie sind, was es betrifft im Vor-Urteil [...]. Gerade weil es auf nichts beruht, sich nicht präsentiert, [...] ist das Urteil auf paradoxe Weise unvermeidlich. (1992, S. 29)
Nicht urteilen ist nicht möglich, und so befinden sich die Wissenschaft im allgemeinen und Derrida im besonderen in einem klassischen double-bind, den
49 Lyotard 1986, S. 114. 50 Vgl. hierzu J.-F. Lyotard: »Das Prinzip einer universellen Metasprache [...] ist durch das der Pluralität formaler und axiomatischer Systeme ersetzt, die geeignet sind, denotative Aussagen zu beweisen. Sie werden in einer universellen, aber nicht konsistenten Metasprache beschrieben. Was im Wissen der klassischen und modernen Wissenschaft als ein Paradox oder sogar als Pluralismus galt, kann in einem dieser Systeme eine neue Überzeugungskraft und die Zustimmung der Expertengemeinschaft finden.« Lyotard 1986, S. 128. 51 Derrida 1980, S. 19. Der Text ist ebenfalls erschienen in Derrida 1994, S. 2 1 9 - 2 4 4 .
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er allerdings im beständigen Aufschieben des Urteils aufzuheben sucht. Dieser Aufschub, der jener der differance ist, ist auch in »Vor dem Gesetz« relevant. Die Verschiebung vom »was« zum »wie« beinhaltet auch die Substitution der Suche nach dem »Sinn« durch die Frage nach der Form des Urteils, das heißt nach den Strukturen, in denen Sinn konstituiert wird. Paradigmatisch für das »Urteilen ohne Kriterium«, das »Gesetz ohne Gesetz« (1992, S.24), mithin das Meta-Gesetz, ist die Literatur. Sie ist, für Derrida, Meta-Sprache im Sinne Lyotards, da sie »eine glaubwürdige Informationsquelle« lediglich für ihre eigene Sprache sein kann .52 Die Sprache jedoch ist vor allem durch das Prinzip der differance determiniert, weshalb Literatur als Meta-Sprache in der Darstellung der differance als Gesetz von Sprache und damit auch als Meta-Gesetz fungiert. Die Literatur ist der privilegierte Ort für die Darstellung des Aufschubs und hat damit eine doppelte Funktion: Präsentation und Verkörperung des Meta-Gesetzes der differance. Literatur ist für Derrida unentscheidbar, sie provoziert Sinnkonstituierung und verhindert diese gleichzeitig durch die ihr eingeschriebene differance. Derrida spricht an dieser Stelle von der »Referenzialität [sie!], die keine Referenz mehr abgibt« (1992, S.83); damit verkörpert die Literatur die Unvermeidlichkeit und Unentscheidbarkeit des Urteilens. Als Voraussetzung der Lektüre postuliert Derrida vier Axiome, die als Lektüre-Gesetze die »moderne Literatur« kennzeichnen: Das erste Axiom besagt, daß ein literarischer Text singulär und einheitlich ist und damit eine »Selbstidentität« (1992, S. 35) besitzt. Diese Einheit jedoch ist nicht naturgegeben, denn seine Grenzen, Anfang und Ende, sind durch Konventionen, Gesetze geregelt. Und diese Grenzen können durchaus problematisch sein wie die doppelte Spaltung des Titels zeigt. Untrennbar verbunden mit dem ersten ist das zweite Axiom, das die Existenz eines realen Autors feststellt, der jedoch von den fiktiven Personen verschieden, das heißt different ist. Auch dieses Axiom erweist sich bei näherer Betrachtung als Konstrukt, denn zum einen gibt es Erzählungen, die keine eindeutigen Kriterien für eine Autorschaft bieten, wie etwa die Gralserzählung (vgl. 1992, S. 36f.) oder auch »virtuelle« Texte im Internet. Zum anderen wird auch die Rolle des modernen Autors erst durch juristische Operationen determiniert, wie dies vor Derrida auch schon Michel Foucault festgestellt hat:
52 Vgl. de Man 1987, S. 92.
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Die Funktion Autor ist an das Rechts- und Staatssystem gebunden, das die Gesamtheit der Diskurse einschließt, determiniert, ausdrückt; sie wirkt nicht einheitlich und gleichmäßig auf alle Diskurse zu allen Zeiten und in allen Kulturformen.53
Das dritte Axiom behandelt die Frage der »Narrativität« (1992, S. 37), die als Kriterium für eine Zuordnung eines Textes zur Literatur allein nicht genügt. Auch hier ist also ein vorurteilsloser Anfang nicht möglich: »Wer entscheidet, wer urteilt, und nach welchen Kriterien, über die Zugehörigkeit dieser Erzählung [»Vor dem Gesetz«] zur Literatur?« (1992, S. 38). Anstatt diese Frage zu beantworten, verschiebt Derrida seine Fragestellung hinsichtlich des Subjekts. Wer urteilt, wer ist der Vorverurteilte und damit »Vor dem Gesetz«? Es geht ihm darum, »das Subjekt dieser Frage und sein System von Axiomen und Konventionen >vor dem GesetzVor dem Gesetz< erscheinen zu lassen« (1992, S. 41). Das Einzelne muß vor dem Allgemeinen erscheinen und darin liegt auch die Wechselbeziehung von Literatur und Gesetz begründet, wie sie Kafkas Erzählung paradigmatisch behandelt: Es gibt eine Singularität der Beziehung zum Gesetz, ein Singularitätsgesetz, das sich, ohne dies doch jemals zu können, mit dem allgemeinen oder universalen Wesen des Gesetzes in Beziehung setzen muß. Nun benennt oder berichtet dieser Text, dieser singulare Text [...] auf seine Weise diesen Konflikt im Nicht-Begegnen von Gesetz und Singularität, dieses Paradox oder dieses Rätsel [...] des Vor-dem-Gesetz-Seins. (1992, S. 39f.)
Das vierte und letzte Axiom behandelt den Titel. Wie oben erläutert, garantiert er die Einheit und Grenzen des Textes, aber er steht selber an der Grenze und hat so einen höchst ambivalenten Status zwischen dem Singulären, also der Erzählung, und dem Gesetz: Die Instanz des Titels aber [...] situiert den Ort oder einen der Örter [sie!] wesentlicher Randung und mithin den offensichtlichsten Verbindungszug oder Bezug zwischen [...] der Literatur geheißenen Schrift und dem Recht. 5 4
Kafkas Erzählung beginnt mit einer Teilung und einem Aufschub. Der Titel »Vor dem Gesetz« teilt sich in den eigentlichen Titel mit seiner juristischen Funktion und in das syntaktisch und phonetisch identische Incipit: »Vor dem
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Foucault 1991b, S. 23. Gerade wissenschaftliche Texte sehen sich mit dieser juristischen Problematik des Benennens konfrontiert, da im Wissenschaftsdiskurs nur publizierte, das heißt benannte, Texte zitiert werden dürfen. Wir wollen uns daher an dieser Stelle herzlich bei Georg Kolb (München) bedanken, dessen »Prejuges«-Referat uns manche Anregung zu diesem Aufsatz gegeben hat. 54 Derrida 1980, S. 25.
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Gesetz steht ein Türhüter.« (V.d.G.) Sie sind zwar identisch, aber nicht gleich, denn das Incipit ist Teil des Textes, markiert seinen Anfang, während der Titel vor dem Text steht und ihn benennt. Damit artikuliert der Titel die differance, die ihm immer schon eingeschrieben ist. Der Titel steht vor der Erzählung, die vom Gesetz handelt, er steht mithin »vor dem Gesetz«, zu dem er keinen Zugang bekommt. In der gleichzeitigen Identität und Differenz von Titel und Incipit, sieht Derrida sein Lektüreprogramm der differance eingeschrieben; der Text realisiert »das Spiel der Differenz als Bedingung der Möglichkeit des Funktionierens eines jeden Zeichens, [...] dieses Spiel selbst ist stumm« (1988, S. 31). Aber es findet noch eine weitere topische Teilung statt, hinsichtlich der Protagonisten. Beide, der Türhüter und der Mann vom Lande, stehen vor dem Gesetz, allerdings in entgegengesetzter Position, denn der Türhüter kehrt dem Gesetz den Rücken zu: Die beiden Protagonisten sind gleichermaßen vor das Gesetz bestellt, aber sie sind einander auf den beiden Seiten einer Inversionslinie entgegengesetzt, die im Text allein durch die Trennung des Titels vom Korpus der Narration markiert ist. Doppelte Inschrift von »Vor dem Gesetz« um eine unsichtbare Linie, die einen einzigen Ausdruck teilt, trennt und von sich teilbar macht. Sie verdoppelt so den Zug [im Sinne einer bewegten Grenze]. (1992, S. 62) Die differance als Aufschub wird, so Derrida, in der Erzählung konsequent weitergeführt. Die Verweigerung des Zutritts zum Gesetz ist eigentlich ein Aufschub: »Es ist möglich [...] jetzt aber nicht.« (V.d.G.) Für den Mann bedeutet dies aber einen Aufschub bis zum Tod. Ebenso ist die Entscheidung des Mannes, sich nicht zu entscheiden, die Entscheidung über den Eintritt zu vertagen, ein Aufschub: »Das gegenwärtige Verbot (interdiction) ist also kein Verbot im Sinne des imperativen Zwanges, es ist eine differance« (1992, S. 65).
4.
»Prejuges« wi(e)der-gelesen
»Das ist die Selbstinszenierung der Psychose und ihre Selbstherrlichkeit«. (Ego on the rocks: Errected
Error).
Titel und Gesetz sind verbunden durch die »Topik des Aufschubs«, denn das Gesetz ist, wie Derrida im Rückgriff auf Kant bemerkt, niemals zugänglich. Es
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ist die i m »Singularitätsgesetz« festgestellte U n m ö g l i c h k e i t d e r B e g e g n u n g d e s Singulären mit d e m A l l g e m e i n e n ^ : Man hat also niemals direkt zum Gesetz oder zu den Personen Zugang, man ist niemals unmittelbar vor einer dieser Instanzen - und der Umweg kann endlos sein. Die Universalität selbst des Gesetzes geht über jede Endlichkeit hinaus. (1992, S. 55) Derrida b e r u f t sich hier auf d a s M e t a - G e s e t z d e s J u d e n t u m s , d a s L y o t a r d als »Seid gerecht!« ( 1 9 9 2 , S . 4 4 ) f o r m u l i e r t . D i e s e s M e t a - G e s e t z z e i c h n e t sich durch seine » E r h a b e n h e i t « , also seine A b s o l u t h e i t aus.56 G r u n d l e g e n d f ü r d a s M e t a - G e s e t z d e s J u d e n t u m s w i e auch f ü r d a s G e s e t z in » V o r d e m G e s e t z « ist dessen N i c h t - R e p r ä s e n t i e r b a r k e i t : » D a s B i l d e r v e r b o t [des J u d e n t u m s ] dient auch Kant als B e s t ä t i g u n g d a f ü r , daß d a s E r h a b e n e prinzipiell nicht r e p r ä s e n tiert w e r d e n k a n n « 57. Hier aber gerät auch D e r r i d a in die » L o g o z e n t r i s m u s f a l l e « , die e r in d e r b e s t ä n d i g e n V e r s c h i e b u n g zu u m g e h e n s u c h t . D e n n d a s » E r h a b e n e « ist bei K a n t als t r a n s z e n d e n t a l e s Prinzip58 g e d a c h t : » D a s eigentlich E r h a b e n e k a n n in
55 An diesem Punkt läßt sich Derridas Vorgehensweise besonders gut verdeutlichen, denn dieses »Insistieren auf der Unaufhebbarkeit des Singulären«, wie Samuel Weber schreibt, bedingt Derridas »Theatralik als Inszenierung des Anderen«. Die Unmöglichkeit der Begegnung des Allgemeinen mit dem Singulären, welche Derrida als konstitutiv für die Literatur ansieht, kann also nur in der Performanz bzw. der Theatralität nachgezeichnet werden, was ein Verschwimmen des literarischen mit dem wissenschaftlichen Diskurs zur Folge hat. Derrida inszeniert seine Wissenschaftskritik als Literatur und umgekehrt: »Diese Untrennbarkeit von Was und Wie [das sind Semantik und Performanz], ja die Abhängigkeit des Einen vom Anderen, ist das Kennzeichen vor allem jener Sprechweise, die wir zumeist als >Literatur< bezeichnen.« Weber 1997, S . 4 3 8 bzw. S . 4 4 1 . Diese »Literarisierung« des wissenschaftlichen Diskurses ist auch der Hauptgrund, welcher der Dekonstruktion zum Teil schrille Kritiken eingetragen hat, so zum Beispiel Klaus Hempfer: »Maxime 3: Man denke das Undenkbare und sage das Unsagbare. [...] Maxime 5: Man begebe sich in einen performativen Widerspruch.« Hempfer 1993, S. 323 bzw. S. 326. 56 Vgl. Kant: »Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.« Kant 1994, § 25, S.169. 57 Janz 1993, S. 331. 58 Zur Unterscheidung von transzendentalem und metaphysischem Prinzip vgl. Kant: »Ein transcendentales Prinzip ist dasjenige, durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können. Dagegen heißt ein Princip metaphysisch, wenn es die Bedingung a priori vorstellt, unter der allein Objekte, deren Begriff empirisch gegeben sein muß, a priori weiter bestimmt werden können. So ist das Prinzip der Erkenntnis der Körper, als Substanzen und als veränderlicher Substanzen, transzendental, wenn dadurch gesagt wird, daß ihre Veränderung eine Ursache haben müsse; es ist aber metaphysisch, wenn dadurch gesagt wird, ihre Veränderung müsse eine ä u ß e r e Ursache haben: weil im ersteren Falle der Körper nur durch ontologische
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keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft. Derrida setzt hier implizit das Meta-Gesetz, das er im Gesetz in »Vor dem Gesetz« verkörpert sieht, als transzendentales Signifikat, das jenseits aller Verschiebungen für ihn dennoch zu existieren scheint: »Das transzendentale Signifikat ist auch für Derrida unverzichtbar« 60. Derrida begeht hier, schenkt man der radikal dekonstruktiven Kant-Lektüre de Mans Glauben, gleich eine doppelte Fehl-Lektüre. Zum einen desavouiert de Man das »Erhabene«, welches »das Natürliche auf die Ebene des Übernatürlichen« transponiert, als »ein metaphysisches Prinzip, das sich irrtümlich für ein transzendentales hält« 61 . Dieser Umstand ist wichtig vor allem hinsichtlich des zweiten Kritikpunktes de Mans: Das Erhabene kann nicht als philosophisches (transzendentales oder metaphysisches) Prinzip begründet werden, sondern nur als sprachliches Prinzip. [...] Die einzige Möglichkeit der Begründung besteht darin, es als eine Erweiterung des sprachlichen Modells zu begreifen, die über seine Definition als ein System von Tropen hinausgeht. [...] Die Sprache muß über die Pseudoerkenntnis der Tropen hinaus zu den Aktivitäten der Performanz gelangen. 6 2 (Hervorhebung d. Verf.)
Prädicate (reine Verstandesbegriffe), z.B. als Substanz, gedacht werden darf, um den Satz a priori zu erkennen; im zweiten aber der empirische Begriff eines Körpers (als eines beweglichen Dinges im Raum) diesem Satze zum Grunde gelegt werden muß, alsdann aber, daß dem Körper das letztere Prädicat (der Bewegung nur durch äußere Ursache) zukomme, völlig a priori eingesehen werden kann.« Kant 1994, Einleitung, K a p . V , S . 9 0 . 59 Kant 1994, § 23, S. 166. 60 Sparr 1993, S. 256. 61 de Man 1993, S. 16f. 62 de Man 1993, S. 22ff. Renate Homann kommt aus einer gänzlich anderen Perspektive zu dem gleichen Schluß: »Dem empirischen Chaos, das im Urteil über das Erhabene in der Idee der absoluten Totalität seinen Sinn erhält, entspricht auf der Ebene der Sprache das sinnlose Chaos aller vorhandenen Worte und Sätze. [...] Es [das metaphorische Sprechen] >produziert< vermittelst der ästhetischen Reflexion die Idee, den Vorentwurf der Einheit der Welt, der Welt, die sich als Chaos darstellt.« Homann 1977, S . 5 1 . Im Kontext von Homanns »Autopoiesistheorie«, die nicht mit der von Niklas Luhmann identisch ist - wobei interessant ist, daß der Gedanke der Autopoeisis als Selbstreproduktion eines Bezugssystems durch sich selbst und mittels der eigenen Elemente beiden Theoriekonzepten inhärent ist - in diesem Kontext läßt sich also »Vor dem Gesetz« ebenfalls als autoreflexiver Text lesen, der das Gesetz der Literatur sowohl deskriptiv wie performativ vollzieht. Im Gegensatz zu Derrida würde jedoch die Homannsche Lektüre in einem kongruenten Asthetikentwurf münden: »Die Gesetzmäßigkeit dieser Selbstreflexion von Literatur in Literatur aber ist die ästhetische Freiheit.« Homann 1986, S. 29.
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Die transzendentale Überhöhung des Meta-Gesetzes mittels dem »Erhabenen« muß an der »prosaischen Materialität des Buchstabens« scheitern, letztendlich kann, wie de Man bemerkt, »kein Verwirrspiel und keine Ideologie [...] diese Materialität in die phänomenale Erkenntnis des ästhetischen Urteils verwandeln« .63 Dennoch ist der Verweis auf das »Erhabene« durchaus gerechtfertigt, der durch den »Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht«, (V.d.G.) motiviert wird. Er läßt sich in einer konsequent dekonstruktiven Lektüre funktionalisieren, bezieht man de Mans Re-Konstruktion des »Erhabenen« in der »ästhetischen Urteilskraft« mit ein: Es sind in Wirklichkeit keine Beschreibungen mentaler Funktionen, sondern Beschreibungen tropologischer Transformationen. Sie werden nicht von den Gesetzen des Geistes regiert, sondern von den Gesetzen figurativer Sprache fi4
Betrachtet man die Ästhetik - hier nicht im »Urteil über das Erhabene«, sondern im Gesetz des »Erhabenen« bzw. in der »Erhabenheit« des Gesetzes - als ein performatives Phänomen der Sprache, so läßt sich »Vor dem Gesetz« selbstreflexiv lesen, ohne jedoch dem Gesetz einen transzendentalen Ort zuweisen zu müssen. In dieser Lesart scheitert der »Mann vom Lande«, weil er sich bereits im Gesetz befindet bzw. es konstituiert. Wenn das Gesetz als »Erhabenes« erst im performativen Akt einer figurativen Sprache konstruiert wird, dann konstituiert sich das Gesetz innerhalb der Erzählung erst im Dialog der beiden Protagonisten, genauer in der Bitte um Eintritt und der Verweigerung. Diese werden tatsächlich im Text als sprachliche Akte vollzogen: »Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne.« (V.d.G., Hervorhebungen d. Verf.) Auf der Ebene des Textes wiederum konstituiert sich das Gesetz der Literatur - das Meta-Gesetz der differance - im performativen Akt des Schreibens über das Gesetz. Es findet hier also eine weitere Verschiebung, eine doppelte differance statt, indem das Gesetz in figurativer Sprache als figurative Sprache konstituiert und dabei gleichzeitig verfehlt wird, aufgrund der - der figurativen Sprache inhärenten - Verschiebung oder differance. Hier verkompliziert sich der Sachverhalt jedoch erneut, denn das gesprochene Wort steht bei Derrida immer schon unter dem Primat der geschriebenen Sprache, also der Schrift:
63 de Man 1993, S. 37. 64 de Man 1993, S. 33.
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Wir wollen vielmehr zu bedenken geben, daß die vorgebliche Derivation der Schrift, so reell und massiv sie auch sei, nur unter der Bedingung möglich war, daß die »ursprüngliche«, »natürliche« usw. Sprache nie existiert hat, daß sie nie unversehrt, nie unberührt von der Schrift war; daß sie selbst schon immer eine Schrift gewesen ist. Eine Ur-Schrift, deren Notwendigkeit angedeutet und deren neuer Begriff hier umrissen werden soll, und die wir nur deshalb weiterhin Schrift nennen wollen, weil sie wesentlich mit dem vulgären Schriftbegriff verbunden ist. 65
Ist aber die Schrift der Stimme vorgängig, so bedeutet dies eine weitere Verschiebung für das Gesetz wie für den »Mann vom Lande« und somit auch für den Text. Denn ist das Gesetz als Schrift, als Schrift »Vor dem Gesetz«, der Stimme (des »Mannes vom Lande«) vorgängig, so konstituiert die Schrift erst die Stimme - wie auch der Text erst die Figur. Damit ist der »Mann vom Lande« bereits in der Schrift und also im Meta-Gesetz der differance, ohne es jedoch jemals erreichen zu können. Der Mann, der als Stimme von der Schrift erst konstituiert wird, begehrt Einlaß in das Gesetz (der Schrift/der Schrift als differance) und wird in einem Akt des Aufschubs abgewiesen. Dieser Aufschub vollzieht sich in der Verschiebung von der Schrift zur Stimme. In der Verschiebung zur Stimme artikuliert sich das »Begehren« der Schrift, sich selbst zu begegnen, was aber durch eben diese Verschiebung verhindert wird. Das »Begehren« der Selbstbegegnung der Schrift mittels der Stimme ist für immer aufgeschoben, wie der »Mann vom Lande« erhält sie lediglich einen Ab-»Glanz« des Gesetzes, eine Reflexion ihrer selbst: Der Leser bewahrt sich wie das Gesetz. Er spricht nur von sich selbst, aber dann von seiner Nicht-Identität mit sich selbst. Weder geschieht er, noch läßt er zu, daß man zu ihm gelangt [...]. Er ist das Gesetz, gibt das Gesetz und läßt den Leser vor dem Gesetz. (1992, S. 78)
Liest man das »Erhabene« mit de Man als sprachliches und nicht als transzendentales Prinzip, dann wird der Rekurs auf ein transzendentales Signifikat als eine der Signifikation vorgängige »Idee« - obsolet. Die Schrift, das Gesetz der Schrift, das Meta-Gesetz konstituiert sich selbst im performativen Vollzug und aufgrund seiner Materialität 66 Die Selbstbegegnung der Schrift in der Stimme scheitert zum einen an der ihr eingeschriebenen differance, zum ande-
65 Derrida 1983, S. 98f. 66 Zum Kontext des Prozeß-Romans vgl. Felix Guattari und Gilles Deleuze: »Und schließlich verkündet sich das Gesetz nicht etwa kraft seiner angeblichen Transzendenz, sondern es ist beinahe umgekehrt: Der Urteilsspruch, die Urteilsverkündung schafft das Gesetz, und zwar kraft einer immanenten Macht dessen, der das Urteil verkündet. Das Gesetz vermengt sich mit den Worten des Türhüters, und die Schrift - weit davon entfernt, notwendiger und abgeleiteter Ausdruck des Gesetzes zu sein -geht dem Gesetz voran.« In: Deleuze/Guattari 1976, S. 62.
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ren an der Nicht-Materialität der Stimme, die sich im Text ja als Schrift wieder re-materialisiert. Derrida vollzieht diesen, im Sinne der Dekonstruktion konsequenten Schritt nicht, weshalb der Eindruck einer merkwürdigen Bewegung zwischen einem transzendentalen Signifikat einerseits und einer permanenten differance andererseits entsteht. Allerdings dekonstruiert sich Derrida selbst, wenn er schreibt: Es gibt keine Literatur ohne absolute singulare Performanz, und die strenge Unersetzbarkeit ruft noch einmal die Frage des Mannes vom Lande auf, sobald das Besondere [...] das Allgemeine kreuzt, sobald das Kategorische das Idiomatische in Dienst nimmt, wie es eine Literatur stets tun muß. (1992, S. 83) Der Aufschub der Entscheidung des Mannes hängt auch wesentlich mit der Erscheinung des Türhüters zusammen. Dessen »große Spitznase« und den »schwarzen tatarischen Bart« (V.d.G.) deutet Derrida im Freudschen Sinne als phallisches Symbol^: Wir hätten auch von der hervorragenden und spitzen Form der Nase sprechen müssen. Sie hat in den Salons der Psychoanalyse viel von sich reden gemacht, aber vielleicht hat man nicht immer genug die Gegenwart der Haare beachtet, die sich nicht immer schamhaft im Innern der Nasenlöcher verstecken, so daß man sie manchmal schneidere muß. (1992, S. 52) Die Nase verweist als Symbol auf den Ursprung des Gesetzes. 69 Denn die Entwicklung der Kultur - und damit auch die Notwendigkeit von Gesetzen -
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Vgl. Sigmund Freud: » Alle in die Länge reichenden Objekte [...] wollen das männliche Glied vertreten.« Und weiter: »Die Genitalien können auch im Traum durch andere Körperteile vetreten werden«. Freud 1994a, S. 348 bzw. S. 353. Die Einbeziehung der Freudschen Kategorien in eine literarische Analyse ist insofern statthaft, da Freud, wie Hans-Dieter Gondek hingewiesen hat, von einer Textur des Traumes ausgeht. Die Funktion der Traumdeutung liegt darin, daß sie »das einzelne Zeichen auf seine >Zeichenbeziehung< (was man heute >referentielle Funktion< nennt) hin befragt.« Allerdings rekurriert Freud in der Sakralisierung des Traum-Textes auf ein transzendentales Signifkat: »Psychoanalyse im Sinne Freuds folgt dem Gebot, den erzählten Text des Traumes - den Trauminhalt - wie einen heiligen Text zu behandeln.« Gondek 1993, S. 86 bzw. S. 88. Derrida spielt hier auf die Beschnittenheit von Sprache und Sprecher an, wie er es näher in Schibboleth dargelegt hat: »Wenn alle Dichter Juden sind, so sind alle diese Dichter Beschnittene oder Beschneider. [...] Diese Bedeutungsveränderung führt von der chiffrierten Wunde hin zu allen Lese-Verwundungen, hin zu allen abgeschnittenen Wörtern«. In: Derrida 1996, S. 118f. Vgl. Freud: »Zur symbolischen Darstellung der Kastration dient der Traumarbeit: die Kahlheit, das Haarschneiden, der Zahnausfall und das Köpfen.« In: Freud 1994a, S. 351. Gerade an diesem Punkt wird Derridas Technik der Verschiebung besonders deutlich, denn er benennt niemals explizit den Konnex von Nase, Ursprung und Gesetz:
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steht für Freud, w i e er in einem Brief an Wilhelm Fliess schreibt, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem aufrechten Gang des Menschen, der die Nase über den »sexuellen Gestank« erhebt: Grob gesagt, die Erinnerung stinkt aktuell, wie in der Gegenwart das Objekt stinkt und wie wir das Sinnesorgan (Kopf und Nase) im Ekel abwenden, so wendet sich Vorbewußtes und der bewußte Sinn von der Erinnerung ab. Dies ist die Verdrängung. Was liefert nun die normale Verdrängung? Etwas, woraus frei Angst, psychisch gebundene Verwerfung werden kann, also die Affektgrundlage für eine Menge von intellektuellen Vorgängen der Entwicklung, wie Moral, Scham, u. dgl. Dies entsteht also sämtlich auf Kosten untergegangener (virtueller) Sexualität .70 Die Verdrängung steht bei Freud so am »Ursprung der Kultur«, sie ist jener grundlegende Verschiebungsprozeß, der eine kulturelle Leistung erst ermöglicht. Derrida ersetzt den Terminus Verdrängung durch den der Verschiebung, der eng mit dem Begriff der Spur zusammenhängt. S o erklärt sich, warum Derrida auf eine primäre Verschiebung zurückgreift, w e l c h e die Existenz eines transzendentalen Signifikats zumindest nahelegt: Die Dekonstruktion der Präsenz verläuft über die Dekonstruktion des Bewußtseins, also über den nicht weiter ableitbaren Begriff der Spur [...], so wie sie im Diskurs Nietzsches und Freuds in Erscheinung tritt.71 Eine zentrale Rolle hat die Verdrängung im »Ödipuskomplex«, der für Freud ursächlich mit der Entstehung des Gesetzes zusammenhängt. Denn die Moral hat sich, so Freud in »Totem und Tabu«, aus d e m Ereignis des Urvatermordes entwickelt, und verbietet Inzest und Patrizid: Wir haben die ersten Moralvorschriften und sittlichen Beschränkungen der primitiven Gesellschaft als Reaktion auf eine Tat aufgefaßt, welche ihren Urhebern den Begriff des Verbrechens gab. Sie bereuten diese Tat und beschlossen, daß sie nicht
»Er [das ist Freud] witterte den Ursprung des Gesetzes [...]. Letztlich nahm er eine große Erzählung und überdies eine unabschließbare Selbstanalyse in Angriff, um zu erzählen [...]. Freud hatte es geahnt (senti, gerochen), er hatte eine Nase dafür gehabt [...]. Und er berichtet Fließ [sie!] darüber, mit dem sich eine unerzählbare Nasengeschichte abgespielt hat [...]. All das [das ist der Tartarenbart] ist sehr schwarz, und die Nase tritt mit jener Genitalzone, die man sich in diesen dunklen Farben vorstellt [...] zu einem Symbol zusammen.« Derrida 1992, S . 5 1 f f . In der Rekonstruktion der Spur von der Nase zum Ursprung des Gesetzes vollzieht Derrida performativ jene Verschiebung, die für Freud als Verdrängung am Ursprung des Gesetzes steht. Der explizite Rückgriff auf »Totem und Tabu« erfolgt erst fünf Seiten später; vgl. Derrida 1992, S. 57. 70 Brief Freuds an Wilhelm Fliess vom 14. Nov. 1897 (= Brief 146). In: Freud 1986, S.303. 71 Derrida 1983, S. 123.
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mehr wiederholt werden solle, und daß ihre Ausführung keinen Gewinn gebracht haben dürfe. Dies schöpferische Schuldbewußtsein ist nun unter uns nicht erloschen. [...] Demnach könnten die bloßen Impulse von Feindseligkeit gegen den Vater, die Existenz der Wunschphantasie, ihn zu töten und zu verzehren, hingereicht haben, um jene moralische Reaktion zu erzeugen, die Totemismus und Tabu geschaffen hat.72 Das bedeutet, daß der »Urvatermord« einerseits die Entstehung des Gesetzes bedingt, andererseits Kultur erst durch die Verdrängung der verbotenen Inzestund Patrizidphantasien hervorgebracht wird. Allerdings ist hier der Bezug zu Schrift und Sprache noch sehr allgemein; in der Interpretation von »Vor dem Gesetz« greift der Bezug auf Freud zu kurz, wie schon Horst Turk angemerkt hat. 7 3 Denn das Begehren des »Mannes vom Lande« entspricht jenem Begehren, über welches »das Subjekt sich den Weg in die Sprache bahnt«74. Das Inzestverbot des Vaters bedeutet für Lacan den Eintritt des Subjekts in die »symbolische Ordnung«75 und damit gleichzeitig in die Sprache. Die Sprache jedoch ist a priori durch Metonymie (Verschiebung) und Metapher (Verdichtung) gekennzeichnet und somit ein »System der Täuschung und des Tauschs«76. Durch diesen Tausch kommt die permanente Verschiebung, die differance, im Signifikationsprozeß in Gang, in der das Signifikat unter dem Signifikanten gleitet: »Das Symbol stellt sich zunächst als Mord der Sache dar, und dieser Tod konstituiert im Subjekt die Verewigung seines Begehrens«77. Das heißt, daß das Begehren, in das Gesetz (bzw. in die Sprache) Einlaß zu finden, durch eben jenen Prozeß des Eintritts in die »symbolische Ordnung« unterbunden wird, der mittels Inzestverbotes, und damit des »Gesetzes des Vaters«, den Zugang zur Sprache schafft und dieses Begehren erst konstituiert: »Die historische Suche führt den >Bericht< [...] auf die unmögliche Aufdek-
72 Freud 1994b, S. 441f. 73 Vgl. Turk: »Eine psychoanalytische Interpretation des Gesetzes, das von Josef K. in der Türhüter-Parabel erkannt wird, kann nicht allein mit Freud, sondern muß mit Lacan versucht werden.« Turk: »betrügen... ohne Betrug«. Das Problem der literarischen Legitimation am Beispiel Kafkas. Turk 1977, S.393. Dieser Aufsatz ist für den gesamten Komplex Freud - Lacan - Sprache äußerst erhellend. 74 Turk 1977, S. 396. Daß das Begehren, auch im psychoanalytischen Sinne, das zentrale Thema der Parabel ist, haben Guattari und Deleuze festgestellt: »Dort, wo man das Gesetz vermutet hatte, ist in Wahrheit Verlangen, bloßes Verlangen.« Deleuze/Guattari 1976, S. 68. 75 Vgl. dazu Jacques Lacan: »Im Namen des Vaters müssen wir die Grundlage der Symbolfunktion erkennen, die seit Anbruch der historischen Zeit seine Person mit der des Gesetzes identifiziert.« Lacan 1991b, S. 119. 76 Turk 1977, S. 395. 77 Lacan 1991b, S. 166.
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kung des Ortes und eines Ereignisses hin, eines Statthabens, w o das Gesetz als Verbot auftaucht« (1992, S. 57). Die Verschiebung dauert somit bis zum Tode, da das Gesetz als Ursache und Effekt wirkt; es konstituiert das Begehren und verbietet zugleich seine Erfüllung, dadurch wird es gleichzeitig aufrechterhalten und verschoben. Aus Sicht des dekonstruktiven Feminismus allerdings ist diese Relation von Sprache und Gesetz (des Vaters) nicht unproblematisch, denn sie drängt auf eine »metaphorische« Lektüre, welche die ursprüngliche Gespaltenheit in einer männlich zentrierten Subjektkonstitution zu überbrücken sucht: Das Begehren ist erst mit der Lösung des Rätsels gestillt. Die Lösung des Rätsels, das Ende des Begehrens, kommt einer Auflösung gleich, einem Aufgehobenwerden, einem spurlosen Verschwinden der Differenz des Weiblichen im Männlichen. Freuds Begehren ist auf das Weibliche als Funktion zur Konsolidierung des Männlichen gerichtet, auf eine Bestätigung des Identischen, auf eine Wiederholung des Gleichen.^ Unter dieser Prämisse wäre das Begehren des »Mannes vom Lande«, durch die Türi9 das Gesetz zu penetrieren, als Versuch zu lesen, das beunruhigende »Weibliche«, Metonymische zu bändigen. Derrida nun versucht dieser Bewegung der metaphorischen Zuschreibung zu entgehen, indem er den »Urvatermord« dem Metonymischen oder, im Sinne Kristevas, dem Semiotischen (das ist das Metonymische bzw. das Vorsymbolische im Sinne Lacans, im Gegensatz zum Metaphorischen bzw. Symbolischen) zuordnet. 80 Für ihn ist
78 Vinken 1992, S. 7. 79 Im Kontext von Freuds Theorie kann die »Tür« problemlos als Synekdoche für das Symbol des »Weiblichen« gelesen werden: »Zimmer im Traume sind zumeist Frauenzimmer« . In: Freud 1994a, S. 348. so Diese Verschiebung ist durchaus problematisch, denn - wie Sigrid Weigel darlegt die Fixierung des Semiotischen bei Kristeva wie des Verschiebens bei Derrida auf das Weibliche hat letztlich doch wieder eine metaphorische Sinnkonstitution zur Folge: »Zu diesem Zweck entwickelt er [das ist Derrida] ein Verfahren, in dem das Weibliche offenbar die Gewähr dafür bieten muß, daß sich die Bewegung des Entziehens, die die Festlegung verhindern soll, tatsächlich ereignet. [...] [Es] werden in seiner Textpraxis Frau und Weibliches festgeschrieben; als Bild für das Unentscheidbare sind sie sowohl in einer Definition als auch in der Funktionsweise als Metapher festgelegt.« Weigel 1986, S. 117. Es bliebe also zu fragen, ob Derrida in seiner Zuschreibung des Gesetzes zum Metonymischen nicht genau jenen Akt der Sinnkonstituition vollzieht, den er beim »Mann vom Lande« in seinem »sexuellen Versagen« verschoben sieht: »Die Vertagung bis zum Tod des alten Kindes, des kleinen Alten, läßt sich ebensogut als Nicht-Penetration durch vorzeitigen Samenerguß oder durch Nicht-Ejakulation interpretieren. Das Ergebnis ist dasselbe, das Urteil, der Schluß. Das Tabernakel bleibt leer und die Dissemination fatal.« Derrida 1992, S. 76. Die Kritik Judith Butlers geht ebenfalls in diese Richtung (s.u.).
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dieses Ereignis ein Quasi-, ein Nicht-Ereignis, das »den narrativen Bericht zugleich anruft und annulliert. Denn die Wirksamkeit der >Tat< oder der >Untat< erfordert, daß sie auf irgendeine Weise von Fiktion durchwoben ist« (1992, S. 58). Der »Urvatermord« ist lediglich ein Mythos, eine Fiktion, der allerdings so zum Ursprung von Literatur wie Gesetz wird. Es ist die Geschichte vom toten Vater, ohne Autor und ohne Ende, aber eben in seiner kulturschaffenden Funktion, eine Erzählung und Gesetz (vgl. 1992, S.60). Diese Transposition des »Urvatermordes« und des daraus resultierenden »Gesetz des Vaters« in den Bereich der Fiktion oder Poesie, ist als Versuch Derridas zu werten, der Zuschreibungsfunktion in einer Verschiebung auszuweichen. Denn in der poetischen Sprache subvertiert das Semiotische, so Kristeva, das Symbolische: Indem die poetische mimesis die Konstituierung des Symbolischen als Sinn imitiert, verursacht sie nicht nur die Auflösung der denotativen Funktion, sondern auch der dem Thetischen vorbehaltenen Funktion, das Subjekt zu setzen. Darin übertrifft die moderne poetische Sprache jede klassische (theatralische oder romaneske) mimesis: sie greift nicht nur die Denotation (Setzung des Objekts), sondern auch den Sinn (Setzung des aussagenden Subjekts) an. Auf diese Weise unterminiert die poetische Sprache nicht nur das unvermeidliche Wahrscheinliche, auf dem die klassische mimesis ruhte, sondern auch die Setzung des Aussagens, die Setzung des Subjekts, sofern es im Signifikanten fehlt; d.h. die poetische Sprache macht dem Subjekt den Prozeß, indem sie sich semiotischer Markierungen und Bahnungen bedient. 8 1
Das Gesetz in »Vor dem Gesetz« wäre somit einer paradoxen ambiguen Struktur unterworfen. Einerseits betriebe es als »Gesetz des Vaters« eine metaphorische Sinnkonstitution, die eine Eliminierung der differance zum Ziel hätte. Andererseits würde es als Semiotisches, im Sinne Kristevas, diese Sinnkonstituierung in einer permanenten metonymischen Verschiebung dezentrieren und also verhindern. Es ist dies das Paradox der durch die Temporisation verschobenen Präsenz, der gleichzeitigen Lesbarkeit wie Unlesbarkeit: Die Lektüre kann nämlich offenbaren, daß ein Text unberührbar, im eigentlichen Sinne unantastbar, weil lesbar ist und zugleich unlesbar in dem Maße, w i e die Gegenwart eines wahrnehmbaren, faßbaren Sinns in ihm ebenso verborgen bleibt wie sein Ursprung. Die Unlesbarkeit ist dann der Lesbarkeit nicht mehr entgegengesetzt. (1992, S . 5 6 )
Zunächst erscheint es jedoch sinnvoll, die Kritik Butlers am Konzept des Semiotischen von Kristeva in die Interpretation einzubeziehen. Die Grundlage
81 Kristeva 1978, S. 67.
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von Kristevas Modell bildet ein differenziertes Triebmodell, das durch die Verschiebung der Libido (Inzestverbot) erst die Möglichkeit von Sprache schafft. Auf diesen Aufschub des Triebes durch und in der Sprache gründet sich letztlich auch Derridas differance-Konzept: Die poetische Funktion ist eine Funktion der Verwerfung und Aufspaltung, die dazu tendiert, die Bedeutungen zu brechen und zu vervielfältigen; sie setzt die Heterogenität der Triebe durch die Vervielfältigung und Destruktion der eindeutigen Bezeichnung in Szene. Der Drang nach einem hochdifferenzierten oder mehrstimmigen Ensemble von Bedeutungen stellt sich somit als Rache der Triebe an den Regeln des Symbolischen dar, die umgekehrt auf der Verdrängung dieser Triebe beruhen. 82
Das Problem jedoch, so Butler, besteht darin, daß Kristeva niemals »die strukturalistische Prämisse in Frage [stellt], daß das prohibitive Gesetz des Vaters für die Kultur als solche grundlegend ist«83. Letztlich stellt somit das Semiotische nur das vom Symbolischen zugleich geforderte wie bekämpfte antagonistische Prinzip dar, das es benötigt, um die Konstitution des Subjekts als selbstidentisches zu vollziehen. Für »Vor dem Gesetz« würde dies bedeuten, daß das »Gesetz des Vaters« seine eigene metonymische Verschobenheit inszeniert, um sich zu konstituieren. In dieser Verschiebung weckt das Gesetz das Begehren, in es einzudringen, um es einer Sinnkonstitution zuzuführen. Zwar verhindert die Verschiebung dieses Eindringen, aber das Gesetz konstituiert sich im Verbot, es zu penetrieren. Das ist eine höchst paradoxe Situation, denn zum einen konstituiert sich das Gesetz in einem performativen Akt, dem wiederum die metonymische Verschiebung, also differance, eingeschrieben ist. Zum anderen realisiert es sich als Verbot, als Aufschub, wie Derrida hingewiesen hat (s.o.). Die differance, die Subversion des Gesetzes kann sich nur innerhalb des Gesetzes selbst vollziehen, so Butler: Wenn Subversion möglich ist, dann nur als eine, die von den Bedingungen des Gesetzes ausgeht, d.h. von den Möglichkeiten, die zutage treten, sobald sich das Gesetz gegen sich selbst wendet und unerwartet Permutationen seiner selbst erzeugt. 84
Tatsächlich scheint Derridas Text diese innerdiskursive Verschiebung zu vollziehen. Er bewegt sich ständig an der Grenze zwischen metaphorischer Setzung und metonymischer Verschiebung, und dies vorzugsweise in einem einzigen Satz. Gerade in der Analyse der Beziehung von »Urvatermord« und literarischem Text wird dies besonders deutlich, wie folgendes Beispiel zeigt:
52 Butler 1991, S. 126. 53 Butler 1991, S. 131f. 54 Butler 1991, S. 141f.
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Ereignis ohne Ereignis, reines Ereignis, bei dem nichts geschieht, Ernsthaftigkeit eines Ereignisses, das die Erzählung in ihrer Fiktion erfordert und annulliert. Nichts neues geschieht, und dennoch soll dieses Nichts an Neuem das Gesetz inauguriert haben, die beiden grundlegenden Verbote des Totemismus, Mord und Inzest. [...] Es ähnelt einer Fiktion, einem Mythos oder einer Fabel. (1992, S. 59. Hervorhebungen d. Verf.)
Die Gleichsetzung von Fiktion bzw. Literatur (Fabel) und Mythos ist jedoch problematisch. Denn der Mythos, hier als Deutungsmuster der Aporien der Menschheit gelesen, hat, zumindest bei Claude Levi-Strauss, zwei grundlegende Merkmale. Erstens will Levi-Strauss den Mythos, obwohl er ein sprachliches Phänomen darstellt, der Arbitrarität des Signifikationsprozesses entzogen wissen. Der Mythos hat für ihn eine Bedeutung, ein Signifikat, das vom Signifikanten losgelöst ist: »Der Mythos ist Sprache; aber eine Sprache, die auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn, wenn man so sagen darf, sich vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag«85. Zwar läßt sich Derridas Formulierung als Kritik an diesem Mythosmodell lesen, aber der Sachverhalt bleibt zweideutig, da ja der Mythos nicht nur die Fiktion erfordert, sondern diese auch annulliert. Es bleibt also zu fragen, ob hier nicht, gleichsam »durch die Hintertür«, das transzendentale Signifikat wieder eingeführt wird. Levi-Strauss' Mythosbegriff führt dieses transzendentale Signifikat ein, was ursächlich mit dem zweiten Merkmal des Mythos zusammenhängt, nämlich dessen oraler Struktur; hier ist die Stimme der Schrift vorgängig: Bevor wir erkennen, daß alle und auch die kleinsten Einzelheiten in den Mythen eine passende Funktion haben, müssen wir uns auf Berichte stützen, so wie sie uns zukommen. Das sind, so scheint es, Geschichten, die weder Kopf noch Fuß haben. [...] Es war nicht möglich, sagte ich, daß die Menschen ihre Zeit damit verbracht haben, Absurditäten zu erzählen. Ich glaubte, daß auch darin eine Ordnung und Vernunft liegt. 86
Aber anstatt eine Setzung vorzunehmen, sich also für die Fabel oder den Mythos, für die Vorgängigkeit der Schrift oder der Stimme zu entscheiden, nimmt Derrida wiederum eine metonymische Verschiebung der metaphorischen Zuordnung vor. Er entscheidet sich, wie der »Mann vom Lande«, sich nicht zu entscheiden. Er fällt kein Urteil, er bleibt im Vor-Urteil.
85 Levi-Strauss 1977, S. 231. 86 Levi-Strauss 1980, S. 141. Daß die grundlegende These von der vom Zeichen losgelösten Bedeutung für Levi-Strauss mit der Oralität verbunden ist, zeigt folgende Formulierung: »Dagegen bleibt der Wert des Mythos trotz der schlimmsten Übersetzung bestehen.« Levi-Strauss 1977, S. 230.
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Nach dieser Verbindung von Titel, Gesetz und Fiktion stellt sich für Derrida jedoch die entscheidende Frage nach der Lesbarkeit. Die Unzulänglichkeit des Mannes besteht für ihn darin, daß er nicht weiß, daß man nicht in das Gesetz eintreten kann, »sondern [es] zu entziffern ist« (1992, S. 56). Der »Mann vom Lande« versucht in den Ort einzudringen, wo »das Gesetz als Verbot auftaucht« (1992, S. 57), und zwar als Verbot als Einzelner vor das Gesetz, das Allgemeine zu treten. Denn das Gesetz hat keine Anwesenheit, das Gesetz »entzieht sich jenem Wesen des Seins, das die Präsenz wäre« (1992, S. 70). Es befindet sich, wie der Text, in dem paradoxen Zustand, zugleich lesbar und unlesbar zu sein. »Vor dem Gesetz« ist, so Derrida, vor allem ein selbstgesetzgebender Text. Das besagt schon der Titel, der »vor dem Gesetz« steht, und dies signalisiert auch der Schluß, an dem der Türhüter sowohl das Gesetz als auch den Text schließt: »Ich gehe jetzt und schließe ihn.« (V.d.G.) Die unabschließbaren Verschiebungen der dijferance bedingen die Un-Lesbarkeit von Text und Gesetz, der elliptische Status des Textes praktiziert das Programm dekonstruktiver Lektüre wie es de Man beschreibt: »Rhetorik ist die radikale Suspendierung der Logik und eröffnet schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verirrung.«87 Und so muß diese dekonstruktive Re-Lektüre von Derridas Text beendet werden, wie der »Mann vom Lande« ans Ende gelangt, ohne das Ende zu erreichen (vgl. 1992, S. 77), denn die »Erzählung ohne Erzählung« (1992, S. 75) ist prinzipiell unabschließbar. Und somit gebührt Derrida das (vor-)letzte Wort: Indem er die Sache abschließt, wird er den Text abgeschlossen haben. Der gleichwohl hinter nichts abschließt. Die Erzählung »Vor dem Gesetz« erzählte oder beschriebe nur sich selbst, insofern sie Text ist. [...] Nicht in der gesicherten Spiegelung und Reflexion einer selbstbezüglichen Transparenz, [...] sondern in der Unlesbarkeit des Textes, wenn man darin genau die Unmöglichkeit verstehen will, [...] zu seinem eigentlichen Sinn Zugang zu finden, den vielleicht inkonsistenten Gehalt [...]. Der Text bewahrt sich wie das Gesetz. Er spricht nur von sich selbst, aber dann von seiner Nicht-Identität mit sich selbst. Weder geschieht er, noch läßt er zu, daß man zu ihm gelangt [...]. Er ist das Gesetz, gibt das Gesetz und läßt den Leser vor dem Gesetz. [...] Wir sind vor diesem Text, der, indem er nichts deutliches sagt, keinen identifizierbaren Gehalt jenseits der Erzählung selbst präsentiert, außer einer unabschließbaren dijferance bis zum Tode, gleichwohl im strengen Sinne unantastbar bleibt. (1992, S. 78)
87 de Man 1988, S. 40.
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5. Abschließende Betrachtung
» Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.« (Franz Kafka: Der Proceß, S. 229)
Die Frage, die in einer konsequent dekonstruktiven Re-Lektüre der Derridaschen Kafka-Interpretation immer wieder zu stellen ist, ist jene nach dem transzendentalen Signifikat. Obwohl Derrida natürlich seinerseits einen solchen »letzten« Bezug verneint, ist nach Meinung der Verfasser dieser Sachverhalt zumindest problematisch. Wenn Derridas Arbeitsweise trotz ständiger Verschiebungen und Verweisungen doch letztendlich auf etwas »Bestehendes« verweist, dann ist er in dieselben Strukturen zurückgefallen, die er zu dekonstruieren versucht hat. Doch anstatt an dieser Stelle eine metaphorische Setzung vorzunehmen, verweisen die Verfasser metonymisch auf die folgenden ab-abschließenden Bemerkungen. Da als Ziel einer dekonstruktiven Lektüre der Vollzug der Lektüre gesehen werden kann, muß, mit Roland Barthes gesprochen, die »Lust am T e x t « 8 8 und insofern eine fortgesetzte Lektüre im Vordergrund stehen. Daher ist auch die Re-Lektüre der dekonstruktiven Derrida-Interpretation des Kafka-Textes nicht abschließbar, sondern zeigt, wie auch schon »Prejuges«, Verschiebungen und Verweisungen, die wiederum auf etwas verweisen und dies in einem unabschließbaren Prozeß: »Darin aber sind viele einig, daß er [der Türhüter] das Tor nicht wird schließen können.« (Proceß, S.232) Verstehen und Mißverstehen schließen einander in einer dekonstruktiven Lektüre nicht (völlig) aus. Im Prozeß wird kein Urteil gefällt, und es wird auch unmöglich, über einen Text zu urteilen, allerdings existiert, wenn es kein Mißverstehen gibt, auch keine Täuschung: Dann sagte K.: >Du glaubst also der Mann wurde nicht getäuscht?< >Mißverstehe mich n i c h t s sagte der Geistliche, >ich zeige Dir nur die Meinungen, die darüber be-
88
Der Begriff der »Lust am Text« wurde von Roland Barthes geprägt und ist inzwischen zu einem feststehenden Begriff geworden, der auf den Widerspruch im Text hinweist: » W e r erträgt schon ohne Scham, sich zu widersprechen? Nun, dieser Antiheld existiert: es ist dies der Leser eines Textes in dem Moment, w o er Lust empfindet. Der alte biblische Mythos kehrt sich um, die Verwirrung der Sprachen ist keine Sprache mehr, das Subjekt gelangt zur Wollust durch die Kohabitation der Sprachen, die nebeneinander arbeiten: der Text der Lust, das ist das glückliche Babel.« Barthes 1974, S. 8 .
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Maximilian G. Burkhart und Anne Carolin Gaiser stehen. Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber. [...]< (Proceß, S. 230)
Auch der Prozeß des »Herrn K.« ist unabschließbar, er entwickelt sich ebenfalls nur durch den Vollzug: »Das Gericht will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf, wenn Du kommst, und es entläßt Dich, wenn Du gehst.« (Proceß, S. 235) In diesem Sinne entläßt der Text den Leser in der Hoffnung, daß die dargelegten »Meinungen« nicht nur »als Ausdruck der Verzweiflung« aufgefaßt werden: »Wenn man schon am Anfang zu stolpern beginnt...«
ANDREAS ROTHEIMER
Kunst am Nullpunkt? oder Die Auferstehung des Interpreten Eine systemtheoretisch inspirierte (Re-)Konstruktion von K a f k a s
Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse »The texture of life is determined by who is listening.« 1
1. Die labyrinthische Erzählstruktur als kommunikative Inszenierung referentieller Unsicherheiten »Unsere Sängerin heißt Josefine. Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesanges.«2 Mit dieser apodiktisch anmutenden Behauptung beginnt Kafkas letzte Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. Der zentrale Themenkomplex auf der Objekt- bzw. Inhaltsebene ergibt sich aus der Frage, »wie es sich mit dieser [Josefines; A. R.] Musik eigentlich verhält.« (S.274) Dabei wird schon durch die anfängliche Feststellung das Problem der Wahrnehmung in den Vordergrund gerückt. Das Verstehen von Josefines Gesang bzw. von der Macht, die davon ausgeht, kann nur über die direkte auditive Wahrnehmung, das Hören, gewährleistet werden. Der Gesang bzw. die Wahrnehmung des Gesangs fällt somit prinzipiell in den Bereich des Inkommunikablen, da er nicht durch Sprache erfaßt und kommuniziert werden kann. Damit scheint das Scheitern des Erzählvorhabens vorgezeichnet. Denn wie soll es unter diesen Voraussetzungen möglich sein, über den Gesang zu reden bzw. zu schreiben?3 Weitreichende Konsequenzen ergeben sich dabei auch für den Leser und Interpreten des Textes, in dem Inkommunikables kommunikabel gemacht und Unaussprechliches sprachlich erfaßt werden soll. Josefines Gesang und der Text gehören gleichermaßen zum Kommunikationssystem und müssen interpretiert werden. Nicht nur Sprache, sondern vor
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Delany 1977, S. 83. Kafka 1994a, S. 274. Im folgenden erscheinen die Textnachweise direkt im Anschluß an die Zitate. 3 Dieser Problemkreis, der ja in vielen Texten Kafkas wiederzufinden ist, wird schon von Roland Barthes angesprochen, wenn er konstatiert, daß bei Kafka die Welt »unutterable« ist und daß »the artist's only task is to explore possible significations«. Zitiert nach Harter 1987, S. 151. 2
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allem Interpretation, die als Bewußtseinsoperation über Sprache strukturell an Kommunikation gekoppelt ist, wird zum Problem. 4 Allerdings erscheint auch der Primat der auditiven Wahrnehmung fragwürdig, da der Erzähler erklärtermaßen einem Volk angehört, das »im ganzen Musik nicht liebt« (S. 274) und nicht einmal die Fähigkeit besitzt, sich zu »so fernen Dingen [zu] erheben, wie es die Musik ist« (S. 274). Daher müßte auch jegliches Bestreben, den Gesang auditiv-perzeptiv zu erfassen, fehlschlagen.5 Eine eindeutige Zuordnung des von Josefine produzierten Geräuschs kann durch den Erzähler nicht geleistet werden. Die Frage »Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen?« (S. 275) muß in letzter Instanz offen bleiben. Das Wissen um die Inadäquatheit der auditiven Wahrnehmungsvoraussetzungen und um die Unmöglichkeit, Musik in Sprache, Stimme in Schrift zu übersetzen, manifestiert sich auf der Textebene in der labyrinthischen und zirkulären Argumentation des Erzählers. 6 Der Versuch, Gesang und Musik sowie deren Interpretation über das Medium Sprache an Kommunikation zu koppeln, erweist sich als zutiefst problematisch und defizitär, so daß die Aussagen des Erzählers über den Gesang in einer fortlaufenden Kette von Streichungen, Widersprüchen, Einräumungen und Selbstdementi problematisiert und revidiert werden. Der Erzählvorgang des Behauptens und Aufhebens, des Ausholens und Zurücknehmens? ist sowohl durch explizit inhaltliche Widersprüche als auch durch die Häufung von Negationspartikeln oder adversativen Konjunktionen und Adverbien, wie aber, sondern, allerdings, vielmehr, dagegen etc., die eine Einschränkung des Erzählten indizieren, gekennzeichnet. Die Syntax ist vor allem durch konditionale Satzstrukturen (wenn, dann) geprägt, die in Kombination mit der Präferenz des Konjunktivs gegenüber dem Indikativ die Annahmen des Erzählers als hypothetisch markieren .8 Gleiche Wirkung und Funktion hat die hohe Frequenz von Interrogativsätzen. Auch einschränkende Modaladverbien, wie vielleicht, eigentlich, wohl, irgendwie, gewisser-
4
Zur Unterscheidung von Kommunikation und Wahrnehmung oder Kommunikation und Bewußtsein als operativ geschlossene, autopoietische Systeme vgl. u. a. Luhmann 1992, S. 23ff. u. 36ff. und Luhmann 1995, S. 21ff. - Zur strukturellen Kopplung von Kommunikation und Bewußtsein siehe Luhmann 1988,1988a. 5 Nach Ramm 1971 »wird dem Gesang [so] im Grunde schon jede Vergleichbarkeit genommen [...].« (S. 142) 6 Zum labyrinthischen Charakter der Erzählstruktur vgl. auch Lubkoll 1992. 7 In Anlehnung an Beda Allemann spricht Ramm 1971 in diesem Zusammenhang von Kafkas »hypothetischefm] Erzählstil[]«. (S. 118f.) 8 Zu Kafkas Erzählstil und zur Funktion von sprachlichen Formeln und Partikeln mit adversativer und einschränkender Semantik vgl. auch Steinmetz 1977, S. 107-119 und Kurz 1980, S. 199f.
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maßen, wahrscheinlich, fast, Phrasen, wie dem Anschein nach, scheinbar, angeblich, und vergleichende Verbalkomplexe, wie es ist als ob, es scheint wie wenn, führen zur Verunsicherung des Erzählten. Schon der Status Josefines und einzelner Gruppen des Volkes erscheint fragwürdig. So kann Josefine lediglich eine »angebliche Künstlerschaft« (S.275) zugesprochen werden, und auch bei der Opposition handelt es sich bezeichnenderweise nur um »angebliche Gegner« (S. 278). Selbst der Gesang, der bloß »fast wie eine Botschaft« und nur »fast wie die armselige Existenz unseres Volkes« (S. 283) ist, welches dieser nur»[angeblich] [a]us schlimmer politischer oder wirtschaftlicher Lage« [Hervorhebungen A. R.] (S. 281) rettet, kann nicht eindeutig definiert werden. Die Argumentation des Erzählers wird ständig durchgestrichen und neu orientiert. Die häufige Verwendung von Diskursmarkern mit alternierend affirmativer, erweiternder, modifizierender oder negierender Semantik, wie z.B. doch, also, übrigens, zwar, ja, freilich, natürlich, bringt dabei die argumentativen >Turns< des Sprechers zum Ausdruck.9 Auch auf der Inhaltsebene erweisen sich die Versuche, den Gesang Josefines zu interpretieren, als extrem widersprüchlich und unsicher. So wird ζ. B. behauptet, daß ihr Gesang einerseits »fortreißt« (S.274), aber andererseits »nichts Außerordentliches darstellt.« (S.275) Dann wiederum sieht der Erzähler durch Josefines Gesang »eine gewisse Musiktradition [...] gewahrt« (S. 286), obwohl er vorher noch so ausdrücklich betonte, daß das Volk eine »Ahnung dessen [hat; A. R.], was Gesang ist,« der »Josefinens Kunst eigentlich nicht [entspricht].« (S. 275). Allerdings ist es nicht nur der Erzähler, der sich in Widersprüche verstrickt, wenn er Josefine an einer Stelle als »Nichts an Stimme« (S. 283) bezeichnet, später dagegen davon ausgeht, daß es für Josefine »keine Schwächen ihrer Stimme [gibt]« (S. 290); auch Josefines Selbstverständnis unterscheidet sich deutlich von den Beobachtungen und Interpretationen des Volkes: Während »wir [das Volk, A. R.] Josefinens Gesang verstehen oder [...] wenigstens zu verstehen glauben [...], [leugnet] Josefine unser Verständnis.« (S. 274) »[S]ie nennt es [ihr Pfeifen; A. R.] perlend, wir nennen es stoßend [...].« (S.286) Selbst das Volk als anonymes Interpretenkollektiv läßt sich nach Maßgabe der jeweils unterschiedlichen Beurteilungen von Josefines Gesang in verschiedene Gruppen spalten. Während einige, die sich als »Opposition« (S. 277) verstehen, »einander offen [eingestehen], daß Josefinens Gesang als Gesang nichts Außerordentliches darstellt« (S. 275), so beglaubigt der aus einem »Schwärm von Schmeichlern« (S.282) bestehende »Anhang« (S.291) Josefines Gesang
9
Zur Funktion von Diskursmarkern vgl. Bußmann 1990, S. 190.
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und ihren angeblichen Künstlerstatus. Die Frage, ob das von ihr produzierte Geräusch als Gesang oder als Pfeifen und damit als Kunst oder als »Lebensäußerung« (S. 275) bezeichnet wird, hängt scheinbar von dem Standpunkt bzw. der Perspektive des Beobachters ab.io Bezeichnenderweise ist der Erzähler in diesem Zusammenhang doppelt markiert; der Multiperspektivismus ist ihm gewissermaßen eingeschrieben. Rührt sein permanentes Pendeln zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung Pfeifen/Gesang nicht auch daher, daß er »halb« (S. 277) zur Opposition und halb zu der Gruppe der Schmeichler gehört? Dabei ist die Unterscheidung von Pfeifen und Gesang der Ausgangspunkt weiterer Anschlußmöglichkeiten. Nur wenn das von Josefine produzierte Geräusch als Gesang vom Pfeifen unterschieden, d. h. als solcher identifiziert und bezeichnet wird, folgen weitere Interpretationen bzw. Sinnzuschreibungen.
2.
Der Unterschied zwischen Pfeifen und Gesang als Beobachtungsartefakt
Vor dem Hintergrund eines systemtheoretischen Bezugsrahmens sind die Momente der Unterscheidung und der Bezeichnung konstitutiv für jede Form von Beobachtungsoperation, wobei der auf dem unterscheidungslogischen Formenkalkül nach Spencer Brown basierende systemtheoretische Beobachtungsbegriff Beobachtung als den operativen Gebrauch einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen Seite der Unterscheidung definiert.11 Die Operationen der Unterscheidung (>distinctionindication^ werden dabei nicht getrennt voneinander vollzogen, sondern simultan prozessiert.12 Die Unterscheidung erzeugt eine Grenze zwischen dem marked space, der bezeichneten Seite, und dem unmarked space. Im Rahmen derselben Beobachtungsoperation können aber immer nur die bezeichnete Seite einer Unterscheidung, der marked space, niemals dagegen beide Seiten der Unterscheidung bzw. die Unterscheidung selbst, die »Form«13, beobachtet werden. Die
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So weist der Erzähler in Form von parenthetischen Einschüben (ζ. B. » - wie es mir wenigstens scheint —« (275)) auch häufig darauf hin, daß seine Aussagen über Josefines Gesang subjektiv und beobachterabhängig sind. 11 Vgl. hierzu u.a.Luhmann 1988, S. 84. 12 »We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form.« (Spencer Brown 1979, S . l ) 13 »Call the space cloven by any distinction, together with the entire content of the space, the form of the distinction. Call the form of the first distinction the form.« (Spencer Brown 1979, S. 4)
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Ausblendung der Unmöglichkeit, neben der bezeichneten Seite gleichzeitig die Einheit der Unterscheidung selbst, d. h. den blinden Reck der Beobachtung, zu sehen, gilt dabei als Voraussetzung jeder Beobachtung. 14 Die Beobachtung ist in diesem Sinne zugleich blind und nicht-blind, ohne daß die Simultaneität der beiden Seiten der Unterscheidung den Beobachter beim Vollzug der Beobachtung stört.is Der blinde Fleck bzw. die binäre Unterscheidung einer Beobachtung (erster Ordnung) kann allerdings im Rahmen einer Beobachtungsbeobachtung, d.h. einer Beobachtung zweiter Ordnung, beobachtet werden, wobei auch die Beobachtung zweiter Ordnung an die Ausblendung ihres eigenen blinden Flecks gebunden ist.i6 Jede Beobachtung zweiter Ordnung, die als Selbstbeobachtung ihre Beobachtungsunterscheidung erster Ordnung wiederbeobachtet und dabei dieselbe Unterscheidung verwendet - bei dieser Form des Wiedereintritts einer Unterscheidung (Form) in das von ihr Unterschiedene spricht man von einem re-entry im Sinne Spencer Brownsl? - , führt zu einer antinomischen Paradoxie: Man erkennt, daß man etwas (A) nur beobachten kann, weil man einen blinden Fleck hat, also nicht (alles) (A und NichtA) sehen kann (-> Α weil Nicht-A).18 Im Rahmen der Selbstreferenz der Beobachtung kommt es zu einer Irritation des Beobachters bezüglich der von ihm gemachten Unterscheidung, da erkannt wird, daß mit der Beobachtung der einen Seite (marked space) die andere, ausgeblendete Seite (unmarked space) nicht ausgeschlossen werden kann, und diese Seite dann als bivalenter marked space unweigerlich in die Beobachtung Wiedereintritt. Die Einheit der Beobachtung entpuppt sich als Differenz; der Beobachter kann nicht umhin, »das Paradox als Letztformel [zu; A.R.] akzeptieren.«^ Die Unwahrscheinlichkeit der Beobachtung erster Ordnung gerät in den Blick. In diesem Zusammenhang wird der paralysierte Selbstbeobachter mit der unvermeidbaren Selektivität und der damit einhergehenden Kontingenz, dem A u c h - a n d e r s - m ö g l i c h - s e i n 2 0 seiner Beobachtung,
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»Jede Unterscheidung hat einen blinden R e c k , und dieser blinde Fleck ist sie selbst. Die Unterscheidung kann sich nicht selbst beobachten, daher sieht sie nicht, was sie nicht sieht, und sieht auch nicht, daß sie nicht sieht, w a s sie nicht sieht.« (Baecker 1990, S . 17f.) - »Jede Beobachtung braucht ihre Unterscheidung und also ihr Paradox der Identität des Differenten als ihren blinden Fleck, mit dessen Hilfe sie beobachten kann.« (Luhmann 1991a, S. 63) V g l . dazu Luhmann 1 9 8 8 , S . 95. Zur Unterscheidung zwischen Beobachtungen erster und zweiter Ordnung vgl. ζ . B . Luhmann 1 9 8 8 , Kap. 2 (v. a. S . 8 5 f f . u. 97ff.) und Luhmann 1995, S . l O l f f . Vgl. Spencer Brown 1979, S . 5 6 f . und 69ff. Zum Antinomiebegriff v g l . Esposito 1991 und Baecker 1 9 9 1 , S . 175ff. Luhmann 1 9 8 8 , S . 5 2 0 . Kontingenz wird von Luhmann 1 9 8 4 folgendermaßen definiert: »Kontingent ist
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d . h . seiner Konstruktion, konfrontiert und oszilliert daraufhin ständig und unentscheidbar zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung.21 Dieses Pendeln manifestiert sich in aller Regel in einem Wechsel zwischen zwei (meist sprachlichen) Bezeichnungen bzw. Zeichen, denn der Wechsel zwischen den Seiten geht mit einer Bezeichnung der bisher ausgeblendeten Seite einher. Beobachtung und Wahrnehmung können als Bewußtseinsoperationen eines psychischen S y s t e m s ^ (nach Luhmann) über Sprache strukturell an Kommunikation gekoppelt werden. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns geht dabei von einer grundsätzlichen Trennung von Bewußtsein und Kommunikation als operativ geschlossenen, autopoietischen Systeme aus, die sich selbst, d. h. ihre konstitutiven Elemente im Netzwerk der Elemente des Systems rekursiv produzieren und reproduzieren, wobei diese Prozesse an jeweils unterschiedliche systemspezifische Operationsmodi gebunden sind .23 Auch Bewußtseinssysteme sind aufgrund ihrer operativen Geschlossenheit einander unzugänglich und bedürfen daher der Kommunikation.24 Allerdings stellt sich die Frage, wie Kommunikation, die einen sich selbst bestimmenden Prozeß, ein operativ geschlossenes System darstellt, funktionieren soll.
etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist [...] sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet Gegebenes [...] im Hinblick auf mögliches Anderssein [...].« (S. 152) 21 »Paradoxien sind Widersprüche, die dazu einladen, eine Position zu beziehen mit der Folge, daß man sich damit auf die Gegenposition versetzt findet.« (Luhmann 1987, S. 315) Siehe ferner Esposito 1991. 22 Zur Abgrenzung von Wahrnehmung und Beobachtung vgl. Luhmann 1995, S. 27 u. 30f. 23 Vgl. dazu Luhmann 1988, S. 28ff. - »Ein autopoietisches System reproduziert seine Reproduktion und seine Reproduktionsbedingungen. Die Umwelt kann an der Reproduktion des Systems nicht teilnehmen, sie kann nicht instruktiv, sondern nur destruktiv auf die Reproduktion einwirken. Aber natürlich sind strukturelle Kopplungen zwischen System und Umwelt vorausgesetzt. Ohne sie würde das System nicht existieren.« (Luhmann 1995, S. 86) 24 Aber: »Kommunikation kann nicht gut als >Übertragung< von Information von einem (operativ geschlossenen) Lebewesen oder Bewußtseinssystem auf ein anderes begriffen werden. [...] Und in genau dieser Organisationsform der eigenen Autopoiesis kann Kommunikation weder Wahrnehmungen aufnehmen noch selbst Wahrnehmungen produzieren.« (Luhmann 1995, S. 20) - Kommunikation als emergenter Bereich findet aber dennoch statt und muß sogar stattfinden, gerade weil Bewußtseinssysteme füreinander wechselseitig unzugänglich sind. Denn wenn psychische Systeme einen reziproken Zugriff aufeinander hätten, dann wäre Kommunikation überflüssig und würde (im doppelten Wortsinn) keinen Sinn mehr machen. Vgl. weiterführend Nassehi 1997, S. 48ff.
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Kommunikation wird nach Luhmann als Einheit dreier Selektionen, als Trias aus Mitteilung, Information und Verstehen, verstanden. Die Verstehensselektion basiert dabei auf der Unterscheidung von Information (Fremdreferenz; das, was mitgeteilt wird) und Mitteilung (Selbstreferenz; daß und wie Information mitgeteilt wird).25 Kommunikation kann aber weder das Bewußtsein bzw. die Wahrnehmung eines Bewußtseinssystems noch die >RealitätA weil Nicht-A). Oder anders formuliert: Der Gesang ist Gesang, weil er ein Pfeifen ist. Dieser Wiedereintritt der Unterscheidung (Pfeifen/Gesang) in das von ihr Unterschiedene (hier: Gesanges führt zum Kollabieren der Ausgangsdifferenz zwischen Pfeifen und Gesang. Der Beobachter, d. h. der Erzähler, der die Kontingenz des Unterscheidungsrahmens erkennt, oszilliert permanent zwischen den beiden sich kausal implizierenden und gleichermaßen ausschließenden Polen der
27 Auch die vorliegende Interpretation wird sich dem Problem der Entontologisierung der Beobachtung bzw. des beobachteten und interpretierten Objekts (hier: des Texts) zu stellen haben, da sie als Effekt der Operationen eines Bewußseinssystems an bestimmte Beobachtungsvorgaben gebunden ist, mittels derer sie den Text auf der Sinnebene (re)konstruiert. 28 Es handelt sich hierbei um ein re-entry im Sinne Spencer Browns 1979.
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Paradoxic, dem Gesang und dem Nicht-Gesang bzw. dem Gesang und dem Pfeifen, hin und her, ohne sich für eine Seite entscheiden zu können.29 Die Paradoxie existiert dabei nicht im Bereich des >SeinsWelt< bzw. das von Josefine produzierte Geräusch aber nicht so ist und auch gar nicht so sein kann, wie es wahrgenommen wird, dann wäre »erst recht das Rätsel ihrer großen Wirkung zu lösen.« (S.275) Wie kann an der einen Seite der Unterscheidung, dem Gesang, angeschlossen werden, wenn die Einheit der Unterscheidung, die der Ausgangspunkt und die Voraussetzung für den Anschluß von Interpretationen ist, auf einer Paradoxie beruht?
3.
V o m Mythos der Musik
Indem der Erzähler die Unterscheidung von Pfeifen und Gesang und damit seine Beobachtung (erster Ordnung) im Rahmen einer Beobachtung zweiter Ordnung in den Blick nimmt, wird die Einheit seiner Beobachtung hinfällig. Die Identifikation von Bewußtseinsgegenstand und Bewußtsein entpuppt sich als ontologisches Phantasma.
29 Vgl. dazu neben Baecker 1991, S. 176 auch Krippendorff 1984, S . 4 9 : »Unlike contradictions which simply exclude all interpretations, antinomies allow one to select one interpretation; but as soon as one has made this choice, one is forced to abandon it in favor of its complement, and as soon as one has examined the latter one finds one's self back to the former, ad infinitum [...].« - Nach Ramm 1971 stehen die beiden Pole dieser Paradoxie in »konstruktiver Differenz« zueinander, durch die »ein Raum für das Erzählen« geöffnet wird. In diesem Bereich sind Argumente und ihre Widerlegung nicht zu untermauern. (S. 119) 30
Wie im folgenden noch gezeigt werden soll, ist eine derartige Annahme selbst paradox. Siehe dazu Luhmann 1991a, S. 62 und Schöppe 1995, S. 182.
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Dadurch wird auch Sprache bzw. die Verwendung von Zeichen zum Problem. Der Erzähler, der das von Josefine produzierte Geräusch (auch) mittels der Bezeichnungen >Gesang< und >Pfeifen< beobachtet, konstituiert damit einen Unterschied, der auf der Ebene der Realität (als Referentenbereich) nicht abgesichert werden kann. Vor dem Hintergrund eines zeichentheoretischen Bezugsrahmens geht dies mit der fundamentalen Trennung von Signifikant und Signifikat und der Auflösung der referentiellen Verweisungsfunktion sprachlicher Zeichen einher 3i Wenn das Volk alles, was es wahrnimmt, nur als Pfeifen wahrnehmen kann, dann würden auch die Signifikanten >Pfeifern und >Gesang< ihren differentiellen Status verlieren, da sie hinsichtlich ihrer extensionalen Bedeutung potentiell auf dasselbe außersprachliche Phänomen verweisen (könnten). Allerdings läßt sich dieses Signifikationsproblem nur durch das Medium Sprache an Kommunikation koppeln, was wiederum zu einer rekursiven Verwendung sprachlicher Zeichen und zu widersprüchlichparadoxen Formulierungen führt: »[W]as sie hier pfeift, ist kein Pfeifen.« (S.277) Was durch das Prädikat des Aussagesatzes negiert wird, wird im Subjektsatz apodiktisch festgestellt. Der Erzähler ist in einer rekursiven Serie sprachlicher Zeichen gefangen. Die Voraussetzung, ob etwas als Pfeifen oder als Gesang benannt wird, ist auf der Ebene des Kommunikationssystems nicht mehr mittels Sprache einzuholen. Die Differenz zwischen Pfeifen und Gesang fällt in den Bereich des Inkommunikablen. Allerdings scheint die Bezeichnung >Gesang< größere Irritationen und Unsicherheiten seitens des Beobachters zu verursachen als die Bezeichnung >Pfeifern. »Alle pfeifen wir [...], wir pfeifen, ohne darauf zu achten, ja, ohne es zu merken und es gibt sogar viele unter uns, die gar nicht wissen, daß Pfeifen zu unsern Eigentümlichkeiten gehört.« (S.275) Die fundamentale Differenz von Signifikant (>PfeifenGesang< in seiner reinen Materialität sichtbar. Im Gegensatz zum Pfeifen gibt es keine konventionalisierte Verbindung zwischen dem Sigifikanten >Gesang< und seinem Signifikat. >Gesang< liegt als bloßer Signifikant in Form von Gesangsüberlieferungen (Schrift) vor: »[I]n den alten Zeiten unseres Volkes gab es Gesang; Sagen erzählen davon und sogar Lieder sind erhalten, die freilich niemand mehr singen kann.« [Hervorhebungen A.R.] (S. 275) Während das Volk durch Ausblendung des blinden Flecks der Signifikation eine Einheit des Signifikanten >Pfeifen< mit dessen vermeintlich korrespondierendem Signifikat und damit einen Verweisungscharakter von Zeichen imaginieren kann (»Pfeifen allerdings kennen wir alle [...]. (S. 275)), wird der blinde Fleck und damit auch die Differentialität und Arbitrarität von Zeichen bei der Suche nach dem Signifikat zu >Gesang< unübersehbar. So ist der Signifikant >Gesang< einer Kette anderer Signifikanten, den Überlieferungen, Sagen und Liedern, eingeschrieben, die versuchen, »das Unerklärliche zu e r k l ä r e n « 3 3 , indem sie permanent auf ihn verweisen, ohne ihn erfassen zu
32 Derrida 1983 spricht in diesem Zusammenhang vom »System des >Sich-im-Sprechen-Vernehmenss' entendre parlerGesang< bzw. die Gesangsüberlieferungen und Sagen sind die Knoten in einem Taschentuch ,36 die lediglich daran erinnern, daß man sich an etwas erinnern müßte, dieses Etwas allerdings auf unerreichbare Weise hinter sich lassen. Die Suche nach der Bedeutung des Zeichens ist dabei gewissermaßen die Suche nach einem präexistenten und privilegierten Referenzbereich, nach dem positiven Zentrum, welches das Reden, den Diskurs über den Gesang strukturiert und Bedeutungszuschreibungen beglaubigt. Eine Ankunft in dem Ursprung, der die Einheit von Signifikant und Signifikat gewährleisten würde, ist aber für immer aufgeschoben im endlosen Spiel der differance, im Gewebe von Differenzen, in dem jedes sogenannte >gegenwärtige< Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal (,marque) des vergangenen Elements an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen läßt [...].37 Bei den Gesangsüberlieferungen handelt es sich (in Anlehnung an Derrida) um einen Mythos oder genauer: um einen Referenzmythos, der keinen Ursprung in der Präsenz hat und auch nicht haben kann.38 Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats - der blinde Fleck des Mythos - ist dabei Voraussetzung und Ursache für die Suche nach der Bedeutung des Signifikanten >Gesang< seitens des Erzählers. Der Signifikant >Gesang< ist in diesem Zusammenhang sowohl der Kondensationspunkt der ihm zugeschriebenen Bedeutungen als auch der Ausgangspunkt der fortlaufenden Sinnzuschreibungen, indem er den Mangel, der von der Abwesenheit eines Zentrums ausgeht, bzw. »das Verlangen nach dem
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versucht das Unerklärliche zu erklären; da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.« (Kafka 1994d, S. 192) Vgl. Derrida 1983, S. 129. Vgl. Derrida 1988, S. 38f. u. 44ff. Diese Metapher findet sich bei Böhringer 1990, S. 120 u. 124. Derrida 1988, S. 39. Im Anschluß an Levi-Strauss betont Derrida 1972a, daß es »keine Einheit oder absolute Quelle des Mythos [gibt]. Brennpunkt oder Ursprung sind immer Schatten oder ungreifbare, nicht aktualisierbare oder vorerst [!] nicht existierende Virtualitäten. Alles nimmt seinen Ausweg von der Struktur, der Konfiguration oder der Relation.« (S.433)
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Glück [...], das von der Musik vielleicht [!] ausgeht« (S.274), simultan evoziert und supplementiert. 39 Ein Zeichen kann (zumindest für einen Beobachter erster Ordnung) niemals nichts bedeuten; auf seine »metaphysische Komplizenschaft«40 kann somit nicht verzichtet werden. Deshalb provoziert der Signifikant >Gesang< als semantischer Nullwert auch die Zuweisung von Bedeutung, der er sich als vermeintlicher Transzendentalsignifikant notwendigerweise entzieht. Da die ihm zugeordneten Signifikate aber auch nur in Form von Sprache, d . h . mittels weiterer Signifikanten repräsentiert werden können, zirkulieren und proliferieren die Wörter des Erzählers um den >GesangGesang< (als Signifikant) ist somit zutiefst paradox: Er fungiert als Initiationsmoment für die Interpretationen des Erzählers, die er wiederum unmöglich macht. Obwohl und gerade auch weil der Erzähler das positive Zentrum des Mythos' Musik aufgrund des fortlaufenden Selbstentzugs des Signifikats niemals erreichen kann, ist die »Begierde nach dem Zentrum« unzerstörbar.^ Die Verkettung von Supplementen, die den Mythos der Musik überhaupt erst konstituieren, stellt dabei »Begriffssonden« (im Sinne Luhmanns) bereit, die als Zeichen das Bewußtsein affizieren und dieses zu Wahrnehmungen und Beobachtungen reizen, die allerdings im permanenten Leerlauf begriffen sind. Die Überlieferungen entwerfen daher eine »illusorische Wunschstruktur«42, die ihr Ziel allerdings niemals erreichen kann. Daß dieses Verlangen äußerst paradoxale Züge trägt, wird durch den Erzähler schon implizit angedeutet. So nimmt er diese Sehnsucht schon im Verlauf der Äußerung zurück (»auch wenn wir einmal - was aber nicht geschieht - das Verlangen [...] haben sollten« (S.274)). Wie kann der Erzähler davon sprechen, ein Verlangen nach der Musik zu verspüren, wenn dies »nicht geschieht«? 43
39
In bezug auf den supplementären Charakter von Zeichen äußert sich Derrida 1972a folgendermaßen: »Man kann das Zentrum nicht bestimmen und die Totalisierung nicht ausschöpfen, weil das Zeichen, welches das Zentrum ersetzt, es supplementiert, in seiner Abwesenheit seinen Platz hält, weil dieses Zeichen sich als Supplement noch hinzufügt. Die Bewegung des Bezeichnens fügt etwas hinzu, so daß ein Mehr vorhanden ist; diese Zutat aber bleibt flottierend, weil sie die Funktion der Stellvertretung, der Supplementierung eines Mangels auf Seiten des Signifikats erfüllt.« ( S . 4 3 7 ) Vgl. in diesem Zusammenhang auch Derrida 1983, S . 2 5 0 f f . und Culler 1988, S. 114ff.
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Derrida 1972a, S. 426. Weder Dekonstruktion noch Systemtheorie können diesen >Rest< von Präsenzdenken abwerfen. Derrida 1972b, S. 447. Derrida versteht diese Sehnsucht als Nebeneffekt des Spiels der differance. Kellinghusen 1993, S. 83f. Zum Versuch einer psychoanalytischen Deutung dieser Relativierung vgl. Kurz
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Um das Erzählen über den Gesang zu ermöglichen, muß die Blindheit gegenüber dem blinden Fleck aber ausgeblendet werden, da nicht erkannt werden darf, daß jede Sinnzuschreibung (im doppelten Wortsinn) sinnlos ist. Der Erzähler ist gewissermaßen auf die Illusion angewiesen, wenigstens eine »Ahnung dessen [zu haben], was der Gesang ist« (S. 275). An die Stelle der Referenz tritt der Interpretationsprozeß, damit nicht erkannt wird, daß nicht referiert wird und auch nicht referiert werden kann. Dadurch wird Interpretation zum Problem. Alles, was über den Gesang gesagt wird, ist ein Effekt der Interpretation und kann nicht - zumindest nicht ontologisch - abgesichert werden. Referenz liegt nicht vor, sie wird >hergestellt.
4.
Von Interpretationen und Texten oder Von Texten als Interpretationen
Diesem Problem hat sich auch diese Interpretation des Textes zu stellen. So handelt es sich bei den oben erläuterten Paradoxien auch keineswegs um Effekte des Textes, als um Produkte der Interpretation des Textes, die auf bestimmten Interpretationsvariablen, wie ζ. B. dem Differenzierungstheorem der Systemtheorie, basiert. 44 Sie sind gewissermaßen Effekte einer Beobachtung zweiter Ordnung, die versucht hat, die textimmanente Unterscheidung zwischen Text (Gesang) und Interpret (Erzähler) und den blinden Fleck dieser Unterscheidung zu beobachten, und im Zuge dessen dieselbe Unterscheidung benutzt und den blinden Fleck ihrer Unterscheidung gleichermaßen ausblendet. Vollzieht man einen re-entry - und das wurde stillschweigend getan - , so wiederholt sich die Unterscheidung zwischen Erzähler (= Interpret) bzw. dessen Interpretation und Künstler/Kunst/Josefines Gesang bzw. den Gesangsüberlieferungen in dem Verhältnis zwischen Text und Leser. Der re-entry erzeugt dabei den Effekt der Selbstinterpretation des Textes. Der Erzähler ist in diesem Zusammenhang die bezeichnete Seite des Wiedereintritts der Unterscheidung zwischen Interpret und Text auf Seiten des Textes. Gleichlaufend
44
1980,S.104. Daß auch die systemtheoretisch inspirierte Interpretation von Kafkas Josefine auf beobachtungsleitende Unterscheidungen wie die Differenz von System/Umwelt, Bewußtsein/Kommunikation, Information/Mitteilung etc. angewiesen ist, mittels derer man bestimmtes sehen kann und für anderes blind ist, kann nicht vermieden werden. Denn die Tabula rasa war seit jeher eine Tabula incisa, das Hintertürchen zum epistemologischen Paradies ist für immer verschlossen, oder, um es in Anlehnung an Derrida 1988 zu formulieren, Differenzen fallen nicht einfach »in fertigem Zustand vom Himmel.« (S. 37)
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wäre der Gesang das Produkt des Wiedereintritts der Unterscheidung Interpretation/Text seitens des Textes. Der Gesang wird dadurch zum Interpretandum und zum Paradigma v o n Kunst schlechthin. Da im Text selbst z w i s c h e n Text und Interpretation unterschieden wird, handelt es sich bei der Interpretation des Textes um eine Interpretation der Interpretation und mithin in der Rekursivität zugleich um einen Rahmen für eine Fundamentaldiskussion des Problems der Interpretation. Allerdings wird dadurch auch erkennbar, daß der Text im Rahmen dieser Interpretation nur so interpretiert werden kann, w i e er interpretiert wird, w e n n nicht nur die Erkenntnis, daß interpretiert wird, sondern vor allem auch andere Interpretationsmöglichkeiten als blinder Fleck, als ausgeschlossenes Drittes dieser Interpretation, ausgeblendet werden. D a s führt das Moment der Kontingenz in jede Interpretation und in das Konzept der Interpretation ein. Jede Interpretation ist unter bestimmten Voraussetzungen auch anders möglich; jeder (literarische) Text kann auch ganz anders interpretiert werden. In diesem Zusammenhang erscheint die traditionelle Unterscheidung zwischen Text und Interpretation unhaltbar. Interpretationen können nicht mehr am Text abgesichert werden. Das in der traditionellen Literaturwissenschaft propagierte Verhältnis zwischen Text (als primärem Untersuchungsgegenstand) und Interpretation (als sekundär-explikativem Diskurs) wird aufgehoben, da die interpretierten Texte die Interpretationen und den (theoretischen) Bezugsrahmen, der der Interpretation zugrunde liegt, in dem gleichen Maße zu interpretieren scheinen w i e die Interpretationen den Text zu erklären scheinen.45 (Literarische) Texte können somit auch als Interpretation der Interpretationen der T e x te gelesen werden. Oder - in Anlehnung an Paul de Man formuliert - : D i e Interpretation kann sich nie ganz sicher sein, ob sie den Text, den sie zu interpretieren glaubt, noch liest oder (ihn) weiterschreibt, um sich dann wieder auf den (eigenen) Text zu beziehen.46
45
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Mit Bezug auf die wechselseitige explikative Funktion von Theorie, Interpretation und Primärtext spricht Nina Ort von »Interpenetrationszonen zwischen Theorie und Literatur«. Siehe Ort 1997. Zum Lesen als »Metapher des Schreibens« siehe de Man 1988, S. 101 et passim. Die Differenz zwischen Interpretation(stheorie) und Text, zwischen Literaturwissenschaft und Literatur, wird in diesem Zusammenhang aufgeweicht. Diese Erosion der Grenze zwischen Kunsttheorie/Philosophie und Kunst/Literaturtheorie, Literaturwissenschaft und Literatur, Interpretation und Text wird in der Praxis moderner Interpretation schon längst vollzogen und reflektiert. Ein aktuelles Beispiel dafür wäre u. a. das 1996 auf dem Musiklabel »Mille Plateaux« erschienene Album »In Memoriam Gilles Deleuze«, auf dem diverse Musiker aus dem Bereich der Elektronischen Musik versuchen, das erste Kapitel (Einleitung: Rhizom) aus »Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie« von Felix Guattari und Gilles Deleuze mit
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Diesem vermeintlichen Dilemma kann nun keine Theorie der Interpretation und keine Interpretation - auch die vorliegende nicht - entgehen; sie kann aber auf ihre Blindheit gegenüber anderen Interpretationsmöglichkeiten sowie auf ihre Abhängigkeit von bestimmten Interpretationsvorgaben aufmerksam machen. Diese Reflexion der eigenen (Un)Möglichkeit(en) trägt in Theorie und Praxis zur Komplexitätssteigerung des Konzepts der Interpretation bei.4? Für die Praxis der Theorie der Interpretation folgt daraus nicht, daß Texte nicht mehr interpretiert werden können und sollen. Interpretationen werden weiterhin über Texte reden (müssen), sollten im Zuge dessen aber reflektieren, daß dieses Reden immer auch ein Versuch ist, die Texte zu über-reden, die Bedeutungszuschreibungen zu akzeptieren. Textualitätsunterstellungen sind immer Produkte und Manifestationen von Interpretationsvollzügen und sagen - im Rahmen einer Beobachtung dritter Ordnung - auch immer etwas über das Problem der Interpretation selbst aus. Die in dieser Interpretation interpretierten Interpretationen des Erzählers verweisen somit auch auf die Probleme dieser Interpretation bzw. die Funktionsweise von Interpretation allgemein. In Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse ist der Erzähler fortwährend mit der Interpretation des von Josefine produzierten Geräuschs beschäftigt. Die Entscheidung, ob dieses Geräusch als Ausgangspunkt für den Anschluß von Interpretationsvollzügen dient, hängt dabei ausschließlich davon ab, ob es als Gesang bezeichnet und von dem Pfeifen unterschieden wird. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, daß die Wahrnehmung des Geräuschs durch sprachimmanente Unterscheidungen gesteuert wird. Die Unterscheidung als Ausgangspunkt der Interpretation erweist sich allerdings als äußerst fragwürdig, sobald der Erzähler seine Beobachtung bzw. Unterscheidung und die Beobachtungen der anderen als vergangene Ereignisse im Rahmen einer Beobachtung zweiter Ordnung in der Retrospektive beobachtet: »Einmal geschah es, daß irgendein törichtes kleines Ding während Josefines Gesang in aller Unschuld auch zu pfeifen anfing. Nun war es ganz dasselbe, was wir auch von Josefine hörten [...].« (S.277) Das Differente erweist sich als identisch und
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musikalischen Mitteln zu interpretieren. Die dabei entstandenen Stücke fungierten daraufhin gewissermaßen als »Primärtexte« für weitere Interpretationen, die dem Album bzw. der CD neben anderen Interpretationen des Deleuze/Guattari Textes selbst als Begleittext beigefügt wurden. Bezeichnenderweise befindet sich unter den musikalischen Interpretationen auch eine kurze von Deleuze gelesene Passage aus seinem Text. Der Mitschnitt des Textvortrags ist dabei ein Stück unter anderen Stücken, eine (sprachliche) Interpretation (als Zitat!) unter anderen (musikalischen) Interpretationen. Die primär/sekundär Unterscheidung scheint sich aufzulösen. Vgl. zu diesem Aspekt Kapitel 7.
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erzeugt dadurch ein Mißtrauen gegen die Verläßlichkeit der eigenen Wahrnehmung 48 Die Unmöglichkeit, Gesang von Pfeifen zu unterscheiden, basiert aber auch auf der Unmusikalität des Volkes (»Wir sind doch ganz unmusikalisch [...].« (S. 274)) und der Unfähigkeit, etwas anderes als das Pfeifen bzw. »etwas, was wir noch nie vorher gehört haben« (S. 274f.), wahrzunehmen. Nach Luhmann sind Wahrnehmung und Beobachtung als >Spezialkompetenzen< eines operativ geschlossenen Bewußtseinssystems an dessen systemspezifische Operationsweise, dessen Fähigkeiten und vor allem auch an dessen Gedächtnis bzw. dessen systeminterne Bezugsgrößen gebunden. Der Gesang gehört dabei prinzipiell zum Kommunikationssystem und damit zur Umwelt des Bewußtseinssystems, so daß die Wahrnehmung des Gesangs diesen aufgrund der zugrunde liegenden Operationsweise notwendigerweise verfehlen muß. Angesichts solcher Voraussetzungen stellt sich nun aber die Frage, »wie [es] kommt, daß wir Josefinens Gesang verstehen, oder, da Josefine unser Verständnis leugnet, wenigstens zu verstehen glauben.« (S.274) Es geht an dieser Stelle um das Verstehen der Kommunikation, an der das Volk bzw. der Erzähler und Josefine teilhaben, und um »das Rätsel ihrer großen Wirkung« (S.275). Das Verstehen einer Kommunikation als Verstehen der Differenz zwischen Fremdreferenz (Information) und Selbstreferenz (Mitteilung) gelingt allerdings nur, wenn der eigene Körper mitwahrgenommen wird, so daß das Bewußtsein weiß, wann es sich auf sich selbst bezieht und wann es auf etwas anderes Bezug nimmt. 49 Die Wirkung, die der Gesang auf das Volk hat, ist aber gerade durch den bei den Gesangsvorführungen erlebten Verlust der eigenen Körperwahrnehmung seitens des Volkes gekennzeichnet: »Hier [...] träumt das Volk, es ist, als lösten sich dem Einzelnen die Glieder [...].« (S.286) Die Verstehensanschlüsse werden in den Interpretationen bzw. den Bedeutungszuschreibungen des Erzählers manifest, der den Gesang ausschließlich mit der Situation, Existenz und Lebenswelt des Mäusevolkes vergleicht. So klingt im Kriegszustand »das dünne Pfeifen Josefines mitten in den schweren Entscheidungen [...] fast wie die armselige Existenz unseres Volkes mitten im Tumult der feindlichen Welt.« (S.283) Weiterhin werden Josefines Pfeifen
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Zu diesem Aspekt äußert sich Luhmann 1995 folgendermaßen: »Das Beobachten zweiter Ordnung hat, auf seine Wirkung hin beobachtet, offenbar toxische Qualität. Es verändert den unmittelbaren Weltkontakt. Es zersetzt die gleichwohl beibehaltene Einstellung erster Ordnung. Es durchsetzt die Lebenswelt [...] mit einem Verdacht gegen sich selbst, ohne sie verlassen zu können.« (S. 156) Vgl. hierzu Luhmann 1995, S. 28 und 161f.
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grundsätzliche entwicklungspsychologische und emotionale Charakteristika des Mäusevolkes zugesprochen: Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen und dennoch bestehenden und nicht zu ertötenden Munterkeit. (S. 286)
In seinen Interpretationen verquickt der Erzähler Fremdreferenz (Information) und Selbstreferenz (Mitteilung), indem er den Gesang selbsreferentiell wahrnimmt und interpretiert, die von ihm zugeschriebenen Bedeutungen aber als Fremdreferenz behandelt so Auf der Ebene der Wahrnehmung wird das von Josefine produzierte Geräusch dem desemantisierten Signifikanten >Gesang< (-» Code erster Ordnung) als Referent zugeordnet. Dieses Geräusch wird aber selbst wieder zum Signifikanten (-> Code zweiter Ordnung), wenn es im Rahmen eines sekundären Diskurses interpretiert bzw. auf seine Bedeutung hin untersucht werden soll. Wie der Signifikant >Gesang< (Code erster Ordnung) bleibt auch der Gesang Josefines (als Signifikant) semantisch unbestimmt und kann deshalb kein >Träger< von Information sein. Er ist in so hohem Maße anschlußfähig, weil und so daß ihm beliebig viele Signifikate zugeordnet werden können. Da der Erzähler dies nicht erkennt, fungiert Josefines Gesang sowohl als transzendentales Signifikat auf der Ebene des Codes erster Ordnung sowie als transzendentaler Signifikant auf der Ebene des Codes zweiter Ordnung. Der Erzähler, der sich durch die Beobachtung zweiter Ordnung bezüglich der Informationsseite verunsichert fühlt (»Eine Ahnung dessen, was Gesang ist, haben wir also und dieser Ahnung entspricht Josefines Kunst eigentlich nicht. Ist es denn überhaupt Gesang?« (S. 275)), verschiebt, natürlich ohne dies zu erkennen, seine Verstehensanschlüsse im Rahmen der Interpretation des Gesangs, der Kommunikation über den Gesang, zwangsläufig auf die Mitteilungsseite.51 Es wird deutlich, daß es sich bei den Bedeutungen bzw. den vermeintlichen Informationen, die der Erzähler dem Gesang Josefines als Substantialismen förmlich zu >entnehmen< glaubt (»Etwas von [...] ist darin [...].« (S.286)), lediglich um Produkte eines selbstreferentiellen Interpretationsprozesses handelt. Mit anderen Worten: Informationen sind Effekte von
50 Die Displacementtheorie nach Peter Fuchs würde in diesem Zusammenhang von romantischer Kommunikation sprechen. Der Erzähler operiert im romantischen Displacement, da er mit seinen Interpretationen an der Selbstreferenzseite anschließt, die Selbstreferenz aber als Fremdreferenz (Information) ausgibt. Vgl. Fuchs 1993, S. 102f. 51 Auch hierbei handelt es sich um ein Charakteristikum romantischer Kommunikation. Vgl. Fuchs 1993, S. 79ff.
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Interpretationen, sie verweisen niemals auf Eigenschaften einer >world out thereWas ist Kunst?< zu beantworten, meist mit Enttäuschung und Verwirrung enden, dann ist vielleicht - wie so oft - die Frage falsch gestellt.« 5 4
Daß es in der Erzählung um eine Problematisierung der Relation von Kunst und Gesellschaft, von Künstler und Interpret sowie um die Frage nach der Standortbestimmung von Kunst und Künstlerschaft geht, wird nicht nur durch den Titel und den Anfang der Erzählung angedeutet, sondern auch im Text mehrfach expliziert. So werden die Probleme, die das Volk bei der Bestimmung von Josefines Gesang hat, wiederholt als Unsicherheiten im Hinblick auf ein >richtiges< Erfassen von »Kunst« bezeichnet (vgl. S.275ff. und passim), und auch Josefines Werdegang wird ausdrücklich als »Künstlerlaufbahn« (S. 288) beschrieben, in deren Verlauf Josefine vor allem nach der »Anerkennung ihrer Kunst« (S. 289) strebt. Schon im Titel wird darauf h i n g e w i e s e n ,55 daß Josefines Status an den Kontrast zwischen ihr und dem Volk gebunden ist. Aus dem Mäusevolk, das von dem Erzähler als anonyme Masse präsentiert wird, sticht Josefine schon durch ihren Namen heraus. Während die Volksgemeinschaft in ihrer Zusammensetzung weitgehend unbestimmt bleibt, wird Josefine als einzigem Mitglied der Gemeinschaft ein Zeichen gesetzt. Was sie gegenüber dem aus »Volksgenossen« (S.289) bestehenden, d. h. funktional nicht differenzierten »Arbeitsvolk« (S. 292) förmlich aus-zeichnet, ist ihre Funktion als »Sängerin« (S.274). Sie ist die Musikerin unter den Pfeifenden. Der Sängerin, die »die Musik liebt« (S.274), steht das Volk in seiner »Unmusikalität« (S.285) gegenüber. Wie soll aber unter diesen Voraussetzungen die Bezeichnung des von Josefine artikulierten Lauts als Gesang gelingen, zumal das Volk nicht auf konventionalisierte Wahrnehmungen von Gesang, sondern lediglich auf eine
54 Nelson Goodman. Zitiert nach Rötzer 1989, S. 91. 55 Auf die Bedeutung des disjunktiven oder soll in Kapitel 6 eingegangen werden. Um das problematische Verhältnis zwischen Josefine und dem Volk kümmert sich auch Kittler 1985, S. 183f.
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Verkettung weiterer auf den Gesang referierender Zeichen, auf Sagen und Überlieferungen, rekurrieren kann? Gefragt wird nach den Möglichkeiten des Betrachters, Kunst als Kunst zu identifizieren. Oder anders: Wie macht sich Josefines Pfeifen als Gesang bzw. Kunstprodukt hörbar? Kunst ist auf die Wahrnehmungen und Beobachtungsleistungen von Beobachtern angewiesen, die wiederum auf Unterscheidungen, d. h. Formen, basieren. Ein Objekt (hier: das von Josefine produzierte Geräusch) kann nur dann als Kunstwerk beobachtet werden, wenn es von allem anderen, dem unmarked, space, allem, was somit Nicht-Kunst ist, unterschieden wird. Ausgehend von der Annahme der Unmusikalität des Volkes stellt sich für den Erzähler die Frage, wie die Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst bzw. die Beobachtung von Josefines Gesang als Kunstwerk abgesichert werden kann. Da die beobachtungsleitende Unterscheidung Gesang/Pfeifen bzw. Kunst/ Nicht-Kunst, die in der Kommunikation über Josefines Gesang operativ als Code angewendet wird, noch keine Kriterien für die Zuordnung des positiven oder negativen Codewerts bereitstellt, müssen Programme instituiert werden, die den Gebrauch des Codes dirigieren und dabei den Kontingenzspielraum einschränken.56 Es geht also um den Entwurf einer adäquaten Kunsttheorie, anhand derer »das Rätsel ihrer [Josefines; A. R.] großen Wirkung« (S. 275) geklärt werden kann. Die einfachste Antwort wäre, daß die Schönheit dieses Gesanges so groß ist, daß auch der stumpfste Sinn ihr nicht widerstehen kann [...]. Wenn es wirklich so wäre, müßte man vor diesem Gesang zunächst das Gefühl des Außerordentlichen haben, das Gefühl, aus dieser Kehle erklinge etwas, was wir nie vorher gehört haben und das zu hören wir auch gar nicht die Fähigkeit haben, etwas, was zu hören uns nur diese eine Josefine und niemand sonst befähigt. [Hervorhebungen A . R . ] (S. 274f.)
Der Erzähler greift zunächst auf die Codierungen und Leitunterscheidungen der traditionellen Kunstprogrammatik zurück, mittels derer Kunst als Kunst beglaubigt wurde: die alt/neu Unterscheidung und die Unterscheidung zwischen Schönem und Häßlichem. Diese Unterscheidungen sind an das Kriterium des »Gefallens« gebunden, das wiederum auf das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter verweist. Nur wenn sich ein Objekt durch Neuheit und Schönheit auszeichnet, findet der Betrachter Gefallen daran und nimmt es als Kunstwerk wahr.57 Das Kriterium der Neuheit aber wird in den hypotheti-
56
Zum Code- und Programmbegriff siehe u. a. Luhmann 1988, S. 194ff.; Luhmann 1995, Kap. 5 und Luhmann 1981. 57 »Der dafür benutzte Slogan lautet seit dem 17. Jahrhundert: nur das Neue gefällt.« (Luhmann 1990a, S. 31) - Zu dem Begriff des Gefallens und den Unterscheidungen alt/neu und schön/häßlich als abstrakte Codierung im Rahmen der traditionellen
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sehen Überlegungen des Erzählers gewissermaßen als »ontologisches Unding«58 im Sinne Luhmanns entlarvt. Wenn Josefine etwas anderes als Pfeifen produzieren würde, könnte dies von dem Volk nicht wahrgenommen werden. Die Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Pfeifen und Gesang, kann ontologisch nicht fundiert werden. In der folgenden Textpassage wird die Engführung bzw. Identität von Kunst und Lebenspraxis besonders sinnfällig gestaltet: 1st es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. (S. 275) Die Annäherung von Kunst und Alltagsrealität wird im Satzverlauf durch die Operationen der Tilgung und der Substitution vollzogen: (1) Pfeifen = (2) Pfeifen = (3) Pfeifen =
Kunstfertigkeit Kunstfertigkeit + [ - Fertigkeit] = [ + charakteristische Lebensäußerung] Kunst = Lebensäußerung
In der traditionellen Kunsttheorie zeichnen sich Kunstwerke vor allem als hergestellte Objekte im Gegensatz zu natürlichen Objekten aus.59 Indem sich Kunstwerke selbst als hergestellte Objekte sichtbar machen, tritt die Herstellungsabsicht, die vermeintliche Künstlerintention, die als im Kunstwerk selbst externalisiert gilt, in den Vordergrund. Das Kunstwerk wird in diesem Zusammenhang zum Kommunikationsmedium zwischen Künstler und Betrachter, der die durch den Künstler in das Kunstwerk förmlich eingeschriebene Bedeutung zu decodieren hat.&o Wenn der Prozeß der strukturellen Kopplung von Bewußtsein bzw. Wahrnehmung und Kommunikation mittels Sprache aber schon uneinholbar ist, dann gilt das erst recht auch für Prozesse der Kopplung von Bewußtseinsoperationen an das Kommunikationssystem (Kunst) mittels Kunstwerken. Die Bewußtseinssysteme (Künstler, Betrachter) sind wechselseitig unzugänglich. Der Betrachter kann die Herstellungsabsicht, die Künstlerintention, dem Kunstwerk nicht >entnehmen^ er muß sie im Rahmen von Interpretationsprozessen fingieren.
Kunsttheorie vgl. Esposito 1996, S.59ff., Luhmann 1981 und Luhmann 1995, S.323-328. 58 »Neuheit ist zunächst einmal ein ontologisches Unding: Etwas ist, obwohl, ja weil es alles nicht ist, was bisher war.« [Hervorhebungen im Original] (Luhmann 1995, S. 323) Vgl. dazu auch Danto 1984, S. 58. 59 Vgl. hierzu Esposito 1996, S. 63 und Luhmann 1995, S. 77 u. 227. 60 Zur Kunst als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium und zur Unterscheidung zwischen Medium und Form vgl. Luhmann 1988b.
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Ein Kunstwerk kann aber nur als absichtlich hergestelltes Objekt gedacht werden. Das Problem verschärft sich, wenn man bedenkt, daß Kunst dabei auf Materialien, Wörter, Geräusche etc., d. h. auf »Primärmedien«6i, zurückgreifen muß, die auch im Kontext der Nicht-Kunst, der alltäglichen Lebenspraxis, verwendet werden. Wenn Objekte oder Geräusche, wie der Gesang Josefines, die sich substantiell nicht von alltäglichen Gebrauchsobjekten, wie dem Pfeifen, unterscheiden lassen, als Kunstwerke wahrgenommen werden sollen, dann muß deren Verwendungsdifferenz^, deren Zweckentfremdung oder, um es mit Deleuze zu formulieren, deren »Deterritorialisierungskoeffizient«63 gegenüber den Alltagsobjekten betont werden. In der Erzählung wird dieses Problem in der kurzen Passage über das Nüsseknacken reflektiert: [E]s ist zum Verständnis ihrer Kunst notwendig, sie nicht nur zu hören sondern auch zu sehn. Selbst wenn es nur unser tagtägliches Pfeifen wäre, so besteht hier doch schon zunächst die Sonderbarkeit, daß jemand sich feierlich hinstellt, um nichts anderes als das Übliche zu tun. Eine Nuß aufknacken ist wahrhaftig keine Kunst, deshalb wird es auch niemand wagen, ein Publikum zusammenzurufen und vor ihm, um es zu unterhalten, Nüsse knacken. Tut er es dennoch und gelingt seine Absicht, dann kann es sich eben doch nicht nur um bloßes Nüsseknacken handeln. Oder es handelt sich um Nüsseknacken, aber es stellt sich heraus, daß wir über diese Kunst hinweggesehen haben, weil wir sie glatt beherrschten und daß uns dieser neue Nußknacker erst ihr eigentliches Wesen zeigt, wobei es dann für die Wirkung sogar nützlich sein könnte, wenn er etwas weniger tüchtig im Nüsseknacken ist als die Mehrzahl von uns. (S. 276) Die Verwendungsdifferenz, die eine Unterscheidung zwischen Kunst (Gesang) und Alltäglichem (Pfeifen) ermöglicht, wird sichtbar, indem das Alltägliche (Pfeifen/Nüsseknacken) unter anderen, nicht-alltäglichen Bedingungen stattfindet und somit von seiner alltäglichen Funktion befreit wird. Wenn es keinen externen Zweck mehr hat, wird es zum Selbstzweck. Die Gesangsvorführungen Josefines weisen eine kaum zu übersehende Analogie zu dem in der Passage über das Nüsseknacken zitierten idealistischen Kunstbegriff auf, der eine Definition von Kunstwerken als Selbstzweck vorsieht. So ist auch Josefines Pfeifen »freigemacht von den Fesseln des täglichen Lebens« (S. 287) und entspricht damit Kants Bestimmung des »Schönen«, das er als »Zweckmäßig-
61 Luhmann 1988b, S. 63. 62 Vgl. dazu Luhmann 1995, S.251. Daß diese »Verwendungsdifferenz« aber nicht unbedingt »am Material« selbst sichtbar gemacht werden muß, haben >Werke< avancierter Kunst gezeigt. Wie sich noch zeigen wird, haben auch die Versuche Josefines, klangliche Veränderungen am Gesang vorzunehmen, keine Folgen im Hinblick auf die Wahrnehmung ihres Pfeifens. 63 Deleuze/Guattari 1976, S. 24 u. 11.
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keit ohne Zweck« definiert>* Gleichlaufend beschreibt Kant das ästhetische Wohlgefallen als Gefallen »ohne alles Interesse«.65 Dementsprechend ist Schönheit »Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen w i r d .«66 Hier wird das Pfeifen aus seinem sprachlich-kommunikativen Kontext gelöst - das Publikum muß während des Vortrags schweigen - und somit zweckentfremdet und »befreit auch uns [das Volk; A. R.] für eine kurze Weile.« (S. 287) Dem Pfeifen Josefines wird dann eine gewisse Schönheit zugeschrieben, wenn es von der Funktion, das es als »Sprache unseres Volkes« (S. 287) hat, entbunden wird. Da dies bei dem Pfeifen Josefines der Fall ist, »bewundern [wir] an ihr das, was wir an uns gar nicht bewundern [...].« (S. 276) Der tautologisch-paradoxe Begriff des Selbstzwecks von Kunstwerken wirft das Problem auf, wie Kunst, die zwar darauf angewiesen ist, alltägliche Ausdrucksformen, wie das Pfeifen, zu verwenden, diese aber von deren externem Nutzen bzw. Zweck befreit, überhaupt noch als Medium des Kommunikationssystems Kunst fungieren kann. Anders formuliert: Wie kann der Gesang oder das Pfeifen Josefines - wer soll das unterscheiden - das »eigentliche Wesen« (S. 276) des alltäglichen Pfeifens zeigen, wenn es bezüglich seiner Funktion genau das nicht ist, was das Pfeifen ist, wenn es eben nicht mehr die Sprache des Mäusevolks, sondern nur noch bloßes Geräusch ist? Kunst soll etwas, was bisher unbeobachtbar war (»das eigentliche Wesen«), beobachtbar und kommunizierbar machen. Aber wie soll das möglich sein, wenn das, was durch
64 Kant 1994, S. 143 (§ 15). - Wolf Kittler 1985 zeigt auf, daß in der >Nußknackerepisode< die idealistische Kunsttheorie »eine paradoxe Synthese« mit der Kunstkritik Piatons eingeht, der der Kunst vorwirft, »daß sie, weil sie nur die Erscheinung nachahmt, hinter den Produkten eines Handwerkers zurückbleibt [...].« (S. 189) Dagegen wird die Verwendungsdifferenz des Kunstwerks gegenüber dem Alltagsobjekt betont, wenn es weniger perfekt hergestellt ist, da die Vollkommenheit, das perfekte Hergestelltsein, auf die unproblematische Verwendbarkeit in einem (alltäglichen) Kontext abzielt und somit bezüglich dieser Kontextbindung zweckgebunden ist. Die Perfektion beim Nüsseknacken ist nur dann relevant, wenn es dabei lediglich um das Öffnen von Nüssen, d.h. um das Verfügbarmachen von Nahrungsmitteln, geht. 65
Kant 1994, S. 124 (§ 5). Interesselos ist die ästhetische Erfahrung im Hinblick auf die konkrete praktische Verwendbarkeit des Kunstwerks. So hat das Volk während der Gesangsvorführungen kein Interesse daran, Josefines Pfeifen in seiner Funktion als Kommunikationsmedium des Volkes zu verstehen. Nach Luhmann 1995 ist damit »aber noch nicht erklärt, wie man es anstellt, ohne Interesse zu beobachten; oder wie ein Beobachter sicher sein kann, daß er selbst oder andere in der Lage sind, Interessensgesichtspunkte auszuschalten und trotzdem motiviert zu sein und zu bleiben, sich mit Kunst zu beschäftigen.« (S. 115) 66 Kant 1994, S. 155 (§ 17) (Hervorhebungen im Original).
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das Kunstwerk kommuniziert werden soll, nicht mehr im bzw. am Kunstwerk selbst erscheint und wenn keine kunstwerkimmanenten Indikatoren, keine »intrinsic persuaders«,67 existieren, die Kunst als Kunst identifizieren? Die Antwort liegt auf der Hand: Wenn Josefine und ihr Gesang, also das, was beobachtet wird, keinen Aufschluß über dessen Wirkung und Bedeutung gibt, liegt das »Rätsel ihrer großen Wirkung« (S.275) in der Form, wie und warum ihr Gesang als Kunst beobachtet wird, begründet.68 Die Rolle des Beobachters und Interpreten und die seiner Beobachtung zugrundeliegenden Unterscheidungen rücken in den Vordergrund. So erkennt auch der Erzähler, daß es unmöglich ist, die Unterscheidung zwischen Gesang und Pfeifen an dem von Josefine produzierten Geräusch zu überprüfen, »man [muß] sich in dieser Hinsicht prüfen [...].«[Hervorhebungen A. R.] (S. 276) Wenn der Erzähler sich und seine Beobachtung(sunterscheidungen), d. h. seine >BeobachtungsinstrumenteGesang< nicht fixiert werden kann. Wie bereits notiert wurde, ist die Bedeutung von >Gesang< prinzipiell uneinholbar. Sobald das von Josefine produzierte Geräusch zu Gesang deklariert und von Pfeifen unterschieden wurde, ist es »freigemacht von den Fesseln des alltäglichen Lebens« (S.287) und verweist auf nichts anderes als auf sich selbst. Der Gesang präsentiert sich somit als
72 Besonderen Bekanntheitsgrad erlangten in diesem Zusammenhang ζ. B . der Flaschentrockner und das Urinal, die von Duchamp zu Kunstwerken erklärt wurden, sowie die von Andy Warhol in der »Staple Gallery« in N e w York ausgestellten Seifenkartons der Marke »Brillo«. Zur Geschichte der ready-mad.es und deren Auswirkungen auf den Kunstbegriff in der Moderne vgl. u. a. Langer 1984, Kap. 3.2.
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reine Mitteilung und informiert - wenn überhaupt - nur darüber, daß er nicht informiert. Dabei macht der Gesang auf seine Interpretationsbedürftigkeit aufmerksam.73 Unter diesen Voraussetzungen können aber auch alle Verstehensanschlüsse bzw. Interpretationen des Erzählers nur selbstreferentiell sein. Vor diesem Hintergrund stellt sich allerdings die Frage, »wie [es] kommt, daß wir [das Volk; A. R.] Josefines Gesang [...] zu verstehen glauben.« (S. 274) Das Verstehen des Gesangs ist das Verstehen einer Kommunikation und hängt somit vom Verstehen der Unterscheidung zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz ab. Dies wiederum setzt eine Beobachtung der Beobachtung voraus, die sichtbar macht, daß Selbstreferenz nur dann vollzogen werden kann, wenn sie von Fremdreferenz unterschieden wird. Wo aber liegt die Fremdreferenz (Information) eines Kunstwerks, das sich selbst als reine Selbstreferenz (Mitteilung) artikuliert? Dieses Problem wird vor allem dann virulent, wenn es sich bei dem vermeintlichen Kunstwerk (Gesang) prinzipiell um ein Gebrauchsobjekt (Pfeifen) handelt und dadurch die anhand der Unterscheidung zwischen Kunst und Nicht-Kunst vollzogene Identifikation des Objekts als Kunstwerk zur Disposition steht. Da der Gesang als Selbstzweck informationsleer ist und somit keine Externalisierung der Fremdreferenz im Kunstwerk selbst vorliegt, muß Fremdreferenz anhand von sogenannten »Informationsbeihilfen«74 zumindest indiziert werden. Als solche fungieren ζ. B. die Ausstellungsräume eines Museums, die Bühne eines Theaters, der Rahmen eines Bildes, die Belletristik-Abteilung einer Buchhandlung sowie die Signatur oder die Präsenz des Künstlers. Wenn das Werk selbst sich nicht mehr durch werkimmanente »intrinsic persuaders« als Kunst ausweist, dann bedarf es >extrinsic persuaders< in Form institutionalisierter Rahmenbedingungen ,75 die das Erkennen von Kunstwerken ermöglichen. Der Rahmen dient in diesem Zusammenhang als Supplement im Sinne Derridas 76 , das an die Stelle der fehlenden Fremdreferenz und der werkimmanenten Kunstindikatoren tritt, ohne diese ganz ersetzen zu können. Auch die Deklaration von Josefines Gesang zu Kunst ist an einen rekursiven Beobachtungsrahmen bzw. an stark konventionalisierte Beobachtungs- und
73
Zu den Aspekten der referentiellen Offenheit und der daraus resultierenden Interpretationsbedürftigkeit als Merkmale bedeutender Kunstwerke vgl. u.a. auch Scheffer 1992, S. 25 u. 239. 74 Luhmann 1995, S . 3 9 5 . Zur Bedeutung des (institutionellen) Rahmens für die Kunstdeklaration vgl. auch Danto 1984, S. 4 9 u. 56 und Culler 1988, S. 216ff. 7 5 Zum institutionstheoretischen Kunstbegriff vgl. u. a. Dickie 1974 und - zusammenfassend - auch Danto 1984, S. 144ff. 7 6 Vgl. Derrida 1983, S. 250ff., Derrida 1972, S. 437f. und Derrida 1992, S. 86.
Kunst am Nullpunkt?
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Interpretationsroutinen gebunden. So kann der Gesang als solcher (als Kunst) nur durch die ritualisierte Inszenierung der >Formseltsame< Umkehr des traditionellen Verhältnisses zwischen Kunstwerk und Rahmen wird in der Erzählung ironisch pointiert formuliert. So weiß der Erzähler nicht, ob »es ihr Gesang [ist], der uns entzückt oder nicht vielmehr die feierliche Stille, von der das schwache Stimmchen umgeben ist« ( S . 2 7 7 ) , zumal »[s]tiller Frieden uns die liebste Musik [ist] [...].« (S. 274)78
Der institutionalisierte und ritualisierte Rahmen, und dazu gehört auch die Einigung auf bestimmte Beobachtungsroutinen, kann das Kunstwerk aber nicht ersetzen, da er als Kunstindikator, als >Außen< des Werks, dem >Innenaktuelle< Darstellung ist nicht darstellbar, das Ereignis als solches vergißt sich, denn »das Jetzt ist nicht jetzt, sondern noch nicht oder schon nicht mehr, man kann nicht jetzt sagen, dafür ist es zu früh (vorher) oder zu spät (nachher).« 4 ?
39 Luhmann/Fuchs 1989, S. 51. 40 Ebd., S. 49. « Ebd., S. 51. 42 Ebd., S. 50. 43
Ebd., S. 57. 44 Ebd. 45 Heidegger 1977, S. 11. 46 Fuchs 1993, S. 23. 47 Lyotard 1987, S. 133.
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Angesichts dieser Umstände wäre es die logische Folgerung zu schweigen, nicht nur gemäß des Mottos Wittgensteins »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«^, sondern auch, weil das Schweigen die angemessene Form des Umgangs mit der Zweitlosigkeit wäre, denn Schweigen »schlägt gleich dort zu, wo und womit sich soziale Systeme konstituieren«^.
5.
Paradoxe Kommunikation - Kommunikative Bewegung des Inkommunikablen
Die Initiierung des Ereignisses der Abwesenheit aller Differenz sehen Luhmann und Fuchs jedoch nicht nur in dem Modus des Schweigens realisiert, sondern auch in bestimmten kommunikativen Formen wie in denen des ZenBuddhismus und der Mystik. Die Form der Paradoxen Kommunikation, die Luhmann und Fuchs vor allem auf die kommunikativen Techniken des Zen-Buddhismus und der Mystik beziehen, entzieht sich der Interpretation und dem hermeneutischen Zangengriff differentiell gesteuerter Analyse. Ihr Ziel ist die »psychische Initialzündung«50, der »bursting point«5i, da sie in ihrer logik-brechenden Form »auf das Durchschlagen des dualistischen Knotens«52 angelegt ist. In dem intendierten Schock wird der Rezipient in den vordifferentiellen Raum (unmarked space) hineinkatapultiert. Der Sprung ins Unkommunikable selbst wird jedoch kommunikativ in der Paradoxic evoziert. Die Paradoxie »zerstört für einen Augenblick die Gesamtpräsentation des Systems: geordnete, reduzierte Komplexität zu sein. Für einen Augenblick ist dann unbestimmte Komplexität wiederhergestellt, ist alles möglich.« Insofern eröffnet die Paradoxie den prädifferentiellen Raum, denn »Widersprüche sind nur [...] als Ereignisse möglich« .53 Das Konzept des prädifferentiellen Urgrundes bringt die irritierende Kommunikation hervor, die die adäquate Antwort auf die »Idee des Zustandes der Abwesenheit aller Differenz«S4 ist. In der Paradoxie oszillieren Anschlußfä-
48 Wittgenstein 1964, S. 115. 49 Luhmann/Fuchs 1989, S. 37. 50 Ebd., S. 93. 51 52 53 54
Ebd., S. 53. Ebd., S. 61. Luhmann 1984, S. 508. Luhmann/Fuchs 1989, S. 49.
Literarische Avantgarde und paradoxe
Kommunikation
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higkeit und Anschlußlosigkeit, hier wird der »Bezug alles Bezüglichen auf ein selbst nicht wieder Beziehbares nicht nur denkbar, sondern erfahrbar«55. Die Paradoxe Kommunikation zeichnet sich durch den nicht weiter reduzierbaren Grenzfall von Anschlußfähigkeit aus, in dem Anschlußfähigkeit und Anschlußlosigkeit konvergieren. Hierbei wird genau jene Zeiterfahrung des Modus des Nachhinein, der jeder Beobachtung immanent ist, auf den Punkt gebracht: Die Kommunikation wird aktuell vollzogen, aber so, daß ihre Aktualisierung den Übergang zur gegenteiligen Kommunikation erzwingt. Wenn sie etwas sagt, kann sie nur verstanden werden als ein Hinweis auf das Gegenteil. Im Aktualitätsraum der Kommunikation kollabiert also die Zeit. Die Gegenwart wird benutzt, um die Zeit in sich selbst aufzuheben. 5 6
Die semantische Artikulation findet zwar statt, wird jedoch sofort wieder negiert. Und doch hat sie kommunikativ etwas bewegt: Von dem Rezipienten wird erwartet, daß er in dem schwindenden Moment des Oszillierens das Ereignis erfaßt, das in dem Umschlagspunkt aufblitzt: Ihm bleibt dann nur der Sprung [...], und zwar so, daß er des Prä-Differentiellen ansichtig wird, des Urgrundes, der sich nicht beobachten läßt. 57
Die Paradoxe Kommunikation läßt die Sprache »jenseits ihrer eigenen Grenzen explodieren, ihre eigene Logik [...] sprengen, aber nicht in der reinen Tautologie, sondern in einer phantasievollen Potenzierung, wo sie natürlich mit ihrem eigenen Untergang spielt.«58 Die Kommunikation beginnt zu oszillieren, »weil jede eingenommene Position zwingt, das Gegenteil zu behaupten, wofür dann dasselbe gilt .«59 Die Befreiung von den sprachlichen Implikationen, die Entortung der sprachlich-kategorisierenden Perspektive kann also nur über die Negation der von der Sprache gesetzten Sinnzuweisungen und Strukturierungen laufen. Um die Sprache »abzubannen, festzuzaubern«60, muß sie gegen das Gesetz antreten, unter dem sie angetreten ist. Sie muß die Verfahren suspendieren, also thematisieren und funktionalisieren, denen sie überhaupt ihre Existenz ver-
55 Ebd., S. 99. 56 Ebd., S. 133. 57 Ebd., S. 61. 58 Baudrillard 1989, S. 17. 59 Luhmann/Fuchs 1989, S. 8. 60 Bayer 1981, S. 253.
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dankt. In dem Ausstellen der für die Sprache konstitutiven Verfahren durch Sprache tritt die Selbstreferentialität an die Stelle textexterner Bezüge. Ein derart gestalteter Text arbeitet gegen die der Sprache immanente Relation Singifikat - Referent. Sprache muß sich auf sich selbst beziehen, muß also die ihr immanente Selbstreferentialität ausstellen, um sich abzuschaffen. Darin wird ein Schwebezustand der Sprache evoziert, der die »Herrschaft der Codes auslöscht« Verfährt man so, wird es möglich, »der Zeichenstruktur, die ja unbestreitbar vorkommt, einen neuen Sinn zu geben: Sie entfaltet Selbstreferenz, sie asymmetriert und ist eben deshalb gegen eine Bezeichnung des Bezeichnens empfindlich .«62 In dem Begriff der Selbstreferenz artikuliert sich die Vorstellung, jede Referenz auf Ereignisse, Objekte zu löschen: Sprache steht nicht mehr im Dienst von Bedeutungen, sondern sie bedeutet selbst. - Sie will, könnte man formulieren, die Reetablierung des unmarked space!
6.
Avancierte Literatur und Paradoxe Kommunikation
Konrad Bayer steht mit dem Text »der köpf des vitus bering« in dieser Tradition der kommunikativen Evozierung des Inkommunikablen: Er bedient sich ebenfalls der Technik der Paradoxen Kommunikation, die eingesetzt wird, »um Initialzündungen für psychische Erleuchtungszustände«63 auszulösen, da »diese Kommunikation auf Schock angelegt ist, oder, wenn man so will, auf das Durchschlagen des dualistischen Knotens« .64 Das zentrale Motiv der Wiener Gruppe, folgt man Oswald Wieners Versuch einer retrospektiven Selbstdeutung, war nicht der Protest gegen einen »bestimmten Staat oder sonst eine Folklore, sondern gegen Staat, Sprache, Konsum, Verfahren, Modelle, Denkgesetze schlechthin, nicht gegen Verhaltensstile, sondern gegen die Formen des eigenen Denkens« .65 Die Vorstellungen einer kulturellen »De-Identifikation«66 realisierte Konrad Bayer als »intensivster Artist«67 der Wiener Gruppe in seinen Schriften in
61 62 63 64 65 66 67
Barthes 1981, S. 102. Luhmann/Fuchs 1989, S. 16. Ebd., S. 47. Ebd., S. 61. Wiener 1978, S. 39. Ebd. Ebd.
Literarische Avantgarde und paradoxe
Kommunikation
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einer Form, »von der die Philosophen noch manches lernen können« 68 - so beendete Emst Bloch seine Spontankritik nach einer Lesung Bayers vor dem Schriftstellerkongress der Gruppe 47 in Saulgau im Oktober 1963. Das zentrale Programm der Wiener Gruppe artikuliert sich nicht zuletzt darin, daß Schreiben nicht mehr »als Mittel künstlerischer Darstellung«69 dient, sondern »ein Instrument zur Untersuchung von Denkvorgängen wird und für den Schreibenden ein natürlicher Hebel zum Hinausschieben seiner ihm im Schreiben merkbar werdenden Vorstellungsschranken«70 wird. Der Text »der köpf des vitus bering« kann als der radikalste Text Bayers gewertet werden, da er dem Versuch folgt, »der Vernichtung durch Sprache schreibend e n t g e g e n z u w i r k e n « - wie es S.J.Schmidt in seinem Vortrag während des Konrad-Bayer-Symposiums in Wien 1979 formulierte. Das heißt, dieser Text entzieht sich gängigen Lesegewohnheiten, da er alle gültigen Techniken zur Konstitution von Sinnstiftung hinter sich läßt und alle - in den sprachlichen Perforierungen und sprachlich geprägten Denkmustern stillschweigend implizierten - Lebens- und Weltmodelle in Frage stellt. Der Versuch, hinter den Bereich sprachlich genormter Denkmuster zu gelangen, heißt, daß die Botschaft von »der köpf des vitus bering« genau das ist, was sich der Mitteilung entzieht. Insofern verweigert sich der Text »der köpf des vitus bering« auch den gängigen Analysemodellen von Literatur, da er für die Rezeption und die Interpretation nicht nur keine Orientierungslinien wie kohärenter Erzählverlauf oder lineare Raum- und Zeitstruktur bietet, sondern überhaupt alle durch Sprache gesetzten Denkstrukturen unterläuft und in Frage stellt. Das heißt für den Text: »Die Erzählbarkeit wird demontiert, die Geschichte bleibt dennoch lesbar«72. - Dies gilt vor allem für den Text »der köpf des vitus bering«. Dieser Text ist lesbar, dennoch wird man diesen Text nicht auf einen plot, einen Handlungsverlauf hin nacherzählen können. Der pragmatische Nexus einer linearen Handlung wird in »der köpf des vitus bering« zerstört, da hier der Sprachgebrauch nicht unter der Prämisse der mimetischen Abbildungsbeziehung erfolgt. Es werden vielmehr alle deiktischen Strukturen wie eine kohärente Raum- und Zeitachse und homogene erzählerische Perspektiven wie kohärente Sprecherrolle oder Einheit der Figuren aufgebrochen und jeweils als Simultanerscheinungen gehandhabt.
68 69 70 71 72
Siehe Abschrift der Diskussion in: Konrad-Bayer-Symposium 1981, S. 88. Wiener 1978, S. 40. Ebd. Schmidt 1981, S. 68. Barthes 1981, S. 102.
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7.
Michaela
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Paradoxe Kommunikation als textkonstitutives Verfahren
In »der köpf des vitus bering« spannt sich die Technik der Paradoxen Kommunikation, der Setzung und Negation, von der Wortebene bis hin zum Textkorpus selbst. Die semantische Ordnung der Wörter wird durch die Montage in einem Gefüge des Verweisens zugunsten einer schwebenden Semantik aufgebrochen, wie es an dem Begriff >Bär< aufgezeigt werden kann.73 Auf textueller Ebene gibt es drei Formen der Setzung und Negation: Zum einen ist dem Text die sukzessive Paradoxie eingeschrieben, das heißt die Setzung einer Satzsequenz und die sukzessive Negation der darin gesetzten Entitäten, bis alle in der Setzung gesetzten Entitäten durch deren sukzessive Negation keine fest geschriebene Position mehr haben, sondern in den freien Raum zwischen Existenz und Nicht-Existenz fallen. Im folgenden Beispiel wird eine Satzsequenz gesetzt, die mehrmals wiederholt wird, wobei jeweils die letzte Sinneinheit negiert wird. Die Satzsequenz wird so oft wiederholt, bis die Satzsequenz verschwindet: vitus bering stieg auf einer eisernene leiter unter deck (= Setzung I (S I)) die bordwache sang das aiphabet
(= Setzung II (S II))
und der oberst zog seinen säbel
(= Setzung III(S III))
vitus bering griff nach seinem hut.74
(= Setzung IV(S IV))
Der ganze Text lautet: vitus bering bering stieg auf einer eisernene leiter unter deck, die bordwache sang das aiphabet und der oberst zog seinen säbel. vitus bering griff nach seinem hut [...] dann stieg bering auf die eiserne leiter unter deck, die bordwache sang das aiphabet und der oberst zog seinene säbel. aber bering griff nicht nach seinem hut, dann stieg er die eiserne leiter unter deck, die bordwache sang das aiphabet, aber der oberst zog keinen säbel. dann stieg bering auf der eisernen leiter unter deck, aber die bordwache sang nicht das aiphabet, sondern das einmaleins und bering stieg nachdenklich die leiter wieder hinauf. (d.k.d.v.b., S. 189)
73
74
Der Name »Bering« ist unter anderem von der Homophonie zu dem Begriff »Bär« gekennzeichnet. Daneben trägt Bering ein Bärenfell, assimiliert also mit dem Bären. Diese Verschmelzung wird duch den semantischen Transformationsprozeß unterstrichen: »vitus bering kauft ein handlaterne. schon hob er die tatze, da krachte es« (Bayer 1985, S. 175). Bayer 1985, S.189.
Literarische Avantgarde und paradoxe
Kommunikation
127
Das Schema dieser sukzessiven Negation sind folgendermaßen aus: Setzung der Satzsequenz
SI Sil SIII SIV
1. Wiederholung (WH) und Negation (N)
SI Sil SIII NIV
2. WH & Ν
SI Sil NIII
3.WH&N
SI Nil
4. WH & Ν
SI
Durch das Herabsteigen der Leiter am Anfang der Textsequenz und dem Wiederhinaufstegen am Ende der Sequenz wird der sukzessiven Negation, der immer fortschreitenden Paradoxierung, eine Rahmenbewegung gegeben, die die Annulierung der Sequenz in das Hinab- und Hinaufsteigen der Leiter einbettet. Dieses Schema verdeutlicht den Effekt der Paradoxie. Sie löst die rein referentielle Struktur von Sprache auf und arbeitet gegen die Setzung von sprachlichen Entitäten und hinterläßt an deren Stelle eine Leerstelle, die den Oszillationspunkt von Existenz und Nichtexistenz markiert. Die zweite Form der Paradoxen Kommunikation in »der köpf des vitus bering« ist die diametrale Gegenüberstellung von Setzung und Negation. Das heißt, der sprachlichen Setzung von Entitäten folgt sofort die gegenteilige Behauptung, die alle vorangegangenen Sinnsetzungen schlagartig ins Wanken bringt: nach einer halben stunde neigte sich die säule und platzte, die masse wasser stürzte ins meer zurück, nacheinander steigen mehrere solche Säulen empor, das meer wallte unterdessen fortwährend, die wölke wurde immer dunkler und ohne Unterbrechung fielen regen und hagel auf ihr schiff, auf bering, ins meer unter blitzen und leuchten, der himmel war heiter und kein hauch regte sich. (d.k.d.v.b., S. 184)
Die dritte Form der Paradoxen Kommunikation in »der köpf des vitus bering« ist die rekursive, nachträgliche und distanzierte Setzung von Sinnzuweisungen, die zuvor schon im Text negiert wurden. Postion und Negation schließen hier nicht unmittelbar aneinander an, sondern werden innerhalb des Montageverfahrens in verschiedenen Textschichten integriert. Auf Seite 183 in »der köpf des vitus bering« erscheint eine Negation von etwas noch gar nicht Gesetztem (»vitus bering war weder james cook., [...]«) und erst auf Seite 188 erfolgt die Setzung: vitus bering beugt sich über die reeling, griff nach dem lukendeckel und zog daran. [...] james cook zog den lukendeckel aus der hölzerne laufschiene und simon deschneff legte ihn, während sir martin frobisher die beine spreizte und john davis in den kniekehlen abbog, vorsichtig auf eine planke. (d.k.d.v.b., S. 188)
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Michaela
Kenklies
Der Text »der köpf des vitus bering« hält immer sein Gegenteil präsent: Alle in »der köpf des vitus bering« gesetzten Entitäten, die beim Verfassen eines sprachlichen Gebildes unweigerlich entstehen, werden systematisch innerhalb des Textes auch wieder dementiert. Das heißt, der Text funktionalisiert sich selbst als Bedeutungsträger. Darin spiegelt sich die Negation der Bedeutungsebene von Sprache überhaupt. Sprache wird in der Paradoxen Kommunikation aus ihrer referentiellen Funktion herausgelöst, und die denotative Struktur der Sprache wird zugunsten eines zwischen Setzung und Negation diametral gesetzten Aktionsradius des Textes zurückgewiesen: »Es gibt kein Zentrum mehr, sondern Dezentrierungen und Serien mit einem hinkenden Hin und Her zwischen Anwesenheit und Abwesenheit.«75 Der Text soll vorrangig nichts mehr darstellen, sondern in der sprachlichen Negation der - im Sprachgebrauch unweigerlich einsetzenden - Sinnzuweisungen auf das Nichtsprachliche verweisen. Die Distanz zur innersprachlichen Realität wird in einem Spiel von Setzung und Negation sprachlicher Realitäten ermöglicht. Die Pole zwischen dem Sprachlichen und dem Nichtsprachlichen werden innerhalb des Textkorpus in Setzung und Negation, in Präsenz und Abwesenheit artikuliert und parallelisiert, denn das »Spiel ist immer Zerreißen der Präsenz«7^ und immer ein »Spiel von Abwesenheit und Präsenz«. Darin korreliert »der köpf des vitus bering« mit dem Erzählmuster von Märchen, die als mythische Texte über die sprachliche Realität hinausreichende Inhalte transportieren. Die programmatische Eingangsformel »Einmal war's, keinmal war's« 7 7 ungarischer und spanischer Märchen verweist von Anfang an in der prinzipiellen Setzung und Negation des Textes als Bedeutungsträger sprachlicher Realitäten auf die nichtsprachlichen Realitäten. In der Dementierung sprachlicher Sinnzuweisungen erweist sich Sprache als ein nicht zu relativierender Zwang - es bleibt nur die sprachliche Negation, das Paradoxon, als Verweis auf das Nichtsprachliche oder das Schweigen. Infolgedessen arbeitet der Text »der köpf des vitus bering« im Laufe des Textes im zunehmenden Maße mit dem graphischen Element der Leerzeile als Markierung der Orte expliziter Nichtsprachlichkeit. Somit operiert dieser Text auf zwei Ebenen, um das Nichtsprachliche in sich zu integrieren: zum einen mit dem Paradoxon und zum anderen mit dem Schweigen. Darin folgt er Wittgenstein, der am Ende des Tractatus logico-
7
5 Deleuze/Foucault 1977, S. 21. Derrida 1972, S. 440. 77 Jakobson 1979, S . l l l .
Literarische Avantgarde und paradoxe
Kommunikation
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philosophicus das Schweigen und das Paradoxon als angemessene Umgangsformen mit (und Zugang zu) dem Außersprachlichen, dem »Mystischen« 78 , formuliert: 6.54
Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestigen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.
7
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.79
Die dargestellte Technik der Paradoxen Kommunikation in »der köpf des vitus bering« zielt eben auf dieses Moment des Wegwerfens der Leiter, nachdem der Leser auf ihr hinaufgestiegen ist: das Paradoxon, das »die Grenze des Abbildungsapparates darstellt«80; und das eine Figur ist, »das Überschreitende zu benennen«8i, ist gleichsam die Leiter zum Nichtsprachlichen. In der Setzung und Negation sprachlicher Realitäten, in der Negation sprachlicher Ordnungsschemata, erfährt der Rezipient die Möglichkeit, aus den gesetzten sprachlichen Sinnzuweisungen herauszutreten, denn »Paradoxien erzeugen jenes eigentümliche kognitive Flimmern zwischen Negation und Position, das das Festhalten von Sinn unmöglich macht« 82 . Die Paradoxie verhindert und zerstört jegliche Beobachtungsmöglichkeit. Jede Differenzbildung wird von der nächsten Negation oder Setzung zerstört und in ihr Gegenteil verkehrt. Die Beobachtung gerät ins Oszillieren. Darin ist die Paradoxie, die den Zugang zum Nichtsprachlichen, zum unmarked space eröffnet, dem vordifferentiellen Zustand partiell äquivalent: sie sind beide letztlich unbeobachtbar, denn dem Rezipienten von Paradoxien bleibt dann nur der Sprung. [...] Er springt durch die Kommunikation mitten in die Paradoxie, und zwar so, daß er des Prä-Differentiellen aller Differenzen ansichtig wird, des Urgrundes, der sich nicht beobachten läßt.83 Mittels der Paradoxen Kommunikation wird es in dem Text »der köpf des vitus bering« ermöglicht, die gültigen Techniken zur Konstitution von Sinn nicht auf einer reflexiven, sekundären Ebene zu diskutieren, sondern das Verfahren der Paradoxen Kommunikation eröffnet eine alternative Diskursmög-
78 79
80 81 82 83
Wittgenstein 1964, S. 115. Ebd. Lyotard 1987, S. 98. Barthes 1976, S. 31. Luhmann/Fuchs 1989, S. 170. Ebd., S. 69.
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Michaela Kenklies
lichkeit: Das durch den Zeichengebrauch prinzipiell Ausgeblendete kann via der Paradoxen Kommunikation in die Sprache selbst wieder hineinkopiert werden. Damit gelingt es der avancierten Literatur, sich einem imaginären Ziel anzunähern - nämlich den Text als die Einheit der Differenz Sprachlichkeit Nicht-Sprachlichkeit zu präsentieren.
CORINNA KREBS
Theorie und Praxis in der Prosa Friederike Mayröckers
»Heutzutage geht zwar alle Neugier auf die Interpretation; doch unmöglich, Uber sie zu sprechen, setzt man sie nicht dem Begriff aus.« Mallarme, Hamlet
In der gegenwärtigen Diskussion um das Verhältnis von Theorie und Literatur wird besonders die Selbstbezüglichkeit sowohl literarischer Texte als auch die aktueller Theoriedesigns herausgestellt. Der Zusammenhang aktueller Literaturtheorie und avancierter Textpraxis soll in dem folgenden Beitrag anläßlich des Prosawerks Friederike Mayröckers vorgestellt werden. In den sprachlich avancierten Texten wird das Verhältnis von theorethischer Reflexion und literarischer Praxis nicht nur inhaltlich dargestellt, sondern darüber hinaus auch als praktischer Vollzug umgesetzt. Die Überlegungen dieses Beitrags zielen darauf ab, inwiefern die selbstreferentiell motivierten Verfahrensweisen, wie sie von Friederike May röcker in ihrem Prosawerk eingesetzt werden, auch einen Erkenntnisgewinn für eine grundsätzliche Betrachtung von Theorie und Praxis bedeuten können. Die besondere sprachliche Organisation dieser Texte und die damit verbundenen Schwierigkeiten, die sich bei einer Interpretation der Texte ergeben, bietet damit zum einen Anlaß für Überlegungen zu aktuellen Verfahren der Interpretation, zum anderen aber auch Anstoß, mögliche Einsichten über die Relation von Literaturtheorie und Text zu gewinnen, die noch hinausgehen über die Verfahren zur Interpretation, die mittels Texttheorien gewonnen werden können.
1. Die Widerspenstigkeit der Texte Friederike Mayröckers gegenüber literaturwissenschaftlichen Verfahren der Interpretation Der kleinen, aber beständigen Auflagen- und Leserzahl der Prosa Mayröckers steht in den letzten Jahren ein stark anwachsendes Interesse der literaturwissenschaftlichen Rezeption gegenüber. Ein möglicher Konsens in der Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Werk Mayröckers besteht aber bisher einzig darin, der Prosa Mayröckers einen äußerst eigenwilligen, radikal anmutenden Sprachgestus zu attestieren, der den großen Reiz dieser Prosa be-
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Corinna Krebs
dingt. Die fast körperliche Sogkraft, die von den Texten Mayröckers auf den Leser ausgeht, scheint dabei einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise entgegengesetzt: »Ihre Texte beeindrucken offenbar, aber sie rufen eine Art von Bewunderung hervor, die entweder nicht nach Erklärungen drängt, oder sich dagegen sperrt« 1 , denn »die poetische Kraft, die von diesen Texten ausgeht, entzieht sich jenen Beschreibungskategorien, mit denen die Literaturwissenschaftler ihr Handwerk b e t r e i b e n d Das offensichtliche Mißverhältnis zwischen der semantischen Pluralität und Offenheit der Texte einerseits und der Eindimensionalität der zur Verfügung stehenden Beschreibungskriterien andererseits führt indessen zur wohl noch immer häufigsten Reaktion auf die Prosatexte Mayröckers: Dem Eingeständnis der eigenen Ratlosigkeit. Die seit Mitte der siebziger Jahre vorherrschende Tendenz, daß es den jeweiligen literaturwissenschaftlichen Ansätzen versagt sei, »mit den jeweils erprobten (und vom jeweiligen Standpunkt aus gesehen, bewährten) Verfahrensweisen einer Analyse, der literaturhistorischen Einordnung, der Interpretation, o.ä., Friederike Mayröckers Literatur auch nur ansatzweise im eigenen System kohärent zu machen«3, hält damit zum Teil noch bis heute an. Die Frage, welche literaturwissenschaftliche Annäherungsweise angemessen erscheint für eine Sprache, die sich dem Leser als gleichermaßen assoziativ und sinnlich sowie abstrakt und durchkonstruiert präsentiert, bleibt bislang unbeantwortet: Der Versuch der wissenschaftlich gesteuerten Beobachtung und Beschreibung einer Literatur, in der »dieses und jenes Wort aufblitzt und einschlägt, aus dem Wörterbuchhimmel auffährt, daß man getroffen/betroffen nicht mehr wird ablassen können«4 und die den Leser dergestalt in einen faszinierten, nahezu rauschhaften Taumel der Sprache zieht, scheint den Grenzbereich wissenschaftlichen Umgangs mit zeitgenössischen Kunstproduktionen zu berühren.
2. Selbstreferenz als literarisches Produktionsprinzip Das Prosawerk Mayröckers dokumentiert sprachliche Prozesse der Selbstbeschreibung. Durch die tagtägliche, nahezu unausgesetzte Textproduktion und die vielzitierte »Schreibbesessenheit«5 Mayröckers treten Leben und Schrei-
1 2 3 4 5
Ramm 1984, S. 78. Schmidt-Dengler 1984, S. 43. Beyer 1992, S.61. Mayröcker 1994, S. 98. Der Topos der Schreibbesessenheit durchzieht das Prosawerk Mayröckers: »ich frage mich, ob ich einem Produktionswahn unterworfen bin« oder »meine Schreibbesessenheit scheint ins Leere zu verpuffen«, in: Mayröcker 1985, S. 55. Diesen The-
Theorie und Praxis in der Prosa Friederike Mayröckers
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ben ein in einen gemeinsamen, selbstorganisierenden Zusammenhang. Die Kompromißlosigkeit, mit der sich Textproduktion und Lebensvollzug gegenseitig bedingen, scheint dabei nicht nur individuelle Einlösung des alten Anspruchs der Avantgarde nach der Integration von Leben und Kunst zu sein, sondern verweist daüber hinaus auch auf ein ungewöhnliches Produktionsverfahren. Das Verfahren besteht darin, daß sich der Gehalt dieser Texte im Vollzug ihrer eigenen Produktion konstituiert und untrennbar verbunden bleibt mit den eigenen Bedingungen ihrer Herstellung: Die Poetologie der Texte ist nicht nur Thema dieser Prosa, sondern wird innerhalb der Prosa selbst als Praxis realisiert. Die Prosa macht das eigene Verfahren zum Bestandteil der Aussage, indem sie vorführt, worüber sie spricht. Das beinhaltet, daß die Textproduktion Mayröckers notwendig subjektabhängig ist, da sie unmittelbar gebunden ist an die Wahrnehmungs-, Lektüreund Schreiberfahrungen der Autorin selbst. Trotzdem - und dies ist für Überlegungen hinsichtlich des sich gegenwärtig wandelnden Verhältnisses von Theorie und Praxis von Bedeutung - sind die Prosatexte Mayröckers keine autobiographischen Textes im herkömmlichen Sinn, sondern »das Private, das Universale fließen zusammen« 7 : »>Ich< ist >autobiographischpseudonym< und >anonym< gleichermaßen.«» Die subjektive Gebundenheit des Prosawerks ist damit nicht ausschlaggebend für den Gehalt der Texte. Für eine am Prozeß der Selbstkonzeptualisierung ausgerichtete Literatur, die ihre eigene literarische Praxis im Vollzug reflektiert, sind die im Rahmen des Konstruktivismus angestellten Überlegungen zur kognitiven Bedingtheit jeder Wahrnehmung insofern virulent, als kohärente Ordnung in diesen Texten nicht als systemische Umwelt vorgegeben ist - wie in Handlung erzählenden Text e n - , sondern sich erst kognitiv im Vollzug des Schreib- bzw. Lektüreakts vollzieht. Einzig über Selbstorganisation sind die instabil operierenden psychischen Systeme in der Lage, die für sie notwendigen stabilen Ordnungen auszubilden. Während Alltagskommunikation dementsprechend vorrangig nach
menkomplex der >Lebensarbeit als Schreibarbeit und dessen grundsätzliche Implikationen hinsichtlich der autobiographischen, selbstkonzeptualisierenden Schreibweise Mayröckers verfolgt S. J. Schmidt mit seiner konstruktivistischen Lesart der Prosa Friederike Mayröckers, in: Schmidt 1989. Neben der Dissertation von Daniela Riess-Beger stellt das Buch Schmidts den - soweit der Verfasserin bekannt - bislang einzigen Versuch einer theoretisch fundierten Annäherung an das Prosawerk Mayröckers dar. 6 Dazu und zu der Fragestellung, warum Konzepte literarischer Autobiographien aus konstruktivistischer Sicht unplausibel erscheinen: Schmidt 1989. 7 May röcker 1995, S. 67. 8 Scheffer 1992, S. 265.
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Corinna Krebs
Gesichtspunkten der Kohärenz, Linearität und der Eindeutigkeit funktioniert, soll dem entgegengesetzt für eine selbstreferentiell operierende Literatur wie die der Prosa Mayröckers eine »Instabilisierung durch Verfahren«? 1 angenommen werden. Dieses Verfahren impliziert die kognitive Offenheit und daraus erfolgende rezeptive Verunsicherung, »die unvermeidlich auftritt, wenn man seine Wahrnehmungen und Erfahrungen nicht (erlebens-)kostengünstig schematisiert« w. Durch die Absenz von herkömmlichen Orientierungsmustern werden Prozesse der Sinnzuschreibung erschwert, da sich die nicht-narrativen Texte kaum problemlos über ihre lineare, kohärente Aufnahme ins Bewußtsein und damit auch nicht über eine interpretative, diskursive Annäherung seitens des Rezipienten erschließen lassenii. Das liegt darin begründet, daß Wahrnehmungen und Erlebnisse des eigenen Lebens von May röcker nicht mimetisch in Sprache abgebildet, sondern vielmehr »in Sprache erlebt«i2 werden. Dadurch wird die Funktionsweise des Wahrnehmungsvorgangs selbst vorgeführt. Über die inhaltliche Darstellung des Wahrgenommenen hinaus wird in den Texten eine Doppelcodierung vorgenommen, als zum einen der Gehalt der Wahrnehmungen dargestellt, zum anderen aber auch der Vorgang des Wahrnehmens selbst thematisiert wird: Es wird die Frage nach dem Vollzug, nach der Struktur menschlicher Wahrnehmung gestellt. Dadurch führt die Lektüre der Prosatexte Mayröckers dem Rezipienten auf ungewöhnlich radikale Weise die Selbstbezüglichkeit avancierter literarischer Texte vor Augen. Mit der Auflösung wohl aller Parameter, durch die >konv e n t i o n e l l Literatur bestimmt ist, rückt der Vorgang der Wahrnehmung selbst ins Zentrum des Interesses. Die strikte Abweisung der Möglichkeit einer
9
Diesen Ausdruck verwendet S.J. Schmidt hinsichtlich einer literarischen Produktionstechnik, die von Mayröckers selbst als Verzettelung bezeichnet wird. Dafür werden alle relevanten Wahrnehmungen des Mayröckerschen Tagesablaufs auf kleinen Zetteln fixiert und im Zuge des Schreibvorgangs verarbeitet bzw. wieder und wieder überarbeitet. Charakteristisch ist hierbei die radikale Verfremdung dieser sprachlichen Mikroformen, die es nahezu unmöglich macht, die Quellen des verwendeten Materials auszuweisen: »Verzettelte Textbestandteile werden im aktuellen Textproduktionsprozeß verbunden mit >allem Möglichem, wobei Zeiten, Orte und Personenverbindungen fast völlig liquide (gehandhabt) werden. Damit wird die Arbeitsweise des kognitiven Systems, nämlich die Herstellung temporärer Stabilitäten, die durch den Determinationszwang der Sprache unterstützt wird, zumindest partiell reduziert bzw. aufgehoben.« Schmidt 1989, S. 43. 10 Ebd., S. 91. 11 Der jeweils beobachtete Text nimmt damit den Charakter einer plausiblen Unterstellung an. 12 Riess-Beger 1995, S. 129.
Theorie und Praxis in der Prosa Friederike Mayröckers
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eindeutigen Sinnbildung und damit die Verweigerung einer krisenlosen Rezeption ist für die Texte Mayröckers Programm: Sprache fungiert bei Friederike Mayröcker nicht als ein auf Mimesis basierendes Medium der Abbildung, sondern als die Aufhebung der Textdeixis. Die kohärente Annäherung an die Texte wird verhindert durch die Auflösung von narrativer Kohärenz: zeitliche Linearität, Kausalität, die Oppositionen von Realität und Fiktion, von Sprache und Körper sind in dieser Prosa außer Kraft gesetzt. Indem die Texte nur in äußerst reduzierter Form einen Inhalt oder einen Handlungsverlauf vermitteln, werden für den Leser immer nur Bruchstücke von Wahrnehmungs- oder Erlebnisvorgängen sichtbar. Dadurch wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten vom beobachteten Werk ab und hin auf den Vorgang der Wahrnehmung gelenkt: Die Reflexion über das Verstehen von etwas wird ersetzt durch die Frage nach dem Verstehen schlechthin und nach der damit verbundenen Konstitution von Bedeutung und Sinn. Die Subversion gängiger Verfahren zur Sinnkonstitution erfolgt in der Prosa Mayröckers dabei nicht auf einer reflexiven, sekundären Ebene, sondern in ihren Texten wird konkret eine andere Dimension von >Bedeutung Kommunikation und >Bewußtsein< vorgeführt.^ Die Prosa Friederike Mayröckers nimmt in der Literatur eine wahrscheinlich einmalige Position ein, da sie in extremer Form an die Eigeninitiative ihrer Leser gebunden ist: Erst durch die Eigenbeteiligung des Lesers und durch seine Bereitschaft, sich auf die offenen Texte einzulassen, konstituiert sich der Inhalt der nicht-narrativen Prosatexte. Von den in semantischer Hinsicht irritierenden, inhaltlich uneindeutigen Texten Mayröckers geht auf den Leser insofern eine herausfordernde, provokative Wirkung aus, als der Rezipient die inhaltliche Offenheit und Unbestimmtheit der Texte kraft seiner eigenen psychophysischen Imagination füllen muß: Der Inhalt der Texte ist gerade konstitutiv markiert durch deren Uneindeutigkeit, indem in ihnen der Wahrnehmungsvorgang als solcher reflektiert und damit die Interpretierbarkeit der Texte selbst diskursiv zur Disposition gestellt wird. Die Texte stellen insofern einen klar markierten Impuls einer höchst uneindeutigen Text-Botschaft dar. Vor diesem Hintergrund sollen im folgenden Überlegungen angestellt werden, inwiefern diese Diskursivierung des in der engen Verflechtung von Poesie und Poetik gründenden autoreflexiven Interpretationsvorgangs in den Texten selbst genutzt werden kann für eine literaturwissenschaftliche Rezeption der Prosa Mayröckers: Die Frage ist, inwieweit die durch die enge Verbindung von Poe-
13 Vgl. Riess-Meinhardt 1990, S. 251.
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Corinna Krebs
sie und Poetik entstehende Thematisierung von Theorie und Praxis innerhalb der Prosa auf die Prosa wieder selbst angewendet werden kann. Die autoreflexive Selbstkommunikation der Prosatexte Mayröckers erlaubt es, so meine Annahme, die Struktur dieser Texte zu nutzen für eine Interpretation der Texte: Mit der Thematisierung von Theorie und Praxis innerhalb der Texte soll diese Unterscheidung anläßlich der Texte selbst noch einmal vollzogen werden. Dies geschieht, indem die Unterscheidung von Poesie und Poetik innerhalb der Texte selbst noch einmal auf die Interpretierbarkeit der Prosa angewendet wird: Es wird ein re-entry (als Wiedereintritt der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene!4) vollzogen, wodurch die Texte ihrerseits in ein konstruktives Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis gestellt werden. Die Systemtheorie als das verwendete theoretische Konzept zur Textinterpretation würde dabei nicht als ein der Literatur diametral entgegengesetzter Gegenstand verstanden, sondern beide, sowohl Literatur als auch Theorie, könnten vielmehr in einen gemeinsamen Zusammenhang gestellt und als gegenseitige Ergänzungen aufgefaßt werden. Vor dem Hintergrund aktueller, ebenfalls selbstreflexiv ausgerichteter Modelle der Theoriebildung wie zum Beispiel der Systemtheorie erhält die operative Verflechtung von Poesie und Poetik, von Theorie und Praxis eine neue Dimension. Mit der - in der Prosa Mayröckers ebenso wie in der Systemtheorie - erfolgenden selbstbezüglichen Thematisierung der Bedingungen und Möglichkeiten der eigenen Wahrnehmung lassen sich in dem Bereich theorethischer, wissenschaftlich gesteuerten Reflexion und dem Bereich ästhetischer, literarischer Produktion die Ausbildung ähnlicher Fragestellungen beobachten.
3. Wahrnehmung und Interpretation Mit dem Unterfangen einer Interpretation dieser Texte kann folglich nicht angestrebt werden, eine unmittelbare, vollständige Textinterpretation eines einzelnen oder mehrerer Texte vorzunehmen. Die große semantische Offenheit und die außergewöhnliche Rezeptionsgebundenheit der Texte erfordert vielmehr die Hinwendung der Blickrichtung auf die Darstellung eigener Wahrnehmungen und Beobachtungen anläßlich der (Text-) Beobachtungen Mayröckers. In Hinblick auf die Interpretation eines literarischen Textes impliziert dies, daß die Beobachtungen und Beschreibungen, die im Umgang mit einem literarischen Text angefertigt werden, nicht an der Umwelt, also am beobachteten Werk selbst gemessen werden können:
14 Siehe Fuchs 1992, S. 122. Fuchs bezieht sich hier auf den von Spencer Brown formulierten Begriff des re-entrys: Brown 1979, S. 69.
Theorie und Praxis in der Prosa Friederike
Mayröckers
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Vielmehr kontrolliert jedes beobachtete System seine Wirklichkeitsmaßnahmen rekursiv durch Beobachtung seiner Beobachtungen oder durch die Beobachtung anderer Beobachter auf ihre Anschließbarkeit und Konsequenz hin.15 Was mit der Interpretation eines literarischen Textes also letztlich angestrebt werden kann, ist ein Beobachtungsstatus, von dem ausgehend eine Anschlußmöglichkeit geschaffen wird für weitere (Text-)Beobachtungen: Zielsetzung einer Interpretation kann also lediglich eine Übereinstimmung mit anderen Interpreten in Bezug auf lineare Kohärenz und Nachvollziehbarkeit des eigenen Argumentationsverlaufs sein. Diese kognitionstheoretisch motivierte Auffassung spiegelt sich insofern in der Prosa Mayröckers wieder als die in diesen Texten getätigten Wahrnehmungen und Beobachtungen nicht auf eine außerhalb liegende Wirklichkeit rekurrieren, sondern an ihrer eigenen Beschaffenheit, an den Voraussetzungen dieser Wahrnehmungen ansetzen: »Und in jenem Prozeß rekursiver Beschreibungen, stets auf vorgängige Beschreibungen referierender Beschreibungen, setzen sich das Werk und die Dichterin fort, indem diese sich sozusagen am eigenen Schöpfe faßt.«i6 Die Bedingungen und Voraussetzungen für den Prozeß dieser Selbstbeobachtung finden mit der Interdependenz von Poesie und Poetik selbst auch wiederum Eingang in die Texte. Für den Interpreten entsteht nicht zuletzt aus der Tatsache, daß Friederike Mayröcker theoretische Reflexionen in die Texte selbst mit einfließen läßt, eine ungewöhnliche Ausgangssituation für eine Textbeobachtung des Mayröckerschen Prosawerks: (Text-)Theorien stellen für Mayröcker eine Bezugsgröße beim Verfassen ihrer Texte dar, als sie - ebenso wie alle anderen Konstanten des Mayröckerschen Alltags - Einlaß finden in den Schreibprozeß: »Alles kann Beute sein, Briefe, Schriften, Telefongespräche, Selbstzitate - sie schreibt ab von wahlverwandten Dichtern, medizinischen Fachbüchern, Enzyklopädien, briefeschreibenden Freunden.« 17 Die von Mayröcker auf diese Weise in den Textfluß eingegliederten Theorien stellen also keine festen Konstanten dar. Sie kennzeichnen vielmehr variable Momente im Textablauf: Die meine Arbeit begleitenden Theorien und Ansichten befinden sich in einem Zustand permanenter Bewegung, die zwar ihr Tempo ändert, sich aber an keinem Punkt fixieren läßt, weil dadurch die Arbeit selbst gestört würde. [...] Ich kann mich daran vergnügen, wie diese Punkte, in einer Reihe gesehen, einander widersprechen, ein Durcheinander von Stimmen ergeben, nie einen Chor. [...] Immerfort kommen
15 Schmidt 1994, S. 22. 16 Rusch 1984, S. 290. 17 Mayröcker 1995, S. 29.
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und gehen Theorien zur eigenen Arbeit, als Teil des Arbeitsprozesses, aber nicht als Aussage über die Texte, sondern diesen zusätzlich Gewicht zu verleihen.
(Text-)Theorien können damit zwar als Bestandteile des Mayröckerschen Prosawerkes ausgewiesen werden, aber es erscheint für eine Interpretation der Texte wenig sinnvoll, den Texten einzelne poetologische Äußerungen entnehmen zu wollen, um diese etwa auf ihre theoretische Herkunft hin zu untersuchen und sie unabhängig vom Gesamttext zu betrachten: Es kann als ein Charakteristikum der poetologisch lesbaren Textanteile der Prosa konstatiert werden, daß diese sich nahezu ausschließlich als zweifach codierte Äußerungen präsentieren, da sie gleichzeitig als mehr oder weniger autobiographisch bedingte Wahrnehmungselemente und als sprachliche Vorgänge, als poetologische Reflexionen, beschreibbar sind. Dies bedeutet, daß theoretische Äußerungen nicht ungebrochen und unmittelbar für eine Interpretation der Texte genützt werden können, da die Poetik sich gleichzeitig auch als poetisch erweist. Die durch die Autoreflexivität motivierte Verflechtung von Theorie und Praxis impliziert ein Textverständnis, das den Text als einen fortzuschreibenden Prozeß auffaßt: Die einzelnen Texte des Prosawerks werden so zu einem einzigen, unendlich fortlaufenden Gesamtwerk, innerhalb dessen für den Leser ein > freies Springen< zwischen den Einzelteilen möglich wird: Sie brauchen das Buch nicht von der ersten Seite zur letzten lesen, ο nein, vielmehr können Sie blättern darin, Sie können das Buch an irgendeiner beliebigen Seite aufschlagen und schon bekommen Sie eine Ahnung vom Ganzen. 1 ?
Die Texte präsentieren sich dem Rezipienten gewissermaßen als offene Sprachsysteme. Durch die spezifische Verwendung von poetischen Verfahrensweisen entsteht ein entgrenzter Text der als Verkörperung einer Lebensstudie »nur in denkbar äußerlichster Hinsicht (als Papier und Druckerschwärze) einen Anfang und ein Ende, >Objektgrenzen< also«20, aufweist. Sowohl innerhalb der einzelnen Prosatexte als auch zwischen den Werken verlaufen unzählbare semantische Fluchtlinien, die das Werk als einen einzigen vernetzten und potentiell unendlichen Text lesbar machen: Ausgehend von den unterschiedlichen auszumachenden Schwerpunkten und Themenfeldern der Prosastücke wird mit der Möglichkeit der Assoziationsverknüpfung immer auch ein Bezug zum Gesamttext hergestellt. Die Prosa präsentiert sich dem Leser als Fläche, die nicht mehr in lineare Wahrnehmung aufgelöst werden kann, da erst in der Rezeption der Texte semantische Zentren entstehen: Suggeriert wird die Flächigkeit eines dissoziierten Textes, der auf die Verweigerung einer
18 Mayröcker 1983, S. 9. 19 Mayröcker 1994, S. 147. 20 Scheffer 1992, S. 265.
Theorie und Praxis in der Prosa Friederike
Mayröckers
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eindeutigen, kohärenten Sinnbildung mit der Vervielfältigung seines Sinnhorizonts und seiner Bezugsmöglichkeiten antwortet. Die durch die Non-Referentialität der Texte möglich werdende, diskontinuierliche, sprunghafte Lektüre der Prosa offeriert auf diese Weise eine Art der Rezeption, die sich der eigentlichen, nichtlinearen Wahrnehmungsweise des Menschen annähert.
4. Die Prosa Mayröckers - eine kommunizierte Verweigerung der Kommunikation? Mit der Reflexion auf die eigenen Bedingungen wird der Vorgang der Kommunikation in der Prosa Mayröckers selbst thematisiert. Damit wird der Kommunikationsprozeß selbst zum Gegenstand der Texte. Dies geschieht, indem die Mitteilungsseite der Sprache ins Blickfeld des Lesers gerückt wird, die der Selbstreferenz der Kommunikation entspricht. Die innerhalb der Prosa mitgeteilte Information ist nur lesbar, wenn diese vom Rezipienten als Information über Kommunikation erkannt und rezipiert wird. Insofern kann für die Prosatexte Mayröckers eine Form der »kommunizierten Kommunikationsverweigerung«21 festgestellt werden, da Texte »dieser Formation sich dem verstehenden, gar dem hermeneutischen Zugriff entziehen - und dennoch etwas mitteilen, und sei es im Grenzfall nur die Verweigerung der Mitteilung selbst.«22 Der Impuls zu verstehen ist in der Prosa Mayröckers zwar nicht vollständig außer Kraft gesetzt; hat aber mit einer derartigen Sprachverwendung keine vorwiegend informativ orientierte Zielsetzung mehr: Mit den Texten Mayröckers wird vielmehr ein Vorgang der Desorientierung des - in der Alltagskommunikation mehr oder weniger reibungslos funktionierenden - Verstehens in Gang gesetzt. Der Vorgang des semantisch orientierten Textverstehens wird im Sprachgebrauch Mayröckers dadurch in Frage gestellt, daß das Wegfallen der Differenz von Information und Mitteilung angestrebt wird: Es wird diejenige Differenz negiert, die die Wahrnehmung von Kommunikation und Information vor anderen Wahrnehmungen auszeichnet. Unter der Prämisse, daß der Gebrauch von Sprache immer bereits Vorgänge der Kommunikation beinhaltet - »man kann nicht nicht k o m m u n i z i e r e n « 2 3 - ergibt sich für Peter Fuchs folgende Konsequenz: »Wenn Sprache Verstehen desorientierend genutzt werden soll, wird
21 Luhmann/Fuchs 1989, S. 164. 22 Ebd., S. 138. 23 Schmidt 1992, S. 92.
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verlangt, sie solle gegen das Gesetz antreten, unter dem sie angetreten ist.«24 Im Lichte dessen können die Texte Mayröckers als kommunikative Prozesse charakterisiert werden, die sich auf die Wahrnehmung ihrer eigenen Strukturen spezialisiert haben: »Die kommunizierte Kommunikationsverweigerung wird rezipiert, die lyrische Botschaft (aber welche?) v e r n o m m e n . « 2 5 Mit Peter Fuchs kann Mayröckers Prosawerk in einen literaturhistorischen Kontext sprachlich avancierter Texte situiert werden, in denen die Nichtassimilierbarkeit der Sprache als »unauflösliche Dissonanz zu jeder Normalität überhaupt«26 angestrebt wird und die im Idealfall die Verkörperung einer »nonreferentiellen semantischen Figur«27 darstellen. Wenn eine solche Sprachverwendung »in ihren Hochformen Nonreferentialität (Autoreflexion) ihrer Texte will«28? dann kann anläßlich der Texte Mayröckers nach den Mitteln gefragt werden, die entlang solcher Intention kondensieren.29 Die von Fuchs anläßlich der Lyrik Mallarmes gestellte Frage, wie Verstehen, wie die Wahrnehmung eines referentiellen Textinhalts so verhindert werden kann, daß diese Verhinderung selbst beobachtet und verstanden werden kann305 gilt damit auch für die Prosatexte Friederike Mayröckers, als durch deren nonreferentielle Struktur das herkömmliche >Textverstehen< außer Kraft gesetzt wird. Die Argumentation Fuchs' wurde hier in abgeschwächter Form dargestellt: Fuchs geht in Bezug auf die Lyrik Mallarmes der Frage nach, inwiefern Verstehen so verhindert werden kann, daß nur noch die Verhinderung selbst beobachtet werden kann. Hier liegt insofern eine grundsätzliche Differenz zu der Prosa Mayröckers, als deren Texte eben keine ausschließliche Interpretationsverweigerung transportieren, sondern über diese von Fuchs anhand der modernen Lyrik dargestellten reinen Strukturbezogenheit hinausgehen. Die Qualität und Aktualität Mayröckers Prosa liegt gerade darin, daß über die Mitteilung der »kommunizierten Kommunikationsverweigerung«3i hinaus in den Texten Mayröckers sehr wohl etwas mitgeteilt wird. Die Parallelisierung von Aussage und Aussageinhalt stellt auch die Grundlage dar, auf der sich Autoreflexivität entfalten kann: Indem Sprache über deren
24 25 26 27 28 29 30 31
Luhmann/Fuchs 1989, S. 159. Ebd., S. 164. Friedrich 1975, S. 116. Zeltner 1974, S. 9. Luhmann/Fuchs 1989, S. 169. Ebd. Vgl. ebd., S. 169. Ebd., S. 164.
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begriffliche Verwendung als ein Medium zur Vermittlung von Kommunikationsinhalten hinaus auch den Kommunikationsprozeß als solchen diskursiviert, wird eine Verlagerung des Beobachtungsschwerpunktes zugunsten der Form vorgenommen. Dadurch wird in der Prosa eine Spiegelungsebene installiert, die parallel zur inhaltlichen Präsentation von Bewußtseinsvorgängen das Zustandekommen dieser Darstellung in der Prosa umsetzt. Über die Darstellung einer bestimmten Problematik hinaus - nämlich der, wie Wahrnehmungen adäquat in Sprache umgesetzt werden können - wird in den Texten Mayröckers gleichzeitig ein Versuch zur Lösung dieses Problems realisiert. Die Aussage der Texte wird in ihrem Vollzug als ihr eigener Aussageinhalt konstituiert und es wird eine doppelte selbstbezügliche Struktur installiert: Wahrnehmung wird in den Prosatexten Mayröckers nicht diskutiert, sondern autoreflexiv entfaltet. Die selbstbezügliche Struktur der Prosa Mayröckers impliziert damit, daß die Voraussetzungen der in ihr getätigten Beobachtungen auch selbst wiederum in den Beobachtungsgegenstand einfließen. Systemtheoretisch formuliert ist eine Beobachtung charakterisiert als die »Handhabung einer Unterscheidung«32 und der darauffolgenden Bezeichnung einer Seite der jeweiligen Unterscheidung. Mit jeder getroffenen Beobachtung eröffnet der Beobachter eine Differenz, wobei er jeweils eine Seite der Differenz einnimmt, also immer bereits standortgebunden ist. Grundlegend konstituiert durch das Schema der Differenz, versucht die Systemtheorie, diese Differentialität innerhalb ihrer eigenen Theorie wieder zu operationalisieren: Systemtheorie bezieht sich selbst in ihr eigenes Beobachtungsschema mit ein und begreift sich als Bestandteil ihrer eigenen Theoriebildung. Die aktuelle Beobachtung als Einheit der getroffenen Unterscheidung bleibt für sich selbst dabei unerreichbar, weil erst rekursive Beobachtungen die Voraussetzungen für Wahrnehmungen ermöglichen. Für den Vorgang der Selbstbeobachtung bedeutet das, daß es unmöglich ist, sich im Augenblick des Beobachtens dabei selbst wieder zu beobachten, weil derjenige, der einen Beobachter beobachtet, sehen kann, daß der beobachtete Beobachter notwendig mit bestimmter Blindheit geschlagen ist: Er benutzt eine Unterscheidung, die er mit Hilfe dieser Unterscheidung nicht bezeichnen, sondern nur benutzen kann.33 Jede im Rahmen einer Beobachtung getroffene Unterscheidung ist gebunden an einen blinden Fleck, da die angewandte Unterscheidung sich selbst der Möglichkeit zur Beobachtung entzieht. Die folgende Beobachtung kann zwar
32 Fuchs 1992a, S. 55. 33 Luhmann/Fuchs 1989, S. 178.
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in einer Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet werden, aber nachdem auch dieser Beobachtung wiederum ein blinder Fleck zugrunde liegt, müssen von hier ausgehend weitere Unterscheidungen getroffen werden, deren Beobachtungsmöglichkeit aber ebenfalls durch einen blinden Fleck getrübt wird. Die getätigten Beobachtungen können zwar in einer theoretisch unendlichen Kette von Beobachtungen erfaßt werden, sind aber dann ihrerseits jeweils wieder gebunden an die Erscheinung des blinden Flecks: Die jeweils benutzte Unterscheidung kann während des Unterscheidungsprozesses nicht gleichzeitig beobachtet werden. Die Einheit der Unterscheidung, mit der jeweils beobachtet wird, existiert dabei ausschließlich innerhalb des Beobachtersystems. Das heißt, je genauer und abgestufter die Beobachtungen sind, desto stärker treten die Beobachtereigenschaften hervor: Die Parallelität von Wahrnehmung, Erkenntnis, Wissen und Interpretation hat vor allem dies zur Folge: Die genauere Untersuchung der >Gegenstände< von Welt und Literatur wird primär die Eigenschaften von Beobachtern, nicht die der >Gegenstände< zum Vorschein bringen.34 Sowohl in der Textorganisation der Mayröckerschen Prosa als auch in der Systemtheorie findet insofern ein ständig mitlaufender Bezug auf die eigene Selbstreferenz statt. Beide Konzeptionen beziehen sich selbst in ihren Gegenstandsbereich mit ein. Die Frage ist nun, inwieweit die durch die enge Verbindung von Poesie und Poetik entstehende Thematisierung von Theorie und Praxis innerhalb der Prosa auf die Prosa selbst wieder angewendet werden kann. Die autoreflexive Selbstkommunikation der Prosatexte Mayröckers erlaubt es, so meine Annahme, die spezielle kommunikative Situation dieser Prosa zu nutzen für eine Interpretation: Mit der Thematisierung von Theorie und Praxis innerhalb der Texte soll diese Unterscheidung anläßlich der Texte selbst noch einmal vollzogen werden. Dies geschieht, indem die Unterscheidung von Poesie und Poetik innerhalb der Texte selbst noch einmal auf die Interpretierbarkeit der Prosa angewendet wird: Es wird ein re-entry (als Wiedereintritt der Unterscheidung in das durch sie U n t e r s c h i e d e n e 3 5 ) vollzogen, wodurch die Texte ihrerseits in ein konstruktives Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis gestellt werden. Die Systemtheorie als das verwendete theoretische Konzept zur Textinterpretation würde dabei nicht als ein der Literatur diametral entgegengesetzter Gegenstand verstanden, sondern beide, so-
34 Scheffer 1992, S. 38. 35 Siehe Fuchs 1992, S. 122. Fuchs bezieht sich hier auf den von Spencer Brown formulierten Begriff des re-entrys: Brown, Spencer George: The Laws of Form, New York 1979,S.69.
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wohl Literatur als auch Theorie, könnten vielmehr in einen gemeinsamen Zusammenhang gestellt und als gegenseitige Ergänzungen aufgefaßt werden.
5. »Dieser Spalt zwischen den Wörtern« - Das Unsagbare wird gesagt Mit der Annahme der selbstreferentiellen, tautologischen Struktur der Sprache kann das Bewußtseinssystem als ein vom System der Sprache getrennter Bereich aufgefaßt werden. Ein zentraler Grundbaustein der Systemtheorie nach Niklas Luhmann ist die Unterscheidung von psychischen Systemen und von sozialen Systemen als jeweils eigenständige autopoietische, selbstreferentiell geschlossene Systeme.36 Diese Annahme korrespondiert mit der Trennung von Bewußtsein und Kommunikation: »Das Bewußtsein hat seine für die Kommunikation unerreichbare Eigenart in der Wahrnehmung bzw. in der anschaulichen Imagination.«37Die Prosatexte Friederike Mayröckers streben in ihrem Vollzug eben gerade jene Annäherung von Bewußtsein an Kommunikation an, die die Überführung von Wahrnehmung, von Bewußtsein in Sprache bedeutet. Mit diesen Texten wird versucht, Wahrnehmung selbst zu kommunizieren: »Es geht um den Aufklärungsprozeß von Bewußtseinsinhalten, sagt Samuel« 38 . Der Sprachgestus wird infolgedessen »visonär! (wie kann man ein solches Wort verwenden), und: deine Aufzeichnungen sind vielleicht die Übersetzung von Andeutungen, Gefühlen in eine Sprache, die es eigentlich nicht gibt« .39 Aus der operativen Geschlossenheit und Autopoiesis des Bewußtseins resultiert die Tatsache, daß es keine Möglichkeit gibt für eine bewußte Verknüpfung zwischen zwei oder mehreren verschiedenen Bewußtseinssystemen: »Es gibt keine Einheit der Operationen mehrerer Bewußtseinssysteme und was immer als >Konsens< erscheint, ist Konstrukt eines Beobachters, also seine Leistung.«40 Das Bewußtsein, so kann gefolgert werden, ist also nicht in der Lage (selbst-)bewußt zu kommunizieren, weil sowohl das System des Bewußtseins als auch das der Kommunikation nicht selbst unterscheiden können hinsichtlich ihrer eigenen Einheit oder Differentialität: Sollte diese Unterscheidung dennoch getroffen werden, so wäre es erforderlich, daß sowohl Bewußtsein als auch Kommunikation eine Beobachtungssituation einnehmen
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Vgl. dazu: Luhmann 1988a, S. 892ff. Luhmann 1990a, S. 19. Mayröcker 1991, S. 73. Mayröcker 1994, S. 43. Luhmann 1988a, S. 885.
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würden, die außerhalb ihrer selbst situiert wäre. Dies ist aus den folgenden operativen Gründen für beide Systeme jedoch unmöglich. Ein autopoietisches System kann mit Luhmann als ein System beschrieben werden, das sich aus seinen eigenen Elementen heraus konstituiert und reproduziert.41 Die Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation kann dabei auf beiden Seiten der Unterscheidung noch einmal vorgenommen werden, wobei jedes System als Umwelt des jeweils anderen Systems durch ein re-entry im Unterscheidungsbereich des anderen auftaucht. Das Bewußtsein kann sich nicht selbst gegenwärtig werden. Denn sobald mit Hilfe von Kommunikation der Versuch gemacht werden würde, es einzuholen, handelte es sich nicht mehr um Bewußtsein, da es zum Bewußtseinsgegenstand mutierte:42 Das Bewußtsein, das durch ein re-entry auf die Seite des Bewußtseinsgegenstandes katapultiert wird, ist nicht mehr mit >demselben< Bewußtsein identisch, das es vor dieser Unterscheidung darstellte. Obwohl sich Kommunikation in ihren Äußerungen auf Wahrnehmung und auf wahrgenommene Inhalte beziehen kann, ist es für sie unmöglich, selbst zu dem zu werden, was wahrgenommenen wird: Zwischen Bewußtsein und Kommunikation bleibt immer ein unaufhebbarer Gegensatz bestehen. Daraus läßt sich folgern, daß Wahrnehmung selbst nicht kommunizierbar ist. Das Einzige, worüber überhaupt kommuniziert werden kann, ist über das Wahrgenommene, also über den Inhalt des Wahrgenommenen. Auf diese Weise kann sich Kommunikation zwar auf Wahrnehmung beziehen, verbleibt hierbei aber immer auf der Unterscheidungsseite der Kommunikation, da Wahrnehmung Differentes immer als Einheit auffaßt, während Kommunikation »immer das Prozessieren einer Unterscheidung als Unterscheidung - und zwar der Unterscheidung von Information und Mitteilung«« darstellt. Wenn die operativ verschiedenen Systeme von Bewußtsein und Kommunikation derart ineinander übergehen sollen, daß sie prinzipiell ununterscheidbar werden, muß Kommunikation das Bewußtsein selbst kommunizieren. Nachdem beide Systeme aber unabhängig und überschneidungsfrei nebeneinander existieren, ist dieses ausgeschlossen. Davon abgesehen würde sich die sprachliche Markierung der Beobachtung darüber ebenfalls erübrigen, weil sich der kommunizierte Gegenstand in der Kommunikation über ihn, wie bereits darge-
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Vgl. Luhmann 1988, S . 3 0 : »Autopoiesis besagt nicht, daß das System allein aus sich heraus, aus eigener Kraft, ohne jeden Beitrag aus der Umwelt existiert. Vielmehr geht es darum, daß die Einheit des Systems und mit ihr alle Elemente, aus denen das System besteht, durch das System selbst produziert werden.« Vgl. dazu: Marius/Jahraus 1997. Luhmann 1990a, S. 20f.
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stellt, selbst auslöscht. Wie aber könnte sich eine derartige Annäherung, eine solche »große Sehnsucht, mein Bewußtsein zu jagen« 44 vollziehen? Die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation^ geschieht über das Medium der Sprache, denn »erst über Sprache wird Bewußtseinsund Gesellschaftsbildung möglich.«46 Insofern sowohl Bewußtsein als auch Kommunikation das Sprachsystem nutzen können als ein Medium für systemspezifische Formbildungen, kann Sprache zur Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation eingesetzt werden. Sprache besitzt - aus der Sicht der Kommunikation betrachtet - aufgrund ihrer strukturellen Beschaffenheit die Fähigkeit, Bewußtsein zu >reizenfaszinieren< das Bewußtsein, indem sie typische Wahrnehmungsgegenstände in Form von Texten zu bilden erlaubt, die sich von (fast) allem in unserer Umwelt unterscheiden und Aufmerksamkeit erwecken (Es ist schwer, nicht zuzuhören, wenn geredet wird). 47
Durch die Gestaltqualitäten der Sprache und durch die via Sprache transferierten Bildvorstellungen wird das Bewußtsein in Bann gezogen. Dies geschieht, indem Sprache durch ihre lineare, sukzessive Beschaffenheit die Synchronisierung von Ereignissen bewirkt und es dem Bewußtsein damit ermöglicht, am potentiell unendlichen Verweisungssystem der Sprache >entlangzugleitenUmwelt< sind als strukturell verbunden gedacht werden können. 4 6 Schmidt 1992, S. 92. 47 Ebd. 4
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So findet Bewußtsein etwa über die metaphorisch und metonymisch geleitete Verschiebung und über die Verdichtung des Sprachmaterials oder über assoziatives Sprechen Einlaß in das Symbolsystem Sprache. Darüber hinaus binden linguistisch-stilistische Verfahren wie die Betonung der Metrik, der Wiederholung und des Rhythmus körperlich-sinnliche Wahrnehmungen an sprachliche Prozesse an, indem diese nicht inhaltlich umgesetzt, sondern über das Medium Sprache selbst erfahrbar werden. Genau diese sensuell-körperlichen Effekte werden von Friederike Mayrökker in ihren Prosatexten durch die Verwendung spezieller Textverfahren eingesetzt: Zum einen werden sie als sprachliche Mittel verwendet, um komplexe Wahrnehmungsvorgänge sprachlich darzustellen, zum anderen - und hierin liegt die besondere Qualität der Texte Mayröckers - um den Vorgang des Wahmehmungsprozesses selbst sichtbar zu machen, so daß er für den Leser auf eine körperlich-sinnliche Weise erfahrbar wird.
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Versuch über das Medium: das >was sich zeigt< »Mit all dem bleibt eine wesentliche Frage offen: Wenn nicht die Logik eine Letztzuständigkeit für die Paradoxie der Form in Anspruch nehmen kann, dann vielleicht die Religion?« 1 »Das Paradoxe spricht für eine andere Logik, transrational, für eine Logik der Liebe f...]« 2
Avancierte Literatur stellt ihre (essayistische) Interpretation und wissenschaftliche Analyse vor gravierende Probleme. Sie scheint ihre spezifische Form der Literarizität nicht diskursiv abzubilden, sondern zu exerzieren, und entzieht sich auf diese Weise einem interpretatorischen oder analytischen Zugang gerade in ihrem wesentlichen Merkmal. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich Strukturhomologien zwischen avancierter Literatur und christlich-mittelalterlicher Mystik.3 Hier wie dort handelt es sich um Versuche, das >Unaussprechliche auszusprechenmystischer< Medienbegriff
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Ranulph Glanville beispielsweise verweist auf den souveränen Umgang der Religion mit der Paradoxie: »Interessant ist, daß Paradoxien in anderen Glaubenssystemen oft als äußerst wertvoll gelten und als Hilfsmittel der Erleuchtung eingesetzt werden. Man denke nur an die christlich-mittelalterliche Verkörperung der Paradoxie, an den Oreboros, die Schlange, die ihren eigenen Schwanz frißt, das Symbol des äußersten Bösen!« Glanville 1988, S . 2 1 1 . Daß Paradoxien nicht nur für die Religion, sondern auch für die Logik etwas Böses darstellen, muß in dem hier vorgeschlagenen Modell so nicht gelten. Auch Luhmann schreibt: »Man hat Paradoxien als Monstren bezeichnet oder besser noch: behauptet, sie säßen an den Quellen der Wahrheit.« Luhmann 1993a, S. 211. In dem vorliegenden Beitrag soll die Betonung auf dem - fruchtbaren - Begriff der >Quellen< liegen.
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ein sinnvoll, wenngleich aporetisch, selbstbeschreibendes System bilden können, insofern das Medium nicht theorie-immanent systematisierbar ist.i3 Gemeint wäre die säkularisierte Form eines >mystischen< Medienbegriffes, als Baustein, über den die Theorie avancierter Literatur bislang nicht verfügt. Ich lasse dabei offen, ob Theorie essayistisch oder wissenschaftlich zu sein habe und betone, daß sich Theorie und Mystik keinesfalls komplementär ergänzen können.14 Mystische Theologie bietet sich hier zur Hinzunahme an, da sie im Umgang mit Paradoxien wohl die größte Erfahrung hat. Für sie stellt sich dieses Problem zum Beispiel schon grundsätzlich aufgrund ihrer Vorstellung des trinitarischen Gottesbegriffs: Die aporetische Gebrochenheit aller theoretischen Konzepte läßt diese auch theologisch auf ihre Aussageweisen hin untersuchen und die Frage nach dem reflexiven Ernst ihrer Systematisierungsversuche stellen. Indem Theologie die eigene Aporetik konstatiert, die ihr mit dem Gottesbegriff aufgelastet ist, kann sie hinter dieses Erkenntnisniveau nicht zurück.^
In der Vorstellung der Trinität sehe ich demnach eine geeignete Figur und wesentliche Möglichkeit, mystisches und differenzlogisches Denken operativ aufeinander zu beziehen.
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Bislang wird das Defizit jenseits der Beschreibung, das dem theoretischen Teil literarischer Textbeschreibungen anhaftet, dem Bereich der Interpretation zugeschlagen. Vgl. hierzu beispielsweise: Jahraus 1994a. So ergeben sich zwei völlig diskrete Zuständigkeitsbereiche. Natürlich kann man sich damit zufriedengeben. Dennoch gehe ich im vorliegenden Beitrag der Suche nach einer integrativen Lösung nach. Daß es zahllose und immer wieder einander überbietende Interpretationen beispielsweise von Texten Kafkas gibt, nehme ich als ein Indiz hierfür. Weniger im Sinne des dekonstruktivistischen Aufschubs, sondern eher im Sinne einer perspektivistischen Konzeption, nehme ich an, daß es sich bei komplementären Figuren stets um unvollständige Figuren handelt. Als Beispiel hierfür möchte ich auf die Figur von Zweifel und Gewißheit hinweisen, deren komplementäres Wechselverhältnis zu keinem Abschluß kommen kann. Hoff 1997, S. 166. Noch grundsätzlicher stellt Hoff fest: »Erkenntnistheoretisch bleibt in Grundlagenfragen menschliches Sehen und Wissen aporetisch verfaßt, auch da, wo es zu operationalisierbaren Erkenntnissen (wissenschaftlich) gelangt. Die Aporie verweist auf den radikalen Grund von Erkenntnis [...].« Ebd., S. 155. Stileigentümlichkeiten erschweren zuweilen den ansonsten äußerst lesenswerten Text von Hoff.
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2. Mystik als Diskurs- und Lebenspraxis Christliche mittelalterliche Mystik beschäftigt sich mit der Gottesschau. Dadurch hat sie es vor allem mit Paradoxien zu tun. Denn natürlich kann Gottesschau nicht darauf hinauslaufen, sich von Gott ein Bild zu m a c h e n . Der Blick der Mystiker ist ein anderer, als der, mit dem wir (auch und insbesondere als Wissenschaftler) gewöhnt sind zu beobachten. Gott schauen heißt in der Mystik nicht nur alles schauen, sondern wie Gott schauen, b z w . mit Gott schauen. Mystik beschäftigt sich also mit einer paradoxen Form der Beobachtung, die sich nicht mehr in system- oder (differenz-)theoretischen Begriffen wie System und Systemumwelt bzw. Innenseite und Außenseite der Form regreßhaft entfalten kann. Dies merken auch Luhmann und Fuchs an: Zumindest die europäische Mystik der letzten anderthalb Jahrtausende läßt kaum einen Zweifel daran aufkommen, daß sie es immanent mit Transzendenz, transzendent mit Immanenz zu tun haben will, und dies nicht im Sinne wechselseitiger Visiten zum Zwecke mehr oder weniger guter nachbarschaftlicher Kontakte, sondern in einer Form, die die immanente Konstitution des Schemas und damit die Paradoxie der Einheit präsent hält: und sich ihr stellt. 16 Diese Beschäftigung der Mystiker und bemerkenswerterweise auch der zahlreichen Mystikerinneni? erweist sich in diesem Zusammenhang nicht so sehr als eine religiös-weitabgewandte oder exaltierte Beobachtungsperspektive, sondern vielmehr als ein in dreifacher Hinsicht äußerst riskantes Unternehmen. (1) Die Konfrontation mit der Paradoxie bringt erhebliche Folgeprobleme bezüglich der Sprache und des Sprechens mit sich. (2) Die Praktiken, die die Mystiker und Mystikerinnen ausüben, um sich psychisch und physisch so zu konditionieren, daß eine mystische Gottesschau möglich wird, bringt massiv die Gefahren des Selbst-Verlusts und sogar des physischen Todes mit sich.is
!6 Luhmann/Fuchs 1989, S. 73. Diese und andere Äußerungen in Reden und Schweigen muten zuweilen selbst esoterisch an. Dies scheint mir den Versuch, mystische Praxis zu untersuchen, erneut zu rechtfertigen. 17 Über die Bedeutung der Frauenmystik schreibt Ruh: »Mit der Frau erhält mystische Spiritualität eine neue Dimension. Das affektive Element, das besonders in der zisterziensischen Liebes-, Christus- und Marienmystik bisher nie gekannte devotiale Qualität und neue Ausdrucksformen hervorbrachte, wird beherrschend. Mit ihm eröffnet sich die Welt der Visionen und Auditionen [...]. Die Entrückungen nehmen extreme Formen an, dauern Stunden und Tage oder häufen sich in kurzen Abständen, was allen Erfahrungen der Väter und monastischen Theologen widerspricht.« Ruh 1990, Bd. 2, S. 18. 18 Als Beispiel hierfür sei auf die Imitatio Christi hingewiesen, eine asketische Übung,
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(3) Sowohl die Bemühungen um die Gottesschau als auch deren hier und dort reklamierter Erfolg (sowie Berichte über andere Begnadungen wie Ekstasen, Verzückungen, Levitationen, Stigmen, Glossolalie und insbesondere die unio mystica) bringen schließlich die für die Mystiker notorische Gefahr mit sich, der Häresie angeklagt - und dann möglicherweise auch gefoltert oder gar zu Tode gebracht - zu werden. Die Not, die Authentizität der eigenen Erfahrungen beweisen zu müssen, die aufgrund der Verfolgung der Mystiker und Mystikerinnen durch die Inquisition akut gehalten wird, verstrickt diese wiederum in ein Kommunikationsdilemma, das sich aus dem Umgang mit der Paradoxie ergibt. Luhmann und Fuchs schreiben über das Problem der Authentizität mystischen Erlebens: Kriterium ist nicht die mystisch-ekstatische Rede selbst, ist nicht Stammeln, verund entzückt, ent- und verrückt zu agieren, denn dergleichen findet sich auch in pathologischen Fällen. Vielmehr ist der Blick auf die Folgen gerichtet, auf positive Handlungen, deren Positivität aus der Koinzidenz mit moralischen Ansprüchen des Christentums abgeleitet werden kann.19
Dieses Kriterium hängt von höchst subjektiver Beurteilung von außen ab. Es verweist auf die Abhängigkeit der Mystiker und Mystikerinnen von der Beurteilung des Klerus und der Inquisitoren, die letztlich über Heiligsprechung oder Verdammung entscheiden. Einleuchtend dürfte dabei auch sein, auf welch dünnem Boden sich Mystik zu halten versucht, wenn sie nur von außen kontrolliert werden kann und mit mißtrauischem Blick auch permanent kontrolliert wird.20 Mystik unternimmt eine riskante Gratwanderung nicht zuletzt, weil mystisches Erleben wie Ekstasen und Verzückungen, die manchmal erotisch eingefärbt sind, gerade im Kontext sittenstrenger und tugendhafter kirchlicher Gebote eine heikle Angelegenheit darstellen. Allein diese dreifach di-
das Kreuz auf sich zu nehmen und dem leidenden Christus nachzufolgen. Dem Schicksal und der Agonie Jesu nachzufolgen bildet beispielsweise den Kern der Passionsmystik. Askese beinhaltet dabei oft nicht nur Enthaltsamkeit, Abstinenz oder Schweigen, sondern auch Selbstgeißelung und Selbsterniedrigung. 19 Luhmann/Fuchs 1989, S. 90. 20 Die Inquisition im Mittelalter nimmt teilweise extrem grausame Züge an: »Für die Aufspürung der Ketzer ernannte Gregor (seit 1231) päpstliche Inquisitoren [...]. Es genügten zwei Ankläger, deren Namen verschwiegen wurden, um einen Angeklagten für schuldig zu erklären. [...] Besonders verhängnisvoll wirkte sich die von Innozenz IV 1252 erlassene Konstitution Ad exstirpanda aus, die die Inquisitoren ermächtigte, zur Geständniserzwingung die Folter durch die weltliche Obrigkeit anwenden zu lassen. Foltermittel waren unter anderem Folterbank, brennende Kohlen, Wippgalgen. [...] Hartnäckige und Rückfällige wurden verbrannt.« Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, S. 700.
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lemmatische und riskante Situation, in der sich die Mystik befindet und der sie standhält, ist ein ausreichendes Indiz für ihre Ernsthaftigkeit.
3. Grenzen der systemtheoretischen Beobachtung mystischer Praxis In der systemtheoretischen Beschreibung mystischen B e o b a c h t e n s 2 i legen Luhmann und Fuchs insbesondere auf das Verhältnis von Reden und Schweigen wert und beschreiben diese Differenz als Paradox: »Jedes System koproduziert das, was als Umwelt nicht in das System eingeht, und auch dies kann dann >Schweigen< genannt (!) werden - allerdings Schweigen in einem zweiten Sinne: Schweigen ohne A n s c h l u ß f ä h i g k e i t . « 2 2 Die Möglichkeit dieser hier angesprochenen Anschlußlosigkeit wird im weiteren jedoch wieder zurückgenommen: Sollte man von einem transzendentalen Schweigen sprechen? Keineswegs! Denn es handelt sich ja nicht um etwas, was die Grenzen der Erfahrung überschreitet. Es geht nur um die Grenzen der Kommunikation, um die Grenzen der Gesellschaft. 2 3
Es scheint an dem systemtheoretischen Instrumentarium zu liegen, daß die Umwelt nicht als Umwelt, sondern nur als Differenz von Identität und Differenz behandelt werden kann und somit das Paradox jeweils nur verschoben wird, ohne daß eine direkte Konfrontation möglich wird. Systemtheorie schlägt von ihr Beobachtetes entweder der einen (System) oder anderen Seite (Umwelt) ihrer Theoriearchitektur zu, wobei >Umwelt< immer eigenartig systemimmanent bleibt. Schweigen erscheint dann als Möglichkeitsbedingung von Reden (und umgekehrt), fällt als Möglichkeitsbedingung aber immer noch in den Bereich des nach Wittgenstein Sagbaren. Das, was sich zeigt, läge nach Luhmann und Fuchs außerhalb der Grenzen der Kommunikation oder der Gesellschaft und wird in der Systemtheorie daher ignoriert. Damit argumentiert Systemtheorie in eben dem Rahmen von Komplementarität oder infinitem Regreß, auf den ich weiter oben hingewiesen habe.24
21 Ich verwende den Ausdruck der Beobachtung in einem möglichst extensiven Sinne, so daß er alle Formen zeichenhaften Operierens impliziert. 22 Luhmann/Fuchs 1989, S. 17. 23 Ebd., S. 18. 24 Als Defizit wird dies auch bei Baecker angemerkt. »Erst hier bekommen wir es mit einer [...] konjekturalen Wissenschaft zu tun, der gegenüber sich die exakte Wissenschaft als eine in ihren Interpretationen eingeschränkte, um das Symbol des Paradoxen bereinigte, auf den Vollzug von Schritten reduzierte Wissenschaft darstellt.« Baecker, (Hg.) 1993a, S. 25f. Es wäre zu überprüfen, ob sich der Begriff der konjekturalen Wissenschaft dafür eignet, die vorliegenden Probleme zu fassen.
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Das Verstummen der Mystiker und Mystikerinnen stellt eine Vorgehensweise dar, dem die einfache Opposition von Reden und Schweigen (auch wenn unter Schweigen beredtes Schweigen verstanden werden soll) nicht gerecht werden kann. Verstummen ist hier weder auf Reduktion von Reden, um etwa dessen Qualität zu steigern, verkürzbar, noch ein Zeichen für Verachtung von Reden, und Schweigen ist nicht ersatzloses Streichen von Rede.25 Die systemtheoretische Beschreibung des Umgangs der Mystiker und Mystikerinnen mit Sprache beschränkt sich auf die einfache Faktizität von Sprechen oder Schweigen. Homolog zu den Bemühungen avancierter Literatur werden in der Mystik Formen der Artikulation entwickelt, die jenseits der Alternation zwischen Reden und Schweigen auf etwas direkt durchzugreifen versuchen, das aber eben nur durch Aporien oder Paradoxien beschrieben werden kann. Ein für den Vergleich von avancierter Literatur und Mystik unter diesem Aspekt interessantes Beispiel ist die mystische Begnadung der Glossolalie .26 Mystisches Sprechen und Schweigen scheint auf eine spezifische Weise auf etwas Drittes konzentriert zu sein, nämlich auf Liebe oder mystisch auf >Nähe< .27 Mystik prozessiert nicht eine Alternation zwischen Reden und Schweigen, sondern thematisiert und konfrontiert sich mit dem spezifischen Medium dieses Prozesses. Liebe modifiziert hier die semiotische Beschreibungsmöglichkeit von Kommunikation oder Beobachtung, so daß mystischem Sprechen eine Qualität zukommt, die nicht semiotisch (im weitesten Sinne: interpretatorisch, kommunikativ) erfaßt werden kann. Das, was sich zeigt, hat in der Mystik auch Folgen: es zeigt sich nicht nur, sondern es wirkt. An dieser Stelle möchte ich den Versuch anregen, Sprache nicht allein durch Sprachliches zu definieren, also nicht allein eine zwei- (Saussure) oder dreiwertige (Peirce) Zeichenkonstella-
25 Eine Konzession von Luhmann/Fuchs lautet: »Es handelt sich um den, wenn überhaupt kommuniziert wird, nicht weiter reduzierbaren Grenzfall von Anschlußfähigkeit, um die Problematisierung der Organisation von Zeit in der Rede.« (1989, S. 9) Als differenzlogisches Theoriedesign kann die Systemtheorie nur die beiden Seiten ihrer Unterscheidung - im besten Fall noch die Existenz einer Grenze dazwischen beobachten. Die Einführung von Zeit stellt für die Systemtheorie die einzige Möglichkeit dar, die Differenz zwischen beiden Seiten operabel zu machen. 26
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Glossolalie wird in der Mystik als Begnadung hoch geehrt. Glossolalie wird beispielweise bereits in der Bibel genannt: Korinther 14,2: »Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geiste Geheimnisse.« Und Korinther 14,13: »Darum, welcher in Zungen redet, der bete, daß er's auch auslegen könne.« Auch Luhmann handelt über die Liebe: Ein zentraler Begriff ist bei ihm dabei der des Vertrauens, mithin eine zentrale Paradoxie, mit der Folge, daß Luhmann feststellen muß, man könne eigentlich nicht paradoxiefrei sagen: >Ich liebe Dich!Gottesgeburt< beschreibt hierbei einen ähnlichen >Allzustand< wie die Gottesschau oder die unio mystica, ist also f ü r unser Verständnis ein paradoxer Ausdruck. Tatsächlich m u ß man f ü r die Erfahrung oder das Erlebnis der Gottesgeburt einen Modus annehmen, der über ein diskursives (semiotisches) Ereignis hinausgeht. Über den generativen Aspekt der Gottesgeburt und seine Relevanz f ü r ein theoriebautechnisches Konzept gehe ich weiter unten ein. Es m u ß jedenfalls beachtet werden, daß es zwar auch im mittelalterlichen Denken Dualismen gibt (männlich versus weiblich, Geist/Seele versus Leib), daß solche Kategorien dort jedoch leichter zu mischen sind als f ü r
28 Einen ähnlichen Versuch unter konstruktivistischem Vorzeichen unternimmt Scheffer, meines Erachtens bislang allein in derart elaborierter Form: Scheffer 1992. 29 Luhmann/Fuchs 1989, S. 85. 30 Man spricht auch von der >Einung< mit Gott oder der >Einwohnung< Gottes. Möglich ist es andererseits auch, von geistlicher Vermählung oder heiliger Hochzeit zu sprechen. 31 Ebd., S. 81.
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unser heutiges Verständnis 3 2 Diesem Phänomen soll hier Beachtung geschenkt werden, da es binäre Codierungstypen, wie sie von der Systemtheorie mehr oder weniger verabsolutiert werden, hinfällig macht. Die spezifische leibliche Qualität der weiblichen Spiritualität im Mittelalter rührte einerseits aus der philosophischen und theologischen Verknüpfung des Weiblichen mit dem Fleischlichen, andererseits aber aus der seit dem 13. Jahrhundert vorherrschenden Ansicht, daß das menschliche Individuum eine leibseelische Einheit sei. In der Eschatologie lautete die orthodoxe Position, daß am Ende aller Zeiten sowohl der Körper als auch die Seele wiederauferstehen, und die Körper von Männern und Frauen waren nach philosophischem, medizinischem und volkstümlichem Verständnis Variationen einer einzigen physiologischen Struktur. 33 Dies impliziert einen Erklärungsansatz für die Frauenmystik, für die sich Walker-Bynum insbesonere interessiert; geschlechtsspezifische Unterschiede können in diesem Zusammenhang aber weitgehend vernachlässigt werden. Im vorliegenden Zusammenhang impliziert es jedoch auch einen Ansatz, semiotische (geistig-seelische) und psychophysische Erlebnismodalitäten als aufeinander bezogen und interagierend zu beobachten. Das spezifische Problem der Mystik, über Unsagbares reden zu müssen, soll damit produktiv entfaltet werden. Gottesgeburt (und unio mystica) wird durch die imitatio Christi erreicht oder zumindest angestrebt. Dieses Verständnis der imitatio als Werden oder Sein steht hinter der eucharistischen Frömmigkeit der Frauen. Die Eucharistie ist ein besonders geeignetes Medium für das Bemühen, Christus zu werden, denn die Eucharistie ist Christus. Die Tatsache der Transsubstantiation ist entscheidend. Man wird zum gekreuzigten Leib Christi, indem man den gekreuzigten Leib Christi verzehrt34 Die Durchlässigkeit einzelner Kategorien in der mittelalterlichen Mystik läßt Transsubstantiation auch im physiologischen oder geschlechtlichen Sinne zu: Wenn wir seinem Sekretär, Gottfried von Auxerre, Glauben schenken wollen [...], so hat Bernhard [von Clairvaux, N.O.] >vom ersten Tage an, als er die Zelle der Novizen betrat,< seine Seele mit dem Liebesimpuls (affectus) der demütigen, aber entstellten Braut umhüllt, >in der Sehnsucht nach der Gegenwart des erhabenen, reichen und überaus mächtigen Bräutigamsin Furcht und Scham< 35
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Die Hostie beispielsweise wurde während der Eucharistie tatsächlich als Leib Christi empfunden und dies so, daß manche das Wunder erlebten, in dem sich die Hostie im Mund in blutendes Fleisch verwandelte. 33 Walker Bynum 1996, S. 149f. 34 Ebd., S. 132. 55 Ruh 1990, Bd. 1,S. 254.
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Ähnlich sprechen Mystiker und Mystikerinnen von der »Mutterschaft Gottes< aber auch von Jesus als >MutterDoppelseitigkeit< als Bindeglied zwischen Sender und Empfänger, seine offene, anschluß- und leistungsbereite Kapazität .41
Matzker spricht daher von der »Arbitrarität des Mediums« 42 und eindringlicher noch vom Medium als »Ob-Subjekt«. 43 Will man das über mystische Praxis bisher Beschriebene zeichentheoretisch reformulieren, so zeigt sich folgende Figur: alle neueren geisteswissenschaftlichen Ansätze weisen eine Zweierkonstellation auf (Bewußtsein und Kommunikation, Signifikant und Signifikat, Medium und Form, Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung etc.) die durch ein jeweils darauf abgestimmtes Drittes vermittelt werden (Medium, Zeichen, strikte Kopplung, Modellvermögen etc.). 44 Dieses jeweils Dritte wird dabei aus theoriebautechnischen und methodologischen Gründen angenommen, um die einzelnen Begriffspaare aufeinander beziehen und somit operabel machen zu können. Gemeinsam ist diesen hier angedeuteten Modellen, daß der (zeichenhafte) Prozeß als oszillatorischer Prozeß des Wechsels vom einen auf das andere der Elemente eines Paars beschrieben und über Zeit entfaltet wird. Diesem dritten, vermittelnden Element kommt insofern eine äußerst wichtige Funktion zu. Dennoch kann es selbst kaum positiv erklärt, begründet oder beschrieben werden; es wird zumeist allein aus seiner Notwendigkeit heraus postuliert.^
40 Matzker 1989, S. 12. 4 1 Ebd., S. 12. 42 Ebd., S. 12. 43 Ebd., S. 14. Dieser Begriff impliziert eine aporetische Figur der Gleichzeitigkeit, auf die ich weiter unten zurückkommen werde. 44 Schon bei dieser Aufzählung kann man erkennen, auf wie unterschiedliche Weise der Begriff >Medium< funktionalisiert wird. 45 Man könnte beinahe von einem agnostischen Medienbegriff sprechen.
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Matzkers Bestimmung des Mediums scheint aufgrund dieser Situation geeignet, sowohl dieses Dritte als Medium zu bestimmen als auch die Problematik seiner Definition mitabzubilden^. Im Rekurs auf das Medium in der Parapsychologie schreibt Matzker: Nicht eigentlich die Person ist hier als Medium zu bezeichnen, sondern die von ihr besetzte und sie besetzende Sphäre. Es mag zeigen, daß der Medienbegriff eine Sphäre oder auch einen kulturellen Wirkungsbereich bezeichnet, der dazu neigt, sich mit seinen Indikatoren (Person, Sache, Sender, Empfänger) vertauschen zu lassend
Und genau dies ist in den einzelnen Theoriedesigns auch üblich, so daß der Begriff des Mediums inflationär verwendet wird, darüber jedoch jede Möglichkeit einer Konkretion verliert. Mystik (und aporetische Theologie) nehmen hier eine Sonderposition ein, da sie die von Matzker beschriebenen Vertauschungen vermeidet und vielmehr die paradoxe oder aporetische Situation der gleichzeitigen Zuschreibung aufrechterhält: Das mystische Medium der Nähe (oder Liebe) ist das gleichzeitig, durch- und miteinander Erleben zweier kategorialer Bereiche: einer intelligiblen und einer physischen Erfahrungsqualität. Der aporetische Stil der Beschreibungen ihrer Erfahrungen erscheint somit als Strategie, den Versuch, auf das Medium selbst durchzugreifen, zu beschreiben. Nähe oder Liebe, wie sie durch Gottesvereinigung (oder das Streben danach) erzeugt wird, ist das Medium als >Ob-SubjektBilokation< oder >Multilokation< bilden ähnlich die aporetische Situation ab, an zwei Orten gleichzeitig anwesend sein zu können .49 Ein Folgeproblem zeichnet sich dabei natürlich für die mystische Praxis ab:
46 Ähnlich, wenn auch mit anderer Intention, konzipiert auch Oliver Jahraus im vorliegenden Band das Medium als Koppelung von Bewußtsein und Kommunikation. 47 Ebd., S. 13. 48 Hoff 1997, S. 200. 49 Zu diesen Begriffen vgl. Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2, S. 478. Selbstverständlich bezeichnen solche Begriffe die Grenze des für die Systemtheorie Hinnehmbaren: »Der Versuch der Enträumlichung hat seine Ursache auch in der Denkunmöglichkeit, zwei Orte, Räume, Hemisphären sich zusammenfallend, sich ineinandergeschoben zu denken, zusätzlich kompliziert dadurch, daß die Räume ja immer noch irgendwie an ihren Orten bleiben müssen.« Luhmann/Fuchs 1989, S. 74.
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Mit der Sprachaporetik mystischer T h e o l o g i e ergibt sich auch das erkenntnistheoretisch unauflösbare Problem der Feststellbarkeit dessen, w a s b z w . wer erfahren wurde. Die theologische Undefinierbarkeit Gottes als Erfahrung seines Selbstentzuges betrifft auch die Frage nach einer Kriteriologie der mystischen Erfahrung. Denn es ist je mit der Möglichkeit zu rechnen, daß in der mystischen Erfahrung der Mensch lediglich sich selbst gesucht und erfahren hat. 5 0
Dies ist eine logische Konsequenz aus der mystisch gefaßten Konzeption des Mediums und betrifft eine der drei kritischen oder gefahrvollen Aspekte mystischer Praxis, wie ich sie bereits in Kapitel 2 angedeutet habe. Vor allem bedeutet diese mystische Konzeption des Mediums jedoch erkenntnistheoretisch, daß Erkenntnisvollzug und Erkenntnisprodukt, Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung in einem oder durch ein Medium stattfinden, das selbst nicht durch dieselbe Denkfigur erfaßt werden kann. Im Falle der Mystik: Das Medium Nähe oder Liebe ist nicht sprachlich (oder im weitesten Sinne semiotisch), sondern gehört einer anderen Kategorie an, als das, was es vermittelt: Gottesschau ist Gottesnähe oder Gottesgeburt, ist Einigung mit Gott. Mittelalterliche Mystik scheint auf eine solche Fassung des Medienbegriffs durch die Liquidierung kategorialer Grenzen zwischen Intelligiblem und Leiblichem vorbereitet zu sein. Immer wieder den grundsätzlich aporetischen Status von Theologie betonend schreibt Hoff: Vor das unbegreifliche Geheimnis von Menschwerdung und T o d des Gottessohnes am Kreuz führt, mystagogisch, ausschließlich die Liebe. In der Weglosigkeit ist sie der einzige W e g - doch auch dieser W e g ist kein W e g des Denkens: Gottesliebe ist grundlose
Liebet
Das Medium der Liebe (oder Nähe) in der Mystik bildet somit ein Modell für Medienbegriffe, wie sie nach meinem Vorschlag ähnlich in einer Literaturtheorie adaptiert werden könnte. Als das dritte Element bewirkt es eine Koppelung, die distinkte Bereiche operativ aufeinander b e z i e h t . 5 2 Als >grundlos< kann diese Koppelung begriffen werden, insofern sie als generativer Modus Neues hervorbringt oder beobachtbar macht. Das Medium als generatives Moment zeichnet also die umgekehrte Richtung von Beobachtungsprozessen vor, als dies analytische (beispielsweise diskursanalytische) Theoriedesigns nahelegen. Die Mystik selbst verwendet Begriffe (>GottesgeburtGottesfünkleinnegativen Literaturtheorie< sprechen. Unter avancierter Literatur verstehe ich hierbei Texte, die solche Anstrengungen in ihren (thematischen) Mittelpunkt stellen.54 Am konsequentesten und zugleich provokantesten wäre es wohl, sich hier auf Autoren wie Georges Bataille oder Pierre Klossowski zu beziehen. Ich präferiere indessen exemplarisch Maurice Blanchot (Der Wahnsinn des Tages) und stütze mich im folgenden auf Marc Le Bot, der die Ähnlichkeiten zwischen mystischer Erfahrung und avancierter Literatur sehr präzise beschreibt. Blanchots »Der Wahnsinn des Tages« zeigt die große Ähnlichkeit zum mystischen Erleben: Als die Glassplitter entfernt waren, schob man mir einen Schutzfilm unter die Lider, auf die dann ein Wall von Watte kam. Ich durfte nicht sprechen, da das Sprechen den Verband verschob. »Sie haben geschlafen«, sagte der Arzt später. Ich und schlafen! Ich mußte dem Licht der sieben Tage standhalten: eine schöne Feuersbrunst! Ja, die ganzen sieben Tage auf einmal, das siebenmalige Licht des Anfangs, in einem einzigen Augenblick lebendig geworden, forderte Rechenschaft
53 Der Begriff der Desemantisierung bildete sich im Zusammenhang mit Überlegungen zu einem Konzept gemeinsamer Prinzipien avancierter Literatur des 20. Jahrhunderts im Rahmen eines von Scheffer gehaltenen Kolloquiums in München heraus. Als selbstexplizierendes Beispiel für Desemantisierung sei hier an den kurzen Kafkaschen Aphorismus erinnert: »Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.« 54 Es wäre insofern falsch Avantgarde mit avancierter Literatur gleichzusetzen. Die Avantgarden spielen zwar mit den Grenzen dessen, was als literarisch angesehen wird, begnügen sich aber häufig mit der spielerisch-anarchischen Geste der Desemantisierung (vgl. weite Bereiche des Dadaismus). Avantgarde problematisiert insbesondere den Kunstbegriff, avancierte Literatur stößt an die Grenzen des sprachlich Artikulierbaren vor.
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von mir. Was für eine Vorstellung! Manchmal sagte ich mir: »Das ist der Tod; dennoch lohnt es sich, es ist beeindruckend.« Oft aber starb ich, ohne etwas zu sagen. Mit der Zeit wurde es mir zur Gewißheit, daß ich dem Wahnsinn des Tages ins Gesicht sah. Das also war die Wahrheit: Das Licht wurde verrückt, die Klarheit hatte allen Verstand verloren. Sie fiel mich an ohne alle Vernunft, regellos und ohne Ziel. Diese Entdeckung war ein Biß durch mein Leben.55 Ein Fülle von Vokabeln der (spirituellen) Klarheit, der Helligkeit und gleichzeitig der (physischen) Blindheit, der Negation in der Form von Desemantisierung, Destruktion und Tod als Anzeichen für einen re-entry des Sinns ins Sinnentleerte evozieren im »Wahnsinn des Tages« das »Unaussprechliche«. Das aporetische Durchexerzieren von Sinn als Sinnentleerung bringt ein a-semantisches oder para-semantisches »Sinnereignis« hervor. 5 ^ Der Unterschied zwischen dem, worauf sowohl Mystik als auch avancierte Literatur abzielen, und den Differenzen, von denen Systemtheorie spricht, sei zur Verdeutlichung hier noch einmal erläutert: Luhmann und Fuchs sagen systemtheoretisch über moderne Poesie im allgemeinen »Verstehen [sei] nur durch Nichtverstehen möglich [...]« 57 , binden jedoch die Begriffe des Verstehens und des Nicht-Verstehens rezeptionsseitig in einen homologen Rahmen ein wie die von Reden und Schweigen, nämlich in den Rahmen einer komplementären Figur. Sie nennen zwar als »Grundvorgang« avancierten Schreibens, »daß etwas es selbst und simultan etwas anderes sei« 5 », ziehen in der Folge aus dieser Beobachtung jedoch keine Konsequenzen. Verstehen führt bei Luhmann und Fuchs Nicht-Verstehen als Außenseite mit und dies bildet somit die Möglichkeitsbedingung von Verstehen. Auch unter diesen Voraussetzungen scheint mir daher deren Beobachtung von avancierter Literatur nicht radikal genug zu sein. Schon Kurt Ruh hat - und dies ohne das aufwendige systemtheoretische Rüstzeug - darauf hingewiesen, daß mystisches Schweigen vielfach mit Sprachlosigkeit verwechselt worden sei 59 Demgegenüber spricht er von der »Eigensprache« der Mystiker als einer nicht-kategorialen Sprache, bei der es sich »nicht schlicht um rhetorische Phänomene handelt. Somit meint die mystische Antithese nicht die dialektische Figur, sondern das absolut An-
55
Blanchot 1986, S. 16f. 56 Den Ausdruck »Para-Semantik« schlägt Bernd Scheffer vor; den Begriff des »Sinnereignisses« übernehme ich von Gilles Deleuze. Mir ist dabei bewußt, daß ich hiermit von der Ebene wissenschaftlicher Beschreibung auf die Ebene essayistischer Beschreibung hinüberkippe, das heißt, den Diskurs wechsle. Mithin: daß meine Äußerungen auf diesem Gebiet vom wissenschaftlichen Standpunkt aus völlig ungesichert sind. 5 ? Luhmann/Fuchs 1989, S. 170. 5 » Ebd., S. 163. 59 Vgl. Ruh 1990, Bd. 2, S. 281.
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dere, die mystische Metapher will nicht das Abstrakt-Gedankliche >veranschaulichenUnaussprechliches< zu k o m m u n i z i e r e n u n d zu e v o z i e r e n . A n die Stelle (diskursiver, semiotischer) B e d e u t u n g treten tendenziell a n d e r e Erlebnisqualitäten: k ö r p e r l i c h e E r r e g u n g s z u s t ä n d e , ekstatische Z u s t ä n d e , T r a n c e n , s o g e n a n n t e b e w u ß t s e i n s e r w e i t e r t e Z u s t ä n d e usw.68 E i n e zentrale Motivation liegt d a b e i in den V e r s u c h e n , sich a u s den Fesseln v o n S p r a c h e und ( n o r m a t i v e r ) S e m a n t i k zu b e f r e i e n , u m eine qualitativ höh e r e , reichere o d e r intensivere S i n n d i m e n s i o n zu e r r e i c h e n . Diese B e f r e i u n g k a n n in der F o r m eines revolutionären A k t s g e s c h e h e n : » D i e K u n s t ist d e r T o d des S i n n s i m g e s c h l o s s e n e n Feld d e s S i n n s . Sie ist die s y m b o l i s c h e Feier d e r Z e r s t ö r u n g der Mächte.«69 O d e r sie dient direkt der B e f r e i u n g v o n der e i g e n e n Subjektkonstitution: Die Kunst kommuniziert nichts mit niemandem. Ich, Du, Objekte existieren im Poem nicht. Dort existieren andere-Subjekte (autres-sujets), andere-Objekte (autresobjets), die die anderen der Subjekte und Objekte des Wissens sind. [...] Im absoluten Gegenwärtigen, das inobjektiv und anonym ist, findet die Probe auf die absolute, vom Wissen unberührte Gegenwart des Draußen der Sprache außerhalb des Sinns statt.™
Ähnlich wie Kurt Ruh weist dann auch Le Bot auf seine Weise dem Schweigen, das aus einer solchen Praxis hervorgeht, eine andere Qualität zu, als es das einfache Nicht-Sprechen aufweist: Dieses Schweigen des Sinns, genau dieses Geheimnis in der poetischen Erfahrung ist eng verwandt mit dem Wahnsinn. [...] Das Schweigen, die Zerstörung, der Tod des Sinns in den Worten schreitet bis an die Ränder dessen vor, was jeder Zerstö-
67 Vgl. Deleuze 1979, S. 39-66. 68 Dies ist sowohl für die Textproduktion als auch für die Textrezeption zumindest vorgesehen und wurde möglicherweise insbesondere in der »ecriture automatique« bisher am erfolgreichsten umgesetzt. 69 Le Bot 1987, S. 149. Und zumindest diese anarchische Tendenz ist auch in fast allen avantgardistischen Texten zu beobachten, beispielsweise die Arbeiten der Wiener Gruppe. 70 Ebd., S. 149. - Daß diese Befreiung als lustvoll erlebt werden kann, ähnlich wie mystisches Erleben erotisch gefärbt sein kann, betont insbesondere Roland Barthes: Die Lust am Text. Vgl. radikaler, weniger domestiziert, wiederum Pierre Klossowski: Die Gesetze der Gastfreundschaft.
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rang widersteht und die äußerste Grenze des Sinns markiert: die nahe bevorstehende Gegenwart.71 Anders als Luhmann und Fuchs es konzipieren, geht es in avancierter Literatur also nicht um einen Wechsel oder eine Oszillation zwischen Reden und Schweigen (oder: Verstehen und Nicht-Verstehen), sondern um die Transsubstantiation in eine andere Kategorie als eine rein intelligible. 72 Diese Beobachtungen sowie mögliche literaturtheoretische Konsequenzen können im Rahmen des vorliegenden Beitrages nur angedeutet werden. Avancierte Literatur kann als ähnlicher Extremfall sprachlicher Äußerungen betrachtet werden, wie der >Diskurs< der Mystik. Eine zukünftige Literaturtheorie wird sich möglicherweise mit anderen als rein sprachlich-intelligiblen Mitteln auf das, was sich in avancierter Literatur zeigt, reagieren müssen 73 Denn es geht um mehr als darum, nur zu indizieren, daß es da eine »nichtmarginale, aber unmögliche Information« gibt. Wissenschaftlichkeit als Form der Beobachtung könnte dazu möglicherweise einen Beitrag leisten, wenn es ihr gelingt, ihre eigene konstitutive Offenheit zu thematisieren.
7. Konsequenzen Die Beschäftigung mit mystischer Praxis führt unweigerlich zur eigentlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Mediums. Ohne näherer Erläuterungen oder Definitionen zu bedürfen, funktioniert dieser in den meisten Zusammenhängen problemlos. So reicht es in systemtheoretischen Kontexten aus, das Medium als >lose Kopplung< gegen die Form als >strikte Kopplung< abzugrenzen: diese Perspektive interessiert sich für Fälle von >strikter Kopplunglose Kopplung< nur als Außenseite oder Umwelt fungiert und keiner näheren Bestimmung zugeführt werden muß (und kann). Anders ausgedrückt: der Begriff des Mediums funktioniert gerade aufgrund seiner Eigenschaftslosigkeit in den meisten Fällen ohne weitere Probleme, da er selbst nicht fokussiert wird. Das Medium als Vermittlungsinstanz (zwischen was auch immer) kann inflationär verwendet werden. Zumindest in einem zeichentheoretischen Zusammenhang, so behaupte ich hier versuchsweise, kann das Medium selbst jedoch nicht semiotisch ausgedrückt werden. Das Problem läßt sich wie folgt noch einmal resümieren: Die mystische Erfahrung und Praxis muß sich dem auch für die Theologie relevanten Problem der Vermittlung stellen. In dem Maße, in dem mystisches Erleben paradox ist, ist das Reden darüber aporetisch. Mystik ist insbesondere auf den Aspekt in Zeichenzusammenhängen konzentriert, der als Medium von Zeichentheorien üblicherweise vernachlässigt wird. Auf der anderen Seite von beispielsweise Erlebnis-, Passions- oder Christusmystik wartet das Problem der mystischen Reflexion und Intersubjektivierbarkeit. Der Versuch, in mystischer Versenkung fortzuschreiten bis zur mystischen Einigung mit Gott, hebt in der Erfahrung die Unterschiede auf, die sich theologischer Reflexion je neu aufgeben, ohne daß diese wiederum die Gültigkeit der Erfahrung ohne weiteres in Abrede stellen könnte. 74
Mystik sieht sich daher gezwungen, Sprache so zu manipulieren (!), daß sie den Kern mystischen Erlebens zernieren kann. Ähnlich wie für Negative Theologie stellt sich ihr dabei ein unüberwindliches Paradox entgegen: Denn noch eine Negative Theologie verfügt in ihrer Festlegung auf apophatisches Sprechen über Gott in der Festschreibung seiner Entzogenheit und Unerkennbarkeit; noch sie bleibt in ihrer äußersten Radikalität propositional an semantische Zuordnungen gebunden, die implizit in jeder Negation zum Ausdruck kommt. Sprachtheoretisch ist die Aussage der Unerkennbarkeit Gottes ein performatives Paradox.^
Sprachtheoretisch hält sich Mystik in der Aporie. Mystisches Erleben hingegen impliziert die Transsubstantiation von Sprachlichkeit in Körperlichkeit, nämlich (Gottes-) Nähe. Mystik führt hierbei eine Operation vor, deren Figur ich probehalber auf Zeichenzusammenhänge im allgemeinen beziehen möchte.
74 Hoff 1997, S. 206. 75 Ebd., S. 203.
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Der Sinn des vorliegenden Beitrages ist es dennoch nicht unmittelbar, mystischem Denken ein Plädoyer zu halten: Mystik demonstriert aber exemplarisch, wie eine andere Kategorie als die sprachlich-rhetorische an Erleben teilhaben kann (und es auch stets tut?). Mystik zeigt, daß die Aporien, die das polyzentrische Denken in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft charakterisieren, nicht nur durch die Figur der Komplementarität akut gehalten wird. Sie zeigt, daß das, was sich zeigt auch wirkt.7«* Sie begreift das, was sich zeigt nicht mehr als einen Fluchtpunkt, der entweder, wie in zentristischen Denksystemen, an einen > Platzhalter delegiert oder, wie in aktuellen polyzentrischen Denksystemen, in der Aporie der Komplementarität festgemacht wird, sondern daß gerade das, was sich zeigt, es ermöglicht, die Operation von Beobachtungen überhaupt operabel zu machen. 77 Andererseits scheint mir der Versuch, mystische Praxis in literaturtheoretischen Zusammenhängen zu etablieren, insbesondere deswegen gerechtfertigt, weil alle ernstzunehmenden aktuellen theoriebautechnischen Alternativen mit fast identischen Problemen zu kämpfen haben. An erster Stelle kann hier Derridas Konzept der Dekonstruktion angeführt werden, die mit ihren zentralen Begriffen wie der differance oder der architrace aporetischen Denkstil explizit benennt und inszeniert. Vor dem Hintergrund der von der Dekonstruktion angenommenen Unhintergehbarkeit ihrer Letztbegründungsinstanz kann der dekonstruktive Text geradezu als beispielhaft aporetischer Text rezipiert werden. Besser noch: Dekonstruktion äußert sich wie Negative Theologie im besten Stil: durch ständige »negative Selbstreferenz« und permanentem »Selbstdementi« 78 Gerade weil sie aber allein an den sprachlichen Möglichkeiten festhält, droht Dekonstruktion zu einer folgenlosen, rhetorischen Spielerei zu werden. Wenn das Medium wie in dem vorliegenden Beitrag definiert wird, gehört es nie demselben System zu, in dem jeweils operiert wird. Anders als bei Derrida, wäre es in zeichen theoretischen Zusammenhängen selbst nicht zeichenhaft. Es entsteht kein infiniter Regreß (bei Derrida: Aufschub) und keine komplementäre Figur wie in der Systemtheorie. Denn diese - als die große Alternative zur Dekonstruktion - findet keinen angemesseneren Umgang mit der Paradoxie: sie macht Halt vor ihr - ein gravierendes Problem, wenn man berücksichtigt, daß das zentrale (selbstzugeschriebene) Charakteristikum der Systemtheorie Universalität ist. Auch im Gefolge der Luhmann-
76
Sogar Luhmann/Fuchs geben zu: »Entscheidend ist, daß die Kommunikation von Paradoxien Folgen hat.« Luhmann/Fuchs 1992, S. 94. 77 Mystik demonstriert gleichfalls in ausdrucksvoller Weise den Motor ihres Operierens: die Liebe. 78 Marius/Jahraus 1997, S. 12.
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sehen Systemtheorie wird ein Versuch unternommen, dieses Theoriedefizit zu beheben. So werden beispielsweise bei Claus-Michael Ort Sozialsystem und Symbolsystem (das bedeutet: zwei verschiedenen Kategorien zugehörige Systeme) operativ aufeinander bezogen.79 Die Differenz zwischen Sozial- und Symbolsystem kann hier jedoch wiederum nur im Rahmen der Interpretationsproblematik, das heißt semiotisch entfaltet werden. Damit wird jedoch das Ziel dieser Differenzierung (sozial versus symbolisch), nicht erreicht, sondern im Gegenteil durch die operative Vermittlung - hier im Sinne von Schlichtung - eingeebnet und befriedet. So kann problemlos sowohl über Symbolisches als auch über Soziales gesprochen werden, wobei das eigentlich Differente des Sozialen gleichsam verschwindet - insbesondere, weil in der Systemtheorie das Sozialsystem als Kommunikation konzeptualisiert wird so Die Frage, die hierbei einstweilen offenbleiben muß, ist, ob hierdurch eine weitere Metaebene eröffnet wird, ob z.B. eine >Supertheorie< wie die Systemtheorie durch eine weitere Ebene - nämlich eine außersemiotische Ebene - nochmals überboten werden soll. Meine ebenso vorläufige Antwort lautet: Nein! Das Medium in einem zeichentheoretischen Zusammenhang außersemiotisch definieren zu wollen, kann nicht systematisch geschehen und leistet genau aus diesem Grunde keine theoriearchitektonisch weitere (Meta-)Ebene. Vielleicht ist hierdurch nicht viel gewonnen: Das Medium kann nicht als jeweils systeminhärentes Element beschrieben werden - und mehr auch nicht. »Dabei ist das Geheimnis positiv zu fassen: es will als heiliges Geheimnis vermittelt, offenbart werden, ohne sich darin für Erkenntnis aufzulösen.«81 Möglicherweise können jedoch verschiedene Diskurse so beschrieben werden, daß in ihnen der Begriff des Mediums eine (wenngleich außersemiotische) Konkretion erfahren kann. Im Fall der Mystik wäre dies: Liebe. Es steht aus, unter welchen Begriffen das Medium im Kontext von avancierter Literatur und Literaturtheorie gefaßt werden kann.
79 Vgl. Ort 1993. 80 Zu dieser Konzeption ausführlicher: Oliver Jahraus im vorliegenden Band. 81 Hoff 1997, S. 198.
RAINER TOPITSCH
Die Hermeneutik der Hypochondrie Lichtenbergs Theorie und Praxis der B e o b a c h t u n g
»Ich mag tun was ich will, so kann ich es ohne Zwischen-Räume nicht. Ich zittere überall. Zittern ist Anstrengung mit Ausruhen mit schnellen Abwechselungen verbunden.« (L 192 1 )
Im traditionellen Verständnis von Wissenschaft ist es notwendig, daß Interpretationen bzw. Beobachtungen der Wirklichkeit in einem emphatischen Sinne wahr sind. Um diese Wahrheit zu gewährleisten, müssen die empirischen Wissenschaften die sinnlichen Wahrnehmungen des Forschers in hohem Maße kontrollieren; subjektive, körperliche Empfindungen müssen bei der Wahrheitssuche ausgeblendet werden, sie dürfen wissenschaftliche Resultate nicht »verfälschen«. Der Zwang zur wissenschaftlichen Objektivität und zur Verdrängung des Körpers kann bei einem bestimmten Wissenschaftlertypus zu einer feindlichen Einstellung gegenüber der eigenen Körperlichkeit führen, was im Extremfall in hypochondrischen Wahnvorstellungen kulminiert. Im Zuge der Hypochondrie wird dann der eigene Körper nur noch als unrein, defekt, krank und bösartig wahrgenommen. Einer der berühmtesten Hypochonder der Wissenschaftsgeschichte ist wohl Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Als Professor für Naturlehre, Astronomie und Physik in Göttingen gehörte er zu den angesehensten Wissenschaftlern seiner Zeit und war insbesondere für seine methodische Genauigkeit bekannt.2 Er hatte die erste deutsche Lehrkanzel für Experimentalphysik inne, entdeckte die Lichtenbergschen Staubfiguren, die im Hinblick auf die Erforschung der Elektrizität in Fachkreisen Aufsehen erregten, und bearbeitete Johann Christian Erxlebens Standardwerk »Anfangsgründe der Naturlehre«^. In den bruchstückhaften Aufzeichnungen der »Sudelbücher« präsentiert sich dagegen der private Lichtenberg. Hier kommt der verdrängte Körper des Pro-
1
Wie allgemein üblich, wird auf die »Sudelbücher« Lichtenbergs mittels Angabe der Nummer des jeweiligen »Aphorismus« verwiesen. Die »Sudelbücher« finden sich in Lichtenberg 1994, Bd. I und II. 2 Zu Lichtenbergs wissenschaftlichen Leistungen vgl. Mautner 1992, S. lOf. 3 Erxleben 1784-94.
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fessors wieder zum Vorschein - als ein im Zuge hypochondrischer Wahnvorstellungen pathologisierter, aber auch als begehrender und sinnlicher Körper, der sich dem Starren und Festen wissenschaftlicher Rationalität entzieht und der sich dennoch auch bei der wissenschaftlichen Beobachtung nicht ausblenden läßt. Einerseits steht Lichtenberg im Zuge seiner Hypochondrie der eigenen Körperlichkeit feindlich gegenüber, andererseits zieht er die Konsequenz, den sinnlichen Menschen mit all seinen »Defekten« wieder in die Wissenschaften zu integrieren. Gerade in den »Sudelbüchern« finden sich zahlreiche Bemerkungen, die produktive Möglichkeiten entwerfen, wie das verdrängte Körperliche wieder seinen Platz in der Wissenschaft einnehmen könnte. Lichtenbergs Ausführungen sind ein Plädoyer für die essayistische, gleichsam lustvolle und sinnliche wissenschaftliche Beobachtung, die komplementär zur sicherlich notwendigen kontrollierten Praxis der rationalen Beobachtung die Funktion der Irritation scheinbar feststehender Gewißheiten erfüllen könnte. Bei meinem Versuch, aus der Perspektive Lichtenbergs die gegenwärtigen Theoriedesigns der Systemtheorie und des Konstruktivismus auf »blinde Flecken« hin abzusuchen 4 , sollte auch die unbedingte Modernität der Hermeneutik Lichtenbergs deutlich werden.
1. Die spionierende Beobachtung Das Auge Gottes sah noch alles: »Gott ist der Beobachter schlechthin [...], der alles gleichzeitig sieht und alles weiß .«5 Folglich kam es für den Menschen darauf an, den allwissenden Gott zu beobachten. Was aber, wenn kein Gott? Dann müßte der Mensch selbst alles sehen. Im Zuge der wissenschaftlichen Aufklärung verfeinerte man immer mehr die Beobachtungsmethoden, um sich die Natur anzueignen. Während zuvor der Mensch durchaus irren durfte - gab es doch die Gewähr, daß zumindest Gott im Besitz der Wahrheit ist - , mußte nunmehr die Illusion aufrechterhalten werden, der Blick des Wissenschaftlers sei absolutß Diese gleichsam göttliche Allwissenheit des Forschers implizierte aber die Notwendigkeit, den konkreten Menschen - mit all seinen »Defekten« - aus der wissenschaftlichen Beobachtung herauszuhalten. Die neuzeitliche Wissenschaft beobachtet und beobachtet: Das Auge ist das Leitorgan der Aufklärung. Das Hören, das Fühlen und Tasten, das Riechen und Schmecken spielen bei der wissenschaftlichen Wahrnehmung der Realität
4
Vgl. vor allem Kap. 3. 5 Luhmann 1992a, S. 106f. 6 Vgl. ebd., S. 104ff.
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nahezu keine Rolle. Diese Tendenz zur eindeutigen Dominanz des Sehsinns hat wohl schon im antiken Griechenland begonnen und kulminiert im »geometrisch-mechanischen Paradigma«? der Aufklärung, das nur dem Sichtbaren Existenz zukommen läßt, während das mit anderen Sinnen Wahrgenommene diffus bleibt und dem privaten Bereich zugeordnet wird. Vor der Erfindung elektronischer Medien läßt sich nur das Sichtbare aufzeichnen, abbilden, dokumentieren und reproduzieren. Diese eindimensionale Bevorzugung des Sehsinns ermöglicht scheinbar Distanz und Objektivität. Indes gibt es auch den falschen, visionären oder bösen Blick der Hexen, Propheten und Halluzinierenden. Es gibt auch den leidenschaftlichen Blick der Liebenden (der wiederum »blind« macht), den begehrenden Blick des Voyeurs - Blicke, die sich der Kontrolle entziehen. In der Tat scheint das Sehen durch eine Paradoxic gekennzeichnet zu sein: Einerseits läßt es sich am besten steuern und kontrollieren - man kann sich entscheiden, was man anblickt - , andererseits scheint das Sehen am stärksten gefährdet zu sein, sich dem erblickten Objekt auszuliefern. In der neuzeitlichen Wissenschaft gilt es freilich, alle Arten von subjektiven und unkontrollierten Blicken zu eliminieren. Die visuellen Beobachtungen müssen immer weiter kontrolliert und zunehmend objektiviert werden, wozu immer »präzisere« Beobachtungsinstrumente (Fernrohr, Mikroskop, Meßgeräte usw.) erfunden werden. Gegenüber seinen sinnlichen Wahrnehmungen muß der Wissenschaftler immer mißtrauisch sein, er kann sie nur insoweit akzeptieren, als sie wissenschaftlich verifizierbar sind. Das Sehen beschränkt sich auf ein instrumentelles Sehen, das geometrisch geprägt ist, das bloße Daten erfaßt und stur Meßgeräte abliest. Der wissenschaftliche Blick ist gleichsam halbiert. Er sieht nicht sympathisierend, einfühlsam oder gar sinnlich, er sieht immer aus der Ferne, aus der Distanz.s Nur das vom objektiven Blick Erfaßte existiert, alles andere ist nichts, ist tot: »Da wo das Auge undeutlich sieht [...] ist schon eine Art von Tod, wo kein deutliches Bild ist, ist keine Vorstellung« (F582), konstatiert Lichtenberg. Peter Sloterdijk hat darauf aufmerksam gemacht, daß wissenschaftliche Beobachtung einen Akt der Spionage darstellt.9 Die Beobachtung der Natur ist gleichsam als Beobachtung eines Feindes aufzufassen, den man vermessen, beherrschen und unterwerfen möchte. Die Wissenschaft als Central Intelligence Agency (CIA):
7 8
9
Kutschmann 1986, S. 164. Zum eindimensionalen und zum »bösen« Blick vgl. Akashe-Böhme 1995, Kutschmann 1986, v.a. S. 40ff., S. 158ff., S. 396ff. und Wulf 1984. Zur Gleichsetzung von Spionage und Wissenschaft vgl. Sloterdijk 1983, S. 605ff., S. 639ff.
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Von hier aus zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Erkennungsdienst: beide entwerfen Haltungen von >Objektivität< zum Erkenntnisgegenstand, die ohne den Einfluß der Feind-Stellung zum Objekt unverständlich blieben. Beiden liegt daran, das Offenbare vom Verborgenen zu trennen. Beide kennen die Sorge, daß Irrtum und Täuschung überall lauern. In beiden rivalisiert die Täuschung mit dem Verdacht.10 Auch der im Sinne einer traditionellen Hermeneutik verfahrende Literaturwissenschaftler gleicht einem Spion, der das Geheimnis eines Textes auskundschaftet. Susan Sontag schreibt treffend: »Der Interpret sagt: Schaut her, seht ihr nicht, daß X in Wirklichkeit Α ist - oder bedeutet?« n Der Autor und sein Text werden verdächtigt, daß sie uns über ihre wahren Absichten hinwegtäuschen - ansonsten hätte der Autor wissenschaftlich geschrieben. Das Verdächtige an der Literatur besteht in ihrem Anders-Sein. Die Literatur habe sich maskiert, verkleidet, verstellt, dahinter werde sich schon noch der logos aufspüren lassen; es werde sich schon noch zeigen, daß die Literatur wie die Wissenschaft ist. Am meisten Schwierigkeiten bereitet die Observation von komplexen experimentellen Texten, die ständig ihre Maske wechseln, um sich den Spionen zu entziehen. Aber selbst auf diesem Gebiet hat man die Beobachtungsinstrumente derart verfeinert, daß alles erklärbar wird. Überall begegnen wir der Furcht vor der falschen Interpretation. Somit wird immer mehr Beweismaterial herangezogen, um die von der Wissenschaft imaginierte Intention eines Autors zu stützen: Der Text wird ausgeleuchtet, der Autor wird auf Schritt und Tritt verfolgt. Alles könnte ein Indiz sein: Liebesaffären, Intimitäten, private Geheimnisse. Das spionierende Auge, das sklavisch der linearen Schrift folgt,12 ist das Leitorgan der Literaturwissenschaft. Dem Literaturwissenschaftler sind Hören und Fühlen vergangen. Die Verdrängung des Körpers im traditionellen wissenschaftlichen Diskurs wird durch das Postulat der Existenz eines vom individuellen Beobachter unabhängigen Gegenstandes der Forschung ermöglicht. Für die neuzeitliche Naturwissenschaft ist dieses Objekt die äußere Realität, die der menschliche Geist mittels kontrollierter Beobachtung zu erkennen glaubt. Georg Christoph Lichtenberg wendet sich vehement gegen diese Auffassung. Zwar gibt es für ihn »Gegenstände« in der Außenwelt, doch können wir über deren besondere Beschaffenheit keine Aussagen treffen. Wir können weder sagen, daß sie so sind, wie wir sie sehen, noch können wir sagen, daß sie so nicht sind. Wir wissen nur, daß wir durch unsere sinnlichen Wahrnehmungen innere Veränderungen erfahren, deren eigentliche Ursachen uns aber verborgen bleiben.
10 Ebd., S. 612. 11 Sontag 1968, S. 11. 12 Zum sklavischen Lesen vgl. auch Flusser 1989, S. 89f.
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(Vgl. Κ 64) Das »Wesen« der Realität bleibt unsichtbar: »Die Dinge außer uns sind nichts anderes als wir sie sehen, für uns wenigstens nicht, denn wir können bloß Relationen bemerken, weil die beobachtende Substanz ja beständig in das Mittel tritt. Gott selbst sieht in den Dingen nur sich.« (J 681) Dies bedeutet eine radikale Abwendung vom Postulat der neuzeitlichen Naturwissenschaft, demzufolge der menschliche Geist zur objektiven Wahrnehmung der Natur fähig ist. Lichtenberg stellt konsequenterweise von der Beobachtung der Wirklichkeit auf die Beobachtung der eigenen Beobachtungen (bzw. Wahrnehmungen) um: »In dieser Lage der Dinge ist es das Klügste, was wir tun können, bei uns stehen zu bleiben, unsere Modifikationen zu betrachten, und uns um die Beschaffenheit der Dinge an sich gar nicht zu bekümmern.« (K 64) Oder kurz und bündig formuliert: »Wohin wir nur sehen, so sehen wir bloß uns.« (J 569) Für Lichtenberg ist also jede Erkenntnis eines Objekts eine beobachterabhängige Konstruktion; dabei erscheint die »äußere Realität« als eine Projektion dessen, was wir als stabil erfahren, was wir selbst nicht beeinflussen können: Außer uns. Es ist gewiß sehr schwer zu sagen wie wir zu diesem Begriff gelangen denn eigentlich empfinden wir doch bloß in uns. Etwas außer sich empfinden ist ein Widerspruch, wir empfinden nur in uns, das was wir empfinden ist bloß Modifikation unserer selbst, also in uns. Weil diese Veränderungen nicht von uns abhängen, so schreiben wir dieses andern Dingen zu die außer uns sind, und sagen es gibt Dinge [...]. (J 1537, vgl. auch J 1532)13
In diesem Sinne möchte Lichtenberg die Redeweise »extra nos« (»außer uns«) durch »praeter nos« (»uns ausgenommen« bzw. »gegen uns«) ersetzen. (Vgl. J 1537) Dieses »praeter nos«, so könnte man Lichtenberg interpretativ ergänzen, bezeichnet die uns nicht verfügbare soziale Kontrolle unserer Wirklichkeitskonstruktionen. Soziale Kontrolle wird etwa durch wissenschaftliche Methoden gewährleistet. So ist bei einem naturwissenschaftlichen Experiment das Resultat schon im wesentlichen durch den Versuchsaufbau vorbestimmt.1 4 Das war wohl auch Lichtenberg bewußt, wenn er schrieb: »In jeder Sache nur immer sehen was man schon weiß.« (MAT I 105) Jeder Schüler hat es erlebt, daß das mißlungene Experiment des Physiklehrers nicht die Gültigkeit des Lehrstoffes ändert.
13
Alle Hervorhebungen in Zitaten, auch im folgenden, sind Hervorhebungen der jeweiligen Autoren. 14 Dies hat Karin Knorr-Cetina in ihrer anthropologisch-ethnologischen Untersuchung zur Wissenschaftschaftspraxis eindrucksvoll nachgewiesen. (Vgl. Knorr-Cetina 1991, zur Methodenfrage v.a. S. 221ff.)
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Die soziale Kontrolle - etwa durch das Wissenschaftssystem - funktioniert aber nicht umfassend; der menschliche Faktor ist auch in der rationalen Beobachtung präsent. Zwar versucht der Wissenschaftler, sich wie ein Spion unsichtbar zu machen: Unsichtbar soll alles werden, was nicht der Erkenntnis dienlich ist. Unsichtbar sollen die Motive werden, die den Wissenschaftler entlarven würden. Unsichtbar sollen das körperliche Befinden, Gefühle und Leidenschaften werden. Allerdings gelingt diese Invisibilisierung niemals vollständig. Anläßlich seiner Selbstbeobachtungen bemerkt Lichtenberg, daß diese Objektivität des wissenschaftlichen Blickes nichts weiteres als eine Illusion ist. »Ich habe es sehr deutlich bemerkt: Ich habe oft die Meinung wenn ich liege und eine andere wenn ich stehe. Zumal wenn ich wenig gegessen habe und matt bin.« (F 557) Lichtenberg sagt wohl über sich selbst: »Er urteilt nach dem jedesmaligen Aggregatzustand seiner Empfindungen.« (J 482) Somit polemisiert er dagegen, daß der Mensch aus dem wissenschaftlichen Diskurs herausgehalten wird. Gemeint ist der körperliche, sinnliche, irrationale Mensch, gemeint sind nicht die Projektionen der zeitgenössischen Physiognomik eines Johann Caspar Lavatersis, der Medizin oder der Psychologie des 20. Jahrhunderts, die den Menschen erst recht in ein standardisiertes Netz der Begriffe zwängen und ihn somit unsichtbar machen. Das wissenschaftliche Urteil ist abhängig von nicht-geistigen Faktoren, von gegenwärtigen Emotionen, deren Existenz im wissenschaftlichen Diskurs zwar geleugnet wird, die aber dennoch gleichsam unterirdisch präsent sind. Das Reflektieren des Geistes ist kein vollkommen freier Akt des über sich selbst verfügenden Subjekts: Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis. (K 76)
Das rationale Denken beinhaltet Momente der Intuition; es wird also auch von unbewußten, verdrängten und emotionalen Vorstellungen geleitet. Dabei kommen durchaus auch sexuelle Motive zum Vorschein: »Der Trieb unser Geschlecht fortzupflanzen hat noch eine Menge anderes Zeug fortgepflanzt.« (F 1079) Insbesondere sieht Lichtenberg in den empfindsamen Tendenzen seiner Zeit, die sich auch zunehmend in den Wissenschaften bemerkbar ma-
Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis. Siehe Lichtenberg 1994, Bd. III, S. 256-295.
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chen (vgl. F 338 und F 498), die freilich verleugnete Macht des Sexuellen am Werk: »Wenn eine andere Generation den Menschen aus unseren empfindsamen Schriften restituieren sollte, so werden sie glauben es sei ein Herz mit Testikeln gewesen. Ein Herz mit einem Hodensack.« (F 345)
2. Die neurotische Beobachtung Seit etwa dem 17. Jahrhundert bildet sich jener Typus des Wissenschaftlers heraus, der sich seines Körpers entledigt. Der Begriff »Körper« mag dabei jene diffuse Restmasse bezeichnen, die sich durch die Subtraktion »Mensch minus Geist« ergibt und die sich möglicherweise - trotz aller Konfusion durch zwei eng zusammenhängende Aspekte charakterisieren läßt: einerseits als »animalischer« Trieb, als Begehren, Leidenschaft, Gefühl und andererseits als sinnlich wahrnehmender, fühlender, materieller Körper. Körperlichkeit in diesem doppelten Sinne wurde im Diskurs der traditionellen Wissenschaft zunehmend verdrängt. In psychopathologischen und hypochondrischen Zuständen mancher Forscher kehrt allerdings der verdrängte Körper wieder.16 Werner Kutschmann möchte anläßlich der Biographien Girolamo Cardanos (1501-1576), Johannes Keplers (1571-1630) und Isaac Newtons (1643-1727) exemplarisch aufzeigen, daß sich im späten 17. Jahrhundert - bedingt durch die fortschreitende Rationalisierung der Wissenschaften - im Krankheitsbild des Wissenschaftlers »gegenüber Renaissance und frühem 17. Jahrhundert eine Verschiebung von den organisch-somatischen Fällen zu solchen der Psychopathologie, nämlich der Hypochondrie, der Verwirrung und der Wahnzustände«17 ergeben hat. Selbst Isaac Newton also, der als Inbegriff des analytisch-empirisch arbeitenden Rationalisten und des allen äußerlichen weltlichen Genüssen abgeneigten Wahrheitssuchers gilt, tendierte immer stärker zum Wahn. Diese andere, private Seite Newtons, die der Öffentlichkeit lange systematisch verschwiegen wurde, ist durch neurotische Introvertiertheit, ständige Selbstzweifel und alchimistische Spekulationen charakterisiert. 1689 verfällt Newton für zwei bis drei Jahre vollends der Psychose, er leidet unter hypochondrischen Wahnvorstellungen, Depressionen und Verfolgungswahn. Es stellt sich natürlich die Frage, ob der Fall Newton wirklich verallgemeinert werden kann, wie Kutschmann meint.18 Das Problem besteht darin, daß es empirisch nicht faßbar ist, inwieweit man bei Hypochondrie und anderen
16 So auch Kutschmann 1986, S. 399. 17 Ebd., S. 400. Zu Cardano vgl. ebd., S.336ff., zu Kepler vgl. ebd., S.349ff., zu Newton vgl. ebd. S. 369ff., S. 402f. 18 Ebd., S. 387.
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Wahnzuständen von »originär >wissenschaftlichen< bzw. WissenschaftlerKrankheiten«^ reden kann. Allerdings erscheint es plausibel, daß bei hypochondrischen Wissenschaftlern die Einbildungen auch durch den Zwang zur Verdrängung des Körpers in der Wissenschaft und durch die Wahrnehmung des eigenen Körpers als Feind bedingt sind. Indes beobachtet auch Lichtenberg - wohl in Verbindung mit den empfindsamen Tendenzen seiner Zeit eine weite Verbreitung der Hypochondrie in intellektuellen Schichten.20 Den kränklichen Buckligen Georg Christoph Lichtenberg quälten zeit seines Lebens nicht nur zahlreiche körperliche Beschwerden, vor allem die Verkrümmung seines Rückgrats, sondern er litt auch (verschärft seit 1789) unter psychischen Problemen, unter Reizbarkeit, Depressionen, Angstzuständen usw.21 und vor allem unter Hypochondrie. Die »Sudelbücher« sind Fragmente der »Geschichte meines Geistes so wohl als elenden Körpers« (F 811), Dokumente der psychischen und physischen Labilität Lichtenbergs. Der Hypochonder Lichtenberg, der sogar mit dem Selbstmord sympathisiert (vgl. A 126), bemitleidet sich, jammert, stöhnt, wovon etwa Aufzeichnungen vom November 1789 zeugen: Den 25 [ t e n ] Nov. große Mattigkeit in der Nacht, sogar Fu[rcht] vor Ohnmacht. Alsdann ein kleiner Anfall, und um XII Uhr Mittag der stärkste den ich noch gehabt habe. Unempfindlichkeit an der ganzen rechten Seite. 5mal Stuhlgang, einigemal mit Schneiden[.] Den Abend Schwindel, Kopfweh mit einem Wort den ganzen Tag nicht [wohl]. Die Nacht auf den 26 t e n Novem. etwas weniges besser, aber große Mattigkeit nach dem Schlaf. Meine Hände fürchterlich (gestern) Zucken in einzelnen kleinen Teilen des Leibes[.] Schwindel, Brausen Klingen in den Ohren. Ziehen, Kälte Empfindlichkeit in den Füßen.22 Lichtenberg notiert unaufhörlich akribisch seinen Gesundheitszustand, den Zustand seines Urins, als gälte es, den »unreinen« Körper mit der Schrift zu beschwören .23
19 Ebd., S. 400. 20 Vgl.: »Wir haben heutzutage eine ganze Menge sogenannter feiner Köpfe (nicht große Geister). Es sind aber dieses nicht sowohl Leute, die groß in der ganzen Anlage ihres Geistes und zwar ursprünglich sind, sondern bei den meisten ist die Feinheit eine Schwächlichkeit, Hypochondrie, eine kränkliche Empfindlichkeit.« (B 25, vgl. auch G 163) 21 Vgl. Mautner 1992, S.65ff. 22 Nicht numerierte Aufzeichnungen aus dem »Goldpapierheft«. Siehe Lichtenberg 1994, Bd. 2, S. 214. Ergänzungen in eckigen Klammern durch den Herausgeber und durch mich. 23 Zur »Beschwörung« und Rationalisierung des Unreinen vgl. auch: »Die Ägyptier haben die Furze angebetet« (E 24). Und: »Dieser Mann arbeitete an einem System der Naturgeschichte, worin er die Tiere nach der Form der Exkremente geordnet
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Sehr starken Anfall von Kälte in den Füßen, endlich bis über die Knie. Auch in der Abendstunde, sehr übel. Stromeyer wegen der Arsch-Krankheit befragt. [...] Ein erbärmlicher Tag in Rücksicht auf meine Gesundheit. [...] Husten nimmt sehr überhand. [...] Etwas auf. Aber abscheulig kalte Füße wie der Tod, anhaltend. Ich esse allerlei durch einander, fast aus Verzweifelung, und werde den Abend so äußerst elend, daß ich glaube es wäre am letzten mit mir. [...] Husten läßt nach aber Todeskälte in den Füßen!!! [...] Abends einen fürchterlichen Blitz durch den Kopf. [...] Den Morgen 3 Tassen Tee. aber gestern und heute der Urin nicht um, und sonst auch leidlich. [...] Rückenschmerzen und wieder ganz schlecht. (SK 408-413)
Lichtenberg betreibt unentwegt das Studium seiner Hypochondrie. (Vgl. Κ 22) Er reflektiert über das Nägelknabbern (vgl. Κ 270), über die Wirkung des Ohrenzuhaltens auf das »kränkliche Sausen« im Gehör (J 1334) und über die Gefahren des Niesens (vgl. L 156). Diese ständige Reflexion über den eigenen Körper führt schließlich zur Unfähigkeit der Selbstbeobachtung: »Ich war zuweilen nicht im Stande zu sagen ob ich krank oder wohl war.« (J 459) Die Hypochondrie macht Lichtenberg äußerst sensibel und empfindlich gegenüber der Umwelt und veranlaßt ihn nach eigenen Angaben zu einem krankhaften Egoismus. (Vgl. J 337) Zuweilen wird er sogar von Wahnvorstellungen übermannt. So hat er im Fieber oder kurz vor dem Einschlafen Halluzinationen, die für ihn abstrakte Begriffe vollkommen körperlich werden lassen, so daß er etwa den »Satz des Widerspruchs« sogar essen kann. (Vgl. D 528) Lichtenberg gelingt es aber, seine Hypochondrie, seinen Wahn ins Positive zu wenden. Die besten Gedanken habe man im »Fieber-Rausch«. (Vgl. Ε 438) Sein Nervenleiden gehe mit einer größeren Sensibilität seines Körpers einher. (Vgl. J 252) Ja, Lichtenberg spricht sogar von der »Hermeneutik der Hypochondrie.« (J 770) Erst der kranke Mensch denkt autonom, individualistisch und innovativ, denn: »Sobald einer ein Gebrechen hat, so hat er seine eigene Meinung.« (G 86) 24 Der wahnhafte Einfall könne durchaus klug sein, da er das »Überspringende« im Denken fördere und somit unkonventionelle Ideen hervorbringe. (J 529) An anderer Stelle spricht Lichtenberg die Empfehlung aus, Neugeborenen einen Schlag auf den Kopf zu geben, um die Symmetrie ihrer Gehirne dauerhaft zu irritieren. (Vgl. Ε 147) In diesem Sinne plädiert er für eine Philosophie, die »nicht recht bei Trost« (L 239) ist und möchte auch als Wissenschaftler von »Rasenden« im »Tollhauszustand« (J 1818) lernen.25
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25
hatte. Er hatte drei Klassen gemacht: die zylindrischen, sphärischen und kuchenförmigen.« (G 161) Vgl. auch: »Vielleicht kömmt es noch dahin, daß man die Menschen verstümmelt, so wie die Bäume, um desto bessere Früchte des Geistes zu tragen.« (J 41) Die These, daß »Genie eine Art von Krankheit ist« (B 379), ist natürlich nicht un-
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Jede wissenschaftliche Beobachtung der Wirklichkeit stößt desto mehr auf den Wahnsinn, um so tiefer sie schaut; überall lauert das Wahnhafte, das Unbegreifliche (vgl. F 640), das Lichtenberg in das Zentrum seiner Reflexionen stellt. Auch die Quantenphysiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachten ihr Erschrecken vor dem Unbegreiflichen noch zum Ausdruck. Nach der immer weiteren Ausdifferenzierung physikalischer Theorien standen Werner Heisenberg und Niels Bohr vor fluktuierenden Teilchen, die sich scheinbar außerhalb von rationalen Definitionen des Raumes und der Zeit bewegten. Dieses Moment der »Plötzlichkeit« - um mit Karl Heinz Bohrer zu sprechen, der »Plötzlichkeit« als ein Erleben des Aufbrechens von Zeit- und Raumkategorien definiert, wie es sich insbesondere im Zustand des Schmerzes manifestiert^ - nahm man noch als dramatische Begegnung mit dem Unbegreiflichen wahr, was einige Physiker in den Buddhismus trieb27 und Niels Bohr zu der Bemerkung veranlaßte, daß man die Quantentheorie nicht verstehen könne, wenn man nicht von ihr schockiert sei.28 Bekanntlich wurde der Mensch durch die Quantenphysik auf sich selbst zurückgeworfen, da er nun plötzlich kein neutrales Erkenntnissubjekt der objektiven Natur mehr war, sondern zum aktiven, partizipierenden Beobachter wurde. Lichtenberg selbst hatte auf die Möglichkeit der schockartigen Erfahrung von philosophischen Erkenntnissen hingewiesen (vgl. F 959) und schon 150 Jahre vorher formuliert, was im Anschluß an die Quantentheorie in weiten Teilen der Wissenschaft zu dämmern begann: das Wissen über die Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis. Dieses muß aber in der Tat zunächst als subversiv, gefährlich und wahnhaft gelten. Denn wie lassen sich jetzt noch stabile Entitäten begründen? Wie läßt sich jetzt noch Wissenschaft legitimieren? Im abendländischen Diskurs der Aufklärung wurde das Wissen über das Nichtwissen an den Rand gedrängt, obwohl die klügsten Köpfe schon immer geahnt hatten, daß irgendetwas nicht stimmen konnte. Freilich gab es in den Naturwissenschaften immer einen aufklärerischen Skeptizismus, doch dabei handelte es sich eher um eine Art Optimismus, die Erkenntnis werde sich im Zuge der Entwicklung der Wissenschaften schon noch einstellen. Der ketzerische Zweifel an der Möglichkeit zur Gewißheit an sich blieb im Privaten verborgen.
problematisch, da sie in diffamierender Weise gegen »Genies« in Wissenschaft und Kunst gewendet werden kann. Ein solch problematischer Gebrauch dieser These ist bei Lombroso (1887) konstatierbar, durch den die Auffassung von Korrelationen zwischen Genialität und Wahnsinn eine umfassende Verbreitung erfuhr. 26 Vgl. hierzu Bohrer 1981, v.a. S. 139ff. 27 Vgl. etwa Davies, Brown 1993, 23f. Prominentes Beispiel für die Verbindung von Physik und Buddhismus ist freilich Capra 1992. 28 Vgl. Davies, Brown 1993, S. 7.
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Lichtenberg kann nicht begreifen, daß Wissenschaft weithin an der Oberfläche verharrt. Über die Universitäten seiner Zeit schreibt er: Man schafft Professoren an, hoffnungsvolle junge Leute, man schafft Bücher an, liest, exzerpiert, räsoniert sich weiß, gelb, schwindsüchtig, und frigid und impotent. Und was ist denn am Ende der ganze Nutzen bisher noch in Deutschland gewesen? Wackere Advokaten, auch allenfalls wackere Richter und brave Amtsleute, das ist wahr. (E 455)
Lichtenberg, der Wissenschaft als Leidenschaft betreibt und sich seinem Denken, seinem Beobachten bis zum Wahnsinn hingibt, erregt sich über die Biederkeit der Universitätsabsolventen, die das Gefährliche, Subversive und Wahnhafte wissenschaftlicher Beobachtung nie kennengelernt haben, er polemisiert gegen das »Gehustel (tussilatio) der Selbstgenügsamkeit« (J 777), gegen die Harmlosigkeit und Konsequenzlosigkeit des Denkens. Indes hat der verleugnete Wahnsinn schon längst gleichsam unsichtbar Einzug in die Wissenschaften gehalten und die Rationalität unterirdisch subvertiert. Die verdrängte Körperlichkeit schleicht sich getarnt als Theorie wieder in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Zur Illustration sei eine Passage der Psychoanalytikerin Melanie Klein zitiert: Diese Phase [die sadistische beim Kleinkind] wird durch die oralsadistische Begierde, die Brust resp. die Mutter zu fressen, eingeleitet, klingt in der früheren analen Stufe ab und umfaßt nach meinen Erfahrungen die höchste Blüte des Sadismus. Ihr Hauptstreben ist darauf gerichtet, sich den Inhalt der Mutter anzueignen und die Mutter mit allen Mitteln des Sadismus zu zerstören. [...] Das Kind erwartet, im Innern der Mutter den Penis des Vaters, Exkremente und Kinder, die es eßbaren Stoffen gleichsetzt, zu finden.29
Lichtenberg hat einmal darauf hingewiesen, daß das nach dem Menschenbild der Gelehrten erschaffene Individuum im Irrenhaus landen würde. (Vgl. F 33) Bei Melanie Klein wird uns drastisch vor Augen geführt, wie das verdrängte Körperliche auf wahnhafte Weise in die Wissenschaft zurückkehrt, ohne daß es als Wahnsinn deklariert wird. Das Beispiel ist freilich relativ willkürlich gewählt, unzählige andere Belege ließen sich finden. Selbst die materialistische Naturwissenschaft, die sich immer als Gegenpol des Irrationalen sah, ist ein schier unerschöpfliches Reservoir für die These von der Anwesenheit des Wahnsinns in den Wissenschaften. So trieb etwa der Biologismus des 19. Jahrhunderts die seltsamsten Blüten. Ernst Haeckel - einer der renommiertesten
29 Klein 1962, S . 3 0 . Friedrich A. Kittler hat darauf hingewiesen, daß Wahnsinn und die Wissenschaft vom Wahnsinn, nämlich die Psychoanalyse, kaum voneinander zu unterscheiden sind. Vgl. Kittler 1987, S. 298ff., S. 316ff.
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Biologen seiner Zeit - machte Vorschläge, wie die als Substanz gedachte Seele im materialistischen Sinne unsterblich werden könne: Man könnte dann die Seele, welche im Momente des Todes >ausgehaucht< wird, auffangen, unter sehr hohem Druck bei niederer Temperatur kondensieren und in einer Gasflasche als >unsterbliche Flüssigkeit< aufbewahren (Fluidum animae immortale). Durch weitere Abkühlung und Kondensation müßte es dann auch gelingen, die flüssige Seele in einen festen Zustand überzuführen (>Seelenschnee«). Bis jetzt ist das Experiment noch nicht gelungen. 3 0
In einer Art re-entry kommt die aus dem wissenschaftlichen Diskurs verdrängte Religion wieder zum Vorschein. Verwiesen sei hier nur auf die »wissenschaftliche« Untermauerung von wahnhaften Ideologien, wobei gerade die wissenschaftlich erzeugte Wahrheitsfiktion die gesellschaftliche Realisierung etwa sozialdarwinistischen oder marxistischen Gedankenguts forciert haben mag. Im Zuge der Realisierung solcher Systeme entpuppte sich aber auf evidente Weise deren Wahnsinn. Den Wahnsinn gegenwärtiger Theoriedesigns wird man freilich erst in der zeitlichen Distanz recht überblicken. Der mit einem emphatischen Wahrheitsanspruch einhergehende Drang zur vollkommenen wissenschaftlichen Kolonialisierung der ganzen Welt und damit auch des Irrationalen hat dazu geführt, daß der Wahnsinn unter dem Banner der Rationalität, der Wahrheit und der Objektivität unbemerkt Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs hielt. Die Wissenschaft selbst hat - um die Metaphorik Melanie Kleins beizubehalten - das Irrationale gefressen, weil sie dort Geheimnisse (vielleicht eine Art Penis) zu entdecken hoffte, und sie hat sich dabei vergiftet. Wenn Lichtenberg halluziniert, tut er es bewußt, ohne jeglichen Wahrheitsanspruch. Er relativiert seine Phantasien und kehrt immer wieder zur rationalen Beobachtung zurück. Da er um die Beschränktheit der Wissenschaft weiß, versucht er gerade nicht, das Irrationale vollkommen zu rationalisieren. Lichtenberg ist sich vielmehr bewußt, daß es Unsagbares, Undenkbares und Unbegreifliches gibt.31
3. Die kurzsichtige Beobachtung »Die edle Einfalt in den Werken der Natur hat nur gar zu oft ihren Grund in der edeln Kurzsichtigkeit dessen, der sie beobachtet.« (H 5) Mithin gibt es gemäß Lichtenberg bei der wissenschaftlichen Beobachtung einen »blinden Fleck«, eine unhintergehbare »Kurzsichtigkeit«, die darin besteht, daß wir die
3
0 Haeckel 1984, S. 258. 31 Vgl. Kap. 4.
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Natur nur mit menschlichen Kategorien beobachten können, indem wir Äquivalenzen zwischen Heterogenem konstruieren, ohne jemals das Angesicht der »Wahrheit« zu erblicken. (Vgl. A 17) Wissenschaft muß mit dieser prinzipiellen Kurzsichtigkeit, mit dieser Unmöglichkeit eines absoluten Wissens leben. Also reflektiert Lichtenberg, ob Universitäten in einigen Jahrhunderten nicht wieder »Unwissenheit« anstatt »Weisheit« herstellen werden. (Vgl. Κ 236) Es wäre wohl übertrieben zu sagen, daß die Universitäten derzeit Unwissenheit herstellen; allerdings ist die Wissenschaft im 20. Jahrhundert zunehmend auf ihre eigenen Grenzen gestoßen (während paradoxerweise gleichzeitig der Umfang des pragmatisch erfolgreichen Wissens exponential anstieg). Zum Beispiel bringt der wissenschaftstheoretische Diskurs des sogenannten »Radikalen Konstruktivismus« die Beschränktheit menschlicher Erkenntnis gegenwärtig zum Ausdruck, indem er auf die autoreferentielle Geschlossenheit des Bewußtseins verweist, das schon aus neurophysiologischen Gründen keinen unmittelbaren Zugang zur Realität haben kann. Dies impliziert, daß Beobachtungen der Wirklichkeit, aber auch Beobachtungen von Texten und Kunstwerken niemals ihre Gegenstände objektiv erfassen können. Vielmehr handelt es sich bei jeder Beobachtung um eine Interpretation, um eine wirklichkeitskonstituierende »Konstruktion«, die vom jeweiligen Beobachter abhängig ist. Daß unsere Konstruktionen der Wirklichkeit in hohem Maße Ähnlichkeiten aufweisen, ist durch biologische Konstanten und soziale Kontrolle gewährleistet .32 Wenn aber konstruktivistische Grundannahmen akzeptiert werden, stellt sich die Frage, inwieweit diese Konsequenzen für die wissenschaftliche Praxis haben können. Es ist zu beobachten, daß Konstruktivismus trotz der Einsicht in die prinzipielle Unmöglichkeit, die Realität objektiv zu erfassen, zumindest in der Praxis weiterhin in hohem Maße »realistisch« verfährt. Zwar fordert Emst von Glasersfeld auch im Hinblick auf wissenschaftliche Prozesse die Unhintergehbarkeit des Individuums: »Der Radikale Konstruktivismus beruht auf der Annahme, daß alles Wissen, wie immer man es auch definieren mag, nur in den Köpfen von Menschen existiert und daß das denkende Subjekt sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann.«33 Dennoch ist dieser Empirismus in der Praxis hochgradig an den eindimensionalen Blick, an autoritative Kontrolle, Tradition, Rationalität und an die - wenngleich: intersubjektive - Wirklichkeit gebunden:
32
Zur Einführung in den Radikalen Konstruktivismus vgl. etwa Glasersfeld 1996, Rusch 1987, Schmidt 1988. 33 Glasersfeld 1996, S. 22.
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>Empirisch forschen< kann dementsprechend bestimmt werden als Herstellung logischer, pragmatischer und sozialer Stabilitäten [...], mit denen Wissenschaftler wie mit unabhängigen Gegenständen kommunikativ umgehen. Alles was zu dieser Stabilitätskonstruktion argumentativ erfolgreich herangezogen werden kann, fungiert je nach Kriterium und Kontext - als Datum oder Beleg.34
Logik ist aber der Inbegriff der Orientierung an Autorität. Stabilität wird durch Übereinstimmung mit der Tradition konstruiert. Ein Beleg belegt erfolgreich genau dann etwas, wenn er mit den Konventionen des Wissenschaftssystems übereinstimmt. Und was ist eigentlich in der Praxis der Unterschied zwischen »mit unabhängigen Gegenständen umgehen« und »wie mit unabhängigen Gegenständen umgehen«? Das Festhalten an einem eher traditionell ausgerichteten Empirismus rührt sicherlich von den Anfeindungen her, denen Konstruktivismus zunächst ausgesetzt war. Es mag auch in einer gewissen Ratlosigkeit darüber begründet liegen, wie man angesichts der Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis in der wissenschaftlichen Praxis zukünftig verfahren soll - also macht man weiter wie bisher. Kritiker des Konstruktivismus haben durchaus recht, wenn sie behaupten, Konstruktivismus würde sich angesichts der Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis selbst a u f h e b e n .35 Konstruktivismus hebt sich in der Tat genauso selbst auf, wie sich prinzipiell jeder wissenschaftliche Diskurs selbst aufhebt. Freilich wird solche Kritik normalerweise in der Furcht geäußert, Konstruktivismus impliziere eine anarchistische Wissenschaft, wie sie etwa Paul Feyerabend konzipiert hat36, und damit den endgültigen Untergang des Abendlandes. Derartige Kritik wurde von konstruktivistischer Seite mit dem Argument zurückgewiesen, man akzeptiere weiterhin wissenschaftliche Rationalität - zwar nicht mehr im Sinne einer ontologischen Kategorie, aber immerhin als sich »intersubjektiv« konstituierende Konvention.37 Möglicherweise führt aber der alleinige Anschluß von Wissen an die soziale Konstruktion von Wirklichkeit zu einer »Ontologie« der Intersubjektivität. Wenn man die Unmöglichkeit von Erkenntnis formuliert, dann kommt man nicht umhin, auch die eigene Relativität zu reflektieren. Ich sehe aber nicht, wo Konstruktivismus eine innovative Wissenschaftspraxis der Skepsis begründet hat. Die Furcht vor der »Anarchie« des Konstruktivismus, vor einem »wilden« konstruktivistischen Blick haben sich als unbegründet erwiesen. In diesem Sinne wäre die Bezeichnung »Radikaler Konstruktivismus« ein noch
34 Schmidt 1994a, S . 4 4 f . 35 Zur Konstruktivismus-Kritik vgl. z.B. Roth 1994, S. 312ff., Rusch 1987, S. 204ff., Schmidt 1987a, S. 39ff. 36 Vgl. z.B. Feyerabend 1977. 37 So etwa Schmidt 1987a, S. 34ff., S. 39ff.
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nicht eingelöstes Versprechen. Man kommt nicht umhin, dem Konstruktivismus eine Tendenz zu unterstellen, den eigenen blinden Fleck unsichtbar zu machen und das eigene Scheitern verschämt zu verschweigen. Könnte dieses sogenannte »Scheitern« aber nicht auch als produktive und innovative Kategorie beschrieben werden? Allein Bernd Scheffer hat aus konstruktivistischer Sicht für eine essayistische Praxis plädiert, die komplementär zum wissenschaftlichen Alltagsgeschäft besteht: Man braucht das essayistische, voreilige, übertreibende, riskante, eigenwillige, intelligente, kreative, nicht-intersubjektive Denken, komplementär zum jeweiligen empirischen Wissen. Man braucht die halluzinatorische Sonder-Beobachtung; man kann nicht erwarten, daß empirische Mehrheiten sofort alles beobachten (und dazu noch mit empirischen Methoden). 38
Zugleich müßte eine solche essayistische Praxis, wie ich anläßlich Lichtenberg ergänzen würde 39 , im Diskurs der Wissenschaft immer wieder auf die Unmöglichkeit eines absoluten Wissens aufmerksam machen, Wahrheitsansprüche relativieren und die blinden Flecken rationaler Beobachtung aufzeigen. Bernd Scheffer hat mit seinem Plädoyer noch ein - mittlerweile von ihm relativiertes - pathetisches Bekenntnis zum sozialen Wandel der Wissenschaft verbunden: Nur ein solcher Essayismus ermögliche Innovationen.40 Man mag diese These insoweit relativieren, als Sonder-Beobachtung bzw. Essayismus zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den wissenschaftlichen Wandel darstellt: Die Gründe für wissenschaftliche Paradigmenwechsel sind komplex (zum Beispiel müssen Sonder-Beobachtungen erfolgreich kommuniziert werden, um Auswirkungen zu haben), aber ohne Selbstirritation, ohne Selbstzweifel, ohne Häresien und ohne die Produktion von Paradoxien würde der wissenschaftliche Diskurs stillstehen. Die Systemtheorie, wie sie Niklas Luhmann formuliert hat, ist zwar mit konstruktivistischen Grundannahmen kompatibel, geht aber dennoch einen anderen Weg. Luhmann entwirft innovativ, konstruktiv und hypertroph eine höchst komplexe Theorie, deren Stärke ihre logische Konsistenz ist, die aber gerade deshalb so gut funktioniert, weil - wie in der Mathematik - die körperlich-empirische Erfahrung des Menschen für das Theoriedesign irrelevant ist. Es ist gänzlich irrelevant, ob je ein Mensch soziale Systeme etwa beim sogenannten »Interpenetrieren« beobachtet hat.41 Die Systemtheorie Luhmanns interessiert sich dafür, wie soziale Systeme beobachten, wobei ein soziales
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Scheffer 1992, S. 50. Zur essayistischen Praxis Lichtenbergs vgl. Kap. 4. 40 Vgl. Scheffer 1992, S. 149ff. 41 Zur Abweisung empirischer Forschung bei Luhmann vgl. auch Haferkamp 1987. 39
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System als Kommunikationszusammenhang definiert wird, der relativ unabhängig vom individuellen Bewußtsein verläuft, obwohl er ohne dieses nicht möglich wäre.42 Luhmann formuliert selbst sein Desinteresse daran, wie psychische Systeme beobachten: »Würde man für ein psychisches System optieren, stünde man vor der Wahl: welches von den etwa fünf Milliarden? Und die Entscheidung könnte dann praktisch nur lauten: ich selber.«« Sein eigenes psychisches System möchte Luhmann nun gerade nicht beobachten, so daß sein eigenes persönliches Begehren und seine eigene Relativität scheinbar unsichtbar bleiben. Gerade diese Bescheidenheit bedingt allerdings die Vermessenheit der Systemtheorie, scheinbar unabhängig von einem individuellen Beobachter alle Phänomene zu erfassen. Somit entsteht aber der Eindruck, daß »Luhmanns informationstheoretische Spekulation nur ein kleines Sprachspiel neben anderen [ist], die von der umfassenden Erzählung über die Letztbegründung des Seins träumen.«44 Zur Auffassung, daß die Systemtheorie zur Cytologie tendiert, trug Luhmann freilich selbst bei, wenn er 1984 schrieb: »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt. Sie beginnen also nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel .«45 Im Zuge einer konstruktivistischen Fundierung der Systemtheorie hat Luhmann diese Auffassung relativiert; in seiner eigenen Sicht war diese Position freilich schon 1984 in einem nicht ganz nachvollziehbaren Sinne konstruktivistisch gemeint .46 Wie auch immer - bei Luhmann hat man immer den Eindruck, er glaube an Systeme. Unsagbares, Unbewußtes, Körperliches und Organisches wird aus der Systemtheorie systematisch v e r d r ä n g t insoweit es sich nicht binär codieren, nicht beobachten, nicht in Sinn überführen läßt.48 Systemen, sagt Luhmann, sei alles nur in Form von Sinn zugänglich, der jeweils nach Maßgabe der
42 Zum Verhältnis von Bewußtsein und Kommunikation vgl. Luhmann 1988, S. 1 Iff. 43 Ebd., S. 63. 44 Bartels 1990, S. 469. Lichtenberg hat hinsichtlich vermessener Wahrheitsansprüche auf Konvergenzen zwischen Mathematik und Religion hingewiesen: »Es gibt so genannte Mathematiker, die sich gerne eben so für Gesandte der Weisheit gehalten wissen möchten, als manche Theologen für Gesandte Gottes, und eben so das Volk mit algebraischem Geschwätz, das sie Mathematik nennen, als jene mit einem Kauderwelsch hintergehen, dem sie den Namen biblisch beilegen.« (J 553) 45 Luhmann 1984, S. 30. 46 Vgl. Luhmann 1992b, S. 64f., v.a. Fn. 65. 47 Das Inkommunikable auch systemtheoretisch in den Griff zu bekommen, versuchen indes Niklas Luhmann und Peter Fuchs in »Reden und Schweigen« (1989). Es fragt sich allerdings, ob man hier nicht zu sehr ins Esoterische abgleitet. Zu »Reden und Schweigen« vgl. auch den Beitrag von Michaela Kenklies in vorliegendem Band. 48 Zum systemtheoretischen Sinnbegriff vgl. auch den Beitrag von Oliver Jahraus im vorliegenden Band.
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Struktur eines Systems konstruiert wird. Es ist plausibel, daß etwa ein literarischer Text für das Wissenschaftssystem einen anderen Sinn als für das Wirtschaftssystem hat. Luhmann bestimmt Sinn als unhintergehbare, nämlich als »eine unnegierbare, eine differenzlose Kategorie«^, da auch das Sinnlose für das jeweilige System einen Sinn annimmt (z.B. interpretiert die Literaturwissenschaft auch scheinbar »sinnlose« Texte). Ohne jegliche Skrupel, Paradoxien unsichtbar zu machen, sagt Luhmann kurz darauf, daß es doch NichtSinn gibt: »Genuß, Faktizität, Existenz« und »die religiöse Erfahrung der Transzendenz«50, irritierende Erfahrungen also, »deren Sinn das nicht decken kann, was sie meinen« .51 Es soll uns nicht weiter beschäftigen, daß Luhmanns Sinnkonzeption diese Differenz eigentlich als grundlegend für jede Sinnkonstruktion voraussetzt. Für Luhmann ist alles, was nicht sinnhaft in Systemen prozessiert wird, unwesentlich; es »muß diese Form von Sinn annehmen; sonst bleibt es momenthafter Impuls, dunkle Stimmung oder auch greller Schreck ohne Verknüpfbarkeit, ohne Kommunikabilität, ohne Effekt im System.«52 Dies impliziert freilich die Invisibilisierung jeglichen Begehrens, das im Anschluß an Lichtenbergs Sichtweise jedes soziale oder psychische System subvertiert. Alles, was nicht sinnhaft wahrgenommen und prozessiert wird, existiert nicht.53 Man mag Gefühle, körperliches Begehren, Wahnhaftes usw. nur sinnhaft wahrnehmen können, dennoch ist »Nicht-Sinn« - auch in Systemen auf eine Weise anwesend, die sich diesem sinnhaften Prozessieren entzieht. Angesichts mancher invisibilisierter Paradoxien der Systemtheorie mag man sich aber fragen, ob gesteigerte Komplexität und Rationalität nicht an einem Punkt gleichsam kippen und sich somit selbst in ihr Gegenteil, ins Wahnhafte verkehren. In diesem Zusammenhang wäre auch daran zu erinnern, daß die »wahnhaft« anmutenden Kompositionen der Zwölftonmusik auf einem rigorosen logischen System beruhen. Oliver Jahraus hat sich aus systemtheoretischer Sicht gegen eine essayistische Wissenschaftspraxis ausgesprochen. Es sei Bestimmung der Wissenschaft, die auch von der Systemtheorie anerkannte grundlegende Instabilität von Sinn zu invisibilisieren. Das Wissenschaftssystem beruhe auf dem binären Leitcode »wahr/falsch« und könne somit nicht umhin, Beobachtungen einen wahren Sinn zu unterstellen .54 Stanley Fish hat eine solche Auffassung prä-
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Luhmann 1984, S. 96. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 98. Ähnlich argumentiert auch Ort 1996, S. 245ff. Vgl. auch den Beitrag von Nina Ort in vorliegendem Band. 54 Siehe Jahraus 1997a, ohne Seitenangabe.
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gnant auf den Punkt gebracht: »If one believes what one believes, then one believes that what one belives [sic!] is true, and conversely, one believes that what one doesn't believe is not true, even if that is something one believed a moment ago.«55 In diesem Zitat deutet sich aber an, daß es möglich ist, einen konstruierten Sinn nachträglich zu relativieren. Wenn es auch unmöglich ist, einer wissenschaftlichen Beobachtung zu einem bestimmten Zeitpunkt tj einen wahren Sinn zuzuordnen (d.h. sie zu interpretieren) und gleichzeitig die Instabilität dieses Sinns wahrzunehmen, so ist es dennoch möglich, zu einem darauffolgenden Zeitpunkt t2 die prinzipielle Instabilität des zum Zeitpunkt t, konstruierten Sinns sichtbar zu machen. Es wäre Aufgabe des Essayismus, sich selbst immer wieder zu destabilisieren, und zwar auf eine Weise, in der t1 (Zeitpunkt der Sinnkonstruktion) und t2 (Zeitpunkt der Sinndestabilisierung) möglichst nah beisammen liegen. Der Essay würde somit quasi-simultan zeigen, daß alles ganz anders sein könnte. Oliver Jahraus hingegen meint, daß der Code des Wissenschaftssystems (wahr/falsch) so exklusiv sei, daß »Kommunikationsbeiträge oder -ereignisse ihn entweder vollständig oder gar nicht umsetzen«s6. Wenn man aber bedenkt, wie viele Erscheinungsformen der Wahrheit es auf dem Gebiet der Wissenschaft gibt, entsteht doch der Eindruck, daß alles, was an Universitäten entsteht, irgendwie als »wissenschaftlich« verkauft wird, wobei sich der Begriff der »Wahrheit« als äußerst dehnbar erweist. Der Code des Wissenschaftssystems ist weniger exklusiv, als es Jahraus darstellt. Somit kann man ihm auch nicht folgen, wenn er den wissenschaftlichen Essayismus gerade deshalb verwirft, weil er nicht mehr auf eindeutigen Wahrheitskriterien beruht: »Für das Essayistische ist es entscheidend, daß es im Belieben steht, ob die weiteren Kommunikationen einen bestimmten Code anwenden oder nicht.«57 Ich denke, daß auch der wissenschaftliche Essayismus auf einem freilich entschärften Code »wahr/falsch« beruhen kann. Auch der Essayist möchte nicht nicht recht haben, er wird Standpunkte vertreten, selbst wenn er sie wieder relativiert, zurücknimmt und in Frage stellt. Warum sollte man nicht etwa über Lichtenbergs These, daß Genialität mit Krankheit korreliert, diskutieren können? Essayismus erweitert zwar den rein auf rationaler Beobachtung beruhenden Wahrheitsbegriff, indem er auch Individuelles, Emotionales und Körperliches integriert; dennoch müßte auch der wissenschaftliche Essay grundsätzlich diskursiv sein - ansonsten handelte es sich um einen rein literarischen Text. Da der wissenschaftliche Essay also in der Regel mit den Mitteln der konventionellen Sprache arbeiten sollte (was Abweichungen nicht ausschließt), sind
55 Fish 1980, S. 361. 56 Jahraus 1997a, ohne Seitenangabe. 57 Ebd.
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auch die Anschlußkommunikationen in einer essayistischen Wissenschaftspraxis nicht beliebig. Das Problem mag bei einer weniger rigorosen Auslegung von Wahrheitskriterien in einer gewissen Vagheit des Wahrheitsbegriffes bestehen, wie ich einräume; Lichtenberg spricht vom »Wahrheits-Gefühl« (J 439). Allerdings hat die freilich invisibilisierte Vagheit schon immer die geisteswissenschaftliche Praxis bestimmt; man kann ja nicht behaupten, z.B. die Gadamersche Hermeneutik sei hard science. Die Funktion des Essays besteht aber darin, daß er das traditionelle Wissen durchaus häretisch in Frage stellt und irritiert. Wenn Jahraus schreibt, daß Essayistik »prinzipiell sozial differentiell funktionslos«58 bleiben müsse, dann wäre zu fragen, wie Ausdifferenzierung, Wandel oder Paradigmenwechsel im sozialen System der Wissenschaft überhaupt zustande kommen soll, wenn nicht durch Irritation. Wäre Wissenschaft wirklich so exklusiv, wie Jahraus meint, würde es gerade keine Paradigmenwechsel mehr geben. Vielmehr erfüllt Essayistik die Funktion, gleichsam der Motor wissenschaftlichen Wandels zu sein und somit das System am Leben zu erhalten. Würde das soziale System der Wissenschaft nicht ständig mit Paradoxien, Skepsis und Häresien konfrontiert, dann würde es gleichsam in Bewegungslosigkeit erstarren. Wenn die Systemtheorie glaubt, ein unumstößliches Gebäude errichten zu können, das jegliche Ungenauigkeit und Vagheit aus dem wissenschaftlichen Diskurs eliminiert, so ist das utopisch und zugleich anachronistisch: Die Wissenschaft hat doch inzwischen selbst die antilogozentrischen Beiträge des Poststrukturalismus hingenommen, ohne daß deren wissenschaftliche Bedeutsamkeit noch ernsthaft in Frage gestellt wird. In der essayistischen Praxis des französischen Poststrukturalismus geht es explizit um ein körperliches, lustvolles und poetisches Schreiben .59 Indes kann man sich auch anläßlich Poststrukturalismus des Eindrucks nicht erwehren, daß hier zuweilen ein geradezu tyrannischer und megalomanischer Wahrheitsanspruch aufrechterhalten wird, der sich freilich auf die Wahrheit des Unbewußten, des »Anderen«, der Differenz bezieht. Selbstrelativierung, Selbstironie, Skepsis und Rückbindung an die Empirie sind dem pathetischen Philosophieren vieler Poststrukturalisten fremd, so daß der Eindruck des Esoterischen nicht immer ganz von der Hand zu weisen ist. So identifiziert sich Jacques Lacan gerne mit der Wahrheit selbst: »Hommes, ecoutez, je vous en donne le secret. Moi la verite, je parle« 60, und das ist sicherlich ernst gemeint. Man müßte in Anlehnung an das Denken Lichtenbergs den Poststrukturalismus zuweilen zur Vernunft rufen, genau so, wie man die Systemtheorie zur Unvernunft rufen sollte. Es wäre
58 Ebd. 59 An prominenter Stelle sind hier Barthes 1974 und Kristeva 1995 zu nennen. 60 Lacan 1966, S. 409.
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notwendig, daß man auch in den verschiedenen Theorie-Diskursen das Nietzsche-Wort »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«6i endlich ernst nimmt.
4. Die sinnliche Beobachtung Heute habe ich mit einem englischen Tubus der 120 Reichstaler kostet in einem entlegenen Haus die Zärtlichkeit eines Kammermädchens und eines Bedienten beobachtet, der Auftritt schien dem Akteur mehr als 120 Taler wert zu sein. Der Kerl lag wahrlich einmal auf den Knien, ich konnte ihn ganz übersehen, aber seine Hand konnte ich nicht finden, glaube ich, und wenn mein Tubus 500 gekostet hätte. Die Szene war sehenswert .62 Man muß sich Lichtenberg als Voyeur vorstellen, der heimlich mit dem Fernrohr hinterm Fenster sitzt. Der Voyeur beobachtet leidenschaftlich - mit Leib und Seele. Sein Blick schweift umher - neugierig, lustvoll, begehrend. Er bleibt in Distanz, er begegnet aber seinem Objekt mit Sympathie und Interesse. Er weiß, daß er nicht wie der Spion im Dienste einer übergeordneten Sache - der Wahrheit - beobachtet, sondern für sich selbst. Anläßlich Lichtenberg deutet sich die Möglichkeit einer sinnlichen Wissenschaft an: Unsere Philosophen hören zu wenig die Stimme der Empfindung oder vielmehr sie haben so selten feines Gefühl genug, daß sie bei jedem Vorfall in der Welt immer mehr das angeben was sie wissen, als wie was sie dabei empfinden, und das ist nichts wert, dadurch kommen wir der eigentlichen Philosophie keinen Schritt näher. Das, was der Mensch wissen kann ist das grade auch das was er wissen soll? (E 423) Beobachtung mit allen Sinnen: Das sinnliche Wissen bedarf der Anschlußfähigkeit an sinnliches Erleben, an die Materialität des Körpers. Sinnlichkeit heißt nicht Empirie im herkömmlichen Sinne, ist diese doch an die wissenschaftlichen Beobachtungsinstrumente gebunden, die gerade die Distanz zwischen Körper und Erkenntnis bedingen. Wäre es aber in der Tat nicht eine »wahrhafte« Empirie, wenn sie als Empirie mit allen Sinnen betrieben würde? Lichtenberg bekämpfte zwar polemisch die empfindsamen Tendenzen seiner Zeit,63 aber diese Abneigung richtete sich wohl vor allem gegen jene verleugnete, unterirdische Anwesenheit des Sinnlichen, die sich als bürgerliche Neigung zum Kitsch, als romantisches Gefühl oder Empfindsamkeit des Herzens
61 Nietzsche 1971, S. 278 (Morgenröthe, Abschnitt 453). 62 Brief an Johann Christian Dieterich vom 8.4.1772. Siehe Lichtenberg 1994, Bd. IV, S. 64f. 63 Vgl. z.B. Ε 194 und Lichtenberg 1994, Bd. IV, S. 218.
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manifestiert. Die bewußt akzeptierte »Wollust« wird als produktive Möglichkeit von Wissenschaft aufgefaßt: »Jedermann sollte wenigstens so viel Philosophie und schöne Wissenschaften studieren als nötig ist um sich die Wollust angenehmer zu machen.« (B 41)64 Wissenschaft sollte ihre prinzipielle Kurzsichtigkeit bewußt akzeptieren. Dies hindert sie nicht daran, mehr zu sehen, denn »es ist aber klar, daß Kurzsichtige auch Dinge sehen, die andere Leute nicht sehen.« (H 59) Lichtenberg plante offenbar eine Schrift »Vom zu viel Sehen«. (MAT I 136). Man kann in der Tat mehr sehen, selbst wenn man dann nicht die Wahrheit sieht. Wenngleich jede einzelne Beobachtung zu einem Zeitpunkt tj ihren blinden Fleck hat, kann man diesen zu einem Zeitpunkt t2 sichtbar machen - und dann sieht man mehr. Dies ist die Beobachtung des schweifenden, oszillierenden und surfenden Blicks, der seinen Gegenstand von allen Seiten betrachtet, der zwischen Distanz und Nähe wechselt und der somit nicht eindimensional, sondern lustvoll und sinnlich ist. Das Signum dieses Mehr-Sehens ist aber der Essay. Das sogenannte »aphoristische« Schreiben, das Lichtenberg in seinen »Sudelbüchern« praktiziert, ist eine legitime und zugleich radikale Form des Essays. Lichtenberg hat einen potentiell endlosen Essay geschrieben, der ganz im Sinne postmodernen Denkens weder Anfang noch Ende kennt. Abgeschlossenheit erzeugt die Fiktion von Endgültigkeit und ist Lichtenberg durchaus ein Greuel. (Vgl. MH 41 und F173) Dieser Essay ist ein Zeugnis der Lust an der Beobachtung - an der vagabundierenden Beobachtung aller Wissens- und Phantasiegebiete. Lichtenberg nennt es »das Planlose Umherstreifen« und »die planlosen Streifzüge der Phantasie« (J 1550)65 Dieser Essay dokumentiert, daß es auch in der Wissenschaft eine »Leidenschaft des unbedingten Müssens«66 gibt. Dabei wird thematisiert, was zumindest vor postmoderner Reflexion aus dem offiziellen wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen war - auch Nebensächliches, Banales, Obszönes, Vulgäres: »In den Kehrigthaufen vor der Stadt lesen und suchen was den Städten fehlt, wie der Arzt aus dem Stuhlgang und Urin.« (J990) Lichtenberg bedauert, daß es bisher nur eine Geschichte der wachen, aber nicht der schlafenden Menschen gibt. (Vgl. Κ 68) Vor allem versucht er beim Schreiben mit allen Sinnen wahrzunehmen, er notiert sich nicht nur visuelle Beobachtungen, sondern auch, wie eine Sache riecht, wie sie schmeckt,
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»Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst«, heißt es bei Susan Sontag (1968, S. 18). 65 Das »planlose Umherstreifen« ist freilich eine Praxis, die angesichts des Surfens im Internet höchst aktuell erscheint. Zum Surfen vgl. Scheffer 1997b. 66 Heydebrand 1966, S. 54.
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wie sie sich anhört.67 Diese Art von Empirismus wird durch phantastische Gedankenexperimente durchbrochen; so reflektiert Lichtenberg etwa, wie die Welt aussehen würde, wenn die Menschen als Greise geboren und als Föten sterben würden. (Vgl. J 547)68 Lichtenbergs Schreiben ist aber immer eine oszillierende Bewegung zwischen Rationalem und Irrationalem: »Von der Verwandlung des Wassers in Wein vermittelst Zirkel und Lineal.« (D 242) In diesem oszillierenden Prozeß zwischen Vernunft und Unvernunft kommt das zum Vorschein, was Niklas Luhmann Kontingenz nennt.69 Wie HansGeorg Pott herausarbeitet, entspricht Luhmanns Begriff der Kontingenz dem des Möglichkeitssinns bei Robert Musil, 70 und wie Albrecht Schöne aufzeigt, ist Musils Konzeption des Möglichkeitssinns im wesentlichen durch Lichtenberg vorweggenommen worden J i Der Begriff »Kontingenz« verweist darauf, daß unsere Realität nicht notwendigerweise so sein muß, wie sie ist. Für Lichtenberg ist - wie für Musil - die konventionelle Realität ein Versuch, eine Hypothese, eine Möglichkeit unter anderen. (Vgl. z.B. Κ 69) Eine andere, mögliche Realität zu konstituieren, heißt aber, die Realität anders zu sehen: »Wer den perspektivischen Charakter des Daseins erkennt, hat >Möglichkeitssinnaphoristische< Ich« (S. 133ff.). 76 »[...] und so muß man endlich zu der Philosophie gelangen, die selbst die Notwendigkeit des principii contradictionis leugnet.« (J 942) 77 Vgl. Mautner 1992, S. 47. 78 Zu Lichtenbergs »akustischer Poesie« vgl. z.B. A 134, Β 3 5 6 - 3 5 8 , Ε 436 und Sautermeister 1993, S. 24f.
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visuellen Mitteln, mit Zeichnungen^ und selbsterfundenen Symbolen, etwa für »Beischlaf«, »Urin« oder »Streit«so. Er erfindet lautmalerisch neue Wörter, eine »Wörter-Welt« (J 357), die sich mit vielfältigen Sinnen rezipieren läßt. »Er liebte hauptsächlich die Wörter, die nicht in Wörterbüchern vorzukommen pflegen« (H 90), sagt Lichtenberg wohl über sich selbst. Dies impliziert eine Lust an der Schrift, am Schreiben, an der Sprache. Somit wendet sich Lichtenberg gegen die pure Reproduktion von angelesenem Wissen: »Das viele Lesen ist dem Denken schädlich. Die größten Denker, die mir vorgekommen sind, waren gerade unter allen den Gelehrten die ich habe kennen gelernt die, die am wenigsten gelesen hatten. Ist denn Vergnügen der Sinne gar nichts?« (F 439) Im Akt des Lesens versucht sich die Autorität der Tradition gewaltsam in die Gehirne einzuschreiben, was Lichtenberg als »gelehrte Barbarei« (F 1085) bezeichnet. Er hielt es im Hinblick auf die zu seiner Zeit kursierenden Schriften gegen Onanie für sinnvoller, gegen das Lesen als gegen Selbstbefriedigung zu schreiben si Dies bewog Manfred Schneider zu der schönen Metapher, daß Lichtenberg ein geistiger »Selbstbefriediger« sei.82 Lichtenberg schreibt gegen das Lesen an und plädiert für das lustvolle Schreiben des eigenen Ichs und des eigenen Körpers. »[...] sich aus dem Schutt fremder Dinge herauszufinden, selbst anfangen zu fühlen, und selbst zu sprechen und ich mögte fast sagen auch einmal selbst zu existieren.« (B 264) Dies realisiert Lichtenberg, indem er seine Wissenschaft als Leidenschaft, als »geistige Wollust« (A 126) entwirft. Natürlich ist es nicht möglich, losgelöst von jedem Bezug zur Tradition zu reflektieren; und die provokative Verurteilung des Lesens durch Lichtenberg, der an anderen Stellen das Lesen lobt »3 zielt wohl eher darauf hin, aktiv und kritisch zu lesen,84 sich selbst bewußt für Traditionslinien und Autoritäten zu entscheiden, die nicht dem vorgegebenen Kanon des jeweiligen Fachs entsprechen. Vor allem aber richtet sich diese Kritik gegen die pure Reproduktion von
79 Vgl. z.B. A 142ff., D 209, Ε 241, L 708, das Titelblatt von Heft KA (siehe Lichtenberg 1994, Bd. 2, S. 41), das Titelblatt von Heft F (siehe Kommentar zu Band I und II, S. 395). Vgl. auch Lichtenbergs Beschäftigung mit chinesischen Schriftzeichen (ebd., S. 949). 80 Vgl. Lichtenberg 1994, Kommentar zu Band I und II, S. 1489. 81 Vgl. Schneider 1980, S. 114ff. und bei Lichtenberg J 1150. 82 Vgl. Schneider 1980, S. 116. 83 Zu Lichtenbergs positiver Bewertung des Lesens vgl. Neumann 1976: S. 196. Vgl. auch: »[...] verräterisch, daß er [Lichtenberg etwa in J 1150] gegen das Lesen ausgerechnet ein Buch schreiben möchte« (Neumann 1976, S. 195). 84 Zu Lichtenbergs Begriff des »activen Lesers« vgl. z.B. Gockel 1973, S. 62f.
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autoritativem Wissen, wenn dieses der eigenen Erfahrung fremd bleibt: »Beobachten können wenig[e], lesen alle.«8* Es wird hier nicht gefordert, daß die gesamte Wissenschaft zu einem individualistischen Essayismus übertreten soll, es wird nur behauptet, daß Wissenschaft eines sinnlichen Essayismus bedarf. Es geht also um Komplementarität: »Alles mit der doppelten Rücksicht zu behandeln: 1) mit dem Herzen (nach Gefühlen) 2) mit Vernunft.« (L 379) So wie Lichtenberg für sich gefordert hat, »Gleich an die Grenzen der Wissenschaft zu gehen« (J 1643), würde Essayismus an der Grenze von Literatur- und Kunstsystem anzusiedeln sein: »Wissenschaft vollzieht, beschreibt und erklärt Wahrnehmungs-Konventionen; Literatur und Essay irritieren Wahrnehmungs-Konventionen und bringen halluzinatorisch Neu-Konstruktionen hervor, aber sie tun dies auf unterschiedliche Weise.«M Beim Essayismus handelt es sich also nicht um eine der Vernunft entgegengesetzte Praxis, sondern um ein »Denken auf der G r e n z e « 8 7 - zwischen Vernunft und Körper. Man muß aber kein Plädoyer für die Akzeptanz der Vernunft in den Wissenschaften halten. Die Wissenschaft schafft ohnehin immer weiter (Zweck-)Rationalität. Es geht nicht darum, die Notwendigkeit etwa von mathematischer Physik zu bestreiten. Es geht darum, Freiräume für sinnliches Wissen einzuräumen, da Wissenschaft ohne Intuition schon immer nur auf der Stelle verharrt; nur Gedankenexperimente schaffen Innovationen. Gehören aber nicht die Physiker Werner Heisenberg und Niels Bohr, Georg Christoph Lichtenberg und Robert Musil zu den großen Essayisten, die versucht haben, ihr »hermetisches« Wissen mittels Sprache sinnlich erfahrbar zu machen? Musil sieht gerade sein naturwissenschaftliches Wissen als Ingenieur als Ursache für sein Anders-Denken an.88 Und Lichtenberg nimmt Einsichten der Quantentheorie vorweg, wenn er betont, daß man durch Physik auf »Kantische Philosophie« zurückgeworfen wird (K 313), in deren Zentrum ja das Paradigma von der Unzulänglichkeit der Realität steht. Essayistische Beobachtung würde also wissenschaftliche Anschlußfähigkeit nicht negieren. Anschlußfähigkeit kann trotz der Manifestationen von Körperlichkeit, Häresien und relativiertem Irrationalismus im Essay gewährleistet werden. Essayistische Beobachtung würde die Kompatibilität von wissenschaftlichen Erkenntnissen mit mehrdimensionalen Körpererfahrungen einfordern und somit auch »empirisch« (in einem neuen Sinne) »absichern«. Das Körperliche ist somit zugleich der Ort des Zweifels. Es subvertiert den Geist,
85 MAT I 98. Ergänzung in eckiger Klammer durch den Herausgeber. 86 Scheffer 1992, S. 340. Zur Grenzsituation des Essays vgl. ebd., S. 281ff. 87 Neumann 1976, S . 9 6 . Zum Problemkreis »Vernunft und Gefühl« bei Lichtenberg vgl. ebd., S. 8 6 - 2 6 4 . 88 Vgl. hierzu Schöne 1982, S. 150ff.
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wenn dieser Systeme entwirft, die von jeder Erfahrung abgetrennt sind. Der Eintritt des Körpers in den wissenschaftlichen Diskurs bedingt zwar einen Moment des Ungewissen, der Abweichung - aber ist das Abweichende häufig nicht empirisch evidenter als das harmonische System? Nicht einmal die Planeten bewegen sich auf den ihnen von der Wissenschaft verordneten Bahnen: »Der menschliche Geist wird immer gleichförmiger, je mehr er sich über das Körperliche erhebt. Je näher er aber diesem wieder kömmt, desto häufiger werden die Abweichungen gerade so wie ich bei den Planeten gesagt habe.« (L 618) Wenn eine Reflexion mit Brüchen und Widersprüchen angesichts der Erkenntnis über die Unzugänglichkeit des Wirklichen als »angemessene« Tätigkeit des Geistes erscheint, müßte dann Wissenschaft nicht dem lustvollen Essayismus einen privilegierteren Platz einräumen, als es bislang der Fall ist? Gerade die »Geisteswissenschaften«, die sich zuweilen so ratlos über ihre zukünftige Stellung zeigen, könnten der Ort sein, an dem dieser Essayismus praktiziert wird. Dabei ginge es darum, zwischen X (dem Text des Autors) und Α (der Interpretation) nicht-hierarchische, kontingente, hypothetische, multiperspektivische, interessante und sinnliche Beziehungen herzustellen. Dabei lassen sich keine autoritativen Regeln angeben, wie ein Essay zu gestalten ist, zumal der Begriff des Essayismus einen Bereich der Freiheit bezeichnet. Lichtenberg könnte aber Vorbild sein. In einer Zeit, in der Vernunft und Körperlichkeit in der Gesellschaft eine größtmögliche Forcierung erfahren, müßte Wissenschaft diesem Trend Rechnung tragen .89 Gerade die »Geisteswissenschaften« könnten zunehmend auch zu »Körperwissenschaften« werden. Philosophie, Literatur- und Kunstwissenschaften haben nichts zu verlieren, da die Gesellschaft nicht auf das Wissen darüber angewiesen ist, ob ein Autor mit X eigentlich Α meinte (während sie etwa auf medizinische Rationalität angewiesen ist). Diese Disziplinen könnten zunehmend den Auftrag erfüllen, Nichtwissen sichtbar zu machen, und zudem Interpretationen bereitstellen, die neue, interessante, körperliche Erfahrungen anläßlich von philosophischen, literarischen und künstlerischen Werken formulieren. Was sollte sonst der Zweck von »Geisteswissenschaften« sein? Es wird immer deutlicher, daß das Eigentümliche von Literatur und Kunst gerade in der Bereitstellung von Emotionen besteht. Früher pflegte man davon zu sprechen, daß man anläßlich eines Kunstwerkes bewegt oder erhoben werde. Die moderne Kunst und Literatur ist indes nur noch mit einer Ästhetik des Wahnhaften, des Obszönen, des Schocks oder des Körperlichen beschreibbar. Somit stellte sich für die Kunst- und Lite-
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»Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden - auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus«, beobachtete schon Nietzsche (1968, S. 96). Zur gegenwärtigen Position des Körperlichen in der Gesellschaft vgl. etwa Topitsch 1997.
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raturwissenschaften der Auftrag, diese Erfahrungsmöglichkeiten zu thematisieren. Der Essayismus ist zudem der Ort der wissenschaftlichen Ethik. Die Invisibilisierung des Nichtwissens ist grundsätzlich mit Tyrannei verbunden. Man zwingt Schüler und Studenten, Dinge nachzuvollziehen, die prinzipiell unnachvollziehbar sind. Kein Schüler kann verstehen, warum er unter Androhung von Noten-Gewalt das Licht zeitweise als Welle und zeitweise als Materie beschreiben soll, wenn ihm nicht gesagt wird, daß die Modelle der Physik eben Modelle sind. Der Essayismus ist der Ort der Toleranz. Nur wenn wir uns ständig unseres Nichtwissens vergewissern, sind wir imstande, uns vor Absolutheitsansprüchen zu schützen und das jeweilige Andere zu akzeptieren. Es könnte so sein, es könnte auch anders sein. In diesem Sinne ist es mit Lichtenberg möglich, »Unbegreiflichkeit« pathetisch geradezu als »Gott« zu bezeichnen (L 953)90, wodurch sich freilich Bezüge zur sogenannten »negativen Theologie« ergeben, die vom sich selbst relativierenden Essayismus Lichtenbergs lemen könnte, um mit ihrer grundlegenden Paradoxie umzugehen, die darin besteht, daß man über Gott nichts weiß und dennoch über ihn spricht. »Meine Philosophie ist gar keine Philosophie mehr, sondern das Leben s e l b e r « s c h r i e b der Lichtenberg-Bewunderer Salomo Friedlaender. Könnte nicht Wissenschaft an sich zum Leben selbst werden? Wir brauchen die sinnliche Wissenschaft komplementär zum rein rationalen Denken, und es ist fraglich, ob die von Lichtenberg formulierte Utopie eines wissenschaftlichen Essayismus, der das konventionelle Wissen immer wieder subvertiert, schon in voller Konsequenz verwirklicht worden ist, so daß man sagen könnte: »Wo damals die Grenzen der Wissenschaft waren, da ist jetzt die Mitte.« (H 23)
90 Zum Problemkreis »Lichtenberg und Religion« vgl. auch Löhnert 1992. 91 Friedlaender 1982, S. 5.
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Interpretation, Medieninterpretation - über Analyse und Wissenschaft hinaus Plädoyer für eine selbstverständliche, un(zu)gehörige, essayistische Schreibweise
»distinguere«: 1. trennen, unterscheiden (eigentlich »auseinander stechen«)2. mannigfach verzieren, bunt färben, ausschmücken
1. Einleitung, Übersicht Dieser Aufsatz diskutiert allgemeine Bedingungen der Beobachtung und Beschreibung von Medienprodukten, von Kunst und Literatur. - Die an Texten gewonnenen Beschreibungs-Möglichkeiten reichen für die Potentiale neuerer und neuester Medien, reichen für »Multimedialität« längst nicht mehr aus; deutlich wird zudem, daß die neueren und neuesten Medien nun auch umgekehrt den Blick schulen können für solche »Eigenschaften« der »älteren« Medien, für solche »Eigenschaften« der Kunst und der Literatur, die bislang noch kaum zum Vorschein kommen konnten. Zwar haben die neuen Medien ebenfalls einen erheblichen Textstatus (was fast durchweg übersehen wird), dennoch bleiben auch stark erweiterte, medial geöffnete Textkonzeptionen mit ihren jeweiligen Analyse-Möglichkeiten zumal dann verkürzend, wenn es um die »schwierige« Beobachtung und Beschreibung avancierter, avantgardistischer bzw. experimenteller (Medien-)Kunst und Literatur gehen soll.i
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Ein Teil dieser Probleme ist freilich seit längerem erwartet worden; bei Gadamer liest man: »Jedermann kennt die eigentümliche Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeit sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist jedes Urteil über gegenwärtige Kunst für das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit.« (Gadamer 1965, S.281) Bei Manfred Frank heißt es, »[...] daß die Textbeispiele, die die literarische Hermeneutik zur Illustration ihrer Verfahrensweisen gibt, bevorzugt aus der Vormoderne oder der im weiteren Sinne realistischen Erzähl-Literatur gegebenen werden, so als sei die moderne Literatur nicht vor allem ein Protest gegen die Kategorien der narrativen Kohärenz, der semantischen Ver-
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Interpretation ist in der Krise, weil das, was wir über sie wissen, weil das, was wir bislang praktizieren konnten, kaum noch für historiographische Projekte ausreicht, weil es sicher aber nicht mehr dabei hilft, um avancierte Künste, um experimentelle Medien (und die damit verbundenen Lebensformen) zu beobachten und zu beschreiben. Die »stärksten« Wirkungen anläßlich der Produktion und Rezeption von Kunst und Literatur könnten ja durchaus gerade auch in jenen Resten liegen, die nicht auf Textebenen deutlich werden, die nicht direkt zur Sprache kommen und die auch in den Beschreibungen kaum zur Sprache gebracht werden können. Daß es einem bei Kunst und Literatur gelegentlich »heiß« wird oder »kalt den Rücken runter läuft«, daß es einem jedenfalls »die Sprache verschlägt«, zeigt das u . U . sogar nützliche Fehlen der analytisch-routinierten Sprach-Antworten und Theorie-Antworten im Zuge der »Beobachtung« - betreffend das Inkommunikable, das Unsagbare, das Unerklärliche, die Zwischenräume, die Leere, den »unmarked space«, die Kraft solcher Zeichen, die kaum noch transparent sind hin auf Signifikate und Referenten, betreffend die Abwesenheit aller Differenz, jedenfalls das Aufbrechen von Werk- und Textgrenzen, die Verflüssigung herkömmlicher, harter Kategorien, »Rhizome« und »Hypertexte« statt linearer Wege wie ehedem. Avancierte Kunst- und Medienangebote sind, inzwischen einigermaßen unspektakulär, stets in eine der vielen möglichen Richtungen »grenzüberschreitend«. Ein, den Theoriestandards entsprechender Textbegriff geht demzufolge über Texte (im engeren Sinne) hinaus: Eine strikte Trennung von Sprache bzw. Schrift einerseits und Bild andererseits lebt nur noch in kulturkonservativen Reservaten fort. Visuelle und Phonetische Poesie, Performances der Mensch-Maschine-Interaktion oder wortloses Tanztheater sind derzeit auf-
fügbarkeit und der Entschlüsselbarkeit.« (1989, S. 138) - Und bei Wolfgang Iser steht: »Zwischen den Texten und den Arsenalen der Theorie klafft folglich ein Niemandsland, dessen Topographie zur hermeneutischen Aufgabe einer Literaturtheorie werden sollte.« (Iser 1994, S. 7) - Indessen beruht der von Iser angestrebte Lösungsversuch auf einer (aus meiner Sicht) nicht unproblematischen Erwartung hinsichtlich eine Korrespondenz von »Gegenstand« und »Beschreibung«, abgesehen von der »Arsenal«-Metapher, die den leisen Verdacht aufkommen lassen könnte, als ginge es doch wieder um eine Domestizierung von »Niemandsland«, notfalls mit (Theorie-) Waffengewalt. - Skepsis steigert sich bei Manfred Schneider oder bei Jochen Hörisch vielleicht doch allzu leicht und schnell ins Agnostizistische: »Die unerkennbaren Autoren des 20. Jahrhunderts weiterhin erkennen, ihre persönliche Wahrheit substantiieren, dieser Diskurs wird hier als jenes organische Delirium klassifiziert, das dem Phantomschmerz analog ist.« (Schneider 1986, S . 4 8 ) Nach Hörisch müßten wir unwiderruflich zur Kenntnis nehmen, daß »[...] Zeichen heute im erschlagenden Übermaße nicht produziert werden, um verstanden zu werden.« (1988, S. 97) Vgl. dazu auch Bogdal 1995.
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schlußreicher als alle Veranstaltungen, die disziplinare Grenzen einhalten. Wie überhaupt die »Künste« schwerlich noch zu trennen sind von den »Nicht-Künsten«, von den Ästhetisierungen der (alltäglichen) Lebenswelt, geschweige denn von allen Medien. Interpretation bewährt sich in Zukunft »multimedial« und (und stets von neuem) »experimentell«. Innerhalb des breiten Spektrums diesbezüglich relevanter Überlegungen orientiert sich die weitere Darstellung (hier im begrenzten Rahmen) zunächst an den folgenden Fragen: Wie weit reicht die wissenschaftliche Analyse, wenn es auf umfassende und möglichst anschlußfähige, folgenreiche Beobachtungen und Beschreibungen ankommen soll? Wo endet die Analyse, und wo beginnt im Gesamtfeld der möglichen Beobachtungen und Beschreibungen die deutlicher beobachter-bezogene, die stärker eigenwillige, die in ihren Befunden und Schlußfolgerungen voreilige, die gegebenenfalls kaum noch »wissenschaftlich« zu nennende Interpretation! Wie weit kommt man also jeweils mit wissenschaftlichen Verfahren und ihren Reglements, wenn gerade nicht (wie meist üblich) die Nachteile, sondern auch einmal die Vorteile freierer, stärker individueller Verfahren (die freilich immer noch ihre Kontrollen haben) betont werden sollen - etwa sog. »essayistischer« Verfahren? Inwieweit ist die wissenschaftliche Beobachtung und Beschreibung in der Lage, etwa Kommunikationsverweigerungen bei Franz Kafka bis hin zu Friederike Mayröcker zu erfassen? - Wie zum Beispiel formt man anläßlich eines Bildes von Mark Rothko die offenkundige, geradezu bestürzende Beobachtung, es veranlasse das »Höchste der Gefühle«2, wenn sich dann zu Beginn einer Analyse über das Bild zunächst (oder vielleicht sogar auf Dauer) wenig mehr sagen läßt, als daß es eben verhältnismäßig groß und dunkelblau (in gewissen eher unauffälligen Abstufungen) ist? Zusammenfassend könnte die Fragestellung lauten: Wie lassen sich unter Berücksichtigung von Medienperspektiven einerseits, von modernen Theoriestandards andererseits, also vor allem unter Berücksichtigung von Konstruktivismus, Systemtheorie und Dekonstruktion nunmehr Modelle erarbeiten, die
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Mark Rothko sagt: »I am interested only in expressing basic human emotions tragedy, ecstasy, doom, and so on - and the fact that lots of people break down and cry when confronted with my pictures shows that I commuicate those human emotions ...« Zitatcollage in Bildpräsentation zu Mark Rothko in der Art Gallery of Ontorio, Toronto, Kanada.
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schließlich nicht nur zu einer Theorie, sondern auch zu einer (Text-) Praxis von Beobachtungen und Beschreibungen beitragen? Und wie kann dies unternommen werden, wenn dabei nunmehr gerade auch moderne Formen der Mediennutzung berücksichtigt werden - wie etwa das über Text- und Mediengrenzen mühelos hinweggleitende »Surfen« .3 Der Lösungsvorschlag, der hier unterbreitet wird, betrifft weniger die wissenschaftliche Seite einer Differenz von Analyse und Interpretation, sondern erklärtermaßen ihre andere, nicht-wissenschaftliche Seite - das, was man behelfsmäßig als eine »essayistische« Art der Beobachtung und Beschreibung bezeichnen könnte. Anschlußfähig ist diese Art der Beobachtung allemal unter Umständen gerade wegen ihrer Voreiligkeit, Offenheit und Experimentierlust. Sie fordert Antworten zwar anders heraus, aber insgesamt nicht weniger »erfolgreich« als die wissenschaftliche Beobachtung und Beschreibung. So nimmt sich die »essayistische« Beobachtung dessen an, was die Analyse prinzipiell nicht zu leisten v e r m a g . 4 Betreibt Siegfried Kracauer (um einen der ersten prominenten Medienbeobachter zu nennen) »puren Essayismus« und keinerlei wissenschaftliche Analyse, wenn er erwägt, »Kino sei ein Angebot für Ladenmädchen«? - Wie wären die Anteile von Analyse und Interpretation in Walter Benjamins folgenreichem Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« zu verteilen? - Wie etwa plaziert man Marshall McLuhans riskante, aber erwiesenermaßen auch (und vielleicht gerade deshalb) anschlußreiche Formel »The Medium is the Message«? - Wo wären, so unterschiedlich im Niveau sie ansonsten auch sein mögen, die oft kommentierten Arbeiten von Paul Virilio, Jean Baudrillard, aber auch von Vilem Flusser oder Neil Postman innerhalb des Feldes von Wissenschaft und Essay zu verorten? Obwohl (spätestens) seit den sechziger Jahren, als sich entsprechende Verfahren weiter ausbreiteten, eigentlich nicht mehr zu übersehen war, daß die avancierte Kunst traditionelle »Inhalte« drastisch reduziert, daß sie Ausgangs» Objekte« minimalisiert, daß sie de-semantisiert, daß sie Kommunikation programmatisch verzögert oder gar (fast ganz) verweigert, blieben die Konsequenzen für die Theorie und Praxis der Beobachtung und Beschreibung
3 Das habe ich ausgeführt in den Aufsätzen »Kulturelle Praxis Jugendlicher. Beobachtungen der Beobachter« (1995) und »Surfen als Form der Mediennutzung und als Lebensform« (1997). 4 Mir ist es wichtig, hier in diesem Aufsatz die eigenen Ausgangsbedingungen darzulegen; daß sich auf den anschließenden Wegen auch einige Arbeiten finden, die zum Teil in vergleichbare Richtungen gehen, kann ich hier weder in allen Einzelheiten dokumentieren noch kommentieren. Unbestritten bleibt etwa, daß Überlegungen von Roland Barthes, Gilles Deleuzes oder auch Jacques Derrida bei einer ausführlicheren Darstellung zu diskutieren wären.
Interpretation,
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äußerst spärlich. »Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche« (Gumbrecht und Pfeiffer 1991) wurden bei der Beobachtung und Beschreibung der avancierten Kunst ansatzweise überhaupt erst in der Folge von poststrukturalistischen/dekonstruktiven und konstruktivistischen Konzeptionen registriert und als theorie-relevant erachtet. »Dekonstruktion« ist, zumindest der Idee nach, bislang die einzige prominente Theorie, die von vornherein darauf reagieren will, daß die avancierte Kunst- und Medienangebote ihrerseits eher Dekonstruktionen vorgeben und gerade nicht solche (Neu-)Konstruktionen erstreben, deren fortlaufende Stabilisierung sie sich erhoffen. Mit poststrukturalistischen/dekonstruktiven und konstruktivistischen Konzepten wurde überhaupt erst der grundsätzliche Konstruktcharakter, wurde überhaupt erst die generelle »Interpretativität« (Lenk 1990, S. 125) aller Beobachtungen und Beschreibungen unübersehbar deutlich. Generelle Interpretationsfundierung und bevorzugtes Interesse an wissenschaftlichen Beobachtungen (wie etwa bei Jahraus im vorliegenden Band) schließen einander zunächst nicht aus: »Wo die Medienwirklichkeit(en) unsere Wirklichkeit immer weiter unterminiert oder gar ablöst, kommt man nicht mehr umhin, Interpretation als Zugriffsart, ob wissenschaftlich oder nicht, auf diesen Objektbereich anzusetzen. Wo nun der Phänomenbereich der Medienwirklichkeit zum Objektbereich der Wissenschaft wird, geht mit der Konstruktion von Medienwirklichkeit(en) eine Totalisierung (natürlich auch eine immer feinere Spezialisierung) der Interpretationsfundierung einher.« (Jahraus 1997)
2.
Die Unterscheidung zwischen Analyse und Interpretations
In der Folge der hier akzeptierten Grundannahme vom Konstrukt- bzw. Interpretationscharakter aller Beobachtungen müssen selbstverständlich auch alle Möglichkeiten von Wissenschaft und Analyse innerhalb dieser Annahme eines nicht hintergehbaren, umfassenden »Interpretationismus« (Lenk 1990, S. 123 unter Rückbezug auf Nietzsches Interpretationismus) konzipiert werden, was aber andererseits bei entsprechenden Zusatzannahmen und Definitionen im weiteren Verlauf keineswegs ausschließt, daß Intensität und Auffälligkeit der jeweiligen Interpretationsmomente sinnvollerweise abgestuft werden können
5 Ich greife bei den folgenden Ausführungen, wenn auch zum Teil verändert und korrigiert, bestimmte Überlegungen meines Buches »Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie« (1992) wieder auf. Dabei antworte ich, freilich indirekt, auf verschiedene Reaktionen, die es nach dem Erscheinen des Buches gegeben hat.
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(und sogar müssen), daß also innerhalb eines »Interpretationismus« dann eben doch noch unterschieden werden kann zwischen »weniger« und »mehr«, zwischen »Analyse« und »Interpretation«. Ich sehe natürlich, daß die Verwendung zweier Begriffe wie »Analyse« und »Interpretation« schon voreilig eine Differenz setzt und damit schon gewissermaßen eine Problemlösung suggerieren könnte, die doch gerade erst zu herbeizuführen und zu rechtfertigen wäre; das immerhin bleibt im folgenden zu beachten. - Die Unterscheidung zwischen Analyse und Interpretation ist indessen vorerst brauchbar, vor allem ist sie anschlußfähig an vergleichbare Überlegungen. (Zusammenfassend Jahraus 1 9 9 3 , 1 9 9 4 , 1 9 9 5 ) Fast überall, wo es um vergleichbare Fragen geht, wird, wenn auch nicht unbedingt in dieser Terminologie, eine Art Unterscheidung von Analyse und Interpretation vorgenommen^ Weitgehend unstrittige, und damit zumeist »verläßliche« Ausgangs» Objekte«, verbunden mit der Möglichkeit einer als »Wissenschaft« durchführbaren Analyse, bezeichnen die eine Seite der denkbaren Beobachtungen und Beschreibungen, deren andere Seite (wie auch immer konnotiert, jedenfalls oft negativ) als »(pure) Interpretation«, »Subjektivität«, »NichtWissenschaft« oder als Ansammlung von »(kühnen) Hypothesen« oder »(reinen) Spekulationen«, als »Psychologismus« oder als »Essayismus« gilt - als » Frivolität« J Soweit ich sehe, konzedieren alle, die an den entsprechenden Diskussionen beteiligt sind, eine Analysemöglichkeit, konzedieren alle (mehr oder weniger explizit) »Konsensualität« und »Intersubjektivität«, und gleichermaßen wird überall eingeräumt, daß beim Gesamtprozeß möglicher Kunst- und Medienbeobachtungen der Grad der Konsensualität, der Intersubjektivität bzw. der Eigenwilligkeit erheblich variieren kann, daß also Interpretations-Anteile stets (wenn auch unterschiedlich stark) hinzu kommen. Alle Beobachtungen und Beschreibungen bewegen sich also, wenn auch im einzelnen unterschiedlich intensiv, zwischen Analyse-Anteilen und Interpretations-Anteilen (hin und her).
6
Anders Titzmann 1 9 7 7 , dessen Versuch es ja gerade ist, Interpretation vollständig als Analyse zu operationalisieren; daher werden bei ihm die Begriffe »Analyse« und »Interpretation« auch gegeneinander austauschbar. - Es erübrigt sich eigentlich schon an dieser Stelle, noch anzufügen, daß mich Titzmanns Versuch einer wissenschaftlichen »Theorie und Praxis der Interpretation« am allerwenigsten überzeugt.
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Vorschnelle negative Implikationen sind freilich genauso einzuschätzen wie der immerhin denkbare umgekehrte Vorwurf, optimale wissenschaftliche Resultate seien gewissermaßen tautologisch gefangen im eigenen Methodenkäfig, sie seien daher begrenzt anschlußfähig, sie machten gewissermaßen hilflos in achselzuckender Zustimmung.
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Wie aber verhalten sich nun genau Analyse und Interpretation zu einander? Wo verläuft im Einzelfall jeweils die Grenze - oder anders gesagt: Wie und wodurch bewegt sich die Grenzlinie zwischen Analyse und Interpretation bzw. der diffuse (weil nicht randscharfe) Grenzbereich? Die Grenze zwischen Analyse und Interpretation ist (auch historisch gesehen) durchlässig, und eben darum strittig: sie ist weder völlig offen, noch gänzlich geschlossen (wäre es anders, gäbe es auch kein Problem und keinen Anlaß für Überlegungen wie diese). Der exakte Grenzverlauf, das genaue Zusammenspiel zwischen Analyse und Interpretation ist unklar (und bleibt weiter unklar, aus noch zu nennenden Gründen). Hierbei gibt es ein Spiel um Differenzen, ein nicht entwirrbares Gewebe von Trennungen und Nicht-Trennungen (gewissermaßen ein Musterbeispiel für Derridas »differance«). Genau um den Grenzverlauf geht ja der »Streit der Interpretationen« (Eco 1987), der »Konflikt der Interpretationen« (Ricoeur 1969) und der Streit um die Interpretationen, geht ja die Auseinandersetzung um die Wissenschaftlichkeit bzw. geht ja der Vorwurf des » Essayismus«, geht ja der Streit um Intersubjektivität und (pure) Subjektivität - oder systemtheoretisch formuliert: geht ja der energische Versuch, eine erhebliche Differenz zu setzen zwischen (allgemeiner) Beobachtung auf hoher, durchaus kohärenter Theoriebene einerseits und dem individuellem Beobachter andererseits. Bisherige Versuche, »Klarheit« zu schaffen zwischen Analyse und Interpretation scheiterten, gerade weil sie diesbezüglich eine klare Differenzmöglichkeit voraussetzten oder herbeiführen wollten; sie blieben blind gegenüber den Kontinuitäten bzw. dem erheblichen Rest an Kontinuitäten, weil sie Diskontinuität zwischen Analyse und Interpretation anstrebten. Jeder Versuch, die Analyse zu stärken durch immer differenziertere Parameter, eröffnete gleichzeitig desto stärker auch den Blick für die kontinuierlich hereinspielenden Interpretationsanteile. Je genauer man die Analyse anschaut, desto mehr blickt sie als Interpretation zurück. Statt scharfen Trennungen gilt unsere Aufmerksamkeit nun eher den breiten Übergangsbereichen, den ständig shiftenden Differenzen. Indessen ist nicht alles unklar: Analyse und Interpretation als Bereiche mit unterschiedlich auffälliger und unterschiedlich intensiver »Interpretativität, die Interpretationsgebundenheit« (Lenk 1990, S. 125) sind nicht umstandslos gegeneinander austauschbar, vielmehr können vorläufig fünf Annahmen getroffen werden: Erstens: Analyse und Interpretation kommen stets nur zusammen vor (wenn auch in wechselnden Anteilen); außerhalb dessen gibt es keinerlei Beobachtung und Beschreibung. Weder gibt es die totale Analyse (das würde konstruktivistischen Grundannahmen widersprechen), noch gibt es die totale In-
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terpretation (sie könnte sich nicht einmal mehr als Interpretation ausweisen; sie fände sich noch einmal im »Irrenhaus«). Zweitens: Vorläufig kann gelten: Interpretation baut auf Analyse auf, Interpretation stützt sich auf Analyse-Teile. Nicht alles ist immer nur als »Interpretation« zu handhaben. Im Zuge der Analyse-Möglichkeit konstituiert sich ein Bezugs»objekt«, oder besser gesagt: ein Ausgangs»objekt« für die an diesen weitgehend unstrittigen Teil anschließenden Beobachtungen und Beschreibungen. Drittens·. Als allgemeiner Trend gegenseitiger Irritierung kann gelten: Je stärker der Analyse-Anteil, desto schwächer der Interpretations-Anteil (und umgekehrt); diese Annahme ist zumal deshalb nicht trivial, weil es dabei gleichermaßen zu »Kooperationen« wie zu »Konkurrenzen« bzw. »Kämpfen« kommt. Viertens: Auch im Einzelfall einer bereits schriftlichen vorliegenden Beobachtung und Beschreibung ist das Verhältnis der Anteile von Analyse und Interpretation gerade nicht ein für allemal festgelegt: Bezeichnungen wie z.B. »kompatibel«, »komplementär« oder »konkurrierend« treffen daher nicht (oder bestenfalls im isolierten Einzelfall). Das Verhältnis von Analyse und Interpretation kann sich im Lauf der Zeit und je nach kritischem Blick nach der einen oder anderen Seite hin verschieben Fünftens: Bei genauerem, kritischen Hinsehen verkleinert sich der AnalyseAnteil stets zugunsten des Interpretationsanteils; wie gesagt: Je genauer man die Analyse anschaut, desto mehr blickt sie als Interpretation zurück. Interpretation wirkt eher subversiv im Bezug auf Analyse, als das umgekehrt der Fall sein könnte. Indessen: die Notwendigkeit der Voraussetzung eines Ausgangs» Objekts« (als solchem) bleibt davon unberührt.
3. Analyse und Ausgangs-»Objekt«: Die Kopien als vermeintliches Orginal Ebenso, wie die unterstellte »Außenwelt« die Wahrnehmung, Beobachtung und Beschreibung nicht determiniert, ebenso wenig determiniert ein Ausgangs» objekt« die anschließenden Analysen und Interpretationen. Innerhalb des hier gewählten Rahmens einer grundsätzlichen Interpretativität kann auch das Ausgangs»objekt« (das Bezugs»objekt«, der »Anlaß«) nur das mehr oder weniger unauffällige Herausschallen eines bestimmten Hineinrufens darstellen - oder erneut gesagt: Die Grenze zwischen Analyse und Interpretation bleibt durchlässig, bleibt labil (je nach kritischen Blick, der im Einzelfall geworfen wird).
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Warum interpretieren wir überhaupt (und lassen es nicht besser bleiben, wie oft gefordert)? Gerade weil wir über kein Ausgangs»objekt« verfügen, sondern es überhaupt erst - interpretierend - hineinrufen müssen! Wo immer in den letzten Jahren und Jahrzehnten grundlegende Probleme der Theorie und Praxis von Beobachtungen und Beschreibungen benannt worden sind, ging es dabei auch immer um Fragen und Zweifel wie die folgenden: Wie läßt sich bei einer Beobachtung und Beschreibung überhaupt verläßlich ein Ausgang»objekt«, Ausgangs»text« fassen - ausreichend unabhängig von den besonderen oder gar singulären Eigenschaften der jeweils beteiligten Beobachter? Indessen: Trotz ihres stark ausgeweiteten Interpretationsbegriffs gestehen auch Konstruktivisten, gestehen auch Philosophen (wie Abel und Lenk) ein Ausgangs»objekt« zu (mit den genannten Einschränkungen).8 Auch Konstruktivisten räumen ein, daß man nicht bei jeder Beobachtung und Beschreibung von Medienangeboten gewissermaßen immer bei »Null« beginnen oder »interpretationistisch« in einem endlosen Regreß verharren kann. Trotz der Behauptungen, »alles was >istzufälligen< Beschaffenheit des Wortmaterials [...]. Unübersehbar ist die Zahl der Brücken und Querverbindungen des Zeichenmaterials, wenn das Spiel der Laute und Buchstaben einmal freigesetzt wird. Wie beim Mallarmeschen Würfelwurf spielt der Zufall mit.« (1984, S. 240) Damit könne Interpretation endgültig nicht mehr auf wissenschaftliche Verallgemeinerbarkeit aus sein. Oliver Jahraus, der Mitherausgeber dieses Bandes, der sytemtheoretisch orientiert eher zu den Analyse- und Wissenschafts-Optimisten zählt, räumt ein, daß »[...] jede Wissenschaftsformation, die Interpretation als ihr Operationsmodell zugrunde legt, notorisch (behaftet ist) mit Krisen der Objektkonstitution, der wissenschaftlichen Selbstdarstellung, Selbstbegründung und Selbstexplikation, die sich bis in Legitimationskrisen hinein fortsetzen können«. Eine Selbstreflexion sei überhaupt nur in neueren, fortgeschrittenen Theorieangeboten zu haben. »In den meisten Fällen läuft die Objektkonstitution für sich selbst blind ab: Man geht von einem Objekt aus, das einfach da ist [...].« (1997)
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hervorbringen konnte oder verletzt zurückweisen mußte. »Ich glaube Bieler kein Wort von dem, was er in diesem Buch erzählt.« (Gerhard Schulz in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 10. Oktober 1989) »Es stimmt alles, das erfindet einer nicht [...]« (Tilmann Moser in »Die Zeit« vom 29. September 1 9 8 9 ) . - Was kann man in diesem Fall zur intersubjektiv gesicherten Analyse rechnen, zumal wenn Wissenschaft nach wie vor über »Wahrheit« codiert werden soll? Die Mechanismen der Begeisterung oder der Empörung über einen Autor und über einen Text lassen sich hier ernsthaft nur zum kleinsten Teil an den intersubjektivierbaren Analyseteil delegieren. Der Beobachter hat, wie sich ja hier wieder gezeigt hat, anläßlich von Medienangeboten die Freiheit, Informations-Vorschläge gegebenenfalls auch zu ignorieren, d. h. sie in der eigenen Selbstdynamik gegebenenfalls eben auch nicht hervorzubringen oder als »Lüge« abzutun. - Wo aber verläuft da die Grenze von Analyse und Interpretation? Was hindert uns, nun umgekehrt einen denkbaren hohen Interpretationsanteil zu reklamieren? Vom Text ausgehend sind bestimmte (seltene?) Kontexte überhaupt nicht prognostizierbar, und damit ist auch nicht vorherzusehen, wie ein bestimmter Text dann rezipiert wird; fast alles ist dann möglich: Eine Formulierung wie »Berühren verboten!« mag unstrittig sein im Museum oder im Lebensmittelgeschäft, das heißt aber längst nicht, wissenschaftliche Analyse könnte die Formulierung unter allen (Kontext-)Umständen mühelos erfassen. Denn ein solches Verbot, das sich ohnehin von selbst versteht, kippt - wird es markant wiederholt - leicht ins Gegenteil (wer weiß?) und wird dann geradezu als Aufforderung, doch zu berühren, genommen (wer weiß?): »Berühren verboten!«, aufgedruckt auf einen Hosenboden oder tätowiert auf ein nacktes Hinterteil (sichtbar im Englischen Garten Münchens), könnte, falls jemand »gegrapscht« hat, beim Beobachter (auch bei einem Richter und dem gutachtenden Wissenschaftler) doch unter Umständen eine gewisse Ratlosigkeit auslösen - trotz oder (wer weiß?) gerade wegen des wiederholten Verbots. - Mit anderen Worten: Die Verteilung der Akzente von Analyse und Interpretation ist unter Umständen äußerst stark situationsabhängig und emotionsabhängig, ohne daß sich die jeweiligen Situationen und Emotionen ihrerseits analytisch aufbauen und verallgemeinern ließen. Man stößt auf solche Ausprägungen des Rezeptxonsverhaltens, wonach die Lektüreerfahrungen einzelner Leser trotz unterschiedlicher Texte stark ähnlich bleiben; es handelt sich um die bekannte Erfahrung, daß beinahe alle Bücher, alle »Objekte«, die man in einem bestimmten Zeitraum liest bzw. ansieht, »er-
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Wer riskiert es noch, in Kenntnis literaturwissenschaftlicher Wertungsproblematik einzuwenden, es handele sich hierbei um Literaturkritiker, nicht Literaturwissenschaftler?
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staunlicherweise« über die jeweils gegenwärtige Lieblingsidee zu »informieren« scheinen. Man ruft auch hier das hinein, was dann »erstaunlicherweise« (nur) herausschallt. - Und umgekehrt gilt: Auch bei wiederholter Nutzen des einen Medienangebots, auch bei wiederholter Lektüre und längeren Zeitabständen kann der Beobachter zweifeln, ob er es noch mit einem gleichen, »identischen« Text zu tun hat; wir hätten etwa Peter Weiss' »Abschied von den Eltern« (1961) im Verlauf der Jahre insgesamt dreimal gelesen; die erste Lektüre hätte uns aufgrund vorherrschender anderer Interessen so wenig beeindruckt, daß wir über sie nichts mehr sagen könnten außer der Tatsache, daß wir das Buch als Geschenk an die eigenen Eltern weitergegeben hätten; später hätten wir uns - allgemeinen Trends folgend - mit unserer eigenen Kindheit auseinandergesetzt und nun wären wir von der Lektüre tief bewegt, mit einem Kloß im Hals bis zu Tränen gerührt gewesen; und schließlich hätten wir uns mit unserem Abschied von der Psychoanalyse auch von dem uns plötzlich »wehleidig« erscheinenden Text verabschiedet. Was bleibt von dem »einen« Ausgangstext - hinausgehend über solche Trivialitäten wie die, daß Peter Weiss immer noch der Autor sei, daß sich der »unmittelbare« Wortlaut nicht verändert h a b e ? i 5 Traditionelle Hermeneutik macht die möglichen Zweifel am Ausgangs»objekt« und an der entsprechenden Analyse-Möglichkeit ja nicht eben stark, im Gegenteil: So unterschiedlich die einzelnen Konzepte der Hermeneutik auch immer sein mögen, stets setzen sie eine möglichst feste und breite semantische Ausgangsbasis voraus, an die dann die jeweiligen Interpretationen gewissermaßen erst relativ spät anschließen. Das wird auch deutlich am Sprachgebrauch der hermeneutischen Theorie(n), wenn es etwa umstandslos überall noch heißt: »Der Text spricht ...«, »Aus dem Text geht hervor ...«, »Dem Text läßt sich entnehmen ...« - so, als seien Ausgangsobjekte denkbar große, vorgebene Gefäße, die von sich aus (fast) all das enthalten, was dann nur noch mit einigem Hebammen-Geschick hervorzubringen wäre - als eher zufälliges Bei-
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Lars Gustafsson hat auf das s o g . »Richthofen Problem« aufmerksam gemacht: Wenn man sich Manfred v o n Richthofens Autobiographie » D e r rote Baron« ( 1 9 1 7 ) gerade nicht als dokumentarisch, sondern als Fälschung aus der Hand eines fremden, ironischen Autors denkt, dann »[...] wird der dürftige Text, ohne daß ein einzig e s Wort darin verändert worden ist, in ein äußerst bemerkenswertes literarisches Kunstwerk verwandelt.« ( 1 9 7 0 , S . 64) - B e i m Durchblättern von Archivmappen ist der ehemalige Feuilleton-Chef der »Zeit«, Ulrich Greiner, »[...] irritiert, wenn ich verschiedene Rezensionen nebeneinander lese und ihnen bei bestem Willen nicht entnehmen kann, sie handelten von ein und demselben Roman, ja es kommt mir manchmal vor, als handele überhaupt jede Kritik von einem je gänzlich anderen Buch.« ( 1 9 8 5 , S. 4 9 )
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spiel: » D i e in den Text eingekapselten außertextualen N o r m e n und Werte...« (Iserl975,S.306)i6
6. Ausgangs»objekt«, Analyse und Wissenschaft: Ein erheblicher Rest an Defiziten D a s einerseits berechtigte Interesse an der A u s w e i t u n g d e s A n a l y s e - B e r e i c h s u n d die V e r s t ä r k u n g d e s W i s s e n s c h a f t s a n s p r u c h s negiert anderseits die G r u n d satz-Krisen der kunst- und m e d i e n b e z o g e n e n B e o b a c h t u n g e n und B e s c h r e i b u n g e n : Statt ü b e r die F o r m e n ihrer P r o b l e m - B e w a h r u n g zu d i s k u t i e r e n , wird nach wie v o r z u m e i s t an ihrer B e s e i t i g u n g o d e r K a s c h i e r u n g gearbeitet; das ist akzeptabel
f ü r viele B e r e i c h e der W i s s e n s c h a f t s - P r a x i s , aber nicht d u r c h w e g
f ü r deren T h e o r i e n hinsichtlich ihrer » G e g e n s t ä n d e « . Spätestens die S y s t e m t h e o r i e hat mit ihren D a r l e g u n g e n , e t w a z u m » b l i n d e n Fleck« v o n B e o b a c h t u n g e n , e n d g ü l t i g klar g e m a c h t , d a ß ein » T r i c k « , mit d e m die W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t v o n Interpretation reklamiert w e r d e n sollte, g a r nicht f u n k t i o n i e r e n k a n n : n ä m l i c h die unmittelbare, g l e i c h s a m stets auf g l e i c h e r E b e n e präsentierte Reflexion auf die B e d i n g u n g e n d e s j e w e i l s g e r a d e eben v o l l z o g e n e n interpretatorischen ( m e t h o d i s c h e n ) V o r g e h e n s . - K e i n W u n d e r also, w e n n alle Kritik praktizierter Interpretationen zu d e m Resultat g e k o m m e n ist (freilich i m m e r noch überrascht), d a ß derlei S e l b s t - V e r p f l i c h t u n g e n nicht eingehalten w o r d e n sind.i? Hinsichtlich der höchst unterschiedlichen E r w a r t u n g e n an den A n a l y s e a n teil gibt es heftig d r i f t e n d e A n a l y s e - und W i s s e n s c h a f t s - O p t i m i s t e n ( w i e etwa T i t z m a n n 1 9 7 7 o d e r auch E c o 1 9 8 7 und 1 9 9 2 ) i s , u n d es f i n d e n sich - w e n n
!6 Auf die brisante Problematik solcher Gefäßmetaphern hat K. Krippendorff (1989) aufmerksam gemacht. 17 Zahllose Modellinterpretationen gibt es allein zu Kafkas »Vor dem Gesetz« (etwa Andringa 1994, Bogdal 1993, Binder 1993). - In solchen Modellanalysen zeigt sich immer wieder folgendes: »Oft wird die eigene Perspektive der Wahrnehmung der im Text wiedererkannten Situation oder Geschichte mit der Wahrnehmungsperspektive des Erzählers oder der Erzählfiguren in der Geschichte gleichgesetzt. Nicht selten identifiziert, motiviert, plausibilisiert und rationalisiert man Handlungen, Äußerungen, Gedanken und Gefühle der Erzählfiguren mit der eigenen Alltagstheorie intentionaler Zustände. - Deutungsbehauptungen werden durch intentionalistische Rekurse auf das vermeintliche Ganze des Werkes, der Biographie, des Selbstverständnisses des Autors kontextualisiert.« (Bernd Switalla, Manuskript, Universität Bielefeld). 18 Es gibt schon an den Anfängen der hier vorgelegten Diskussion, es gibt schon seit Jahrzehnten sehr verdienstvolle Arbeiten, die den erkenntnistheortischen und wissenschaftstheoretischen Positionen der Literaturwissenschaft systematisch und
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auch weitaus seltener, indessen wohl nicht weniger driftend - Analyse-Pessimisten und Interpretations-Optimisten (wie der Verfasser). Ich bestreite hier keineswegs, daß viele gute, geradezu »sachlich« gerechtfertigte, auch wissenschaftspolitische und psychologische Gründe dafür sprechen, den AnalyseAnteil zum Nachteil des Interpretations-Anteils zu verstärken. Die meisten Veröffentlichungen zum Interpretationsproblem wollen ja den (offenbar nicht ganz fraglosen) Anspruch der Wissenschaftlichkeit bekräftigen. Aber die Mittel und Wege auf denen dies geschieht, sind in meiner Sicht nicht immer überzeugend und zuweilen »unsauber« oder allzu »rein«. 19 Zwar konnten sich mittlerweile beobachter-bezogene Ansätze im Bereich der gängigen Diskurse entwickeln, indessen keine individuen-bezogenen; das erschwert unsere Überlegungen erheblich. Systemtheorie wehrt sich vehement und auch m. E. zu Recht gegen eine Verwechslung von Beobachtung als gesicherter Möglichkeit auf hoher Theorieebene zum einen und dem individuellem Beobachter zum anderen. Die Abgrenzungsmöglichkeit überzeugt in der Theorie, aber ich fürchte, sie gelingt vor allem dann, wenn die einzelnen Beobachtungen auf der zuvor gewählten hohen Theorie-Ebene verbleiben, und die klare Abgrenzung könnte diffundieren, wenn die Beobachtungen einmal doch mehr oder weniger direkt ein mediales Ausgangs»objekt« betreffen bzw. imaginieren müßten. Nur durch zugegeben eindrucksvolle Theorie-Steigerung kann sich das jeweilige Verfahren vor individuellen Beobachtungen schützen - quasi durch Meta-Meta-Texte, möglicherweise in der Hoffnung, solche Risiken seien schließlich ungefährlicher als die individuelle Ansteckung am imaginierten »Objekt«. - Systemtheorie Luhmann'scher Prägung ist sicher weder
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durchaus verbessernd nachgehen, etwa Pasternack 1975, Schmidt 1975, Stierle 1975, Eibl 1976, Fricke 1977, Bohn 1980, Schmidt 1980, 1982, Finke und Schmidt 1984, Pasternack 1987, 1988; der Umstand aber, daß die dort implizit oder explizit geforderten »Verbesserungen«, so überzeugend sie auch begründet sein mögen, nicht eingetreten sind, läßt allerdings auch die Vermutung aufkommen, als sei das Interpretationsproblem eben doch nicht auf der Basis einer wissenschaftstheoretischen Mängelbeseitigung zu lösen. Zu den Analyse-Optimisten, also zu denen, die wohl auch eine dezidiert wissenschaftliche Interpretation für möglich halten, gehört M. Seel. Selbstverständlich operiert Seel nicht mit »Wahrheit« und »Richtigkeit« in einem ontologischen oder emphatischen Verständnis, aber m. E. (und das sollen meine Überlegungen ja zeigen, wenn auch diesbezüglich »indirekt«) wird immer die grundsätzliche Labilität ausgeklammert, wenn Konzepte wie »propositionale Wahrheit« oder »Korrektheit des Herangehens an eine Situation oder Aufgabe« eingeführt werden. Wie kommt es dann zur »Proposition«, zur »Situation« oder zur »Aufgabe« und w i e verläßlich und weitreichend sind die diesbezüglichen Verabredungen? (Vgl. Seel 1993)
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sonderlich zuständig noch in der Hauptsache interessiert an dem, w a s hier »Interpretation« genannt wird; ihr Bezugsfeld ist und bleibt die Analyse.20 Ich sehe zwar (und habe das hier ja immer wieder betont) die Unvermeidlichkeit einer Trennung von Analyse und Interpretation, von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, aber die Rigidität dieser Trennung müßte nicht so hart sein, wie sie derzeit erscheint. A m A n f a n g der »modernen« Kunstbeobachtung und -beschreibung (etwa bei Friedrich Schlegel) gab es bekanntlich noch keine harte Trennung von Essay (»Fragment«) und Wissenschaft, von Literaturkritik und Literaturwissenschaft, sondern eher Kontinuität. Und in Frankreich bzw. im angelsächsischen Raum besteht bis heute nicht die gleiche harte und hartnäckige, zudem institutionalisierte und sanktions-beladene Trennung von Wissenschaft und Essay wie hierzulande. Man gerät zweifellos weniger in den Verdacht der Nicht-Wissenschaftlichkeit, wenn man vorwiegend von Sozialisation, Vergesellschaftung, ökonomischen oder politischen Herrschafts-Mechanismen oder von sozialen System spricht (und eben nicht, außer im puren Zugeständnis, daß es sie gibt, von »psychischen Systemen«). Vielleicht geht es dabei auch ein wenig um die karriere-förderliche »Unverdächtigkeit« unhinterfragter Wissenschaftlichkeit. Meine gelegentlich formulierte Empfehlung, die Beobachtung und Beschreibung von (künstlerischen) Medienangeboten, zumindest gewisse Formen davon, als »essayistische« Tätigkeit zu verstehen, wurde denn auch bisweilen genau im Kontext eines drohenden Prestigeverlustes rezipiert. Die Hartnäckigkeit eines Psychologismus-Vorwurfes hat nicht zuletzt hier seine Ursache. Indessen: Psychologismus oder Anti-Psychologismus sind schließlich gleichermaßen reduktionistisch. Man setzt sich hierzulande schnell der Kritik aus, wenn man sich von den veritablen postmodernen und systemtheoretischen Desavouierungen des Individuums noch nicht restlos hat überzeugen lassen, wenn man - und sei es im vollen Bewußtsein von »Fiktionen«, von »Fehlern« - weiterhin Individualiäts-Fiktion betreibt (gerade auch in der Medienbeobachtung und deren schriftlicher Darlegung), wenn man zwar auch seinerseits
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Siegfried J. Schmidt erhebt in diesem Zusammenhang folgenden Vorwurf (etwa an die Adresse von Niels Werber): »Die Attraktivität der Luhmannschen Entscheidung, nur Kommunikationen als Komponenten literarischer Systeme zuzulassen, liegt gerade für Literturwissenschaftler vermutlich darin, daß sie sich aufgrund dieser Entscheidung weiterhin auf Texte und nichts als auf Texte [...] konzentrieren können. Damit wird der lästige Vorschlag [...] abgeblockt, eben nicht nur Texte, sondern Text-Aktant-Kontext-Syndrome zum (empirisch zu bearbeitenden) Untersuchungsbereich zu wählen, und statt dessen - bewußt oder unbewußt - das Programm einer Texthermeneneutik in neuem theoretischen Gewände revitalisiert.« (1995, S. 230) Schmidt spricht von einem »Neuausflaggen der Texthermeneutik unter Luhmanns Fahnenarsenal« (ebd., S. 242).
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glaubt, daß »ein großes Ich« inzwischen überall deplaziert ist, andererseits jedoch die Beobachtungs- und Beschreibungspraxis eines (zweifellos wiederum fragwürdigen) »kleinen Ichs« (immer noch zwischen Anpassung und Widerstand) grundsätzlich für nicht stornierbar hält. Ich bestreite (wie gesagt) nicht, daß das, was als Analyse gelten kann, zugleich die Anforderungen an Wissenschaftlichkeit erfüllt, nämlich die Darbietung von kompetenten, explizit formulierten, geordneten, formallogisch korrekten, kohärenten, nachvollziehbaren und vollständig nachprüfbaren, wiederholbaren, lehr- und lernbaren etc. Standard-Beobachtungen. Wann immer (Text-)Analyse beschrieben wurde, implizit oder explizit, beschrieb dies zugleich ein Methodenspektrum, dessen Wissenschaftlichkeit stets ohne größere Skepsis beansprucht werden konnte (auch in meiner Sicht) - ging es doch zumeist nicht um höchst voreilige, stark hypothesen-behaftete, kontroverse oder gar eigenwillige Sonder-Beobachtungen.21 - Wissenschaftler handeln in starker Anlehnung an methodische Standards, zu denen gerade nicht Originalität, Eigenwilligkeit oder (»notfalls« sogar) Individualität gehören. Wo aber sind die nachvollziehbaren, die nachahmbaren und erlernbaren, die einheitlichen wissenschaftlichen Standard-Verfahren im Fall der Beobachtung und Beschreibung? Wie wirksam, wie weitreichend sind Standards im Fall der Beobachtung und Beschreibung von Medienangeboten, von Kunst und Literatur? Wann kann man beanspruchen, in der Rolle eines Standard-Beobachters wissenschaftlich zu handeln? Wie läßt sich stellvertretend und dabei weitreichend für andere Beobachter sprechen? Worin besteht die weitgehende Einheitlichkeit im methodischen Vorgehen der Wissenschaftler, die sie trotz aller übrigen Differenzen zu anerkannten Experten (im Unterschied zu »Laien-Interpreten«) »einer Sache« macht? - Grob gesagt: Wieviel von (sagen wir) zwanzig »sanften« (und eben nicht »harten«) Kriterien der Wissenschaftlichkeit erfüllt denn die literaturwissenschaftliche Analyse? Fünf, sechs? Wer bietet mehr zudem mit guten Gründen?22
Ich bin nicht glücklich über die Bezeichnung »Sonder-Beobachtung«, aber ich brauche eine differentes Gegenstück zu »Standard-Beobachtung«. Auch »SpezialBeobachtung« wäre in Deutschland nicht frei von fatalen Konnotationen, die mir indessen beim Gebrauch aller »Selektions«-Begriffe noch störender auffallen. 22 Auch wenn eine Empirische Literaturwissenschaft nicht immer nach dem Geschmack meiner Lebens- und Arbeitsformen ist - ihre Aussicht, viele oder sogar alle sinnvollen Kriterien der Wissenschaftlichkeit zu erfüllen, ist unübertrefflich groß. Warum also zieht gerade dieser Vorschlag (etwa der Vorschlag Siegfried J. Schmidts) den allermeisten Ärger auf sich? Doch wohl nur, weil es die implizite Behauptung abzuwehren gilt, die eigenen, vergleichsweise sanften Verfahren seien weniger wissenschaftlich? Abgesehen davon verlangt Schmidt Arbeitstechniken, die die allermeisten Literaturwissenschaftler erst von Grund auf lernen müßten. - Viel21
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7. Sprache und Sprachgebrauch ohne Verständigungsoptimismus In k o n s t r u k t i v i s t i s c h e r Sicht b i l d e n W a h r n e h m u n g s » k r i s e n «
und
»Miß«ver-
s t ä n d n i s s e b e i l e i b e nicht n u r die A u s n a h m e . N i c h t w e n i g e E r w a r t u n g e n hin-
leicht kommt Verf. auch deshalb zu dem Schluß, Interpretation sei keine Wissenschaft, weil er nicht nur Geisteswissenschaften studiert hat, sondern sich auch der harten empirischen, der harten methodischen Schule bis zum Diplom in Psychologie unterziehen mußte. - Ich bin offenbar einer der wenigen, der zuzugeben bereit ist, daß ein Teil unserer professionellen Tätigkeit keine Wissenschaft ist - der aber auch sagt, warum dies gar nicht anders sein kann. - Bei Manfred Frank habe ich beinahe unzählige Formulierungen gefunden, in denen er, ähnlich wie ich, zu dem Schluß kommt, daß die Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Analyse allenfalls Teilbereiche der Interpretation abdecken - warum aber Manfred Frank nicht das ständig herausspringende Β zu diesem, seinem Α sagt, warum er nicht expliziert formuliert, daß etwas, was als Wissenschaft nicht durchführbar ist, dann eben auch keine Wissenschaft sein kann, bleibt mir schleierhaft; oder ich kann mir die Unterlassung einer solchen Schlußfolgerung eben nur gewissermaßen psychologisch erklären: »Wo kämen wir (auch in der Öffentlichkeit) denn hin, wenn wir zugeben würden, daß wir nicht immer als Wissenschaftler handeln, wenn wir forschen?« - Manfred Frank schreibt: »Objektive Verfahren zur Herstellung gültiger Interpretationen sind aus logischen Gründen ausgeschlossen, weil ihre Regeln - wie Schleiermacher sagt nicht abermals durch Regeln aufs Feld der Anwendung geschickt werden können >objektives Interpretieren also >nicht mechanisierbar ist.« (1979, S . 6 6 ) - Nach Manfred Frank »[...] rüttelt die Individualität des Subjekts an der Normativität des Zeichensystems [...]« (1993, S . 2 9 ) »In jeder sprachlichen Verständigungssituation [...] prallen zwei verschiedene Vorstellungsweisen aufeinander, von denen nur der relativ konventionellere Teil zur Deckung kommt, während der individuellere überragt.« (1993, S. 111) Es kann nicht um Gewißheit, sondern nur um Hypothesen und Vermutungen über die »[...] Art und Weise der Weltkonstruktion anderer Sprecher« gehen. (1993, S. 66) - »Unter >Verstehen< begreife ich eine schöpferische Tätigkeit, die [...] über das hinaus geht, was die Informationstheorie >Decodierung< nennt.« (1979, S . 6 2 ) - Sinn sei ein »unbestimmter Bodensatz«, der uns »etwas in den Wörtern entdecken läßt, das weder das Wörterbuch noch die Grammatik noch der Autor noch die bisherigen Leser (allein) hineingelegt haben.« (1989, S. 36) Es gehe bei der Erschließung von Sinn um eine »[...] reflektierte Anstrengung, deren methodologisches Statut als >kunstmäßig< zu charakterisieren ist.« (1977, S . 9 ) Und schließlich die vielleicht am weitesten reichenden Formulierungen: »Die am wenigstens szientistisch integrierbare Form der Sprachverwendung ist vermutlich die der Literatur; [...] Insofern hält die Dichtung den obsolet gewordenen Anspruch des Individuums in einer uniformierten und codierten Welt aufrecht.« (1993, S . 9 4 ; ich unterstelle, daß Manfred Frank die Verpflichtung der Wissenschaft, zu uniformieren und zu codieren, nicht bestreitet). Betreibt Frank nun einen ähnlichen Rettungsversuch wie vordem Staiger, etwas dennoch als Wissenschaft auszugeben, was in jeder Hinsicht der Wissenschaft widerspricht? Staiger meint ζ. B., »[...] das Dichterische entziehe sich dem Verstand und seinen allgemeingültigen Sätzen und bleibe jenseits kausaler Erklärung.« (1971, S. 10)
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sichtlich einer weitgehenden Intersubjetivität und Konsensualität haben sich als unbegründet erwiesen. Konstruktivistische Grundannahmen hingegen bieten Erklärungen dafür, daß aufgrund der Eigenschaften seines Wahrnehmungssystems jeder Mensch einen Text, ein Medienangebot notwendigerweise anders versteht. Gleichzeitig wird dabei deutlich, daß die jeweiligen Unterschiede (je nach Fragestellung freilich) alles andere als peripher sind. Sprache und Sprachgebrauch sind zweifellos nicht nur individuelle Phänomene, sondern gerade auch soziale, aber dennoch folgen wir hier nicht der Annahme, daß Literatur, weil sie auf allgemeiner Sprache beruht, und daß Medien, weil sie mit allgemein verfügbaren Zeichen zu tun haben, allein schon deshalb auch eine in jeder Hinsicht allgemeine Angelegenheit sind, so als verfügten alle über die gleiche Sprache und die gleichen Zeichen, so wie alle an einem Ort über die gleiche Luft oder das gleiche Wasser verfügen. Anläßlich von Literatur und Medienkunst geht es vielleicht doch eher um das jeweilige »Lourdes-Wasser«, und dafür sind nun einmal die Chemiker mit ihren ansonsten unübertrefflichen Standard-Analyse-Methoden nur begrenzt zuständig. »Die Vorstellung eines in sich einheitlichen Kommunikationszusammenhangs der Literatur ist vor dem Hintergrund gegenwärtiger literarischer Kommunikationsverhältnisse nicht haltbar; die verschiedenen Bereiche, Teil- und Subsysteme [...] lassen sich [...] nicht zu einer >EinheitSinnkonstanz< vonnöten sind. [...] Bezogen auf wechselseitige Interaktionen, muß dies eine Vorstellung von der sozialen Verständigung mit sich bringen, als sei sie eine Art Schlagabtausch von Subjektivismen: Sprecher und Hörer vermitteln sich im Grunde wenig voneinander, sondern stimulieren sich gegenseitig nur zu immer weiter ausgeformten je individuellen Konstruktionen über das, wovon gesprochen wird.« (1981, S. 194) »Der akzeptable Zustand ist gefunden, wenn die gehörte Äußerung so auf eine Welt bezogen werden kann, daß sie in ihr sinnvoll ist. Unsere subjektive Ansicht von der Welt (und nicht eine linguistische Kompetenz!) entscheidet also über die Akzeptabilität!« (Hörmann 1976, S. 209) 25 »[...] Interpretationstexte referieren zwar auf ihre Ursprungstexte, doch die Relation zwischen beiden Texten läßt sich nur noch als Initiation, nicht mehr als Rekonstruktion beschreiben.« (Jahraus 1994, S. 14)
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keit, an Interaktion wollen, bevor man sich sprachlich verständigen kann. Verstehen ist in erster Linie ein soziales und emotionales und erst in zweiter Linie ein sprachliches Phänomen. 2 ^ Das ist eine grundsätzlich skeptische, alles andere als optimistische Sprach- und Verständigungs-Auffassung (zumal w e n n es um Individualitäts-» Fiktionen« geht, w i e hier im Fall der auf avancierte Kunst- und Medien gerichteten Rezeption) .27 Luhmann mag trotz der für unwahrscheinlich gehaltenen Kommunikation dennoch ein Kommunikations-Optimist sein (zumal w e n n die Theorie der Kommunikationen in sozialen Systemen aufgrund der Abwesenheit von Individuen glänzt), aber auch ihm erscheinen Konzepte glatter »Intersubjektivität« als nicht plausibel: Intersubjektivität ist für Luhmann »[...] eine Verlegenheitsformel, die angibt, daß man das Subjekt nicht mehr aushalten oder nicht mehr bestimmen kann. Man greift zu dieser Formel, w e n n man am Subjekt festhalten und nicht festhalten will. Die Formel ist also ein paradoxer Begriff, der bezeichnet, w a s er nicht bezeichnet.« (Luhmann 1 9 9 5 , 1 6 9 )
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Maturana geht davon aus, »[...] daß alle menschlichen Handlungen ohne Ausnahme auf dem Emotionalen gründen, weil sie in einem von einer Emotion aus spezifizierten Handlungsbereich stattfinden. Dies gilt auch für das rationale Denken.« (1990, S. 144) - Wissenschaft muß auf der Proklamation bestehen, sie habe die Emotionalität ihrer Beobachtungen im Griff - was aber mache ich mit meiner Beobachtung, der Literatur- und Medienwissenschaft gelinge das äußerst schlecht angesichts der erheblichen Beliebigeit von Prüfungs-, Rezensions- oder Berufungsergebnissen? Gadamer hingegen, das ehrt ihn allemal, hat eine Liebes-Hermeneutik vorgelegt, hat eine Ausnahme-Hermeneutik für den Sonderfall ungetrübter Liebe vorgelegt: Er setzt in einer Weise auf das Gespräch, auf das faire Spiel von Frage und Antwort, dabei annehmend, der Streitgegenstand werde genau »zwischen den Parteien in die Mitte (!) niedergelegt« (1965, S. 422), als wären Machtgefälle und emotionale Verweigerung überwindlich. - Auch Habermas entwickelt in spezifischer Variante einen Verständigungs-Optimismus; m. E. ist Lars Gustafson zuzustimmen, wenn er kritisiert: »Habermas [...], befindet sich in einer kantianischen Tradition. Kant definiert die Objektivität der Wissenschaft dahingehend, daß wir über dieselben Dinge reden können. Objektivität ist Kommunikation bei Kant. Und seit Kant gibt es dieses Kommunikationsideal in der deutschen Tradition. Und Habermas ist ein moderner Repräsentant dafür. [...] Werden die Menschen bei vollständigem Verständnis einig? Vielleicht gehört es zu den Schwächen des deutschen Idealismus, daß man so sicher annimmt, daß man bei einem perfekten Verständnis voneinander einig werden könnte. Ich kann mir Situationen denken, in denen man wirklich mehr und mehr uneinig wird, man einander aber desto besser versteht. Wer eine Harmonie erwartet, erwartet vielleicht etwas Utopisches oder Totalitäres.« (1989, S. 131) - Immerhin liest man schon bei W. v. Humboldt: »Keiner denkt bei dem Wort gerade das, was der andere denkt, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie der Kreis im Wasser, durch die Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein NichtVerstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.« (Humboldt: Sämtliche Schriften VII, 64ff.)
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Sprache und Sprachgebrauch, jedenfalls so wie sie hier verstanden werden, implizieren von vornherein, daß es so viele Beschreibungen der »Dinge«, der »Verhältnisse« gibt, wie es Individuen gibt, die solche Beschreibungen anfertigen. Damit ist die Situation der »Abweichung« von anderen Beschreibungen und von den Beschreibungen der anderen von Anfang an gegeben. Sprachgebrauch führt also nicht nur zur Aufrechterhaltung sozialer Wirklichkeiten, sondern gewährleistet stets auch jene attraktive und bedeutsame Instabilität, die eine individuelle sprachliche Ablösung als Vorbedingung eines Bewußtseins-Wandels überhaupt erst ermöglicht.
8.
(Individuelle) Besonderheiten von Kognition, Emotion und Körper
Von »Kognitionen« wird, auch wenn sie dort nicht so genannt werden, in den literaturwissenschaftlichen Beobachtungen und Beschreibungen häufiger gesprochen als von den emotionalen oder gar körperlichen Konstrukten einer Beobachtung und Beschreibung. - Wer indessen einige Jahre lang literaturwissenschaftliche »Textanalysen« zur Gegenwartsliteratur gesammelt und bezüglich ihres emotionalen Anteil miteinander verglichen hat, wird zu dem Verdacht kommen müssen, der größte gemeinsame Nenner aller Äußerungen sei weder am jeweiligen Text noch am jeweiligen Autor festzumachen, sondern weit eher daran, daß es sich in jedem Fall um mehr oder weniger stark eigenwillige (Selbst-)Beschreibungen der jeweiligen Literaturwissenschaftler handelt. Dagegen ist wenig zu sagen, denn etwas wesentlich anderes scheint mir gar nicht vorstellbar; es bleibt indessen zu kritisieren, wenn nicht nur die Analyse-Anteile, die konsensuellen Standard-Beobachtungen, sondern auch noch die eigenen Sonder-Beobachtungen dem »Autor« oder dem »Text« zugeschrieben oder sogar angelastet werden - aufgrund des erwähnten Interesses an entsprechenden Verdeckungen. Wissenschaftler werden in allen Disziplinen (also keineswegs nur in den sog. Geisteswissenschaften) in ihrer Forschungspraxis von den eigenen emotionalen Lebensentwürfen bestimmt. (Vgl. etwa Grossing 1987, Klüver 1990, Maturana 1991) Was aber spricht dafür, diesen emotionalen Anteil ausgerechnet auch im Fall der Literatur-, Kunst und Medienbeobachtungen weiter als pure Akzidenz zu vernachlässigen? - Wir haben (abgesehen von gewissen, vor allem psychoanalytischen Ausnahmen und traditonellen Emphasen; etwa bei Staiger 1955) eigentlich doch noch keine Emotionstheorie der Literatur- und Medienwissenschaft.28 Die Verdeckung von Emotionen in Beobachtungen und
28 Wenigstens für die Soziologie fordert Elias 1990 eine Emotionstheorie. Ich zögere,
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Beschreibungen beruht wohl nicht zuletzt auf der Fehleinschätzung, Emotionen ließen sich nur emotional explizieren. Selbstverständlich kann Wissenschaft emotionale Zustände bzw. entsprechende Konstrukte rekonstruieren (vgl. Groeben und Scheele 1 9 7 7 , 1 0 3 ) , aber auch das ist etwas anderes als der unmittelbare Vollzug von spezieller, gerade nicht standardisierbarer Emotion in einer Interpretations-Praxis, die sich dennoch als Analyse ausgibt. Obwohl wir es nach außen hin anders praktizieren, so arbeiten wir Literatur- und Medienwissenschaftler eben doch nicht unter einem »Befehlsnotstand«, für den das Ausgangsobjekt oder die »Scientific Community« verantwortlich zeichnen. Der beobachtende und beschreibende, nicht nur der pur rezeptive U m g a n g mit Kunst, Literatur und (übrigen) Medien ist in j e d e m Fall ein Prozeß mit relevanten emotionalen Anteilen - zunächst ungeachtet dessen, wie hoch man diese Anteile konkret veranschlagt und wie man im einzelnen das Verhältnis von Kognition, Emotion und Körper bestimmt. Literaturwissenschaftler sind in ihrer Rolle als Wissenschaftler nach wie vor nicht die besten Adressaten, wenn Susan Sontag fordert: »Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.« (»Gegen Interpretation« 1964 bzw. 1968) Bei jeder Begegnung mit Literatur und Medien sind solche Prozesse beteiligt, die sich auf einer vorgegebenen Material- und Analysebasis allein nicht erklären lassen: Beteiligt sind generelle Wahrnehmungsprozesse, die weit über die sprachliche (und linguistisch analysierbare) Wahrnehmungen hinausgehen, es sind Prozesse globaler kognitiver und emotionaler, sogar körperlicher Wirklichkeits-Konstruktion und Lebenspraxis. Die Hervorhebung von sprachlich erfaßbaren Beschreibungs-Aspekten stellt allenfalls einen m e h r oder weniger passenden Stellvertreter f ü r den komplexen Gesamtvorgang dar. - Im Umkreis feministischer Diskurse (etwa bei Julia Kristeva, Judith Butler, Luce Irigaray) finden sich freilich Berücksichtigungen gender-spezifischer KörperRezeptionen. Bei einer weiteren Ausarbeitung von Emotions- und Körper-Beobachtungen wären, neben anderen, neuerlich zu berücksichtigen etwa der
Luhmanns Arbeiten (auch »Liebe als Passion«) als Emotionstheorie zu verstehen. Ansätze zu einer literaturwissenschaftlichen Emotionstheorie bei Henrike Alfes 1995. - Staiger meint, die Basis der wissenschaftlichen Arbeit sei das »allersubjektivste Gefühl« (1971, S. 10). »Das Kriterium des Gefühls wird auch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sein.« (ebd., S. 11) Zur Not wäre das noch machbar, wenn die anschließende Analyse (wie bei Staiger geplant) das anfängliche Gefühl wissenschaftlich bestätigt; aber wenn diese Operation immer nur glücken (wie ebenfalls von Staiger geplant) und eigentlich nicht mit gleicher Routine auch scheitern kann, dann taugt diese »Methode« als Wissenschaft nichts; im Gegenteil: sie ist so »kontraindiziert« wie jedes Prinzip, das nicht scheitern kann.
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»Schock« (Lacan), die »Plötzlichkeit« (Bohrer) oder auch die erkenntnisförderliche Kraft der »Grausamkeit« (Artaud) oder die des »Hasses« (Bohrer). Unsere Emotionen, unsere Rest-Ängste begrenzen die Spielräume der Kunst und Literatur, die wir proklamieren. Beobachtungen und Beschreibungen erscheinen nicht selten völlig anders, nicht selten ungleich anregender, wenn die Künstler selbst sich über Kunst und Literatur äußern: Sie leben, konstruieren und artikulieren einen ungewöhnlicheren, riskanteren Typ von Beobachtung: »Schöpferische Akte sind mit einem Mangel an Schrecken verbunden. Ich glaube, der Künstler - und das gilt auch für Maler und sogar für Musiker - , der Künstler hat nicht soviel Angst vor Veränderung, er kann viel mehr Unsicherheit aushalten als vielleicht die Mehrheit der Menschen.« (Lars Gustafsson 1989,126) Es gibt empirische Untersuchungen, die das bestätigen: Schriftsteller und Essayisten »[...] sind viel größeren psychologischen Problemen ausgesetzt, verfügen aber auch über ungleich mehr Möglichkeiten, mit diesen Problemen fertigzuwerden.« (Barron 1983,160) »Aushalten« und »Riskieren« - »flexible persistence« - nennt McMullan als Kriterien der »paradoxen Persönlichkeit kreativer Individuen«. (1976)
9.
Faktor »Individualität«
Ich unterstelle, daß es nicht gerade sinnvoll ist, avancierte Kunst als Reservat, als idyllische Heimstatt von »Individualität« zu imaginieren. »Individuum« ist selbstverständlich keine letzte, feste Bezugsgröße. »Individuum« ist selbst ein Interpretationskonstrukt und nicht das, was den umfassenden Interpretationismus hintergehbar machen oder ihn gewissermaßen vor sich hertreiben könnte. 29 »Individualität« ist ein Fo/geeffekt der allermeisten Diskurse, wenn auch nicht gerade ein offensichtlicher Effekt im Diskurs der Wissenschaft(en). In empirischen Untersuchungen (deren Nützlichkeit ich weitaus weniger als andere Autoren bestreite) zeigt sich, daß eine Produktanalyse, wie gründlich sie auch immer sein mag, so gut wie keine Vorhersage über das allgemeine
29 Ich bleibe damit noch immer, wenn auch gewissermaßen ohne schlagende Argumente von meiner Seite, einigermaßen vorsichtig gegenüber Siegfried J. Schmidts Luhmann-Kritik und der damit verbundenen Vorstellungen v o m Individuum, etwa wenn es bei Schmidt heißt: »Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Handeln und Kommunizieren sind geprägt von den Mustern und Möglichkeiten, über die ein Individuum als Gattungswesen, als Gesellschaftsmitglied, als Sprecher einer Muttersprache und als Angehöriger einer bestimmten Kultur verfügt. [...] Mit anderen Worten, das Individuum ist der einzige empirische Ort gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion, bei denen Aktanten und kollektives Wissen gleichermaßen berücksichtigt werden müssen.« (1995, S. 223)
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und individuelle Rezeptionsverhalten zuläßt. Beinahe alles erweist sich als anders, als man erhofft oder befürchtet hat. Aufgrund der unübersehbaren Vielfalt intervenierender, aber entscheidender Faktoren haben empirische Untersuchungen des Leseverhaltens immer auch dieses eine Resultat erbracht: Es läßt sich kaum eine, über das Banale hinausgehende Wirkung voraussagen, die bei den Mediennutzern stattfindet.30 Schon seit den Anfängen empirischer Leserforschung gilt der Faktor »Individualität« bzw. der »Faktor der Selektivität« (M. Dahrendorf 1979, 318) als wichtigster Faktor des Rezeptionsprozesses. (Vgl. etwa auch Maletzke 1963 oder Beinlich 1979) - Die Beobachtungsmöglichkeiten hängen, neben zahlreichen anderen Faktoren, unter anderem ab vom Alter, vom Sozialstatus, von der Kulturzugehörigkeit, von der Intelligenz und Informiertheit, von der Beeinflußbarkeit etc. Im Beobachtungsprozeß spielen Persönlichkeitsvariablen eine wesentlich stärkere Rolle als das, was man gleichsam beobachter-unabhängig als Eigenschaften des Angebots unterstellen darf. Man bekommt den einzelnen, individuellen Beobachter nicht heraus aus der Frage nach der Beobachtungs-Möglichkeit. Was wir jeweils beobachten, sind im brisantesten, im interessantesten Fall unsere eigenen sozialisierten, aber auch darin individuellen Erfahrungen, und nicht ein umfassendes, unabhängiges Medienprodukt, das ein intersubjektiv standardisiertes (und so gesehen auch prognostizierbares) Beobachtungsverhalten erzwingen würde. Und solche brisanten, weiterreichenden Beobachtungen sind »vom Text her«, »vom Medienangebot her« nicht zu sichern: Die stets vorhandenen Ähnlichkeiten mit den Beobachtungen anderer garantieren, wie gesagt, allenfalls für die trivialen semantischen Bausteine eines Angebots. Wenn »Bedeutungen« immer nur in individuellen und individuell-sozialisierten Lebens-Zusammenhängen erfahren werden können, wenn also Bedeutungen vor allem in diesem Sinne individual-kontext-abhängig sind, dann ist die Rede von der »wörtlichen«, der »tatsächlichen« Bedeutung einigermaßen sinnlos geworden, und sie ist allenfalls noch so zu verwenden, daß man einen hochähnlichen Standard-Kontext bei allen Benutzern veranschlagt, eine triviale Grundsemantik, den »Null-Kontext« der Linguistik. Die Wortwahl, die Zeichenfolge ist nur ein Teil, zudem ein fast durchweg überschätzter Teil der jeweiligen Beobachtungen. - Bislang ist noch jede Poetik, die sich nur als Sprach(material)-Theorie (mit entsprechenden Analyse-Möglichkeiten) verstand, ist noch jede Zeichentheorie, die nicht zugleich (Lebens-)Welt-Theorie sein wollte, an ihren antipsychologischen Reduktionen gescheitert. - Man wird
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Daher kann sich empirische Literaturwissenschaft direkt eigentlich nur auf das »Sozialsystem Literatur« beziehen, während es uns hier ja um das »Symbolsystem Literatur (und Kunst und Medien« geht.
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Literatur und übrige Medien, ohnehin hauptsächlich verstanden als »Umgang mit Literatur und Medien«, geradezu (auch) psychologisch beschreiben müssen, wenn man zuvor darauf verzichtet hat, den Analyse-Anteil in blindem Optimismus auszuweiten, also Literatur und Medien ausschließlich von den »Texten selbst« oder den »Medien selbst« oder ausschließlich von sozialen Systemen her verstehen zu wollen. Gerade der offene, der operationale Konsens ermöglicht eine flexible Dynamik der jeweiligen Beobachtungen und Beschreibungen. - Systemtheorie könnte bei aller Faszination, die auch ich teile, darin »Unrecht« haben, zumal im Kunst- und Mediendiskurs, daß sie das (falsche) Interesse der Menschen an sich selbst auch in der Wissenschaft für stornierbar hält.31
10. Das Angebot - die minimale V o r f o r m u l i e r u n g einer scheinbar restlosen Botschaft Das jeweilige Angebot erscheint nunmehr als eine minimale Vorformulierung dessen, was anläßlich seiner dann als komplexer und reizvoller Prozeß in Gang kommen kann. Es läßt sich in der Tat nicht angeben, was das genau ist, ein »Angebot«, was ein »Text« oder ein »Film« ist. Das Angebot ist offenbar etwas, was ständig zwischen Angebot und Nutzer - oszillierend - hin und her geht, was bei keinem von beiden stehen bleibt, was weder in der Situation der Rezeption selbst liegt, was sich aber auch nicht an den Nutzer delegieren läßt, was die Einheitlichkeit von »Angebot«, von »Text«, aber auch die Einheitlichkeit des Konstrukts »Nutzer« bzw. »Leser« fragwürdig erscheinen läßt. Wie auch immer: Das Oszillieren, das auch andere (vgl. Eco 1992; Jahraus 1995) konstatieren, widerspricht von vornherein der Stillstands-Erwartung an ein »Objekt«, auf die die Analyse angewiesen ist. Bei Angeboten, die nicht im Text- oder Bild-Zitat selbst vorliegen, läßt sich für den Leser einer (nicht vom ihm selbst verfaßten) Beschreibung überhaupt nicht entscheiden, was nun die hoch-konsensuellen Angebots- und Analyseteile wären und was schon als »eigenwillige« Interpretation im engeren Sinne zu gelten hat. Eine Analyse, die ihren Bezugstext gar nicht zitiert, läßt ihre Le-
31 Die Zurechnung auf Individuen mit ihrem jeweiligen Bewußtsein, also auf psychische Systeme anstelle der Zurechnung auf kommunikative, also soziale Systeme hat Luhmann einmal polemisch abgetan mit der Gegenfrage »Würde man für ein psychisches System [als Systemreferenz; B.S.] optieren, stünde man vor der Wahl: welches von den etwa fünf Milliarden?« Und die Entscheidung könnte dann praktisch nur lauten: »ich selber.« (Luhmann 1988, S. 63) »Ja, wer denn sonst, wenn nicht ein Individuum wie Niklas Luhmann?«, möchte ich doch zurückfragen.
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ser im unklaren über das jeweils hergestellte Verhältnis von Ähnlichkeit und Eigenwilligkeit, von Analyse und Interpretation. Anders gesagt: Die Analyse profitiert geradezu von der Abwesenheit der Ausgangsprodukte; die Abwesenheit umfangreicher Zitate trägt zur Suggestion von Wissenschaftlichkeit bei. Abgesehen davon haben jedenfalls kurze Zitate ohnehin keine andere Funktion, als dem jeweiligen Beobachters »sachlich« recht zu geben und dabei seine Eigenwilligkeit erneut zu verdecken. Es fehlen alle Grundlagen der Nachprüfbarkeit. Die Grenze zwischen »Objekt« und Beobachtung verschwimmt auch deshalb, weil zwischen Objektsprache und Meta- bzw. Fachsprache kaum klar unterschieden werden kann. Forderungen nach einer entsprechenden Mängelbeseitigung, nach Einlösung des Fachsprachen-Postulats (angefangen etwa bei Eimermacher 1973 und Fricke 1977 und 1991) sind zwar in jeder Weise berechtigt, aber andererseits sind sie auch aussichtslos, auch uneinlösbar. Zwar ist es möglich, eine Grenze zwischen »Objekt« und Beobachtung in einer Art von »re-entry« ihrerseits zu beobachten und so gesehen auch zu wahren - das jedoch kann nur auf einer Ebene (mindestens) zweiter Ordnung, auf der Ebene einer meta-theoretischen Aussage geschehen und gerade wiederum nicht auf der Ebene »erster« Beobachtungen und Beschreibungen. Anders gesagt: Systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft ist unbestreitbar Wissenschaft, sofern sie das macht, was sie ja auch macht, nämlich auf Meta-MetaEbenen zu klettern und sich dabei eben nicht mit der unvermeidlich DifferenzVerschleifung zu beschmutzen, wie sie bei der anfänglichen, voreiligen »Objekt«beschreibung unausweichlich ist. Anders gesagt: Will Literaturwissenschaft als Wissenschaft operieren, muß sie Theorie bleiben; der imaginierte »unmittelbare Zugriff auf Gegenstände« wäre ihr als Wissenschaft versagt. Ein vorgegebenes »Objekt« ist als Anlaß notwendig, um eine entsprechende Dynamik in Gang zu bringen, aber der Anlaß erklärt nur zum wenigsten den Gesamtverlauf der Textwahrnehmung. »Wörter sind reizgestalten einer Wirklichkeit, die wir oft nur mit ihrer hilfe zu erreichen vermögen [...]« (Franz Mon 1959, 31) - aber die Wörter ermöglichen indessen nur den »Start«, die erste Analyse, nicht das »Erreichen«, nicht die ganze Interpretation; die Wörter, die audiovisuellen Zeichen sind selbstverständlich notwendig, aber - und das ist hier das Kernargument - sie sind alles andere als hinreichend. Texte und andere Medienangebote sind eine Vorformulierungen dessen, was sie restlos zu sagen scheinen. Analyse überschreitet niemals die Grenzen einer »kompetenten« Paraphrase des Ausgangs»objekts«. Analyse zielt auf die vollständige soziale Determinierbarkeit, um überhaupt Dekodierung zuzulassen. Analyse ist ein Sonderdiskurs über Literatur, der nur solche Aussagen über Literatur
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als Aussagen über Literatur zuläßt, die aus der Dekodierungsleistung einer als intersubjektiv vorausgesetzten Semantik im Text selbst resultieren.32
Auch die Bezeichnung »Interpretation« wird so gesehen problematisch, weil strenggenommen gar nichts anderes interpretiert wird (zumal nicht bei avancierter Kunst und Literatur), sofern man darunter - bezogen auf etwas ganz anderes - immer noch eine Art von Dechiffrierung oder Auslegung oder Bedeutungs-Ermittlung oder irgendeine andere Art des »Darüber«-Redens versteht. - Der Primärtext, das Primäre wird eigentlich fingiert. Beobachtung konstituiert Primäres sekundär. Der »vermeintliche Ursprung ist immer ein nachzeitiger Effekt« - ein »Post-hoc-Anfang« (in Anlehnung Jahraus und Marius 1997, 55ff.). Die schwer vermeidliche Differenz von Primärem und Sekundären liegt also wiederum nicht »in der Natur der Sache«, sondern ist Resultat einer Zuschreibungspraxis. Genau genommen wird ein fingiertes »Objekt« mit kontingenten Folgesätzen umstellt, gar umspielt. Folgt man den hier unterbreiteten Vorschlägen, dann gibt es auch keinerlei Plausibilität, das »Primäre«, das »Unmittelbare«, das »Inkommensurable« der Kunst bzw. der Literatur gegen das »Sekundäre«, »Parasitäre« der akademischen, journalistischen oder essayistischen Interpretation auszuspielen, wie dies in zahllosen paradoxen und prominenten Unternehmungen geschieht; »paradox« allein deshalb, weil dabei stets eine Sekundärschrift, alle anderen Sekundärschriften denunzierend, das »Primäre« fundamentalistisch heiligt, dabei also suggeriert, es gäbe neben den akademischen, den journalistischen oder essayistischen Redebereichen noch einen weiteren Bereich, der sich unmittelbar zu seinem Gegenstand verhalten könnte (etwa Steiner 1990 und weitgehend auch noch das dortige Nachwort von Botho Strauß). Gerade in strittigen Fällen der Interpretation ist es völlig unmöglich, daß die »Autorität des (Primär-)Textes«, des Ausgangs»Objekts« entscheidet, wird sie doch aufgrund der »Anfrage an den Text (bzw. an das Objekt)« selbst massiv angezweifelt - abgesehen davon, daß gerade in der avancierten Kunst die sekundären Diskurse »primär« problematisiert werden. (Vgl. Jäger 1991). Wenn aber ein primärer, eigentlicher, originaler Text oder ein Kunst»objekt« gar nicht vorfindbar ist, dann gibt es auch keinen »sachgebundenen« Maßstab des Näherdran oder Weiterweg und damit auch keinen anders als taktisch abgesicherten Vorwurf der Domestizierung von Kunst (wie etwa bei Susan Sontag). Karl Heinz Bohrers unermüdliche Hinweise auf die Inkommensurabilität der Kunst und Literatur mögen strategisch richtig sein in der vielleicht sogar reizvollen romantischen Paradoxie, eine Meßbarkeit des Unermeßlichen zu praktizieren, jedoch sind alle Maßstäbe des Redens über Me-
32
In Anlehnung an eine briefliche Formulierung von Oliver Jahraus.
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dien, Kunst und Literatur ausschließlich Diskurs- und nicht Objekt-Maßstäbe (und daher sind sie auch Macht-Interessen oder M o d e n stark unterworfen). Selbstverständlich und Beschreibungen
wird hier nicht behauptet, nicht reden
und streiten
daß sich über
Beobachtungen
ließe·, hier wird allerdings be-
hauptet, daß ein Reden und Streiten nur m ö g l i c h sei als eine Diskussion über Regeln der»Objekt«konstituierung und der Zuschreibung v o n B e d e u t u n g . Das A n g e b o t kann nie sagen, w a s wir sagen sollen, und auch das »Vetorecht« (in A n l e h n u n g an K o s e l l e c k 1 9 7 9 b z w . 1 9 8 9 , 2 0 6 ) , w o n a c h das A n g e b o t uns hindere, A u s s a g e n zu machen, die wir nicht machen dürfen, auch d i e s e s » V e t o recht« wäre bestenfalls ein gut funktionierendes Diskurs-Prinzip, j e d o c h keine Entscheidung g l e i c h s a m v o m A n g e b o t selbst her.33
33 Interpretationen sind freilich dann falsifizierbar, wenn sie bei bestem Willen nicht zum völlig unstrittigen Analyseteil passen, etwa wenn es sich um offenkundige Lesefehler oder Druckfehler handelt. - Umberto Eco oder etwa auch Karl Eibl bemühen sich um eine Falsifizierungsmöglichkeit, und damit wohl doch auch um ein »Vetorecht« im Fall der Interpretation, verbunden mit der Absicht, die Wissenschaftlichkeit von Interpretation (jedenfalls diesbezüglich) zu wahren. Die Beispiele allerdings, die jeweils ins Feld geführt werden, beweisen m. E. aber vor allem, daß die allermeisten Diskursteilnehmer nicht so vollkommen »verrückt« sind oder sein wollen, etwa zu behaupten, eine skeptischer Hinweis auf den Rindfleischgenuß in der Literatur des 18. Jahrhunderts sei schon als erste Warnung vor dem »Rinderwahnsinn BSE« zu deuten. Aber andererseits wird sich auch niemand irritieren lassen, der partout darauf hinaus will, die eiserne Hand des Götz von Berlichingen als hochaktuelles Symbol für die gegenwärtige Mensch-Maschinen-Diskussion verstehen zu wollen. Und schon mit diesem, von der BSE-Hirnrissigkeit nur gering abweichenden Beispiel ergibt sich sogleich eine ganz andere, und wie ich finde, tatsächlich interessante Situation - mit einem Beispiel, das allerdings brisant auf der Kippe steht zwischen »hirnrissig« und (möglicherweise doch) »interessant«. Oder anders gesagt: Interpreten lassen sich nicht daran hindern, die bei Büchner im »Woyzeck« dargestellten Menschenversuche einigermaßen umstandslos als Antizipation von Menschen-Versuchen in Konzentrationslagern zu verstehen - und warum sollten sie auch? - Umberto Eco gibt Beispiele von Fehlern, die so gut wie nie gemacht werden. Sammelt man aber nur Beispiele für diesen Fehlertyp, dann fällt es in der Tat mit jedem Beispiel leichter, den »wörtlichen Sinn zu verteidigen«. Genau besehen, bezieht sich das »Vetorecht des Textes« aber doch wieder nur auf Handlungsweisen der Interpreteten, die nicht sein sollten. Und Ecos Folgerung, daß es damit ja »etwas gibt, was die Botschaft tatsächlich nicht sagen kann« (1992, S. 16), umschreibt unstrittige »Geschäftsgrundlagen« aber keine Selbstregulationsfähigkeiten der Texte. - Ich bestreite nicht die Schlagkräftigkeit der Beispiele von Eco oder Eibl. Wenn es in Goethes Gedicht »Sprache« heißt: »Greife milde drein [...]!« (und zwar mit dem »Schwert«, dann ist es unerläßlich, der Belehrung entsprechender Wörterbücher zu folgen, daß zu Zeiten Goethes »milde« auch »stark, kräftig« bedeuten kann. Gleichermaßen unerläßlich ist es, zu wissen, daß die »holden Schwäne« in Hölderlins »Hälfte des Lebens« nicht »hold« sind im heutigen Sinne, sondern (zum Wasser) »geneigt«, wie auch die »holden Ufer«. (Zu diesen Beispie-
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Wenn man »Hineinrufen und Herausschallen« einmal als unvermeidlichen Mechanismus von Beobachtungen und Beschreibungen akzeptiert hat, dann kann man nicht mehr gänzlich überrascht sein (wie die herkömmliche Interpretationskritik), daß Beobachtungs-»Experimente«, obwohl sie ja mit Entdecker-Stolz als »geglückt« vorgezeigt werden, eigentlich überhaupt nicht mißlingen können. Es charakterisiert in hohen Maß das Ausgangs»objekt«, daß es all das als Antwort (zurück-)gibt, was die »Anfrage an den Text« sich auch immer erhofft hat. Jeder entschlossene Verführer, der dermaßen »in den Textkörper eindringt«, hat das Veto, hat das »Nein!« des Gegenüber immer für ein nur schlecht chiffriertes »Ja!« gehalten (nicht ohne gewisse Erfolge). Für die Dekonstruktion ist das unterstellte Veto geradezu erst die Aufforderung, sich unter allen Umständen darüber hinwegzusetzen.
11. Plädoyer f ü r eine selbstverständliche, un(zu)gehörige, »essayistische« Schreibweise Mir geht es hier gerade nicht um die in der Essaytheorie und in den Essays über den Essay fast allerorten zu beobachtende, emphatische Beschwörung der »nonkonformistischen«, »anarchistischen«, »inkommsenurablen« Qualitäten der Gattung »Essay«. Es geht vielmehr darum, alle üblichen Behauptungen nach Möglichkeit zu unterlassen, der Essay gemahne an die »Freiheit des individuellen Geistes«, der Essay stelle eine hellsichtige, jedenfalls überlegene Wahrheitssuche dar. (Vgl. etwa Rohner 1972 und die dort nachzulesenden »Essays über den Essay« von Georg Lukacs, Max Bense oder Theodor W. Adorno) .34 Auf der gleichen Welle von Überschwenglichkeit liegt die ebenfalls wenig plausible oder wenig nützliche Zuschreibung des Essays zum Be-
len vgl. Eibl 1992, S. 178f.) - Aber ich bezweifle nach wie vor, daß mit dergleichen Reglements die gewissermaßen prognostische Beobachtung und Beschreibung avancierter Gegenwartskunst geordnet werden kann. Die Erfolge der Historiographie und der Metatheorie lassen sich m. E. gerade nicht generalisieren. 34 Zur Kommentierung vgl. Scheffer 1992, S. 2 9 2 - 3 0 0 ; zur Kritik an der Essay-Emphase vgl. die Habilitationsschrift von Georg Stanitzek »Musenkette, Fama, Talkshow. Zur Hermeneutik des Gegenwartsessays«. (MS. Köln 1996) - Gewisse Überschwenglichkeiten bei der Darstellung dessen, was doch eigentlich selbstverständlich ist, sind immer noch nicht zu vermeiden, schließlich kommen die Erinnungen an Selbstverständlichkeiten ja aus der Defensive angesichts der überlegenen Reputation von Wissenschaft; Erinnerungen nehmen daher den W e g von »Plädoyers«. Dem Tonfall, dem Stil der Begeisterung entgeht auch Stanitzek nicht, obwohl oder gerade weil er alles versucht, um (wie er vielleicht schreiben würde) »lässig« und »cool« zu bleiben.
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reich der Kunst, zum Bereich der Literatur. - Ungleich nützlicher sind dagegen alle Hinweise auf die Selbstverständlichkeit einer nicht zuletzt an den Hochschulen praktizierten und verbreiteten, wenn auch in der expliziten Hervorhebung einer solchen Praxis vernachlässigten Form der Beobachtung und Beschreibung. Die nicht-wissenschaftliche Rede- und Schreibweise, auf die es hier ankommt, ist ganz selbstverständlich vorhanden in Zeitungen (in Feuilletons), in Zeitschriften, auch in Reportagen, in Rezensionen, in audiovisuellen Fernsehmagazinen, jetzt auch im Internet - und gerade auch in den Kulturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften (da am allermeisten und da allerdings auch am meisten verdeckt). 35 Das Überschwenglichste, was sich über die hier favorisierte Rede- und Schreibweise sagen läßt, wäre dies: Die »essayistische« Beobachtung und Beschreibung nutzt die Defizite, an denen Analyse und Wissenschaft kranken. Um indessen weitere Mißverständnissen anläßlich des Vorschlags, Interpretation als »essayistische Tätigkeit« zu verstehen, zuvorzukommen: Ein Plädoyer für den Tanz ist kein Plädoyer für die Abschaffung des normalen Gehens und noch weniger wäre es ein Vorschlag zur Lösung »aller« Fortbewegungs-Probleme. Wer für ganz bestimmte Gelegenheiten den Genuß von Kaffee oder Tee empfiehlt, denunziert damit ja nicht die Unentbehrlichkeit des Trinkens von staatlich geprüftem Wasser. - Wenn ich mir allerdings die bisherigen Reaktionen auf meine bisherigen Vorschläge in Erinnerung rufe, dann bleibt bei aller Würdigung von anderen, auch anderen strategischen GegenInteressen doch eine gewisse Verwunderung zurück: Was ist eigentlich so schrecklich an der Vorstellung, daß bei einer umfangreichen, intensiven, vergleichenden und verknüpfenden Beschreibung von Kunst- und Medienangeboten nur bestimmte Teile davon eine wissenschaftliche Analyse darstellen, zu deren Resultaten im Prinzip jeder kommen müßte, der mit Kompetenz analysiert, daß es aber gerade auch Teile der Beschreibung gibt, die nicht in gleicher Weise kontrollierbar sind, die kontingent, assoziativ, sprunghaft, orginell, kreativ, jedenfalls anders ausfallen? Wenige andere Autorinnen und Autoren plädieren dafür, Interpretation aus von den Verpflichtungen der Wissenschaftlichkeit zu entbinden: »Das Konzept der Interpretation - [...] ausgearbeitet und verstanden als Kulturvermittlung - müßte sich allerdings von bestimmten Vorurteilen lösen. Ein Vorurteil ist das Festhalten an dem Postulat der Wissenschaftlichkeit.« (Ibsch 1 9 8 8 , 3 0 7 ; ähnlich schon Steinmetz 1983) Auch Hauptmeier und Schmidt schließen aus, daß Interpretation als wissenschaftliches Verfahren durchführbar sei - unter
35 Im Anschluß an den Essayisten Michael Rutschky schlägt Georg Stanitzek ( M S . 1996, S. 289) vor, den Essay als »tagtäglich gesprochene Prosa zu verstehen«. Und etwas, was alle tun, würde daher auch keine besondere Ehrung verdienen.
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anderem mit dem Argument, daß bei der Interpretation kein allgemeiner Bezugsrahmen (wie ihn die Analyse verlangt) zu finden sei: »Da nun literarische Texte aufgrund der Besonderheiten des Literatur-Systems nicht direkt an pragmatische Erfahrungskontexte angeschlossen werden sollen und können, steht der Rezipient vor der Aufgabe, einen Referenzrahmen außerhalb des literarischen Textes zu entdecken, der die zugeschriebenen Bedeutungen zu einer kohärenten Struktur organisiert. Bei dieser Suche werden seine Bedürfnisse, Fähigkeiten, Kenntnisse und Intentionen automatisch ins Spiel kommen. [...] Es gibt keine Überprüfung von Interpretationshypothesen am Text und keine objektive Rechtfertigung für die Wahl bestimmter Referenzrahmen.« (Hauptmeier und Schmidt 1985, S. 128 bzw. 130) - Ansatzweise vergleichbar sind die Vorschläge, das Problem von Analyse und Interpretation, von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft durch das Konzept des »Kommentars« zu überbrücken; auch dabei heißt es: Kommentare stehen »nicht hinter, sondern vor den literarischen Texten«; das bedeutet: »in der Arbeit der Kommentare wird das zu bearbeitende Objekt zugleich erzeugt.« (Fohrmann 1988, 247) Richard Rorty plädiert dafür, »[...] die Distinktion zwischen Gebrauchen und Interpretieren einfach fallenzulasen, und nur zwischen Nutzungsmöglichkeiten für verschiedene Menschen mit abweichenden Motiven zu unterscheiden.« (1994, 116) - Diesbezügliche Skepsis oder gar Absagen an die Wissenschaftlichkeit dessen, was hier »Interpretation« genannt wird, finden sich bekanntlich auch bei Roland Barthes, vor allem in der »Lust am Text« (1974), sowie natürlich im Umkreis der sog. »Dekonstruktion« 36 Zu den Kennzeichen der selbstverständlich gegebenen, wenn auch aus der Sicht der Wissenschaft »un(zu)gehörigen« Rede- und Schreibweise gehört eine (immer noch verhältnismäßig exponierte) Rolle (nicht »die Persönlich-
36
Auch Oliver Jahraus, der sich innerhalb des skizzierten Problemfeldes gerade wieder für die wissenschaftliche Seite stark macht, gesteht der essayistischen Beobachtung jene Vorteile zu, die ich hier herausstreichen will: »Essayistik setzt keine Verobjektivierung mehr in dem Sinne voraus, daß sie auf der Metaebene immer eine Objektebene so installieren müßte, als sei diese Objektebene von ihrer Metaebene und den Operationen, die sich darauf abspielen, unabhängig. Essayistische Interpretationen haben somit diskursiven Vorschlagscharakter, wobei die Annahme des Vorschlags nicht mehr von der Objektkonstitution abhängig gemacht werden muß. Anders gesagt: Weil die Differenzierung zwischen Meta- und Objektebene wegfällt, können essayistische Interpretationen direkter an dem, was sie interpretieren, anschließen, um somit ihrerseits wiederum direkte kommunikative Anschlüsse zu ermöglichen, wenn nicht gar zu provozieren.« (1997) - Die Skepsis von Jahraus gegen die essayistische Beobachtung gründet dann aber schließlich darin, daß er sie für »funktionslos« hält - jedenfalls bezogen auf ein ganz bestimmtes Sozialsystem. - Es bleibt wohl vorerst eine gewissermaßen emotionale Entscheidung von mir, wenn ich diesen »Mangel« für einen großen »Vorteil« halte.
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keit«) des Essayisten und Interpreten als eines »Sonder-Beobachters« (in Differenz zu der Rolle eines wissenschaftlichen Standard-Beobachters). Der Sonder-Beobachter handelt im Unterschied zum Standard-Beobachtern so, als ob er außerhalb der Situation gemeinsamer Wirklichkeits-Konstruktion stünde; der Sonder-Beobachter imaginiert eine kognitive, emotionale oder gewissermaßen sogar körperliche Ablösung von den herrschenden Wirklichkeitsmodellen. In der Sonder-Beobachtung werden neue Beschreibungsbereiche hervorgebracht, und sie können nur hervorgebracht werden als neue Bereiche, wenn sie gerade nicht auf der Linie der vorherrschenden sozialen Verabredungen liegen. Eine allgemein gültige Standard-Interpretation würde den »common sense« zitieren oder das Ausgangs»objekt« paraphrasieren, sagte aber anläßlich des Ausgangs»Objekts« gerade nichts Besonderes aus. Auf die besondere Kompetenz, die spezifische »Begabung« und »Intelligenz«, die individuelle »Kreativität« und »Kreatürlichkeit« des Interpreten ist nicht zu verzichten - auch wenn man bei Bezeichnungen wie »Begabung«, »Intelligenz«, »Kreativität« und »Kreatürlichkeit« vorsichtiger sein müßte als ich es hier im begrenzten Rahmen sein kann. Die Ausgangslage einer Interpretation bleibt eine Erkenntnisleistung eines einzelnen Individuums (unter Umständen sogar eine »selbstherrliche Sinnsetzung«; in Anlehnung an Berger und Luckmann 1980, 140). Man braucht das essayistische, voreilige, übertreibende, riskante, eigenwillige, intelligente, kreative, nicht-intersubjektive Denken, komplementär zum jeweiligen analytischen (und empirischen) Wissen. Man braucht die halluzinatorische SonderBeobachtung; man kann nicht erwarten, daß analysierende und empirisch verfahrende Mehrheiten sofort alles beobachten (und dazu noch mit empirischen Methoden). Mit empirisch untadeligen Argumenten allein kommt anläßlich von Literatur-, Kunst- und Medienbeobachtungen, zumal wenn sie neue Angebote betreffen sollen, niemand aus - und wer das dennoch erhofft, müßte warten bis zum St. Nimmerleinstag untadeliger Argumente. Die essayistische Rede- und Schreibweise ist eine Einladung an andere Diskursteilnehmer, ähnlich zu verfahren. Der Stil, der Habitus dieser Rede- und Schreibweise lädt dazu ein: Voreiligkeit, Übertreibung, Überpointierung, Witz, Ironie und vor allem Selbstironie, auch freche Behauptungen werden (im günstigerem Fall) eben nicht als apodiktisch oder tyrannisch empfunden, sondern im Gegenteil als Offenheit, als mindestens unterschwellig spürbarer Hinweis, als Eingeständnis, daß alles auch ganz anders sein könnte. - Wissenschaft würde sich mit derlei Relativierungen lächerlich machen; wissenschaftliche Forschungsresultate sind, bei aller Anschlußfähigkeit wenig offen; sie präsentieren sich fast immer als gleichsam »abschließende« Resultate.
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Die Qualität einer essayistischen Beobachtung und Beschreibung hängt ab von den Möglichkeiten des jeweiligen Beobachters, eine kognitive, emotionale (und körperliche) Eigendynamik in Gang zu bringen, die vom Essayisten selbst als ausreichendes Verständnis akzeptiert wird und die dann schließlich im Fall der schriftlichen Interpretation bei anderen Lesern jeweils ein Verhalten anstößt, das diese anderen Leser als »angemessen«, genau genommen: als anregend und anschlußfähig akzeptieren. Auch deswegen können Beobachter ein Ausgangs»objekt« nicht all das »sagen« lassen, was immer ihnen beliebt.
12. K o n t r o l l m e c h a n i s m e n der essayistischen R e d e - und S c h r e i b w e i s e Selbstverständlich nutzt die essayistische Rede- und Schreibweise alle, der Wissenschaft eigentlich nicht erlaubten Überzeugungsrituale, um die eigenen Vorschläge zu »pushen«. Gleichwohl gibt es »natürliche« Grenzen: Die Mechanismen der Herstellung essayistischer Tätigkeit lassen sich weitestgehend angeben; der Essay ist (ähnlich wie Wissenschaft) weder »magisch« noch »frei« von bestimmten Regeln. Es ist offenkundig sinnlos, kommunikative Orientierungen gänzlich zu unterlassen; im übrigen würde diese Unterlassung auch nie gelingen, denn allein die Verwendung von Sprache würde dem widersprechen (vgl. Luhmann/Fuchs 1989). Es gilt, eine Art prekäre Balance zu schaffen; die beinahe dilemma-artigen Schwierigkeiten bestehen darin, eigenwillige Beobachtungen sozial aussichtsreich zu beschreiben. In Sprache umgesetzte Beobachtungen sind nicht mehr »privat«, wie »intim« der Autor sich auch äußern mag (das kann schon die Lektüre der »Essais« von Montaigne zeigen). Der volle subjektive, der volle private Charakter solcher Beobachtungen und Beschreibungen ist allein durch den Gebrauch von Sprache {mit anderen Beobachtern) und ist durch Systemgrenzen {abgegrenzt von anderen Beobachter) überhaupt nicht zu vermitteln; auch Subjektivität ist sprachlich vermittelt, oder, systemtheoretisch gewendet: (auch individuelles) Bewußtsein ist immer schon mit Kommunikation strukturell gekoppelt. Jeder einzelne Beobachter verfügt über Erfahrungen, welcher Typus von eigenen Aussagen von anderen akzeptiert wird, und jeder einzelne Beobachter kann aufgrund dieser Erfahrungen nun auch seine Erwartungen einrichten, d . h . er kann »Verständlichkeit« und »Verstehen« hypothetisch vorwegnehmen. - Würde man eine solche Annahme nicht machen, bestünde keinerlei Grund für das Aufschreiben einer »eigenwilligen« Beobachtung, geschweige denn für ihre Publikation. Es ist in der Tat außerordentlich schwierig, beim Reden und Schreiben über Kunst und Literatur eine Sprachverwendung zu finden, die nicht schon
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»(Autor-)Intentionen«, die nicht schon den »Gegenstand«, seine »Bedeutung«, gewissermaßen seinen »(Eigen-)Bedarf« ungeprüft voraussetzt, die sich nicht selbst als Folge, als Konsequenz eines »Sachzwangs« vortäuscht. 37 Die Metaphorik des Redens über Angebote läßt sich allerdings zumindest teilweise ändern, und damit wäre auch einiges gewonnen: Es dürfte zwar nicht für den Einzelfall, aber für den gesamten Sprachgebrauch einen nicht unbeträchtlichen Unterschied ausmachen, ob man für Kunst und Literatur weiter Gefäß-Metaphern (»im Objekt enthalten«, »daraus zu entnehmen«) benützt oder ob man Metaphern im Umkreis von Impuls, Anstoß, Anlaß, Anregung oder Möglichkeit sucht. Es würde vermutlich auch zu beträchtlichen Veränderungen im Diskussionsklima kommen. Essayistisch verfahrende Beobachter geben mit ihrem Text einen phänomen-erzeugenden Mechanismus (eine Art »Rezept«) an, aufgrund dessen sich andere Hörer und Leser selber die betreffenden Phänomene gleichsam ein zweites Mal in einer parallelen Hervorbringung erzeugen könnten. Jemand, der über Kunst und Literatur redet oder schreibt, schlägt seinen Hörern oder Lesern nur einen Mechanismus vor (gemeint wieder im Sinne von »Anstoß zu einer Selbstdynamik«), aufgrund dessen die anderen sich ihrerseits eine passende Kopie der vorgeschlagenen Phänomene erzeugen können (wenn sie denn »emotional« wollen). Aussagen über Außenwelt-Phänomene, über Kunst- und Literatur-» Objekte« müssen in der Konsequenz eines solchen Vorschlags »generativ« sein. Auch damit kann der Essay nicht auf alle Grundbedingungen sog. »verständlicher«, »akzeptabler« Darstellung verzichten - es soll ja schließlich darum gehen, halluzinatorisch hervorgebrachte Sonder-Beobachtungen zu verbreiten und Verbündete dafür zu finden. Beim Essay geht es damit nicht in erster Linie um eine irgendwie kontrollierte »Objekt«-Rezipienten-Interaktion, sondern hauptsächlich um einigermaßen, um ausreichend kontrollierte Angebote für andere Rezipienten, um Rezipienten-Interaktionen. Jegliche Beobachtung ist gegenüber sich selber blind, auf der anderen Seite aber bleibt Bewußtsein an Kommunikation interessiert, und dieses Interesse läßt sich überhaupt nur dadurch anregen, daß Bewußtsein, daß Beobachtung sich Form gibt und dabei individuelles Bewußtsein (das des urhebenden Beobachters) verläßt, dabei nun ins Kommunikationssystem hinüberwechselt, denn nur auf diesem Weg ist wieder (anderes) Bewußtsein (indirekt freilich) erreichbar und irritierbar. Die Herstellung von Interpretationsiexfen ist eine der
37
In der Kritik an konstruktivistischen Arbeiten ist wiederholt moniert worden, daß der Sprachgebrauch der Autoren hinter ihre Überlegungen zurückfällt; sicher trifft dies zu, aber der »Fehler« ist unvermeidlich (und damit im Prinzip auch »verzeihlich«). Man kann nicht im vollem Umfang konstruktivistisch schreiben; man käme nicht von der Stelle, es würde sehr manieriert wirken.
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Möglichkeiten, auf dem Weg der Kommunikation Irritationsangebote für Bewußtsein(e) anzubieten, und durch den Gebrauch von Sprache ist die Herstellung von Interpretationstexten nach wie vor die Möglichkeit der Wahl.38 Davon abweichende Interpretationsversuche, die zu wenig auf Kommunikation und statt dessen zu stark auf das (Urheber-)Bewußtsein setzen, scheitern, weil sie als »tyrannisch« und im wörtlichsten Sinne als »indiskutabel« empfunden werden. Sie werden dann als »tyrannisch« und als »indiskutabel« empfunden, wenn sie über ein bestimmtes Maß hinaus - anders als »Kunst«, die das darf und soll - die Kommunikationserwartungen der sekundären Diskurse verweigern. Auch so gesehen rechnet die essayistische Schreibweise zu den »sekundären Diskursen«, und eben nicht zur Kunst und Literatur. Demgegenüber kapriziert sich die Kritik am Essay darauf, ihn als gleichsam »asozial« hinzustellen; das größere Problem scheint mir jedoch genau umgekehrt gegeben: Die Rückfälligkeit aller voreiligen Vorstöße, das Dilemma des vorliegenden Lösungsversuchs besteht darin, daß man im Zuge von Beobachtungen und Beschreibungen doch wieder schwer vermeidlich Beobachtungen und Beschreibungen »über etwas«, »zu etwas« anbietet - und daß man diese Beobachtungen nur dann wichtig, nur dann anschlußfähig werden können, wenn sie entgegen dem Angebot, entgegen dem unterstellbaren Trend diesbezüglicher Kommunikations-Verweigerung oder Kommunikations-Verzögerung in (verhältnismäßig) leicht eingängigen Beschreibungen dennoch sprachlich, dennoch als Text kommuniziert werden.
13. Eine »Intelligenz« über Analyse, W i s s e n s c h a f t und scharfe D i f f e renz hinaus Vieles spricht in der Tat dafür, daß kompetente und »lebenskluge« Reaktionen auf avancierte Kunst- und Medienprodukte keinesfalls darin bestehen können, daß man schon wieder und immer noch Texte »darüber« verfaßt, statt nun zu tanzen, zu meditieren, gar zu schweigen oder wie auch immer. Daß wir weiter Ausschau danach halten, eigene Beobachtungen in die Sprache von Wissenschaft und Essay kleiden zu können, könnte sich durchaus als die zentrale Inkonsequenz unserer Überlegungen herausstellen.
38 Auch Mystik, auch Zen, auch diese Kommunikationen des Inkomunikablen brauchen Texte, brauchen dicke Bücher, die vorzugsweise dadurch vorankommen, daß sie in unzähligen Variationen versichern, ihr »Gegenstand« sei in Sprache nicht zu fassen, sei eigentlich unbeschreiblich. (Vgl. dazu den Beitrag von Nina Ort im vorliegenden Band, die einschlägigen Beiträge bei Luhmann/Fuchs 1989 und Fuchs 1995).
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Luhmann konstatiert unvermeidliche Sinngebung: »Sinnsystemen ist zwar im Prinzip alles zugänglich, aber alles nur in der Form von Sinn. Universalität heißt auch in dieser Hinsicht nicht Ausschließlichkeit. Aber alles, was in der Welt der Sinnsysteme rezipiert und bearbeitet werden kann, muß diese Form von Sinn annehmen; sonst bleibt es momenthafter Impuls, dunkle Stimmung oder auch greller Schreck ohne Verknüpfbarkeit, ohne Kommunikabilität, ohne Effekt im System.« (1987, 97 f.) - Mir scheint allerdings, »momenthafte Impulse«, »dunkle Stimmungen« oder auch »greller Schreck« - eben »ohne Verknüpfbarkeit, ohne Kommunikabilität, ohne Effekt im System« seien doch genau das, was die avancierte Kunst im 20. Jahrhundert anstrebt, wären also willkommen zu heißen. Systemtheorie kann nicht sehen, daß es möglicherweise doch eine »Intelligenz« jenseits von Begrifflichkeit oder jenseits von einer permanenten Entweder-Oder-Differenz geben könnte. Zumal systemtheoretische Wissenschaft Grenzen ziehen und verteidigen muß und immer nur in genau dieser, ihrer Weise anschließen kann. - Selbstverständlich trifft auch der Essay unvermeidlich Unterscheidungen und prozessiert diese als Sinn (der »Sache«), aber dies geschieht gebremst und versehen mit mindestens impliziten Signalen (in Stil und Habitus), daß es nicht um »zutreffende« Unterscheidungen nach immer nur zwei Seiten geht, sondern vorrangig um die Einsicht, daß sich alles, was interessant ist, genau auf der Grenze, genau im »Niemandsland«, in der »Leere«, in »blinden Flecken«, in »Zwischenräumen« ereignet. So gesehen stellt der Essay eben doch eine Rede- und Schreibweise dar, die zwar nicht explizit zeigt, aber doch implizit verdeutlicht, was sich ansonsten im gleichen Zuge nicht verdeutlichen läßt: die gleichzeitige Demonstration der anderen Seite der jeweils gesetzten Differenz, die mindestens partielle Beleuchtung der eigenen blinden Flecke. In der avancierten Kunst, so sei »mit Gewinn« unterstellt, werde die ansonsten klare »Differenz zwischen Mitteilung und Information« (vorgeschlagen bei Luhmann) produktiv verwechselt: Wer weiß da noch, ob das Wegschieben des Tellers dann »wirklich« noch meint, daß die Suppe versalzen ist? Ist es nicht überhaupt so, daß avancierte Kunst immer auch die jeweils neuesten Differenz-Erkenntnisse der besten Wissenschaft intentional unterläuft? Je mehr sich systemtheoretische Wissenschaft ausbreitet, desto erfindungsreicher erscheinen dann wohl auch wieder die Diskurse, die ihr Mühe machen?
Analyse und Wissenschaft müssen die Differentialität ihres »Objekts« ausblenden, müssen Ent-Differentialisierung betreiben, müssen »Irritationen« entirritieren, müssen »Krisen« routinisieren, wohingegen der Essay Differentia-
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lierungs-Angebote macht.39 Wissenschaft muß konventionalisieren, muß die Spitzen der »Individualinspiration«40 kappen im Versuch, langlebig zu klassifizieren, zu systematisieren, zu konventionalisieren, zu de-arbitrarisieren und zu ent-kontingentisieren, und ihre Differenzscheren schneiden dann (wie Charlie Chaplin) alles weg, was dann an Stücken über den zugeklappten Koffer noch hinaushängt. Das macht zwar den Transport möglich, viele wichtige Stücke bringt man damit durchaus weiter, indessen den Essayisten, diesen kompetenten Dilettanten, bleibt die schöne Aufgabe, die weggeschnittenen Fragmente hinterher- oder vorauszutragen. Oder anders gesagt: Wissenschaftler sollten weniger die Frage stellen »Wie schreibt man einen Essay?«, sondern sollten sich vielmehr ihrerseits die Frage gefallen lassen, wie sie es denn überhaupt verhindern können, andauernd Essays zu schreiben Μ Modelle einer friedlichen Koexistenz, Modelle der Komplementarität und Kooperation zwischen Wissenschaft und Essay leuchten (vorerst) nur bedingt ein. Der Essay mag der Wissenschaft Impulse geben, auf ihre Weise nun Fragestellungen zu formulieren, der Essay muß (wie gesagt) Rücksicht nehmen auf Resultate der Analyse, aber gerade weil es um Grenzstreitigkeiten geht, stimulieren sich beide Bereiche nicht nur stets zu beider Vorteil, sondern sie untergraben einander auch die jeweilige Zuständigkeit, jedenfalls fordern sie einander heraus. Mir scheint, man erzielt bei den relevanten Diskussionen keine weiteren Fortschritte, wenn man (so unterschiedlich und so unterschiedlich bedeutsam die einzelnen Ansätze auch sein mögen) - wenn man wie Staiger, wie Gadamer, wie Frank, wie Eco oder wie viele andere weiterhin angestrengt versucht, die Interpretation der Wissenschaft zuzuschlagen, oder sie andererseits zur Kunst, zur Literatur rechnet oder sie gar allzu einfach, allzu friedvoll als ein Mittelding zwischen Kunst und Wissenschaft auszugeben will. Mithin leuchtet mir auch nicht unbedingt ein, wenn Gabriel (1991) das Dilemma einer »Literaturwissenschaft zwischen Literatur und Wissenschaft« erneut, ähnlich wie einst Staiger, damit zu lösen versucht, daß er der Interpretation eine Mittelposition zwischen Kunst und Wissenschaft einräumen will. Vom Essay wird eine ähnliche Mittelposition und Mittlerposition behauptet. Mir sind derlei Lösungen zu glatt, zu einfach; würden sie schon jetzt gut funktionieren, dann hätten sich die allermeisten, die nach wie vor brisanten Diskussionen längst erübrigt. Zu »friedlich« sind mir auch die verschiedentlich angedeuteten Ko-
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Vgl. dazu den Beitrag von Oliver Jahraus im vorliegenden Band. Eine (wohl?) polemische Formulierung von Karl Eibl (1992, S. 180) gegen die (nicht-wissenschaftliche) Interpretation. Auf den Gedanken, daß Spiel dergestalt auch einmal anders herum zu spielen, hat mich die Arbeit von Stanitzek 1996 gebracht.
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existenz-Modelle, wonach die Wissenschaft den Essay brauche, geradezu voraussetze - und umgekehrt der Essay in gleicher Weise auf Wissenschaft angewiesen ist; ich meine der Essay braucht Wissenschaft unter Umständen äußerst wenig. - Freilich muß der Essay, da es ihn nun einmal selbstverständlich gibt, auch irgendwo seinen Ort haben, aber dies kann durchaus auch ein eigener, bislang nicht abgesteckter Ort sein oder ein eigenes, noch unbezeichnetes Feld (oder »System«) - etwa eine Art von Schneise, die sich durch alle anderen Diskurse hindurchzieht. Auf den Linien dieser Schneise liegt »Voreiligkeit«: Es geht darum, »gewissen prognostischen Anforderungen zu genügen«, wie sie etwa Walter Benjamin in dem berühmten Kunstwerk-Essay gefordert hat. Es ist kein Versagen der essayistischen Schreibweise, wenn sich ihre Prognosen im Lauf der Zeit dann auch sehr oft nicht bestätigen; der unvergleichliche Vorteil gegenüber anderen Diskursen besteht ja darin, überhaupt riskante Prognosen zuzumuten. Essayistische Beobachter sind Doppelagenten (aber sie wissen es): Sie verraten beide Seiten : Die Kunst und die Wissenschaft. Essayistische Beobachter leisten sich, zwischen Zumutung und Zivilisierung, auch »Theatralität«, ebenso selbst-ironisch wie hybrid - als erhoffte »Seins-Steigerung«; essayistisch verfahrende Beobachter geben sich als »Ego- und Eroskitzler« 42 - für andere, für deren parallele Hervorbringungen - eine Einladung durch Stil und Habitus. Auf den Punkt gebracht: Es geht um das überall verbreitete, selbstverständliche Spiel »Ich sehe was, was Du nicht siehst und das ist...!« Es geht auch um die Verbesserung des Ansehens in einer Hierarchie von Rede- und Schreibweisen. Und das Spiel funktioniert freilich nur, wenn gewisse Plausibilisierungs-Vorgaben angeboten werden. Aber ob diese Plausibilisierung auch Methode haben muß oder überhaupt kann, sei vorerst dahingestellt.
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Formulierungen im Anschluß an persönliche Gespräche mit dem Berliner Kulturanthropologen Hans Peter Weber.
OLIVER JAHRAUS
Die Unhintergehbarkeit der Interpretation im Rahmen literaturwissenschaftlicher Theoriebildung 1. Einleitung: Eine Theorie der Praxis der Interpretation am Beispiel der Literaturwissenschaft Der Konstruktivismus hat den Literaturwissenschaftlern gesagt, daß sie nicht nicht interpretieren können!, aber wie sie interpretieren sollen, hat er ihnen nicht gesagt - nicht, weil er sich nicht um eine zumal literaturwissenschaftliche Theorie der Interpretation gekümmert und diese somit überhaupt als einen möglichen Gegenstand der Theorie in Betracht gezogen hätte, sondern weil er eine wissenschaftliche, am Objekt der Interpretation legitimierte oder zumindest legitimierbare Interpretation aus theorieimmanenten Gründen prinzipiell verwirft. Das Objekt der Interpretation ist vielmehr selbst das Ergebnis eben dieses Interpretationsprozesses und geht diesem weder kausal noch logisch voraus. Es soll im folgenden nicht um den Konstruktivismus und nicht in erster Linie um das gehen, was er zu einer literaturwissenschaftlichen Interpretationstheorie oder -praxis beitragen kann; der Konstruktivismus wurde nur als ein besonders avanciertes Beispiel eines Theoriekandidaten herausgegriffen, dessen Import in die Literaturwissenschaft nicht zu einer neuen und vielleicht gar besser fundierten Interpretationspraxis geführt, sondern vielmehr die Interpretationsproblematik, die als Wissenschaftsdilemma eine permanente Grundlagenkrise der Literaturwissenschaft ohnehin schon provoziert, durch ein weiteres Theorieelement erweitert und somit auch verschärft hat. Von einer Grundlagenkrise der Literaturwissenschaft kann insoweit gesprochen werden, als es ihr nicht mehr gelingt, sich als Gesamtformation von Wissenschaft in kompatiblen oder auch nur widerspruchsfreien Modellen ihres Gegenstandes und seiner wissenschaftlichen Bearbeitung zu versichern. Was Literatur ist und wie sie interpretiert werden soll, ist für die Literaturwissenschaft insgesamt nicht mehr beantwortbar, auch wenn sich im Wissenschaftsbetrieb eine breitgefächerte Interpretationspraxis unabhängig und davon relativ unbeeinflußt etabliert hat.2
ι
Exemplarisch hierzu: Scheffer 1993, S. 141.
2
Siehe hierzu auch meine eigenen weiterführenden Überlegungen; Jahraus 1998.
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Oliver Jahraus
Die folgenden Überlegungen versuchen, Interpretation so grundlegend wie möglich zu konzeptualisieren und die basalen kommunikativen sowie kognitiven und weitergehend medialen Dispositionen, die als unabdingbare Voraussetzungen auf die Unhintergehbarkeit der Interpretation und jedweder interpretatorischer Prozesse hinweisen, offenzulegen. Wo nun die Unhintergehbarkeit auch für die Interpretation der Interpretation unumgänglich bestimmend ist, stellt gerade die literaturwissenschaftlich-interpretationsorientierte Theoriebildung einen unübersehbaren heuristischen Wert dar, diese conditio sine qua non der Interpretation zu erfassen. Daher beziehen sich diese Überlegungen auf die entsprechenden Entfaltungen literaturwissenschaftlicher Interpretationsmodelle und begreifen die methodologische Ausdifferenzierung der Literarurwissenschaft selbst als symptomatisch für die Grundsatzproblematik von Interpretation überhaupt. Zunächst wird diese Grundlagekrise als Charakteristikum der theoretischen Fundierung und Methodologisierung der Literaturwissenschaft als Interpretationswissenschaft skizziert·3 (2.). Direkt anschließend wird die Konstellation literaturwissenschaftlicher Positionen am Leitfaden des Paradigma-Begriffs rekonstruiert (3.)· Die diagnostizierte Symptomatik erlaubt eine Ausdifferenzierung dieser Grundlagekrise in symbol- und sozialsystemische Konzeptualisierungen (4.). Das Hauptaugenmerk gilt der bewußtseins- und kommunikationstheoretischen und schließlich auch der medientheoretischen Dimension der (Unhintergehbarkeit der) Interpretation (5.-7.). Erst auf dieser Grundlage werden dann Ansätze zu einer neuen Theorie der Praxis von Interpretation im Rahmen modemer Theorieansätze skizziert, die die Problematik der Interpretation nicht vorschnell zu lösen versprechen, sondern als konstitutives Theorieelement in die Konzeption hereinholen. Solche Ansätze besitzen eine Gültigkeit nicht nur für die Literaturwissenschaft; sie rücken die Literatur vielmehr selbst in den Horizont von Bewußtsein, Kommunikation und Medien (8.)· Dabei wird es, wie gesagt, weniger um den Konstruktivismus allein, verstärkt aber um systemtheoretische Ansätze, wie sie auch in der Literaturwissenschaft adaptiert oder selbst entwickelt wurden, gehen. Der Grund dafür ist nicht nur darin zu suchen, daß in der Literaturwissenschaft eine Reihe von Impulsen aus der Systemtheorie aufgenommen wurden, die es erlauben, der Grundlagenkrise der Literaturwissenschaft durch neue Modelle des Umgangs
3
Dabei verengt sich der Blick auf die Interpretation als Kernberich literaturwissenschaftlicher Theorie und Praxis und läßt andere Tätigkeitsfelder bewußt außer acht. Das gilt es im folgenden mit zu bedenken, wenn von Literaturwissenschaft die Rede ist.
Die Unhintergehbarkeit
der
Interpretation
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mit Literatur zu begegnen-», sondern vor allem darin, daß die systemtheoretische Reformulierung dieser literaturwissenschaftlichen Grundlagenkrise zugleich eine paradigmatische Rekonzeptualisierung der Interpretationsproblematik am Beispiel der Literatur-Interpretation mit sich bringen kann. Dieser Rückbezug auf die Literatur, wenn es um Interpretation geht, ist keineswegs selbstverständlich und auch nicht naheliegend, seitdem gerade die modernen Theorieansätze die Interpretation vom Gestus der Literatur-Interpretation emanzipiert haben. Die Interpretation war und ist immer noch die Domäne einer wie immer auch wissenschaftlich ausgerichteten Praxis der Geisteswissenschaften und insbesondere der Literaturwissenschaft(en), dennoch ist sie weder eine Erfindung und schon gar keine Exklusivität der Literaturwissenschaft. Zunächst hat der Strukturalismus durch die Rückführung von Interpretation auf Dekodierungsakte semiotischer, und das heißt nicht mehr allein natursprachlich oder gar schriftlich textuell fixierter, Zusammenhänge, sodann der Poststrukturalismus mit seiner Entgrenzung des Textbegriffs, schließlich der Konstruktivismus mit seiner Engführung von Interpretation und Wahrnehmung die vielfach hermeneutisch orientierte Literatur-Interpretation als >Paradebeispiel< verabschiedet oder als Spezialfall ausgewiesen und an den Rand der Theoriebildung verwiesen. Diese Tendenz wurde - vielfach damit zusammenhängend - durch medienwissenschaftliche Ansätze mit ihrer Ausweitung der literaturwissenschaftlichen Unimedialität zur Multimedialität, mit der Überschreitung kanonischer Grenzen und mit dem Blick auf die Kultur als Gesamtphänomen verschärft. Daß dabei vielfach das Exemplarische der Literatur-Interpretation und somit auch der medienspezifische Charakter der Literatur in den Hintergrund gedrängt wurde, kann hier nur konstatiert werden. Dieses Exemplarische ist mit ein Grund, warum der Blick gegenüber diesen Theorieangeboten, aber dennoch mit ihnen auf die Literatur zurückgelenkt wird. Der Hauptgrund liegt aber in der wechselseitigen Erhellung des Interpretationsbegriffs einerseits und der literaturwissenschaftlichen Grundlagenkrise andererseits. Es ist symptomatisch, daß gerade diese Ausweitungen sowohl der Konzeption von Interpretation als auch des intendierten Objektbereichs durch neuere Theorieansätze eben nicht unmittelbar in eine Interpretationspraxis überführt werden können, sondern vielmehr zu einer weiteren Verschärfung der Grundlagenkrise, aber auch zu einer weiteren Konturierung der Interpretationsproblematik geführt haben. So ist die Diskussion neuer Theorieansätze selbst wiederum als Krisensymptom zu begreifen, weil eben keine neue Theorie der
4
Vgl. hierzu Jahraus/Marius 1998.
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Oliver Jahraus
Praxis entworfen, sondern Theorie und Praxis weiter dissoziiert werden. Die weit verbreitete Interpretationspraxis in hermeneutischer oder strukturaler Orientierung wird davon kaum direkt beeinflußt. Dadurch treten die Aporien der notwendigen Letztbegründungshorizonte jeglicher Konzeption von Interpretation deutlicher in das Blickfeld und können somit selbst wiederum dazu genutzt werden, diese Aporien in Lösungsansätze einzubauen. Die Interpretationsproblematik läßt sich in einem Spannungsfeld situieren, das durch verschiedenste Extrempositionen charakterisiert ist. Dabei kommen einerseits Erwartungen und Ansprüche an die Leistungsfähigkeit einer Konzeption von Interpretation zum Ausdruck, während auf der anderen Seite Interpretation als eine Form (literatur-)wissenschaftlicher Praxis gänzlich verabschiedet wird. Man erwartet eine neue und dennoch an konkreten Beispielen praktikable Interpretationstheorie, oder man versucht grundsätzlich, Interpretation als Praxismodell vollständig zu substituieren. Bestenfalls rückt durch einen Ebenenüberstieg die Interpretation als Problemfall selbst in den autoreflexiven Fokus sich selbst problematisierender Wissenschaftskonzeptionen. Daß systemtheoretische Ansätze in den Vordergrund zu stellen sind, rechtfertigt sich dadurch, daß sie bislang als einzige versprechen, eine integrative Leistung zu erbringen und ein Gesamtmodell, das all jene Divergenzen der Einzelpositionen übergreift, zumindest ins Auge fassen zu können.
2.
Literaturwissenschaft als Interpretationstheorie und umgekehrt
Interpretation in der hermeneutischen Entfaltung ihrer Praxis und auch ihrer Theorie hat eine lange Tradition, die aus der Theologie, insbesondere aus der Bibelexegese, und aus der Jurisprudenz, in diesem Fall aus der Auslegung von Gesetzestexten, stammt und die in die sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Nationalphilologien übernommen wurde.5 Im 20. Jahrhundert haben sich die Nationalphilologien im literaturbezogenen Bereich im Zuge der Herausbildung eines kritischen und zum Teil hochproblematischen Selbstverständnisses zu Literaturwissenschaften entwickelt, wie es insbesondere am Interpretationskonzept nachvollziehbar ist. Innerhalb der Nationalphilologien wurde der philologische Tätigkeitsbereich zwischen Edition und Interpretation weiter ausdifferenziert, so daß man schon sehr früh, etwa ab der Jahrhundertwende, von einem Methodenkanon sprechen kann. 6 Doch vermutlich kam es erst in den späten 60er Jahren, im weiteren Kontext der sog. Studentenrevolten, zu
5
Zur Geschichte der Hermeneutik vgl. Seiffert 1992 und Lenk 1993. 6 Vgl. hierzu: Hermand 1994, bes. S. 66ff.; Fohrmann 1991; Barner/König 1996.
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einer Entwicklung, in der sich die Literaturwissenschaft als Wissenschaft selbst kritisch reflektierte und sich daran machte, methodische Standards immer auch mit den entsprechenden ideologischen Hintergründen versehen auszubilden.? Erst im Zuge dieser Entwicklung läßt sich sinnvollerweise davon sprechen, daß sich Literaturtheorie(n) als Reflexionsebene herausbildeten, auf der die grundsätzlichen Begriffe der Philologien, insbesondere Literatur und Interpretation, aber auch Sprache, Zeichen, Sinn, ebenso Geschichte, Gesellschaft u.a.m., diskutiert, problematisiert und vielfach - auch mit je spezifischen Ansprüchen - verwissenschaftlicht werden sollten. In diese Entwicklung einer Grundlagendiskussion waren von vornherein Theorieimporte aus anderen Fakultäten oder Wissenschaftsbereichen involviert, die nicht nur das hermeneutische Interpretationskonzept weiter fundiert, sondern auch modifiziert, kritisiert und schließlich in Konkurrenz mit anderen Interpretationsmodellen gesetzt haben. Aus der Philosophie wurde eine hermeneutische Basistheorie (Heidegger, Gadamer) ebenso wie die phänomenologische Methode (Husserl, Ingarden, Iser) übernommen, aus der (nicht nationalphilologischen) Sprachwissenschaft der Strukturalismus, aus Psychologie und Soziologie wurden die entsprechenden literaturpsychologischen und literatursoziologischen Impulse und Fragestellungen gewonnen; und nicht zuletzt wurden aus der Psychoanalyse und in neuerer Zeit aus der soziologisch beheimateten Systemtheorie und dem biologisch beheimateten Konstruktivismus die entsprechenden Modelle abgeleitet. Aus der Zusammenführung bestehender Problembestände mit neuen Theorieangeboten entwickelten sich neue Positionen: Mit der Abkehr von und der Kritik an der Hermeneutik entstand auf der einen Seite eine Tendenz zur Methodologisierung und Verwissenschaftlichung am Beispiel und Standard der Naturwissenschaften, beginnend mit dem Strukturalismus oder in gänzlich anderer Ausprägung bei der Empirischen Literaturwissenschaft. Auf der anderen Seite gingen aus verschieden gelagerten Radikalisierungsgesten gegenüber der Hermeneutik wiederum neue Positionen wie z.B. die Dekonstruktion (Derrida), die Diskursanalyse (Foucault, F. A. Kittler) oder die literaturbezogene Psychosemiologie (Lacan, Gallas) hervor. Mit der Verwissenschaftlichung und der Radikalisierung entstand insgesamt eine Tendenz zur Internationalisierung der Literaturwissenschaft. Ein gemeinsamer Nenner in den Entwicklungstendenzen, die insgesamt als Radikalisierungstendenzen charakterisiert werden können, ist und bleibt die Interpretationsorientierung. Selbst die prägnanteste Kritik der Interpretation, wie sie von poststrukturalistischer und empirisch-konstruktivistischer Seite
7 Vgl. hierzu Solms 1979.
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formuliert wurde, gewinnt gerade auch aus der Infragestellung von Interpretation ihre eigenen Konturenß Daher nimmt - wissenschaftstheoretisch gesehen - das Interpretationskonzept in den Literaturwissenschaften eine so zentrale theoriekonstitutive und -leitende Stelle ein, daß die Literaturwissenschaften als interpretationsorientierte Methodologien rekonstruiert werden können. Das wird selbst durch solche Positionen noch unterstrichen, die - wenn auch utopisch und immanent unhaltbar - Interpretation als sekundären Diskurs gänzlich verdammen, wie dies George Steiner in seinem Essay Von realer Gegenwart^ getan hat. Christoph Bodeio hat in einer luziden Replik gezeigt, daß sich selbst so unterschiedliche Positionen wie die Steiners einerseits und die Ecosii, auf einer modifiziert strukturalistischen Basis, andererseits am selben Problem der Interpretation abarbeiten. Sie wollen beide »die Inflation der Interpretation« (S. 24) eindämmen, Steiner, indem er sich auf das unmittelbare, nicht interpretationsvermittelte Kunsterlebnis, Eco, indem er sich auf textuelle Restriktionen und Restringierbarkeit von Interpretation beruft. Das Problem der Interpretation ist eine self-fulfilling prophecy: seine Leugnung und erst recht seine Domestikation ist nichts anderes als sein Reproduktionsmechanismus. In diesem Zusammenspiel von interner Ausdifferenzierung und externen Theorieimporten haben sich die Literaturwissenschaften, ausgehend von einem ursprünglich hermeneutischen Interpretationskonzept, seiner Grundlegung, Modifizierung, Problematisierung, Kritik bis hin zu seiner Ablösung und Verdammung und Wiederaufnahme, in der Nachfolge der Nationalphilologien, in denen sie noch heute institutionell integriert sind, zu genuinen Interpretationstheorien oder Theorien über Interpretation entfaltet. In keiner anderen Wissenschaft wird, soweit ich sehe, das Interpretationskonzept so radikal, d.h. so fundamental wie gleichermaßen kontrovers, diskutiert wie in den Literaturwissenschaften. Literaturwissenschaft ist Interpretationswissenschaft par excellence - sowohl was das Reflexionsniveau als auch was die nicht bewältigten Problembestände angeht - natürlich unter Berücksichtigung der gesamten Inhomogenität, die diese Wissenschaftsformation charakterisiert. Gleichzeitig ist das ein erster Hinweis auf die enge konzeptionelle Verbindung der beiden >TheoriebausteineTheoriebaustein< soll dabei deutlich machen, daß, wenn man eine Metaposition, systemtheoretisch formuliert: eine Beobachtung zweiter Ordnung, einnimmt, gesehen werden muß, daß weder Interpretation noch Literatur noch sonst ein Theoriebaustein auf eine unmittelbar und fraglos gegebene ontologische und
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und Interpretation sind die sich wechselseitig voraussetzenden Bestimmungsmomente der Objektkonstitution der Literaturwissenschaft. Auf der wissenschaftlichen Reflexionsebene spiegelt sich dieses Verhältnis in der wechselseitigen Durchdringung von interpretations- und literaturtheoretischen Elementen. Literaturtheorie ist somit immer auch Interpretationstheorie und umgekehrt.
3. Die Ausdifferenzierung literaturwissenschaftlicher Positionen am Beispiel des Paradigma-Begriffs Im folgenden soll die literaturwissenschaftliche Grundlagenproblematik von traditionellen Ansätzen der Literaturwissenschaft bis zu den systemtheoretischen Adaptionen am symptomatischen Beispiel des Paradigma-Begriffs und seines Anspruchs nachverfolgt werden. Die Rede von einem neuen Paradigma bzw. vom Paradigmenwechsel ist ursprünglich von Th. S. Kuhn übernommen worden.^ Der Paradigmabegriff dient der wissenschaftsgeschichtlichen Epochenstrukturierung und bezeichnet die Bedingung, ohne die eine wissenschaftliche Forschung und Kommunikation in einer Forschergemeinschaft über einen gewissen Zeitraum hinweg nicht konstant stattfinden könnte. Was immer eine wissenschaftliche Forschung und Kommunikation ermöglicht, kann als Paradigma bezeichnet werden. Ein Paradigma kann Methoden, Einstellungen, Interessen, Werte, Anschauungen umfassen. Die Ausrichtung wissenschaftlicher Forschung und Kommunikation erfolgt über ein Paradigma, das sich in Einzelparadigmen, z.B. in bestimmten konventionalisierten Lösungsstrategien für wissenschaftliche Probleme, konkretisiert. Ein solches allgemeines Paradigma ist immer eine Zeitlang in Geltung und begründet, ermöglicht und stabilisiert wissenschaftliches Handeln, so lange jedenfalls, bis Probleme von der Qualität und Quantität auftreten, daß das bisherige Paradigma zugunsten eines neuen aufgegeben wird und sich nach Kuhn - eine wissenschaftliche Revolution vollzieht. Wissenschaftliche Revolutionen stellen Brüche, Diskontinuitäten in der Wissenschaftsentwicklung und -geschichte dar und lösen Phasen einer paradigmagestützen, sich selbst kontinuierlich entwickelnden >Normalwissenschaft< ab. Den Paradigmabegriff hat zuerst Jauß in der literaturwisenschaftlichen Diskussion verwendet, um damit das Programm der Rezeptionsästhetik sowohl gegenüber der Hermeneutik als auch gegenüber dem Strukturalismus abzu-
apriorische Realität verweisen, sondern daß jede Theorie sich ihren Objektbereich erst konstituiert, indem sie sich seiner annimmt. 13 Kuhn 1973.
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grenzen und zu akzentuieren,! 4 sodann nimmt ihn S. J. Schmidt für seine Konzeption einer empirischen Literaturwissenschaft in Anspruch^ und schließlich wird auch - so bei Schwanitz - die Systemtheorie mit dem Label »Ein neues Paradigma« versehen 16. Als sukzessive Paradigmenfolge der Literaturwissenschaft listet Jauß die »Antike als Vorbild und Normensystem«, den Historismus und die werkimmanente Ästhetik auf; er nennt sie das »klassisch-humanistische, das historisch-positivistische und das ästhetisch-formalistische« Paradigma,i? die ihren Niederschlag jeweils in den entsprechenden »Methoden der Interpretation« gefunden hätten. Er zieht damit eine historische Entwicklungslinie, die noch vor die Wissenschaftsgeschichte der Literaturwissenschaft hinausgeht und deshalb die Grenze zwischen literarischer Poetik und wissenschaftlicher Objektkonstitution verwischt. Indem er die »Geschichte der Literaturwissenschaft analog zu den Paradigma-Wechseln in der Geschichte der Naturwissenschaft« skizziert (S. 54), macht er immer wieder Krisensituationen für den Paradigmenwechsel verantwortlich. Ein neues, viertes Paradigma sei zwar noch nicht in Sicht - so Jauß' Diagnose 1969 - , aber die Krisensymptome würden sich bereits so formieren, daß ein solches Paradigma abzusehen sei. Zum einen wird die »Isolierung der Natur von der Geschichte« (S. 52) als defizitär empfunden; damit hängt zusammen, daß die gesellschaftliche Dimension der Literatur unterbelichtet bleibt; zum anderen stellen die Massenmedien eine krisenbehaftete Herausforderung an die Literaturwissenschaft dar, weil die nichtkanonischen Künste die Literatur in den Hintergrund der Lebenspraxis drängen.is Die Krise wird virulent, weil der bildungspolitisch untermauerte Anspruch, »ästhetische Wahrnehmung und moralische Reflexion« (S. 55) gleichermaßen zu gewährleisten, um gegen die »geheimen Verführer« (= die Massenmedien) »unverführbar« [sie!] zu machen, nicht mehr einlösbar ist. Das sich abzeichnende neue (vierte) Paradigma begegnet der Krisensituation durch eine umfassende »Vermittlung von ästhetisch-formaler und historisch-rezeptionsbezogener Analyse«, mithin durch eine »Verknüpfung strukturaler und hermeneutischer Methoden« (S.56).
14 15 16 17 18
Jauß 1969. Schmidt 1982. Schwanitz 1990. Jauß 1969, S. 55. Die Diagnose dieser Herausforderung ist für das Jahr 1969 in der Tat prophetisch zu nennen, wenn man bedenkt, daß sie - meines Wissens - in der unmittelbare Folge nicht aufgriffen wurde und auch heute noch - trotz sich in letzter Zeit, seit ca. Anfang der 90er Jahre, häufender Ansatzpunkte - auf eine systematische Konzeptionalisierung warten läßt.
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Führt man sich vor Augen, daß der Paradigmenwechsel eine Vermittlung von Positionen leisten soll, die sich ihrerseits als Paradigmen abgelöst oder als solche konkurriert haben, so wird daran ersichtlich, welchen symptomatischen Charakter die Inanspruchnahme des Paradigma-Begriffs für die Literaturwissenschaft besitzt. Jauß' Überlegungen können als so etwas wie die Skizze eines Ursprungsmodell von Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft aufgefaßt werden. Verallgemeinert gesprochen: Paradigmenwechsel treten an Differenzierungssituationen auf und sind als Vermittlung zwischen Positionen gedacht, die sich in ein Oppositionsverhältnis manövriert haben. Damit gewinnt der Begriff der Krise eine andere Dimension als in der ursprünglichen Konzeption von Kuhn. Literaturwissenschaftliche Krisen entstehen nicht so sehr aus dem Ungenügen an bestehenden Methoden heraus, sondern an den Differenzverhältnissen konkurrierender Methoden. Nicht die einzelne Methode ist für die Krise der Literaturwissenschaft verantwortlich, sondern der Methodenkanon, das Mit- und Gegeneinander einzelner methodischer Positionen. Man muß dabei nicht auf die weitgespannte Diskussion zurückgreifen, die noch vor einem Jahrzehnt unter dem Stichwort >Methodenpluralismus< geführt wurde,19 um zu erkennen, daß die Krise der Literaturwissenschaft eine Krisensituation im Sinne einer Differenzierung von Methoden darstellt. Wenn also die Krise in einer Formation von Positionen besteht, dann erweist sich die Krise als konstitutives Moment der Fachgeschichte der Literaturwissenschaft und exemplarisch für die Germansitik, stellvertretend für viele Einzelphilologien. Vor allem in dem veränderten Krisen-Begriff drückt sich die Problematik der Übertragbarkeit der Kuhnschen Konzeption auf die Literaturwissenschaft aus. Jauß selbst problematisiert seine Analogiebildung hinsichtlich des KrisenBegriffs. Gegenüber den Naturwissenschaften gebe es in der Literaturwissenschaft keine »empirisch verifizierbaren Beobachtungen« (S. 54). Diese Vorstellung ist weitgehend einer Differenzierung von Natur- und Geisteswissenschaft verpflichtet, wie sie von Dilthey2o stammt, und greift angesichts moderner - insbesondere konstruktivistisch fundierter - Wissenschaftskonzeptionen zu kurz. Keine Wissenschaft besitzt einen vorgefundenen Objektbereich, der unabhängig von seiner wissenschaftlichen Behandlung existiert. Systemtheoretisch-konstruktivistisch gesprochen: Es gibt keine beobachterunabhängige wissenschaftliche Beobachtung, weder in den Geistes-, noch in den Natur- und auch nicht in den Sozialwissenschaften. Aus dieser übergeordneten Beobach-
19
Zum Methodenpluralismus siehe: Bogdal 1990, Bogdal 1993, Eagleton 1983, Geier 1983, Hauff u.a. 1985/1987, Maren-Grisebach 1985, Methoden der Interpretation 1985, Spree 1995, Texte zur Literaturtheorie 1996, Wellbery 1987, Zima 1991. 20 Vgl. z.B. Dilthey 1981.
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terposition erscheint diese Klassifikation lediglich als ein überkommenes Ordnungsschema, das seinen Niederschlag zwar in der Fakultätengliederung finden mag, dem aber keine immanenten Momente der jeweiligen wissenschaftlichen Beobachtung entsprechen. Mehr für eine Differenzierung verspricht der Blick auf die »erwartbare[n] Resultate«2i. Geistes- und insbesondere Literaturwissenschaften sind von dem unmittelbaren Zwang, ihre wissenschaftlichen >Resultatenach außen< in praktische Anwendung überführen muß, nur immer wieder zum Zweck der Überprüfung, Modifizierung, Bewährung oder (im Sinne der Krise) Kritik >nach innen< für ihre eigene Reproduktion in sich selbst wiedereinführen. Das darf nicht mit Selbstgenügsamkeit oder Selbstzweck der Literaturwissenschaft verwechselt werden. Zwar liefert die Literaturwissenschaft keine krisenfreien Ergebnisse ab, aber ihre krisenhaften Interpretationen handhaben eine Krise, die bereits für ihr Objekt, die Literatur, konstitutiv ist. Die Krise der Literaturwissenschaft ist ein Epiphänomen der Krise der Literatur als Rezeptionsphänomen; und die >Krise< der Literatur manifestiert sich in der Unhintergehbarkeit ihrer sprachlichen Konstitution durch Sprache im Akt der Interpretation. Von daher darf die Krisensituation der Literaturwissenschaft nicht an sich zum Vorwurf gemacht werden, sondern allenfalls deren mangelhafte Handhabung. Will man den Begriff der ein Paradigma umsetzenden Position anschaulich machen, so kann man eine Methode hinsichtlich ihrer Literaturtheorie bestimmen, die ihrerseits wiederum als Theorie über Interpretation greifbar wird. Das dabei in Anschlag gebrachte Konzept von Interpretation läßt sich als jeweilige Form des Zugangs oder Zugriffs auf den als literarisch eingestuften Text charakterisieren. Das Gegeneinander von verschiedenen, sich widersprechenden Zugangsweisen bedingt die Krisensituation. Die jeweiligen Textbegriffe, die hier auszumachen wären, sind immer nur als Resultate dieser Zugangsweisen zu verstehen. Virulent wird die Krisensituation der Literaturwissenschaft, die neue Differenzierungen erzwingt, indem sie die Formation von Positionen umgruppiert, in dem unmittelbar damit verbundenen Wissenschaftsstatus der literaturwissenschaftlichen Methode. Die Differenzierungssituation des Paradigmenwechsels bringt also immer eine Entscheidung hinsichtlich des eigenen Wissenschaftsverständnisses mit sich. In dieser Entscheidungssituation reklamieren die > altem Positionen einen spezifisch literaturwissenschaftlichen Wissenschaftsstatus (angelehnt an Diltheys Unterscheidung), die >neuen< Positionen einen literaturwissenschaft-unabhängigen Wissenschaftsstatus (angelehnt an die neuere Wissenschaftstheorie). Diese Entscheidungssituation spielte sich zwischen Hermeneutik und Strukturalismus ab und sie wiederholt sich zwischen textimmanenten Methoden (wozu Hermeneutik und Strukturalismus
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gleichermaßen zu zählen sind) und empirischen Methoden. Das kann als Beleg für die gewählte Sichtweise gelten: Jeder Paradigmenwechsel folgt strukturell demselben Muster der Reformation des literaturwissenschaftlichen Feldes. Das verdeutlicht auch der Paradigmenwechsel, den S. J. Schmidt mit seiner Konzeption erhebt und den Norbert Groeben kritisch bilanziert.23 Das >neue Paradigma< der von Schmidt skizzierten Empirischen Literaturwissenschaft (ELW) oder Empirischen Theorie der Literatur (ETL) konkretisiert sich in einer Fachsprache, in Modellen, Werten und Musterlösungen, die neue »Orientierungskomplexe für solche Entscheidungen, die dem Handeln einer Wissenschaftlergruppe zugrunde liegen«, darstellen und die > altem, traditionellem und aus dieser Sicht >überkommenem Orientierungskomplexe ablösen. Die Neudifferenzierung und -gruppierung der Positionen im literaturwissenschaftlichen Feld läßt sich immer wieder an einschlägigen Formulierungen ablesen, z.B.: »Durch ihre inhaltlichen Bestimmungen [...] unterscheidet sich die ELW [...] nachweisbar von allen anderen literaturwissenschaftlichen Richtungen und Schulen.«24 Die Differenzierungsprinzipien, die dem Paradigma der ELW zugrunde liegen, wiederholen die Binnendifferenzierung des vorgängigen Feldes hinsichtlich Objektkonstitution und Wissenschaftsstatus. Beides hängt - sich wechselseitig bedingend - zusammen. Dieselben Differenzierungsprinzipien wiederholen sich, wenn man auch den jüngsten Paradigma-Anspruch berücksichtigt, den der systemtheoretischen Adaptionen Luhmannscher Provenienz in der Literaturwissenschaft .25 Deshalb lassen sich Differenzierungssituationen aufeinander projizieren, so daß die Invarianzen deutlicher hervortreten können. Wenn man darüber hinaus die Objektkonstitution als Situierung begreift, so situiert jede Neudifferenzierung das literaturwissenschaftliche Objekt relativ zu einem Ort, der dem (literarischen) Text zugeschrieben wird. Das Verhältnis von Textimmanenz und
23
Groeben 1994. In leichter Modifizikation zur Kuhn-Rezeption von Schmidt überprüft auch er den Paradigma-Anspruch der ELW anhand der »metaphysischen (Kern-)Annahmen, [der] gemeinsamen theoretischen Werte und Musterbeispiele« (S.22) und resümiert, daß die Theorieentwicklung die ELW lediglich als »Paradigmakandidaten« ausgewiesen hätte. Daneben hat Groeben den Paradigma-Anspruch insbesondere für seine Empirisierungsvariante diskutiert und erhoben; siehe Groeben 1980. 24 Schmidt 1982, S. 6. 25 Lediglich bei Schwanitz tritt bislang der Paradigma-Anspruch explizit auf, wenn auch nur im Untertitel seines Buches 1990, ohne daß der Anspruch gesondert begründet oder reflektiert werden würde. Damit scheint einerseits eine gewisse Inflationierung der Verwendung des Paradigma-Begriffs einherzugehen, andererseits bleibt der Anspruch, der damit verbunden wird, zumindest implizit durchaus bestehen. Er läßt sich auch anderen systemtheoretischen Positionen auf je spezifische Weise unterstellen, z.B. de Berg/Prangel 1993 und 1995 oder Werber 1992.
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Texttranszendenz wird somit als Differenzierungsleitlinie der Objektkonstitution sichtbar. Ein neues Paradigma situiert entlang dieser Leitlinie das literaturwissenschaftliche Objekt immer in Differenz zu den Vorgängerpositionen. Daß dabei jedesmal Immanenz und Transzendenz neue Bestimmungen erfahren, steht außer Frage. So reklamiert die sog. Werkimmanente Schule eine Immanenz noch innerhalb hermeneutischer Rahmenbedingungen. Auch der Strukturalismus besteht auf Textimmanenz, setzt sich aber von der Interpretenorientierung und der Emphatisierung bzw. Auratisierung des Werkbegriffs der H e r m e n e u t i k 2 6 ab, die dementsprechend als texttranszendent bestimmt werden könnte. Die Rezeptionsästhetik versucht, die Grenzziehung zu unterlaufen, indem sie sie auf nächsthöherer Ebene wiederholt; sie fragt - so z.B. Wolfgang Iser27 - nach den strukturellen Voraussetzungen des Textes für die Rezeption des Lesers: ein Beispiel für das neue Paradigma, das Jauß in der Vermittlung von Hermeneutik und Strukturalismus sieht. Die Differenz von Immanenz und Transzendenz wird als Differenz von (literarischem) Text und Rezeption allerdings auch nur wiederholt. Eine Besonderheit stellen in dieser Entwicklung jene Positionen dar, die intern jenes Differenzierungsmoment wiederholen, das hier der methodologischen Entwicklung selbst unterstellt wird. Es sind jene Positionen, die sich in zwei Interpretationsdimensionen entfalten. Solche Positionen finden sich schon innerhalb der hermeneutischen Entwicklung, so z.B. bei Baumgarten, der bei der Textexegese zwischen zwei verschiedenen Sinnbegriffen unterscheidet (sensus proximus und sensus remotior)28, oder Schleiermachen, der zwischen einer grammatischen (objektiven) und einer psychologischen (technischen, subjektiven) Interpretation unterscheidet, um somit das Individuelle mit dem Allgemeinen vermitteln und »das Nicht-Mitteilbare einer Rede kommunizierbar zu machen«29. Daß Manfred Frank dieses Schleiermachersche Differenzungsmodell der Interpretation zudem als Lösungsvorschlag für den »>Konflikt der Interpretationen (Ricoeur)« zwischen Hermeneutik und Strukturalismus unterbreitet30, kann als zusätzlicher Beleg für die Annahme gewertet werden, daß hier positionsintern dasselbe Differenzierungsmuster vorliegt. Mein eigener Vorschlag, zwischen Analyse und Interpretation zu unterscheiden, ist gleichermaßen dieser Idee verpflichtet, eine Position zu skizzieren, die zwischen Positionen (in dem Fall wiederum strukturaler und her-
26 27 28 29 30
Zu einem solchen Werkbegriff und zu seiner Geschichte vgl. Thierse 1990. Iser 1971. Lenk 1 9 9 3 , S . 4 2 f . Lenk 1993, S. 55 u. 63; vgl. daneben Frank 1985. Frank 1985, S. l l f .
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meneutischer Provenienz) synthetisierend vermittelt .31 An diesen Positionen läßt sich besonders gut ablesen, daß eine unidirektionale Ausrichtung als defizitär empfunden wird, weil der Lösungsvorschlag nicht erst aus einer Methodenabfolge rekonstruiert werden muß, sondern in der ausdifferenzierten Zweidimensionalität selbst ausbuchstabiert wird. Es gilt, sich die Frage zu merken, woher dieses Defizit rührt und welcher Maßgabe diese Differenzierung folgt. Abstrahiert man zunächst auf ein invariantes Modell, so markiert der (literarische) Text eine ausdehnungslose Grenzlinie (keinen enger oder weiter ausgedehnten Grenzbereich) zwischen Zugangsweisen, die als interne und externe (Textimmanenz und Texttranszendenz) differenziert werden können .32 Der Text wird somit als Differenzkriterium bestimmt, unbeschadet davon, daß einzelne, konkrete Positionen mit komplexen oder vagen Textbegriffen eine genaue Verortung zu unterlaufen versuchen. Doch nach Maßgabe dieses Kriteriums ließe sich jede literaturwissenschaftliche Methode in diesem topologischen Differenzierungsschema relational nach ihrer jeweiligen Position relativ zur Grenzlinie charakterisieren. Die Grenzlinie besitzt keine ontologisch bestimmbare Qualität - daher >ausdehnungslosinternet und >extemer< Determinanten literarischer Evolution« für das »Programm einer Sozialgeschichte der Literatur« und nimmt damit die Grenzziehung entlang des Textes als Marke der Objektkonstitution von Literaturwissenschaft überhaupt vorweg. Er schlägt (1985!) deswegen vor, »neuere Entwicklungen der Systemtheorie [Luhmannscher Provenienz; Verf.] in die literaturwissenschaftliche Diksussion miteinzubeziehen« (ebd.). Zwar fordert auch Groben 1994 eine »Kombination von intem und extern bedeutsamen Problemstellungen« (S. 33) für die Musterlösungen der ELW, doch bleibt diese Bemerkung auf wenige Vorschläge beschränkt, die das Begriffspaar nicht weiter theoretisch verwenden. 33 Scheffer 1992. Siehe daneben auch Scheffer 1989,1993 und 1995. 34 Zum Kommunikat-Begriff und seiner theoretischen Ausarbeitung über einzelne Stadien der Theorieentwicklung bei S.J.Schmidt hinweg vgl. Schmidt 1991, bes. S.375; daneben auch Schmidt 1979, S. 282ff.; und in konstruktivistischer Weiterentwicklung Schmidt 1986, S. 88ff., und Schmidt 1987, S. 30ff.
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festation. Sie ist insofern texttranszendent, als sie keine Aussagen mehr über Texte, sondern über Aussagen über Kommunikate, also über kommunikative Handlungen anläßlich von Literatur macht. Im Kommunikat-Konzept realisiert sich die externe Positionierung relativ zur Grenzlinie des Textes, die in einer fundamentalen Ebenenverschiebung des Interpretationsbegriffs zum Ausdruck kommt; Interpretation ist eine Verarbeitungshandlung, und literaturwissenschaftliche Interpretation, wenn man sie dann überhaupt noch so nennen will, kann empirisch nur noch auf diese Verarbeitungshandlungen durch die entsprechenden Verfahren zurückgreifen. So heißt es symptomatisch bei Norbert Groeben: »Interpretation ist [...] Erklären von Textverstehen.«35 Für das Projekt einer ELW, wie es am prominentesten und umfassendsten von Schmidt konzipiert und weiterentwickelt wird, ist die Empirisierung als Konzeptionselement auf Theorieebene und nicht wie bei Groeben als Forschungspraxis einer Leserpsychologie entfaltet .36 Der Zugriff auf Texte wird also konzeptionsimmanent blockiert - Ort spricht von einer »texttheoretische[n] Selbstblockade« der ELW.37 Im Übergang zwischen den großen Publikationen Schmidts zu dieser Thematik, dem Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft von 1 9 8 0 3 8 und Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert von 1 9 8 9 3 9 , verschiebt sich das Schwergewicht von der theoretischen Konzeptionalisierung literarisch kommunikativer Handlungen hin zur Rekonstruktion des gesellschaftlichen Gesamtsystems von Handlungen in den Handlungsrollen Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung. Die ELW wird somit zu einer Theorie des Sozialsystems Literatur und gewinnt eine historische Perspektive.'«) Durch die Neudifferenzierung erscheinen alle Vorgängerpositionen, unabhängig von ihrer Binnendifferenzierung, als immanent und können als (neo)hermeneutisch disqualifiziert werden^. Alle Vorgängerpositionen werden somit auf den Text als Objekt zugeschrieben, so daß der Paradigmenwechsel programmatisch in der Formel »Vom Text zum L i t e r a t u r s y s t e m « 4 2 ausgedrückt werden kann. Das Differenzierungsprinzip >Text< vs. >Literatursystem< begründet die Differenz zwischen traditioneller und empirischer Position im literaturwissenschaftlichen Feld.
35 36 37 38 39 40 41 42
Groeben 1979. Überblickshaft bei Groeben 1992. Ort 1 9 9 3 , S . 2 7 1 . Neuauflage Schmidt 1991. Schmidt 1989. Zur Kritik v g l . Jäger 1 9 9 4 . Z.B. Schmidt 1 9 9 3 , S. 2 4 2 . Schmidt 1984, v g l . daneben auch Schmidt 1 9 8 9 und Schmidt 1992.
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Bernd Scheffer rückt in dieser Hinsicht auf vergleichbare Weise von den Möglichkeiten eines durch den Text selbst, also intern, z.B. durch mögliche Bedeutungen, garantierten Zugangs ab und entwirft statt dessen einen externen Zugang, der durch soziale Determinanten reglementiert wird. Nicht der Text gibt vor, sondern das soziale System bestimmt, was über den Text oder besser: anläßlich (der Rezeption) des Textes gesagt werden kann. 43 Hinsichtlich des Wissenschaftsstatus gehen beide Konzeptionen völlig verschiedene Wege. Wo Schmidt Wissenschaftlichkeit gerade durch die Externalisierung gegenüber der Hermeneutik, die >den direkten Zugang zum Text< behauptet, wiedereinzuholen sucht, ist Scheffers Position so radikal, Wissenschaftlichkeit als Kategorie des Zugangs zu Texten in Frage zu stellen und eine Verschiebung zugunsten einer Schreibweise, die man behelfsmäßig als essayistisch bezeichnen kann, zur Diskussion zu stellen. 44 Da Aussagen, die sich als Aussagen über den Text ausgeben, nicht mehr durch den Text selbst zu legitimieren sind, ist die essayistische Aussage im Feld sozialer Aussage-Determinanten der Versuch, die Aussagen anläßlich von Texten sozial plausibel und akzeptierbar zu machen. An den systemtheoretischen Adaptionen Luhmanscher Ausprägung zeigt sich eine zusätzliche Verschärfung in der Differenzierung zwischen Text und Literatursystem. Es werden unterschiedlich weite Konkretisationen des Systembegriffs erprobt, die auf der einen Seite Literatur systematisch auf den Textbegriff einengen, auf der anderen Seite hingegen die Literatur zum Sozialsystem selbst erklären.^ Weil die Systemtheorie als Grundlagentheorie auch die Möglichkeit zur Verfügung stellt, die Differenz und die Identität von Differenz und Identität zu handhaben, kann man mit ihr die Identität und die Differenz von Konzeptualisierungsvorschlägen beobachten. Man kann mit ihrem Instrumentarium beobachten, wie Literatur konzeptionell beobachtet wird. So ergibt sich die Möglichkeit, Literatur gleichzeitig sowohl als Sozialsystem als auch als Symbolsystem zu beobachten. Eine >Supertheorie< der Literatur wird
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Das hat Scheffer (1992) den aus konzeptionsimmanenten Gründen völlig verfehlten Vorwurf eingebracht, seine >Interpretationstheorie< erlaube dem Leser alles. Daß Aussagen über Texte einem sozialen Reglement unterworfen sind, wurde von den Kritikern völlig übersehen. W o für eine an der traditionellen und insbesondere hermeneutischen oder strukturalistischen Literaturwissenschaft orientierte Sichtweise der Text nicht mehr als Garant der Aussagen über den Text fungiert, muß dieser Eindruck fast zwangsläufig entstehen, weil in diesem Referenzrahmen, der lediglich semantische, semiotische bzw. > symbolische^ aber keine sozialen Phänomene registrieren kann, das Sozialsystem als Korrektiv gar nicht in den Blick kommen kann. Die sozial begründeten und sozial begründbaren Stoppregeln, auf die Scheffer das Augenmerk legt, bleiben für diese Kritiker unsichtbar. 44 Vgl. den Beitrag von Scheffer in diesem Band. 4 5 Ort 1994, S. 113f. und Jäger 1994, S. 114.
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denkbar, die Literatur >symbolisch< interpretieren kann, als soziales, kommunikatives System begreift und im Hinblick auf die Potentiale kognitiver Prozesse durchsichtig macht. Das Paradigma der systemtheoretischen Literaturwissenschaft müßte also, um tatsächlich als ein neues Paradigma firmieren zu können, an der Differenz zwischen Text und Sozialsystem ansetzen.
4.
Der Text als Grenze zwischen Symbol- und Sozialsystem (C.M.Ort) und ihre literaturwissenschaftliche Symptomatik für die Interpretation
Friedericke Meyer und Claus-Michael Ort warnen jedoch davor, die Betrachtung der >Literatur als System< bereits für »ein >neues Paradigma«^ zu halten und machen auf die »diskurs- und texttheoretische[n] Defizite« (S. 2) einer solchen Betrachtungsweise aufmerksam. Auf die Problematik des Paradigmenwechsels bezogen, bedeutet das, daß die Differenz zwischen Text und Literatursystem (Sozial- und Symbolsystem) jene Krisensituation markiert, auf die ein neues - systemtheoretisches - Paradigma zu antworten hätte. Ort hat, auch zusammen mit Meyer, in mehreren Publikationen Strukturierungslinien aufgezeigt und herausgearbeitet, die die Differenzierungsproblematik des literaturwissenschaftlichen Feldes auf unterschiedliche Konzeptualisierungsvorschläge des Objektbereichs Literatur zurückführen .47 Gleichermaßen erscheint es möglich, diese Linien auf die Differenzierung von Analyse/Interpretations· Modellen zu übertragen, wobei natürlich nicht immer dieselben Differenzierungsseiten, wohl aber dasselbe Differenzierungsmuster vorliegt. Ort geht von einer »wissenssoziologische[n] >Zurechnungsachse< >Sozialsystem/soziale Praxis/Aktor< und >Symbolsystem/Diskurs/TextSymbolsystem< und >Sozialsystem< bzw. zwischen »semiotische[n] und soziale[n] Systeme[n]«53. Diese Begrifflichkeit dient Ort dazu, die gegenwärtige Ausdifferenzierung der Literaturwis-
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Beziehungsanalyse auf der Grundlage der Sozialtheorie von Talcott Parsons vorgelegt; hierin wird der Textanalyse zwar ein integrativer Ort in einem komplexen Theoriegefüge zugewiesen; aber es werden keine Operationsmodelle über die Differenzierungsgrenze hinweg vorgestellt. Ort 1992, S. 411. Ort 1993, S.275. Ort greift damit die programmatische Formel der ELW von S.J. Schmidt (vgl. Schmidt 1984) auf, ersetzt aber den Begriff des Literatursystems durch den des Wissens und versucht somit die symbolische sowie die soziale Zurechnungsachse, die bei Schmidt getrennt und unvereinbar gehandhabt werden, zu verbinden. Vgl. daneben auch Ort 1992, S. 428-429. Kramaschki 1993, S. 123. Ort 1993, S. 270/271. Ort 1995, S. 172; die Hervorhebung befindet sich bereits im Original und zielt auf genau jene entscheidende Grenze und somit auch Schnittstelle zwischen den Systemtypen. Daneben verwendet Ort zahlreiche andere Begriffsvarianten, er spricht von der »semiotischen wie der sozialen Referenzebene von Literatur« (S. 409), von »Literatur als Zeichensystem« und von »Literatur als Sozialsystem« (S.411), von »linguistische[m] >TextWissens Symbolische< der Literatur - oder besser: ihre Qualität als Zeichensystem« bzw. »ihre semiotische Dimension«57 berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise auch die methodische Anweisung von Stephan Mussil: »Beschreibe, was Literatur darstellt« zu verstehen; er bezieht sie auf der einen Seite auf das, »was einzelne literarische Texte darstellen«, auf der anderen Seite auf das »gesellschaftlichen Funktionssystem der Literatur« selbst; er muß somit die Dichotomie im Versuch, sie zu überwinden, wiederholen. 58 Diese Dichotomie von Symbol- und Sozialsystem ist als Zurechnungsachse ein Begriffsinstrument, das Unterschiede auf der Ebene der Ausdifferenzierung von Positionen akzentuieren soll. Als kommunikationsbasierte Konzeptualisierung wissenschaftlicher Zugangsweisen zur Literatur hingegen nutzt diese Dichotomie das systemtheoretische Rekonstruktionspotential des Luhmannschen Kommunikationsbegriff nicht aus und blendet dabei vielmehr aus, daß es sich hierbei lediglich um unterschiedliche S i n n d i m e n s i o n e n 5 9 ein und desselben Systemtyps handelt, der kommunikativ konstituiert ist und daher mit Sinn operiert. Jedes Sozialsystem besteht aus Kommunikation; nach Luhmann gilt sogar: Kommunikation ist konstitutiv für soziale Systeme überhaupt.60 Von einem Symbolsystem zu sprechen hieße dann nur, die Sachdimension des Sinns zu betonen (und die anderen Dimensionen abzublenden oder latent zu halten); die Rede von einer Sozialdimension würde ebenso mit der sozialen Sinndimension verfahren. Die Dichotomie zwischen Symbol- und Sozialsy-
54 55 56 57 58 59 60
Ort 1994, S. 113f. Ort 1993, S. 2 7 4 . Ort 1992, S . 4 1 9 . Ort 1 9 9 3 , S. 2 7 1 , 2 7 2 . Mussil 1 9 9 5 , S. 83. Luhmann 1984, S . 112ff., unterscheidet zwischen der sachlichen, sozialen und zeitlichen Sinndimension. V g l . hierzu beispielhaft Luhmann 1984, S . 191 u. passim.
Die Unhintergehbarkeit
der
Interpretation
261
stem stellt somit eine spezifische operationale bzw. perspektivische Verkürzung des Kommunikationssystems > Literaturwissenschaft dar. 61 Als solche ist sie in diesem Zusammenhang von höchstem Interesse, zeigt doch gerade die damit ausgedrückte Differenzierung nicht nur ein Prinzip methodologischer Entfaltung, sondern gerade auch, wie sich Versuche, Interpretationsprozesse operationaliserbar zu machen, in solchen Positionen kristallisieren. Meine These ist: Solche Dichotomisierungen, wie sie Ort exemplarisch und gleichzeitig paradigmatisch als Differenz zwischen Symbol- und Sozialsystem beschrieben hat, sind Symptom der Unhintergehbarkeit des sinnkonstituierenden Prozesses im Vollzug der Interpretation, wie sie bei literaturbezogenen Interpretationen auf spezifische und gleichzeitig paradigmatische Weise abläuft. Wo zudem eine literaturbezogene Interpretationspraxis methodologisiert wird, wird die Ausdifferenzierung der methodologischen Konstellation von literaturwissenschaftlichen Positionen ihrerseits zu einem Symptom für die Unhintergehbarkeit der Interpretation. Voraussetzung für die Beobachtbarkeit dieser Symptomatik in der Entwicklung der Literaturwissenschaft ist (1) das reflexive Verhältnis der interpretationstheoretischen Ebene zur jeweiligen Einstellung gegenüber der Interpretationspraxis. So bringt eigentlich erst die Methodologisierung der Literaturwissenschaft, also die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung auf einer anderen, höheren Ebene, es mit sich, daß sich eine derartige Symptomatik in der Theorie ausbildet: ohne Methodologisierung keine Symptomatik; eine sich selbst durch Ebenenüberstieg nicht theoretisch beobachtende und reflektierende Interpretationspraxis wäre zwar von der Problematik naturgemäß betroffen, würde aber kein Sensorium entwickeln, diese Problematik als solche wahrzunehmen. (2) Die zweite Voraussetzung besteht darin, die Methodologisierung nicht unter der Beobachtungsvorgabe einzelner möglicher Konstituenten für Interpretationsmodelle wie z.B. den Text und seine Semantik, den Autor, den Leser oder den wie auch immer definierten Kontext in den Blick zu nehmen, sondern statt dessen die Differenzierungsachse von Symbol- bzw. Sozialsystem für die jeweilige Konzeptualisierung von Literatur (als System) als Beobachtungsinstrument zu nutzen. Beides zusammen ermöglicht es, daß an der literaturwissenschaftlichen Interpretationstheorie symptomatisch und paradigmatisch die Unhintergehbarkeit der Interpretation prinzipiell beobachtbar wird. Darin liegt die Symptomatik der Ausdifferenzierung und der heuristische Wert literaturwissenschaft-
61
Vgl. hierzu Jahraus/Marius 1998.
262
Oliver
Jahraus
licher Theoriebildung für diesen Problemkomplex und der Nutzen der Differenzierungsachse als Beobachtungsinstrument. Will man diese Symptomatik entschlüsseln, gilt es, auf das Ausdifferenzierungsprinzip zu achten, wie es Ort mit der Differenzierungsachse vorformuliert hat. Stellt man sich diese Achse vor, so markiert der (literarische) Text darauf die Grenze zwischen Symbol- und Sozialsystem .62 Dadurch kann man zwischen Positionen unterscheiden, die ihr Objekt im (literarischen) Text haben, und Positionen, die ihr Objekt in der Umwelt des Textes situieren und konstituieren, die also den Text lediglich als externe Initiation von sozialer Kommunikation und Handlung sehen. Betrachtet man die literaturwissenschaftliche Entwicklung von paradigmatischen Positionen als eine fortschreitende Neudifferenzierung entlang der Textgrenze zwischen einem internen und einem externen Zugriff auf Texte, finden sich die markantesten Schwellensituation bei der ELW und im Übergang zu systemtheoretischen Positionen. Mit der ELW hat sich die Konstellation zu einer Differenzierung zwischen internem Zugriff und der Externalisierung von Texten so weit radikalisiert, daß daraus bereits die entscheidende Dimensionen der Interpretationsproblematik hervortreten. Der Grenzstatus des Textes läßt sich systemisch präzisieren: Die Grenze, die der Text markiert, läßt die beiden Systemtypen als wechselseitige Umwelten für das jeweilige System erscheinen. Die Grenze wird damit als Gelenkstelle vorstellbar, die als Umklappmechanismus in der Konstellation literaturwissenschaftlicher Positionen zur Interpretationsproblematik funktioniert Auf der Basis dieser Konzeptualisierung zeigt sich auf dem Feld einer ausdifferenzierten literaturwissenschaftlichen Methodologie und Literaturtheorie, daß eine interpretationstheoretische Position sich immer auf der einen oder der anderen Seite der durch den Text markierten Grenze situieren muß. (Gleichzeitig wird zusätzlich der heuristische Wert dieses literaturwissenschaftlichen/literaturtheoretischen Feldes deutlich, der es erlaubt, solche Positionierungen in konkreter und zudem in theoretisch expliziter Form nachzuverfolgen.) Zunächst einmal beruht diese Beobachtung einer Ausdifferenzierung entlang der Grenzlinie des Textes ihrerseits auf einer systemtheoretisch fundierten Diagnose. Gleichzeitig sind es wiederum Ansätze einer systemtheoretischen Applikation in der Literaturwissenschaft, die versuchen, solche Differenzierungen zu unterlaufen. Systemtheoretische Literaturwissenschaft ist bereits mit dem Anspruch aufgetreten, die Einheit zwischen der Differenz und der Einheit
62 Ort 1 9 9 5 . 63 V g l . hierzu Jahraus/Marius 1 9 9 8 , S . 2 9 f f .
Die Unhintergehbarkeit
der
Interpretation
263
von Symbol- und Sozialsystem Literatur in den Griff zu bekommen. So hat beispielsweise Niels Werber eine Konzeption ausgeführt, deren Ziel es ist, die Systemtheorie auf Literaturwissenschaft so anzuwenden, daß sie bis »auf die Ebene von Texten« >durchgreiftRichtigkeit richtigen Interpretation kann überhaupt erst dann gesprochen werden, wenn Interpretation von Zirkularität in Unidirektionalität überführt wird. Auf der anderen Seite versucht die ELW gar nicht erst, in diesen zirkulären Prozeß einzusteigen, indem sie die Interpretation zu ihrem Objekt und nicht zu ihrer Praxis macht. Dem wird konzeptionell mit dem Theoriebaustein des
™ Vgl. hierzu, stellvertretend für eine Position innerhalb der ELW, insbesondere Rusch 1992, S. 253, wonach »sich die hermeneutischen Positionen als unterschiedliche und z.T. konträre Aufassungen des (im wesentlichen mit der Schrift entstandenen bzw. virulent gewordenen) Problems der semantischen Offenheit oder Unterbestimmtheit und der Wege zur >Lösung< dieses Problems« darstellen. 7 i Schmidt 1979.
266
Oliver Jahraus
Kommunikats Rechnung getragen; das Kommunikat ist - allgemein gesprochen - die Form, in der der (literarische) Text überhaupt erst zum (nicht nur wissenschaftlichen) Objekt werden kann. Allerdings wird das Problem der Interpretation nur um eine Ebene verschoben, denn auch die Kommunikate, die als Interpretationsresultate ausgewiesen werden, müssen ja einer weiteren Interpretation zugeführt w e r d e n . 7 2 Dennoch ist dieser Vorwurf - das muß man der ELW bereits auf dem Theoriestand der beiden programmatischen Bände von S. J. Schmidt vom Beginn der 80er Jahre zubilligen^ - nicht uneingeschränkt gültig, erlaubt doch gerade diese Ebenenverschiebung einen theoriegeleiteten Zugriff auf das, was als Empirie (der Interpretationsprozesse) angesetzt wird. In der Gegenüberstellung dieser Extrempositionen mittels der Differenzierungsachse wird der Text als Problemfall sichtbar. So läßt sich den Positionen die Gretchen-Frage unterstellen, wie sie es mit dem Text halten. Einerseits ist der Text selbst ein Moment der Dynamik des Sinnkonstitutionsprozesses, auf der anderen Seite werden an den Text die Versuche der Entdynamisierung geheftet. Durch die Extrempositionen wird dann besonders deutlich, wie es weder hier noch dort einen genuinen Zugriff auf den Text als ein solches Moment geben kann, wie vielmehr der Text eher als Horizont erscheint, auf den hin die je spezifischen Konzeptualisierungen orientiert werden. Der Text ist, von der einen, strukturalistischen Seite aus gesehen, der Horizont aller Dekodierungsdispositionen, von der anderen, >empirischem Seite aus gesehen, der Ausgangs-Horizont aller Kommunikatbildungsprozesse. Was nun auf jeder Seite als Zugriffsbereich offensteht, wird als Literatur bestimmt. Bringt man nun die beiden Perspektiven zueinander, so erscheint der Text als Doppelhorizont 7 4 in der Mitte und somit als Grenze, Faltungs- und Verwerfungslinie, die das, was durch den entsprechenden Zugriff auf der einen Seite und durch den entsprechend anderen auf der anderen Seite jeweils als Literatur gilt, als Symbol· oder als Sozialsystem konzeptualisiert. Die topologische Metaphorik läßt sich noch einmal am Begriff der Position aufgreifen und weiter akzentuieren:
Eine literaturwissenschaftliche Konzeption bestimmt sich als nach ihrer Position relativ zum Text als Grenze zwischen den Systemkonzepten von Literatur. Entscheidend ist es zu erkennen, daß die Systemkonzeptualisierung (Symboloder Sozialsystem) relativ zur Text-Grenze Resultate einer aposteriori-Entdynamisierung einer apriori-Dynamik des Interpretationsprozesses darstellen.
72 Siehe z.B. Baasner 1996, S. 196. 73 Schmidt 1991 (Neuauf].!). 74 Der Horizont-Begriff ist in die Raummetaphorik eingebettet, die die Konzeptualisierungsweisen des Textes als abgrenzbare Bereiche illustriert, und darf nicht mit dem Gadamerschen oder Jaußschen Horizont-Begriff verwechselt werden.
Die Unhintergehbarkeit der Interpretation
267
Die Unhintergehbarkeit drück sich im zirkulären Prozeßcharakter der Interpretation aus. Einsichten in diese Zirkularität von Sinnkonstitutionsprozessen, d.i. die Unhintergehbarkeit der Interpretation, sind zwar keineswegs neu und bereits durch entsprechende Formulierungen hermeneutischer Zirkel 75 und der »existenzphilosophischen Überhöhung des Sinnbegriffs« 7 6 bei Dilthey, Heidegger oder Gadamer theoriegeschichtlich schon lange vorweggenommen, doch ergeben sich vor dem Hintergrund neuester - systemtheoretisch und konstruktivistisch fundierter - Ansätze bislang nicht genutzte konzeptionelle Möglichkeiten, diese Unhintergehbarkeit selbst noch einmal theoretisch einzuholen und gegebenenfalls für eine Interpretationspraxis zu nutzen. Die wichtigste Voraussetzung liegt hierbei in den Möglichkeiten, den Interpretationsprozeß mittels basaler Systemoperationen so zu konzeptualisieren, daß daraus die Unhintergehbarkeit als unabdingbar prozessuales Spezifikum ersichtlich wird. Dazu kann man zwar auf ein elaboriertes Instrumentarium zurückgreifen, das die Systemtheorie Luhmannscher Provenienz mit der Begrifflichkeit von Kommunikation und Bewußtsein entwickelt hat und zur Verfügung stellt, doch ist es ebenso notwendig, dieses Instrumentarium auf den Problemfall der Interpretation zuzurüsten. Denn, wie Hans Ulrich Gumbrecht zu Recht betont, ist »die Abstinenz hinsichtlich des Interpretationsbegriffs als ein Symptom von Luhmanns Theorie-Architektonik aufzufassen« 7 7 . Interpretation ist weder ein Theoriebaustein der Systemtheorie, noch liegt sie in deren intendiertem Erklärungsbereich, obschon - Gumbrecht zufolge - die begriffliche Nähe zum Verstehens-Begriff diese Erwartung erzeugen kann. Den Grund hierfür sieht Gumbrecht in der systemspezifischen Beobachtungsoperation, die als Verstehen ausgewiesen wird. Interpretation setze eine Distanz zwischen Subjekten voraus, die im Akt der Interpretation überwunden werden könne; demgegenüber situiere die Luhmannsche Systemtheorie »Verstehen nur innerhalb eines Systems (nicht etwa zwischen zwei verschiedenen Systemen) und beschreibe es als die Beobachtung einer Differenz zwischen Selbstreferenz (Mitteilung) und Fremdreferenz (Information)« 7 ». Aus der Sicht der Luhmannschen Kommunikationstheorie besteht überhaupt keine Notwendigkeit, den Verstehensbegriff in Richtung eines Interpretationsbegriffs auszuweiten, denn Verstehen wird als ein rein kommuni-
7
5 Göttner 1973, Kap. 3, S. 131ff. Vgl. hierzu Rusch 1992, S. 2 5 0 - 2 5 4 . 77 Gumbrecht 1995, S. 171. 7 » Gumbrecht 1995, S. 177. Die Luhmannsche Kommunikationstheorie kann an dieser Stelle nicht in extenso rekapituliert werden, obschon ihre Kenntnis zumindest in Grundzügen für die folgenden Überlegungen vorausgesetzt wird. Vgl. hierzu Luhmann 1984 und Luhmann 1987 (wiederabgedruckt 1995). 76
268
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kationsinternes Moment des Kommunikationsprozesses konzipiert. Nimmt man auf der anderen Seite den Interpretationsbegriff gerade im Hinblick auf seine hermeneutische Fundierung ernst, so müßte man gerade von zwei Systemen, Systemtypen oder Prozessoren, ausgehen, die in den Prozeß der Interpretation konstitutiv involviert sind. Identifiziert man aber System(typ) mit Subjekt, wie es durch die hermeneutische Tradition auch nahegelegt wird, dann führt das zur konzeptionellen Selbstblockade bei der Konzeptualisierung eines systemtheoretischen Interpretationsbegriffs, wie dies bei Gumbrecht anklingt. Dazwischen aber klafft eine konzeptionelle, theoriebautechnische Lücke, die Luhmann nicht füllt, obschon sich der Interpretationsbegriff geradezu aufdrängt. Gumbrecht selbst eröffnet andeutungsweise eine solche Perspektive, indem er eine zusätzliche Variante des Verstehensbegriffs diskutiert, die als Interpretation fundiert werden kann, nämlich eine Konzeption des Verstehens als einer strukturellen Kopplung J9 Gegenüber dem eingeführten Verstehensbegriff ist Interpretation sinnvollerweise tatsächlich nur system(typ)übergreifend zu konzipieren, aber die Systeme sind nicht als Subjekte >zu verstehen^ Nimmt man weiterhin das Moment der Sinnkonstitution ernst, wie es ebenso in der hermeneutischen Tradition angelegt ist, dann müssen also die Systemtypen, die die Interpretation strukturell koppelt, ihrerseits sinnbasierte und sinnverarbeitende Systeme sein. Die Rahmenbedingungen eines systemtheoretischen Interpretationsbegriffs sind damit abgesteckt: Interpretation ist die strukturelle Kopplung von Kommunikation und BewußtseinM oder, enger gefaßt: Mit Interpretation läßt sich das sinnkonstituierende prozessuale Moment dieser strukturellen Kopplung bezeichnen. Die Unhintergehbarkeit der Interpretation ist mithin die Unhintergehbarkeit dieser strukturellen Kopplung und schließlich die Unhintergehbarkeit dieser Systemtypen selbst. Wir können an dieser Stelle nicht das Gesamtkonzept der strukturellen Kopplung zwischen Bewußtsein und Kommunikation darlegen, wie es sich aus den Luhmannschen Überlegungen ableiten läßt und wie es insbesondere Peter Fuchs im Hinblick auf eine erweiterte systemtheoretische Kommunikationstheorie besonders konturiert hat ,8i und beschränken uns daher auf einige Leitlinien.82 Im Zentrum steht dabei die Einsicht, daß die strukturelle Kopplung ein konstitutiv notwendiger Effekt der Unhintergehbarkeit
79 Gumbrecht 1995, S. 177f. 80 Vgl. hierzu Luhmann 1994; ebenso Schmidt 1994, Jahraus/Marius 1998, Jahraus 1997. 81 Luhmann 1988, Luhmann 1994, Kap. 1 und Fuchs 1993; vgl. daneben auch Baecker 1992. 82 Vgl. hierzu die etwas ausführlichere Darlegung bei Jahraus 1997, Abs. 2.
Die Unhintergehbarkeit
der
Interpretation
269
der beiden Systemtypen selbst ist. M.a.W.: Bewußtsein und Kommunikation sind nur deswegen strukturell gekoppelt, weil sie sich in einem Prozeß konstituieren, der für sie selbst jeweils notwendigerweise uneinholbar ist. Das ist wiederum auf die charakteristischen Systemeigenschaften der beiden Systemtypen zurückzuführen. Beide werden als operativ geschlossene, autopoietische und wechselseitig intransparente Systeme konzeptualisiert, die sich prozessual selbst reproduzieren. Weder Bewußtsein noch Kommunikation können außerhalb ihrer selbst operieren - sie operieren völlig überschneid u n g s f r e i 8 3 - und genau das ist die unabdingbare Voraussetzung, daß sie überhaupt operieren können. Bewußtsein reproduziert sich nur mittels Bewußtsein, also mittels Gedanken, Kommunikation nur mittels Kommunikationen. Bewußtsein und Kommunikation setzen sich aber wechselseitig konstitutiv voraus: »Ohne Bewußtsein keine Kommunikation und ohne Kommunikation kein Bewußtsein«84. Auch wenn man, eingeschränkt durch die sprachlichen, auf Nominalisierung angelegten Möglichkeiten, Bewußtsein und Komunikation dinghaft zu benennen scheint, so darf doch nicht übersehen werden, daß Bewußtsein und Kommunikation immer nur als Prozeß greifbar sind, das heißt, nur in Form eines Prozesses zu dem werden, was wir als Realität bezeichnen können. Der Prozeßcharakter läßt sich zunächst als Lösung für ein Restriktionsproblem begreifen. Sowohl Bewußtsein als auch Kommunikation sind aufgrund ihrer operativen Geschlossenheit raumzeitlichen Grenzen unterworfen; sie scheinen aber doch prinzipiell auf Funktionen festgelegt zu sein, deren Erfüllung raumzeitliche Restriktionen überwinden können muß. Bewußtsein und Kommunikation können nicht überall sein, können nicht alles beinhalten, und sind doch dazu da, einen potentiell unendlichen Phänomenbereich erfassen zu können. Mit prozessualer Sukzession wird die Restriktion mittels Fremdreferenz umgangen. Deswegen muß Zeit in Anspruch genommen werden; und die Form, in der das geschieht, macht den Prozeßcharakter aus. Damit werden zwar die Restriktionen überwunden, auch die zeitlichen, allerdings um den Preis einer ganz anderen Art von zeitlicher Restriktion, der aus dem Prozeßcharakter resultiert. Beide Systemtypen sind jeweils an ihre Operationszeit gebunden, und diese Bindung ist nichts anderes als die - prozessuale - Uneinholbarkeit beider S y s t e m t y p e n . 8 5 Weder Bewußtsein noch Kommunikation können sich selbst einholen und sind sich somit selbst nicht präsent .86 Sie
83 84 85 86
Luhmann 1988, S. 893. Luhmann: 1994, S. 38. Vgl. Fuchs 1995, S.22ff. Dieser Gedankengang läßt sich an transzendentalphilosophische Vorstellungen des Bewußtseins anbinden; dadurch läßt sich zeigen, wie die Systemtheorie mit ihrem
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Oliver Jahraus
können also nicht zum Zeitpunkt eines Vollzugsmomentes jenen anderen Vollzugsmoment präsent halten, das diesem aktuellen Vollzugsmoment notwendigerweise vorausgeht. Weil aber genau darin die Funktionsweise konstitutiv begründet liegt, kann man sagen, daß sowohl Bewußtsein als auch K o m munikation konstitutiv uneinholbar sind, weil ihr Prozeßschema prinzipiell differentiell ist. Bewußtseins- und Kommunikationsvollzug ist den Bewußtseins- und Komunikationsinhalten immer schon voraus. Auch wenn das Denken (Vollzug) sich selbst denkt (Inhalt), also Selbstbewußtsein oder Bewußtsein von sich selbst erzeugt, so geht der Prozeß diesem Produkt immer voraus; und gleiches gilt für Kommunikation. Die operative Geschlossenheit bedingt somit zwar den Prozeßcharakter, da aber der Prozeßcharakter wiederum erst die Leistungsfähigkeit in der Fremdreferenz mit sich bringt, wird deutlich, daß die operative Geschlossenheit zugleich die fremdreferentielle Umweltoffenheit ermöglicht. Nimmt man all diese Momente jedoch f ü r jeweils nur einen der beiden Systemtypen z u s a m m e n , so ist damit noch nicht erklärt, w a r u m es dennoch zur Selbstreproduktion k o m m t . Es scheint vielmehr so, als ob diese Momente eher auf einen Stillstand, eine Blockade oder eine Paralyse hinweisen. Denn es fehlt der Impuls, der das System dazu bringt, zu operieren. Ohne diesen wird nicht(s) prozessiert, wird kein Prozeß in Gang gehalten. Auf das Bewußtsein bezogen heißt das: Nicht die Gedanken prozessieren das Denken, sondern umgekehrt. Das System kann also nicht den Impuls seiner Selbstreproduktion liefern; der Impuls kommt aus der Umwelt des Systems. So lassen sich zwar für Bewußtsein einerseits und f ü r Kommunikation andererseits zahlreiche Umwelten als Impulsgeber denken, es zeigt sich aber, daß Bewußtsein und Kommunikation jeweils füreinander die f ü r ihr Prozessieren maßgeblichen und letztlich f ü r die Aufrechterhaltung des Prozesses einzigen Impulsgeber sind. Bewußtsein und Kommunikation sind somit wechselseitig konstitutive Umwelten füreinander. Diese konstitutive Abhängigkeit, das wechselseitige A u f einandereinander-Angewiesen-Sein läßt sich als doppeltes re-entry konzeptualisieren.87 Im Bewußtsein wird der Unterschied Bewußtsein - Kommunikation bewußt, in der Kommunikation kommunikativ prozessiert.88 Denn indem die Systemtypen ihre Differenz als re-entry intern reproduzieren, reproduzieren sie sich jeweils selbst und sichern somit ihre Existenz und ihr Fortbestehen in der
Theoriebaustein der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation die Bewußtseinsphilosophie beerbt und gleichzeitig radikalisiert, indem sie ihre Aporien handhabbar macht. Vgl. dazu Marius/Jahraus 1997 und Fuchs 1995, S. 15 u. Fn. 9. 87 Luhmann 1996, S. 34. Luhmann spricht von der »Bewußtseinsabhängigkeit der Kommunikation« und von der »Kommunikationsabhängigkeit des Bewußtseins«. 88 Fuchs 1993, S. 75f.
Die Unhintergehbarkeit
der
Interpretation
271
Zeit. Daß Kommunikation in der Umwelt von Bewußtsein operiert, bringt das Bewußtsein erst zur Selbstreproduktion mittels Bewußtsein. Und dasselbe gilt vice versa.89 So operiert Bewußtsein einerseits und Kommunikation andererseits überhaupt nur, insoweit sie strukturell gekoppelt sind. Wenn die strukturelle Kopplung hierbei als Impulsweitergabe charakterisiert wird, so bedeutet das nicht, daß Bewußtsein und Kommunikation ineinander übergehen und ihre Systemgrenzen verwischen. Wenn also von einem Impuls die Rede ist, so wird dieser Impuls immer nur systemspezifisch verarbeitet bzw. systemspezifisch für die je eigene Selbstreproduktion genutzt. Kommunikation ist für Bewußtsein nur bewußt, Bewußtsein für Kommunikation nur kommunikativ gegeben. Die Systeme sind somit wechselseitig füreinander intransparent - und gleichzeitig konstitutiv notwendig. Nur weil das je andere System in der Umwelt des einen Systems operiert, kann dieses selbst operieren. Strukturelle Kopplung, Intransparenz und Uneinholbarkeit sind somit drei unabdingbar zusammenhängende Dimensionen der Operationsstruktur in der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation. Im Hinblick auf diesen Zusammenhang darf man also die >Sinnverarbeitung< (bzw. die >ImpulsgebungSinn< bezeichnet w e r d e n . « 9 2 Sinn ist im Sinne Luhmanns »eine unnegierbare, eine differenzlose Kategorie«93. Sinn bildet somit die mediale Voraussetzung für die strukturelle Kopplung. Und den Prozeß der Sinnproduktion im Schema der strukturellen Kopplung bezeichne ich als Interpretation. (Sinn und Interpretation werden im Theorierahmen der Systemtheorie definiert, aber doch so, daß eine kontraintuitive Bestimmung weitgehend vermieden und vielmehr die Anschließbarkeit an hermeneutische und andere methodologische Grundlagen für eine Rekonzeptualisierung gewahrt bleibt.) Daß überhaupt Sinn irgendwie entsteht oder emergiert, ist umgekehrt wiederum auf strukturelle Kopplung zurückzuführen. Die strukturelle Kopplung ist jeweils das perpetuum mobile für die beiden Systemtypen. Das erfordert und wird gleichzeitig erklärt durch - eine Modifikation der (weitgehenden und kaum mehr operationalisierbaren) Identifizierung von Wahrnehmung und Interpretation in konstruktivistischen Positionen, sofern man Wahrnehmung
90
91 92 93 94
Hier decken sich der skizzierte Medienbegriff mit Luhmanns Medienbegriff, wie er durch die Gegenüberstellung von Medium und Form bestimmt wird. Form ist demnach die strikte Kopplung von lose gekoppelten Elementen des Mediums. Jede Form kann ihrerseits wieder Medium sein für weitergehende Formbildungen. Das erlaubt eine sukzessive Hierarchisierung und Konkretisierung von Medien. Vgl. zur Luhmannschen Unterscheidung von Medium und Form Luhmann 1988, S . 8 9 1 ; 1993, S. 64, 1994, S . 5 2 ; 1995, S. 1 6 5 f f , daneben auch 1986 a und 1986b; Fuchs 1 9 9 3 , 1 9 9 5 , Baecker 1991 und Baraldi/Corsi/Esposito 1997, S. 5 8 - 6 0 . Baecker 1992, S. 247f.; vgl. daneben auch Gripp-Hagelstange 1995, S. 47f. Luhmann 1995, S. 173. Luhmann 1984, S. 44. Vgl. hierzu Luhmann 1997, S . 5 0 f .
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Interpretation
273
unidimensional auf den einen Systemtyp Bewußtsein hin orientiert.95 Wenn man Wahrnehmung und Interpretation gleichsetzt, blendet man somit die strukturelle Kopplung aus. Diese Gleichsetzung beruht auf einer antirepräsentationalistischen Voraussetzung: Wahrnehmung ist kein Vorgang der Repräsentation der Außenwelt im Bewußtsein, genauso wenig wie Bedeutung (sprachliche) Repräsentation der Außenwelt in der Kommunikation ist. Physiologisch betrachtet, ist Wahrnehmung viel zu unspezifisch, als daß daraus eine Repräsentation abgeleitet werden kann. Was immer also (bewußt) wahrgenommen wird, ist ein interpretatorisches Produkt oder Konstrukt. Und insofern ist jeder Wahrnehmungsakt tatsächlich mit einem Akt der Interpretation gekoppelt. Dennoch erschöpft sich Interpretation nicht in Wahrnehmung. Die Differenz, die zwischen Wahrnehmungsakt und Interpretationsakt klafft, ist jenes Moment der Sinnproduktion unter der Voraussetzung der strukturellen Kopplung. Sinn als Medium zeichnet somit die an der strukturellen Kopplung beteiligten Systemtypen Bewußtsein und Kommunikation aus, läßt es allerdings als theoriebautechnisch fraglich erscheinen, ob man Wahrnehmung, Bewußtsein und Kommunikation selbst als medial charakterisieren sollte .96 Wo Medialität durch Prozessualität gekennzeichnet ist, stellt eine singuläre Charakterisierung nur eines Moments eine Verkürzung des Medienbegriffs dar. Ich schlage daher folgende Begriffsdifferenzierung vor: Wahrnehmung bezeichnet lediglich die Irritation des (operativ geschlossenen) Systems durch Impulse aus der Umwelt. Wahrnehmung ist daher - Gerhard Roth f o l g e n d 9 7 _ eine Form des Außenkontakts eines selbsterhaltenden Systems ohne Überschreitung der Systemgrenzen. Wahrnehmung ist operativ Differenzierung, sie erzeugt Unterschiede, die allerdings - um die Formulierung Batesons aufzugreifen - noch keinen Unterschied machen. Genau das ist die Funktion der Interpretation. Interpretation erzeugt Unterschiede, die einen Unterschied machen, und das wiederum bezeichnen wir im folgenden als S i n n 9 8 . Diese Unterschiede, die einen Unterschied machen, sind als Sinnphänomen konstitutiv für Realität. Sinn als Interpretationsresultat hat also die Funktion, die Komplexität der Außenwelt so zu r e d u z i e r e n ^ daß die Resultate für eine interne Weiterbe-
95 Siehe z.B. Schmidt 1987, S. 18; auch Scheffer 1992, S. 10, 39, referiert solche genuin konstruktivistischen Positionen. 96 Wie z.B. bei Matzker 1993. 97 Roth 1996, S. 78ff. 98 Abweichend von Bateson 1985, S . 4 8 8 , der Unterschiede, die einen Unterschied machen, als Information definiert. 99 Gripp-Hagelstange 1995, S. 46ff.
274
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rechnung, also Weiterdifferenzierung, überhaupt erst zur Verfügung stehen. Wahrnehmung macht Systemirritationen operationabel. Oder anders gesagt: Wahrnehmung erzeugt die Voraussetzungen, damit das System so weiter prozessieren kann, als ob es selbst Außenkontakte hätte. Realität erscheint mithin als ein Effekt von Wahrnehmung in einer Form, als ob Realität eben gerade kein Effekt von Wahrnehmung wäre. Daß aber Realität als objektiv erfahren werden kann, ist aber gerade ein Effekt von Wahrnehmungsresultaten. Würde man den Begriff über selbsterhaltende Systeme hinaus ausdehnen, so wäre auch ein Thermometer ein Wahrnehmungsorgan. Es erzeugt Unterschiede. Der Interpretationsakt kommt erst dann hinzu, wenn ein Thermostat aus den Resultaten des Thermometers (Unterschiede) Folgeoperationen für die Regulierung einer Heizung (Unterschiede, die Unterschiede machen) errechnet und durchführt. Interpretation ist somit der Akt der Sinnproduktion aus Wahrnehmungsresultaten. Strenggenommen nehmen also Bewußtsein und Kommunikation niemals selbst wahr, sondern instrumentalisieren ein anderes System für diesen Zweck, das organische System, den Körper also. Der Körper nimmt wahr, doch bleibt diese Wahrnehmung blind, solange sie nicht zur Weiterberechnung genutzt wird, so daß Wahrnehmung ohnehin nur immer in Verbindung bzw. in Fortsetzung als Interpretation wahrgenommen werden kann. Interpretation bedeutet somit Rekursivität: die Wahrnehmung der Wahrnehmung ist Interpretation.100 Sinn ist ein emergentes Phänomen der Interpretation, und Wahrnehmung ist der Katalysator dieser Emergenz. Wahrnehmung löst also Prozesse aus, die Sinn bilden. Aber es läßt sich aufgrund der Systemeigenschaften kein kausaler Zusammenhang annehmen. Daß Sinnbildungsprozesse, Interpretationen, im Bereich der Alltagswahrnehmung und ihrer Routinen dennoch relativ problemlos aus Realität zurückgerechnet werden und sogar als Legitimationsinstanz für Interpretationen herhalten können (»Ich weiß doch, was ich gesehen habe...«), liegt daran, daß solche Prozesse im Laufe des Lebens extremen Sozialisierungsprozessen und sozialen Konditionierungen unterliegen. Festzuhalten bleibt, daß an dem Sinnbildungsprozeß, der an Wahrnehmung anschließt, notwendigerweise die beiden Systemtypen Bewußtsein und Kommunikation beteiligt sind. Weder Bewußtsein noch Kommunikation allein könnten so prozessieren, daß sich daraus Sinnbildungsprozesse erklären ließen. Interpretation ist somit als eine Art Ping-Pong-Spiel ohne Ball zwischen Bewußtsein und Kommunikation zu verstehen. Der Ball wird ersetzt durch Sinn. Dabei darf man allerdings nicht Bewußtsein mit dem Denken und Kom-
100 Luhmann 1996, S.70: »Soll Wahrnehmen des Objekts als Verstehen einer Kommunikation, also als Verstehen der Differenz von Information und Mitteilung gelingen, ist dazu ein Wahrnehmen des Wahrnehmens erforderlich.«
Die Unhintergehbarkeit der Interpretation
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munikation mit dem Sprechen, mit tatsächlich ablaufenden Gesprächen identifizieren.101 Strukturelle Kopplung findet bei jedem Prozeß statt, den man in simplifizierender Weise auch nur einem Systemtyp zurechnet. Wenn also z.B. von >Denken< die Rede ist, so ist auch das ein Prozeß, der auf der strukturellen Kopplung zwischen Bewußtsein und Kommunikation beruht. Fassen wir zusammen: Wann immer Bewußtsein und Kommunikation strukturell gekoppelt werden, wird interpretiert, weil beide Systemtypen nur sinnhaft und - damit direkt zusammenhängend - strukturell gekoppelt überhaupt operieren können. Sinn ist somit die Aggregationsform eines Systemzustands (eines Systemereignisses in differentieller Hinsicht), der es erlaubt, daß eben daran der nächste Systemzustand bestimmt differenzierend und differentiell anschließen kann. Sinn erzeugt operationale Konsistenz, die die Voraussetzung für jedwedes Orientierungsverhalten im Sinne eines realitätskonstitutiven Prozessieren von Differenzierungen darstellt. 102 Wenn aber Sinn letztlich immer nur als Differenzierungseffekt erfaßt werden kann, wenn Sinn also dem Differenzieren immer vorausgeht, dann stellt sich zwar die Frage, wie denn nun Sinn selbst unterschieden werden kann, oder anders ausgedrückt: wo denn der Startpunkt der Prozession von Unterscheidungen liegt, die Sinn produzieren. Es zeigt sich aber ebenso, daß diese Frage aporetisch ist. Eine »Urintention« für eine Ursprungsunterscheidung muß einerseits zwar vorausgesetzt sein, um sich den Prozeß vorstellen zu können, andererseits ist diese Vorstellung ein Paradox, denn wo diese Unterscheidung überhaupt beobachtet wird, ist ihr schon eine andere Unterscheidung, die eben die in Frage stehende Unterscheidung unterscheidet, vorausgegangen. Die Aporie drückt Luhmann in der Frage aus: »Aber wie kann man anfangen, ohne schon unterschieden zu haben, da man doch eine Unterscheidung braucht, um anfangen zu können?« 103 Wenn man nunmehr das Unterscheiden als sinnkonstitutiv auffaßt, den Prozeß der Sinnkonstitution als Interpretation konzeptualisiert und für jede Unterscheidung unabdingbar eine Unterscheidung voraussetzen muß (die eben aus der nachfolgenden Unterscheidung einen Unterschied, der einen Unterschied macht, mithin Sinn, hervorgehen läßt), dann hat man alle Konzeptionsmomente jenes Theorieelements zusammenge-
101
Ich betrachte es daher mit Skepsis, wenn Schmidt/Feilke 1997, S. 269, die strukturelle Kopplung in eine philosophische Tradition einordnen, die sie mit »Denken und Sprechen« benennen. 102 Der Schock kann als Ausnahme konzipiert werden, sofern man davon ausgeht, daß durch den Schock Bewußtsein und Kommunikation auseinandertreten. Ein solcher Schock kann, wenn auch in anderer Dimension als bei seiner pathologischen Variante, auch ästhetisch initiiert und funktionalisiert werden (vgl. hierzu Jahraus 1999). 103 Luhmann 1996, S. 5 6 .
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faßt, das hier die Unhintergehbarkeit der Interpretation genannt wird. Unhintergehbarkeit (der Interpretation) und Uneinholbarkeit (des Prozessierens von Bewußtsein und Kommunikation in struktureller Kopplung) sind lediglich die beiden - gegenüberliegenden und daher in andere Richtungen weisenden Seiten ein und derselben Medaille der Differentialität der strukturellen Kopplung.
6. Bewußtsein und Kommunikation als Adressen des Symbol- und Sozialsystems Literatur Nachdem die Begriffe Sinn und Interpretation in die entsprechend angepaßte und modifizierte Theoriearchitektur der systemtheoretischen Basisunterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation eingefügt sind, kann man im nächsten Schritt dazu übergehen, diese Konzeption auf die Begriffe Symbol- und Sozialsystem rückzubeziehen, um somit den Anschluß an die Rekonzeptualisierung der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung zu erhalten. Hilfreich dabei ist vor allem, daß die beiden genannten Begriffe, auch wenn sie spezifisch systemtheoretisch gefaßt wurden, trotzalledem an die hermeneutische Tradition, die als Startpunkt der hier in Frage stehenden literaturwissenschaftlichen Methodenentwicklung angesehen wird, zurückgebunden bleiben. Die markante Abweichung liegt vor allem dort, wo Sinn in der hermeneutischen Tradition mit einem divinatorischen Moment im Akt einer Sinnschöpfungio* im Extremfall ex nihilo - verbunden wird;105 der Anschlußpunkt hingegen liegt dort, wo die Sinnkonstitution rekursiv immer wieder auf Sinn selbst zurückgeführt wird. Der hermeneutische Zirkel erscheint so als Grundmuster der Uneinholbarkeit bzw. der Tautologie von Sinn. Die Interpretation läßt sich also in einem Spannungsverhältnis von divinatorischem Akt der Sinnschöpfung und der Autopoiesis von Sinn situieren :i06 Sinn reproduziert sich mittels Sinn selbst. Die Autopoiesis von Sinn ist dabei an die Autopoiesis der Systemtypen gebunden, aus deren struktureller Kopplung Sinn emergiert. D.h.: Bewußtsein und Kommunikation sind autopoietische Systeme, die in struktureller Kopplung als Sinnsysteme Sinn aus Sinn >produzierenbeobachtbar - wird. Dieses Prinzip läßt sich mit dem Grundsatz eines reflektierten radikalen Konstruktivismus veranschaulichen, was gleichzeitig deutlich macht, wie eng die Berührungspunkte zwischen Konstruktivismus und Systemtheorie sind: Jedes Konstrukt muß, um seine Funktion erfüllen zu können, so konstruiert sein, daß sein Konstruktcharakter dabei eben ausgeblendet wird. Auf das Prozessieren der Systemtypen Bewußtsein und Kommunikation bezogen, heißt das, daß genau dieses Prozessieren für den jeweiligen Systemtyp nicht einholbar sein darf, was - transzendentalphilosophisch gewendet - nichts anderes heißt, als daß der Bewußtseinsvollzug für das Bewußtsein im Vollzug selbst nicht präsent sein darf - und kann. Vergleichbares müßte mutatis mutandis für den Kommunikationsprozeß angenommen und besonders spezifiziert werden. Bewußtsein ist sich somit selbst konstitutiv (!) nicht präsent. Spezifiziert auf den Operationstyp >Sinnkonstitution< des Bewußtseins erscheint dieses Phänomen wiederum als Unhintergehbarkeit der Interpretation.
107 Luhmann 1997, S. 51. 108 Luhmann 1997, S. 47. 109 Fuchs 1995.
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Wie wird also der Effekt der Identität des Sinnes durch Differentialität erzeugt? Die Antwort läßt sich so formulieren: Durch die Umadressierung von Sinn auf ein Medium mit höherer Konkretionsstufe, also mit einer substantiellen Form, die wiederum als Medium diente 10 z.B. als Text bzw. als Zeichen.ni Um also die Sinnkonstitution prozessierbar zu halten und operationalisierbar zu machen, wird Sinn aus der strukturellen Kopplung ausgeblendet und so auf den Text projiziert, daß die Projektion ihrerseits unsichtbar bleibt. Im folgenden gehe ich davon aus, daß die Bedingungen der strukturellen Kopplung bei dieser Projektion erhalten bleiben und sich in der je besonderen Ausprägung des Projektionsziels manifestieren. Um diesen Gedankengang auszuführen, werde ich auf die Begrifflichkeit von Symbol- und Sozialsystem zurückgreifen. Vorausgeschickt sei, daß sich diese Begriffe auf Konzeptualisierungen des Literatursystems beziehen. Die folgenden Überlegungen schränken daher ihr Blickfeld auf einen Objektbereich ein, der sich als Literatur konzeptualisieren läßt. Um aber jede ontologische Festschreibung einer Literaturdefinition zu vermeiden, gehe ich davon aus, daß Literatur jene Teilmenge von ( s c h r i f t b a s i e r t e n i i z ) Texten umfaßt, bei der (1) die Sinnidentifikation prinzipiell krisenbehaftet ist und daher (2) solche Adressierungen überhaupt erst relevant werden. Die Konzepte von Symbolsystem einerseits und Sozialsystem andererseits sind nun nicht systemspezifisch dem Bewußtsein einerseits und der Kommunikation andererseits zuzuordnen; vielmehr ergibt sich die jeweilige Zuordnung erst aus unterschiedlichen Referenzen innerhalb des Zusammenhangs der strukturellen Kopplung. Im Hinblick auf die differentielle Operationsstruktur, unter der sich die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation überhaupt erst realisiert, nimmt die Konzeptualisierung als Sozialsystem die Operations- und Prozeßstruktur der Differentialität auf, wohingegen die Konzeptualisierung als Symbolsystem entgegengesetzt Entdifferentialisierung als Entprozessualisierung zu evozieren versucht. Erst auf dieser Ebene ergibt sich dann in beiden Konzeptualisierungssparten die jeweils doppelte Adressierungsmöglichkeitus auf die beiden strukturell gekoppelt prozessierenden Sy-
n o V g l . A n m . 82. 1 » V g l . hierzu Scheffer 1 9 9 2 , S. 2 3 4 f f . Π2 Daß Literatur nicht zwangsläufig als schriftbasiert definiert werden muß, ja sogar, daß die schriftspezifischen Interpretationseffekte von der Schrift abgelöst werden können, wird damit selbstverständlich nicht bestritten. Es geht hier um eine paradigmatische Begriffsklärung. 113 Ich greife hier einen Theoriebaustein von Baecker 1996 auf, f ü g e ihn allerdings in eine andere Theoriearchitektur ein. Das Fundament, um in der Metapher zu bleiben, nämlich die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation, bleibt allerdings dasselbe.
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stemtypen, also auf Bewußtsein einerseits und auf Kommunikation andererseits. Eine Skizze mag das schematisch verdeutlichen: Konzeptualisierung:
Sozialsystem
Symbolsystem
Operationalisierung:
Differentialität
Entdifferentialisierung
Adressierung:
Bewußtsein/Kommunikation
Bewußtsein/Kommunikation
Die Rückführung der Konzeptualisierungstypen auf Prozeßtypen, verbunden mit den Systemtyp-spezifischen Adressierungsmöglichkeiten, ergibt somit eine Ausdifferenzierung in vier Konzeptualisierungsformen für die methodologisch-literaturtheoretische Konstellation. Im folgenden soll also die Konzeptualisierungsrichtung umgedreht werden: Es geht nicht darum zu fragen, w i e methodische Positionen Literatur (systemisch implizit oder explizit) konzeptualisieren, sondern darum, wie die in den Konzeptualisierungen erfolgten Adressierungen eine Rekonzeptualisierung der methodischen Positionen ergeben. (1) Die Adressierung der Differentialität auf das Bewußtsein zielt auf die Unhintergehbarkeit der Interpretation. Sie wird virulent sowohl in poststrukturalistischen Positionen in der Nachfolge von Barthes' Konzept eines anarchischen Lesers und einer subversiv-erotischen Lektüre, w i e sie in Die Lust am T e x t w vorgestellt oder besser: praktiziert wird, aber auch in konstruktivistischen Theoremen von der Unzugänglichkeit kognitiver Prozesse, wie sie auch bei der Interpretation ablaufen. (2) Die Adressierung der Differentialität auf die Kommunikation ergibt eine Konzeptualisierung, w i e man sie dem Begriff Sozialsystem der Empirischen Literaturwissenschaft^ 15 unterstellen kann. Literarische Kommunikation kann dabei nicht ontologisch apriori festgestellt werden, so daß sie immer nur an der Kommunikation über Literatur >abgelesen werden kann. Das hängt direkt mit der Intransparanz und somit auch mit der Differentialität des Bewußtseins zusammen. Dieser Adressierung wird mit dem Kommunikatbegriff Rechnung getragen: Literatur >ist< überhaupt nur, insofern sie als Kommunikation konzeptualisiert wird. (3) Die an das Bewußtsein adressierte Entdifferentialisierung revoziert strukturalistische Zeichenkonzepte von der letztlich analytisch vollständig rekonstruierbaren Bedeutung, somit auch das Konzept eines idealen Lesers mit der vollständigen und zumindest prinzipiell vollständig explizierbaren zeit-
Π4 Barthes 1973. u s Exemplarisch hierzu Schmidt 1989.
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spezifischen Sprachkompetenz und schließlich das Konzept des Textes als Zeichensystem. Das Bewußtsein rückt dabei in die Position - um mit Derrida zu s p r e c h e n ^ _ eines transzendentalen Signifikates, das Signifikation garantiert. Damit diese Signifikation als Einheitsstiftung zwischen Signifikant und Signifikat überhaupt vorstellbar und zugleich garantierbar wird, hebt man zwar auf das Bewußtsein als die dafür verantwortliche Letztinstanz ab, muß aber gleichzeitig seine Differentialität ausblenden. Es ist das Bewußtsein, das dabei die Signifikation idealiter einlöst; es ist für die Identifikation und Identifizierbarkeit von Bedeutungen verantwortlich. (4) Adressiert man hingegen die Entdifferentialisierung auf die Kommunikation, so gelangt man auch hier zu einem Systembegriff von Literatur, allerdings wiederum zu einer strukturalistischen Variante. Entdifferentialisierte literarische Kommunikation meint Literatur als Symbolsystem, als System von Texten, dessen systemischer Charakter die Rekonstruierbarkeit der Bedeutungen der Einzeltexte trägt.n^ Zusammenfassend ist festzuhalten: Mit den jeweiligen Adressierungen auf Kommunikation wird die Dichotomie von Sozial- und Symbolsystem am deutlichsten reproduziert; und in beiden Fällen wird deutlich, daß die entsprechende systemische Konzeptualisierung von Literatur in der entsprechenden Adressierung mitbestimmt ist durch die Adressierung des anderen Systemtyps: Die Differentialität des Bewußtsein und der Kommunikation bedingen sich gegenseitig, und ebenso die Entdifferentialisierung der beiden Systemtypen auf der anderen Seite. Sozial- und Symbolsystem setzen sich wechselseitig voraus, ebenso wie Differentialität und Entdifferentialisierung, und beide Wechselverhältnisse sind über die Adressierungen miteinander verzahnt. Gleichzeitig sind die Adressierungen kreuzweise wechselseitig negativ bestimmt, zumindest als Negativfolie: die Differentialität des Bewußtseins und die Entdifferentialisierung der Kommunikation und umgekehrt - insgesamt ein Effekt der strukturellen Kopplung! Wo also die Differentialität des Bewußtseins ins Blickfeld rückt, wird die soziale Dimension einer entdifferentialisierten Kommunikation ausgeblendet. Eine solche Position läßt sich bei Barthes wiederfinden. Was ausgeblendet wird, erscheint als Leerstelle, die Barthes als Freiheit positiv bestimmt.ns Das
Π6 z . B . Derrida 1986. 117 Ein solcher Systembegriff findet sich bei Wünsch 1990, S. 132 und passim, u s Daß in der Folge der Lektüreakt zudem sexuell konnotiert werden kann, läßt sich als Verlagerung der Referenz der Kopplung reformulieren. W o demnach die soziale Dimension ausgeblendet wird, kommt anstelle dessen der Körper, das organische System, in den Fokus. Daher bedingen sich die anarchische und die sexuelle Implikation. Die Lektüre, d.h. die strukturelle Kopplung zwischen Bewußtsein und
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der
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andere Extrem wäre demnach im Strukturalismus und seiner Vorstellung von der objektiven Rekonstruierbarkeit der Bedeutung auf der Grundlage intersubjektiver Sprachkompetenz zu suchen. Wo die Differentialität des Bewußtseins nicht gesehen wird, aus der aufgrund des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses auch die Differentialität der Kommunikation resultiert, kann man von einem vollständig sozialisierten Symbolsystem ausgehen, das es erlaubt, jede Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation vollständig kommunikativ erfassen zu können. Die Idee der abschließbaren Rekonstruktion von Bedeutung würde auf der kommunikativen Einholbarkeit der Kommunikation beruhen. Die ELW hingegen blendet aus erkenntnistheoretischen Gründen die kommunikative Zugänglichkeit der Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation und somit das entdifferentialisierte Symbolsystem aus. Hier wird meines Erachtens diese Kopplung mit der Intransparenz des Bewußtseins schlechthin verwechselt. Entdifferentialisierende Theorieentscheidungen werden als Fehlentscheidungen kurzschlüssig abgelehnt und es wird übersehen, daß Entdifferentialität eben nicht nur eine Chimäre ist, die entsteht, wenn man die Differentialität außer acht läßt, sondern daß Entdifferentialisierung ein prozessualer Effekt der Differentialität ist. Ebenso gilt, daß diese Adressierungstypologie bestimmten Konzeptualisierungsmuster zugrunde liegt, keineswegs aber mit der jeweiligen Theoriearchitektur einer literaturwissenschaftlichen Methode gleichgesetzt werden kann. So beruht der hermeneutische Zirkel auf einer Adressierung von Differentialität; gleichzeitig finden sich in hermeneutischen Positionen immer wieder auch Entdifferentialisierungsmomente. Von besonderem Interesse sind natürlich Analyse/Interpretations-Modelle, weil sie der doppelten Adressierung positionsintern Rechnung tragen. Der Analyseteil übernimmt die Funktion der Entdifferentialisierung, wohingegen die Interpretation Differentialität zu prozessieren erlaubt. Im Gegensatz zur Differenzierung in Symbol- und Sozialsystem wird hierbei die Beobachtung nicht auf die Literaturkonzeptualisierungen, sondern auf Operationsmodelle der Interpretation selbst gelenkt. Deshalb ist die positionsübergreifende Differenzierung von Symbol- und Sozialsystem nicht deckungsgleich mit der positionsinternen Differenzierung von Analyse und Interpretation (im Rahmen der Interpretation). Mit Blick auf die - beiden Differenzierungsbereichen zugrunde liegenden - Adressierungen kann man jedoch festhalten, daß beide demselben Differenzierungsmuster folgen. Durch die operationale Verflechtung tritt allerdings eine Symptomatik noch deutlicher zutage als in der litera-
Kommunikation, die Kommunikation ausblendet, kann eine strukturelle Kopplung auf das organische System zumindest imaginieren. Diese ist aber nicht mehr unmittelbar kommunizierbar.
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turtheoretischen Entwicklung: Das bedeutet, daß Modelle, die einer Differenzierung Analyse/Interpretation folgen, ein Indiz für die sinnkonstitutive Wechselseitigkeit von Entdifferentialisierung und Differentialität darstellen. Anders gesagt: Wo Analyse/Interpretations-Modelle durch ihre Zweidimensionalität die Unhintergehbarkeit der Interpretation durch die Analyse hintergehen oder zumindest untermauern wollen, folgen sie genau dem Operationsprinzip von Bewußtsein und Kommunikation in struktureller Kopplung: sie entdifferentialisieren und differentialisieren. Daß man überhaupt in dieser Form (Analyse/ Interpretation) differenziert, muß also auf die Adressierungsmöglichkeiten von Bewußtsein und Kommunikation im Rahmen struktureller Kopplung zurückgeführt werden.
7.
Das Verhältnis von Literatur und Literaturtheorie vor dem Hintergrund struktureller Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation
Hat man diese basale Konzeptualisierungsebene der strukturellen Kopplung erst einmal eingenommen, stellt sich auch das Verhältnis von Literatur und Literaturtheorie anders dar. Der Metastatus der Literaturwissenschaft wird brüchig, wenn nicht obsolet. Daß Literatur kein von der Literaturwissenschaft mit ihrer Literaturtheorie unabhängig vorgefundener Bereich ist, kann man an verschiedenen Momenten der Objektkonstitutionii9 ablesen. Doch wenn man von dieser Adressierung ausgeht, muß man auch die Dynamik der Objektkonstitution konstruktivistisch radikalisieren. Zunächst kann davon ausgegangen werden, daß die Konstitutionsmomente von Literatur und Literaturtheorie sich wechselseitig bedingen. Indem Literaturtheorie einen Objektbereich Literatur konstituiert - durch extensionale und intensionale, durch quantitative und qualitative, durch empirische und idealtypische Bestimmungen, Festlegungen, Definitionen, wie auch immer sie als Beobachtungen ausgegeben werden konstituiert sie sich gleichermaßen selbst; die Selbstkonstitution der Literaturtheorie erfolgt durch Fremdkonstitution der Literatur. In umgekehrter Richtung kann sich Literatur als solche konstituieren, wenn es ihr gelingt, so auf Literaturtheorie zu referieren, daß Literaturtheorie wiederum auf die in Frage stehende Literatur referiert. Die Referenz auf die konkreten Handlungsinstanzen oder -rollen wie Produzenten, Vermittler, Rezipienten oder Verarbeiter im
Π9 Jahraus 1 9 9 4 .
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der Interpretation
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als literarisch ausgewiesenen Handlungs- und Kommunikationszusammenhangi20 kann diesen Prozeß der Literaturkonstitution in Gang setzen. Doch wenn man in Rechnung stellt, daß alle diese wechselseitigen Konstitutionsprozesse zugleich immer auch Kommunikationsprozesse sind und diese Kommunikationsprozesse ihrerseits wiederum durch die Bedingungen, wie sie sich aus der strukturellen Kopplung mit dem Bewußtsein ergeben, bestimmt sind, dann wird damit deutlich, daß das Wechselverhältnis von Literatur und Literaturtheorie durch Konzeptualisierung von Literatur auf der einen Seite und Adressierung von Literaturtheorie auf der anderen Seite zugleich spezifische Momente der strukturellen Kopplung von Kommunikation und Bewußtsein markiert. Literaturtheorie macht die Differentialität der Literatur je nach Adressierung und je nach Konzeptualisierung in den entsprechenden, methodisch ausgeflaggten Interpretationsmodellen operationabel. Man kann also davon ausgehen, daß Literatur und Literaturtheorie sich wechselseitig Leistungen erbringen, die grundlegend auf der Differentialität literarischer Kommunikation und daher auf der Unhintergehbarkeit von Interpretation beruhen. Die Differentialität literarischer Kommunikation würde erst gar nicht zum Tragen kommen, wenn nicht die Literaturtheorie an diesem Problem ansetzen würde. Es ist gerade die Unhintergehbarkeit der Interpretation, die die Idee einer finalen Sinnzuordnung provoziert und gleichzeitig verhindert. In der Unhintergehbarkeit von Interpretation steckt ein Initiationsmoment von Interpretation, das augenblicklich in sich zusammenfallen würde, wenn nicht prinzipiell die Möglichkeit bestünde, dieses Problem an die Literaturtheorie mit einer kommunikativ-systemisch institutionalisierten Interpretationspraxis zu delegieren. Daß Literatur prinzipiell zu Interpretationen provoziert, 12 ! bleibt davon gänzlich unberührt; ebenso, daß Literatur und Literaturtheorie (als Subdisziplin der Literaturwissenschaft) verschiedenen gesellschaftlichen Systemen zuzuordnen wären. Entscheidend ist, daß allein die Möglichkeit der Delegation zur Entlastung von Anschlußkommunikation führt, die ansonsten unter dem Druck einer paradoxalen Anschlußsituation zusammenbrechen würde: Literatur provoziert zu Interpretation, gerade weil sie sie auch verweigert. Literaturtheorie sichert somit in letzter Instanz die Kommunikabilität der Differentialität von Literatur, sichert damit auch die Interpretabilität trotz der Unhintergehbarkeit von Interpretation. Diese literaturkonstitutive Leistung der Literaturtheorie kann nur in Kraft treten, weil gleichzeitig Literatur eine konstitutive Leistung für die Literaturtheorie erbringt. Nina Ort spricht hierbei von einer Interpenetration dieser
120 Im Sinne von Schmidt/Hauptmeier 1985, S. 15 und passim, oder Schmidt 1989 und 1991. 121 Vgl. hierzu Iser 1993, S. 9ff.
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beiden als Systeme konzeptualisierten Bereiche, die sie zudem als wechselseitige Interpretation von zwei black boxes in Konfrontation miteinander bestimmt: »Es gibt eine prinzipielle Unentscheidbarkeit darüber, ob Theorie einen Text oder ob ein Text Theorie interpretiert.«^ Daß sie Theorie und Literatur jeweils als black boxes konzeptualisiert, kann als Hinweis dienen, diese Wechselseitigkeit, wie sie im Begriff der Interpenetration zum Ausdruck kommt, auf Unhintergehbarkeit prinzipiell zurückzuführen. Man muß dabei allerdings die Begriffe strukturelle Kopplung und Interpenetration auseinanderhalten. Literatur ist eine spezifische Form der strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation. Durch diese Kopplung wird Differentialität, die sich als Unhintergehbarkeit der Interpretation zeigt, prozessiert. Dieses Prozessieren könnte nun nicht seinerseits konstitutiv für Anschlußkommunikationen sein, wenn daran nicht zwei Systeme beteiligt wären; oder mit anderer Blickrichtung formuliert: Wenn das kommunikationskonstitutive Prozessieren von Differentialität nicht an den beiden Systemen Literatur und Literaturtheorie beteiligt wäre. Dieses Prozessieren stellt somit eine Interpenetrationszone dar. 123 Voraussetzung dieser Interpenetration ist allerdings die Wechselseitigkeit der Unhintergehbarkeit, wie es N. Ort durch die beiden black boxes andeutet. Wenn die Literaturtheorie ihrerseits konstitutiv auf die Literatur angewiesen ist, wird damit auch die Unhintergehbarkeit der Interpretation von Literatur als Unhintergehbarkeit der Theorie weitergegeben. Auch die Theorie kann sich nicht selbst einholen und damit einen Standpunkt einnehmen, der seinerseits eben nicht differentiell bestimmt wäre. Als Fazit läßt sich ziehen: Weil Literatur interpretatorisch uneinholbar ist, kondensiert an dieser Leerstelle die Literaturtheorie. Literaturtheorie kann die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation nicht so weit entdifferentialisieren, daß die interpretatorische Sinnzuordnung der Differentialität selbst enthoben wäre. Auch hier ergibt sich - quasi spiegelbildlich - eine der Literatur äquivalente Leerstelle. Damit läßt sich der Bogen zurück zur Ausgangsüberlegung schlagen. Denn wie gezeigt wurde, versuchen die entsprechenden methodischen Positionen diese Leerstelle durch die entsprechenden Adressierungen entweder zu umgehen und zu invisibilieren oder - ganz entgegengesetzt - produktiv in der entsprechenden Kommunikation zu beschleunigen. Wenn wir - angelehnt an das Konzept von black boxes von Ν. Ort - diese beiden Systeme als Beobachter beobachten, dann läßt sich formulieren, daß
122 N.Ort 1997. 123
Zu dieser Konzeption von Interpenetration vgl. Jäger 1995, S. 25: »Wo Interpenetration vorliegt, nehmen dieselben konkreten Phänomene an mehreren analytischen Systemen teil.«
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diese Unhintergehbarkeit jeweils einen konstitutiven blinden Fleck darstellt. Literatur kann ihre Unhintergehbarkeit nicht sehen, Literaturtheorie die ihrige nicht. Sie können aber das jeweils andere Systeme beobachten und dabei sehen, daß das je andere System seinen blinden Fleck nicht sehen kann. Und genau darin muß die wechselseitige Interpenetration von Literatur und Theorie gesucht werden. Dies gilt für alle Phänomene, die wir unter dem Begriff der Literatur sozialkommunikativ sanktioniert subsumieren können. Natürlich muß man zugestehen, daß Invisiblisierungen dort problemlos bleiben, wo die Interpretationspraxis sich in Routinen festgefahren hat, wie es vielfach in den entsprechenden kanoniserten Fällen aus Schule und Universität (und ihren Prüfungsordnungen) offenkundig wird. Umgekehrt tritt dieses Wechselverhältnis immer dort offen zutage, wo die Interpretationspraxis besonders krisenbehaftet ist, wie z.B. bei avantgardistischer Literatur. Hier lassen sich zahlreiche Fälle anführen, w o Literatur geradezu in der Lage ist, Theorie zu interpretieren.^ Dennoch kann man auch hier diese Form der Konzeptualisierung zu einer konstruktivistischen Definition von Literatur ausbauen, und genau darauf zielt der letzte Argumentationsschritt.
8. Texte als Medien zwischen Bewußtsein und Kommunikation ein Rekonzeptualisierungsvorschlag Literatur und Literaturtheorie als sich wechselseitig und konstitutiv beobachtende Systeme zu konzeptualisieren, impliziert für eine neue Konzeption von Literaturwissenschaft, daß diese Beobachtungen beobachtet werden müssen. Damit wäre in der Tat ein grundlegender Paradigmenwechsel vollzogen. Literatur zu beobachten hieße nun, zu beobachten, wie Literatur beobachtet. Das wiederum bedeutet, gerade den blinden Fleck von Literatur zu beobachten, den wiederum die Literaturtheorie zu beobachten versucht. Konkret bezieht sich in dem hier vorgestellten Theorierahmen die Beobachtung von Literatur auf die spezifische Form, wie Literatur Bewußtsein und Kommunikation strukturell koppelt. Wie - so die abschließende Frage - muß Literatur konzeptualisiert werden, damit diese spezifische Kopplung deutlich zutage tritt? Zu diesem Zweck ist der Theorierahmen der strukturellen Kopplung um einen Theoriebaustein zu erweitern, für den der Begriffs des Mediums reserviert werden soll. Luhmann spricht, wo er der Frage nachgeht, wie Bewußtsein an Kommunikation beteiligt ist, der Sprache die Funktion zu, auf herausra-
124 Vgl. Kenklies 1996 und Vogel 1998.
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gende Weise beide Systeme miteinander strukturell koppeln zu können .125 Nimmt man dies als Hinweis für eine Systematisierung, so kann man sagen, daß strukturelle Kopplung nicht im >luftleeren Raum< stattfindet, sondern an Sinnpotentialen außerhalb von Bewußtsein und Kommunikation kristallisiert. Wenn man also Sinn als das Universalmedium begreift, so läßt sich ein Medienbegriff, der eine zunehmende Konkretisierung erlaubt, an den Kristallisationspotentialen von Sinn festmachen. Darauf greifen beide Systemtypen zurück und bringen somit strukturelle Kopplung zuwege. Hier setze ich den Medienbegriff an. Als Medium bezeichne ich daher alles, was die strukturelle Kopplung zwischen Bewußtsein und Kommunikation leistet.126 Diese Leistung, also die strukturelle Kopplung, besteht darin, daß Medien die Psychisierung der Kommunikation in die Kommunikation des Bewußtseins überführen und umgekehrt.127 Da die strukturelle Kopplung gleichzeitig Interpretation vollzieht, kann man auf dieser Ebene pleonastisch von Interpretationsmedien sprechen. Wenn nun Sinn (besser gesagt: die Tatsache, daß sowohl Bewußtsein als auch Kommunikation nur sinnhaft operieren können) die Voraussetzung für die strukturelle Kopplung darstellt, dann können Medien die strukturelle Kopplung nicht anders als sinnhaft leisten. M.a.W.: Medien produzieren in der strukturellen Kopplung den Sinn in einer zirkulären Struktur, den sie gerade dazu voraussetzen müssen. Diese Zirkularität wiederum ist nichts anderes als ein Anzeichen dafür, daß Bewußtsein und Kommunikation konstitutiv wechselseitig füreinander Umwelt sind. So zeigt diese Konzeption eine Tendenz, die Begriffe Sinn, Medien und Interpretation zu synonymisieren, was an der Unbestimmtheit der Begriffe ablesbar wird. Die Unbestimmtheit wiederum ist das Bestimmungsmoment für die Letztbegründungsebene, die damit erreicht ist. Das Verhältnis von Sinn und Medium läßt sich behelfsweise viel-
e s Luhmann 1988. 126 Vgl. hierzu Jahraus 1997. 127 Das wurde zuletzt auf eindrucksvolle Weise von der Dissertation von Reinfandt 1997 demonstriert. An dieser Arbeit wird deutlich, daß eine beiderseitige Konzeptualisierung der Literatur sowohl als Sozial- wie auch als Symbolsystem nur möglich ist, wenn dabei Literatur zwischen dem psychischen und dem sozialen System, also zwischen Bewußtsein und Kommunikation situiert wird. Reinfandt geht grundlegend davon aus, daß das Sozialsystem Literatur nicht nur in einem Leistungszusammenhang mit anderen sozialen Systemen, sondern auch mit dem psychischen System steht. Vgl. hierzu auch Jahraus/Marius 1998. Auch Bernd Scheffer hat 1992 eine Literaturtheorie vorgelegt, die die Leistung der Literatur für psychische Systeme aus konstruktivistischer Sicht in das Zentrum der Überlegungen rückt; allerdings besitzt sein Begriff des psychischen Systems eine genuin literaturpsychologische Dimension, die diesem Begriff in der Konzeption Reinfandts aus systemtheoretischer Sicht (in Luhmannscher Ausprägung) gerade abgeht.
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leicht nur noch in der Metapher des wechselseitigen Horizonts bestimmen: Sinn für Medien und Medien für Sinn. Damit ist - rein nominalistisch - sowohl ein Medien- als auch ein Interpretationsbegriff skizziert, die beide ein Höchstmaß an basaler Fundierung und Abstraktheit, aber gleichzeitig auch Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit aufweisen. So ist alles, was eine Wahrnehmung der Wahrnehmung, also Interpretation, auszulösen vermag, ein Medium. Diese Ausweitung und Totalisierung des Medienbegriffs kann man insofern in Kauf nehmen, weil gerade diese basale Ebene es erlaubt, über die Delegation medialer Funktionen zusätzliche Konkretisierungsstufen einzufügen, dabei aber gleichzeitig immer das Konzept der strukturellen Kopplung präsent zu halten. Was den Interpretationsbegriff angeht, wird damit ein Radikalitätsanspruch eingelöst, wie er auch im Konzept einer radikalen Interpretation im sog. Interpretationismusi28 propagiert wird. Prominente Vertreter wie Günter Abel oder Hans Lenk führen dabei verschiedene Interpretationsstufen ein, um Differenzierungsmöglichkeiten innerhalb dieser Totalkonzeption von Interpretation zu behalten. Diese Notwendigkeit ergibt sich, weil die Interpretation selbst keinen Horizont mehr hat, auf den hin sie orientiert werden kann. Begreift man hingegen Interpretation als ein mediengestütztes Prozessieren von Systemtypen, bleibt die Radikalität der Interpretation, also ihre basale Fundierung, in jeder Konkretionsstufe erhalten. Mit der Erhöhung der Konkretionsstufe erhöht sich gleichzeitig die Spezifikation von Sinn. So ist Sprache ein relativ konkretes Medium; sprachliche Texte spezifizieren allerdings den Sinn zusätzlich.129 Die Delegation medialer Funktionen erlaubt es, Medien hintereinanderzuschalten, wobei der materiale Aspekt medialer Funktion zusätzlich an Bedeutung gewinnt. So ist das Buch ein Medium für schriftliche Texte, Schrift ein Medium für Texte, Texte für Sprache, und Sprache schließlich für die strukturelle Kopplung. Eine Binnensystematisierung läßt sich über die Klassifikation der der Interpretation zugrunde liegenden Wahrnehmungsformen denken. Je höher also die Konkretionsstufe des Mediums, desto höher die Spezifikation von Sinn. Je höher aber die Spezifikation von Sinn, desto spezifischer die Form der strukturellen Kopplung. Je konkreter das Medium aber, desto wichtiger der materiale Aspekt. Mit relativ konkretisierten Medien läßt sich also die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation spezifizieren und modifizieren gegenüber Standardtypen einer reinen Wahrnehmungswahrnehmung. Die
128 Vgl. Überblickshaft Trabant 1995 und die Beiträge Abel 1995 und Lenk/Dürr 1995. 129 Vgl. hierzu auch Fuchs 1995: »Die Sprache [...] ist gleichsam ein >Submedium< im Medium >SinnZerdehnung< der Sprechsituation - so der Ausdruck Ehlichs (ebd.). Ehlich resümiert: »Nach dieser Auffassung sind Texte also durch ihre sprechsituationsüberdauernde Stabilität gekennzeichnet.« (ebd.) »Als Kriterium für die Kategorie >Textmittlere< als bestimmten Anschluß versteht.« (S.31) Fuchs insistiert darauf, daß dieser Kommunikationsverlauf und diese Form der Konstitution und Emergenz von Kommunikation das Resultat aus der Intransparenz des Bewußtseins ist. »Die Intransparenz eines Bewußtseins für ein anderes (die Undurchsichtigkeit der Schädelkalotten, die vollkommene Geschlossenheit psychischer Systeme) ist das katalytische Problem, an dem Kommunikation ihre Form gewinnt: als Rekonstitution der Unterscheidung von Kommunikation und Bewußtsein in Kommunikation mit Hilfe der Selektionstriade Information, Mitteilung, Verstehen.« (S. 135) (Die Emergenz von) Kommunikation ist also nichts anderes als eine aus der Intransparenz des Bewußtseins resultierende Lückenkonfiguration. (S. 41f.)
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rung von Literatur, der sich an bestimmten, kanonischen Texten der Literatur (Stichwort: Kafka) besser als an anderer nachverfolgen und aufzeigen läßt.i32 Es kommt zu einer kommunikativen Verdoppelung des Textstatus. Einerseits ist der literarische Text selbst als Kommunikation faßbar, andererseits reiht er sich als ein Ereignis in die kommunikative Kette ein, in der er selbst steht, indem er kommunikative Anschlüsse produziert und provoziert.133 Daß Literatur (genauer: schriftlich-literarische Texte) sowohl als Sozial- wie auch als Symbolsystem konzeptualisierbar ist, liegt letztlich nur an den medienbedingten Auswirkungen für die spezifische Form von struktureller Kopplung, die diese Texte als Medien leisten. Symbolsysteme >kondensieren< (um einen Begriff von Peter Fuchs aufzugreifen) an der strukturellen Kopplungsgrenze zwischen Bewußtsein und Kommunikation - quasi an der Innenseite des Textes; Sozialsysteme konstituieren sich als Kommunikationsketten, ausgelöst durch Texte als Ereignisse der sprachlichen und medial basierten strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation - quasi an der Außenseite der Texte. Mit der kommunikativen Verdoppelung wird die Abkoppelung der Interpretation als Wahrnehmungswahrnehmung von der Wahrnehmung ihrerseits disponibel. Genau darauf zielt auch Baecker, wenn er - allerdings generell auf Kunst bezogen - schreibt: In den Kommunikationen der Kunst wird die Wiedereinführung der Differenz zwischen Kommunikation und Wahrnehmung in die Kommunikation zum Ereignis. Die Kunst kommuniziert nichts anderes als den Wiedereinschluß der ausgeschlossenen Wahrnehmung in die Kommunikation.^ 4 Wenn man versucht, diese Denkfigur an die hier vorgestellte Konzeption anzupassen, so muß man beachten, daß die Wahrnehmung in der strukturellen Kopplung der Interpretation vorausgeht. Wenn es nun zu einem solchen reentry kommt, so muß man letztlich die strukturelle Kopplung als re-entryFigur betrachten. M.a.W.: W o Texte als Medien in sich die Unterscheidung zwischen Text als (Kompakt-)Kommunikation und Text in der Kommunikation als re-entry wieder einführen, eröffnen sie die Möglichkeit, die strukturelle Kopplung, die ohnehin immer und daher f ü r sich selbst blind abläuft, dis-
132 Nebenbei bemerkt, besitzt Schrift so spezifisch-mediale Aspekte, daß auch die daraus resultierende strukturelle Kopplung so spezifisch ist, daß sie nicht unbedingt von anderen Medien übernommen werden kann. Daher ist auch hier ein Argument gegen die Verdrängung von Literatur durch andere, neue Medien konzeptionell zu situieren. 133 Für diese Doppelung kann man den Begriff der Kompaktkommunikation von Luhmann 1986, S. 627, entlehnen. 134 Baecker 1996, S. 98.
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der
Interpretation
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ponibel zu machen. Literatur kommuniziert damit so über die strukturelle Kopplung, daß sie die strukturelle Kopplung gleichzeitig disponibel macht; oder, mit Baecker: Die Literatur kommuniziert über die Wahrnehmung der Kommunikation durch das Bewußtsein und erprobt im Rahmen dieser Kommunikation sowohl Integrationswie Differenzierungschancen zwischen Kommunikation und Bewußtsein [...]. 1 3 5
Dabei sind es die Texte als Medien, die es erlauben, die Differentialität in der strukturellen Kopplung zu beschleunigen oder zu verlangsamen, also divergente Operationalisierungsprinzipien auszubilden, wie sie exemplarisch an einer Differenzierung zwischen Interpretation und Analyse abzulesen ist, und diese entweder an das Bewußtsein oder an die Kommunikation zu adressieren. Das gilt nicht für alle Medien, es gilt auch nicht für alle (medienbasierten) Künste; es gilt aber für jene ausgezeichnete Schnittmenge von Medien und Künsten, die wir Literatur nennen. Ich gehe davon aus, daß die Literaturwissenschaft, entsprechend theoretisch und methodisch aufgerüstet, in der Lage sein müßte, in der Betrachtung eben dieses medialen Charakters von Literatur nicht unbedingt eine gänzliche Neufundierung ihrer Objektkonstitution, aber eine systematische Erweiterung ihrer Praxis umzusetzen. Literatur unter dieser Vorgabe zu beobachten, hieße also, zu rekonstruieren, welche spezifischen Adressierungen ein als literarisch klassifizierter Text vor dem Hintergrund der strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation ermöglicht. Unter dieser begrifflichen Spezifikation sehe ich die eigentliche Chance, Literaturwissenschaft als Medienwissenschafti36 zu betreiben.
135 Baecker 1996, S. 100/101. Vgl. hierzu den Vorschlag von Ort 1991.
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NINA O R T
Glossar Die Beiträge des vorliegenden Bandes reflektieren von den unterschiedlichsten literaturtheoretischen oder literaturwissenschaftlichen Positionen aus Probleme der Interpretation zwischen Wissenschaft und Essay. Diese Probleme kulminieren in bestimmten Begriffen, die möglicherweise für den außenstehenden Leser in dieser Form nicht leicht nachvollziehbar sein mögen. Einige Begriffe sollen daher an dieser Stelle in bezug auf Herkunft und Anwendung kurz erläutert werden. Das Abstraktionsniveau der Beiträge soll möglichst beibehalten werden; für eine elementare Einführung sei auf das Glossar zu Niklas Luhmann (Baraldi/Corsi/Esposito 1997) und auf das Luhmann-Lexikon (Krause 1996) verwiesen.
Aporie In der philosophischen Tradition wird die Aporie zumeist als existenzielles Problem aufgefaßt, d.h. in einem handlungsorientierten Sinn eingeführt. Diese Dimension des Aporiebegriffs ist im Zusammenhang mit avancierter Literatur bedeutsam und erwünscht. Die Aporie als eine ausweglose, unlösbare und unabschließbare Situation läßt dem Umgang mit ihr ein breites Spektrum, das zwischen optimistischer und skeptischer Haltung ihr gegenüber changiert. In ihrer existenzieilen Dimension, als Begründungsaporie leistet ihr Begriff mehr als eine reine erkenntnistheoretische oder gar nur rhetorische Aufgabe. Anders als die Paradoxie, die letztendlich als Denkfigur, als logisches Problem oder als Wahrnehmungsproblem aufgefaßt werden kann, zwingt die aporetische Situation zu einem Lösungsversuch, auch wenn dieser per definitionem unmöglich gelingen kann. (Die Aporie wäre insofern möglicherweise vergleichbar mit der double bind-Situation.) Im Zusammenhang mit avancierter Literatur spielt der Aporiebegriff in zwei Hinsichten eine wichtige Rolle: Zum einen als literarische Praxis, die in avancierter Literatur selbst thematisiert wird (vgl. den Beitrag von Corinna Krebs) und dabei - im weitesten Sinne - um das Problem kreist, wie, insbesondere durch Techniken der Desemantisierung, Erlebnisqualitäten zum Ausdruck gebracht werden können, die sich der Semiotisierung widersetzen (vgl. Nina Ort).
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Nina Ort
Zum anderen kann mit dem Ausdruck der Aporie auf das prinzipiell problematische Verhältnis zwischen avancierter Literatur und Interpretation hingewiesen werden. Dies insbesondere, wenn Literaturtheorien (z.B. Systemtheorie mit ihrer selbstreferentiellen Struktur; vgl. den Beitrag von Andreas Rotheimer) oder Interpretationstheorien (z.B. Dekonstruktion mit ihrem grundsätzlich aporetischen Begriff der differance; vgl. den Beitrag von Gaiser/Burkhardt) aporetische Züge an sich tragen. Hier spiegelt sich die Skepsis wider, ob Interpretation avancierte Literatur je adäquat oder gar vollständig beobachten kann - und zugleich der Impuls, diese interpretatorischen Bemühungen dessen ungeachtet immer wieder aufzubringen.
Außersprachlichkeit Avancierte Literatur sprengt die Kategorien des sprachlich oder semiotisch Vermittelbaren in mehrfacher Hinsicht. Nachdem »alles« als Material für die Kunst freigegeben worden ist, werden die Grenzen des künstlerisch Darstellbaren nicht nur hinsichtlich des Nicht-Kanonischen oder Nicht-Ästhetischen übertreten, sondern auch hinsichtlich einzelner, bislang voneinander getrennter Disziplinen. Dabei bleibt es oft eine Ermessensfrage, welcher Disziplin welches Kunstwerk zugerechnet werden soll oder kann. Unter dem Stichwort der Desemantisierung läßt sich dabei das wohl ehrgeizigste Projekt avancierter Literatur zusammenfassen, nämlich durch weitgehende Zurücknahme des (vorschreibenden) Sinnangebots Sinn gewissermaßen durch die Hintertür verstärkt wieder eindringen zu lassen. Dabei stellt sich bei der Rezeption avancierter Kunst automatisch interpretatives Verhalten ein, und zwar - fast gesetzmäßig - proportional ansteigend zu den Sinn verweigernden Texten: Man kann nicht nicht interpretieren! Unter den Autoren des vorliegenden Bandes hat sich ein Konsens darüber herausgebildet, wonach Erlebnisse, die nicht interpretiert werden, schlichtweg als Erlebnisse nicht verbucht werden können - mit Ausnahme von solch radikalen Erlebnissen wie beispielsweise dem Schock. Aber auch die Erfahrung eines Schocks wird nur durch die unmittelbar danach einsetzende (und entsprechend massiv einsetzende) interpretatorische Tätigkeit quasi retrospektiv zum Ereignis. Mit dem Begriff der Außersprachlichkeit sollen daher alle sinnlichen und intelligiblen Erlebnismomente für den Interpretationsrahmen verfügbar gemacht werden, die sich nicht von semiotischen Impulsen oder Angeboten herleiten lassen. Der Begriff wird also durchaus positiv verwendet und grenzt nur an seinem Extrempol an das schlechthin nicht mehr Vermittelbare (-» Aporie).
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Blinder Fleck Der blinde Fleck jeder Beobachtung wird exemplarisch im Beitrag von Corinna Krebs dargestellt. Im Rahmen systemtheoretischer, konstruktivistischer und dekonstruktivistischer Theorieoptionen spielt das Konzept des blinden Flecks aber eine ganz allgemeine und grundsätzliche Rolle: Dort, w o von (autopoietischen) Systemen gesprochen wird, kann ein blinder Reck bezeichnet werden. Jedes System hat, insofern es ein selbstreferentielles System ist, einen blinden Reck, und jede Operation eines solchen Systems hat ihren blinden Fleck. Denn jedes selbstreferentielle System zirkuliert zwischen Operation und Reflexion, bzw. hat einen operativen und einen reflexiven Aspekt. Bewußtsein als System, beispielsweise, prozessiert seinen eigenen Systemaufbau durch die Oszillation zwischen Bewußtseins-Operationen und BewußtseinsReflexionen. Jedes System und jede Systemoperation ist insofern für sich selbst uneinholbar, denn es kann stets nur - nachträglich - reflektieren, was es zuvor operativ vollzogen hat. Die jeweils aktuelle Operation ist dem System jedoch niemals beobachtbar. Nimmt man das Konzept des blinden Flecks als konstitutiven Baustein jeder Theoriearchitektur ernst, so gelangt man zwangsläufig zu einer Theorie offener Systeme. Als bildhafter Vergleich zur Konzeption des blinden Recks bietet sich Walter Benjamins Engel der Geschichte an: ein Engel, der, den Rücken der Zukunft zugewandt, Schritt für Schritt rückwärts geht, und nur das sieht, was er mit jedem Schritt als Vergangenheit zurückläßt. Der blinde Reck ist konstitutiver Bestandteil jeder zweiwertigen Logik bzw. aller neo-mechanistischer Ansätze, wie zum Beispiel die Systemtheorie in ihrer gegenwärtigen Konstitution. Erst eine heterarchisch fundierte Theoriebildung könnte möglicherweise das Problem des blinden Recks lösen. Der blinde Reck ist eine Konsequenz, die sich aus der Begründungsinstanz der Systemtheorie ergibt, nämlich der Dezision, als der »blinden« Entscheidung, den Anfang eines Systems so und nicht anders zu setzen.
Kopplung, strukturelle Kopplung Der Begriff der strukturellen Kopplung wurde von dem Neurokybernetiker Humberto R. Maturana eingeführt und bildet einen wichtigen systemtheoretischen Baustein. (Vgl.: H. R. Maturana: Kognition. In: S.J.Schmidt (Hg.): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus (1987), Frankfurt/Main.) Maturana bezeichnet mit dem Begriff der strukturellen Kopplung zunächst Strukturveränderungen eines (lebenden) Systems, die durch dessen Medium hervorgerufen werden. Beschrieben werden mit dem Begriff bei Maturana die Störungen eines Systems, die Strukturveränderungen auslösen mit der Tendenz zu einer
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Nina Ort
homöostatischen Stabilisierung der Autopoiesis des Systems in seinem Medium. In der Systemtheorie wird der Begriff der strukturellen Kopplung dann so adaptiert, daß durch sie einzelne autopoietische Systeme (als theoretische Konstrukte) miteinander gekoppelt werden, und zwar insofern und in der Weise, daß jedes System aus dem jeweils anderen System Ereignisse als Anstoß für den je eigenen Komplexitätsaufbau verwenden kann. Fremdreferenz eines Systems bedeutet unter dem Aspekt der strukturellen Kopplung, daß ein System zwar operativ auf ein anderes System nicht durchgreifen kann, aber dennoch den Systemprozeß des anderen Systems in Form von Ereignissen im eigenen System prozessieren kann. Strukturelle Kopplung ist somit eine rigidere Form als die Interpenetration zweier Systeme. Im Buchmarkt, um ein Beispiel zu wählen (vgl. Jäger 1995) erfolgt die Interpenetration zwischen dem System Wirtschaft und dem System Literatur, beide Systeme sind aber nicht notwendig aufeinander angewiesen (Wirtschaft braucht keine Literatur, um Autopoiesis zu betreiben). Strukturell gekoppelt sind dagegen Systeme, die sich durch die gegenseitige ereignisbasierte Referenz erst konstituieren. Strukturelle Kopplung findet man also stets in komplementären Systemtypen wie Medium und Form, oder Kommunikation und Bewußtsein (vgl. Oliver Jahraus). Daher ist dieser Begriff wiederum eng mit dem der konditionierten Ko-Produktion (siehe: re-entry) verbunden. Kommunikation kann sich als System nur konstituieren, wenn ihre Ereignisse im Bewußtsein bewußt prozessiert werden (und anders herum). (Vgl. zu dem Begriff der strukturellen Kopplung außerdem Baraldi/Corsi/Esposito 1997, S. 186-189 und ebenso Krause 1996, S. 124.)
M e d i u m , Sinn und Sprache als M e d i u m Der Medienbegriff ist immer noch einer der heikelsten Begriffe in neueren Theoriearchitekturen. Er wird auf zwei unterschiedliche Weisen modelliert, deren Grenzen jedoch möglicherweise verschwimmen: unter dem Schlagwort der Massenmedien resp. der neuen Medien (worunter dann insbesondere das Internet verstanden wird) hat sich ein technischer Medienbegriff entwickelt, der stark von jenem Medienbegriff divergiert, der beschreibt, wie Formbildung funktioniert. Diese beiden Auffassungen des Medienbegriffs spiegeln sich im vorliegenden Band durch das Konzept von Sprache als Medium (technisch) und Sinn als Medium wider. Sinn als Medium wäre dabei eine systemtheoretische Interpretation des Medienbegriffs, die die drei Komponenten von Kommunikation nach Luhmann, Information, Mitteilung und Verstehen elegant umsetzt: Sinn als Medium wäre
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dann auf der Verstehensseite anzusetzen, jenem Element, das bislang in dem systemtheoretischen Kommunikationsmodell zwar postuliert, aber noch keiner näheren Bestimmung zugeführt worden ist. Zwar ist Verstehen ein für weitere Anschlußhandlungen notwendiger Bestandteil in Kommunikation, tatsächlich ist aber noch wenig darüber gesagt worden, was Verstehen denn sei. Auf diese Weise kann Sinn genau das leisten, was den Begriff des Medium so schwer greifbar macht: als Medium ermöglicht es Verstehen (die Einheit der Differenz von Information und Mitteilung) und trägt im Prozeß des Verstehens zur Formbildung bei. Anders ausgedrückt: das Medium Sinn (zunächst lose Kopplung) kondensiert im Prozeß der Kommunikation zu Sinn als Form (nunmehr strikte Kopplung): Diese Konzeption könnte erklären, warum jede Form als Medium für weitere Formbildungen fungieren kann, und mithin einen sinnvollen Übergang zu technischen Medienbegriffen darstellen. Sprache als Medium berührt den technischen Aspekt des Medienbegriffs, der so selbstverständlich ist, daß er nicht erläutert zu werden braucht. Sprache als Medium ist nur in der Differenz zu Sinn als Medium interessant: Sinn als Medium bleibt in gewisser Weise das »ausgeschlossene Dritte«, eine schwer zu konkretisierende Umwelt von Kommunikation (und Bewußtsein). Mit der technischen Vorstellung von Sprache als Medium verbindet sich demgegenüber eine Vielzahl von Metaphern, die das Verständnis des Medienbegriffs erheblich beeinflussen. Erwähnt seien hier exemplarisch: die »Kanalmetapher«, die »Containermetapher«, die »Kontrollmetapher« oder die Metapher des »cognitive sharing« (siehe hierzu ausführlich Krippendorf 1994).
Re-entry In der Systemtheorie wird re-entry üblicherweise mit dem Ausdruck »Wiedereintritt der Form in die Form« oder »Wiedereintritt der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene« übersetzt. Der Begriff des re-entry stammt zunächst aus den »Laws of Form« von George Spencer-Brown (Lübeck, 1997), einem mathematischen Kalkül (calculus of indications), der, ähnlich wie der Wittgensteinsche Tractatus, in Form von Indikationen Unterscheidungen (Aus-)Differenzierungen etc. von Gedankengebäuden generiert und somit, auf einer als radikal konstruktivistisch zu bezeichnenden Weise, letztendlich eine sehr abstrakte bzw. prälogische Anweisung darstellt, das Universum zu konstruieren und formalisieren (also: nicht das Universum, wie es ist, sondern wie es Beobachter hervorbringen). Die hierdurch implizierte perfekte Selbstbeinhaltung (»perfect self continence«) von Operation und Beobachtung der Unterscheidungen oder des operativen und des deskriptiven Aspekt aller Unterscheidungen wird durch die Ausdrücke des re-entry bzw. der konditionierten Ko-Produktion angezeigt.
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Für die Systemtheorie, die die »Laws« aufgreift und in leicht adaptierter Form in die eigene Theoriearchitektur einbaut, bedeutet insbesondere der Ausdruck des re-entry einen wertvollen Baustein, da sie es ebenfalls mit Selbstreferenz (Autopoiesis) zu tun hat, dies insbesondere, wenn sie von einem Differenztheorem ausgeht und daher prinzipiell eine konditionierte Ko-Produktion von beiden Seiten einer 2-Seiten-Form annehmen muß. Durch den Wiedereintritt der Form in die Form treten zwei Aspekte der Verwendung dieses Ausdrucks deutlich hervor: Der Ausdruck wird in der Systemtheorie in einer weniger strengen Form gebraucht, unterschiedlich interpretiert und in heterogenen Kontexten verwendet. Der Begriff des re-entry wird immer dort verwendet, wo iterative oder rekursive Prozesse oder Operationen beschrieben werden sollen. Gerade unter differenzlogischen Bedingungen eignet sich der Begriff des re-entry dazu, Paradoxien anzuzeigen oder gar in einen infiniten Prozeß zu transformieren; die Differenzialität jeder Unterscheidung kann damit auf jeder ihrer beiden Seiten wiederholt werden. Dies ist eine unvermeidliche Konsequenz des systemtheoretisch fundierten Strukturaufbaus, solange diese in einer hierarchisch strukturierten Logik und einer dichotom aufgebauten Theoriearchitektur operiert. So kann das re-entry z.B. über Zeit (zirkulär oder zyklisch) entfaltet werden, die ihm zugrunde liegende Paradoxie kann jedoch nie aufgelöst werden. Systemtheorie kann den »re-entry« entfalten, ausgehend zum Beispiel von der Differenz zwischen Kommunikation und Bewußtsein (vgl. Oliver Jahraus) und von hier aus die systemtheoretischen Differenzierungslinien von »strukureller Kopplung«, »Medium« und »Sinn« (re-)konstruieren. Die Selbstinterpretation, das heißt die Ko-produktion von Mitteilung und Information, von avancierter Literatur, die die Interpretation solcher Texte in denselben Strudel eines (chiastischen) re-entry von Mitteilung und Information reißt, wird exemplarisch bei Andreas Rotheimer vorgeführt. Als Wiederkehr des Verdrängten (im Sinne Lacanscher Psychoanalyse) wird der re-entry bei Rainer Topitsch vorgeschlagen. Ein interessanter Zusammenhang zwischen dem »re-entry« und Problemen der Interpretation avancierter Literatur ergibt sich dann, wenn man avancierte Literatur als Anweisung, als Rezept oder Partitur versteht: befolgt man gewissermaßen die Anweisungen, die ein Gedicht gibt, so kann dies zu einem SinnEreignis oder -Erlebnis führen, zugleich kann man jedoch nicht exakt beschreiben, was man verstanden hat. Interpretation, die letztendlich, essayistisch, avancierte Literatur wiederholt oder nachvollzieht und wissenschaftliche Analyse, die darum bemüht ist, zu erklären, was der Rezipient versteht, kennzeichnen die äußeren Eckpunkte dieses Spannungsrahmens.
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