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German Pages 458 Year 2014
Kai Merten Intermediales Text-Theater
Buchreihe der ANGLIA/ ANGLIA Book Series
Edited by Lucia Kornexl, Ursula Lenker, Martin Middeke, Gabriele Rippl, Hubert Zapf Advisory Board Laurel Brinton, Philip Durkin, Olga Fischer, Susan Irvine, Andrew James Johnston, Christopher A. Jones, Terttu Nevalainen, Derek Attridge, Elisabeth Bronfen, Ursula K. Heise, Verena Lobsien, Laura Marcus, J. Hillis Miller, Martin Puchner
Volume 43
Kai Merten
Intermediales Text-Theater Die Bühne des Politischen und des Wissens vom Menschen bei Wordsworth und Scott
For an overview of all books published in this series, please see http://www.degruyter.com/view/serial/36292
ISBN 978-3-11-032655-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-033900-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039399-6 ISSN 0340-5435 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Das vorliegende Buch ist eine für die Veröffentlichung überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Herbst 2010 von der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als schriftliche Habilitationsleistung angenommen wurde. Danken möchte ich allen voran meinen Gutachterinnen und Gutachtern Prof. Annegreth Horatschek, Prof. Jutta Zimmermann, Prof. Christian Huck und Prof. K. Ludwig Pfeiffer. Annegreth Horatschek hat das Projekt mit unermüdlichen Probelektüren und zahllosen wertvollen Hinweisen begleitet. Ganz lieben Dank dafür! Erwähnen möchte ich an der CAU Kiel auch das Literaturwissenschaftliche Colloquium, deren damaliger Leiterin Prof. Dorothea Klein ich für die Aufnahme in die Vortragsreihe danke, sowie den literaturwissenschaftlichen Lektürekreis und insbesondere Prof. Claus Ort, Prof. Ulrich Kinzel und Dr. André Schwarck. Die Entstehung dieser Arbeit ist von verschiedenen Institutionen gefördert worden. Zu erwähnen ist hier das DFG-Graduiertenkolleg „Klassizismus und Romantik“ an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, dem ich von Oktober 2002 bis September 2004 angehörte. Ich danke den Mitgliedern und KollegiatInnen für Diskussionen und Hinweise, insbesondere Dr. Hansjörg Bay und PD Dr. Stephan Pabst. Besonders erwähnen möchte ich Prof. Ansgar Nünning, der mir für die Konzeption dieser Arbeit unschätzbare Ratschläge gegeben hat. Auch von der einzigartigen wissenschaftlichen und kulturellen Atmosphäre des Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) in Gießen hat sie sehr profitiert. Der Arbeit in der GCSC-Sektion Inter-Medialität – Theatralität – Performativität und vor allem dem Austausch mit Dr. Janine Hauthal verdanke ich wertvolle Anregungen. Daneben danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Forschungsstipendiums. Die von diesem Stipendium ermöglichte Forschung am Institute of Advanced Studies der Edinburgh University hat mir zentrale Recherchearbeiten ermöglicht. Danken möchte ich insbesondere der Leiterin des IASH Prof. Susan Manning (†) für ihre vielfältige Unterstützung sowie Prof. Nicholas Phillipson für sein kluges Feedback. Zu danken habe ich auch den Zuhörerinnen und Zuhörern der Sektion „Anglistik und Medienwissenschaft“ des Anglistentag in Bamberg 2005 sowie auf der Arbeitstagung „Theatralität - Medialität – Räumlichkeit“ der Arbeitsgruppe Raum – Körper – Medien an der Universität Erlangen-Nürnberg 2006. Profitiert habe ich auch von den Tagungen der Deutschen Gesellschaft für englische Romantik, wobei ich insbesondere die Gespräche mit Prof. Angela Esterhammer und Prof. Jeffrey N. Cox erwähnen möchte. Wichtige Impulsgeber für das Projekt waren auch Prof. Christoph Reinfandt und insbesondere Prof. Christoph Bode, der mir in unterschiedlichen Stadien Verbesserungsvorschläge gegeben hat, von denen
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Danksagung
ich enorm profitiert habe. Prof. Antje Kley hat mir wertvolle Hinweise zur theoretischen Fundierung der Arbeit gegeben. Für verbleibende Unstimmigkeiten habe ich die alleinige Verantwortung zu tragen. Prof. Martin Middeke, Prof. Hubert Zapf und Prof. Gabriele Rippl danke ich für die Aufnahme in die Buchreihe der Anglia. Bei De Gruyter haben mich Dr. Ulrike Krauß, Dr. Christine Henschel, Katja Lehming und Olena Gainulina sehr kompetent und herzlich betreut. Meine Frau Kathrin Blum und meine Kinder Jakob, Helene und Charlotte haben mich unermüdlich unterstützt und viel Verständnis gezeigt. Auch dank Ihnen ist dieses Buch überhaupt entstanden. Mit Sabine Merten und Aage Hansen-Löve hatte ich in Wien wunderbare Gespräche über Romantik, Theater und Literatur im allgemeinen. Von ganzem Herzen danken möchte ich auch meiner Mutter Waltraud Merten für all die Fürsorge, ihr offenes Ohr und ihr großes Herz. Das Buch ist dem Andenken meines Vaters Werner Merten gewidmet, der mir als erster gezeigt hat, was die Romantik für uns sein kann.
Vorwort Wer in letzter Zeit Fernsehdebatten über die Rolle genetischer Faktoren für den Menschen – als Individuum und Gruppe – verfolgt hat, etwa die Äußerungen Thilo Sarrazins im Sommer 2010 oder Akif Pirinçcis im Frühjahr 20141 zur Stellung von Immigranten, Arbeitslosen und Frauen in der deutschen Gesellschaft, sah sich einer ganzen Reihe von Problematiken und offenen Fragen gegenüber: Gibt es (natur)wissenschaftliches, etwa genetisches Wissen, aufgrund dessen Menschen objektiviert und daraufhin hierarchisiert werden können? In welchem Verhältnis steht der diese ‚Tatsachen‘ äußernde Wissenschaftler bzw. der sich auf solche Aussagen stützende Politiker oder Publizist zu diesem Wissen, mithin das einzelne Subjekt2, das derartige Objektivierungen verwendet? Verfolgt er/ sie mit der Verwendung solcher Aussagen politische Ziele – für sich selbst (im Sinne einer ‚Selbstermächtigung‘) bzw. für bestimmte gesellschaftliche Gruppen, die aufgrund derartiger Objektivierungen marginalisiert und aus der politischen Repräsentation gedrängt oder umgekehrt zu Eliten erklärt werden? Eine wissenschaftlich-epistemische Repräsentation des Menschen steht hier demnach einer politischen3 gegenüber, und zwar sowohl bezüglich der thematisierten Menschen bzw. Menschengruppen als auch bezüglich der Subjekte, die solche Repräsentationen – im Fernsehen, aber auch anderswo – vornehmen. Auf der Ebene des Subjektiven bewegt sich auch der Fernsehzuschauer, der solche Repräsentationen vor sich, auf dem Bildschirm verfolgt. In welchem Verhältnis steht er/sie zu solchen Repräsentationen, thematisch, aber auch medial? Wird auch er/sie in diese wissenschaftlichen und politischen Repräsentationen, die in der Sendung heftig diskutiert, aber auch – zumindest auf symbolischer Ebene – vorgenommen werden, miteinbezogen? Wird auch er/sie repräsentiert? Und zuletzt: Welche Rolle spielt die Interaktion der Diskussionsteilnehmer im Fernsehen? Werden die Repräsentationen des Menschen durch diese Interaktion modifiziert oder ist diese Interaktion im Fernsehen selbst schon eine spezifische Repräsentationsform? Ist der Fernsehzuschauer/die Fernsehzuschauerin Teil dieser Interaktion oder steht er/sie außen vor, ist in ihr also nicht richtig (re)präsent(iert)? Bei den Repräsentationen des Menschen spielt also die Vermittlung dieser Repräsentation, ihr Medium, sowie ihre Vermittlungs- bzw. Rezeptionsform, etwa durch Interaktion
1 Es handelt sich dabei um Interviews oder Talkshows, in denen die beiden Autoren ihre Bücher Deutschland schafft sich ab bzw. Deutschland von Sinnen verteidigten, aber auch bewarben. 2 Vgl. zur weiteren Klärung des in dieser Studie verwendeten Subjektbegriffs 1.4. 3 Vgl. zu beiden Repräsentationsbegriffen 2.2.2.1.
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Vorwort
oder stillen Konsum, eine entscheidende Rolle – denn es sind ja selbst Menschen, die hier Wissen vom Menschen einsetzen. Vor gut zweihundert Jahren, dem für die vorliegende Studie relevanten Zeitraum, gab es noch kein Fernsehen – aber es gab dieselben Probleme, nicht zuletzt, so könnte man argumentieren, da ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Probleme soeben geschehen war, nämlich die Französische Revolution. So stellte sich die Romantik dieselben Fragen, die ich eben für die heutige Zeit skizziert habe, und vielleicht sogar noch dringlicher, da es ganz neue, drängende Fragen waren: Wie kann der Mensch wissenschaftlich einerseits und politisch andererseits repräsentiert werden? Welche Medien und Darstellungsformen gibt es dafür? Welche Rolle spielt das Subjekt bzw. die menschliche Weltzugangsform des Subjektiven in dieser Repräsentation? Die Zeit um 1800 stellte, wie ausführlich zu zeigen sein wird, in Europa, allen voran in Großbritannien und in Deutschland, in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Rolle der Kunst, also von Medien des Symbolischen, für die Verbreitung der Repräsentation des Menschen. Sie diskutierte die Kunst als eine besonders geeignete Form der Vermittlung der epistemisch-wissenschaftlichen, aber auch der politischen Repräsentation des Menschen, da sie den Einzelnen in seiner subjektiven Verfasstheit erreichen und zugleich mit anderen Subjekten verknüpfen konnte. Daher konnte sie ihm nicht nur ein Wissen über die Natur des Menschen vermitteln, das der Tatsache Rechnung trug, dass es sich hier auch bei denen, die es wissen wollten, um Menschen handelte, dass also das ‚Gewusste‘ und die Wissenden identisch waren. Darüber hinaus sollten künstlerische Medien den sie rezipierenden Subjekten aber auch deren politische Zugehörigkeit, ihre (durchaus nicht machtlose) Beteiligung an einem Kollektiv vermitteln, ohne durch diese Vermittlung gleich zur Revolution zu werden. Zur künstlerischen Bewältigung dieser Aufgaben schuf, so die Hauptthese dieser Arbeit, die britische Romantik ein Theater der Vermittlung – der Vermittlung zwischen Subjekten, zwischen Medien, aber auch zwischen unterschiedlichen Arten der Repräsentation. Das vorliegende Buch rekonstruiert und erkundet dieses Theater. Zugleich analysiert es, wie sich Subjektivität, Repräsentation und zuletzt auch die Medien ‚Literatur‘ und ‚Theater‘ in diesem Theater entfalten und weiterentwickeln. Die Literatur der Romantik rezipiert, so eine weitere Ausgangsthese, zeitgenössische Theaterkonzepte, die auf der Bühne nicht umsetzbar waren und daher zunächst nur im literarischen Text und als literarischer Text realisiert wurden. Anstelle der bisher angenommenen Antitheatralität der romantischen Literatur setzt diese Studie umgekehrt die Literarizität und Textualität des romantischen Theaters. Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts sah sich die britische Kultur, wie geschildert, zunehmend vor Repräsentationsprobleme gestellt, die den Menschen und
Vorwort
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seine Selbst- und Fremdwahrnehmung als Einzel- und Kollektivwesen betrafen: Wie konnte der Mensch als Individuum, aber auch als Teil eines Volkes dargestellt werden – und zwar so, dass er in dieser Darstellung nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst verfügbar wurde? Zur Lösung der geschilderten Repräsentationsprobleme des Menschen bzw. zur Umsetzung seiner Darstellung wurde vor allem das Theater angesetzt: Im Theater sollten das Individuum und das Volk zu einer sowohl epistemischen als auch politischen Repräsentation ihrer selbst gelangen. Die Zusammenlegung von Zuschauern und Akteuren, die dieses Theatermodell verlangte, machte es für eine Bühnenumsetzung aber untauglich, da es letztlich auf einer Abschaffung der Bühne beruhte. Zudem war die Überlagerung von Subjektivität (Zuschauen) und Objektivität (Agieren), die jedes Mitglied dieses Theaters vornehmen sollte, auch logisch-systematisch äußerst problematisch. Aus diesem Grunde entwickelte die britische Romantik ein alternatives Theater im literarischen Text, welches den Beteiligten eine epistemische und politische Repräsentation in der Erfahrungsform von Intersubjektivität ermöglichen sollte. Wie diese Studie erstmals darlegt, ist die Subjektivität der romantischen Literatur, exemplifiziert durch William Wordsworths Gedichte und Walter Scotts historische Romane, in ihrem Ausgang eine theatrale Intersubjektivität. An die Stelle der Kategorie des Subjekts setzte das romantische Text-Theater den Prozess der Intersubjektivität, der den Beteiligten gleichwohl neben ihrer epistemischpolitischen Repräsentation auch einen Zugang zur Welt als Subjekt ermöglichen und damit Subjektivität doch wieder zur Verfügung stellen sollte. Die systematischen und praktischen Probleme dieses Modells von Intersubjektivität sind enorm und seine ideologischen Implikationen äußerst problematisch. Auch wenn diese Probleme und Ideologeme in dieser Studie nicht im Vordergrund stehen, sollen sie immer wieder angesprochen werden. Insgesamt soll die text-theatrale Intersubjektivität der britischen Romantik in ihren Konstituenten aufgezeigt und analysiert werden. Ihre philosophischen und politischen Implikationen werden die Forschung auch in Zukunft noch beschäftigen, nicht zuletzt, da sie bis heute gültig sind. In diesem Zusammenhang skizziert der Ausblick der vorliegenden Untersuchung nicht nur das Weiterleben bzw. die Umsetzung romantischer Intersubjektivität im Bühnentheater und anderen Medien nach der Romantik. Vielmehr macht er auch deutlich, dass die Romantik sich an Problemen abarbeitet, die bei der Medialisierung des Menschen (welche ja immer eine Medialisierung für den Menschen ist) bis in die Gegenwart auftreten. Zugleich weist die Romantik implizit und explizit darauf hin, wie diese Probleme verantwortungsvoll gelöst oder zumindest doch bewusst gemacht werden können – verantwortungsvoller jedenfalls als in manchen der anfangs erwähnten Fernsehdebatten zu den angenommenen Unterschieden zwischen den Menschen und den Folgen dieser Unterschiede für die (deutsche) Gesellschaft.
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Vorwort
Dieses Buch gehört zu dem noch äußerst kleinen Forschungsfeld der Intermedialität von Literatur und Theater und zeigt auch, dass intermediale Prozesse, selbst wenn sie in ihrem Verfahren die Grenzen der beteiligten Medien nicht in Frage stellen, diese Medien konzeptuell beträchtlich herausfordern und weiterentwickeln können. Als theoretischer Rahmen soll daher ein neuartig integratives – und für historische Einzelphänomene besonders offenes – Intermedialitätskonzept erarbeitet werden. Darüber hinausgehend richtet sich das Interesse dieser Studie auch auf die zeitgenössische Theoriebildung von Vorromantik und Romantik, zum einen im Bereich der Sozialphilosophie und der sozialphilosophisch ausgerichteten Theatertheorie des 18. Jahrhunderts, zum anderen in den philosophischen und literaturtheoretischen Konzeptionen der literarischen Texte selbst.
Inhaltsverzeichnis Danksagung Vorwort
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1 1 Systematische Vorüberlegungen 1.1 Ausgangsthesen 1 1.2 Theater und Theatralität 6 1.3 Intermedialität von (literarischem) Text und Theater 11 1.3.1 Starke und schwache Intermedialität – und ihre Verbindung 16 1.3.2 Historischer ‚Fall‘: Die Intermedialität von literarischem Text und Theater um 1800 23 1.4 Intersubjektivität in den Theaterkonzepten romantischer Texte 26 2
Historische Voraussetzungen: Theaterkultur und Theaterkonzepte um 1800 34 2.1 Britisches Theater um 1800: Szenen einer gestörten Ehe zwischen Drama und Theater 34 2.2 Diskursive Theaterkonzepte des 18. Jahrhunderts 43 2.2.1 Das Theater der Aussteuerung und Repräsentation des Menschen 43 2.2.1.1 The Theory of Moral Sentiments: Theater des Sozialen 43 2.2.1.2 Sympathetische Wirkungsästhetik als Theorie der Aussteuerung des Subjekts 47 2.2.1.3 Sympathetische Ausdrucksästhetik und die Repräsentation des Subjekts auf dem Theater 56 2.2.2 Das Theater des Politischen 65 2.2.2.1 Epistemisch-ästhetische und politische Repräsentation 65 2.2.2.2 Politische Tragödie als (Wieder-)Einübung der Monarchie nach der Französischen Revolution 67 2.2.2.3 Gegentheater I: Tragödie des Volkes 74 2.2.2.4 Gegentheater II: Theater des Volkes 79 2.2.2.5 Praktiziertes Theater des Politischen: Predigten und Volksfeste 86 2.2.2.6 Die Verschiebung des/der Theater des Politischen in den Text 95 2.2.3 Die Theaterkonzepte und die Repräsentationskrise um 1800 101
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Inhaltsverzeichnis
Wordsworth und Scott auf dem Theater: The Borderers und The House of Aspen 105 3.1 Ausgangspunkt: Die Nobilitierung des Schauerlichen 105 3.2 Rezeption der epistemischen und politischen Theatermodelle in The Borderers und The House of Aspen 110 3.2.1 The Borderers 111 3.2.2 The House of Aspen 123 3.3 Scheitern auf dem Theater und Vorbereitung des Text-Theaters 133 3
4 William Wordsworth: Das Theater des Menschen in der romantischen Versdichtung 141 4.1 Lyrical Ballads 141 4.1.1 Das „Preface“ 142 4.1.2 Programmatische Eröffnung von Wordsworths Theater des Menschen 156 4.1.3 Tragödien des Volkes, Theater des Selbst 160 4.1.3.1 Tragische Monologe: „The Female Vagrant“, „The Mad Mother“ 161 4.1.3.2 „Simon Lee“ und die Tragödie der Begegnung 169 4.1.3.3 „The Brothers“ – Tragödie echten Theaters 179 4.1.3.4 „The Old Cumberland Beggar“: Theater des Rituals – Ritual des Theaters 188 4.2 The Prelude als Theater des Subjekts 197 4.2.1 Buch 7: Das zeitgenössische Theater und die epistemisch-politische Repräsentation des Subjekts 199 Reaktion 1: Die Textualisierung eines Theaters des Volkes 4.2.2 zum Melodrama des Volkes (Buch 8) 210 Reaktion 2: Ermächtigung und Krise des theatralisierten 4.2.3 Subjekts im Theater der Französischen Revolution (Buch 9 und 10) 214 Lösung 1: Das Gemeinschaftstheater und dessen 4.2.4 Textualisierung 222 Lösung 2: Das „image of a mighty Mind“ (Buch 13) und das Theater 4.2.5 der Selbstbegegnung 230 4.2.6 Coda: Zurück ins Theater – Zusammenfassung aller Lösungen in der „Maid of Buttermere“ 234 4.3 The Excursion: Wordsworths intersubjektives Theater des Menschen 239 4.3.1 Einführung: Zeitgenössische und heutige Kritik 239
Inhaltsverzeichnis
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4.3.2
Margarets Tragödie und die Intersubjektivität ihrer Zuschauer (Bücher I und II) 241 4.3.3 Die Tragödie des Solitary: Aufnahme des Leidenden in das Theater der Intersubjektivität (Buch II bis IV) 250 4.3.4 Die Ausweitung der intersubjektiven Volkstragödie zum posttragischen Theater des Volkes (Buch V bis VII) 258 4.3.5 Kultureller Betrieb des Theaters des Volkes: Wandern und Predigen 275 4.3.6 Die Implementierung dieser Kultur durch das Text-Theater: Die Excursion und ihre Grenzen 280
291 5 Walter Scott und das Roman-Theater: Subjekt, Monarch, Volk 5.1 Einführung: England in 1814 291 5.2 Die Arbeit am Theater des Volkes in den schottischen Romanen 301 5.2.1 Präambel: The Antiquary 301 5.2.2 Waverley: Das Subjekt und das Theater des Volkes 310 5.2.2.1 Das Subjekt, das revolutionäre Volk und der illegitime König: Vom Theater des Volkes zur Tragödie des Volkes 315 5.2.2.2 Waverley und das Theater des monarchischen Volkes: Bedingte Lösungen, offene Enden 327 5.2.3 The Heart of Mid-Lothian: Volk, Subjekt und (Theater der) Monarchie 332 5.2.3.1 Volkstragödie als tragische Selbstbestrafung 332 5.2.3.2 Jeanie Deans: Die Verkörperung der Nation und die Begegnung mit dem Monarchen 339 Die Grenzen des Herzens von Mid-Lothian: Das (volks)tragische 5.2.3.3 Ende von Madge 349 Die Erfüllung des Theaters des Volkes durch Einschluss des Königs 5.3 in den englischen Romanen 353 Ivanhoe als Präambel 5.3.1 355 Der Besuch von George IV: Echtes Theater des Volkes-mit5.3.2 König 362 Woodstock 5.3.3 369 Monarchie in der Revolution 5.3.3.1 369 5.3.3.2 Der König in der revolutionären Krise 374 5.3.3.3 Cromwell als Gegenkönig: Paradoxe Theatralität und die Lösung der monarchischen Krise 386 5.3.3.4 Das postrevolutionäre Theater von legitimem Monarch, Volk und Subjekt 394
XVIII
Inhaltsverzeichnis
5.3.3.5 5.4
Die Aufhebung dieser Lösung in Scotts Text-Theater 403 Die Rückkehr des Scottschen Text-Theaters auf die Bühne 411
6
Zusammenfassung der Textlektüren
7
Ausblick
421
429 Literaturverzeichnis Primärliteratur 429 Sekundärliteratur 431
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1 Systematische Vorüberlegungen 1.1 Ausgangsthesen Die vorliegende Studie akzeptiert die verbreitete Ansicht vom Theater der Romantik als einem Problem, versucht ausgehend davon aber, neue Lösungsvorschläge zu machen, indem sie erstmalig diejenigen Lösungsvorschläge herausarbeitet, die die romantische Literatur selbst vorgelegt hat. In Kapitel 2 wird zur Darstellung des Problems die britische Theaterkultur um 1800 unter neuartiger, intermedial fundierter Perspektive in den Blick kommen. Dabei wird sich zeigen, dass sich die jungen literarischen Autoren der Zeit nicht so sehr von der Kultur des Theaters zurückzogen, etwa weil sie mit deren kollektiver Arbeitsweise nicht zurecht kamen. Vielmehr ging die Distanzierung auch von der Theaterkultur selbst aus, die die traditionelle Form der Zusammenarbeit zwischen Literatur und Theater schwächte, indem sie sich andere Grundlagen für die Bühnengeschehen suchte als das Drama. Die herkömmliche These eines ‚antitheatralischen Vorurteils‘1 der jungen Romantiker greift also zu kurz, zusätzlich muss man von einem ‚antidramatischen Vorurteil‘ der Theaterkultur der Zeit sprechen. Zugleich entwickelten sich innerhalb der Literatur und den sie begleitenden Diskursen Theaterkonzepte, deren Realisierung auf der zeitgenössischen Bühne außerordentlich schwer gefallen wäre bzw. sich in den wenigen Versuchen als geradezu unmöglich erwies.2 Theaterkultur und literarische Kultur entfernten sich also von beiden Seiten her voneinander, und das, obwohl – oder gerade weil – die romantische Literatur hochambitionierte Dramen und hochgespannte Theaterentwürfe vorlegte. In der Literatur entstand zunehmend eine Form des Theaters, die rein textuell war.3 Diesem Theater gilt das Interesse des vorliegenden Projekts.
1 Vgl. Barish 1981. 2 Vgl. zu diesen Theaterkonzepten 2.2 und 3. 3 Die Theaterkultur der Romantik bildet erst seit den neunziger Jahren einen eigenen Forschungsbereich. Letztlich verharren aber auch diese neueren Monographien weitgehend in einer monomedialen Betrachtung des Theaters, seiner politischen und gesellschaftlichen Einbettung (Backschneider 1993, Watkins 1993, Carlson 1994, Purinton 1994, Burroughs 2000, Jewett 1997, Simpson 1998, Bolton 2001 und Burwick 2009) und insbesondere der Herausbildung, Perpetuierung, aber auch Störung von Geschlechteridentitäten in der Theaterkultur der 1790er Jahre und der Romantik (Carlson 1994, Burroughs 2000, Bolton 2001, Crisafulli/Elam 2010). Die aktuelle Forschungsrichtung bekommt daher die für diese Zeit so wichtige Intermedialität von Literatur und Theater kaum in den Blick. Wichtige Voraussetzung für diese Intermedialität ist die Tatsache, dass die literarische Kultur der Romantik ihre Arbeit am Theater
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Systematische Vorüberlegungen
Es geht dabei vom auffälligen Befund aus, dass wichtige Frühwerke zweier zentraler Autoren der britischen Romantik, nämlich William Wordsworth und Walter Scott, Dramen waren. Diese Dramen, die von der Bühnenkultur der Zeit ausdrücklich zurückgewiesen wurden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, wurden daraufhin zum Ausgangspunkt für ein Theater, welches im literarischen Text der Romantik stattfand. Die vorliegende Studie verfolgt dieses ‚Urtheater‘ aus dem Frühwerk der beiden Autoren durch folgende Werkabschnitte und arbeitet den konstant starken Bezug zentraler Texte von Wordsworth und Scott sowohl zu diesen Dramen als auch zu den in ihnen thematisierten Theaterkonzepten heraus.4 Dabei geht sie auch der Besorgnis auf den Grund, die junge Autoren der 1790er Jahre überhaupt dazu veranlasst hat, Darstellungsformen so intensiv zu reflektieren bzw. die Darstellungsmöglichkeiten eines bestehenden Mediums, des Theaters, so weit zu intensivieren, dass sie sich nur noch in einem anderen Medium, dem literarischen Text, realisieren ließen. Hintergrund dieser Besorgnis und Auslöser der intermedialen Versuche ihrer Überwindung ist eine im Laufe des 18. Jahrhunderts und insbesondere in der Französischen Revolution virulent werdende Repräsentationskrise, die die ästhetisch-epistemische und die politische Repräsentation des Menschen gleichermaßen umfasst. Parallel zu den Forderungen nach politischer Beteiligung aller Mitglieder einer Gesellschaft, wie sie die Revolutionäre entwickelten, stand nämlich das in den Jahrzehnten zuvor vorgebrachte Anliegen der Aufklärung – und insbesondere der schottischen Aufklärung –, diese Individuen an sich selbst und aneinander zu vermitteln, ihnen also zur Selbsterkenntnis und davon ausgehend zu sozialer Bindungsfähigkeit zu verhelfen. Der Mensch wurde also zum politischen und epistemischen Repräsentationsproblem.5 Die Studie profitiert von vorliegenden Untersuchungen zu dieser Krise6, kann sie aber auch grundlegend neu perspektivieren, indem sie die Beteiligung der britischen Romantik an ihr analysiert. Die literarische Romantik Großbritanniens suchte die von der Aufklärung und der Französischen Revolution aufgeworfene Frage nach der personalen wie politischen Identität des Einzelnen dadurch zu beantworten, dass sie in ihren Darstellungen die Voraussetzungen der Darstellung selbst zur Anschauung bringen wollte, um den Menschen damit seiner
auch in nichtdramatischen Texten weiterverfolgte und damit ein Text-Theater als Alternative zum Drama und dessen Aufführung entwickelte. 4 Vgl. dazu Kapitel 4 und 5. 5 Vgl. 2.2, insbesondere 2.2.3. 6 Vgl. den folgenden Abschnitt 1.2.
Ausgangsthesen
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selbst ansichtig werden zu lassen. Romantische Versdichtung7 und romantischer Roman, in seiner wirkungsmächtigsten Form als historischer Roman, unternahmen die Darstellung der Herkunft und davon ausgehend der politischen, kulturellen und sozialen Verortung des Menschen als Subjekt.8 Vor dem Hintergrund dieser – breit akzeptierten – Charakteristika romantischer Literatur nimmt die Behauptung, die romantische Literatur sei von einem antitheatralen Subjektivismus geprägt, der sich hauptsächlich in den Reflexionen zurückgezogener Dichtersubjekte ausspiele, wunder. Robert Langbaum hat schon 1957 die beliebte Charakterisierung der Versdichtung der Romantik als auf einem ‚romantischen Subjektivismus‘ basierend als ein ‚historisches Missverständnis‘9 bezeichnet. Vielmehr sei ein derartiger Subjektivismus eher das Kennzeichen der vorgängigen klassizistischen Epoche, während die Romantik im verzweifelten Versuch, das Subjekt durch Objektivierung verfügbar zu machen, dessen Welterfahrung ‚dramatisiere‘ – das Ich der romantischen Versdichtung sei ein essentiell dramatisches.10 Nach Auffassung der vorliegenden Studie müsste man eher als von einem ‚dramatischen‘ von einem theatralen Subjektentwurf romantischer Versdichtung ausgehen, da, wie Langbaum an der poetry des 19. Jahrhunderts selbst deutlich zeigt, die Texte eben keine im herkömmlichen Sinne dramatische Form haben und auch nicht den Weg auf die Bühne fanden, sondern ihr Theater mit ihren eigenen ästhetischen Mitteln und Möglichkeiten umsetzten. Wie wir sehen werden, theatralisiert der historische Roman in derselben Weise die (gegenseitige) Erfahrung von Subjekt und Kollektiv und arbeitet zugleich an Problemen weiter, die die romantische Versdichtung offen lassen musste. Offensichtlich drängt in der Romantik das Subjekt in nie gekannter Radikalität zu allgemeingültiger und zugleich theatraler Darstellung und das in einer Fülle anderer Formen als dem kurzen lyrischen Gedicht.
7 Die vorliegende Studie verwendet den Begriff „Versdichtung“ als bestmögliche Übersetzung des englischen Begriffs ‚poetry‘, welcher lyrische Kurz- und episch-narrative Langformen in gebundener Sprache gleichermaßen umfasst – angesichts von Wordsworths The Prelude gerade auch in der Romantik. 8 Vgl. zur Erschließung des Begriffs ‚Subjekt‘ 1.4. 9 Langbaum 1985: 28. 10 V.a. in der Landschaftsdichtung lasse sich eine Entwicklung von einer Stützung des Ichs durch externe Ideen/Ideale und einer einfach dazugestellten Landschaft zu einer dramatischen und perspektivischen Auseinandersetzung des Ichs mit einer subjektiv erlebten Landschaft verzeichnen (Langbaum 1985: 38–44). Als Hauptbeispiel für eine derartig theatrale Versdichtung dienen Langbaum die Gedichte von William Wordsworth; vgl. für eine Auseinandersetzung mit seiner Wordsworth-Lektüre und deren Weiterentwicklung im Zuge der Konzeption einer theatralen Intersubjektivität 4.1.3.1.
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Systematische Vorüberlegungen
Derartige Darstellungen des Subjekts verstanden sich als Räume der Selbstwahrnehmung, aber letztlich auch Selbstgestaltung nicht nur für das verfassende, sondern auch für das rezipierende Individuum. Sowohl als Theater als auch als Literatur waren sie allerdings hochproblematisch. Einerseits drängte die Literatur der Romantik über den Text hinaus zur Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit und Emotionalität des Theaters, um den Menschen mit sich selbst zu konfrontieren und in einem zweiten Schritt letztlich auch an sich selbst politisch zu legitimieren. Andererseits sprengte diese umfassende Repräsentation des Menschen auch die bestehende Bühnenkultur, eine Kultur, die aus verschiedensten Gründen, die noch darzulegen sind, große Probleme hatte, den Menschen philosophisch zu reflektieren oder politisch zu legitimieren. Dadurch entstand eine Literatur zwischen Text und Bühne, deren ästhetischer Selbstanspruch einerseits hochproblematisch und in mancherlei Hinsicht auch zum Scheitern verurteilt war, die aber anderseits gerade durch ihren Zwischenstatus und ihren (inter)medialen Ehrgeiz auch zur Weiterentwicklung beider Medien beitrug. Die vorliegende Studie möchte die Literatur der Romantik demnach als Text-Theater11 profilieren – und zwar als eine Literatur zwischen Text und Bühne, die Kapazitäten beider Medien nutzte und sie letztlich beide weiterentwickelte. Vorrangiges Ziel ist also, die romantische Literatur aus intermedialitätsgeschichtlicher Perspektive neu zu bestimmen. In einigen ihrer wichtigsten Innovationen erscheint sie nämlich als Versuch der Erarbeitung einer zugleich visionären und anschaulichen Darstellung des Menschen. Aus den sozialphilosophischen und ästhetischen Voraussetzungen der Epoche wurde das Theater natürlicherweise zum Ausgangsmedium dieser Darstellung; aus ebenso nachvollziehbaren, systematisch-logischen wie historisch-logistischen Gründen wurde dieses Theater aber in den literarischen Text getrieben, wurde zur romantischen Versdichtung (William Wordsworths) und zum romantischen Roman (Walter Scotts). Vor diesem Hintergrund kann nicht nur die Poetik der romantischen Versdichtung und des romantischen Romans neu perspektiviert werden. Vielmehr ergibt sich für einen der zentralen Konstituenten und eines der zentralen Probleme romantischer Kultur, das Subjekt, eine gleichermaßen innovative wie einleuchtende Neu-Ausrichtung. Das Subjekt und sein Anspruch auf kulturelle Darstellung (Objektivierung) ist das zentrale Ausgangsproblem der (früh)romantischen Theaterkonzepte und in der Folge auch des romantischen Text-Theaters. Beide Bereiche lösen die Herausforderung dieser Subjekt-/Objektproblematik, wie wir sehen werden, durch ein Erweitern von Subjektivität auf Intersubjektivität. Inter-
11 Die Schreibweise mit Bindestrich bringt die in dieser Studie ausführlich erschlossene TextTheater-Intermedialität zum Ausdruck.
Ausgangsthesen
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subjektivität ist ein zentraler und bisher, auch in der innovativen Forschung zu romantischer Subjektivität12, unterschätzter Aspekt der romantischen Kultur.13 Das Konzept einer gegenseitigen Repräsentation und Modifikation eines Subjekts durch ein anderes Subjekt, einer reziproken Intersubjektivität, erweist sich dabei als Ort nicht nur der Lösung, sondern auch der Verbindung der zentralen Probleme der romantischen Darstellung des Menschen, nämlich Individualität und Kollektivität, Repräsentation und Aussteuerung sowie Ästhetik und Politik. Vor dem Hintergrund des intermedialen romantischen Text-Theaters zeigt sich das romantische Subjekt als Inter-Subjekt. Im Zusammenhang mit dieser exemplarischen intermedialitätsgeschichtlichen Fallanalyse soll sich zudem auch ein neues Intermedialitätsmodell bewähren. Neu ist dieses Modell dabei nicht ‚an sich‘, sondern insofern es bestehende, einander aber aktiv ausschließende Intermedialitätstheorien miteinander verbindet. Dabei soll vor allem die in der deutschsprachigen Anglistik so wichtige Intermedialitätssystematik von Werner Wolf und Irina Rajewsky gegen den Vorwurf, sie beruhe auf einem schwachen bzw. gar keinem Intermedialitätsmodell, verteidigt werden – und zwar, indem sie mit den ‚starken‘ Intermedialitätskonzepten, die kontrastiv gegen sie in Stellung gebracht werden, verbunden wird.14 Das romantische Text-Theater ist nämlich ein historisches Exempel einer schwachen Intermedialität, welches zeigt, dass einerseits die beiden Intermedialitätstypen weder systematisch noch historisch voneinander zu trennen sind, und dass andererseits eine schwache Form der Intermedialität Ausgangs- und Zielmedium genauso sehr problematisieren und modifizieren kann wie die ‚starken‘ Formen der Intermedialität. Dabei zeigt die Intermedialität von Text und Theater auch aus systematischer Perspektive, dass starke und schwache Formen der Intermedialität in einem Schema zusammenkommen können und müssen, nicht zuletzt da sie historisch voneinander abhängen und ineinander übergehen können. Diese Überlegungen werden im nun folgenden systematisch-theoretischen Abschnitt vertieft und ausgeführt. Dabei soll zunächst geklärt werden, warum der in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften so virulente Begriff der Theatralität – gerade in seiner Ausprägung als Theatralität der Literatur – letztlich für eine
12 Etwa Henderson 1996, die die unterschiedlichsten Lösungen romantischer Subjektivität erkundet, dabei aber den Gedanken einer romantischen Intersubjektivität nicht verfolgt. 13 Vgl. Kinnaird 1977, Yousef 1999 sowie Esterhammer 2000a und 2000b: 18–239, sowie 1.4 in der vorliegenden Studie. 14 Vgl. 1.3. Ganz grundsätzlich ist ‚starke‘ Intermedialität eine, bei der sich unterschiedliche Medien auch technisch-kommunikativ ineinander entgrenzen, während bei ‚schwacher‘ Intermedialität im Zielmedium eine Referenz auf ein außerhalb liegendes und bleibendes Medium vorliegt.
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Systematische Vorüberlegungen
Bestimmung des Verhältnisses von Theater und Literatur nicht verwendet werden kann.
1.2 Theater und Theatralität Zentrale Begriffsbestimmungen, die für die vorliegende Studie vorzunehmen sind, beziehen sich auf das Begriffsfeld ‚Theater‘. Angesichts der enormen Forschung zum Konzept der Theatralität vor allem im deutschsprachigen Raum ist eine Auseinandersetzung mit diesem Terminus vonnöten, zumal diese Forschung bisweilen ähnliche historische Thesen vertritt wie das vorliegende Projekt. Erika Fischer-Lichte bestimmt in ihrer maßgeblichen kulturanthropologisch ausgerichteten Definition von Theatralität den Begriff als Zusammenspiel von Aufführung, Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung.15 Diese Definition beruht auf Vorarbeiten von Helmar Schramm, der diesen Zusammenhang etwas hochtrabend und weniger konkret als Dreieck von Semiosis, Kinesis und Aisthesis bezeichnet.16 Zur Fundierung von Theatralität als kultureller Grundkategorie bzw. kulturellem Basisprozess gesellen sich geschichtliche bzw. geschichtsphilosophische Überlegungen, die Theatralisierung als Reaktion auf kulturelle Krisensituationen ansetzen.17 Beides soll in der vorliegenden Studie nicht in Abrede gestellt werden, arbeitet sie doch selbst mit der These einer Repräsentationskrise – dennoch soll eine krisenbewältigende Theatralität der romantischen Kultur nicht einfach als methodisch-historische Vorgabe gesetzt werden. Es gibt nach der Französischen Revolution unbestreitbar eine kulturelle Krisen- im Sinne von Entscheidungssituation, und doch kann ich in meinem Projekt nicht einfach von der Annahme ausgehen, dieser Repräsentationskrise sei durch eine Wende ins Theatralische, in Vollzüge, Rituale und Szenarien, begegnet worden. Es mag diese ‚Theatralitäten‘ in der Kultur der Romantik durchaus gegeben haben; aber sie sollen nicht
15 Erstmals in Fischer-Lichte/Pflug 2000: 11–27, insbesondere 19f. 16 Vgl. Schramm 1996: 249–264. 17 Etwa im von Erika Fischer-Lichte herausgegebenen Sammelband Theatralität und die Krisen der Repräsentation (Fischer-Lichte 2001). Der Sammelband geht von zwei Schwellensituationen, nämlich der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert und dem Umbruch in die Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus, an denen eine Wendung ins Vollzughafte (die Theatralität) der Kultur bewältigend und modernisierend gewirkt habe. Mit ‚Theatralität‘ ist in diesem Fall also deutlich mehr als die Theaterkultur gemeint; vielmehr werden eine ganze Reihe performativer Kulturphänomene, z.B. Feste, Rituale und Zeremonielle, in den Blick genommen.
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einfach vorausgesetzt werden, um sie anschließend zu analysieren.18 Im vorliegenden Projekt richtet sich das Interesse vor allem auf die Bezüge der Literatur ab den 1790er Jahren auf Theaterkultur und Theaterkonzepte ihrer Zeit; eine darüber hinausgehende Bezugnahme auf eine anzunehmende übergeordnete oder überzeitliche Theatralität ist a priori nicht nötig. Eine kritische Einschränkung des Theatralitätsbegriffs für dieses Projekt ist aber noch aus einem weiteren Grund vonnöten. In der Forschung zur Theatralität ist nämlich auch ein systematisches Modell literarischer Theatralität entwickelt worden. Es soll hier ebenfalls keine direkte Verwendung finden, jedoch nicht aus Relevanzgründen, sondern aufgrund seiner inneren Logik, durch die Literatur und Theater schlichtweg gleichgesetzt werden. Eine Münchener Forschergruppe (die in einigen Publikationen auch unter diesem Namen auftritt) zum Thema ‚Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft‘ hat zwei Sammelbände herausgebracht, die ein Grundkonzept literarischer Theatralität entwickeln, das man letztlich als tautologisch bezeichnen muss.19 Gerhard Neumann spricht in der Einleitung des Bandes Szenographien davon, dass „Sprache [...] ihre eigentliche Szene in sich selbst“ habe und koppelt diesen Gedanken an das Konzept des ‚Zeichens von Zeichen‘: ‚Szene‘ und ‚Sprache‘ erweisen sich damit als untrennbar miteinander verknüpft. Das theatrale Muster wird [...] als ‚Szeno-Graphie‘ verstehbar: und zwar, indem sie Sprachproduktion selbst als Zeichentheater installiert. Sprache wird also, wenn man diese theoretischen Vorgaben in Rechnung stellt, nicht erst auf Schaubühnen ‚theatral‘, sondern ist, als sie selbst, immer schon theatrales Geschehen […] Damit wird zugleich einleuchtend, warum nicht manifeste Theater-, Performance- und Aufführungspraktiken Gegenstand der Untersuchung des vorliegenden Bandes sind, sondern deren keimhafte Anlage, Widerspiegelung und Reflexion in den ‚Zeichen der Zeichen‘ selbst, welche allein literarische Texte gewähren.20
18 Darüber hinaus fällt der von mir untersuchte Zeitraum nicht mit den in Theatralität und die Krisen der Repräsentation angesetzten Schwellensituationen zusammen. Es gibt einige Versuche, den zweiten Modernisierungsschub und damit die zweite Repräsentationskrise auf die Wende zum 19. Jahrhundert zurückzudatieren, vor allem aus der Germanistik (vgl. Peters 2001, Arbeitsgruppe München 2001, Albes/Frey 2003 und Heinen/Nehr 2004). Von der Datierung her folgt die vorliegende Studie solchen Überlegungen (vgl. 2.2.3). Im Falle eines Bezugs zum Theatralitätsparadigma (vor allem Peters 2001) gehen diese Untersuchungen aber ebenfalls eher von einer generellen Theatralität romantischer Kultur aus und untersuchen nicht das intermediale Verhältnis von (literarischem) Text und Theater. Das Gleiche gilt für die bisher einzige ausführliche anglistische Studie, die eine Theatralität der Romantik ansetzt und untersucht, nämlich Pascoe 1997. 19 Vgl. Neumann/Pross/Wildgruber 2000 sowie Matala de Mazza/Pornschlegel 2003. 20 Neumann /Pross/Wildgruber 2000: 14f.
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Damit wird Literatur, ja jede Sprachverwendung an sich, theatral. Neumanns Konzept von Literatur als Zeichen von Zeichen, also als einem sekundären semiologischen System, lässt sich auf Roland Barthes zurückführen, aus dessen Theoriebildung Neumann folgerichtig ebenfalls einen theatralen Literaturbegriff herauspräpariert.21 Zugleich erinnert die Konzeption eines theatralen ‚ZeichenZeichens‘ aber auch an Fischer-Lichtes Theatersemiotik, in der das Theaterzeichen genauso definiert wird.22 Fischer-Lichte geht bei ihrer Konzeption des theatralen Zeichens aber davon aus, dass die sekundäre Zeichenhaftigkeit für alle künstlerischen Zeichen und nicht für das Theater allein gilt. Neumann widerfährt demnach der logische Trugschluss, ein allgemeines Charakteristikum von Kunst auf das Theater/Theatrale zu verengen und davon ausgehend das Theater zum Paradigma des Literarischen zu machen. Allerdings könnte es angesichts der behaupteten Ähnlichkeit des theatralen und des literarischen Zeichens genau umgekehrt sein, d.h. man könnte die Literatur als Paradigma des Theaters ansetzen – und Fischer-Lichte scheint auch in diese Richtung zu argumentieren, da sie ein explizit am Text orientiertes Theatermodell entwickelt.23 In jedem Fall ist die semiotische Gleichsetzung von Literatur und Theater aber hochproblematisch, da sie jede Aussage des Bezugs der beiden aufeinander tautologisch macht: Theater ist Literatur; Literatur ist Theater. Ausgehend von Neumanns Engführung wird eine sinnvolle Beschreibung literarischer Theatralität demnach nicht ermöglicht, sondern eher erschwert. Kritik hat Neumanns Konzeption durch Martin Huber erfahren, wobei er vor allem die Beschränkung Neumanns auf einen einzigen Aspekt von Fischer-Lichtes (späterem) Theatralitätsmodell bemängelt, nämlich den der Semiosis. Huber versucht nun seinerseits, die von Neumann nicht beachteten Aspekte ‚Wahrnehmung‘ und ‚Körperlichkeit‘ in ein erweitertes Konzept literarischer Theatralität einzubringen, das er dann, absolut einschlägig für das vorliegende Projekt, auf die deutsche Literatur um 1800 anwendet.24
21 Vgl. Neumann 2000: insbesondere 83–90 und 107–112. 22 „Alle Zeichen, die wir als theatralische Zeichen eingestuft haben, fungieren [...] als Zeichen von Zeichen. […] Jedes beliebige, in einer Kultur als Zeichen fungierende Objekt vermag ohne jegliche materielle Veränderung als theatralisches Zeichen für dasjenige Zeichen, das es selbst darstellt, zu fungieren. […] Ein theatralisches Zeichen ist […] imstande […] als Zeichen eines Zeichens [zu fungieren], das jedem beliebigen anderen Zeichensystem angehören mag.“ (FischerLichte 1983: Bd. 1, 181f.) 23 Vgl. Fischer-Lichte 1983: Band 1, 23 sowie den Titel des dritten Bandes ihrer Semiotik des Theaters, nämlich Die Aufführung als Text. 24 „In [Neumanns] Konzept, das in der Konzentration auf den inneren Handlungsraum der Sprache die Theatralität gänzlich in das Innere des Textes verlegt, werden die beiden anderen
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Allerdings zeigt sich schnell, dass Huber die von ihm zur Konzeption literarischer Theatralität hinzugeforderten Aspekte Körperlichkeit und Wahrnehmung nicht auf der Verfahrensebene, sondern nur auf der Inhaltsebene literarischer Texte ansetzt. Zunächst spricht er nämlich nur noch von ‚narrativer‘, also der Medialität des literarischen Textes untergeordneter, Inszenierung25, bevor er dann gar vom Theater nurmehr als „Metapher“ ausgeht.26 Solche textuellen Prozesse aber benötigen ein Paradigma der Theatralität überhaupt nicht mehr; eher noch könnte man sie zum Ausgangspunkt von Überlegungen zur Bedeutung kultureller Metaphorik nehmen. Wo Neumann zu wenige, hat Huber demnach zu viele Einschränkungen seines literarischen Theatralitätskonzepts, um es operationell sinnvoll erscheinen zu lassen – und das, obwohl er den Blick zunächst zu Recht auf eine umfassendere Theatraliätskonzeption freigibt. Im vorliegenden Projekt soll daher ‚Wahrnehmung‘ und ‚Körperlichkeit‘ durchaus auch auf der Verfahrensebene literarischer Texte untersucht werden. Angebunden, oder vielmehr: untergeordnet, ist eine solche – umfassende und konsequente – Konzeption (literarischer) Theatralität aber immer dem historisch konkreten Bezug auf Theaterkultur und Theatertheorie des untersuchten Zeitraums, also auf zeitgenössische Vorstellungen vom Wesen des Theaters. Körperlichkeit und Wahrnehmung gehören sicher auch zum Theaterbezug der Literatur der Romantik, müssen aber beispielsweise um den in der Theaterästhetik der Zeit absolut zentralen Aspekt der gegenseitigen emotionalen Beeinflussung, ja Aussteuerung, von Akteuren und Zuschauern ergänzt werden.27 Das Theatralitätskonzept des vorliegenden Projekts ist also weitestgehend historisch – und das auf zwei Ebenen. Einerseits nämlich geht es von den Eigenschaften der Kulturform ‚Theater‘ aus, und zwar in deren spezifischer historischer Ausprägung im 18. und
Teilbereiche des Modells ‚Theatralität‘, die Körperlichkeit und der Wahrnehmungsaspekt als weniger relevant für die Literaturwissenschaft eingestuft. Mir hingegen scheinen für den Zeitraum um 1800 insbesondere diese beiden Aspekte heuristisches Potential für die Literaturwissenschaft bereitzustellen. Mit dem Fokus auf Körper und Wahrnehmung nämlich kann ‚Theater‘ zum Modell für die Literatur des späten 18. Jahrhunderts werden.“ (Huber 2003: 77f.) 25 „Der Begriff ‚Narrative Inszenierung‘ setzt voraus, dass es sich bei den zu erklärenden ‚Inszenierungen‘ in den Texten nur um jeweils ‚erzählte‘ Inszenierungen handeln kann, also um eine bereits medial vermittelte Form.“ (Huber 2003: 82) 26 „Ein literaturwissenschaftlich operables Konzept von ‚Inszenierung‘ öffnet an einem Schlüsselbegriff der Moderne nämlich zugleich den Blick auf die Funktion von Metaphorisierungsprozessen in der Literatur […] Die Metapher ‚Theater / Inszenierung‘ ist eine jener Zeichenprozesse, die Hans Blumenberg ‚absolute Metaphern‘ genannt hat, und deren Wirksamkeit darin besteht, dass ein kleines semantisches Feld der Alltagswelt wie Theater, Schifffahrt oder Buch mit einem totalisierenden Bereich identifiziert wird.“ (Huber 2003: 83f.) 27 Vgl. 2.2.1.
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19. Jahrhundert. Geht es über dieses historische Theater hinaus, so richtet es sich andererseits so weit als möglich auf zeitgenössische Diskurse über Wesen und Qualitäten des Theaters. Diese können das Theater der Zeit durchaus übersteigen, im Sinne einer Beschwörung von Theatralität, wie sie auch in der heutigen Kulturwissenschaft geschieht; aber es sind historische Theatralitätsdiskurse, die in den Blick kommen. Davon ausgehend ist mein Projekt durchaus auch als Kritik am Theatralitätsbegriff in der Folge Fischer-Lichtes zu verstehen, fordert es doch einerseits den Bezug auf das Theater als spezifische Kulturform und andererseits die Konzentration auf historische Zusammenhänge von Theaterkultur, Theatermodellen und Theaterkonzepten. Kompakt formuliert soll der Theatralitätsbegriff vor die doppelte Forderung „Keine Theatralität ohne Theater, kein Theater ohne Theatergeschichte!“ gestellt werden. Provozierend mag diese Neuausrichtung sein – allerdings lenkt sie auch den Blick zurück zu einem der Gründerväter der Theatralitätsforschung: Helmar Schramm leitet seinen Theatralitätsbegriff ebenfalls stark von konkreter Theaterkultur einerseits und von historischen Theatralitätsdiskursen andererseits her.28 Von der Forschung ist ein derartiger Theatralitätsbegriff, der die mediale und historische Spezifik des Theaters berücksichtigt, allerdings viel zu wenig umgesetzt worden. Vor dem Hintergrund dieser Spezifizierung ist es dann allerdings nur konsequent, dass die vorliegende Untersuchung des Bezugs der romantischen Literatur auf das Theater Unterschiede zwischen den beiden Phänomenen heraushebt, letztlich um die Besonderheit und Intensität dieses Bezugs überhaupt beschreibbar zu machen und nicht der Tautologie opfern zu müssen: Vor der literarischen Imitation des Theaters kommt der Unterschied Literatur und Theater. Damit wird der Theatralitätsbegriff von der methodischen Ebene der Literaturanalyse zunächst verabschiedet. ‚Theatralität‘ ist vor allem eine Beschreibung historischer Diskurse; theatralisch ist die Literatur der Romantik vielleicht in Summe und Ergebnis ihrer Bezugnahmen auf diese Diskurse und die Kultur des Theaters selbst. Ausgangspunkt und Instrument der Beschreibung dieser Bezugnahmen muss aber ein Modell sein, das von den Unterschieden zwischen den Kulturformen ‚Theater‘ und ‚Literatur‘ ausgehend deren Bezugnahmen aufeinander beschreibt, die Entgrenzung von Literatur und Theater also von den Grenzen zwischen ihnen her denkt. Dazu soll im folgenden Abschnitt das Modell der Intermedialität für das methodische Vorgehen in diesem Projekt profiliert werden: Intermedialität
28 Theater ist für Schramm „schöne Kunst“, „rhetorisches Instrument“ und „metaphorisches Modell“ und wird davon ausgehend zum „Schnittpunkt interdisziplinärer Diskurse“, also zum Ausgangspunkt vielfältiger (historischer!) Theatralitätsdiskurse (Schramm 2005: 48 und 61).
Intermedialität von (literarischem) Text und Theater
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fasst die Bezüge zwischen Literatur und Theater als Verschränkungen ursprünglich distinkter (bzw. als distinkt konzipierbarer) kultureller Kommunikationsarten, die als ‚Medien‘ bzw. ‚Medialitäten‘ verstanden werden.
1.3 Intermedialität von (literarischem) Text und Theater Die bisher gründlichste Bestimmung der Intermedialität von literarischem Text und Theater stammt von Janine Hauthal.29 Von der Thematik ihrer Studie her interessiert sie sich zwar primär für die Beziehung – und näherhin die Intermedialität – von Drama und Theater. Weil sie sich bei der Analyse des DramaTheater-Verhältnisses aber systematisch auf die kommunikativen Unterschiede der beiden Partner bezieht, mithin ihre medialen Differenzen grundsätzlich thematisiert, bestimmt Hauthal in Grundzügen die Intermedialität von Theater und (literarischem) Text im allgemeinen, was vor ihr noch niemand getan hat. An bisherigen Ansätzen zum Verhältnis von Drama und Theater stört sie die mangelnde Sensibilität für die kommunikativen Unterschiede der beiden Medien, welche sich ihrer Ansicht nach sowohl im Gedanken des Dramas als bereits „aufgeführter Text“30 als auch im Konzept eines im Drama angelegten „Inter-Text[s]“31, der auf die Aufführung verweise, ausdrückt. Im ersten Falle erscheine das Theater im Drama als schon enthalten; im zweiten werde es gerade aufgrund dieser Implikation lediglich zu einer weiteren Art von ‚Text‘. Hauthal bemerkt zu Recht, dass hier ein Bewusstsein für die medialen Unterschiede von Drama und Theater, für ihren Status als unterschiedliche Medien fehlt. In der Folge analysiert sie dann die ‚medienkulturwissenschaftlichen Differenzierungen von Drama und Theater‘32, wobei schon der Begriff der Medienkulturwissenschaft darauf hindeutet, dass Hauthal ihrer Analyse den Medienbegriff von Siegfried J. Schmidt zugrunde legt. Für Schmidt ist ein Medium ein selbstorganisiertes Zusammenwirken der Komponenten ‚semiotische Kommunikationsinstrumente‘, ‚Medientechnologie‘, ‚sozialsystemische Institutionalisierungen‘ und ‚Medienangebote‘.33 Bestimmte Formen der Kommunikation, die auf spezifischen Zeichenarten bzw. Zeichenverwendungen aufruhen, finden in diesem Medienbe-
29 Hauthal 2009. 30 Pfister 1994: 24, vgl. Hauthal 2009: 75. 31 Höfele 1993: 19, vgl. Hauthal 2009: 63. 32 So eine Überschrift in Hauthal 2009: 65. 33 Diese prägnante Kondensierung der Schmidtschen Medienkomponenten (Schmidt 2000) entstammt einer Tabelle in Hauthal 2009: 68f.
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griff demnach mit Medientechnologien, die diese Kommunikationsformen verwenden, sowie Institutionen, die diese Technologien unterhalten und unterstützen, zusammen. Dieses gleichermaßen umfassende wie prägnante Verständnis von ‚Medium‘ soll auch in der vorliegenden Studie in Anschlag gebracht werden; allerdings wird der Bereich der ‚Kommunikationsinstrumente‘ um ein Bewusstsein für die jeweilige Kommunikationssituation erweitert werden müssen, um die Bestimmung des Text-Theater-Verhältnisses auch auf speziell nichtdramatische Texte erweitern zu können. Zunächst aber ist Hauthals Insistieren auf den medialen Unterschieden von Drama und Theater, also von „Schrift und Grafik sowie der Technologie des Buchdrucks“34 auf der einen Seite und der ‚plurimedial‘ produzierten sowie ‚multisensoriell rezipierten‘ ‚Live-Aufführung‘35 andererseits nur zuzustimmen. Zugleich betont Hauthal, dass Dramen vor allem als Theateraufführungen verfügbar werden und erkundet dies in der Folge als grundsätzliche Intermedialität von Drama und Theater. Ausgehend von der Beobachtung, dass Dramen zwar zunächst einmal Lesetexte sind, aber hauptsächlich durch ihre Aufführungen auf der Bühne kulturell rezipiert werden, erarbeitet sie ein komplexes Modell der Abhängigkeit des Dramas vom Theater, die von einer reziproken Abhängigkeit des Theaters vom Drama ergänzt wird. Laut Hauthal erweist sich der Dramentext als „Bedingungsrahmen“ des Theaters, während das Theater umgekehrt zum „Bezugsrahmen“ des Dramas werde.36 Das Theater benötigt für seine Aufführungen Dramen, welche im Gegenzug vor allem durch diese Aufführungen ‚kommuniziert‘ werden. Hauthal entwirft hier etwas, das man als ‚interdependente Intermedialität‘ von Drama und Theater beschreiben könnte, also als gegenseitige Abhängigkeit der beiden Medien voneinander.37 Hauthals Bestimmung dieser Intermedialität ist theoretisch voraussetzungsreicher und daher komplizierter als hier referiert; die gegenseitigen Abhängigkeiten von Drama und Theater gehen gewissermaßen noch weiter und tiefer.38 Allerdings muss und darf die vorliegende Studie Hauthal in dieser Komplexität nicht folgen – denn dieser Studie
34 Hauthal 2009: 74. 35 Begriffe der vergleichenden Tabelle in Hauthal 2009: 68f. 36 Hauthal 2009: 78 (Abb. 3) und 79 (Abb. 4). 37 Vgl. zum Begriff der interdependenten Intermedialität Hauthals Gedanke einer „doppelte[n] Interdependenz“ (2009: 76) von Drama und Theater sowie die Erkundung des Verhältnisses von Balladentext und Theateraufführung in William Shakespeares Winter’s Tale in Merten 2006c, insbesondere 53 und 59. 38 Basierend auf Niklas Luhmanns Differenzierung von Medium und Form geht Hauthal letztlich davon aus, dass Theater und Drama im jeweils anderen Medium erst Gestalt gewinnen und damit epistemisch und kulturell erst verfügbar werden.
Intermedialität von (literarischem) Text und Theater
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geht es um nichtdramatische Texte und Textsorten, um solche Gattungen also, die nicht vom Theater abhängig sind und sich an keinem Punkt medial mit dem Theater überschneiden. Die Intermedialität von Versdichtung und Roman zum Theater, mit der sie sich beschäftigt, muss demnach stärker auf die medialen Unterschiede zwischen Text und Theater rekurrieren. Diese bezieht Hauthal zwar in ihre Überlegungen grundsätzlich mit ein, da sie ja als erste von Theater und Text als gerade in ihren wechselseitigen Bezugnahmen unterschiedlichen Medien ausgeht. Von dieser grundsätzlichen Intermedialität schreitet sie aber aus naheliegenden Gründen schnell zur spezifischen von Drama und Theater weiter. Für die vorliegende Studie muss Hauthals Intermedialitätskonzept also erweitert werden, um auch die Intermedialität von nichtdramatischen Texten mit dem Theater beschreibbar zu machen. Dabei fallen die Unterschiede zwischen den beiden Medien aber stärker ins Gewicht: Welches Verhältnis können Texte, die primär gedruckt und gelesen werden und ihre ‚Erfüllung‘ nicht auf der Bühne finden, zum Theater aufbauen? Die Kommunikationssituationen der beiden Medien fallen bei dieser Bezugnahme also stärker ins Gewicht als bei derjenigen von Drama und Theater. Hauthals medialer Vergleich von Text und Theater muss für die vorliegende Studie um das Konzept der Situationskonkretheit bzw. Situationsabstraktheit ergänzt werden, will man ihn auch auf Versdichtung und Roman anwenden. Einer Begrifflichkeit Siegfried J. Schmidts zufolge sind literarische Texte ‚situationsabstrakt‘39, ihre Kommunikationsprozesse sind produktionsseitig stabil, also selbst kommunizierbar und nicht von der fortgesetzten Anwesenheit der Sender als (Zeichen-)Produzenten abhängig. Theater ist im Gegensatz dazu ein situationskonkretes Medium, dessen Kommunikationsakte produktionsseitig aus einzelnen, konkreten, aber flüchtigen Situationen bestehen40; die Zeichen(prozesse) des Theaters sind flüchtig: Die Sprache verklingt, die Schauspieler verlassen nach der Vorstellung die Bühne, das Bühnenbild wird abgebaut, die Inszenierung ‚läuft aus‘. Hauthals Modell gegenseitiger Formgebung von Drama und Theater berücksichtigt diesen grundsätzlichen Unterschied einer (auch produktionsseitigen) Situationskonkretheit der Theateraufführung nicht, da sie ihn für ihre Drama-Theater-Intermedialität auch nicht benötigt. Für die vorliegende
39 Schmidt 1975: 66. Die Begriffsbildung entstammt textlinguistischen Forschungszusammenhängen der 1970er Jahre, an denen Schmidt beteiligt war. Erstaunlicherweise integriert er diesen Begriff aber nicht in seine darauffolgende, medienkulturwissenschaftliche Periode. 40 Bei Texten ist die Flüchtigkeit und Situationskonkretheit nur rezeptions-, aber entscheidenderweise nicht produktionsseitig. Die Rezeption von literarischen Texten besteht vielleicht auch aus flüchtigen Situationen, die Kommunikativität des Buches (also die produktionsseitige Kommunikation) aber ist über einen sehr langen Zeitraum stabil.
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Systematische Vorüberlegungen
Studie ist diese Unterscheidung aber wichtig, da sie eben auch eine Text-TheaterIntermedialität in den Blick nimmt41, die nichtdramatische Texte betrifft, deren ‚Erfüllung‘, Formgewinnung eben nicht im Theater liegt und die daher dessen Situationskonkretheit im Gegenzug immer nur imitieren können. In diesem Sinne wird der nichtdramatische Text zum Ort der Simulation des Theaters und seiner von Kopräsenz von Sender und Empfänger abhängigen, mithin auf Teilnahme aufruhenden Medialität.42 Mit dem Hinweis auf Imitation und Simulation des Theaters im literarischen Text wird eine Art der Intermedialität aufgerufen, die über die von Hauthal theoretisierte gegenseitige Abhängigkeit hinausgeht. Man spricht vielleicht angemessener von einem ‚Unterschreiten‘ der Drama-Theater-Intermedialität, denn es geht hierbei ja um Fälle, bei denen die beteiltigen Medien nicht voneinander abhängig sind und sich nicht ineinander entgrenzen. Vielmehr vollzieht sich die Rezeption des Gebermediums, des Theaters, innerhalb der Grenzen des Nehmermediums, des literarischen Texts, der das Theater thematisiert und/oder imitiert. Für dieses andere Intermedialitätsverständnis sind die Aspekte ‚Thematisierung‘ und ‚Imitation‘ freilich zentral. Am Ende ihrer anspruchsvollen Bestimmung gegenseitiger Formgebung von Text und Theater vergleicht Hauthal diese beiden Intermedialitätskonzepte:
41 Andererseits kann auch die Intermedialität von Drama und Theater mit diesen Begriffen beschrieben werden, da einerseits das situationsabstrakte Drama nur auf der Bühne situationskonkret wird, andererseits das Theater aber im Drama abstrakt wird, also den ephemeren Status einer Abfolge von Aufführungen verlassen und zu einer situationsabstrakt systematisierbaren Größe werden kann. 42 K. Ludwig Pfeiffer unterscheidet in seinem großangelegten medienhistorischen Abriss der britischen Kultur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Pfeiffer 1999) Medien der Partizipation von Medien der Simulation. Er wendet diese Unterscheidung auch medienhistorisch und spricht von einer zunehmenden Umstellung von Partizipations- auf Simulationsmedien im Zuge des 18. Jahrhunderts. Diese Historisierung ist wichtig, denn Pfeiffer geht davon aus, dass Partizipationsmedien „Kommunikation, Interaktion und kulturelle Performanz“ (42) durchführen bzw. die Teilnahme an ihnen ermöglichen, während die nachfolgenden Mediengenerationen diese Prozesse – und damit die vorgängigen Medialitäten insgesamt – nurmehr simulieren. Simulationsmedien simulieren neben der Welt demnach auch Partizipationsmedien und sind damit vor allem als deren historische Weiterentwicklung zu verstehen: Romane simulieren Ritual, Tanz und Theater und werden daher auch zu deren Kompensationen. Die vorliegende Studie konkretisiert diese medienhistorische These hinsichtlich der Bergung eines Fundamentaltheaters in der romantischen Literatur, die neben dem Roman auch die Versdichtung umfasst. Dabei erscheint dieses Theater – ganz im Sinne Pfeiffers – oftmals als dieser Literatur vorgängig, hat daneben aber auch utopische Züge einer progressiven Alternativität zur bestehenden Bühnenkultur.
Intermedialität von (literarischem) Text und Theater
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Terminologie und Gegenstandsbereich von Paechs Intermedialitätstheorie unterscheiden sich [...] von Rajewsky Konzeption der Intermedialität. Beide Theoretiker repräsentieren unterschiedliche Stränge der Intermedialitätsforschung: Während Rajewskys Entwurf eher eine literaturwissenschaftliche Orientierung aufweist, ist der von Paech in einem engeren Sinne medienwissenschaftlich. Im Rahmen dieser Arbeit erweist sich Rajewskys Ansatz für die Erfassung der besonderen (Inter-)Medialität der literarischen Gattung des Theatertextes als geeignet.43
So sehr Hauthals Skizze der wichtigsten Exponenten deutschsprachiger Intermedialitätsforschung zuzustimmen ist, ihrer Selbsteinschätzung, sie folge hauptsächlich Rajewsky, ist zu widersprechen. Ganz im Gegenteil: Die Beschreibung fundamental-interdependenter Intermedialität von Drama und Theater beruht viel stärker auf den Überlegungen von Joachim Paech44; Hauthals Bestimmung der Drama-Theater-Intermedialität ist vielleicht sogar die bisher konsequenteste und brillanteste Anwendung Paechscher Intermedialität auf ein konkretes intermediales Verhältnis. Über Irina Rajewskys Konzeption geht es weit hinaus, denn deren Intermedialitätsverständnis ist es vor allem um Einzelphänomene zu tun, bei denen die Mediengrenzen intakt bleiben – etwa den eben erwähnten intermedialen Bezugnahmen innerhalb (nichtdramatischer) literarischer Texte.45 Kurz gesagt: Die Drama-Theater-Intermedialität lässt sich am besten ausgehend von Paech beschreiben, die von nichtdramatischen Texten und dem Theater ausgehend von Rajewsky. Zugleich wird deutlich, dass man beide Formen der Intermedialität zusammenführen muss, wenn man die Text-Theater-Intermedialität systematisch beschreiben will. Das ist brisant, denn Paech und Rajewsky haben sich bisher scharf voneinander abgegrenzt – aber es ist notwendig, will man alle Formen der Text-Theater-Intermedialität und vor allem deren historische Zusammenhänge verstehen. Dazu sollen im Folgenden die beiden Intermedialitätsauffassungen näher bestimmt, sodann miteinander verbunden und auf das historische Verhältnis von literarischem Text und Theater um 1800 bezogen werden.
43 Hauthal 2009: 84, dort Anm. 98. 44 Vgl. das Folgende sowie Paechs Definition von Intermedialität als „Wiedereinschreibung des Mediums als Form in die Form eines anderen Mediums“ in Paech 2006: 184, die denselben Luhmannschen Gedanken für Intermedialität insgesamt ansetzt, den Hauthal für das Drama-Theater-Verhältnis in Anschlag bringt. 45 Hauthal beruft sich auf Rajewsky hauptsächlich aufgrund von deren Konzipierung der Drama-/Theater-Intermedialität als einer Bezugnahme des Dramas auf das Theater, die sich darin ausdrücke, dass das Theater in der Form eines ‚Als ob‘ im Drama präsent sei (Hauthal 2009: 84). Die Thematisierung des Theaters im Drama ist auf der Inhaltsebene tatsächlich von einem Als ob gekennzeichnet, geht aber (im Gegensatz zu nichtdramatischen Texten) über dieses weit hinaus – hin zu einer pragmatischen Intermedialität (vgl. nächster Abschnitt).
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Systematische Vorüberlegungen
1.3.1 Starke und schwache Intermedialität – und ihre Verbindung Joachim Paech hat erstmals sein eigenes Konzept der Intermedialität als „starkes“ bezeichnet, um es von solchen zu unterscheiden, die seiner Meinung nach ein Medium als einen „Behälter“ für ein anderes auffassen und damit letztlich nur (Einzel-)Prozesse ungestörter Unterwerfung eines Mediums unter die Formgesetze eines anderen Mediums untersuchen.46 Paech sieht Intermedialität im Gegensatz dazu als fundamentale Verbindung zweier Medien, die deren grundsätzliches Funktionieren betrifft, etwa zwischen Film und Fotografie, wobei der Film nach seinem Dafürhalten im Medium (bzw. der ‚Form‘) der Fotografie verfügbar wird.47 Auf Theater und Drama angewandt (deren Intermedialität Paech allerdings nirgends thematisiert) würde das, wie bereits von Hauthal herausgearbeitet, bedeuten, dass das Medium ‚Drama‘ in Form der Theateraufführung sichtbar wird, während das Theater seinerseits Dramen aufführen muss, um in Betrieb zu bleiben. Als – im doppelten Sinne – ‚schwache‘ Intermedialitätskonzepte kanzelt Paech solche Ansätze ab, die sich auf Einzelphänomene einer Thematisierung eines anderen Mediums in einem Kunstwerk, meist einem literarischen Text, beziehen und sich damit für historisch-konkrete Einzelfälle einer weitgehend ‚inhaltlichen‘ Referenz interessieren, die das Medium, in dem das fremde Medium thematisiert wird, als solches nicht tangieren. Irina Rajewsky hat eine ganze Reihe derartiger medialer Referenzen auf andere Medien analysiert und den Versuch einer Typologie ihrer Erscheinungsformen unternommen. Paech behauptete nun, in solchen Fällen fände überhaupt keine Intermedialität statt, da sich die Medien bzw. Medialitäten nicht im geringsten ineinander entgrenzten.48 In ihrer Reaktion weist Rajewsky allerdings darauf hin, dass die von Paech abgekanzelte „bloße Thematisierung des Altermedialen“ durchaus auch im Paechschen Sinne intermedial sein kann – dann nämlich, wenn sie das Bezugsmedium auch in dessen spezifischer Medialität reflektiert oder aber, in einer über die Thematisierung hinausgehenden, die Mediengrenzen aber immer noch wahrenden Form der Intermedialität, imitiert.49
46 Vgl. Paech 1998: 15f. bzw. 2003a: 298 f. 47 Paech 2006: 184: „Die Intermedialität zwischen den Medien Fotografie und Film [...] funktioniert über die Form, mit der ein Film sich mit der ‚Eigenschaft fotografisch‘ artikuliert, eine Form [...], die [...] den Film ‚formuliert‘ [...]“. 48 Vgl. die Rezension Paechs (Paech 2003b) von Rajewskys Monographie (2002). 49 Vgl. Rajewsky 2004: 41 und 49; vgl. zur ‚Stärke‘ solcher Formen der Intermedialität auch 1.3.2.
Intermedialität von (literarischem) Text und Theater
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Dennoch haben beide Schulen, die ‚starke‘ und die ‚schwache‘, bisher weitgehend versucht, sich voneinander abzugrenzen50, wobei diese Abgrenzung inkonsequent, aber auch unnötig ist. Natürlich müssen die von Rajewsky – oder auch von Werner Wolf51 – untersuchten intermedialen Einzelphänomene viel radikaler auf zugrunde liegende fundamentale Zusammenhänge hin befragt werden, solche eben, die an die Grundfesten der beteiligten Medien rühren, und das schon im Dienste der interpretatorischen Tiefenschärfe. Andererseits muss sich Paechs Bestimmung grundsätzlicher Intermedialitäten den Vorwurf gefallen lassen, selbst auf intermediale Phänomene angewiesen zu sein, die er per definitionem der ‚schwachen‘ Konzeption zugeordnet hätte.52 Darüber hinaus gibt es noch weitere Überschneidungen zwischen der Paechschen Intermedialität und Rajewskys Modell: ‚Medienwechsel‘ und ‚Medienkombination‘ etwa sind zwei der drei von Rajewsky angeführten Grundtypen der Intermedialität.53 Paech lehnt derartige Typologien zwar ab; in seiner bisher ausführlichsten Definition des Begriffs schließt er aber Verfilmungen von Erzählungen oder Gemälden explizit ein und bezeichnet „Multimedialität“ als „Fortsetzung der Intermedialität mit anderen Mitteln/Medien“.54 Der Streit zwischen den beiden Konzeptionen entzündet sich also lediglich am dritten von Rajewsky untersuchten Intermedialitätstypus, nämlich den ‚intermedialen Bezügen‘; diesen thematisiert Rajewsky zugegebenermaßen aber mit Abstand am ausführlichsten. Umgekehrt sind die von Rajewsky nicht in ihr Schema integrierten Formen der Intermedialität genau
50 Die Abgrenzung von Paech zu Rajewsky ist offensichtlich (vgl. Paech 2003b). Aber auch Rajewsky (2002: 24f.) hat darauf verwiesen, dass sie und Paech letztlich völlig unterschiedliche Phänomene untersuchten, nämlich einerseits Einzelfälle der Thematisierung anderer Medien in einem einzelnen, vor allem literarischen Werk und andererseits fundamentale Zusammenhänge zwischen Medien, die von ihren Einzelausprägungen völlig unabhängig seien. Die Unterscheidung – und Scheidung – von ‚literaturwissenschaftlichen‘ und ‚medienwissenschaftlichen Intermedialitätskonzepten‘ wird in Rajewsky 2008 noch einmal bekräftigt. 51 Vgl. Wolf 2002a sowie das Folgende. 52 So arbeitet Paech an Woody Allens Film Purple Rose of Cairo (Paech 2003: 305) zwar eine fundamentale Intermedialität heraus, nämlich diejenige zwischen Theater und Kino, aber er unternimmt dies durch die Analyse eines intermedialen Einzelphänomens, bei dem der Beispielfilm auf das Theater nur inhaltlich Bezug nimmt. Der Verdacht kommt auf, dass Einzelintermedialität und Fundamentalintermedialität in der (Inter-)Medialitätsgeschichte oftmals zusammenkommen: Dabei bearbeiten und vertiefen Einzelintermedialitäten fundamentale Intermedialitäten, die durch ihre Analyse im Einzelwerk überhaupt erst sinnfällig werden. Auch Rajewsky bemerkt, dass Paech intermediale Bezüge in seinem Modell beschreibt (Rajewsky 2004: 43, dort Anm. 36). 53 Vgl. Rajewsky 2002: 19. 54 Paech 2006: 183 u. 184.
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Systematische Vorüberlegungen
diejenigen, die Paech am wichtigsten sind, nämlich die fundamentalen Zusammenhänge und Abhängigkeiten von Medien untereinander. Will man die beiden Modelle also vereinen, so muss man ein Schema erarbeiten, dass intermediale Bezüge einerseits und fundamentale Intermedialität andererseits zusammenbringt und zugleich eine Rechtfertigung für diese Vereinigung liefert. Eine solche Begründung scheint mir gerade in der Intermedialität von (literarischem) Text und Theater zu liegen. Deren Geschichte nämlich liefert das Phänomen eines Bedeutungsschwundes von fundamentaler Intermedialität zugunsten einer Intermedialität vor allem aus Bezügen – einer Akzentverschiebung, die ohne eine Vereinigung der beiden Modelle nicht zu beschreiben wäre. In den Kapiteln 1.3.2 und 2.1 wird dieses Phänomen, nämlich das Verhältnis von Theater und Literatur von 1750 bis ins 19. Jahrhundert hinein, ausführlicher beschrieben; es spielt auch in den darauffolgenden Textanalysen eine wichtige Rolle. Zunächst aber möchte ich eine begriffliche Integration des Paechschen und des Rajewskyschen Intermedialitätsmodells bieten. Dazu soll die Paech interessierende Art der Intermedialität, nämlich die Medien als ganze und unabhängig von Einzelwerken betreffende fundamentale Intermedialität, gedanklich und begrifflich differenziert werden: Manche Medien, etwa der Film, sind technisch grundsätzlich auf andere Medien, hierbei die Fotografie, bezogen und angewiesen. Andere Zusammenhänge zwischen Medien aber beruhen, obwohl genauso eng, auf gewissermaßen freiwilliger Zusammenarbeit, die historisch entstanden ist und genauso historisch in Frage gestellt bzw. unterbrochen werden kann. Derart ist die Intermedialität von Drama und Theater, da die beiden Medien erst im jeweils anderen Medium ihre Erfüllung finden, das andere Medium aber semiotisch-kommunikativ nicht in sich tragen. Die Intermedialität von Drama und Theater ist also sicherlich ähnlich stark wie das Zusammentreffen von Fotografie und Film, wie Hauthal letztlich bereits gezeigt hat. Anders ist diese Intermedialität aber insofern, als sie nicht den generischen Zusammenhang zweier Medien beschreibt (der Film ist aus der Fotografie entstanden, nicht aber das Theater aus dem Drama), sondern eine historisch kontingente Zusammenarbeit zweier auch getrennt voneinander funktionierender Medien.55 Ich möchte beide Intermedialitäten, die von Drama/Theater und die
55 Peters 2000 hat diese Geschichte grundlegend aufgearbeitet und gezeigt, dass Drama und Theater erst seit dem 16. Jahrhundert (mit der Einführung des Buchdrucks) die uns geläufige enge Verbindung eingegangen sind, im Zuge derer Dramen auf die Aufführung hin konzipiert wurden (und etwa narrative Elemente zurückdrängt wurden), Theater umgekehrt aber auch als Räume von Dramenaufführungen gebaut wurden. Der Einfluss der aristotelischen Konzeption der drei Einheiten, den Peters durch italienische, französische, spanische und deutsche Regelpoetiken des 16. und 17. Jahrhunderts verfolgt, prägte hierbei Drama und Theaterarchitektur glei-
Intermedialität von (literarischem) Text und Theater
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von Fotografie/Film, als fundamentale Intermedialitäten bezeichnen, davon ausgehend aber generische (Entstehung eines Mediums aus einem anderen, wobei das alte im neuen Medium enthalten ist) von pragmatischer Intermedialität (enge ‚Zusammenarbeit‘ zweier auch getrennt bestehender bzw. denkbarer Medien) unterscheiden. Die Fotografie/Film-Intermedialität ist generisch; die Intermedialität von Drama und Theater pragmatisch. Von diesen Fundamentalphänomenen möchte sich Rajewsky in ihrer Konzeption nun absetzen, aber letztlich besteht kein Grund dazu. Auch wenn intermediale Einzelreferenzen potentiell von fundamentalen Zusammenhängen geprägt sein können, ist die von Rajewsky nicht thematisierte, fundamentale Intermedialität eindeutig ein eigenständiges Phänomen der Intermedialität und nicht etwa eine andere Perspektive auf dieselben Phänomene, was eine Zusammenführung der beiden Modelle in einer Typologie tatsächlich unmöglich machen würde. Daneben gehören die starken und schwachen Intermedialitätstypen zur selben Mediengeschichte: Die ‚schwache‘ Intermedialität betrifft Medientypen, die kommunikativ so unterschiedlich sind, dass sie auf das andere Medium nicht als Teilhaber verweisen können. Ihr Verhältnis mag aber dennoch ähnlich ‚gespannt‘ sein wie bei fundamentaler Intermedialität, wenn beispielsweise aus der Bezugnahme ein Konkurrenzverhältnis der beiden Medien greifbar wird.56 Aus dieser Perspektive erscheint Medienkonkurrenz vielleicht sogar als eine ähnlich fundamentale Form der Intermedialität wie die generische und die pragmatische Intermedialität, aber sie ist auf explizite ‚Einzelbeschwörungen‘, also auf Einzelprojekte, angewiesen, um überhaupt in Erscheinung treten zu können. Es erwächst hier eine Geschichte des Zusammenkommens und Auseinandertretens von Medien einerseits und der Konkurrenz der Medien zueinander und der (Neu-) Ausrichtung aufeinander andererseits, die zu wichtig ist, als dass sie durch die künstliche Trennung von Intermedialitätsauffasssungen auseinandergezwungen werden sollte. Bevor wir uns einem schlagenden Exempel dieser Geschichte zuwenden, möchte ich eine Übersicht über die Ausprägungen der Intermedialität geben:
chermaßen und sorgte letztlich auch für ihre enge Bezugnahme aufeinander. Das Drama stand für eine spezifische Form der Intermedialität, das literarische Theater. 56 Ein zentrales Beispiel von Medienkonkurrenz ist der sog. Paragone zwischen Malerei und Skulptur (vgl. Mai/Wettengel 2002).
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Systematische Vorüberlegungen
Intermedialität
Medienwechsel
Plurimedialität
Medienmischung
Fundamentale Intermedialität
MedienGenerische kombination Intermedialität
Pragmatische Intermedialität
Intermediale Bezüge
Intermediale Thematisierung (Expliziter Bezug)
Intermediale Imitation (Impliziter Bezug)
Abbildung 1: Integriertes Modell der Intermedialität mit Berücksichtigung von Paech und Rajewsky (mit Wolf)
Das integrierte Modell gibt unter dem Stichwort ‚Fundamentale Intermedialität‘ den von Paech favorisierten Formen ‚starker‘ Intermedialität erstmals terminologische Qualität. Es integriert diese in die bestehende Typologie von Rajewsky57, wobei diese, im Abgleich mit einem ähnlichen Schema Werner Wolfs58, in einem Fall erweitert und in einem zweiten Fall vereinfacht wird. Erweitert wird Rajewskys Typologie im Bereich der ‚Plurimedialität‘. Diese heißt in ihrem Schema einfach nur ‚Medienkombination‘ und wird nicht weiter unterteilt. Wolf nimmt hier aber eine sinnvolle Differenzierung vor, indem er solche Formen der Plurimedialität, bei der die beteiligten Medien noch unterscheid- und potentiell trennbar sind, als ‚Medienkombination‘ bezeichnet (etwa Romane mit Illustrationen). Formen, bei denen sich die beteiligten Medien untrennbar und ununterscheidbar mischen, z.B. im Comic, bezeichnet er dagegen als ‚Medienmischung‘.59
57 Vgl. Rajewsky 2002: 156. 58 Vgl. Wolf 2002a: 178. 59 Vgl. Wolf 2002a: 172f. u. 181. Wolf bezeichnet auch den Film als Medienmischung aus Bild, Text und Musik (vgl. Rajewsky: „Medienkombination“ [2002: 19]). Damit entwickelt er eine an-
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Vereinfacht wird Rajewskys Modell dagegen, wiederum im Abgleich mit Wolf, im Bereich der ‚intermedialen Bezüge‘. Dort arbeitet Wolf durchweg mit der Unterteilung in die bereits erwähnten Typen ‚intermediale Imitation‘ und ‚intermediale Thematisierung‘. Im Falle einer Thematisierung findet laut Wolf ein expliziter „Verweis auf ein Fremdmedium mit den üblichen Mitteln des eigenen Mediums“ statt, während die Imitation eine implizite „ikonische Nachahmung von Merkmalen mit dominant formalen Mitteln des eigenen Mediums“ darstellt.60 Bei der Thematisierung wird das Fremdmedium demnach auf der Signifikatebene rezipiert, mit den für das Nehmermedium üblichen Mitteln der Referenz. Bei der Imitation ist auch die Signifikantenebene betroffen, es wird also die spezifische Form der Zeichen des anderen Mediums aufgegriffen – mit Auswirkungen auf die Zeichenform des Nehmermediums.61 ‚Ikonisch‘ bedeutet in diesem Zusammenhang Annäherung an die Zeichenform, die semiotischen Prinzipien des Gebermediums, und nicht etwa nur an das Bildzeichen. Wolf ordnet nämlich auch „musikalisierte Malerei“, also letztlich den umgekehrten Fall, der ikonischen Nachahmung zu.62 Ausgestattet mit dieser breit gefassten, aber doch ausreichend feinen Unterscheidung widerspricht Wolf Rajewskys noch darüberliegender Unterteilung von intermedialen Bezügen (bzw. bei ihr ‚intermedialen Referenzen‘) in ‚Systemerwähnung‘ und ‚Systemkontamination‘ und weist darauf hin, dass es sich bei dieser Differenzierung letztlich um graduelle Unterschiede handelt bzw. dass eine tatsächliche „Kontamination“ mit dem Gebermedium eigentlich nicht stattfinden kann.63 Signifikanterweise hat Rajewsky diesen Einwand in einer späteren Publikation explizit akzeptiert und Systemerwähnung und Systemkontamination als Pole ein und derselben Kategorie intermedialer Referenz angesetzt.64
dere Perspektive auf dieses Medium als Paech, der ja von einer fundamentalen Abhängigkeit des Films von der Fotografie und anderen Medien ausgeht (vgl. Paech 2003a: 298). Letztlich sind beide Perspektiven auf das Medium Film zu rechtfertigen. Damit wird die Zuordnung von Film in obigem integrierten Schema zwar zweifelhaft, nicht aber das Schema selbst: Letztlich verbindet der Film die Merkmale der beiden Typen ‚Medienmischung‘ und ‚generische Intermedialität‘. Der Film beruht auf der Fotografie, und er verbindet Bild, Musik und (gesprochenen) Text. Die erste Intermedialität verbirgt er interessanterweise; die zweite stellt er explizit aus. Es gibt aber auch Medien, die nur ‚Medienmischung‘ sind, so dass die Unterscheidung nicht in Frage gestellt wird. 60 Wolf 2002a: 178. 61 Vgl. Wolf 2002a: 176. 62 Wolf 2002a: 175 und dortige Anm. 32. 63 Wolf 2002b: 459. 64 Rajewsky 2004: 45, dort Anm. 38.
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Umgekehrt hat sich allerdings auch Wolf von Rajewsky beeinflussen lassen und deren Unterscheidung in ‚intermediale Einzelreferenz‘ und ‚intermediale Systemreferenz‘ übernommen.65 Beide rechtfertigen diese Differenzierung mit Verweis auf eine ähnliche im Bereich der Intertextualität: In dem von Ulrich Broich und Manfred Pfister herausgegebenen Sammelband zur Intertextualität werden Referenzen auf Einzeltexte von Referenzen auf „Gruppen von Texten“, etwa Gattungen (eben ‚Systeme‘) unterschieden.66 Meiner Ansicht nach kann diese Unterscheidung auf den Bereich der Intermedialität nicht so einfach übertragen werden. Eine Systemreferenz müsste dort ja analog die Bezugnahme auf eine Art ‚Gattung‘ innerhalb des anderen Mediums sein und nicht einfach auf die Kommunikationsstrukturen dieses Mediums insgesamt.67 Letztlich ist diese Unterscheidung also eine, die sich innerhalb eines Mediums abspielt und die Bestimmung eines altermedialen Bezugs nicht wesentlich tangiert. Bezüglich dessen ist nämlich zu fragen, ob eine Unterscheidung in Mikro- und Makroreferenz für die Bestimmung des Bezugs eines Mediums auf fremde Medien überhaupt sinnvoll ist. Anders gefragt: Kann eine intermediale Referenz, will sie sich auf das fremde Medium in seiner Medialität beziehen, überhaupt eine reine ‚Einzelreferenz‘ vornehmen bzw. muss umgekehrt nicht jede behauptete Einzelreferenz eher eine Referenz auf fremdmediale ‚Gesamt‘-Strukturen anhand eines bestimmten Beispiels sein, um überhaupt intermedial sein zu können?68 In der hier unternommenen Integration folge ich daher Wolfs Grundschema von 2002 und nicht der komplizierteren Ausarbeitung von 2006. Das bedeutet auch, dass ich die weitere Unterteilung intermedialer Imitation, die Wolf 2006 ebenfalls von Rajewsky aufgenommen hat, nicht übernehme. Eine weitere Verzweigung der untersten ‚Äste‘ der hier vorgestellten integrierten Typologie ist ja in jedem Fall möglich, ohne dass diese dadurch in Frage gestellt würde. Viel wichtiger ist die grundsätzliche
65 Wolf 2005: 254. 66 Broich/Pfister 1985: 53. 67 In einer späteren Systematisierung von Intermedialität (Wolf 2005) spricht Wolf bei der intermedialen Systemreferenz sogar von einem Bezug auf ein „heteromedial genre“ (254), ohne diesen komplexen Terminus aber weiter zu bestimmen. Auch Rajewsky berücksichtigt diesen Fall, geht von dort aber zu ‚intermedialer Systemreferenz‘ als einer „Bezugnahme auf ein mediales System als solches“ (Rajewsky 2002: 205) über, was ich für schwierig halte. 68 Vgl. dazu die Bemerkung in Broich/Pfister 1985, dass „[b]ei der Analyse der Intertextualität eines Textes [...] Einzeltext- und Systemreferenz zwar als grundsätzlich voneinander trennbare Phänomene anzusehen, trotzdem aber ihr Zusammenwirken bei der Konstitution des Textes deutlich zu machen“ seien (52). Eine komplett punktuelle Referenz auf ein fremdmediales ‚Werk‘, der es nicht im geringsten um dessen Kommunikationsstukturen geht, wäre in diesem Sinne dann nicht intermedial.
Intermedialität von (literarischem) Text und Theater
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Rechtfertigung der Integration ‚starker‘ und ‚schwacher‘ Intermedialität. Diese soll jetzt an einem Beispiel einer Intermedialität, die sich über das gesamte hier vorgeschlagene integrative Schema erstreckt, endgültig vorgenommen werden.
istorischer ‚Fall‘: Die Intermedialität von literarischem Text und Theater 1.3.2 H um 1800 Im Falle der Intermedialität von literarischem Text und Theater wird eine Rekurrenz sowohl auf ‚starke‘ als auch auf ‚schwache‘ Formen der Intermedialität vor allem dann nötig, wenn man ihren historischen Verlauf ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Zu diesem Zeitpunkt nämlich wurde die Aufführung von Dramen an den britischen Theatern so stark reguliert, dass sich die Theaterszene zunehmend alternative Theaterformen schuf. Sprechdramen wurden auf dem Theater aus verschiedenen Gründen schwerer aufführbar; die pragmatische Intermedialität zwischen Drama und Theater wurde deutlich geschwächt. Die Hintergründe dieser Schwächung werden in Kapitel 2.1 in den Vordergrund treten und sich als historischer Ausgangspunkt der vorliegenden Studie erweisen. Für den Moment genügt es, darauf hinzuweisen, dass Theater und Literatur bei ihre intermedialen Verbindung die Akzente verschieben können. Die literarische Intermedialität von Theater kann sich zunehmend in anderen, ‚schwachen‘ Intermedialitätsformen als der starken Drama-Theater-Pragmatik abspielen und dabei logischerweise auch andere Textsorten als das Drama einbeziehen. Literarische Theater kann verstärkt vom literarischen Text allein hergestellt werden. Die pragmatische, ‚starke‘ Intermedialität von Text und Theater ist geschwächt; ‚schwache‘, rein textuelle Formen der Text-Theater-Intermedialität werden gestärkt. An dieser Stelle ist also eine historisch bedingte Akzentverschiebung von starker zu schwacher Intermedialität zu verzeichnen, die mit Paech-Rajewskyschen Separationsbemühungen nicht mehr zu beschreiben wäre: Literarisches Theater besteht zunehmend aus Formen, die vielleicht danach trachten, den literarischen Text soweit als möglich ins Theater zu entgrenzen, die Grenze des eigenen Mediums aber doch nicht hinter sich lassen können. Eine starke Intermedialität verschiebt sich zugunsten vermeintlich schwächerer Formen, die aber ‚starke‘ Wirkung haben und sowohl das Text- als auch das Bühnenmedium provozieren und modifizieren können. Diese potentielle Stärke schwacher Intermedialität ignoriert Paech komplett. Die Formen der Intermedialität, zu denen das literarische Theater in der Romantik findet, sind aber tatsächlich qualitativ anders als der starke Zusammenhang von Drama und Theater: Die Schwächung der Dramenaufführung stärkt das textuelle Moment des literarischen Theaters und schwächt zugleich das Drama als ‚selbstverständliche‘ literarische Form des
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Systematische Vorüberlegungen
Theaters, so dass sich das literarische Theater über das Drama hinaus auch auf andere Textsorten ausdehnt. Die vorliegende Studie wird dabei zeigen, dass es gerade innovative textuelle Zusammenhänge, etwa neue (Unter-)Gattungen wie das autobiograpische Epos und der historische Roman, sind, in denen nun literarisches Theater stattfindet. Literarisches Theater besteht in diesem Stadium zunehmend aus jenen Formen intermedialer Bezüge, die die Theoretiker der schwachen Intermedialität, Irina Rajewsky und Werner Wolf, in ihren Systemen als zentrale Interessengebiete ansetzen, also Thematisierungen und Imitationen des Theaters in einzelnen Werken der Literatur bzw. in einem literarischen (Sub-)Genre durch einen einzelnen Autor. Die Arbeit der Literatur am Theater ist nicht mehr selbstverständlich, also ‚dramatisch‘, und damit fundamental-pragmatisch, sondern wird auch über spezifisch dafür ‚zugerichtete‘ Einzelwerke fortgesetzt. Die Schwächung der fundamental-pragmatischen Intermedialität zwischen Drama und Theater bedeutet eine Stärkung der intermedialen Bezüge zwischen Literatur und Theater in Textsorten außerhalb des Dramas. Unterschieden werden muss bei diesen intermedialen Bezügen zwischen solchen, die sich auf der Inhaltsebene der Texte abspielen und solchen, die auch die textuelle Verfahrens- bzw. Vermittlungsebene tangieren. Erstere sind (inhaltliche) Thematisierungen, letztere ästhetische Imitationen des Theaters im literarischen Text. Schon intermediale Thematisierungen, also solche, die von den Gesetzmäßigkeiten des Gebermediums entbunden sind und nur denjenigen des Nehmermediums gehorchen, können im Falle der Intermedialität von Text und Theater durchaus eine beträchtliche intermediale ‚Stärke‘ entfalten. Literarische Texte etwa können auf der Inhaltsebene nicht nur jede ‚vorstellbare‘ Form des Theaters thematisieren; sie können sie dabei mit ihren eigenen – allerdings per se nicht theaterhaften – Mitteln ja auch umsetzen, liefern also keine verkürzte, sondern eine (im Rahmen der fiktionalen Illusionsbildung) vollständige ‚Aufführung‘ ihrer Theatervision. Setzt sich diese gewissermaßen in den Köpfen der Leser fest, wird sie unter Umständen zu einer Herausforderung an die Bühnenkultur, solche ‚Szenarien‘ mit ihren Mitteln ebenfalls umzusetzen. Wenn die Autoren romantischer Texte zusätzlich versuchten, das inhaltlich thematisierte Theater durch Erweiterung der literarischen Ausdrucksmittel auf der Vermittlungsebene umzusetzen, es also zu imitieren, verstärkte sich diese intermediale Provokation. Die literarischen Entwürfe der Romantiker strebten bisweilen danach, das Theater, das sie konzipierten, zwischen (und mit) den Größen ‚Autor‘, ‚Text‘ und ‚Leser‘ (und eben nicht mehr nur im Text) auch spielen zu lassen.69 Die
69 Wie die Textinterpretationen zeigen werden, bezieht sich diese Charakterisierung vor allem
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Provokation dieser Intermedialität wirkte dann sogar primär in den (romantischen) Texten selbst: Die Imitationen des Theaters nämlich setzten, obwohl sie ebenfalls weitgehend den Gesetzen des Textmediums unterworfen waren, der Medialität dieser Texte dennoch zu und regten Modifikationen und Erweiterungen der literarischen (Text-)Kommunikation an: Die beschriebene ‚theatrale‘ Aufladung des Autor-Text-Leserverhältnisses führte in der Versdichtung Wordsworths schließlich zum Entwurf einer auch im medialen Sinne theatralen Rezeptions- und Bezugsgruppe. Im zweiten Schritt wurde dieses neue Theater dann wieder zu einer Anregung für das andere, das Bühnentheater – dann nämlich, als das modernistische (Bühnen-)Theater daran ging, Wordsworths romantische (Text-)Theater-Vision nun seinerseits aufzugreifen und umzusetzen, wie der Ausblick der vorliegenden Studie skizzieren wird. Im Fall des hier untersuchten Text-Theaters der Romantik haben also gerade schwache Formen der Intermedialität von Text und Theater zur Folge, dass (langfristig) beide Medien sehr wohl radikal befragt und weiterentwickelt werden konnten. Im Mittelpunkt des Interesses der vorliegenden Studie steht die vorausgehende modernisierende Wirkung der schwachen Text-Theater-Intermedialität auf die Literatur. Bezogen auf diese könnte man sagen, dass paradoxerweise gerade die Distanzierung vom Theater die Literatur der Romantik motivierte, sich mit den medialen Mitteln des Theaters aufzuladen. Intermedialität von Literatur und Theater Fundamentale Intermedialität von Drama und Theater (Typus pragmatischer I., Spezialfall interdependenter I.) 'starke' Intermedialität
Intermediale Bezüge von nichtdramatischen literarischen Werken auf das Theater 'schwache' Intermedialität
Intermediale Thematisierung
Intermediale Imitation
Um 1800: Schwächung
Stärkung
Abbildung 2: Formen der Intermedialität zwischen Literatur und Theater auf Wordsworths Versdichtung (vgl. Kapitel 4). Walter Scotts Text-Theater nimmt zwar seinen Ausgangspunkt deutlich von Wordsworth, entfernt sich dann aber ganz bewusst von ihm und zugleich von einer intersubjektiven Einbeziehung des Lesers (vgl. Kapitel 5).
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Systematische Vorüberlegungen
1.4 I ntersubjektivität in den Theaterkonzepten romantischer Texte Im Zentrum dieser romantischen Theatervisionen, die gerade in der textuellen Begrenzung eine gewisse Entlastung von den Mediengrenzen des Theaters erfuhren, steht die Intersubjektivität. In den hier untersuchten Beispielen von Wordsworths (long) poetry und Walter Scotts historischem Roman bemühte sich die romantische Literatur um ein Theater, das in mehrfacher Hinsicht und auf mehreren Ebenen Intersubjektivität umsetzen sollte, als gleichermaßen wissenschaftliche und politische Repräsentationsform des Menschen. Diese intersubjektive Repräsentation wurde auf der Inhaltsebene der Texte ausführlich durchgearbeitet, damit sie ihre Wirkung über die Vermittlungsebene auch auf die Leser haben konnte.70 Wie wir sehen werden, läuft dieser Entwurf aber auf eine paradoxe (oder zumindest antithetische) Medialität hinaus, bei der ein inhaltlich beschworenes ‚null-mediales‘ Theater nur durch eine komplexe Textmedialität realisiert werden konnte. Doch zuvor muss geklärt werden, welches Verständnis von Intersubjektivität – und damit zusammenhängend von Subjektivität – dieser Neubestimmung romantischer Theaterkonzepte und davon ausgehend romantischer Subjektivität zugrunde liegt. Die ausführlichste historisch-systematische Bestimmung des Begriffs ‚Intersubjektivität‘ stammt von Arnim Regenbogen.71 Für Regenbogen ist Intersubjektivität primär „der gemeinsame kognitive Bezug unterschiedlicher Subjekte auf die gleiche Objektwelt“. Eine derartige Ebene müsste nach meinem Dafürhalten allerdings eher ‚Transsubjektivität‘ heißen. ‚Intersubjektivität‘ dagegen sollte – in Analogie von Begriffen wie ‚Interaktion‘ oder auch ‚Intermedialität‘ – ein Moment der wechselseitigen Beeinflussung und Konstitution von Subjekten zum Ausdruck bringen. Allerdings steht Regenbogens Primärdefinition im Einklang mit der philosophischen Tradition, was durch sein Referat im hier zitierten Artikel72 genauso wie andere Übersichtsdarstellungen, etwa
70 Wiederum verhält sich Wordsworths romantische Versdichtung anders als Scotts romantischer Roman. Während Wordsworth poetry darauf hinarbeitet, eine auf der Inhalts- und Vermittlungsebene ähnliche Intersubjektivität herzustellen, also gewissermaßen Intersubjektivität in Theorie und Praxis zu ermöglichen (vgl. Kap. 4 passim), geht Scott von isolierten Einzellesern aus, deren Interaktion mit dem inhaltlichen Theatergeschehen er für prinzipiell nicht voll erfassund steuerbar – und daher für potentiell gefährlich – hält und daher auch nicht weiter konturiert (vgl. Kap. 5 passim). 71 Regenbogen 1990. Der Artikel erschien leicht modifiziert und erweitert ein weiteres Mal als Regenbogen 2010. 72 Vgl. Regenbogen 1990: 709–711 („Theorien der Intersubjektivität“).
Intersubjektivität in den Theaterkonzepten romantischer Texte
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im Historischen Wörterbuch der Philosophie, deutlich wird.73 Erst Regenbogens zweite Begriffsbestimmung von Intersubjektivität als „Feld zwischenmenschlicher Aktionen zwischen Subjekten, die sich in ihrem Handeln wechselseitig aufeinander beziehen“74 kommt meiner Auffassung nahe, steht für Regenbogen allerdings deutlich im Schatten der ersten. Doch auch die ‚interaktive‘ Bestimmung von Intersubjektivität hat ihre Verfechter. So kommt die Auffassung eines konstitutiven Bezugs des Subjekts zu einem (einzelnen, individuierten) anderen vor allem in der Philosophie von Emmanuel Levinas zum Ausdruck, findet sich aber in Ansätzen bereits im Idealismus der deutschen Romantik75 und ist daher in der Literatur der deutschen, aber auch der britischen Romantik beobachtet worden.76 Die Dominantsetzung einer Sekundärdefinition verlangt aber nach einer Rechtfertigung. Es muss letztlich der Nachweis geführt werden, dass zumindest für die untersuchte Epoche die ‚interaktive‘ der ‚transsubjektiven‘ Auffassung von Intersubjektivität vorzuziehen ist. Im vorliegenden Fall ist nicht nur das möglich; es kann darüber hinaus sogar gezeigt werden, dass in der britischen Gesellschaftsphilosophie des 18. Jahrhunderts sowie in der mit ihr verbundenen (Theater-)Ästhetik und literarisch-theatralen Praxis interaktive Intersubjektivität zur Voraussetzung einer transsubjektiven Sphäre wurde, wie sie Regenbogens Primärdefinition beschreibt. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wurde nämlich
73 Vgl. Redaktion Historisches Wörterbuch der Philosophie 1976 sowie Held 1976. 74 Für beide Definitionen: Regenbogen 1990: 708. 75 Vgl. mit zusätzlichem Bezug auf die Literatur der deutschen Romantik Esterhammer 2000a: 196: „For Friedrich Schlegel, Novalis, and Schleiermacher, in particular, an I-you relationship is the paradigm for the mind’s interaction with the external world [...]“. Esterhammer konzentriert sich aber in der Folge vor allem auf sprechakttheoretische bzw. sprechaktheoriegeschichtliche Aspekte. Wie die vorliegende Studie zeigt, können diese Aspekte einerseits auf die britische Romantik übertragen werden, wo sie andererseits aber mit Aspekten intersubjektiver Visualität und v.a. Emotionalität in Zusammenhang gestellt werden müssen. 76 Vgl. zur Erarbeitung eines mit meinem Intersubjektivitätsbegriff verwandten Modells der romantischen Intersubjektivität Kinnaird 1977 und Yousef 1999. Kinnaird arbeitet aus den poetologischen Überlegungen von William Hazlitt ein intersubjektives Modell von Lyrik bzw. des lyrischen Ichs heraus, bezieht es aber auschließlich auf die poetische Praxis von John Keats, wobei er die Versdichtung William Wordsworths explizit (13) und, wie sich zeigen wird, fälschlicherweise (vgl. Kap. 4 passim) ausnimmt. Yousef interpretiert das Subjektmodell in einem Reisebericht von Mary Wollstonecraft als implizit – und intensiv – intersubjektiv. Im Interesse ihrer Profilierung weiblicher romantischer Subjektmodelle als antikanonisch und antipatriarchalisch lässt sie aber alle ähnlichen Projekte männlicher Romantiker, etwa von Wordsworth, unerwähnt. Romantische Intersubjektivität ist für sie ein weibliches und feministisches Projekt.
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Systematische Vorüberlegungen
von einer face-to-face-Interaktion zwischen zwei Einzelsubjekten her gedacht.77 Wie meine Analyse von Adam Smiths sozialphilosophischem Schlüsselwerk The Theory of Moral Sentiments in Kapitel 2.2.1.1 zeigen wird, bestimmt dieser die ethisch-moralische und letztlich auch politische Zusammengehörigkeit der Gesellschaft von der wechselseitige Beobachtung und Beeinflussung eines „spectator“ und einer „person principally concerned“.78 Bezogen auf Regenbogens Erschließung von Intersubjektivität kann daher konstatiert werden, dass zumindest in der britischen Philosophie die Sekundärdefinition von Intersubjektivität als „Feld zwischenmenschlicher Aktionen zwischen Subjekten“ nicht nur der Primärbestimmung eines „gemeinsame[n] kognitive[n] Bezug[s] unterschiedlicher Subjekte auf die gleiche Objektwelt“, sondern sogar der von Regenbogen in der Folge angeführten Dritt- und Viertdefinition zugrundeliegt, nämlich der eines „transsubjektiven“ „Personideals“ einerseits sowie eines „Kriterium[s], nach dem die zwischen mehreren Subjekten geteilten Ansichten [...] koordiniert werden können“ andererseits.79 Für Adam Smith erwächst aus der paarweisen Intersubjektivität nämlich einerseits der gesellschaftliche Zusammenhalt und andererseits die Instanz eines „impartial spectator“, eines ‚Personideals‘ mithin, das die Gültigkeit transsubjektiver Ansichten und Normen verbürgt. Für das romantische Theater ist dieses Umschwenken von gegenseitiger Beobachtung zu Selbstbeobachtung eher problematisch, wie wir sehen werden.80 Aus philosophischer Perspektive aber stellt es eindeutig die Fundierung von transsubjektiver Intersubjektivität auf ‚interaktiver‘ Intersubjektivität dar. Aus dieser Perspektive muss der philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung des Intersubjektivitätsbegriffs in der deutschsprachigen Tradition vorgehalten werden, dass sie die Moralphilosophie der britischen Aufklärung schlicht zu wenig berücksichtigt.81 Britische romantische Intersubjektivität ruht demnach auf sozialphilosophischen und davon ausgehend theatertheoretischen Überlegungen auf. Daher bezieht sie auch körperliche und emotionale Elemente ein: Die interagierenden Subjekte nehmen sich körperlich wahr und beeinflussen einander gefühlsmäßig.
77 Vgl. zum Begriff einer ‚romantischen Interaktion‘ mit Bezug auf AutorInnen wie Wollstonecraft, William Wordsworth, Dorothy Wordsworth und Lord Byron, allerdings ohne Bezug zum romantischen Theater(diskurs), auch Wolfson 2010. 78 Smith 1976: 21. 79 Regenbogen 1990: 708. 80 Vgl. 2.2.1.3. 81 Für die angloamerikanische Tradition kann ein vergleichbarer Nachweis nicht geführt werden, da es keine historisch-systematischen Erkundungen des Begriffs der intersubjectivity, etwa in den einschlägigen Philosophie-Lexika, gibt.
Intersubjektivität in den Theaterkonzepten romantischer Texte
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Mit der wechselseitigen ‚Erkenntnis‘, die durchaus auch (human)wissenschaftlichen Anspruch hat, ist eine reziproke Anmutung verknüpft, die der Erzeugung eines politischen Gemeinschaftsgefühls genauso wie der sozialen Eingliederung der Individuen in diese Gemeinschaft dient. Bei Smith sind all diese Aspekte nur angelegt. Es ist die romantische Literatur, die, wie anhand exemplarischer Textanalysen gezeigt werden soll, der Intersubjektivität dieses wissenschaftliche, politische und soziale Potential zu erarbeiten trachtet. Schon jetzt zeigt sich aber, dass vorliegende literaturwissenschaftliche Interaktionsmodelle wie etwa das Dialogizitätsmodell von Michail Bachtin zu sehr auf abstrakt-ideologischen und vor allem verbalen Austausch abheben, um die in den romantischen Texten anvisierten Prozesse (ursprünglich) körperlicher Interaktion adäquat zu erfassen.82 Aus diesen Gründen muss das Modell romantischer Intersubjektivität aus Sozialphilosophie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts sowie den romantischen literarischen Texten selbst erarbeitet werden. Mit dem so gewonnenen Modell kann dann umgekehrt aber auch die bestehende Forschung zu Interaktionsprozessen in der romantischen Literatur, die vor allem in der Forschung zu Wordsworth über Überlegungen Michail Bachtins nicht hinausgeht, weiterentwickelt werden.83 Regenbogen bleibt gegenüber dem von mir favorisierten Intersubjektivitätskonzept streng. Zwar konzediert er, dass Intersubjektivität im interaktiven Sinne „in den letzten Jahren [...] häufiger gebraucht“ werde, „zumeist aber“, so mahnt er im selben Atemzug, „ohne Klärung der Frage, welches Konzept von Subjektivität der gemeinten intersubjektiven Beziehung zugrundeliegt“.84 Diese Ermah-
82 Bachtin sieht Dialogizität als Strukturprinzip des Romans und dabei vor allem als Prinzip der Interaktion von ‚Stimmen‘: „The novel as a whole is a phenomenon multiform in style and variform in speech and voice“ (Bachtin 1981, 261, meine Hervorhebung). Diese Formulierung zeigt bereits, dass Bachtin von eher körperlosen, identitär und politisch interessierten bzw. verfassten Sprechern und nicht wie die romantische Literatur von sowohl mentalen als auch körperlichen (blickenden oder fühlenden) Subjekten ausgeht. Vgl. zur Erkundung von Dialogizität vor allem, aber nicht nur bei Michail Bachtin den von Renate Lachmann herausgegebenen Sammelband Lachmann 1982. 83 Meine Interpretationen der Lyrical Ballads, des Prelude und der Excursion setzen jeweils bei dialogischen Lesarten dieser Texte an, etwa Bialostosky 1991 bzw. Nichols 1998 bzw. Bushell 2002, überwinden diese aber auf ein in den Texten erarbeitetes physio-psychisches sowie epistemisches und politisches Intersubjektivitätsmodell. 84 Regenbogen 1990: 708. Interessanterweise ist dieser kritische Passus in Regenbogen 2010 getilgt, was darauf hindeutet, dass Regenbogen für die zwei Jahrzehnte zwischen 1990 und 2010 einen weiteren Bedeutungszuwachs ‚interaktionistischer‘ Intersubjektivitätskonzepte verzeichnet und akzeptiert. Ein bemerkenswertes Detail in diesem Zusammenhang ist die Umarbeitung folgender Annahme, die dem intersubjektiven Weltverständnis zugerechnet wird, nämlich dass
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Systematische Vorüberlegungen
nung ist ernst zu nehmen. Zwar kann der Begriff der Subjektivität im vorliegende Zusammenhang keinesfalls in seiner systematischen Breite und historischen Tiefe gewürdigt werden.85 Gleichwohl sollen zwei Eckpunkte von Subjektivität in den Blick kommen, da sich auch die Verwendung dieses Konzepts in der romantischen Literatur auf diese bezieht. Das Subjekt ist in den untersuchten literarischen Texten und den ihnen zugrundeliegenden zeitgenössischen Theorien sowohl aktiver Handlungs- und politischer Meinungsträger als auch durch Aussteuerungsprozesse generierter und modifizierter Ort passiver Erfahrung, in den Worten Donald E. Halls steht es in einer „tension between choice and illusion, between imposed definitions and individual interrogations of them“.86 Hall spricht hier allerdings nicht vom romantischen Subjekt, sondern unternimmt eine Bestimmung der beiden Pole literatur- und kulturwissenschaftlicher Thematisierung von Subjektivität ab etwa 1960: Das Subjekt als Ort der Illusion bzw. Aussteuerung und Unterwerfung hat die kulturwissenschaftlich relevante Subjekttheorie der letzten Jahrzehnte von Althussers Konzept der ‚Interpellation‘ über Foucaults ‚Funktion des Diskurses‘ bis hin zur Dekonstruktion (‚Subjekt als Text‘) bestimmt.87 Im Gegensatz dazu ist das aktive Subjekt zum einen genau jenes liberal humanist subject, das diese Theorie so heftig attackierte; zum anderen konzipiert Hall mit dem Begriff der „individual interrogation“ aber auch ein ‚theoretisch‘ akzeptiertes Aufbrechen ‚unterworfener‘ Subjektivität durch das Subjekt als ein politisch und identitär aktives Individuum. Diese Debatte kann hier wiederum nicht aufgearbeitet werden, zumal es ja darum geht, die den hier
der Mensch „sich primär nicht durch Sozialität, sondern unter der Voraussetzung der Selbstisolation des jeweiligen eigenen Subjekts durch dessen eigene Selbstbeziehung definiert“ (1990: 709). 2010 ist daraus folgende Formulierung geworden: „[...] nicht durch Sozialität, sondern durch aktiv gestaltete Beziehungen zwischen ursprünglich unabhängigen Subjekten definiert“ (1153; Hervorhebung im Original). Unterstellt Regenbogen demnach 1990 dem Begriff der Intersubjektivität noch eine (bisweilen unreflektierte) Subjekt-Zentriertheit, scheint es, als sei Regenbogen im Laufe der beiden Jahrzehnte allmählich zu einem Verständnis von Intersubjektivität gelangt, in dem das komplexe und teilweise paradoxe Modell einer gegenseitigen Konstitution auch als unabhängig denkbarer Subjekte, wie es auch die vorliegende Studie ansetzt und aus der (Vor-)Romantik rekonstruiert, im Zentrum steht. 85 Die Literatur zur Subjektivität in der Philosophie ist unübersehbar. Für die literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeit an und mit dem Begriff aber liegt in der Reihe Routledge New Critical Idiom eine Kurzmonographie vor, die einen guten und zugleich aktuellen Überblick über die Begriffsgeschichte und literarisch-kulturelle Verwendung des Konzepts bietet und den angloamerikanischen Raum miteinbezieht (Hall 1994; vgl. auch Aczel 1998). Einen stärker auf den deutschsprachigen Raum bezogenen Überblick bietet Frank/Raulet/van Reijen 1988. 86 Hall 1994: 2. 87 Vgl. dazu Aczel 1998.
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analysierten literarischen Texten zugrundeliegende zeitgenössische Theoriebildung zu Wort kommen zu lassen. Wichtig ist allerdings, dass auch die Romantik schon beide Pole kannte. Die sozialphilosophische Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts setzte das (Zuschauer-)Subjekt vor allem als ein auszusteuerndes bzw. zu programmierendes an.88 Die Ausdrucksästhetik hingegen sah es als ein aktives, sich selbst entwerfendes bzw. repräsentierendes (Akteur-)Subjekt. Für die romantischen Theater- und die ihnen zugrunde liegenden Subjektmodelle interessierte sich wiederum die romantische Literatur und mit ihr das vorliegende Projekt – für das Subjekt in seinem Doppelsinn als Handlungs- und Erkenntnisträger einerseits und als ‚Unterworfener‘ (subject) andererseits. Folgerichtig bezieht sich auch das in den Texten erarbeitete Konzept der Intersubjektivität auf beide Pole von Subjektivität und wird gerade dadurch als Modell ‚gegenseitiger‘ Subjektivität ermöglicht: Subjekte sind füreinander abwechselnd (ausgesteuerte) Zuschauer und aussteuernde Akteure, passive und aktive Subjekte. Subjektivität wird zu einem beständigen Prozess des Changierens zwischen zwei beteiligten Subjekten, aber auch bei jedem einzelnen der beiden zwischen Zuschauen und Handeln, zwischen Aktivität und Passivität – wobei tendenziell letztere auf erstere hin überwunden werden soll. Insgesamt wird sich daher zeigen, dass der Schritt von Subjektivität zu Intersubjektivität für ein Verständnis der Romantik unverzichtbar ist. Das Modell der Intersubjektivität hat die Romantik, wie wir in den Textinterpretationen durchgängig sehen werden, stark beeinflusst und wurde bei den untersuchten Autoren zum Ausgangspunkt bzw. zur Ermöglichungsbedingung romantischer Subjektivität. Ein Grund dafür ist, dass die Fundierung von Subjektivität in einem Prozess der Gegenseitigkeit erfolgreich die Subjekt-/Objektproblematik löste: Hierbei stellte sich die Romantik nämlich die Frage nach der Verfügbarkeit von Subjektivität, für das Subjekt selbst wie für andere. Die Problematik wurde so virulent, dass sie als Teil einer fundamentalen Repräsentationskrise89 beschrieben werden kann, die sich bis hinein in paradoxe Theaterkonzepte fortpflanzte.90 Die Selbstbeobachtung des Subjekts bei seinem eigenen Handeln erwies sich nämlich als unmöglich, da jedes Beobachten eine weitere zu beobachtende Handlung darstellte. Intersubjektivität ist daher, wie wir sehen werden, auch eine Antwort auf die Subjekt-/Objektproblematik des 18. und 19. Jahrhunderts, weil sie dem (jeweiligen) Subjekt den Objektstatus erspart, indem sie diesen auf ein Gegenüber projiziert: Indem das eine Subjekt sich im anderen wahrnehmen kann, wird
88 Vgl. 2.2.1.2. 89 Vgl. 2.2.3. 90 Vgl. 2.2.1.3.
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der andere zur Objektivierung der eigenen Subjektivität und umgekehrt. Intersubjektivität ist ein Prozess der wechselseitigen Projektion zwischen zwei Subjekten. Diese Fundierung einer stabilen Kategorie bzw. eines stabilen Phänomens auf einem Prozess, der zwischen zwei Subjekten und innerhalb ihrer zwischen Handeln und Erleben – also doppelt – changiert, erwies sich allerdings auch als doppelt problematisch: Romantische Intersubjektivität hatte zum einen nämlich diejenigen Subjekte, die sie eigentlich produzieren sollte, bereits zur Voraussetzung. Letztlich wurde das Paradox der endlos verschobenen Selbstbeobachtung auf einer komplexeren Ebene weitergeführt: Der andere, der mich mir selbst verfügbar machen soll, braucht, um mir diesen Dienst zu erweisen, ‚bereits vorher‘ mich. (Inter-)Subjektivität wurde zu einem infiniten ‚Hin und Her‘, dessen Ergebnis sowie dessen kategorialer Ausgangspunkt nie ‚feststanden‘. Zum zweiten warf die Verschiebung des Objektstatus auf einen offenen Prozess der Intersubjektivität Fragen der Medialisierung auf, die uns zum vorherigen Abschnitt dieses Theoriekapitels zurückführen. Die Romantik setzte ihre Intersubjektivität als einen fließenden Austausch zwischen zwei Zuschauer-Akteuren an. Damit implizierte sie aber ein Theater, das die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum sowie zwischen Schauspieler und Zuschauer aufgab und damit zugleich Bühne und (professionelle Rollen-)Schauspieler abschaffte: In einer Theatervision Rousseaus, die uns noch eingehend beschäftigen wird, stehen die Bürger Genfs auf einer ebenen Fläche, sind einander zugleich Schauspieler und Zuschauer und spielen, in der berühmtem Formulierung Rousseaus, nichts außer sich selbst.91 Das Theater hat in dieser Konzeption seine im vorherigen Abschnitt erkundete Medialität weitgehend verloren. ‚Eingefangen‘ werden konnte dieses freie Theater dann aber, wie wir sehen werden, in literarischen Texten. Das bedeutet zum einen, dass es sich von der aufgegebenen Bühne zum anderen Medium des literarischen Textes wandte, also nur intermedial bestehen konnte; zum anderen aber wählte es gerade ein situationsabstraktes, kommunikativ in nur eine Richtung verlaufendes und damit besonders interaktions- bzw. intersubjektivitätsfeindliches Medium. Anstelle einer medienlosen musste die Romantik also ausgerechnet eine textuelle Intersubjektivität erarbeiten und aus der unendlich offenen eine gewissermaßen unendlich festgeschriebene Intersubjektivität machen. Intersubjektivität wurde im romantischen Text-Theater beschrieben bzw. beschworen; aufgrund der einsinnigen Ausrichtung textueller Kommunikation konnte sie sich zwischen den an dieser Kommunikation beteiligten Subjekten aber niemals wirklich bzw. nachweisbar einstellen. Das romantische Text-Theater wird zum doppelt paradoxen
91 Rousseau 1759 : 172. Vgl. von 2.2.2.4 ausgehend die vorliegende Studie passim.
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Raum romantischer Intersubjektivität: Der materiell ungebundene intersubjektive Austausch findet ausgerechnet in einem Medium seinen Platz, dessen Kommunikationssituationen einerseits, nämlich ‚inhaltlich‘, völlig abgeschlossen sein müssen und welches andererseits eine völlig offene und unabsehbare Zahl von Kommunikationssituationen generiert, an denen konstitutiv nurmehr ein (Leser-)Subjekt beteiligt ist. Wir sind hier an der Kehrseite romantischer Text-Theater-Intermedialität angelangt: Die Unterwerfung des Theaters unter die Gesetze des Fremdmediums Text hat für beide Medien eben nicht nur provozierendes und damit potentiell progressives Potential, sondern führt auch dazu, dass beiden Medien die spezifische materiell-institutionelle Bedingtheit ihrer Kommunikationsakte schmerzlich bewusst wird. Ein Theater, das ohne Medium sein wollte, geriet in einen Text, der dadurch selbst zum Theater werden wollte. Aber auch aus dieser Perspektive, die anstelle des ‚Ermöglichenden‘ das Paradoxe und Unmögliche romantischer Text-Theater-Intermedialität in den Blick nimmt, wird deutlich, wie ‚stark‘ solche Intermedialität für beide Medien sein kann, selbst wenn sie aus ‚schwachen‘ Thematisierungen und Imitationen innerhalb nur eines Mediums besteht.
2 H istorische Voraussetzungen: Theaterkultur und Theaterkonzepte um 1800 2.1 B ritisches Theater um 1800: Szenen einer gestörten Ehe zwischen Drama und Theater Wenn David Worrall in einem kürzlich erschienen Buch zum britischen Theater um 1800 schreibt, dass „Romantic period writing for the stage was formed on [the] twin templates of censorship and the burletta“1, dann ist das ebenso präzise wie erklärungsbedürftig. Tatsächlich ist, wie auch andere neuere Forschung zur britischen Bühnenkultur der Zeit deutlich macht, die Bühne des 18. Jahrhunderts zutiefst, geradezu konstitutiv, geprägt von der Theatergesetzgebung.2 Der Einfluss der Legislative geht dem Theater dabei buchstäblich ins Mark seiner Medialität, nämlich bis hin zum gesprochenen Wort und den dargebotenen visuellen Formen. Ältere Forschung ist diesem traurigen Umstand einer Medienprägung durch Kontrolle und Zensur vielleicht auch gerade deswegen aus dem Weg gegangen, da er so umfassend ist, dass er jeglichen Gedanken vom Theater als einer freien menschlichen Ausdruckssphäre problematisiert.3 Was sind Gründe und Folgen einer derart peniblen Kontrolle des Theaters? Die in dieser Studie untersuchten Autoren publizierten ihre ersten Texte im Jahrzehnt nach dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789, einer von diesem Ereignis zutiefst und europaweit geprägten Zeit. Man könnte meinen, dass die Zensur im Zuge der bedrohlichen Ereignisse in Frankreich eingeführt wurde, um eine ähnliche Entwicklung in Großbritannien zu verhindern. Tatsächlich wurde die Zensur in den 1790er Jahren vielleicht besonders sorgfältig angewandt; ihre größte theatergeschichtliche Wirkung hatte sie zu diesem Zeitpunkt aber längst entfaltet – und zwar vor allem in den Jahrzehnten vor 1790. Im Theatre Act von 1737 wurde ein königliches Lizensierungsverfahren für Theaterhäuser, das Charles II ursprünglich durchgeführt hatte, um das puritanische Theaterverbot aufzuheben, zu einem restriktiven Privileg umgedeutet. Ausdrücklich nur den von Charles seinerzeit lizensierten Häusern Drury Lane und
1 Worrall 2006: 19. 2 Vgl. neben Worrall 2006 auch Moody 2000 und Taylor 2000. 3 Völlig ignoriert wird die Theatergesetzgebung etwa in Donohue 1970 oder Richardson 1988. Beide Studien untersuchen zwar auf innovative Weise die Beschäftigung des Theaters um 1800 mit dem Problem der Subjektivität, können sie aufgrund ihres Ausblendens (bühnen)materieller Realitäten aber nicht voll kontextualisieren.
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Covent Garden in London wurde das Recht zugebilligt, Dramen aufzuführen; ‚Aufführung‘ wurde juristisch als auf der Bühne gesprochenes Wort definiert. Hintergrund war der Versuch von Premierminister Hugh Walpole, die politisch aktive und regierungskritische Theaterszene, die in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts gerade in kleineren, neu gegründeten Häusern in London entstanden war, zu unterbinden.4 Dem Gesetz lag daher die sehr bedenkliche Intention zugrunde, Theaterspiel außerhalb von Covent Garden und Drury Lane unmöglich zu machen und diese beiden Bühnen selbst – durch Vorzensur der auf ihnen aufgeführten Werke – penibel zu kontrollieren. Sie wurden mit einem erblichen Patent versehen, das es ihnen ermöglichte, legitim Dramen aufzuführen, also legitimate theatre zu betreiben und sich „Theatres Royal“ zu nennen. In der Folge wurde der Titel auch auf all jene Theater außerhalb Londons ausgedehnt, die andere Teile Großbritannien mit dem ihnen zustehenden, aber ebenso stark reglementierten Theater versorgen sollten, etwa in Bath, Bristol oder im schottischen Edinburgh. Ausgangspunkt der Patentierung und zentraler Fixpunkt der britischen Theaterkultur – zumindest im Bereich des legitimen Theaters – blieben aber die beiden lizensierten Londoner Häuser. Glücklicherweise konnte diese Gesetzgebung die gewünschte Wirkung einer Unterdrückung unregulierten Theaters nicht erzielen – im Gegenteil bot sie Schlupflöcher, die nicht nur von bestehenden kleineren Bühnen genutzt wurden, sondern sogar dazu führten, dass neue Theater eröffnet wurden. Was war geschehen? Die Regulierung wurde schlicht kreativ interpretiert, nämlich nicht bezüglich dessen, was sie verbot, sondern, was sie ermöglichte: alle Bühnengeschehen, bei denen nicht gesprochen wurde. Die kleineren und neuen Theater beschränkten sich also auf Arten der Darbietung, bei denen gesungen, getanzt, gefochten, Pantomime aufgeführt oder auch geschriebenes Wort gezeigt, aber eben nicht rezitiert wurde. Die britische Justiz sah sich durch diese Finte geschlagen: Ein Verbot jeglichen Bühnengeschehens scheint nicht praktikabel gewesen zu sein, und so musste sie das Treiben zähneknirschend erst einmal akzeptieren. Im Jahre 1752 verfiel man auf den Gedanken, das Lizenzierungsverfahren auch auf diese neuen Häuser auszuweiten, sofern sie sich im Großraum London befanden – und beging damit einen weiteren Fehler. Sadler’s Wells, eine traditionelle Unterhaltungsbühne im heutigen Londoner Distrikt Clerkenwell (damals ein ländlicher Bereich außerhalb der Stadt), musste sich als erstes dem ausgeweiteten Patentierungsverfahren unterwerfen – und erhielt dabei den offiziellen Segen eines ‚illegitimate theatre‘. Andere Häuser folgten, darunter Neugründungen wie das
4 Vgl. Trussler 1994: 162–173.
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Amphitheatre in den 1770er Jahren oder das Surrey Theatre 1782.5 Londons Theaterszene bekam plötzlich rege Konkurrenz und das von Häusern, die ein Publikum anzogen, das sonst nicht ins Theater ging, weil es zu Dramen – und zu Literatur allgemein – keinen Bezug hatte, wohl aber zu Bühnengeschehen, die eher textfern waren und auf akustisch-visuelle Konkretheit jenseits des gesprochenen Wortes bauten. Im Gefolge entstanden dann gewissermaßen ‚offizielle‘ Gattungen illegitimen Theaters, vor allem die burletta und das melodrama. Die burletta, ursprünglich eine satirische Auseinandersetzung mit der italienischen Oper als Zwischenspiel während Sprechtheateraufführungen, wurde zu einem abendfüllenden Format, das Musik, Gesang, Tanz und Pantomime umfasste, also vom energischen Bestreben geprägt war, alle Darbietungsformen außer dem gesprochenen Wort zu mobilisieren.6 Das Melodrama präsentierte sich ebenso als opernnahes Musiktheater, in dem zwar nicht durchweg (und vor allem nicht im Belcanto) gesungen wurde, das allerdings stark stilisiert und rhythmisiert war und von Orchesterklängen begleitet wurde.7 Daneben war das Melodrama emotionaler, kontrastreicher und ‚tragischer‘ als die burletta, die eher in Komödiennähe stand. Die beiden Genres stellten also ‚illegitime‘ Alternativen zu den traditionellen und in diesem Fall ‚legitimen‘ Dramenformen dar, zugleich waren sie aber auch juristische Bezeichnungen – vor allem die burletta –, durch die festgelegt werden sollte, wann ein Bühnengeschehen aufhörte, Sprechtheater zu sein. Denn obwohl sich das generelle Theaterverbot als umgehbar erwiesen hatte, wurde die Grenze zwischen Sprechtheater und sonstigem Bühnengeschehen rigoros und flächendeckend überwacht, sowohl staatlich als auch durch die patentierten Theater selbst, und ihre Übertretung mit drakonischen Geldstrafen belegt.8 Obwohl die Betreiber kleinerer Häuser immer wieder Protest gegen diese Trennung laut werden ließen, erwies sich offener Widerstand gegen sie als zwecklos, wie etwa im Falle des 1787 eröffneten Royalty Theatre, dessen provokativ an die legitimen Theatres Royal angelehnte Name Programm war, Sprechdrama ohne Lizenz aufzuführen, und das mit allen juristischen Mitteln niedergekämpft wurde.9 Gegen die Zensur als zweite staatliche Kontrollmaßnahme wurde weniger protestiert.10 Dies mag überraschend sein, erhält aber eine Erklärung vor dem
5 Vgl. Moody 2004: 200. 6 Moody 2004: 203. 7 Moody 2004: 212f. 8 Worrall 2006: 39–41. 9 Worrall 2006: 69–102. 10 Worrall 2006: 48.
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Hintergrund der Tatsache, dass das Aufführungsverbot von Sprechtheater zwar landesweit kontrolliert wurde, die Zensur aber praktisch nur diese Form des Theaters betraf. Die Textkontrolle machte ja logischerweise nur Sinn an Orten, an denen es überhaupt etwas, nämlich Dramen, zu zensieren geben durfte, also den beiden patentierten Theatern. Später wurde sie dann auf alle Bühnenunterhaltung in Westminster sowie einen 20-Meilen-Radius darum ausgedehnt.11 In der Realität blieben aber die Spielvorlagen der Unterhaltungstheater weitgehend unbeobachtet12; eine Ausnahme bildete nur das Olympic Theatre, das in unmittelbarer Nähe zu den beiden lizensierten Häusern lag und daher vom Auge des Gesetzes gewissermaßen mitüberwacht wurde.13 Insgesamt zeigt sich hier wieder einmal die Schwäche der britischen Theatergesetzgebung, die nicht nur offiziell inoffizielle Formen schuf, sondern diese auch noch offiziell von der Zensur ausnehmen musste. Man könnte allerdings auch von ausgleichender (Un-)Gerechtigkeit sprechen, was auch das beredte Ausbleiben von Protest gegen die Zensur erklären würde: Covent Garden und Drury Lane hatte zwar ein SprechtheaterMonopol, zugleich aber auch das zweifelhafte Privileg, alle ihre Textvorlagen dem Zensor vorlegen zu müssen. Oder umgekehrt betrachtet: Auf den meisten britischen Bühnen der Zeit (sprich: außerhalb der beiden patentierten Häuser) durfte man fast alles, solange man nicht sprach bzw. sich nicht dabei erwischen ließ, dass man sprach. Die Patentierung erwies sich somit als doppelte Begrenzung des Dramas und zugleich als doppelte Beförderung nichtdramatischer, populärer Theaterformen. Diese erschlossen dem Theater völlig neue Publikumssegmente, die die patentierten Häuser ihrerseits abschöpfen wollten, indem sie sich auf ihre Stärke besannen: Was die Größe anging, hatten diese Theater immer die Nase vorn; beide erweiterten ihre Kapazität bis 1790 auf jeweils um die 3000 Plätze. Allerdings unterwarfen diese Vergrößerung und die dadurch anfallenden Kosten sie der Notwendigkeit der Auslastung und damit einer intensiven Annäherung an den Geschmack des neuen Publikums. Zudem vergrößerten sich auch die illegitimen Häuser laufend, so dass ein regelrechter Wettlauf entstand, der Covent Garden und Drury Lane oft an den Rande des Ruins trieb.14 Der Verbreitung theatertechnischer Innovationen, vor allem im Bereich der Bühnenbeleuchtung, kam diese Konkurrenz aber zugute. Dem wachsenden Bedürfnis nach mehr Licht wurde zunächst durch geschickt positionierte zusätz-
11 Worrall 2006: 37f. 12 Moody 2004: 202. 13 Worrall 2006: 46. 14 Moody 2004: 207.
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liche Kerzen oder Öllampen und ab dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts dann durch Gaslicht einerseits und Kalklicht andererseits Rechnung getragen. Derartige Neuerungen verbreiteten sich in Großbritannien außerordentlich schnell, da sie oft von den ‚populären‘ Häusern zuerst eingeführt wurden, wie etwa das Gaslicht am Olympic Theatre im Jahre 1815, und die legitimen Theater sodann schleunigst nachzogen.15 Auch medial gesehen rückten die beiden Theaterformen immer enger zusammen: Die zunehmende Größe, die von den legitimen Häusern ausging, forderte einen Theaterstil, der über die Beobachtung von Charakteren und deren sprachlicher Äußerungen hinausging, da die Schauspieler schlicht nicht mehr überall im Theater zu sehen und zu hören waren. Und dieser drastisch-konkretere visuelle (und akustische) Stil ließ sich in der immer brillanter und abwechslungsreicher werdenden Ausleuchtung, der von den Unterhaltungsbühnen stammte, umso besser umsetzen. Zusammengenommen führten diese Faktoren gewissermaßen zu einem illegitimen Primat im britischen Theater um 1800, der nicht nur die dargebotenen Geschehen und ihre Vorlagen, sondern auch den visuell-akutischen Stil der Darbietung betraf. An diesem illegitimen Primat orientierten sich allmählich auch die patentierten Häuser, was bedeutet, dass sie selbst Burlettas und Melodramen zur Aufführung brachten bzw. Burletta- und Melodrama-Elemente in die Inszenierung ihrer (Sprech-)Dramen integrierten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Berücksichtigung der ‚illegitimen‘ Formensprache auch im (privilegierten) Drama: Schon die Dramentexte selbst sahen in den von ihnen entworfenen Geschehen Lieder, Tänze, Kämpfe u.ä. sowie drastische visuell-akustische Verdichtungen vor und rückten vom Primat des Sprachlichen der Dramentradition ab. Dazu kam, dass viele englischsprachige Dramen dieser Zeit Übersetzungen oder Bearbeitungen kontinentaler Vorlagen waren, etwa deutscher Sturm-und-Drang-Dramen wie Schillers Die Räuber oder Goethes Götz von Berlichingen, die ihrerseits, zumindest in den Augen ihrer Bearbeiter, einen solchen Stil nahelegten. Kommerziellere Dramatiker auf dem Kontinent, wie August von Kotzebue, arbeiteten ohnehin bewusst mit Mitteln des Unterhaltungstheater. Denn auch in anderen europäischen Ländern war zu dieser Zeit eine populäre Theaterkultur entstanden; nur in Großbritannien allerdings konnte sie als illegitimate theatre aus den genannten Gründen eine derartige Vorherrschaft erringen. Vor diesem Hintergrund verwischte die Unterscheidung zwischen legitimem und illegitimem Theater zu einer eher äußerlich-räumlichen Abgrenzung zweier Bühnen vom Rest der britischen Theaterwelt. Denn obwohl weiterhin offiziell nur
15 Vgl. „Lighting“ in Hartnoll 1972: 306f.
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in Drury Lane und Covent Garden Dramen gegeben werden durften, stürzten sich die minor houses begierig auf den Bestand an neuen Schauer- und Liebesdramen und führte diese einfach im Burletta- oder Melodrama-Stil auf. Die mangelnde Überwachung dieser Häuser führte bisweilen sogar dazu, dass neue Dramen, die vom Zensor zurückgewiesen wurden, im nichtzensierten Bereich des illegitimate theatre ihre Premiere hatten16, wenn auch anzunehmenderweise in einer weitgehend gesungenen und in Elemente körperlicher Handlung aufgelösten Form. Paradoxerweise mussten nämlich die patentierten Häuser auch die Textvorlagen für illegitime Theaterformen wie Melodrama und Burletta, für die sie sich verstärkt interessierten, zur Zensur vorlegen.17 An kleineren Häusern blieben zusammen mit den Aufführungen ja auch die Textsubstrate weitgehend unbeobachtet, so dass diese immense Vorteile gegenüber den patentierten Häusern hatten. Wenn man jetzt noch hinzunimmt, dass die minor houses in ihrer Verborgenheit vor den Augen des Zensors das Sprechverbot sukzessive aufweichten und abbauten, kommt man kaum umhin, das legitimate theatre der Zeit letztlich als eine benachteiligte, gegängelte Form des illegitimate theatre zu sehen.18 Die aus dem illegitimen Theater stammenden Formen wie Burletta, Melodrama oder auch Pantomime19 wurden zu den prägenden neuen Theaterforme(l)n des Zeitalters. Natürlich wurden auch weiterhin neue Dramen geschrieben und auch aufgeführt.20 Dieses Textkorpus hat als ‚vergessene‘ romantische Literatur in den vergangenen Jahrzehnten, ausgehend von einer klassischen Darstellung legitimer Sprechdramen der 1790er Jahre von Joseph Donohue21, verstärktes
16 Moody 2004: 202. 17 Worrall 2006: 37f. 18 „The history of the patent theatres during the late Georgian period is a history of debt, bankruptcy and cultural ignominy“ resümiert Moody (Moody 2004: 207). Andererseits muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass die berühmtesten Schauspieler der Zeit, Sarah Siddons, John Kemble und Charles Kean, an den patentierten Häusern wirkten. Schauspielkunst und Schauspielerkult waren also weiterhin an die Möglichkeit gebunden, auf der Bühne zu sprechen; umgekehrt bedeutet der Umstand, dass diese Schauspieler wie Stars behandelt wurden, um deretwillen man ins Theater ging, eine weitere Annäherung des hochkulturellen an das populäre Theater. 19 Die Pantomime hatte den Vorteil, dass sie als traditionell sprachlose Form des Theaters überhaupt kein Textsubstrat nötig hatte und damit auch in den patentierten Häusern unbeobachtet gegeben werden konnte, was sie zu einem beliebten Element dortiger Theateraufführungen werden ließ (vgl. Worrall 2006: 27). 20 Dies geschah allerdings vor dem Hintergrund eines sehr statischen kanonischen Repertoires, das bereits in den 1790er Jahren die uns als ‚große britische Dramatiker‘ geläufigen Namen wie Shakespeare und die Restoration comedians enthielt (vgl. Donohue 1975: 84–87). 21 Donohue 1975: 87–104.
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Forschungsinteresse gefunden.22 Diese Darstellungen zeigen jedoch – bei allen faszinierenden Themen und Motiven, die sie herausarbeiten – vor allem eines: Das legitime Drama unseres Untersuchungszeitraums war in mehrfacher Hinsicht deutlich auf den zeitgenössischen theaterkulturellen Kontext bezogen, um nicht zu sagen, an diesen angepasst. Einerseits mussten sich diese Dramen, wie geschildert, am Publikumsgeschmack und damit den vorherrschenden illegitimen Formen orientieren, wobei diese Anpassung von der Aufnahme einzelner illegitimer Motive und Effekte, wie etwa in Richard Sheridans Tragödie Pizarro von 179923, bis hin zur kompletten Adaption illegitimen Theaters reichte, was, wie geschildert, die Unterscheidung zwischen legitimate und illegitimate theatre an solchen Punkten unmöglich machte. Das Genre des Gothic drama, mit dem sich das dritte Kapitel dieser Studie im Zusammenhang mit den frühen Dramen von Wordsworth und Scott beschäftigt, ist eine zentrale Dramengattung dieser Zeit und zeigt das typische Changieren zwischen legitimen und illegitimen Theater. Zum zweiten darf nicht vergessen werden, dass das Sprechdrama aufgrund der Theatergesetzgebung die einzige Form von Literatur war, die zu dieser Zeit zensiert wurde. Wer – in mehrfacher Hinsicht – bedenkliche Theaterkonzepte und Theaterinhalte diskutieren und realisieren wollte, tat dies weitaus unbehelligter und freier in Versdichtung oder Prosa.24 Aus dieser Perspektive muss man konstatieren, dass die traditionelle Form der Zusammenarbeit zwischen Literatur und Theater erschwert und zugleich alternative Formen literarischen Theaters wie das in dieser Studie untersuchten Text-Theater indirekt geradezu gefördert wurden.
22 Etwa Backschneider 1993, Watkins 1993, Carlson 1994, Purinton 1994, Burroughs 2000, Bolton 2001, Moody/O’Quinn 2007 und Burwick 2009. Eine wichtige Theaterautorin dieser Zeit ist die in 2.2.1.2 thematisierte Joanna Baillie. Baillie schrieb nicht nur eine ganze Reihe von Dramen, von denen einige, aber längst nicht alle, auch aufgeführt wurden, sondern beeinflusste auch den romantischen Literaturbegriff, allen voran in Wordsworths „Preface“, mit ihren theatertheoretischen Überlegungen zutiefst. Es spricht allerdings wiederum für die Literarizität des romantischen Theaters insgesamt, dass Baillie einerseits mit den Aufführungen nicht zufrieden war und sich umgekehrt als literarische Autorin nie voll etablieren konnte, gerade auch im bedauernden Urteil einiger Zeitgenossen. Baillie blieb mit ihren Theater in gewisser – und unglücklicher – Weise zwischen den Medien Text und Bühne. 23 Vgl. Donohue 1975, 103f. 24 Texte wurden in Großbritannien um 1800 so gut wie nicht zensiert: Das bedeutet sogar, dass zurückgewiesene Dramen samt ihrer beanstandeten Stellen ohne weiteres als Texte publiziert werden durften. In ihrem Fall, wie im romantischen Text-Theater allgemein, wurde Lesen damit zur Ersatzaufführung.
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Zudem fällt in den hier beschriebenen Zeitraum die Entstehung eines ‚starken‘ Literaturbegriffs25, der die Herausbildung eines alternativen, rein textuellen literarischen Theaters auch von dieser Seite her vorantrieb. Es ist eine der Ausgangsthesen der vorliegenden Arbeit, dass die Problematisierung des Dramas in der Theaterkultur um 1800 mit zur Entstehung ‚romantischer Literatur‘ beitrug, und dass diese Kultur sich in einigem Abstand von staatlich überwachten Texten einerseits und ungebremst kommerziellen Kulturformen andererseits aufstellte und sich selbst als eine Art Wiederholung des kulturellen Geschehens – und damit auch des Theaters – in einem neugeschaffenen, freieren bzw. freigeräumten Bereich, nämlich demjenigen des literarischen Schreibens, ansetzte. Wie bereits erwähnt legten auch William Wordsworth und Walter Scott in den späten 1790er Jahren jeweils Dramen zur Begutachtung an den beiden patentierten Häusern vor, bei denen es sich um ihre bis dahin ambitioniertesten Werke handelte. Im dritten Kapitel wird sich zeigen, dass diese Dramen versuchten, die Zusammenarbeit von Theater und Literatur unter Einbeziehung neuer Theaterkonzepte fortzusetzen bzw. wieder aufzunehmen. Die Zurückweisung der beiden Dramen durch die patentierten Theater (und nicht etwa erst durch die Zensur) erscheint in diesem Licht dann als Urszene eines romantischen Theaters, das seine Erfüllung im literarischen Text – und als literarischer Text – fand. Umgekehrt ist ‚romantische Literatur‘, zumindest in ihren Ursprüngen, (auch) als eine bergende Verschiebung des literarischen Theaters in den Freiraum einer emergenten Schreibweise zu sehen. Unter diesen Voraussetzungen ergibt es sich, dass sich in der Romantik das Theater als Text, sprich: das Text-Theater, auch in anderen Textsorten als dem Drama ereignete. Da die Literatur die Konstitution der Bühne und die Organisation der Aufführungen dieses Theaters weitgehend aus sich selbst heraus vornehmen musste, war die Gattung des Dramas für dieses Projekt eher weniger geeignet: Aus systematischer Perspektive trägt das Genre aufgrund seiner pragmatischen Ausrichtung auf eine projektierte Bühneninszenierung hin den konstitutiven Mangel, (scheinbar) noch Theater zu brauchen, um vollständig zu
25 Wie ihn etwa William Wordsworth in seinem erweiterten „Preface“ zu den Lyrical Ballads von 1800 am Konzept der poetry profiliert, nämlich als allgemeingültiges, diskursverbindendes und gerade bühnenfernes Dichten, das in seinem Fall gleichwohl ein alternatives Theater konturiert und implementiert (vgl. 3.1 und 4.1.1). Wordsworths Strategie steht dabei im Kontext der Entwicklung und Vermarktung einer hochkulturellen ‚English Literature‘ gegen Ende des 18. Jahrhunderts (vgl. etwa Sikin 1988 und 1998). ‚Romantische Literatur‘ ist demnach kein Begriff historisch nachgeordneter wertender Zuschreibung, sondern ein zeitgenössisch entstandener Diskurs, der sich selbst als unabhängige und dezidiert nicht populärliterarische bzw. populärdramatische Schreibweise inszenierte.
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sein. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Wordsworth und Scott zur Fortsetzung ihres Theaters nicht weiterhin Dramen schrieben, sondern eigene literarische Schreibweisen schufen, die dem neuen Theater nicht nur ‚Dramen‘, sondern auch deren ‚Aufführung‘ waren. Ende der 1810er Jahre wandte sich die ‚romantische Literatur‘ dem Drama und damit dem Versuch, literarisches Theater zusammen mit der Bühnenkultur der Zeit zu unternehmen, wieder zu. Percy Bysshe Shelley, John Keats und Lord Byron schrieben ab etwa 1820 literarische Theatertexte, die wieder zur Aufführung an den patentierten Häusern bestimmt waren. Als äußerer Grund für diese Rückkehr der Romantik zur Bühne ist vor allem der Schauspieler Edmund Kean zu sehen, der ab 1814 in Drury Lane Furore machte.26 Kean stand für einen in mehrfacher Hinsicht subjektiven Schauspielstil, der nicht nur in radikalen Eigenheiten, sondern auch in einer von den Zeitgenossen konstatierten Fähigkeit zur Durchdringung dramatischer Charaktere und zur Darstellung ihres ‚Inneren‘ bestand. Das Interesse der vorliegenden Studie gilt dem Interregnum von den frühen, in den 1790er Jahren entstandenen Texten junger Autoren der emergenten ‚Romantik‘27 bis zur Rückkehr zum Drama ab 1820.28 In dieser Zeit entwickelte sich eine Form der Literatur, die sich ganz vom Drama abwandte, gerade um (literarisches) Theater zu betreiben. Wordsworth und Scott erarbeiteten ihr Text-Theater nicht nur in Anknüpfung an die Tradition des literarischen Dramas. Vielmehr griffen sie auch Theaterkonzepte auf, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts, ebenfalls in zunehmendem Abstand von der tatsächlichen Bühnenkultur, entwickelt hatten. Diesen Konzepten und ihren Theateridealen soll im nächsten Abschnitt nachgespürt werden. Da sich die romantische Literatur tendenziell als die Realisierung dieser Ideale verstand, bilden sie einen zentralen ästhetischen oder besser ausgedrückt: medientheoretischen Hintergrund des romantischen Literaturprojekts. Diese Konzepte nehmen insgesamt ein Theater des Menschen vorweg, das sich ab den 1790er Jahren in den literarischen Texten junger Autoren verwirklichte.
26 Es handelt sich hierbei inbesondere um Shelleys Tragödie The Cenci von 1819, die neben Kean auch eine Rolle für die Sarah Siddons vorsah, um Keats’ Otho the Great aus demselben Jahr sowie um Byrons Sardanapalus (1820) (Moody 2000: 231–241). 27 Wordsworth gehört im Verhältnis zu Shelley, Keats und Byron einer früheren Romantikgeneration an. Auch Walter Scott, der bisweilen der späteren Generation zugerechnet wird, war bereits in den 1790er Jahren schriftstellerisch aktiv. 28 Der späteste in dieser Studie analysierte Text, Walter Scotts Roman Woodstock, stammt von 1826.
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2.2 Diskursive Theaterkonzepte des 18. Jahrhunderts 2.2.1 Das Theater der Aussteuerung und Repräsentation des Menschen 2.2.1.1 The Theory of Moral Sentiments: Theater des Sozialen „[A]nstelle einer fehlenden Gesellschaftstheorie [steht] im 18. Jahrhundert schlicht Theater“29 schreibt Joseph Vogl bündig im Zuge seiner Analyse von Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (1759). So nachvollziehbar diese Schlussfolgerung ist, ganz richtig ist sie nicht, hat Vogl sich doch gerade seitenlang mit einem der zentralen aufklärerischen Erklärungsmodelle gesellschaftlicher Bindungen beschäftigt. Korrekter wäre es zu sagen, dass die Gesellschaftstheorie des 18. Jahrhunderts die Gesellschaft als ein Theater modelliert, wobei die theoretischen Grundvoraussetzungen dafür in der Sympathielehre liegen. Die Theorie des Mitgefühls avanciert im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem zentralen Erklärungsmodell für gesellschaftliche Bindungen (bzw. ihr Fehlen), wie es vor allem die zahlreichen Gelehrten der seit der Union von 1707 aufstrebenden schottischen Universitäten in Edinburgh, Glasgow und Aberdeen erarbeiten wollten. Hintergrund ihres Bestrebens, menschliche Gesellschaftlichkeit erklären und damit auch implementieren zu können, war neben den schottisch-englischen Auseinandersetzungen vor der Vereinigung vor allem der britische Bürgerkrieg und das Commonwealth-Interregnum im Jahrhundert zuvor, die erst 1688 in der Inthronisierung von William III und der Flucht des Vorgängers James II wirklich überwunden worden waren. Der Schock einer militärischen Auseinandersetzung innerhalb der Gesellschaft, die gar die Hinrichtung ihres Souveräns beinhaltet hatte, saß tief, und so war es britischen Gelehrten spätestens seit Thomas Hobbes’ schon in der Revolutionszeit entstandenem Leviathan ein Anliegen, zu klären, was die menschliche Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Während Hobbes’ Theorie aber noch den pessimistischen Geist der Cromwellschen Militärdiktatur atmete und menschliche Gesellschaft als vertragliche Übertragung des Gewaltmonopols an den Souverän durch die von der zwischenmenschlichen Gewalt erschöpfte Urgruppe theoretisierte, war die Gesellschaftstheorie nach der Lösung der innerbritischen Konflikte durch die Glorious Revolution und die Union weitaus optimistischer. Nun ging es eher darum, soziale, kulturelle und ökonomische Bindungen zwischen den Menschen als umfassendes und freiwilliges Zivilisierungsgeschehen zu konzeptualisieren, nicht zuletzt da sich mit der Stärkung des Parlaments nach der Glorious Revolution in Großbritannien die Mittelschicht als eine politisch einflussreiche sowie kulturell und wirtschaftlich
29 Vogl 2002: 95.
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aktive Gesellschaftsgruppe entwickeln konnte. Die schottische Aufklärung theoretisierte also den Zusammenhalt eines „polite und commercial people“30, wobei die Theorie durchaus auch als besorgter Versuch anzusehen ist, den Zusammenhalt so weit verständlich zu machen, dass die Leser ihn auch gegen eventuelle Anfechtungen aufrechterhalten könnten. Hauptwerk dieser Theorie und zentraler Ausdruck dieser Sorge ist im 18. Jahrhundert Adam Smiths bereits erwähnte Theory of Moral Sentiments. Während Vorgänger wie Frances Hutcheson für das Gute und Gesellschaftliche im Menschen noch einen ethisch-moralischen „sense“ im Sinne eines Wahrnehmungsorgans (an)setzen mussten31, vermeidet Smith es bewusst, das einfach zu postulieren, was er beweisen will. Ihm geht es vielmehr darum, das Sittliche und das Soziale – und in seinem Hauptwerk The Wealth of Nations (1776) dann auch das Wirtschaftliche – des Menschen aus dessen physisch-psychischer Grundkonstitution zu erklären, wie sie etwa David Humes berühmtes Treatise of Human Nature, das 1739 und 1740 veröffentlicht worden war, systematisiert hatte. Daher setzt er als Grundlage menschlicher (Sozial-)Ethik alleine den letztlich biologisch beweisbaren gegenseitigen Gefühlsbezug der Menschen an, um sich von dort in logischen Schritten bis zur zivilisiert-merkantilen Gesellschaft vorzuarbeiten. Anders als seine Vorgänger, etwa Lord Kames, die Sympathie und Sentiment oftmals recht bedingungslos haben fließen sehen, setzt Smith in seiner Theorie mehrere Stufen der Überformung an, bis man vom Gefühl zur Ethik gelangt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Beobachten menschlichen Leids durch einen anderen Menschen, welches natürlich, ein Gemeinplatz in Zeiten der Empfindsamkeit, Mitgefühl weckt. Dann aber setzt ein komplizierter Überarbeitungsprozess ein, den Smith in einem Theatermodell auffängt. Schon die Entstehung der „sympathy“ selbst beruht auf dem Vorstellungsakt des Beobachters eines Leidenden „acting under [the] eyes [of the spectator]“32. Smith betont sogleich die notwendige Tiefe dieser Versenkung, um sowohl die Intensität des Mitgefühls als auch seine Grenzen aufzuzeigen: the spectator must, first of all, endeavour, as much as he can, to put himself in the situation of the other, and to bring home to himself every little circumstance of distress which can possibly occur to the sufferer. [...] After all this, however, the emotions of the spectator will still be very apt to fall short of the violence of what is felt by the sufferer.33
30 Vgl. Langford 1989. 31 Vgl. Bate 1945: 146. 32 Smith 1976: 22. 33 Smith 1976: 21.
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Das Mitleid mit beobachtetem Leid hat seine Grenzen, die vor allem in der geistigseelischen Eigenständigkeit des Zuschauers liegen, der nicht umhin kann, alles, was er – oder sie – beobachtet, zu verarbeiten und dabei gewissermaßen mit sich selbst auszumachen. Und da er selbst nicht in der Leidenssituation des Beobachteten ist, hat er auch keine Möglichkeit, im selben Grad mitzuleiden. Smith folgt hier der für die britische Philosophie typischen Verbindung von „intuitionalism“ mit „empiricism“34, also von Gefühls- mit Erkenntnistheorie. Im Sinne dieser Verknüpfung beruht denn auch Smith zufolge jede moralische Regung, die sich aus beobachtetem Leid ergibt, auf einem sittlichen Urteil, im Zuge dessen der Beobachter die Berechtigung des Gefühlsausdrucks und die Richtigkeit des Handelns, das sich vor ihm ergibt, bewertet, bevor er Mitleid zulässt oder auch nicht. Der gesellschaftliche Mensch ist (wie) ein Theaterbesucher, der sich auf das Geschehen imaginativ einlässt, wenn ihm das Stück gefällt. Natürlich unterscheidet auch Smith und mit ihm die schottische Aufklärung zwischen sittlichem und ästhetischem Urteil, allerdings, wie noch zu zeigen ist, ganz anders als Immanuel Kant am Ende des Jahrhunderts. Für Smith wie für seine theatertheoretischen Zeitgenossen ist das Theater nämlich der Ort, an dem Mitgefühl hervorgerufen und damit eingeübt werden kann, so dass Urteile im Theater und auf der Straße letztlich vergleichbar sind bzw. sein sollten. Aber auch aus der Sicht des beobachteten Leidenden ist die Gesellschaft ein Theater. Smith fährt in der bereits zitierten Stelle fort: As [the spectators] are continually placing themselves in [the sufferer’s] situation [...] so he is constantly placing himself in theirs, and thence conceiving some degree of that coolness about his own fortune with which he is sensible that they will view it. [...] As their sympathy makes them look at it, in some measure, with his eyes, so his sympathy makes him look at it, in some measure, with theirs, especially when in their presence and acting under their observation.35
Der Leidende erkennt sich hier als Schauspieler und entdeckt zugleich die Begrenzung des Mitgefühls für ihn, wird also zum Zuschauer seiner Beobachter. Deren (sensu stricto) relativen Gefühlskälte folgt er bis zu einem gewissen Grad selbst, so dass sich das ursprüngliche Ungleichgewicht der Gefühle wieder ausgleicht und sich die Sympathie, auf der laut Smith die „harmony of society“ aufruht, im strengen, fast physikalischen Sinne einstellen kann.36 Auf die letztlich anti-
34 Bate 1945: 151f. 35 Smith 1976: 22. 36 Zum Bezug der Sympathielehre auf physikalisch-chemische Ausgleichsszenarien, wie sie die zeitgenössische Naturwissenschaft untersuchte, vgl Koschorke 1999 und 2003: 101–111.
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sentimentalistische Pointe dieser Theorie, die das Glück der Gesellschaft ganz in der emotionalen Ausgeglichenheit ihrer Mitglieder sieht, wird noch einzugehen sein. Für das gesellschaftliche Theater ist es an dieser Stelle wichtig, dass beide Seiten ihre Positionen tauschen und der Schauspieler zum Beobachter und der bisherige Zuschauer zum Akteur wird, dessen Gefühlsausdruck beobachtet wird. Smiths sozialethische ‚Theatertheorie‘ ist dabei letztlich umfangreicher als die aufklärerischen Theatertheorien im engeren Sinne, umfasst sie doch Zuschauer- und Schauspielerposition und verbindet dadurch Wirkungs- mit Ausdrucksästhetik, im Gegensatz zu den gängigen Theatermodellen der Zeit. Diese stellen meist einen der beiden Ansätze in den Vordergrund und beschreiben, wie wir noch vertiefen werden, das Theater entweder hauptsächlich von den Reaktionen des Zuschauers oder der Darstellungsleistung des Schauspielers her. Dennoch – oder gerade deswegen – wird, wie in der Folge zu zeigen ist, Smiths Theatermodell zu einer Herausforderung sowohl für die Theatertheorie als auch die Theaterkultur seiner Zeit. Es ist sein Gedanke einer Verbindung von Zuschauer und Akteur in den einzelnen am Theater beteiligten Individuen, sein Changieren zwischen den beiden Positionen, der das Theater für den Rest des 18. Jahrhunderts beschäftigen, in seiner Realisierung aber unmöglich bleiben wird. Allerdings hatte die Sympathielehre auch schon auf die beiden Bereiche in ihrer ‚klassischen‘ Trennung einen Einfluss, der nachhaltig und anspruchsvoll genug war, um das Verhältnis von Theatertheorie zur Theaterkultur stark zu irritieren. Im folgenden Abschnitt soll es zunächst um die zuschauerbezogene Seite der Theatertheorie des 18. Jahrhunderts gehen. Durchweg allerdings gilt es zu zeigen, dass Philosophie, Ästhetik und Literatur im 18. Jahrhundert Theaterkonzepte entwickelten, die die Bühnenkultur der Zeit nicht umsetzen konnte – und wollte. Im Großbritannien dieser Zeit kam es demnach zu einer fundamentalen Scheidung von Theatertheorie und Theaterkultur, die zur Folge hatte, dass erstere zum anderen Medium des literarischen Texts wechseln musste, wo sie zur Grundlage einer neuen, romantischen Poetik wurde.37
37 Die Scheidung wird auch darin deutlich, dass die Theatertheorie der schottischen Aufklärung meist von Dramenkonzepten ausging, diese aber in den Kontext von Theateraufführungen (und nicht etwa Lektüresituationen) setzte, die es in der Bühnenwirklichkeit so gut wie nicht geben konnte. Ihre Dramenästhetik ist visionäre Theatertheorie und nicht etwa eine praxisorientierte Gattungspoetik.
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2.2.1.2 S ympathetische Wirkungsästhetik als Theorie der Aussteuerung des Subjekts Die britische Ästhetik des 18. Jahrhunderts war von den Grundlagenwerken Adam Smiths und David Humes nachhaltig beeinflusst, was allein schon daran lag, dass sie zum großen Teil ebenfalls aus dem Kontext der schottischen Aufklärung stammte. In diesem Kontext wurde das Theater als Labor von Gefühlen und den von ihnen gestifteten sozialen Bindungen dimensioniert, wobei viele Theoretiker die emotionalisierende und sozialisierende Wirkung auf den Zuschauer interessierte, mithin eine Wirkungsästhetik des Theaters erarbeitet wurde. Diese zerfällt in zwei unterschiedliche Lager, die auf unterschiedlichen Prämissen beruhen: Einige Theoretiker gehen davon aus, dass das Theater die gesellschaftlich ohnehin stark fließende Sympathie in Reinform zum Ausdruck bringt bzw. in ordnende Bahnen lenkt. Obwohl sie sich auf das Konzept der Sympathie und damit direkt oder indirekt auf Smith beziehen, weichen sie mit dem Gedanken, es müsse künstlerisch eingedämmt werden, was in der (gesellschaftlichen) Realität im Überfluss vorhanden ist, von Smiths Glauben an eine emotionale Selbstbeschränkung der sozialen Subjekte deutlich ab. Smiths Überzeugung hingegen folgt vor allem eine Stimme in der britischen Theatertheorie des 18. Jahrhunderts, nämlich diejenige Joanna Baillies. Aus dem Modell einer in der Gesellschaft eher gehemmten Sympathie zieht sie die logischen Konsequenzen für das Theater: Das Theater dämpft und regelt den Fluss des Mitgefühls nicht; es ermöglicht allererst das Beobachten mitleiderregender Gefühle. Der Ausgangspunkt einer Konzeption menschlicher ‚Gefühlsbündel‘ ist David Humes berühmt-berüchtigte Kritik an der Nachweis- und Objektivierbarkeit des menschlichen Geistes. Dieser ist, so Hume, nur eine sich situativ verändernde Ansammlung von Sinneseindrücken, Vorstellungen und Gefühlen.38 Wenn Hume zudem „sympathy“ als Grundlage jeglichen moralischen Gefühls ansetzt39, konzeptualisiert er menschliche Subjekte als offene Systeme einer beständigen Produktion und eines beständigen Austausches von Sinneseindrücken, die je nach Perspektive als innerlich produzierte Gefühle oder als von außen empfangene Reize erscheinen können, wobei eine kategorische Trennung nicht möglich ist. Anders als bei Smith ‚maßregeln‘ sich die Menschen also nicht durch distanzierte Fremd- und Selbstbeobachtung im sozialen Austausch. Die Sicherung sozialen Zusammenhalts muss vielmehr durch externe, objektive Regelungsmechanismen
38 Hume 1985: 257. 39 Vgl. Bate 1945: 146 und Marshall 1986: 168.
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erfolgen, in einem Kultivierungsprozess40, der ganze Gesellschaften wie ihre einzelnen Mitglieder umfasst. Zu deren Regulatoren gehören für Hume neben den institutionalisierten bzw. ritualisierten Regeln der Gesellschaft auch ‚weiche‘ Faktoren „wie Geselligkeit, Konversation, politeness und Kunst“41, wobei letztere als informelle Verhaltensformen Hume zufolge wirkungsvoller sind als die erstgenannten normativen Formalia. Unter ihnen kommt der Kunst eine besondere Bedeutung zu, da sie nicht nur auf ihrer formalen Seite kultiviertes Verhalten ermöglicht – als Lektüre, Kunstbetrachtung und Theaterbesuche –, sondern dieses Verhalten auf ihrer Inhaltsseite auch thematisiert und damit zugleich speichert und gewissermaßen verdoppelt. Die am ausführlichsten von Hume analysierte Kunstform ist das Theater. Dessen Kultivierungsleistung besteht, so Hume in seinem Essay „Of Tragedy“ von 1756, vor allem in der Milderung und Veredelung von Leidensbeobachtung von einem unangenehmen zu einem angenehmen – und damit potentiell sozial produktiveren – Gefühl: The affection, rousing the mind, excites a large stock of spirit and vehemence; which is all transformed into pleasure by the force of the prevailing movement [d.h. ästhetischer Überformung]. It is thus the fiction of tragedy softens the passion [...]42
Die Tragödie transformiert durch ihre ästhetischen Verfahren, allen voran das der kunstvollen Imitation, die zwischen den Menschen reichlich vorhandenen, aber ungeregelten und damit nicht kultivierenden Gefühle des Mit-Leids in das Zusammengehörigkeit und Bindung erzeugende Gefühl der Freude. Geradezu zum Kunstprogramm ausgebaut werden solche wirkungsästhetischen, ‚regelungspoetischen‘ Überlegungen in Lord Kames’ Werk, allen voran seinen Elements of Criticism von 1762. Ins Zentrum seiner Ästhetik setzt Kames ebenfalls das Theater, das er stärker noch als Hume als Medium mit spezifischen Kommunikationsformen und damit Aussteuerungsmöglichkeiten begreift. Ausgangspunkt von Kames künstlerischem Medienprogramm und Rechtfertigung seiner „Elemente der (Kunst-)Kritik“ ist eine Einordnung der Kunst in philosophisch-anthropologische Grundproblematiken in der Einleitung zu seinem umfangreichen Werk. Kames sieht die Künste als zentral für menschliche Belange, da sie sich auf diejenigen Sinne, nämlich Gesicht und Gehör, beziehen, die für ihn einen „middle ground“43 zwischen rein geistigen Prozessen und
40 Vgl. Glaubitz 2003: 51–60. 41 Glaubitz 2003: 56f. 42 Hume 1996: 129. 43 Kames 1762: Bd. 1, 3.
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den stark auf den Körper bezogenen Sinnen Geruch, Geschmack und Tastsinn darstellen. Damit verweisen die Kunst-Sinne den Menschen von seiner körperlichen Ausgangsnatur auf sein geistig-seelisches Potential, aus dem seine zivilisatorisch-moralischen Fähigkeiten – und in einem weiteren Schritt: Aufgaben – erwachsen. Die Künste werden so einerseits zum Ort der Selbstversicherung körperlich-geistigen Mensch-Seins und anderseits zum Übungsplatz für die zivilisatorischen Aktivitäten, in denen ‚Menschlichkeit‘ gipfelt.44 Kames fundiert hier – maßgeblich für das 18. Jahrhundert – ‚Geschmack‘ (taste) für Kunst als Ausdruck und Übung umfassender Humanität. Obwohl den Künsten damit eine sublimierend-vergeistigende Grundfunktion zukommt, besteht Kames darauf, dass sie den Körper nicht verdrängen oder exorzieren, sondern eine goldene Mitte zwischen Körper und Geist, ungeregelt spontanen Gefühlen und basal-körperlichen Instinkten einerseits und reflektierten Urteilen und intellektuellen Vorgängen andererseits einnehmen. Die Künste werden damit zu ‚Medien‘ im Wortsinn, Vermittlern zwischen der unhintergehbaren Er- und Verarbeitung der Welt im mentalen Raum des Menschen und der ebenso notwendigen körperlichen Ausrichtung auf die Welt, um Reize von ihr zu empfangen und Signale auszusenden. Vor diesem Hintergrund theoretisiert Kames die Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen ganz allgemein, wobei er den Körper als zentralen Ausdrucksträger menschlicher Gefühle ansetzt.45 Der Körper, so Kames, formuliert Gefühle sowohl absichtlich als auch unabsichtlich, er bringt demnach Gefühlszustände durch überlegte, formelhafte Gesten genauso zum Ausdruck wie er spontanes Entsetzen, Freude etc. sichtbar machen kann. Kames hält beiderlei Zeichen für kunstfähig, aber auch kunstbedürftig: Beide müssen sie durch das Studium ihres künstlerischen Ausdrucks an ihr zivilisatorisches Potential erinnert werden; aber sie sind auch gleichberechtigte und gleichermaßen würdige ‚Sprachen‘ der Kunst. In diesem Zusammenhang kommt Kames zuletzt – und am ausführlichsten – auf menschliches Leid zu sprechen: „distress painted on the countenance [of a sufferer] instantaneously inspires the spectator with pity, and impels him to afford relief“.46 Der Gedanke, dass Leiden unmittelbar zu Mitleid und Mitleid unmittelbar zu Hilfe führe, ist ein sehr optimistischer – Adam Smith hat an derselben Stelle seiner Sympathielehre mit der notwendigen Versenkung in den anderen und dem abzuwägenden Mitgefühl bereits zwei massive Vorbehalte
44 Kames 1762: Bd. 1, 6. 45 Kames 1762: Bd. 2, 116–148. Das Kapitel trägt den Titel „External Signs of Emotions and Passions“. 46 Kames 1765: Bd. 1, 440; vgl. Marshall 1986: 169.
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eingebaut.47 Aber auch Kames bleibt hier nicht bei sentimentaler Direktheit. Im Rahmen seiner ästhetischen Medienphilosophie ist es gerade die Kunstform der Tragödie, die den Zusammenhang von körperlich ausgedrücktem Leid und MitGefühl nicht nur stiftet, sondern diese Verbindung den Zuschauern zu ihrem (höchst humanen) Vergnügen auch klar macht und ihm damit seine ethischen Fähigkeiten eröffnet. In einer Fußnote, die Kames ab der dritten Ausgabe der Elements eingefügt hat und die aus einer gut ein Jahrzehnt zuvor veröffentlichten Theorie des tragischen Theaters zitiert48, betont er die spezifische Qualität von „theatrical representations“, nicht nur Mitgefühl zu erzeugen, sondern auch rationale Einsicht in seine Qualitäten und seine Bedeutung zu vermitteln.49 Dass Kames im Rahmen seiner Kunstphilosophie das Theater priorisiert, war zu erwarten, entspricht es medial doch am ehesten seiner Überzeugung, dass die Kunst auf das geistige Entwicklungspotential des Menschen zu verweisen hat, den Körper dabei aber nicht ausklammern darf. Nur das Theater kann den Körper als bewegten und bewegenden zeigen und zugleich vermitteln, dass der Weg zu den höheren Werten des Menschen letztlich über ihn verläuft. In einem früheren Kapitel hat Kames diese Doppelung mit dem glücklichen Begriff der „ideal presence“ aufgefangen und das Theater als „[the most powerful] means for making an impression of ideal presence“50 charakterisiert. Die ‚ideale Gegenwart‘ ist ein sinnlicher Eindruck, der im mentalen Bereich des Menschen (wieder)hergestellt wird. Die von ihm ausgelösten Gefühle sind nicht unbedingt schwächer als die Momente der „real presence“, die sich der Wahrnehmung unmittelbar darbieten – im Gegenteil: Die „ideal presence“ bezieht das ‚Dargestellte‘ stärker auf die Persönlichkeit der/des Zuschauenden und steigert damit dessen Intensität. Interessanterweise verbindet Kames in seiner Konzeption von „ideal presence“ mental-imaginative Vorstellung mit fiktionaler Nach- bzw. Darstellung. „Ideal presence“ ist Vorstellung im Kopf und/oder auf der Theaterbühne.51 Vor diesem Hintergrund wird das Theater zur wichtigsten Kunst, da nur dort künstlerisch
47 Vgl. dazu Marshall 1986: 171. 48 „Of Our Attachment to Objects of Distress“ (1751). 49 Kames 1765: Bd. 1, 431 (meine Hervorhebung): „It is a noted observation that the deepest tragedies are the most crouded [sic]. [...] [O]ne who has scarce recovered from the distress of a deep tragedy, resolves coolly and deliberately to go to the very next [...] The whole mystery is explained by the single observation, that sympathy, though painful is attractive, and attaches us to an object in distress [...]“. 50 Kames 1762: Bd. 1, 116. 51 Vgl. für eine ähnliche Verwendung des Begriffs, dort zur Fundierung eines Konzepts romantischer Text-Theatralität, das sich eng auf meine eigenen Überlegungen bezieht, Reinfandt 2008: 169f.
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intensivierte reale Wahrnehmung und imaginativer Bezug des Wahrgenommenen durch den Wahrnehmenden auf sich selbst zusammenkommen können.52 Im Zusammenhang mit der eben referierten Fundierung von Ästhetik in der Einleitung zu Kames’ Text ergibt sich die Schlussfolgerung, dass das Theater für Kames die ideale Kunst sein muss, da sie am stärksten Körper und Geist gemeinsam einbringt und dabei ersteren auf letzteren hin übersteigt. Damit avanciert das Theater zum zentralen Medium der Erzeugung von moralischen Regungen, weil es zwei Formen der mental-zivilisatorischen Verdichtung und Überhöhung von sinnlich Wahrgenommenem miteinander verbindet. Adam Smiths Verbindung von Mitgefühl und Theater hat an diesem Punkt einen weiten Weg zurückgelegt. Wir erinnern uns: Für Smith stand das Auftreten von Mitgefühl in der Gesellschaft unter dem Vorbehalt einer Theatralität, die den Zuschauer relativ kühl abwägen und den in seinem Angesicht Leidenden sich verzweifelt mäßigen und damit verstellen lässt. Bei Smith regelt der gesellschaftliche Verkehr Gefühle also herunter, was zugleich impliziert, dass Gefahr besteht, dass irgendwann zu wenig – und nicht zu viel – Gefühl gezeigt wird, um Mitleid auszulösen und soziale Bindungen herzustellen. Im Gegensatz dazu gehen bei Kames die Gefühle im Theater auf ein soziales Geschehen zurück, in dem die Tränen von Leid und Mitleid alles andere als sparsam fließen. Das bedeutet, dass sich Kames in seiner Theatertheorie zwar auf die Smithsche Sympathielehre bezieht, aber von anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen ausgeht. Er charakterisiert den sozialen Austausch zwischen den Menschen nämlich eher als ‚natürlich‘, emotional und körperlich. Daher konzipiert er auch ein Theater, das den gesellschaftlichen Verkehr ‚vergeistigt‘ und zivilisierend überformt.53 Nimmt man dagegen Smiths Sympathielehre beim Wort, kommt dem Theater eine geradezu gegenteilige Rolle zu: Es könnte paradoxerweise zu einem Raum werden, der, von den Ängsten und Zwängen ‚realen‘ gesellschaftlichen Verkehrs entlastet, die Entstehung und Kommunikation intensiver Emotionen durch seine konstitutive Künstlichkeit erst ermöglicht: Die Theatralität beidseitiger ‚Verstellung‘ in der sozialen Wirklichkeit würde der Authentizität innerhalb des Theaters weichen. Smiths Soziologie impliziert insgesamt also ein Theater der Entbergung und Ermöglichung des Mitgefühls, das authentisch sein darf, weil es nicht echt sein muss. Ein derartiges Theater würde die Distanz zwischen Beobachter
52 Zugleich wird aber bereits die Konzeption eines ‚Theaters im Kopf‘ eingeleitet, wie sie vor allem die Romane Walter Scotts umsetzen (vgl. Kapitel 5, insbesondere 5.3.3.4 und 5.3.3.5). 53 Trotz seiner Abweichungen von Smith war Kames’ Konzept eines zivilisierenden Theaters im 18. Jahrhundert sehr erfolgreich; Nachfolger sind etwa Alexander Gerard und Hugh Blair, vgl. Wassermann 1947a: 299f.
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und Leidendem in der Gesellschaft gewissermaßen auf die konstitutive mediale Distanz zwischen Zuschauer und Schauspieler übertragen, die, so nah sie sich auch kommen, sich doch nie zu nahe gehen werden. Allerdings hat Smith, auch wenn er ähnlich wie Hume große Erwartungen an die Formen und Institutionen menschlicher Kultur und Kultivierung geäußert hat54, dieses (sekundäre) Theater der Offenheit nirgends explizit entworfen.55 Gefüllt wurde diese Lücke erst mit der Theatertheorie Joanna Baillies, die damit von allen Theoretikern des 18. Jahrhunderts der Vorgabe von Smiths Sympathielehre am konsequentesten gefolgt ist und zugleich starken Einfluss auf die nachfolgende Romantik, und dabei auch auf William Wordsworth und (indirekt) Walter Scott, ausgeübt hat.56 Im Gegensatz zu den besprochenen schottischen Philosophen hat Baillie zudem ein beachtliches Korpus von Dramen vorgelegt, von denen einige zu ihren Lebzeiten auch den Weg ins Theater fanden, wobei Baillies Beziehung zur Bühnenkultur zeit ihres Lebens allerdings eine äußerst problematische blieb. Ihr umfangreichster und einflussreichster theatertheoretischer Entwurf ist der „Introductory Discourse“ zum ersten Band ihres Projekts Plays on the Passions von 1798. Diese Dramensammlung umfasste in ihrer endgültigen Version zwei weitere Bände, die 1802 und 1812 erschienen. Erklärtes Ziel des Projektes ist eine systematische Aufarbeitung der menschlichen Leidenschaften, die in jeweils einer Tragödie und einer Komödie erkundet werden. Dieses gewaltige – und, wie wir sehen werden, auch etwas altmodische – Ziel wird im ersten Band mit einer Theatertheorie versehen, die allerdings alles andere als rückständig ist. In ihrer Theorie ist Baillie, selbst gebürtige Schottin, derart stark von der schottischen Erkenntnistheorie und Moralphilosophie, allem voran von Smiths Theory of Moral Sentiments, beeinflusst, das sie als Höhepunkt der theatertheoretischen Überlegungen der schottischen Aufklärung zu werten ist. In der in den letzten Jahren stark angewachsenen Sekundärliteratur zu ihrer Person und ihrem Werk wird sie vor allem unter Fragestellungen der Geschlechterforschung untersucht57; übersehen wird dabei oft, dass sie auch theatergeschichtlich von kaum zu überschätzendem Rang ist. In ihrer Verbindung einer ausführlichen Theorie von Drama und Theater einerseits sowie einem beachtlichen Korpus literarischer Dramen andererseits stehen die Plays on the Passions in der britischen Litera-
54 Vgl. dazu Glaubitz 2003: 80–87. 55 Vgl. zum Vergleich der Sympathielehren und ihrer ästhetisch-theatralen Dimension bei Hume und Smith auch Bachmann-Medick 1989: 244–289. 56 Vgl. 4.1.1 und 5.1, Anm. 13. 57 V.a. Burroughs 1997.
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tur der zweiten Hälfte des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts absolut einzig da. Genau das ist paradoxerweise auch der Hauptgrund für ihre relative Vernachlässigung durch die Bühnen ihrer Zeit: Literarische(s) Theater(theorie) und Bühnenpraxis gingen in dieser Zeit, wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, einfach nicht gut zusammen.58 Für ihre Theatertheorie nimmt Baillie Adam Smith beim Wort und erarbeitet das Konzept einer Theaterkultur auf der Basis des menschlichen Grundzugs der „sympathetick [sic] curiosity“, die sie als „man’s curiosity for man himself“ definiert.59 Der Gedanke, dass Mitgefühl mit Neugier verbunden ist, vertieft Smiths Grundannahmen, problematisiert sie aber auch: Die Menschen sind neugierig auf den Gefühlsausdruck anderer Menschen, da diese – vielleicht aufgrund dieser voyeuristischen Neigung – den Ausdruck ihrer Gefühle in ihrer vollen Intensität und Authentizität vermeiden. Dabei wollen die Beobachter ihrerseits unbeobachtet bleiben, was Baillie in einem beeindruckenden und verstörenden ‚Theater-Szenario‘ auffängt: To lift up the roof of his dungeon [...] and look upon a criminal the night before he suffers, in his still hours of privacy, when all that disguise, which respect for the opinion of others, the strong motive by which even the lowest and wickedest of men still continue to be moved, would present an object to the mind of every person [...] more powerfully attractive than almost any other.60
Baillies Soziologie ist an dieser Stelle noch unheimlicher als Smiths, treibt sie den kühlen, aber gerade deswegen betrachtenswerten Beobachter Smiths doch zu einem unsichtbaren Voyeur weiter. In dieser Gesellschaft wäre Gefühlsaustausch nicht nur schwierig, sondern geradezu unmöglich, halten sich doch Akteure und Zuschauer gleichermaßen versteckt.61 Baillie ruft das Theater auf, hier in die Bresche zu springen: [...] [A]bove all, to [tragedy], and to her only it belongs to unveil to us the human mind under the domination of those strong and fixed passions [...] which conceil themselves from the observation of men; which cannot unbossom themselves even to the dearest friend; and
58 Für eine ausführliche Behandlung von Baillies ebenso ausführlicher Auseinandersetzung mit der Theaterkultur ihrer Zeit vgl. die Einleitung in der Ausgabe ihrer Plays on the Passions von Peter Duthie (Baillie 2001: 34–44). Duthie zeigt auf, wie fundiert und differenziert Baillies Äußerungen zu dieser Theaterkultur waren (so dass man sie als eine der wichtigsten Theaterkritiker[innen] ihrer Zeit ansehen muss). 59 Baillie 2001: 67, 72. 60 Baillie 2001: 70. 61 Vgl. Forbes 2003: 38–42.
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can, often times, only give their fulness vent in the lonely desert, or in the darkness of midnight.62
Das Panoptikum, das im ersten Zitat anklang63, wird hier konsequent zu einem Theater umgeformt, durch dessen konsensuelle Rahmungs- und Distanzierungsstruktur die natürlichen menschlichen Gefühle nun auf sozial verträgliche – und langfristig auch sozial zuträgliche – Weise zugänglich werden. In der Folge bezieht Baillie diese Konzeption auf die Medienspezifika des Theaters. Zur Beobachtbarkeit starker Gefühlsregungen in jedem Detail ihrer Entstehung und ihres Verlaufs64 kommt beim Theater die unmittelbare Zugänglichkeit auch der sprachlichen Anteile des Geschehens etwa für diejenigen, die aus Zeitgründen einerseits oder aufgrund von Analphabetismus andererseits wenig oder gar nicht lesen.65 Baillie hat mit ihrem Projekt demnach auch (volks)didaktische Zielsetzungen, die sich in ihrer Theatertheorie auf allen Ebenen finden: Wenn das Theater Personal mittleren oder auch unteren Standes in authentischer Sprache auftreten lässt66 und die gezeigten Leidenschaften gerade aufgrund ihrer natürlichen Intensität dabei Vorbild- bzw. Abschreckungscharakter entwickeln67, kann das Theater zu einer nationalen Schule68 allerersten Ranges werden. Im Zusammenhang einer solch umfassenden Konzeption ist es für Baillie selbstverständlich, dass sie den engen Horizont der Tragödientheorie, vor dem die Wirkung des Theaters in der schottischen Aufklärung primär behandelt wurde, hinter sich lässt und auch auf die Komödie zu sprechen kommt. Ihre Forderung nach einer mittleren Tragödie verknüpft sie dementsprechend mit dem Plädoyer für eine „Characteristick Comedy“, die die Eigenheiten sozialer Gruppen anhand exemplarischer, aber nicht übertriebener Charaktere herausarbeitet und dabei ausgehend von der Mittelschicht eine Art gesellschaftlichen Überblick anstrebt.69 Die beiden Genres ziehen in Baillies Konzeption dort aber wieder am selben Strang, wo sie beide nachvollziehbare Geschehnisse im Leben (eher) zeit-
62 Baillie 2001: 86. 63 Jeremy Bentham beschreibt das Panoptikon 1791 als ein Gefängnis, bei dem die Wächter die Gefangenen ununterbrochen unbeobachtet beobachten können (vgl. dazu Foucault 1976: 265–292). 64 V.a. Baillie 2001: 91f. 65 Baillie 2001: 103f., 109. 66 Baillie 2001: 79f., 93f. Vgl. zum Einfluss dieser Konzeption auf Wordsworths Poetik 4.1. 67 Baillie 2001: 90f., 93f. 68 Baillie 2001: 104. 69 Baillie 2001: 98f.
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genössischer Personen (vor allem) mittleren Standes zeigen und auch die Komödie relativ ernst bleiben soll.70 Baillies „Introductory Discourse“ ist die umfangreichste und letztlich auch konsequenteste Theatertheorie, die sich aus Adam Smiths Moralphilosophie ergeben hat. Im Gegensatz zu Lord Kames sieht Baillie die Gesellschaft analog zu Smith und entwickelt auf dieser Basis ein Theater, das die Implikationen von Smiths Gesellschaftstheorie am stärksten berücksichtigt. Kurz gesagt: Baillies Theater besteht in einer Überwindung Smithscher Theatralität ganz in seinem Sinne. Erst wenn die Zwänge der Gesellschaft im Theater übereinstimmend hintangestellt werden, können Gefühle authentisch kommuniziert werden. Obwohl Hume und Kames das Theater im Gegensatz dazu eher als Möglichkeit der Veredelung von gesellschaftlich intensiv fließenden Gefühlen ansehen, kommen sie mit Baillie zusammen, wo sie die kultivierende bzw. sozialisierende Wirkung des Theaters für das Publikum in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen. Sie alle entwerfen eine Theatertheorie, in der das Medium als Struktur zur Aussteuerung der Medienbenutzer erscheint und die Belange des Ausdrucks hintanstellt. Das Theater wird von diesen Stimmen als Regelungsmechanismus verstanden, den Gesellschaften einrichten, um denjenigen Gefühlsfluss zu ermöglichen bzw. auszusteuern, auf dem die Bindungskräfte der Gesellschaft beruhen. Das Theater wird zum ‚Programm‘ für die Herstellung sozialer Subjekte. Vergleichbare Konzeptionen finden sich zur selben Zeit vor allem im deutschsprachigen Raum, etwa bei Gotthold Ephraim Lessing71; offensichtlich wurden sie dort offiziell gebilligt bzw. – etwa in der Nationaltheaterbewegung – sogar staatlich implementiert. In Großbritannien ist die Lage dagegen sehr viel komplizierter: Bis zur Mitte des Jahrhunderts konnte sich, vor allem im Bereich der sentimental comedy, zunächst ein Theater des emotionalen Austauschs entwickeln,
70 Mit diesen Forderungen nimmt Baillie, wenn auch leicht verspätet, an den zentralen europäischen Debatten der Zeit zu einer Reform des Theaters für die Belange der Aufklärung, des Sentimentalismus und zuletzt auch der Romantik teil. Hauptanliegen das ganze 18. Jahrhundert hindurch ist die Brechung der aristokratischen Ausrichtung der Tragödie in Inhalt, Form und Rezeptionssituation. Einerseits sollen Tragödien (bzw. das Tragische überhaupt) der wachsenden Mittelschichtskultur zugänglich gemacht werden; andererseits soll der privilegierte Status der Tragödie hinterfragt werden, um anderen Dramen- und Theaterformen Entwicklungsmöglichkeiten zu geben. Vgl. dazu Osborne 1997, dessen Urteil (190), dass in Großbritannien keine umfassenden Statements zu diesen Debatten entstanden, gerade durch Baillie widerlegt wird. Zugleich übersieht Osborne die spezifische Situation der Theaterkultur im Großbritannien des 18. Jahrhunderts. 71 Vgl. Vogl 2002: 131–138.
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auf das die hier referierte Theatertheorie auch reagierte.72 Diese Ansätze wurden durch die Theatergesetzgebung ab der Mitte des 18. Jahrhunderts aber stark gehemmt; vor allem wurde verhindert, dass die Fundierung und Weiterentwicklung dieses Theaters in der schottischen Ästhetik nun ihrerseits auf das Theater zurückwirken konnte – etwa im Projekt eines National Theatre. Die Zensur vertrat ja geradezu eine gegenteilige Auffassung des Theaters und seiner Einflusskräfte und sah es, überspitzt gesagt, eher als zivilisationshemmend als -fördernd. Theateraufführungen sollten nicht etwa gesellschaftlich instrumentalisiert, sondern möglichst weitgehend unterbunden werden. Dieses Ziel wurde, wie beschrieben, nicht erreicht, wohl aber eine Verhinderung genau derjenigen Theaterformen, die nach dem Dafürhalten der schottischen Aufklärung für wohlgeratene gesellschaftliche Subjekte gesorgt hätten. Mit dem Rückgang des gesprochenen Wortes und der Vergrößerung der Theater wurde die – sprachliche oder visuelle – Kommunikation zwischen Akteuren und Zuschauern, auf der die Theatertheorie ja aufruhte, erschwert und zunehmend dem oben beschriebenen Spektakelstil untergeordnet.73 Literarisches Drama und philosophische Theatermodelle, die die Sozialisierung des Publikums programmatisch im Auge hatten, hatten es in dieser Atmosphäre schwer mit ihrer Verwirklichung im Medium des Theaters; sie verblieben, wie die vorliegende Studie gerade auch an nichtdramatischen Texten zeigen will, vielfach im Medium des Buches.
2.2.1.3 S ympathetische Ausdrucksästhetik und die Repräsentation des Subjekts auf dem Theater Bisher war von der Wirkungsästhetik des Theaters die Rede – und zwar als einer Programmierungs- und Aussteuerungsästhetik, die Subjektivität vor allem als eine passive Positition entwirft, auf die von außen verändernd und lenkend zugegriffen werden kann. Die Konzeption passiver Subjektivität folgte dabei hauptsächlich David Humes These vom Geist als einem Ort ephemerer Gefühlszustände, die durch einen Kultivierungsprozess geregelt und sozial verträglich
72 Diese Theaterkultur entwickelte sich vor allem im London der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, ihrerseits in Reaktion auf ästhetische Ansätze: Denn der Autor der ersten sentimental comedy Conscious Lovers von 1722, Richard Steele, war einer der Autoren des Spectator, in dem erste Vorüberlegungen zur zivilisatorischen Wirkung von Kunst angestellt wurden (vgl. dazu Brewer 1997: 56–122, der allerdings – in einer Gesamtschau der Künste des 18. Jahrhunderts – nicht auf die Theaterzensur eingeht). 73 Baillie hat ausführliche Zeugnisse ihres Kampfes gegen Bühnenvergrößerung und Burletta hinterlassen, vgl. dazu Duthies Einleitung in Baillie 2001: 34–44 sowie Baillies eigene Äußerung, dass ihr Theater von der Buchseite am besten wirke (Baillie 2001: 109).
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gemacht werden sollen. Obwohl Smith als einer der zentralen Bezugspunkte dieser Theorien zu sehen ist, ist das Subjekt bei ihm als weitaus aktiver angelegt, stellt er die Gefühlsübertragung doch unter den Vorbehalt selbstständiger Überlegungen von „spectator“ und „person principally concerned“ gleichermaßen. Vor allem letzterer ist ein Akteur, der seine sozialen Zuschauer seinerseits von sich aus beobachtet, auf deren Reaktionen und angenommene Erwartungen reagiert und insgesamt daran arbeitet, sich dem anderen gegenüber angemessen zum Ausdruck zu bringen. Die Ausführlichkeit und der Reichtum an sozialphilosophischen Implikationen unterscheidet Smiths Theatermodell von den meisten der (im engeren Sinne) Theatertheoretiker seiner Zeit, die sich auf eine der beiden Seiten konzentrierten und die Charakteristika des Theaters entweder primär von seiner Wirkung auf den Zuschauer oder vom Schauspiel, also dem Ausdruck dramatischer Charaktere herleiteten.74 Im Mittelpunkt der theatralen Ausdruckstheorie steht dabei erwartungsgemäß der Schauspieler. Wie Earl Wassermann gezeigt hat, war im Laufe des 18. Jahrhunderts der Einfluss der Sympathielehre auf diese acting theories groß. Es entstanden eine ganze Reihe inspirationsorientierter Theorien, die Schauspielen vor allem als mitfühlende Versenkung in den darzustellenden Charakter sowie als Pflege und Ausbau dieser Fähigkeit dimensionierten.75 Die konsequentesten dieser Theorien entwarfen diese Charaktere zunehmend als (einzigartige) Individuen, nicht mehr als exemplarische Vertreter einer allgemeinen menschlichen Natur76, und sahen davon ausgehend den Schauspieler bisweilen sogar als Repräsentanten des Dramatikers an, etwa John Hill in seinem 1755 veröffentlichten Buch The Actor.77 Anders als für die im vorherigen Abschnitt untersuchten ‚Wirkungsästheten‘ war Subjektivität auf dem Theater für diese Theoretiker weniger eine abstrakte und daher verallgemeinerbare Position der Wahrnehmung, auf
74 Lord Kames kommt in seiner umfassenden Ästhetik zwar auch auf die Ausdrucksseite des Theaters zu sprechen, was in obiger Darstellung schon angeklungen ist. Allerdings verrechnet er diese Aspekte, etwa seine Analysen der menschlichen Körpersprache, letztendlich immer mit der Wirkung des Theaters auf seine Zuschauer. Beattie und Reid, um die es im folgenden gehen soll, dagegen sehen das Theater primär als Ausdrucksstätte des Subjekts und nicht als Ort des Einflusses auf das Subjekt. 75 Vgl. dazu Wassermann 1947b. 76 Wassermann 1947b: 265 u. 271. Wassermann ist dabei vor allem an der letztlich allmählich obsolet werdenden idealisierenden Doktrin der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts („neo-classic theory of dramatic characters and decorum“, 265) interessiert; sein Fazit, dass „the theories of acting did not demand particularized realism“ (271), wird aber durch seine eigenen Beispiele (s. folgende Anm.) sowie die in diesem Abschnitt behandelten Autoren Beattie und Reid widerlegt. 77 Wassermann 1947b: 270.
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der letztlich alle, die sie einnahmen, gleich reagierten, als vielmehr ein konkretes Phänomen individueller Identität, das in der jeweiligen Ausprägung von allen anderen Ausprägungen unterschieden war. Was sie mit den Rezeptionstheoretikern verband, war, dass sie Theater weiterhin – im Gegensatz zu Smith und Baillie – als Eindämmung oder Veredelung in der Gesellschaft recht roh zum Ausdruck kommender Gefühle ansahen. Smiths Theorie bildet, wie bereits angedeutet, eine wichtige Grundlage der Ausdrucksästhetik und geht dabei in ihren Implikationen über die Inspirationstheorie hinaus. Der Akteur, „the person principally concerned“78, so Smith, modifiziert seinen Gefühlsausdruck mit Blick auf die „spectators“, die ihn beobachten; er wird strenggenommen also seinerseits zum Zuschauer, eine situative Reaktionsweise, die die Schauspieltheorie des 18. Jahrhunderts so nicht kennt. Dabei ist die von Smith verzeichnete Tatsache der Gefühlsunterdrückung im sozialen Verkehr aus der Perspektive des Handelnden, den Smith interessanterweise primär als Leidenden entwirft, weitaus gravierender als aus der Perspektive des Zuschauers: Dem Zuschauer entgeht vielleicht der Anblick authentischer Gefühle; was der Akteur allerdings im gesellschaftlichen Leben riskiert, ist die Möglichkeit, seinen Gefühlszustand überhaupt adäquat zum Ausdruck zu bringen. Ein Smithsches Theater jenseits der (gesellschaftlichen) Theatralität müsste auch diesen Missstand beheben und das Theater nicht nur als Stätte der Beobachtung, sondern auch des Ausdrucks authentischer – und zwar ureigener – Gefühle entwerfen. Joanna Baillie konzipiert in der Nachfolge Smiths dieses Theater als Ort, den wir aufsuchen, um bei anderen authentische Gefühle zu beobachten. Smiths Theory of Moral Sentiments impliziert darüber hinaus aber, dass wir das Theater ebenfalls brauchen, um unsere eigenen Gefühle authentisch auszudrücken. Das Theater als Medium des Selbstausdrucks zu entwerfen, ist auf den ersten Blick folgerichtig, bei genauerer Überlegung aber kontrafaktisch, gilt für das Theater doch einerseits die Konvention der Verkörperung und andererseits die Übereinkunft der Fiktionalität: Der Schauspieler spielt auf der Bühne einen anderen als sich selbst, und er tut dies, da er einen Charakter in einem fiktionalen Geschehen repräsentiert. Und doch sind solche Forderungen an das Theater tatsächlich gestellt worden, und zwar aus einem philosophischen Denken heraus, das die Humesche Behauptung der Flüchtigkeit des Geistes – und das sich daraus ergebende Gebot seiner Aussteuerung – radikal ablehnte und sich dafür einsetzte, dass der menschliche Geist individuell nachweis- und erfahrbar sei – und damit auch künstlerisch ausdrückbar. Benannt wurde dieses Denken nach dem, worauf es sich primär und Schule machend berief: nämlich den allgemeinen
78 Das ist ein Alternativausdruck für den „sufferer“, vgl. Smith 1976: 21 und öfters.
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Menschenverstand. Das Theater des authentischen Selbst hatte seinen theoretischen Ursprung in der sogenannten ‚common-sense school‘, die als Reaktion auf Humes radikale Erkenntniskritik entstanden war. Zentraler Exponent dieser Schule war der Aberdeener – und später Glasgower – Philosoph Thomas Reid. In seinem Hauptwerk An Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense von 1764 setzt er das menschliche mind als dauerhaft, stabil und selbstidentisch an79, wobei er die Körpersprache als natürlichste und authentischste Form seines Ausdrucks ansieht – ähnlich wie Lord Kames, aber mit vollkommen anderen Konsequenzen. „[I]t is from […] [their] natural expressions of the things pertaining to body [sic] that we know our fellow creatures have or are possessed of a mind“, behauptet Reid in seinen Lectures on the Fine Arts.80 Körpersprache wird hier zum Beweisgrund des menschlichen Subjekts gegenüber anderen. ‚Künstlichen‘ Zeichen, also etwa den symbolischen Zeichen der Schrift, wird demgegenüber die Ausdrucksfähigkeit explizit versagt: „Artificial signs signfy [sic], but they do not express“.81 Daher ist es naheliegend, dass Reid das Theater, neben der Malerei, zum zentralen künstlerischen Medium82 des Ausdrucks und der Kommunikation von Subjektivität erklärt. Die Körpersprache des Theaters ist hier nicht mehr der Auslöser zivilisierter – und zivilisierender – Gefühle zur Aussteuerung der letztlich immer gleichen Beobachtungs-Subjekte wie bei Lord Kames; vielmehr ist sie ein aktives Medium zum Ausdrucks der Identität eines einzigartigen Subjekts gegenüber anderen. Ihren Höhepunkt findet eine derartige Ausdruckstheorie des Theaters in James Beatties Essays: On Poetry and Music, as they affect the Mind von 1776.83 Trotz des Titels handelt es sich bei diesem Werk nicht um eine Wirkungs-, sondern um eine Ausdrucksästhetik, die allgemeine Gesetzmäßigkeiten für „poetry“ aufstellen und diese aktiven Dichtern als Regeln anempfehlen will.84 Von (neo)klassizistischen Regelpoetiken unterscheidet sich Beattie, wo er eine poetische Sphäre des individuellen Selbstausdrucks schreibender Subjekte ansetzt:
79 Reid 1764: 126f. 80 Reid 1973: 30. 81 Reid 1764: 108. 82 Wiederum vergleichbar mit Lord Kames sieht Reid die Künste „an intermediate state“ zwischen Geist und Körper einnehmen (Reid 1973: 21); vgl. aber zu den Unterschieden zwischen den beiden Philosophen das Folgende. 83 Vollständiger Titel ist Essays: On Poetry and Music, as they affect the Mind. On Laughter, and Ludicrous Composition. On the Utility of Classical Learning. 84 Beattie 1776: 3–6.
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But, in general, the Epic style is to be distinguished from the Tragic, by a more uniform elevation, and more elaborate harmony: because a poet, assuming the character of calm inspiration, and rather relating the feelings of others [in epic], than expressing his own [in tragedy], would speak with more composure, steadiness, and art [in epic], than can reasonably be expected from those who deliver their thoughts according to the immediate impulse of passion [in tragedy].85
Beattie teilt „poetry“ hier in die beiden renommiertesten Formen der Versdichtung, Epos und Tragödie, ein. Lyrik (als dichterischer Ausdruck eines einzigen Sprechers) gibt es in diesem Schema nicht.86 Daher kommt der Tragödie in Beatties Ausdrucksästhetik die Rolle eines Mediums des Selbstausdrucks des Subjekts zu, während die Rede anderer im Epos kommuniziert wird. Eine derartige Verengung des Theaters auf den Ausdruck einzelner Dichtersubjekte ist überraschend – soll das Theater doch traditionell ebenfalls eine ganze Reihe von Charakteren zur Sprache bringen87 –, und doch ist diese Extremposition Beatties nur die logische Konsequenz einer Gedankenbewegung, die schon bei Smith vom Theater des Mitgefühls zum Theater des individuellen Selbstausdrucks führt. Auch die Schauspielästhetik der Zeit ging von der Konzipierung des Schauspielers als Einfühlenden in einen dramatischen Charakter über den sympathetischen, aber eben darum immer noch indirekten Ausdruck der Dichterseele durch den Mimen hin zum direkten Ausdruck des dichtend-fühlenden Subjekts auf dem Theater.88 Das Theater wird bei Reid und Beattie demnach zur Sphäre des unmittelbaren Ausdrucks von individuellen Gefühlen, die sich durch diese Kommunikation zu einer einzigartigen Identität verdichten können. Authentizität ist an diesem Punkt nicht mehr nur die anthropologisch verbindliche Gefühlsform und Gefühlsstärke, wie sie das in Joanna Baillie gipfelnde Theater der Aussteuerung entworfen hatte, sondern der Ausdruck und die Erfahrbarkeit je individueller
85 Beattie 1776: 226f., meine Hervorhebung. 86 Vgl. zur Erarbeitung einer auf Lyrik bezogenen Poetik bei Wordsworth, die dabei Aspekte des Subjektausdrucks aus der vorgängigen Dramen- und Theatertheorie übernimmt, Kapitel 4.1. 87 Von dramatischen Charakteren ist in Beatties Äußerung nur noch andeutungsweise, nämlich im Plural der Formulierung „those who deliver their thoughts according to the immediate impulse of passion“ die Rede; damit können aber auch die dramatischen Dichter gemeint sein; vgl. zu einem ähnlichen Umschalten von Charakteren im Drama zu Dichtern des Dramas die folgende Anmerkung. 88 Zentrales Exempel eines derartigen Dichters ist in diesem Diskurs William Shakespeare, der schon ab den 1770er Jahren – und nicht erst in den berühmten Äußerungen romantischer Theaterkritiker des 19. Jahrhunderts – als die zentrale Seele dimensioniert wird, die sich im Theater Ausdruck verschafft. Signifikanterweise findet in diesen Texten ein Changieren zwischen den Charakteren Shakespeares und dem Charakter Shakespeares statt; vgl. dazu Osborne 1997: 205– 208 sowie Kucich 1992.
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Identitäten. Die Verschiebung von Gefühlstypen auf individuelle ‚Typen‘ findet in der Theatertheorie am Ort der auf den Schauspieler und den Dramatiker bezogenen Ausdrucksästhetik statt. Gleichzeitig wird im Rahmen solcher Theorien vom Konzept der passiven Aussteuerung und Konstitution von Subjekten durch das Medium, von dem die Wirkungsästhetik ausgeht, auf das der aktiven Benutzung des Mediums und der Selbstkonstititution der Subjekte umgestellt. Obwohl diese Modifikation die Poetik der Romantik erst ermöglicht89, darf man sie sich nicht als reine Ablösungs- und Fortschrittsentwicklung vorstellen. Noch Joanna Baillies umfängliche und einflussreiche Theatertheorie von 1798 ist nicht nur ein Höhepunkt der Theaterästhetik des 18. Jahrhunderts, sondern, wie beschrieben, auch einer (Wirkungs-)Ästhetik der Aussteuerung von Subjekten. Im Einklang damit geht sie in ihren Plays on the Passions programmatisch – in einem noch an die Temperamentenlehre gemahnenden Schematismus – von anthropologisch verbindlichen Gefühlsarten und nicht von individuell unterschiedlichen Gefühlsausprägungen aus. Individualität ist in diesem Zusammenhang für das Repräsentationsprogramm des Theaters zweitrangig. William Wordsworth ist in seiner Poetik von Baillies Theatertheorie, wie wir sehen werden, maßgeblich beeinflusst: Zwar stellt er sie auf eine Ästhetik individuellen Ausdrucks um, aber er bewahrt sich doch den Gedanken der Aussteuerbarkeit – und letztlich der Überindividualität – auch des aktiven Subjekts. Das Text-Theater der Romantik kennt das Subjekt also in beiden Formen, als Ort der Aussteuerung und als Phänomen der Individualität, als programmiert durch Medien und als Programmierer von Medien des Selbst. Und es lässt sich, wie wir sehen werden, die vielfältigen Möglichkeiten der Engführung medial-subjektbezogener Passivität und Aktivität nicht entgehen. Die Benutzung beider Subjektauffassungen geht Hand in Hand mit einer Einbettung von Subjektivität in Intersubjektivität, die ihren Ausgangspunkt ebenfalls im Smithschen Idealmodell hat. Subjektivität wird bei Smith Intersubjektivität, da das Subjekt nur in Interaktion mit einem anderen Subjekt ‚funktioniert‘: Gefühlsregulation und Gefühlsausdruck des Subjekts erfolgen ausschließlich unter dem Einfluss eines anderen Subjekts und zudem als ein wechselseitiger Prozess – eine für die romantische Literatur ungemein einflussreiche Katego-
89 Vgl. damit auch die zunehmende Ablösung der Geschmacks- durch eine Genieästhetik im Laufe des Jahrhunderts. Der schottische Philosoph Alexander Gerard veröffentlicht 1759 einen preisgekrönten Essay on Taste; sein nächster bedeutender Beitrag zur Ästhetik von 1774 heißt Essay on Genius. Obwohl letzterer von der Programmierungsästhetik noch tief geprägt ist, zeigt er doch schon Züge einer Ästhetik aktiven Ausdrucks. Letztlich stellt Gerard in Essay on Genius, wie die nachfolgende romantische Poetik insgesamt, beide Positionen nebeneinander zur Verfügung.
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rie. Dabei ist die Interaktion in Smiths Theater nicht nur so zu verstehen, dass Akteure auch beobachten, was die Zuschauer ‚handeln‘, die beiden Positionen des Theaters also in sinnvoller Weise in jedem Beteiligten zusammenkommen, sondern auch in dem Sinne, dass der einzelne im gesellschaftlichen Leben einmal derjenige ist, der den gefühslauslösenden Anblick bietet, und ein andern Mal derjenige, der ihn beobachtet. Wir sind also in einer Situation primär Akteure und am Ausdruck unserer Gefühle anderen gegenüber interessiert und in einer anderen die Beobachter anderer Akteure. Alle Teilnehmer des gesellschaftlichen Lebens sind vollwertige Zuschauer und vollwertige Schauspieler, passiv-ausgesteuerte und aktiv-repräsentierende Subjekte. Als Subjekte stehen sie stets in einem Wahrnehmungsaustausch mit anderen Subjekten; Subjektivität beruht auf Intersubjektivität. Smith selbst kassiert dieses Modell aber letztlich wieder, wenn er zum Gedanken der Selbstbeobachtung übergeht – der anderen Möglichkeit der Engführung des passiven und des aktiven Subjekts: The principle by which we naturally either approve or disapprove of our own conduct, seems to be altogether the same with that by which we exercise the like judgements concerning the conduct of other people. [...] we remove ourselves, as it were, from our own natural station, and endeavour to view them at a certain distance from us. [...] We endeavour to examine our own conduct as we imagine any other fair and impartial spectator would examine it.90
Smith führt an dieser Stelle seine berühmte Größe eines „impartial spectator“ ein, die die weitere Argumentation in The Theory of Moral Sentiments zutiefst prägt und später etwa als „the man within the breast, the great judge and arbiter of [our own] conduct“91 wiederkehrt. Am Höhepunkt des Smithschen Theaters wird der einzelne wieder zum Zuschauer und Richter seiner selbst; Handeln und Beobachten des Selbst werden wieder in ein und demselben Subjekt angesetzt. Das Subjekt ‚an sich‘ ist als Theater konzipiert, was einer maximalen Aufladung des Subjektbegriffs und einer Minimaldefinition des Mediums gleichkommt. Smith selbst deutet aber an, dass auch der „impartial spectator“ eine Laborsituation benötigt, um zu funktionieren. Als „abstract and ideal spectator“ verfalle er oftmals der Lethargie, müsse zur Pflicht zurückgerufen und mit der Abschätzigkeit realer gesellschaftlicher Zuschauer konfrontiert werden. Dabei erweist es sich, dass diese Zuschauer durch übertriebene Zustimmung oder Ablehnung gegenüber unserem Verhalten das Urteil unseres Selbst-Zuschauers beeinträch-
90 Smith 1976: 109f. 91 Smith 1976: 130.
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tigen oder verfälschen können.92 Das Trainingsfeld des „impartial spectator“ muss daher ein Ort sein, der der Kälte und Kontingenz der Gesellschaft entzogen wird, damit dieser „spectator“ in einem abstrahierten Idealraum zur vollen Entfaltung und damit zu authentischen und realistischen Urteilen kommen kann. Auch die Selbstbetrachtung benötigt demnach eine mediale Rahmung, um in voller impartiality zu urteilen. Das hier angedeutete Subjekt-Theater wird sich als Klimax romantischer Texttheatralität erweisen, exemplarisch vorgeführt an Wordsworths Prelude. Zugleich wird es Subjekt und Medium aber auch in eine Krise stürzen, die vor allem damit zusammenhängt, dass ein Handelnder sich im Moment des Handelns schlicht nicht beobachten kann, die Engführung von Schauspieler und Zuschauer in letzter Konsequenz also in die Aporie führt.93 Das Theater auf der Schwelle zur Romantik sieht sich damit neben der Aussteuerungsästhetik vor eine weitere, diesmal doppelte Anforderung gestellt: Es muss einerseits die Kapazität zum medialisierten, aber (gerade dadurch) authentischen Selbstausdrucks des Subjekts haben und andererseits die Möglichkeit bieten, dass das Subjekt diesen Selbstausdruck so beobachtet, wie die anderen ihn sehen. Das Subjekt muss also für sich und andere verfügbar gemacht werden – authentisch und objektiv. Wie bereits angedeutet, ist die Ermöglichung des Subjekts auf dem Theater aber aus mehreren Gründen mit Tradition und Logik des Mediums schwer zu vereinbaren: Der Schauspieler spielt konventionell vor einem abgetrennten Publikum jemand anderen als sich selbst in einem fiktionalen Geschehen. Es waren ja gerade diese Distanzierungen, die, wie der vorherige Abschnitt zeigt, das Erlebnis authentischer Gefühle erst ermöglichten; paradoxerweise sind dies andererseits Gefühle, mit denen das Subjekt passiv ausgesteuert wird und sich nicht aktiv zum Ausdruck bringen kann. Das Theater des Subjektausdrucks müsste demnach diejenigen medialen Voraussetzungen der Distanzierung tilgen, die das Theater der Subjektaussteuerung allererst ermöglichen. Zugleich könnte man pointieren, dass das Ausdruckstheater an den logisch-systematischen Gegebenheiten des Theaters verzweifelt, wo das Aussteuerungstheater an den historischen Umständen der Bühnenkultur um 1800 scheitert. Wie wir gesehen haben und im nun folgenden Abschnitt vertiefen werden, lässt sich das logische Problem des authentischen Selbsttheaters am besten durch ein Umdeuten von Subjektivität als Inter-Subjektivität lösen bzw. zumindest eindämmen. Adam Smiths Gesellschafts- und/als Theatertheorie hat diese Lösung ja bereits angedeutet, wenn er zuletzt auch auf das Modell der Selbst-
92 Smith 1976: 153f., 130f. 93 Vgl. vor allem Kapitel 4.2.2.
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überwachung umschwenkt und der Romantik damit das Problem des Selbsttheatralisierung letztlich erst (mit)aufhalst. Es wird sich zeigen, dass sich dieses intersubjektive Theater nur durch einen Medienwechsel in den Text realisieren lässt.94 Das romantische Theater des Subjekts ist also intersubjektiv angelegt und textuell verfasst. Ein exemplarisch romantischer Autor wie William Wordsworth richtet sich das Textmedium demnach so zu, dass es zum Erfüllungsort eines intersubjektiven Theaters werden kann, und schafft mit dieser hochgespannten, erwartungsgeladenen Texttheatralität genau das, was ihn zum Romantiker macht: einen Raum, an dem menschliche Gefühle authentisch und intensiv zum Ausdruck kommen und zugleich ausgetauscht werden, um – im schönen Doppelsinn – Subjekte zu prägen, die dadurch für sich selbst und andere verfügbar werden.95 Dadurch wird diese Texttheatralität aber, wie wir im übernächsten Kapitel nach dem nun folgenden Überblick über Theatermodelle des Politischen erfahren werden, geradezu zu einem Paradigma der Repräsentationskrise um 1800, die um den Eintritt des Subjekts in die Wissensordnung kreist.
94 Am nachdrücklichsten eingefordert und konzipiert wird ein intersubjektiv-authentisches Selbsttheater in Rousseaus Lettre à M. D’Alembert sur les Spectacles – zugleich aber realisiert primär durch den Text, der es einfordert und konzipiert, selbst, vgl. 2.2.2.6. 95 Das Verhältnis von schottischer Aufklärung und romantisch(-literarisch)er Subjektivität ist auch der Gegenstand zweier Monographien von Clifford Siskin (1988 und 1998). Siskin untersucht die schottische Sozialphilosophie vor allem auf die Konzipierung eines sich durch stilles Lesen literarischer Texte konstituierenden Subjekts, das in der Nachfolge professionell (aus) nutzbar ist. Glaubitz (2003) kritisiert an Siskin zu Recht, dass er sich zu einseitig auf die kulturelle Praxis des Lesens beschränkt und körperlich-theatrale Praktiken der Subjekterfahrung vernachlässigt (88–111). Auf die Theaterkonzepte der schottischen Sympathielehre, wie sie schon bei Smith im Mittelpunkt stehen und von dort aus die Ästhetik des 18. Jahrhunderts insgesamt dominieren, geht Siskin, der den Roman als das Leitmedium romantischer Subjektbildung ansetzt, nicht ein. Die aufklärerische Ästhetik zielt, wo sie medial konkret wird, öfter auf körperlich-visuelle Praktiken als auf Text(theorie) ab. Siskin hebt in seinen diskursgeschichtlichen Thesen insgesamt zu sehr auf eine monolithische, gesamtgesellschaftliche Bewegung der Erstellung gewandter, professionell einsetzbarer Subjekte durch die romantische Literatur ab, als dass er die Brüche, Widersprüche und Intermedialitäten der romantischen Literatur einerseits sowie den aktiven staatlichen Widerstand gegen bestimmte Kulturformen wie Theater und Drama andererseits berücksichtigen könnte.
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2.2.2 Das Theater des Politischen 2.2.2.1 Epistemisch-ästhetische und politische Repräsentation In der bisher behandelten Gesellschafts- und Theatertheorie bedeutete Repräsentation des Menschen vor allem seine an Emotionen geknüpfte (Selbst- und Fremd-)Wahrnehmung als Einzelwesen und (gesellschaftliches) Gattungswesen. Selbst wo er, wie in der Aussteuerungsästhetik, passiv reguliert und sozialisiert werden soll, ist dieser Prozess – als Ritual intersubjektiven Gefühlsaustauschs – mit dem Gedanken einer aktiven Einsicht in diese sozial-ethische Menschlichkeit verknüpft. In dieser Hinsicht ist nicht nur die Ausdrucksästhetik, sondern auch die Aussteuerungsästhetik eine der Repräsentation des Menschen – und zwar in Form einer Verbindung von ästhetischer und epistemischer Repräsentation, da sie den Menschen mit den Mitteln der Kunst für sich selbst und andere in philosophischer Hinsicht, als eine Form des Wissens im weitesten Sinne96, darstellen und dadurch verfügbar machen möchte. Wie wir noch vertiefen werden, soll dies vor allem im Modus des Subjektiven geschehen. Zu diesem Theater des Ästhetisch-Epistemischen, das seinen Ausgangspunkt in Überlegungen um die Jahrhundertmitte hat, gesellte sich gegen Ende des Jahrhunderts ein Theater des Politischen, ähnlich entschlossen theoretisiert und ähnlich schwer zu realisieren. Die Verbindung von Theater und Politik ist traditionell. Die Verkörperunglehre97, auf der die mittelalterliche und frühneuzeitliche Monarchie aufruht, legt es nahe, den politischen Körper des Königs als eine Theaterrolle zu definieren – ja, zu Hochzeiten des (kontinentalen) Absolutismus wurde der König ganz offiziell zum Bühnenakteur.98 In der parlamentarisch ‚gebrochenen‘ Monarchie Englands bzw. Großbritanniens dagegen gab es solch ein royal theatre eher nicht99, wohl aber
96 Vgl. zum Begriff der ‚Episteme‘ als ‚Wissensordnung‘ auch Borsò 1998. Die Entgrenzung von Wissenschaft und Ästhetik, die hier angesprochen ist, wird in der Germanistik als ‚Wissenspoetik‘ beschrieben (vgl. dazu Vogl 1999). Diese kann vor allem bezogen auf die Romantik als der Anspruch spezifiziert werden, Wissensinhalte, insbesondere Wissen vom Menschen, über künstlerische Verfahren zu vermitteln (vgl. dazu Neumeyer/Lange 2000). Exemplifiziert werden kann romantische Wissenspoetik im Rahmen der vorliegenden Studie durch eine ausführliche Darlegung von Wordsworths Poetik als einem Theater des Wissens (vom Menschen), vgl. insbesondere 4.1.1 und 4.1.2. 97 Die Zweikörperlehre sah den jeweils herrschenden König als Ausprägung (body natural) eines kontinuierlichen politischen Körpers der Monarchie; vgl. Kantorowicz 1957. 98 Vgl. unten Anm. 125. 99 Eine Ausnahme, die das französische Königsballett vorwegnahm, bildet die Teilnahme von Queen Anne, der Gattin James I (also nicht Regentin), an höfischen Maskenspielen, etwa in der paradigmatischen Masque of Queens von 1609. Anne war dabei aber nicht politisches, sondern gewissermaßen ästhetisches Zentrum des Hofes (vgl. Schabert 2000: 63f.).
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ein theatre royal, also eine Theaterkultur, die dem Hof diente, von ihm streng überwacht wurde und deren Aufführungen der König regelmäßig besuchte.100 Dabei war er nicht nur im Zuschauerraum präsent, etwa, wie im Cockpit Theatre bei Hofe, in einer der Bühne direkt gegenüberliegenden Loge, die so zur Gegenbühne avancierte, sondern er wurde, etwa in Shakespeares History Plays, auch zum Charakter auf der Bühne, zumindest in historisch zurückliegenden ‚Versionen‘ der englischen Monarchie. Die theatralen Parallelen zwischen Monarchie und (elisabethanischer) Bühne wurden durchaus auch von den Zeitgenossen erkannt: Wie Stephen Greenblatt schildert, simulierte das Theater die politischen Auftritte des Königs, wobei der Unterschied zwischen politischer und theatralästhetischer Repräsentation oftmals nur herausgearbeitet wurde, um im selben Atemzug eingeebnet zu werden. Das politische Handeln konnte auf der Bühne wiederholt werden, da es einerseits selbst schon theatral war, und da andererseits das Theater auch als – mitunter gefährliche und daher zu regulierende – politische (Gegen-)Macht galt.101 Im 17. Jahrhundert wurde die Verbindung von Monarchie und Theater theoretisch vertieft. Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) definierte den monarch als einen vom Volk autorisierten actor, wobei er Theater und Politik im Begriff der „Artificiall person“ [sic] bewusst engführte.102 Wie der Dramatiker den Schauspieler ‚anweist‘, jemand anderen zu spielen als sich selbst, nämlich den entworfenen dramatischen Charakter, so autorisiert Hobbes zufolge das Volk seinen Monarchen, es zu verkörpern und an seiner statt zu handeln. Verbunden mit der Engführung von politischem und theatralem Handeln ist hier auch diejenige von ästhetisch-medialer (sowie epistemischer) Repräsentation einerseits und politischer Repräsentation andererseits. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde im Zuge der intensiven Auseinandersetzung mit Konzept und Praxis der Monarchie interessanterweise auch der Gedanke der Stellvertretung des Volkes durch das Parlament thematisiert; das Oxford English Dictionary verzeichnet ab etwa 1550 die ersten Verwendungen des Verbs ‚represent‘ in diesem Sinne.103 Da die Bedeutung ‚ästhetisch-medial darstellen‘ zur selben Zeit schon zur Verfügung stand104, war
100 Gedacht ist hier etwa an die „Adelung“ von Shakespeares Theatergruppe zu King’s Men unter James I im Jahre 1603. 101 Greenblatt 1988, 10f. Vgl. zur Rolle von Shakespeares Historien für die Romantik (Walter Scotts) 5.3.3.5 der vorliegenden Studie. 102 Hobbes 1981: 217–222, hier 217 (Kapitel 16). 103 The Oxford English Dictionary Third Edition Online unter dem Stichwort „represent“, Bedeu tung I.1.c. http://www.oed.com/view/Entry/162991?rskey=ow2Qrj&result=2&isAdvanced=false#eid (6. Juni 2014). 104 Vgl. OED „represent“ Bedeutungen II.8. bis 10.
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von diesem Moment an die begriffliche Entgrenzung von (im weiteren Sinne) medialer und politischer Repräsentation möglich. Virulent wurde diese Entgrenzung dann aber vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts, allen voran, wie wir sehen werden, bei Edmund Burke. Verbunden mit dem seit Hobbes auch begrifflich reflektierten Einsatz des Theaters als Ort politischen Handelns wird klar, warum Theatermodelle in dieser Zeit zum zentralen Medium einer umfassenden Darstellung des Menschen avancierten, die ästhetisch-epistemische und politische Aspekte zugleich betraf. Mit dem Gedanken der Sozialisation als einer Eingliederung in eine Gemeinschaft gibt bereits die Theatertheorie der schottischen Aufklärung dem Medium neben der epistemischen auch eine politische Dimension. In den im folgenden untersuchten Theaterdiskursen steht diese politische Dimension, genauer: die im engeren Sinne politische Repräsentation des Menschen, im Vordergrund. Im und als Theater ist politische Repräsentation wiederum ein Doppel: Einerseits umfasst sie den Gedanken der aktiven Vertretung eines Kollektivs durch einen ‚Akteur‘, wie ihn bereits Hobbes thematisiert. Dieser Akteur repräsentiert im Falle der Monarchie die Gemeinschaft als ganze. Andererseits, und das ist entscheidend für das Theater des Politischen (ab) der Französischen Revolution, geht es auch um die Beteiligung der Theaterzuschauer an politischen Kollektiven. Diese politische Beteiligung besteht aber praktisch ausschließlich in der Erfahrung der Zugehörigkeit zu solchen Kollektiven, also in einer passiven Zuschauerschaft und nicht in aktivem Handeln in dieser Gemeinschaft. Allerdings wird dieses Zuschauen bei einer theatralen Repräsentation der Gemeinschaft als eine (und als die einzig mögliche) Form der Teilnahme an dieser Gemeinschaft dimensioniert; die Zugehörigkeits-Erfahrung wird als politische Beteiligung bzw. Repräsentation verstanden. Zuschauen und Handeln, Aktivität und Passivität, sollen also auch im Bereich des Theaters der politischen Repräsentation eins werden und sich wiederum in intersubjektiven Prozessen verwirklichen. Das Theater des Politischen will in dieser Zeit im Sinne K. Ludwig Pfeiffers ein Simulations- und ein Partizipationsmedium zugleich sein.105
2.2.2.2 P olitische Tragödie als (Wieder-)Einübung der Monarchie nach der Französischen Revolution Aufgrund der Spektakularität der Ereignisse, aber auch der Intensität ihrer Beobachtung durch die umliegenden, (zunächst) unbeteiligten Staaten sah man die Französische Revolution in ganz Europa von Anfang an als eine Form des Thea-
105 Vgl. Pfeiffer 1999: 42.
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ters und analysierte sie dementsprechend mit den Mitteln der zeitgenössischen Theatertheorie, also als Ort emotionaler Ansprache, aber auch Beeinflussung und Aussteuerung. Das bedeutete zugleich, dass im Theater des Politischen mit einem Mal der Zuschauer und nicht mehr so sehr der (monarchische, politische) Akteur ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte bzw. selbst zum Akteur wurde. Immanuel Kant zufolge unterstützte und bejubelte der Zuschauer der Französischen Revolution aus den umliegenden Staaten nicht nur die Entwicklung einer freiheitlicheren Verfassung in Frankreich, sondern er teilte sie auch, indem sich auch bei ihm allmählich eine republikanische Gesinnung einstellt. „[Die Französische] Revolution […] findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt“ und die, wie Kant im selben Text weiter oben schreibt, „das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen lässt, sondern selbst schon ein solches ist“.106 Das Betrachten des politischen Prozesses – und zwar sogar desjenigen einer fremden Gemeinschaft – wird bei Kant zur Form einer Beteiligung an ihm, Zuschauer werden Akteure. Von den britischen Zuschauern, zu denen berühmtermaßen auch William Wordsworth107 gehört, sind es vor allem Helen Maria Williams und Joel Barlow, die bereits einige Jahre vor Kant darauf hinweisen, dass die Französische Revolution als „the most sublime spectacle [...] ever represented on the theatre of this earth“108 ihren Ausgang nicht nur im Ende der Ereignisse, sondern auch in der Reaktion des Publikums haben wird: Philosophers and contemplative men, who may think themselves disinterested spectators of so great a political drama, will do well to consider how far the catastrophe is to be beneficial or detrimental to the human race, in order to determine whether in conscience they ought to promote or discourage, accelerate or retard it, by the publication of their opinions.109
Die Französische Revolution wird hier zum Ereignis, dem sich die europäischen Publizisten nicht entziehen dürfen – und können: Einerseits müssen sie sich in ihrer eigenen Darstellung der Ereignisse ihrer Verantwortung gegenüber den Zeitgenossen bewusst werden und ein prononciertes Urteil über die Revolution entwickeln. Denn die Folgen der Französischen Revolution bestehen andererseits auch in ihrer Wirkung auf die ‚umstehenden‘ Nationen, sei es durch die Bühne
106 Vgl. Kant 1907: 85. 107 Vgl. 4.2.3. 108 So Helen Maria Williams (Williams 1790: 2). 109 Barlow 1956: 3. Die Äußerung wurde 1792 publiziert.
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der Ereignisse selbst oder aber durch das (textuelle) Theater ihrer Beschreibung durch „contemplative men“.110 Das revolutionäre Theater politischer Ereignisse lag allerdings nicht nur im Auge des Betrachters; vielmehr wurde es, darin dem Theater der Monarchie ähnlich, auch aktiv inszeniert. Im Gegensatz zu den Beobachtern der Revolution aus fremden Nationen wurden die Zuschauer dieses Theaters zu Akteuren und ‚politisch‘ Repräsentierten in einer Gemeinschaft, der sie sich zugehörig fühlen sollten. Die Rede ist hier von den Revolutionsfesten, etwa der berühmten fête de la féderation von 1790. Das Fest bestand aus feierlichen Staatseiden an einem sogenannten ‚Altar des Vaterlands‘, welche von einem Publikum verfolgt wurde, das zuvor selbst aktiv gewesen war, nämlich in einem feierlichen Einzug aller Deputierten auf das Marsfeld, auf dem das Fest stattfand.111 Insgesamt sollte die fête das Errungene nicht nur festhalten, sondern wollte selbst auch ein Ereignis sein, das die Revolution vorantrieb. Verfolgte dieses Fest noch die von Rousseau bewusst als alternative Theaterform propagierte reine Darstellung der Akteure ihrer selbst112, so wurden die Feierlichkeiten im Verlauf der Revolution immer theaterhafter im traditionellen Sinne, sie integrierten demnach zunehmend kostümierte Schauspieler sowie bühnenbildnerische Elemente wie Bilder und Inschriften.113 In Frankreich verschob sich das Theater des Politischen also im Zuge der Revolution – zumindest zeitweise – von der Darstellung des Monarchen zur Repräsentation des Volkes und entwickelte explizite Theaterformen zum Ausdruck der neuen politischen Ordnung. Im Gegenzug wurde der König im Zeremoniell seiner Verurteilung und Hinrichtung ebenso sorgfältig wie theatralisch der Insignien seiner Macht entkleidet, der Übergang zum Theater des Volkes also als Abtritt des Königs von der Bühne inszeniert.114 Mit diesen Ereignissen, die auch in Großbritannien mit der oben beschriebenen emotionalen Beteiligung, teils positiv teils negativ, beobachtet wurden, kehrte das Theater des Politischen in den 1790er Jahren mit aller Macht ins Zentrum der Aufmerksamkeit zurück. Da nun aber ein postmonarchisches Szenario zur Verfügung stand, wurde es dring-
110 In dieser Äußerung ist im Kern die mediale Karriere des postrevolutionären politischen Theaters als Text bereits enthalten, vgl. 2.2.2 passim. 111 Vgl. dazu Koschorke et al. 2007: 267–280 (mit weiterführender Literatur). 112 Vgl. 2.2.2.4 113 Vgl. Pross 2001: 70f. 114 Koschorke et al. 2007: 219–226. Wordsworth und Scott arbeiten, wie wir sehen werden, gerade an der Integration des Königs in das Theater des Volkes. Ein solches Theater des Volkes mit König gab es in Form der frühen Revolutionsfeste allerdings auch schon während der ‚gemäßigten‘ Phase der Französischen Revolution (vgl. 2.2.2.5).
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lich, diesem ein Theater fortgesetzter Monarchie entgegenzusetzen. Theoretiker eines solchen Theaters und Auslöser wütender Gegentheater war Edmund Burke. Edmund Burke setzt in seiner berühmten antirevolutionären Schrift Reflections on the Revolution in France von 1790 der Devestitur der Monarchie eine ebenso sorgfältige Revestitur entgegen, die stark im Zeichen einer Ästhetik des Politischen steht. Burke wird damit zum zentralen Verfechter der Engführung ästhetischer und politischer Repräsentation mit den Mitteln des Theaters. Politische Machtverhältnisse wollen bei ihm beschönigend bemäntelt, aber auch ästhetisch-theatral erfahren werden. Burke formuliert dieses Credo in seiner Klage über die Abschaffung ‚schöner Politik‘ durch eine entfesselte, pervertierte Aufklärung ex negativo: All the pleasing illusions, which made power gentle, and obedience liberal, which harmonized the different shades of life, and which, by a bland assimilation, incorporated into politics the sentiments which beautify and soften private society, are to be dissolved by this new conquering empire of light and reason. All the decent drapery of life is to be rudely torn off. All the superadded ideas, furnished from the wardrobe of a moral imagination, which the heart owns, and the understanding ratifies, as necessary to cover the defects of our naked shivering nature, and to raise it to dignity in our own estimation, are to be exploded as a ridicoulous, absurd, and antiquated fashion. [...] On the principles of this mechanic philosophy, our institutions can never be embodied, if I may use the expression, in persons; so as to create in us love, veneration, admiration, or attachment. [...] To make us love our country, our country ought to be lovely.115
Die Verkörperung des Staates in der Person des Monarchen wird hier primär – und vielleicht etwas überraschend – als notwendige Ästhetisierung der Politik gerechtfertigt. Politik muss eine Ebene illusionärer Schönheit besitzen, damit, ganz im Sinne der im vorherigen Abschnitt besprochenen Theatertheorie, die zarten Gefühle menschlicher Verbundenheit geweckt und in die öffentliche Sphäre ‚inkorporiert‘ werden sowie die „different shades of life“, wie Burke selbst schon beschönigend die sozialen Unterschiede nennt, ‚harmonisiert‘ werden können. Diese Ästhetisierung dient aber nicht nur dazu, Macht ‚sanft‘ erscheinen zu lassen, sondern im Gegenzug auch das Gehorchen ‚freiwillig‘ („liberal“) zu machen: Die ästhetische Medialisierung des Politischen ist Kommunikation (der Notwendigkeit von Macht und Ungleichheit) und Aussteuerung (des Rezipienten zum Gehorsam) zugleich. James Chandler hat diese „ästhetisch[e Rechtfertigung]“ des „Herrschaftsanspruchs der Könige“116 bei Burke bisher am gründlichsten untersucht und expli-
115 Burke 2001: 239–241. 116 So Matala de Mazza 2006: 205, allerdings ohne Hinweis auf Chandler.
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zit auf eine Auffassung von Repräsentation bezogen, die Ästhetik und Politik miteinander verbindet. Burkes Pamphlet ist bekanntlich eine Reaktion auf Richards Prices radikale Predigt A Discourse on the Love of Our Country von 1789, in der dieser den Jahrestag der britischen Revolution zum Anlass nimmt, die Französische Revolution als weiteren Meilenstein in der politischen Geschichte Europas zu feiern.117 Burke attackiert nun insbesondere Prices Forderung nach der Übernahme der „free and equal representation“118 aus dem revolutionären Frankreich und legitimiert die Notwendigkeit einer spezifischen ungleichen Repräsentation für Großbritannien über die unhintergehbaren Eigentumsunterschiede innerhalb der Gesellschaft.119 Mit diesem Repräsentationsbegriff wird die Forderung nach „pleasing illusions“, also nach ästhetischer Repräsentation der politischen Ordnung, umso verständlicher: Nur diese ästhetische Repräsentationsart kann die Ungleichheit ausgleichen, indem sie alle gleichermaßen (wenigstens) am schönen Schein der Nation teilhaben lässt. Als Ersatz demokratischer politischer Repräsentation fungiert in Burkes Programm eine demokratisierte ästhetische Repräsentation des Politischen, welche in seiner Auffassung die einzig mögliche Form der Beteiligung aller am politischen Prozess ist. Chandler sieht in dieser Ästhetik eine Initialzündung der britischen Romantik120, die nun die Aufgabe übernimmt, dieses Theater der Nation zu erarbeiten und für seine landesweite Zugänglichkeit zu sorgen. Inwieweit wird die romantische Ästhetisierung des Politischen von Burke nun spezifisch auf das Medium des Theaters bezogen? Auch wenn sie nicht gerade eine ‚pleasing illusion‘ ist, sieht Burke die Tragödie als besonders geeignete Erfahrungsform des Politischen in seiner Zeit: Sie kann die Monarchie in ihrer Vernichtung bzw. Gefährdung darstellen, durch diese Darstellung zugleich die emotionale Bindung an sie (wieder)herstellen und damit die Bereitschaft erzeugen, sie zu erhalten. Er empfiehlt, das Schauspiel der Französischen Revolution als Tragödie aufzuführen und beschreibt sie zunächst – ganz im Geiste der schottischen Aufklärung – in ihrer Wirkung auf das menschliche Mitgefühl:
117 Zur nationalen Gedenkpredigt als einem der zentralen Formate im postrevolutionären Theater des Politischen vgl. 2.2.2.5. 118 Burke 2001: 228; Hervorhebung im Original. 119 Burke 2001: 207f. 120 Chandler 1989: 52f. und 55 („Burke [...] helped to lay the foundations of some of the literary movements [...] which are commonly grouped under the heading of English Romanticism.“). Vgl. zur Rolle von Walter Scott in dieser Ästhetik Chandlers weiterführende Monographie England in 1819 (1998), insbesondere 303–349, sowie Kapitel 5 der vorliegenden Studie.
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Why do I feel so differently from the Reverend Dr. Price [...]? For this plain reason – because it is natural I should; because we are so made as to be affected at such spectacles with melancholy sentiments upon the unstable condition of mortal prosperity, and the tremendous uncertainty of human greatness; because in those natural feelings we learn great lessons; because in events like these our passions instruct our reason; because when kings are hurl’d from their thrones by the Supreme Director of this great drama, and become the objects of insult to the base, and of pity to the good, we behold such disasters in the moral, as we should behold a miracle in the physical order of things. We are alarmed into reflexion; our minds [...] are purified by terror and pity; our weak unthinking pride is humbled, under the dispensations of a mysterious wisdom.–Some tears might be drawn from me, if such a spectacle were exhibited on the stage.121
Die Metapher von der Französischen Revolution als Schauspiel wird hier zum Programm einer politischen Tragödie: Das bekannte Mitgefühl des Zuschauers soll im Medium dieses Theaters nicht mehr (nur) zur sozialen Ethik, sondern vor allem zu einer politischen Moral kanalisiert werden, die die (Zustimmung zur) Monarchie als menschliche Pflicht erscheinen lässt.122 Wie dieses Spektakel auf die Bühne gebracht werden soll – was hier ja konkret vorgestellt wird –, wie es der Regie des „Supreme Director“ entwunden und von der voyeuristischen, auf „insult“ basierenden Farce zur Staatstragödie gemacht werden soll, darüber schweigt Burke sich an dieser Stelle – beredt, wie wir sehen werden123 – aus. Es ist, wie sich zeigen wird, vor allem die theatrale Rhetorik seines eigenen Textes, die uns das Fürchten vor dem tragischen Niedergang der Monarchie lehren soll. Die Monarchie ausgerechnet im Modus ihrer tragischen Bedrohung weiterführen zu wollen, entbehrt nicht einer gewissen Problematik. Tragödien setzen zwar an ihr Ende meist die Wiedereinsetzung der durch die tragische Handlung ins Wanken geratenen oder zeitweilig ausgesetzten politischen Ordnung. Und doch scheint Burke eine ästhetische Theorie politischen Erlebens und Gehorchens für eine Zeit gestalten zu müssen, in der es mit der Selbstverständlichkeit der Monarchie, mit der positiv-ungebrochenen Glaubwürdigkeit des Monarchen einerseits und der politisch-ästhetischen Einheit seiner Repräsentation andererseits auch in Großbritannien vorbei ist. Die Schönheit der Monarchie ist nurmehr ex negativo zu erfahren, in tragischen Beschwörungen ihrer Bedrohung:
121 Burke 2001: 243. 122 Wie Frans De Bruyn zeigt, ist eine derartig konservativ-politische Aufladung ‚emotionalistischer‘ Tragödientheorie, wie sie sich im 18. Jahrhundert entwickelte, vor allem mit Joseph Addison und dem Earl of Shaftesbury verbunden (De Bruyn 1992: 194f.). 123 vgl. 2.2.2.6.
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It is now sixteen or seventeen years since I saw the queen of France, then the dauphiness, at Versailles; and surely never lighted on this orb, which she hardly seemed to touch, a more delightful vision. I saw her just above the horizon, decorating and cheering the elevated sphere she just began to move in;–glittering like the morning-star, full of life, and splendor, and joy. Oh! what a revolution! and what a heart must I have, to contemplate without emotion that elevation and that fall! Little did I dream that, when she added titles of veneration to those of enthusiastic, distant, respectful love, that she should ever be obliged to carry the sharp antidote against disgrace concealed in that bosom; little did I dream that I should have lived to see such disasters fallen upon her in a nation of gallant men, in a nation of men of honour and of cavaliers. I thought ten thousand swords must have leaped from their scabards to avenge even a look that threatened her with insult.–But the age of chivalry is gone.–That of sophisters, œconomists, and calculators, has succeeded; and the glory of Europe is extinguished for ever.124
Der Beginn des Zitats zeigt Marie Antoinette in der ganzen Schönheit ihrer ästhetischen Funktion in der Politik. Die Beschreibung zielt nicht so sehr auf eine Abwertung von Frauen in der politischen Ordnung, sondern ist eher Zeichen einer femininen Codierung der ästhetischen Seite des Politischen, wobei die Ästhetik bis zur Französischen Revolution Burke zufolge ohnehin die hauptsächliche Erfahrungsform des Politischen für die meisten Untertanen war. Mit der ungebrochenen Schönheit der staatlichen Ordnung ist es nun aber laut Burke in ganz Europa vorbei. An die Stelle von Liebe und Verehrung für den monarchischen Sonnenschein125 treten Bestürzung und Ernüchterung über den Fall von einstiger Größe. Das bedeutet nicht, dass die Ästhetik des Politischen am Ende wäre. Sie ist allerdings nicht mehr direkt am Körper des Königs zu finden – in Gestalt seiner Königin126 –; vielmehr ist sie als Tragik ins Theater abgewandert127, wie Burke
124 Burke 2001: 237f. 125 Die Sonne war ein Zentralsymbol absolutistischer Monarchie, bisweilen auch gespielt von den Monarchen selbst, etwa im 1653 aufgeführten allegorischen Ballet de la nuit von Jean-Baptiste Lully durch Ludwig XIV, wie der – in dieser Hinsicht um Authentizität bemühte – Spielfilm Le roi danse von Gerard Corbiau aus dem Jahre 2000 zeigt. 126 Dass die Königin die Schönheit der Monarchie zu verkörpern hat, wie Burke hier suggeriert, spricht zumindest für eine Beschränkung der Frau auf den Objekt-Status in der Politik, während der Monarch die Rolle des handelnden Subjekts einnimmt. Vgl. für eine Komplizierung dieser Konstellation die Lektüre von The Heart of Mid-Lothian von Walter Scott, wo Queen Caroline, die Ehefrau von George II, Objekt- und Subjektstatus des Monarchen in idealer Weise vereint (vgl. 5.2.3.2). 127 Allerdings hat auch diese Tragödie weibliche Züge: Wie Christopher Reid 1992 herausarbeitet, zeigt Edmund Burkes Tragödienkonzeption Ähnlichkeiten mit der Theaterästhetik der Zeit, die in Theorie und Praxis ebenfalls an einer Tragödie arbeitete, die den Monarchen in privaten und verletztlichen (‚sympathischen‘) Situationen zeigte und dies ebenfalls an weiblichen Cha-
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suggeriert bzw. in der mächtigen Rhetorik seines eigenen Textes selbst theatralisch demonstriert. Die von Burke verfochtene politische Ästhetik, vor allem in der von ihm als zeitgemäß vorgeschlagenen Form der Tragödie, kann von daher auch als Symptom einer Krise der Monarchie gelesen werde, eine Deutungsmöglichkeit, die seine Gegner begierig aufgriffen.128
2.2.2.3 Gegentheater I: Tragödie des Volkes Burkes Verdammung der Französischen Revolution in Bausch und Bogen führte 1790, lange vor dem terreur, zu wütenden Protesten. Die berühmteste Replik ist die Streitschrift Rights of Man des internationalen Revolutionärs Thomas Paine, der mit Common Sense von 1776 die amerikanische Revolution publikatorisch befeuert hatte und jetzt die Gelegenheit gekommen sah, in Reaktion auf Burke eine britische Revolution herbeizuführen. Burkes Tragödientheorie knöpft er sich explizit vor: As to the tragic paintings by which Burke has outraged his own imagination, and seeks to work upon that of his readers, they are very well calculated for theatrical representation, where facts are manufactured for the sake of show, and accomodated to produce, through the weakness of sympathy, a weeping effect. But Mr Burke should recollect that he is writing History, and not Plays.129
Burkes Doppelstrategie, Tragödientheorie mit praktizierter Tragik zu verbinden, ist Paine nicht entgangen; zusammen mit Burkes tragischem Stil hofft er, auch dessen Tragödientheorie der reinen Rhetorizität zu überführen, in einem berühmt gewordenen Beispiel dekonstruktiven Bildersturms im Dienste politischer Theorie.130 Gegen die Burkesche Show setzt Paine die Darstellung echten Leids:
rakteren verkörperte, vielfach dargestellt von der berühmten Tragödienschauspielerin Sarah Siddons. Eine solche Tragödie war allerdings weitgehend unaufführbar, wenn sie sich, wie das Burke hier tut, König(in)en der Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit zuwandte (vgl. 2.1), und wurde deshalb – mit tiefgreifenden Modifikationen – im historischen Roman Walter Scotts realisiert (vgl. Kapitel 5). 128 Zwar verstärkten sich unter dem zeitgenössischen britischen Monarchen George III die Bemühungen, die Monarchie wieder zu präsentieren und zu propagieren – als zutiefst anständig, häuslich und (damit) britisch; gerade aber diese Versuche können auch als Diffusion der Monarchie im Rahmen einer multimedialen Repräsentation des Politischen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts interpretiert werden, in die der Körper des Königs nurmehr ein- (und nicht über-) geordnet wurde (vgl. Merten 2006a: insbesondere 293–295). 129 Paine 1984: 49f. 130 Ein früheres Beispiel, dessen Konstellation hier in gewisser Weise wiederholt wird, ist John Miltons Reaktion auf die Verteidigung und tragisch-mitleiderregende Inszenierung geschunde-
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Not one glance of compassion, not one commiserating reflection, that I can find throughout his book, has [Burke] bestowed on those who lingered out the most wretched of lives, a life without hope, in the most miserable of prisons. [...] He is not affected by the reality of distress touching his heart but by the showy resemblance of it striking his imagination. [...] His hero or his heroine must be a tragedy-victim expiring in show, and not the real prisoner of misery, sliding into death in the silence of a prison. A vast mass of mankind are degradedly thrown into the background of the human picture, to bring forward with greater glare, the puppet-show of state and aristocracy.131
Dem Vorwurf, Burkes Tragik fehle es an Herz (und damit an Mitgefühl), könnte entgegnet werden, dass gerade der Zusammenhang von Leid, Mitgefühl und politischer Moral von Burke in der Nachfolge der schottischen Aufklärung auf das Sorgfältigste theoretisiert wird. Paines Heraufbeschwören von herzzerreißenden Anblicken wirklich Leidender führt denn auch keineswegs vom Tragischen weg, sondern konturiert vielmehr eine alternative Tragödie, die das Sujet erweitert und das Volk zum mitleiderregenden tragischen Helden erhebt.132 Schon James Beattie erklärt – im Rahmen einer europaweiten Diskussion um die Aufhebung der Ständeklausel, die auch in Großbritannien mit einiger Leidenschaft geführt wurde133 – den Mann ‚von unten‘ zum möglichen Tragödienhelden. [L]anguage admits of many degrees of elevation; and a particular turn of fancy, or temperature of the passions, will sometimes give wonderful sublimity to the style even of a peasant
ner Monarchie im royalistischen Pamphlet Eikon Basilike von 1649, erschienen am Tag der Hinrichtung von Charles I. Miltons Replik trägt den wunderbar sprechenden Titel Eikonoklastes. Das revolutionäre 17. Jahrhundert und seine (Anti-)Theatralität ist für die revolutionäre Romantik eine wichtige Bezugsfolie, etwa schon für Burke (vgl. de Bruyn 1992: 49f.) oder auch für Walter Scott (vgl. 5.3.3). 131 Paine 1984: 51, 59. 132 Vgl. auch die Konturierung der (Tragödien-)Theorie der sympathetick curiosity über den Gefängnisinsassen bei Joanna Baillie in 2.2.1.2. Paine greift ein weiteres Mal zum tragischen Stil, um der Bedrohung der Könige eine ebenbürtige Tragödie der französischen Nationalversammlung entgegenzuhalten: „The guards of Broglio surrounded the hall where the assembly sat, ready, at the word of command, to seize their persons, as had been done the year before to the parliament of Paris. [...] When the situation they stood in, the cause they were engaged in, and the crisis then ready to burst (which was to determine their personal and political fate, and that of their country, and probably of Europe) are taken into one view, none but a heart callous with prejudice, or corrupted by dependence, can avoid interesting itself in their success.“ (Paine 1984: 53) Paine klingt hier wie Burke, nur dass er sich für das Parlament und nicht für die Monarchie einsetzt. Vgl. zum Verhältnis von Burke und Paine zueinander und zur Theorie des ‚moral sentiment‘ auch Samet 2003. 133 Vgl. dazu die Ausführungen zu Joanna Baillies Theatertheorie und deren europäische Bezugspunkte in 2.2.1.2.
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or a savage. So that the style of tragedy, notwithstanding its elevation, may be as various as the characters and passions of men, and may yet in each variety be natural [...]134
Was bei Beattie noch gönnerhafte Berücksichtigung einfacher Menschen für den hohen Stil ist, avanciert bei Paine und seinen Mitstreitern, etwa James Mackintosh, zur impliziten Forderung nach einer neuen Tragödie. Mit einem Mal ist die Ständeklausel politisch aufgeladen und wird zur Forderung nach gerechter Repräsentation. Mackintosh schreibt: [Burke’s] eloquence is not at leisure to deplore the fate of beggared citizens, and famished peasants, the victims of suspended industry, and languishing commerce.135
William Wordsworth sollte in seinen Lyrical Ballads genau diese Art der Tragödie in Reaktion auf Beattie und Mackintosh ausführen. Natürlichkeit wird in Wordsworths Poetik ab 1798 nicht nur zum Primat, sondern wird – via Beattie und seinen Zeitgenossen Hugh Blair – auch mit dem ‚einfachen Manne‘ gleichgesetzt.136 In der pamphletistischen ersten Hälfte des Jahrzehnts konturiert Wordsworth diese Repräsentation schon einmal explizit politisch. „[O]n the subject of representation“ führt er aus: [T]o be qualified for the office of legislation you should have felt like the bulk of mankind; their sorrows be familiar to you, of which if you are ignorant how can you redress them?137
Wordsworth wird die Forderung der Volksnähe in seiner Poetik der „incidents and situations from [low and rustic] life […] in a selection of language really used by men“138 aufgreifen und damit politische und ästhetische Repräsentation engführen: Der romantische Dichter übernimmt gewissermaßen das Amt des Gesetzgebers, indem er sein Gefühl für und mit dem Volk in eine ‚Repräsentation‘ ihrer Nöte und Meinungen ummünzt – allerdings, wie wir auch sehen werden, in einer eher gemäßigten, postrevolutionären Form. In den frühen 1790er Jahren ist dies alles noch Theorie, aber eben nicht nur politische, sondern auch Tragödientheorie – oder vielmehr: politische Theorie als Tragödientheorie. Man hofft noch, das Leiden des Volkes tatsächlich auf die
134 Beattie 1776: 225. Vgl. 2.2.1.3. 135 Mackintosh [21791] 1983: v. 136 Vgl. 4.1. 137 Wordsworth 1974: Bd. 1, 47. Es handelt sich um den Letter to the Bishop of Llandaff aus dem Jahre 1793. 138 Wordsworth 1992: 743.
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Bühne zu bringen, ist sich der Provokativität dieser Forderung aber wohl bewusst. Was könnte eine Tragödie des Volkes im Publikum auslösen? Mackintosh schreibt dazu: The sensibility which seems feared by the homely miseries of the vulgar, is attracted only by the splendid sorrows of royalty, and agonizes at the slenderest pang that assails the heart of sottishness or prostitution, if they are placed by fortune on a throne.139
Das Leiden des Volkes wird auf der Bühne aus zwei Gründen nicht gerne gesehen: Einerseits sind die „miseries of the vulgar“ zu alltäglich, um die Ereignishaftigkeit tragischer Sujets zu erfüllen; es fehlen ihnen der Glanz und die Außerordentlichkeit könglichen Leids, auch wenn dieses in Wirklichkeit Trunksucht und sexuelle Ausbeutung, „prostitution“, ist – mithin das Leiden des Volkes mitauslöst. In dieser Alltäglichkeit liegt zudem eine Gefahr, die die Theatermacher das Fürchten lehrt, wie Mackintosh schreibt.140 Paine führt diesen Aspekt in seinen Rights of Man weiter aus: Das Leiden des Volkes ist allgegenwärtig und authentisch und könnte, auf die Bühne gebracht, ein Mitgefühl auslösen, das zu politischer Reflexion und Meinungsäußerung führt: It is one of the arts of the drama [to exhibit the consequences without their causes]. If the crimes of men were exhibited with their sufferings, stage effect would sometimes be lost, and the audience would be inclined to approve where it was intended they should commiserate.141
Thomas Paine imaginiert an dieser Stelle eine Hinzunahme des leidenden Volkes zu Edmund Burkes Tragödie leidender Monarchie, was zu einer völlig anderen Wirkungsästhetik führen würde. Wo das Theater Burkes die Verbrechen am Königtum warnend beschwört, um ein tränenreich reumütiges Publikum zurück zur Monarchie zu bringen, führt die Kenntnis des Auslösers für diese Vergehen – nämlich Untaten der Adeligen selbst – letztlich zu einer rationalen und politischen ‚Sympathie‘, die auf dem Wege ist, die historische Notwendigkeit des Königsssturzes zu billigen. Burkes tragische Einsicht in die Natürlichkeit des
139 Mackintosh 1983: v–vi. 140 Dabei bringt die gewundene Syntax dieses Zitats sowohl eine Furcht vor als auch eine Furcht durch das leidende Volk zum Ausdruck. Mitgefühl mit dem Volk wird also potentiell auch von diesem selbst nicht gerne gesehen, da es, wie auch Adam Smith in seiner Theory of Moral Sentiment theoretisiert hatte, eher zur Ablehnung des Leidenden führt (vgl. 2.2.1.1 und 2.2.1.2). Smiths Theorie des Mitgefühls – und der theatralen Medialität, die es erfordert – wird hier also politisch aufgeladen. 141 Paine 1984: 60.
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Gehorsams erhält hier ihren revolutionären Gegenpart in einer Tragödie, die die vernünftige Zustimmung zum Umsturz lehren will. Wordsworths Pamphlet treibt diesen Gedanken weiter und stellt sich einen Tragödienzuschauer vor, dem beim Anblick des leidenden Königs der Gedanke kommt, das Leid sei zwar bedauerlich, aber angesichts der Inadäquatheit monarchischer Repräsentation – politisch wie ästhetisch – unvermeidlich: It is from the passion [...] directed [by the influence of reason] that [...] men are afflicted by the catastrophe of the fallen monarch. They are sorry that the prejudice and weakness of mankind have made it necessary to force an individual into an unnatural situation, which requires more than human talents and human virtues, and at the same time precludes [the monarch] from attaining even a moderate knowledge of common life and from feeling a particular share in the interests of mankind.142
Der vernünftige Theaterzuschauer – vernünftig auch durch die Rezeption anderer, Painescher Tragödien – analysiert nicht ohne Gefühl, aber mit aller Schärfe die Fehlkonstruktion der Monarchie, die den König das Volk als ganzes repräsentieren lässt, zugleich aber verhindert – etwa durch die Exklusivität des Hoflebens –, dass er Kenntnis von ihm gewinnt. Die Poetik einer erweiterten Tragödie wird hier auf die Inhaltsebene des Dramas zurückgespiegelt und lässt den aufgeklärten Zuschauer wünschen, der leidende König, auf den er herabblickt, hätte dieselben vernünftigen und demokratischen Tragödien gesehen wie er selbst. Der Monarch im Gegenzug erscheint hier, ganz im Sinne der romantischen Doppelung der Repräsentation, als ein unfähiger Gesetzgeber und ein rückständiger Theaterbesucher zugleich. Der Dichter andererseits, den Wordsworth in diesem Jahrzehnt mit Verve entwirft, wäre aufgrund seiner emotionalen und geistigen Durchdringung des Volkes der bessere ‚König‘. Paine und Wordsworth entwickeln hier ein Theater, das aufgrund seiner Miteinbeziehung der anderen Seite der Macht die Gefühle der Zuschauer nicht zur unterwürfigen Reue degradiert, sondern zur vernünftigen Einsicht in Gang und Gesetze der Nation veredelt. Zur Repräsentation des ganzen Volkes auf der Inhaltsebene kommt die ‚demokratische‘ Beteiligung des Zuschauers auf der Wirkungsebene. Das Medium des Theaters mutiert hier vom Medium der Aussteuerung, wie Burke es vorgesehen hatte, zu einem Medium des Ausdrucks des Individuums, das ebenfalls ästhetische mit politischer Repräsentation verbindet. An der Zuschauer- bzw. Beteiligungsseite dieses Theaters wird, wie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird, von anderen Theoretikern und mit anderen Akzenten, heftig (weiter)gearbeitet.
142 Wordsworth 1974: Bd. 1, 33.
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2.2.2.4 Gegentheater II: Theater des Volkes Für Edmund Burke sind alle Vorstellungen eines Theaters des Volkes schlicht ein Alptraum. Über das Schicksal der königlichen Familie nach der Stürmung von Versailles schreibt er: This king [...] and his queen, and their infant children were then forced to abandon the sanctuary of the most splendid palace in the world, which they left swimming in blood, polluted by massacre, and strewed with the scattered limbs and mutilated carcasses. [...] [T]he royal captives [...] were slowly moved along, amidst the horrid yells, and shrilling screams, and frantic dances, and infamous contumelies, and all the unutterable abominations of the furies of hell, in the abused shapes of the vilest of women. [...] Is this a triumph to be consecrated at altars? to be commemorated with grateful thanksgiving? to be offered to the divine humanity with fervent prayer and enthusiastick ejaculation–These Theban and Thracian Orgies [...]143
Das Szenario eines pervertierten Triumphzuges, der in einem, wie Burke suggeriert, ebenso perversen britischen Gottesdienst unter der Leitung von Richard Price gefeiert wird und dadurch zu einem dionysischen, also urdramatischen Ritual wird, war im weiter oben zitierten Entwurf eines ganz anderen, zur Monarchie zurückführenden Theaters als ‚drama of insult‘ unter dem „Supreme Director“ ebenfalls präsent.144 Burkes Theater inkorporiert also ebenfalls das seiner Gegner. Wo Wordsworth die Tragödie des Volkes auf das Bühnengeschehen des tragisch leidenden Königs projiziert, sieht Burke ein Theater des Mob als Tiefpunkt der dramatischen Handlung um das französische Königshaus. Wordsworths Theater der Vernunft wird hier ein Theater der absoluten Entfesselung des gaffenden Volkes gegenübergestellt, dem der vernünftige Zuschauer seinerseits nur schaudernd zusehen kann.145 Diese Doppelung des Theaters ist typisch für Burke146 und entspricht auch einer tatsächlichen Konstellation im Bereich der (politischen) Theaterkonzepte der Zeit. Frans De Bruyn zeigt, dass Burkes Theater
143 Burke 2001: 232 f. 144 Vgl. Burke 2001: 243. 145 Vgl. zu diesem Theater der Entfesselung im Gegensatz zur Selbstauffassung der Französischen Revolution als einer klassischen Tragödie auch Liu 1989: 138–163. Laut Liu wurde nur von englischer Seite her das revolutionäre Geschehen als barbarisch-chaotisches Theater aufgefasst. Die Revolutionäre selbst dimensionierten die Adeligen als unvermeidliche Opfer innerhalb eines schicksalhaften und geregelten tragischen Geschehens, was die Revolutionstragödie der Burke schen Königstragödie ‚unheimlich‘ ähnlich machte – nur dass sie bei ihrem Publikum eine völlig andere Katharsis und Reaktion vorsah. 146 „Drama for [Burke] was both order and disorder, continuity and discontinuity. It described both the pattern of human existence [the chain of being] and the chaos that lay beyond it.“ Hindson/Gray 1988: 38.
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des Mob auf eine existierende populäre (britische) Umzugskultur Bezug nimmt, die er nachhaltig eingeschränkt wissen wollte.147 Diese Umzüge, auf die zurückzukommen ist148, tauchen in der Theorie des Theaters des ganzen Volkes wiederholt auf. Zunächst aber müssen wir die Fundierung dieses Theaterkonzepts bei Thomas Paine in den Blick nehmen. Im zweiten Teil seiner Rights of Man beschreibt Paine die Monarchie als ein geschlossenes Theater, „something kept behind a curtain, about which there is a great deal of bustle and fuss, and a wonderful air of seeming solemnity“, während das „representative system of government“ sich „on the open theatre of the world“ präsentiere: „Whatever are its excellencies or its defects, they are visible to all. It exists not by fraud and mystery; it deals not in cant and sophistry; but inspires a language, that, passing from heart to heart, is felt and understood.“149 Paine geht es auch um zwei unterschiedliche politische Systeme und ihre Beschreibung mit den Mitteln des Theaters; aber der Bezug auf die Herzenssprache indiziert die mitgeführte Theatertheorie; politische und ästhetische Repräsentation werden wiederum enggeführt. Dabei entwirft Paine gegen das Burkesche monarchische Drama eine Theaterform der offenen und herzlichen Selbstrepräsentation des Volkes und schaltet dabei von Überlegungen zum Sujet auf mediale Differenzierungen um: Das Theater der Monarchie ähnelt einer Illusionsmaschinerie für ein streng ausgeschlossenes, abgetrenntes und daher täuschbares Publikum, während das offene Theater des Volkes sich deswegen vollkommen entbirgt, da es Zuschauer und Akteur ineinsfallen lässt.150 Der europäische Urtext der Konfrontation dieser beiden Theater war bereits 1759 in englischer Übersetzung erschienen – und von Edmund Burke im selben Jahr rezensiert worden. Jean-Jacques Rousseaus Letter to M. D’Alembert of Paris, Concerning the Effects of Theatrical Entertainments on the Manners of Mankind, wie er in der englischen Fassung heißt, ist ein Höhe- und Endpunkt protestantischer Theaterfeindlichkeit. Sein Ruhm fußt in jüngerer Zeit allerdings weniger auf einer Aufzählung der bekannten Vorurteile gegen herkömmliches Bühnentheater als vielmehr auf seinem Entwurf eines neuen offenen und demokratischen Volkstheaters der Genfer Republik151, das Rousseau vom herkömmlichen Theater als einem der Einschüchterung und Autorität explizit absetzt:
147 Vgl. De Bruyn 1992. 148 Vgl. 2.2.2.4. 149 Paine 1984: 182. 150 Vgl. zur Unterscheidung der beiden Theaterformen bei Paine sowie zum Bezug des legitimate theatre auf Burkes Konzept der „decent drapery“ auch Russell 1995: insbesondere 1–25. 151 Vgl. Pross 2001: 49–56, dort auch Überblick über die Forschung, v.a. aus dem deutschsprachigen Raum. Zur Rezeption im angloamerikanischen Raum vgl. Costello 2003 und Crafton 2011.
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But let us not adopt those exclusive entertainments, which hold only a small number of people, locked up, as it were, in a gloomy cavern, where they sit timid and motionless in pensive silence; where the eye is offended with such disagreeable objects, as partition walls, iron spikes, soldiers and striking images of servitude and inequality. No, happy people [of Geneva], these are not your festivals! You are to assemble in the open air, under the canopy of heaven, and there are you to feast on the contemplation of your happiness. Let your pleasures be neither mercenary nor effeminate; let no constraint nor interest adulterate them; let them be free and generous like yourselves; let the sun dart its rays on your innocent spectacles, and then you will form yourselves, the finest that eyes can behold [...] [L]et the people be assembled round, and this shall be called a festival. You may do better still: let the spectators be exhibited as a show; let them be actors themselves; let each man see and love himself in others, to the end that they may be all the more intimately united.152
Genauer könnte das bereits im Abschnitt 2.2.1.3 virulent gewordene Theater der intersubjektiven Selbstrepräsentation medial nicht ausbuchstabiert werden, dazu in seiner ästhetisch-epistemischen und politischen Dimension. Die Schauspieler-Zuschauer zeigen, in einer berühmten Formulierung Rousseaus, ‚nichts‘153 außer sich selbst in diesem Theater; sie erleben und repräsentieren sich selbst, epistemisch und politisch. Im Gedanken der Selbstdarstellung des Volkes vor sich selbst tritt allerdings ein vertrautes Paradox zutage, nämlich die (unmögliche) Simultaneität von Selbst-Darstellung und Selbst-Beobachtung, die wir für das (epistemische) Theater des Subjekts bereits herausgearbeitet haben.154 Weder Individuum noch (der Teilnehmer eines) Kollektiv können sich, überspitzt gesagt, selbst auf der Bühne erleben, da sie dabei Akteur und Zuschauer zugleich sein müssten. Individuelle und kollektive Selbst-Repräsentation sind beide paradox. Allerdings deutet Rousseau – zumindest auf konzeptueller Ebene – die Lösung für dieses zentrale Problem der (epistemisch-politischen) Selbst-Repräsentation an, die wieder einmal in der Auffassung von Subjektivität als Intersubjektivität besteht und hier die Selbsttheatralisierung für Kollektiv und Indidviduum gleichermaßen ermöglicht: Der einzelne erfährt sich selbst epistemisch-emotional im anderen, und er wird gerade dadurch auch zu einem artikulierten Teilnehmer der politischen Gemeinschaft; Theater des Volkes und Theater des Individuums werden beide intersubjektiv ermöglicht und damit zu Äquivalenten. Nicht nur das Individuum, sondern auch das Kollektiv kann sich zugleich repräsentieren und erleben, wenn es dies in einem intersubjektiven Modus, einem intersubjektiven Ritual tut. Zum diesem gelösten logischen kommt aber noch ein eher logis-
152 Rousseau 1759 : 172f. 153 Rousseau 1759 : 172. 154 Vgl. 2.2.1.3.
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tisches Problem, das uns noch beschäftigen wird, nämlich die Umsetzung von Rousseaus Modell für ein (großes) Kollektiv: Wie genau soll aus einzelnen gegenseitigen Wahrnehmungen die Bindung eines ganzen Volkes erwachsen? Trotz oder gerade wegen seiner – durchaus problematischen – Suggestivität hat Rousseaus Modell nicht nur in der französischen Kultur Karriere gemacht. Sein Einfluss auf die französischen Revolutionfeste liegt nahe und ist bereits bemerkt worden.155 Wenig beschrieben dagegen wurde die britische Rezeption dieses Theaterkonzepts, und das, obwohl der ungemein spannende Sachverhalt der Rezension dieses Texts durch Edmund Burke vorliegt.156 Burke lässt sich in dem von ihm 1760 herausgebrachten Annual Register für das Jahr 1759 allerdings auch nicht viel anmerken und zitiert lieber ausführlich die (für ihn) interessantesten Stellen – bedauerlicherweise nicht die obige, so dass es zu keiner direkten Auseinandersetzung mit Rousseaus alternativem Theater kommt. Dennoch bemerkt er schon hier Rousseaus „splenetic disposition carried to misanthropy, and an austere virtue pursued to an unsociable fierceness“, die im Extremfall zu „universal scepticism“ führen können.157 In den Reflections on the Revolution in France wird Rousseau für Burke dann vollends zum Erzphilosophen der verhassten französischen (Über-)Aufklärung und zu einem der Verantwortlichen für das entfesselte Mob-Theater, das sich für Burke gerade aus der Ablehnung alles Natürlichen durch die revolutionären Theoretiker ergeben hat.158 Damit ist das Theater der nationalen Offenheit französisch-revolutionär konnotiert und aufs Energischste abgewertet – was es den Gegnern leicht macht, sich mit eben diesem Modell gegen Burke zu profilieren. Mary Wollstonecraft etwa bezieht sich zustimmend auf Rousseaus Brief, wenn es ihr in ihrer Schrift A Vindication of the Rights of Men, die noch im selben Monat wie Burkes Reflections erschienen ist159, um eine Ablehnung von Burkes royalistischer Tragödie geht. Hier wird einerseits wieder einmal eine Tragödie des Volkes eingefordert; implizit aber wird andererseits mit der Referenz auf Rousseau bereits weitergedacht und ein künstlich-hierarchisches Theater des Monarchen vom natürlich-egalitären Theater des Volkes abgesetzt:
155 Vgl. Pross 2001: 49–56. 156 Vgl. Ritchie 1992: 121. Ritchie erwähnt die Rezension, geht aber nicht näher auf sie ein. 157 Burke 1760: 479. 158 Burke bezichtigt Rousseau, einer der Verfechter des „marvellous“ zu sein, eines ebenso politischen wie ästhetischen Stils des Extremen (Burke 2001: 342). Zum Verhältnis von Rousseaus und Burkes Theaterkonzepten vgl. auch Carlson 1992: 118f. 159 vgl. Matala de Mazza 2006: 204.
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Misery, to reach your heart, I perceive, must have its cap and bells; your tears are reserved; very naturally considering your character, for the declamation of the theatre, or for the downfall of queens, whose rank alters the nature of folly, and throws a graceful veil over vices that degrade humanity; whilst the distress of many industrious mothers [...] were vulgar sorrows that could not move your commiseration [...] ‘The tears that are shed for fictitious sorrow are admirably adapted’, says Rousseau, ‘to make us proud of all the virtues which we do not possess.’160
Obwohl Wollstonecraft in der Folge aus dieser Theatralitätskritik eine brillante Gegenanalyse von Marie Antoinettes höfischem Auftreten als „perfect dis sembl[ing]“ entfaltet, denn „[a] court is the best school in the world for actors“, mithin nicht nur Burkes Tragik des Monarch(isch)en, sondern auch die von ihm betrauerte vorgängige absolutistische Repräsentanz als zynisches Täuschungsmanöver zur Ausbeutung des Volkes angreift161, geht es ihr doch nicht darum, das Theater ganz hinter sich zu lassen – im Gegenteil: Auch Wollstonecraft möchte gegen die Monarchie ein Theater des Volkes profilieren. Ausgehend von der Französischen Revolution beschwört sie schon im Vorwort ihres View ein „grand theatre of political changes“162, das aber, so der warnende Hinweis, von der Vernunft („reason“) geleitet sein muss – und nicht vom abgeschmackten Sentiment Burkescher Monarchieseligkeit. Dennoch möchte auch Wollstonecraft Vernunft und Gefühl im Theater des Volkes verbunden wissen – und das mit Referenz auf Rousseau. Rousseaus Stil, so Wollstonecraft, sei eine faszinierende Verbindung
160 Wollstonecraft 1994: 14. Wollstonecraft attackiert hier direkt Burkes Berufung auf die Natürlichkeit der ernüchterten Wahrnehmung der Französischen Revolution als einer Tragödie (in seiner Attacke auf Price; s.o.). Die Rousseau-Referenz scheint auf einer eigenen, recht freien Übersetzung von Wollstonecraft zu basieren, denn in der seinerzeit publizierten englischen Ausgabe lautet die Stelle wie folgt: „By shedding tears at those representations, we discharge all the duties of humanity, without any other inconveniency.“ (25) Rousseau widersetzt sich an dieser Stelle der tragödientheoretischen Emotionalisierungshypothese im allgemeinen und hält ihr die Unmittelbarkeit und Unbequemlichkeit echten Leids gegenüber. Da Wollstonecrafts Replik als die schnellste Dekonstruktion von Burkes Theatralität und die erste Konturierung einer Tragödie des leidenden Volkes gelten darf, wird Rousseaus Letter gar zum locus classicus nicht nur des Theaters der Selbstrepräsentation des Volkes, sondern auch der im vorherigen Abschnitt erläuterten Tragödie des Volkes! 161 Wollstonecraft Theatralitätskritik in An Historical and Moral View of the French Revolution ist umfassend und hochmodern: Von der Analyse der französischen Bühnenkultur ausgehend entfaltet sie die These, dass „[the French] national character is, perhaps, more formed by their theatrical amusements, than is generally imagined“ (Wollstonecraft 1994: 298) und kommt zu dem geradezu Baudrillardschen Ergebnis: „The wars of Louis were, likewise, theatrical exhibitions.“ (299) 162 Wollstonecraft 1794: vi. (In der modernen Ausgabe von Todd ist die Stelle nicht enthalten.)
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von „reasoning“ mit „the charms of sentiment“ und ermögliche es ihm, seine Ansichten über „the evils of a priest-ridden society, and the sources of oppressive inequality“ im Theater des Volkes zu verbreiten: At our theatres, the boxes, pit and galleries, relish different scenes […] In France, on the contrary, a highly wrought sentiment of morality, probably rather romantic, than sublime, produces a burst of applause, when one heart seems to agitate every hand.163
Obwohl Wollstonecraft zu Recht als antisentimentalistische (Spät-)Aufklärerin bekannt ist, neigt sie sich hier bis in die Wortwahl dem Rousseauschen Gegentheater des emotional und (damit) sozial und politisch vereinigten Volkes zu, das sich von einem herkömmlichen (britischen) Theater, in dem nicht nur die Bühne von den Zuschauern, sondern auch die Zuschauer(klassen) untereinander getrennt sind, explizit absetzt. Julia Swindells schreibt dazu in ihrer Studie zu politischer Theatralität um 1800, die Wollstonecrafts Diktum bereits im Untertitel trägt: In seeking to validate either the values and virtues of the ancien régime (Burke) or the move towards greater democracy (Wollstonecraft), it is as if theatre, as if performance (I use the term inclusively to cover spectator response as well as dramatic enactment) is the centrally contested area.164
Wollstonecraft profiliert demnach gegen Burke ein Theater der Demokratie und entwirft es implizit im Sinne des Rousseauschen Volks-Festes. Andere Radikale, etwa Mark Wilks, griffen diese Konzeption begierig auf und entwarfen Formen ihrer planerischen und medialen Umsetzung – näherhin ein Volkstheater im Stile der französischen Revolutionsfeste. Wilks, Norfolker Pfarrer und glühender Anhänger der Französischen Revolution noch weit in die 1790er Jahre hinein, beschwört in einer Predigt in der St. Paul’s Chapel in Norwich aus dem Jahre 1795 ein derartiges Theater der Nation unter Berufung auf englische Traditionen und mit direktem Zitat Wollstonecrafts:
163 Wollstonecraft 1994: 290f. 164 Swindells 2001: 27. Swindells (über)betont allerdings die Rationalität von Wollstonecrafts Theaterentwurf und bemerkt den Bezug zu Rousseaus Volkstheater nicht. Crafton 2011 wiederum arbeitet den Zusammenhang von Wollstonecrafts Theatermodell mit Burkes Tragödienkonzept einerseits und Rousseaus Volkstheaterkonzept andererseits aus anderen Schriften als den Vindications of the Rights of Men heraus (43–56), geht also auf die Rousseau-Rezeption in Wollstonecrafts direkter Replik auf Burkes Theaterkonzept ebenfalls nicht ein. Zudem verfolgt sie die Bedeutung dieser Theaterkonzepte für die Literatur der britischen Romantik über Wollstonecrafts Werk hinausgehend kaum.
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In the glorious days of the immortal Alfred, conventions were held in the highest esteem; and Salisbury plain was the grand theatre where the national convention met to revise the laws.165
Damit ist das revolutionäre Theater der Demokratie nach Großbritannien verpflanzt, zunächst in den sicheren Abstand der historischen Vergangenheit. Wilks aber lässt es sich nicht nehmen, eine solche Versammlung auch für die Gegenwart zu entwerfen: Could I hear of eight hundred political societies established in the eight hundred market towns in England and Wales, composed of two hundred members each; and could I hear of eight hundred delegates from those societies met in a legal and peaceable manner in Coventry great church, in George Burder’s meeting, or in the park, I should think it a matter of great national consequence.166
Mehr noch als bei Rousseau wird das Volkstheater bei Wilks eines der politischen Meinungsbildung und -formulierung und ist in dieser radikalen Form von einer Nationalversammlung nicht mehr zu unterscheiden. Dennoch ist das nur der Endpunkt eines Diskurses, der, wie wir gesehen haben, im Rekurs auf die Sympathielehre und ihre Theaterkonzeptionen auf das Individuum bezogene Rituale der epistemischen Selbsterfahrung als Mensch und des politischen Ausdrucks als Gemeinschaftswesen imaginiert und zugleich aufzeigt, dass politischer Ausdruck nur die Kehrseite der menschlichen Selbsterfahrung ist. Interessant an Wilks’ Plan ist allerdings nicht nur sein Inhalt, sondern auch der Rückschlag auf die Situation, in der er vorgetragen wird. Wilks predigt ja in einer Kirche und inszeniert sich damit selbst bereits als performer des Volkstheaters, das er entwirft. Im Medium der Predigt in ihrer gehaltenen bzw. gedruckten Form liegt schon eine der Antworten auf die nun dringlich gewordene Frage nach der medialen Umsetzung des Theaters des Politischen. Die Nationalversammlung, die Wilks hier imaginiert, war nämlich nicht realisierbar, da sie als Hochverrat sofort unterbunden worden wäre. An Wilks Traum einer Nationalversammlung interessiert uns, pointiert gesagt, mehr das Träumen selbst, sein Ort, seine Zeugen, sein Medium, als sein Inhalt.
165 Wilks [1795]: 27. 166 Wilks [1795]: 29.
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2.2.2.5 Praktiziertes Theater des Politischen: Predigten und Volksfeste Neben den bereits erwähnten Umzügen zu national-kollektiven Anlässen und politischen Themen ist es vor allem das für das 18. Jahrhundert bisher wenig beachtete Genre der politischen Predigt, in dem das Theater des Volkes Form gewinnt. Dabei haben Umzüge und Predigten, wie wir sehen werden, sowohl systemkonforme, konservative als auch reformerische Intentionen – in der Wirkungsabsicht einer politischen (und gesellschaftlichen) Emotionalisierung und Mobilisierung liegt allerdings immer auch ein subversives Potential: Über den Umweg einer passiv-imaginativen Erfahrung des Politischen werden solche gesellschaftliche Gruppen an politischen Prozessen beteiligt und zu politischem Handeln motiviert, die nomalerweise von der Politik ausgeschlossen und damit aus demokratischer Perspektive nicht repräsentiert sind. Politisches Theater des Volkes in den hier thematisierten Formen ist aber eher konform, wo es offiziell organisiert und überwacht wird, und tendiert zur Subversivität, wo es ‚autonom‘ organisiert ist oder die offizielle Organisation übersteigt. Vor der Umzugskultur soll nun zunächst die politische Predigt in den Blick kommen. Predigten setzen ein Volkstheaterkonzept Rousseauschen Zuschnitts natürlich nicht direkt um, da sie einen aktiven Prediger einer eher passiven Zuhörerund Zuschauerschaft gegenüberstellen, also Akteur und Publikum noch nicht ineinander entgrenzen. Was sie als Formen des Volkstheaters dennoch interessant macht, ist aber die Tatsache, dass sie die inhaltliche Thematisierung dieses Theaters mit einem selbstreferentiellen Durchschlag auf die Vortragssituation verbinden. Dadurch wird klar, dass sie sich selbst als wichtige Form der theatralen Politisierung des Volkes verstehen. Politisches Predigen in Großbritannien ist am besten mit dem Paradox einer revolutionären Tradition zu beschreiben: Schon in den großen religiös-politischen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts entwickelte sich die Predigt zu einem zentralen Ort der politischen Meinungsäußerung und Aktivierung; mit der Restoration wurde ihr Einfluss zurückgedrängt167, nur um im dissent des 18. Jahrhunderts als Ort der Verteidigung und Praktizierung von Glaubensformen zurückzukehren, deren politisches Potential in ihrem staatskirchlichen Nonkonformismus lag. Predigten wurden also überall dort politisch, wo sich Religion und Politik bereits ineinander entgrenzt hatten, wo also eine religiöse Minderheit ihr Recht auf Praktizierung einklagte und/oder wo von ihrem Glauben Impulse für die Organisation der britischen Gesellschaft allgemein ausgehen sollten.
167 Smith 1994: 6, 36, 360.
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Für die britische Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution wurden Predigten schon deswegen zum legendären Stein des Anstoßes, weil das Ereignis, auf das Burke in seinen Reflections so verbissen reagierte, nichts anderes als eine Predigt war, nämlich der schon erwähnte „Discourse on the Love of Our Country“ von Richard Price. Burke assoziiert diese Predigt, wie wir gesehen haben, mit der entfesselten Volksorgie des Pariser Mob, aber er setzt sich – natürlich feindselig – auch mit der Sitte politischen Predigens und ihrer Theatralität im allgemeinen auseinander: [...] [P]olitics and the pulpit are terms that have little agreement. No sound ought to be heard in the church but the healing voice of Christian charity. The cause of civil liberty and civil government gains as little as that of religion by this confusion of duties. Those who quit their proper character, to assume what does not belong to them, are, for the greater part, ignorant both of the character they leave, and of the character they assume. [...] [T]hey have nothing of politics but the passions they excite. I find a preacher of the gospel prophaning the beautiful and prophetic ejaculation, commonly called ‘nunc dimittis,’ made on the first presentation of our Saviour in the Temple, and applying it, with an inhuman and unnatural rapture, to the most horrid, atrocious, and afflicting spectacle, that perhaps ever was exhibited to the pity and indignation of mankind.168
Die Politik wird Burke zufolge durch den Prediger mit fremden Diskursen kontaminiert, aber sie wird gerade dadurch auch theatralisiert, also einerseits mit Rollenspiel und andererseits mit der Emotionalisierung des Publikums verknüpft.169 Politik in der Kirche wird bei Price, wie Burke in der zweiten Passage bemerkt, deswegen zum Theater, da sie zuvor in das revolutionäre Spektakel entgrenzt wurde, welches letztlich durch Prices Verzückung allererst von einer ernüchternden Tragödie zu einer Volksbelustigung geworden ist. Gegen die polemisch-höhnischen Intentionen Burkes könnte man hier ebenso höhnisch verzeichnen, dass er wider Willen die Konzeption einer Beteiligung des Volkes an der Politik mit theatralen Mitteln erarbeitet, nämlich durch die enthusiastische Predigt, deren Emotionalität sich, ganz im Sinne aufklärerischer Rhetorik- und Theatertheorie, auf das Publikum überträgt.170 Demnach, so könnte man polemisieren, treibt
168 Burke 2001: 157 u. 226. 169 Burke impliziert durch seine Formulierung der ‚Annahme‘ eines fremden ‚Charakters‘, nämlich desjenigen des Politikers durch den Prediger, bereits eine Theatralität des Politischen selbst; vgl. für eine grundsätzlich theatralische Aufassung von Politik bei Burke auch Hindson/ Gray 1988. 170 Rhetorik wurde schon von den schottischen Ästhetikern selbst als (Ur-)Form des Theaters aufgefasst, etwa in Thomas Reids ebenfalls begeisterter Feier der Körpersprache als natürlichs-
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Burkes Ausfall hier wieder einmal hervor, was er eigentlich desavouieren und verabschieden wollte. Der Anlass für Prices Predigt war letztlich ein zutiefst konservativer, nämlich das Gedenken an die ‚gloriose‘ Landung von William of Orange und seiner Frau Mary in Großbritannien am 5. November 1688.171 Da an einem 5. November (1605) auch noch der berühmt-berüchtigte Gunpowder Plot gegen das englische Parlament aufgedeckt worden war, avancierte der Tag in der britischen Kultur zum inoffiziellen nationalen Feiertag, pikanterweise aber eben auch, um einer genuin britischen Revolution, nämlich der Glorious Revolution zu gedenken. Prices Predigt fand im Jahre 1789 am Vorabend des 5. November statt; genau auf diesen Tag fiel eine acht Jahre zuvor gehaltene Predigt eines anderen für die britische Romantik bedeutenden Predigers, nämlich des Geistlichen William Crowe. Crowes Einfluss auf William Wordsworths Poetik ist bekannt172; allerdings erscheint er in dieser Studie erstmals als Befürworter und letztlich Praktizierer eines „national festival“ im Geiste Rousseaus, das die Romantik ebenso nachhaltig prägen sollte. Zunächst fundiert er es allerdings rein religiös: [T]his institution of an annual festival, the earliest on record [die Rede ist hier vom jüdischen Pessach-Fest], is also the most perfect in those essential circumstances which are requisite to give due force to such an ordinance. It was to commemorate a great and acknowledged benefit, and it was by an authority which had a right to bind the conscience: and thus it stands forth a pattern of what a national festival should be.173
In der Folge definiert Crowe den Gunpowder Plot und die Glorious Revolution als solchermaßen (ge)denkwürdige „benefits“, die das britische Volk dazu berechtigen und verpflichten, die göttliche Gnade der nationalen Geburt im Stile des jüdischen Auszugs aus Israel zu feiern. Wie Stephen Greenblatt für die frühe Neuzeit herausgearbeitet hat174, wird durch eine Referenz auf das Pessach-Fest zugleich auf die Eucharistie und die religiösen Konflikte um die Repräsentation des Heiligen in der menschlichen Kultur Bezug genommen – und zwar unter der Frage, ob die Wandlung den Körper Christi nur darstelle oder regelrecht wiederhole. Demnach impliziert Crowe die Überlegung, ob das von ihm vorgeschlagene Festival
tem Ausdruck des Menschen: „Abolish the use of articulate sounds and writing among mankind for a century, and every man would be a painter, an actor, and an orator.“ Reid 1764: 109. 171 Entgegen Burkes Unterstellung gab es das ganze 18. Jahrhundert hindurch zutiefst staatstragende, aber gerade darin politische Predigten zum nationalen Gedenken (vgl. Ihalainen 2005). 172 Wordsworth wurde von Crowes Landschaftsgedicht Lewesdon Hill (1788) beeinflusst (vgl. Wu 1993: 12, 42, 118). 173 Crowe 1781: 4. 174 Vgl. Greenblatt 1997.
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nur eine huldigende Darstellung der englischen Ur-Revolution sein solle oder ob sie wiederholt werde(n müsse). Gerade indem er das Politische sakralisiert, verbindet Crowes Konzept des „national festival“ demnach spirituelle Inbrunst mit politischer Brisanz. Noch deutlicher wird dies, wenn Crowe den Feiertag auf die politische Selbstbestimmung der Briten bezieht und dabei die konstitutionelle deutlich über die religiöse Fundierung eines Herrschaftsanspruches stellt: The true end of civil society is the preservation of the civil rights of its members […] But if the Magistrate shall refute to fulfill [sic] that great purpose of his institution (the protection of the people), and much more, if he shall betray the trust reposed in him, and become himself a danger to the state, in such circumstances the community is at liberty to act for itself […] It was this manner of acting (or in other words, the duty of self-preservation) that brought on the second great deliverance of this day [the Glorious Revolution] […] There is no greatness or dominion on earth so sacred, but it must fall before the liberties of the people.175
Der Höhepunkt der Predigt wird in ihrer gedruckten Form in Kapitälchen zelebriert – zur textuellen Theatralität dieses Moments werden wir zurückkommen. Allerdings dürfte schon klar geworden sein, dass Crowe wie der oben erwähnte Wilks eine Nationalfeier im Sinn hat, die langfristig zur Liberalisierung des Volkes führen soll176, welche aber ad hoc in der symbolischen Form des gemeinsamen Gottesdiensts in Oxfords offizieller Universitätskirche bereits praktiziert wird. Durch den schon erwähnten Bezug auf die Eucharistie kann die versammelte Gemeinde nach christlicher Auffassung im Moment des Abendmahls zudem für sich in Anspruch nehmen, für die christliche bzw. die anglikanische Gemeinschaft oder, angesichts der sorgfältigen politischen Aufladung dieses Moments, für die britische Nation als ganze zu stehen. Dabei ist und bleibt die kollektive Erfahrung der Freiheitsrechte aber auch ein Augenblick passiv-imaginativer Demokratie, nicht zuletzt da er an das von Rousseau, Wollstonecraft und Wilks beschworene Theater des Volkes anknüpft.177 Freies und individuelles politisches Handeln wird hier zur Vision eines Publikums, das sich als demokratisches Kollektiv erleben kann, aber eben nur im sakral-theatralen Medium von Crowes
175 Crowe 1781: 11f. 176 Im Laufe der Predigt mahnt Crowe Reformen zur Verfassungspflege bzw. zur Rückkehr zu ihrer „pristine health“ (14) an. Indirekt meint er damit auch ihre weitere Liberalisierung. 177 Die hier deutlich werdende politisch-kulturelle Prägung anglikanischer Predigt bzw. Religiosität allgemein macht sie denn auch zu einer für die britische Romantik interessanten Bezugsfolie (vgl. vor allem die Analyse von Wordsworths Excursion, insbesondere 4.3.5). Crowe assoziiert eben nicht nur das „national festival“ mit dem Gottesdienst, sondern auch den Gottesdienst mit dem „national festival“.
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Gottesdienst. Crowes Theaterkonzept verwirklicht sich demnach vor allem in der Heraufbeschwörung eines Nationaltheaters für eine anwesende Gemeinde. Tatsächlich umgesetzt wurde eine symbolische Versammlung des Volkes im darauffolgenden Jahrzehnt in den bereits erwähnten Nationalfeiern der Französischen Revolution. Solche Aktivitäten waren im weiterhin monarchischen Großbritannien undenkbar; allerdings dienten sie als Folie, auf die tatsächlich stattfindende theatrale Demonstrationen bezogen werden konnten. Enthusiatische Übernahmeforderungen der französischen Nationalfeste gab es mit der Ausnahme des oben zitierte Mark Wilks kaum. Burke erwähnt die fête de la féderation von 1790 in beiläufiger Verachtung178; britische Zeugen der Französischen Revolution beschrieben sie ähnlich distanziert und sarkastisch: Every art was employed to work up the public mind to a pitch of delirium for the foederation [sic], and thereby attach the whole people more firmly to the new order of things. This foederation was held in the Field of Mars, where a sort of theatre was formed of earth, and an altar, or mound of earth surmounted with an altar in the middle. Here the whole of the fœderates, with La Fayette at their head, and in the presence of the royal family, swore to be faithful to the king, the nation, and the law, to preserve the constitution.179
Die fête dient, wie der erste Teil des Zitats zeigt, der künstlerisch-theatralen Emotionalisierung seiner Teilnehmer, die durch das Spektakel auf die ‚neue Ordnung der Dinge‘ eingeschworen werden sollen, welche aber, wie wir gleich sehen werden, noch gar nicht recht existiert. Louis XVI ist bei diesem Fest 1790 noch zugegen, wenn auch der Repräsentation der Nation bereits deutlich ein- und untergeordnet.180 Wie in der Predigt von Crowe wird der performative Höhepunkt des Festes in theatralischen Kapitälchen inszeniert – diesmal aber eher in ironischer Absicht, denn die Verfassung, so der Autor dieses Berichts, der Ökonom und Ingenieur William Playfair, did not then exist; […] [the delegates] did run no risk of committing themselves by adopting the work of the philosophical representatives of the nation.
178 „Their confederations, their spectacles, their civic feasts, and their enthusiasm, I take no notice of; They [sic] are nothing but mere tricks [...]“ (Burke 2001: 359). 179 Playfair 1795: 283. 180 Weiter unten schreibt Playfair: „The public prints, particularly that of Brissot, proposed, at all events, placing the president of the assembly upon a sort of throne, as the representative of the nation, and the king upon a seat immediately below the president [...]“ (284f.). Der König wird bei diesem Vorschlag einem Repräsentanten des Volkes untergeordnet – allerdings ist auch dieser noch ein einzelner body politic. Insgesamt zeigte das Fest aber auch Tendenzen zur Repräsentation des Volkes durch ein symbolisches Kollektiv, vgl. oben 2.2.2.
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Playfair lässt sich die doppelte Paradoxie nationalen Beginnens, die hier deutlich wird, natürlich nicht entgehen: Das französische Volk feiert eine Verfassung – selbst schon ein paradoxes Dokument, das den Kontext, in dem es funktioniert, allererst schafft181 –, die sie noch gar nicht besitzt. Die Theatralisierung des Verfassungsschwurs in Playfairs Text ist insofern besonders zynisch, als sie einerseits die hohle Feierlichkeit ironisch imitiert und andererseits als eine Art GegenVerfassung an die Stelle der noch nicht geschriebenen tritt. Wie Burke arbeitet Playfair höhnisch ein Paradox der politischen Erneuerung Frankreichs heraus, dem sich die Briten angesichts ihres eigenen Bedarfs an politischer Erinnerungskultur allerdings selbst nicht entziehen können.182 So kam es gerade im Zuge der Französischen Revolution in Großbritannien zu verstärkten Versuchen, dem nationalen Inaugurationstheater in Frankreich eine eigene politische Festkultur entgegenzusetzen bzw. bereits vorhandene Formen verstärkt und gezielter einzusetzen. Es gab zwar, wie oben bereits erwähnt, eine offizielle royalistische Festkultur, etwa zur Feier der Genesung von George III 1789, die man unter Burkes Theater der Wiedereinübung der Monarchie subsumieren könnte, auch wenn sie nur in Ansätzen tragischen Charakter hatte.183 Jedoch ist und bleibt die Stabilisierung der Monarchie durch ihre Feier prekär: Im Falle der britischen monarchischen Selbstvergewisserung durch festliche Begehung von Thronjubiläen und Todesfällen etc. kam es zu unerwünschten performativen Überschüssen, weil die Festkultur weite Teile der Bevölkerung ergriff und zu einer rituell-theatralen Politisierung von gesellschaftlichen Gruppen führte, die sonst von politischen Handlungen gänzlich ausgeschlossen blieben. Auf der Kehrseite des Theaters der Monarchie lauert mithin ein revolutionäres Theater des Volkes: [T]here was surprisingly little difference between monarchical Britain and Revolutionary France, where […] post-1789 regimes deliberately involved more and more people in politics as a means of strengthening themselves […] In Great Britain, similar political devices had become more and more common and more widespread from the mid-eighteenth century
181 Zu den medialen Qualitäten und performativen Paradoxien der post-monarchischen Verfassung in Frankreich vgl. auch Koschorke et al. 2007: 241–250. 182 So beruft sich auch William Crowe in seiner National-Predigt auf die Feier und Pflege einer britischen „constitution“ (Crowe 1781: 14). Die britische Kultur verfällt dabei strenggenommen dem von Playfair für Frankreich herausgearbeiteten Paradox erst recht, denn eine geschriebene Verfassung gibt es berühmtermaßen in Großbritannien gerade nicht. Crowe behilft sich auch hier mit der Rückbindung an göttliche Fügung. 183 Colley 1992: 217–228, hier 225. Tragisch und ernüchternd im Sinne Burkes wäre an diesen Ereignissen etwa das bange Warten, ob George zur Regierung(sfähigkeit) zurückkehrt; karthatisch genannt werden könnte im Anschluss daran die Nachricht seiner Gesundung.
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onwards. But now [from the 1790s] they were being channelled into royal celebration to quite an unprecedented extent. As a result, more men and women learnt loyalty and found it absorbing in a new way. But some of them must have learned other things as well: […] how to plan and stage a political event out of doors. The massive workers’ procession that preceeded Peterloo in August 1819 […] clearly owed a great deal to recently acquired popular familiarity with large-scale royal ritual.184
Die nationale Mobilisierung für ein politisches Ritual besitzt das gefährliche Potential, seinen letztlich ohnehin nicht festellbaren Ausgangspunkt, den monarchischen Ursprung Großbritanniens, aus den Augen zu verlieren und im Vollzug ihr glattes Gegenteil zu erreichen, nämlich eine (theatrale) Repräsentation des britischen Volkes nicht mehr durch den Monarchen, sondern durch sich selbst. Wie E.P. Thompson ausführlich gezeigt hat, gab es das ganze 18. Jahrhundert hindurch ein antiautoriäres Gegentheater zu den monarchischen Demonstrationen staatlicher Macht.185 Im Zuge der Französischen Revolution und anderer äußerer Bedrohungen wuchs das Bedürfnis, diese gesellschaftliche Spaltung zu überwinden und im ganzen Volk nationale Geschlossenheit zu fühlen, zu demonstrieren und damit herzustellen – eben im beschriebenen Loyalitätstheater. Dieses Theater fasste, um Thompsons Terminologie zu verwenden, das patrizische und das plebeiische zusammen, läuft aber deswegen immer Gefahr, in sein Gegenteil zu kippen, in eine Machtdemonstration des Volkes ohne (und gegen) den König.186 Burkes oben analysiertes Schreckgespenst ‚thrakischer Orgien‘ bezieht sich über den Umweg anderer Texte Burkes, wie Frans de Bruyn gezeigt hat, implizit auf die heimische Kultur aufrührerischer politischer Umzüge und Demonstrationen, welche er eingeschränkt und von Tragödien für die beschämte Rückkehr zur Monarchie ersetzt wissen wollte. Das Potential kontraproduktiven performativen Überschusses bleibt allerdings so lange bestehen, wie die Menge körperlich präsenter Teilnehmer – und damit potentieller Akteure – an diesem Theater unkalkulierbar bleibt, sprich: solange es sich in die bestehende Kultur politischer Demonstrationen einordnet. Burke präferiert, wie wir sehen werden, aufgrund
184 Colley 1992: 228. 185 „There is a sense in which rulers and crowd needed each other, watched each other, performed theater and countertheater to each other’s auditorium. [...] Just as the ruler asserted their hegemony by a studied theatrical style, so the plebs asserted their presence by a theater of threat and sedition.“ (Thompson 1984: 396, 400) 186 Vgl. dazu auch die Untersuchung autonom-antiautoritärer Siegesfeiern in Großbritannien während der Revolutions- und der anschließenden napoleonischen Kriege durch Gillian Russell. Russell bezieht die Dialektik von (offizieller) Kultur und (inoffizieller) Gegenkultur der militärischen Feier dabei explizit auf den Gegensaz von Burkes monarchischem Theater und Paines „open theatre of the world“ (vgl. Russell 1995: insbesondere 1–25 sowie 79–94).
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dieser Überlegung den individuell rezipierten und von einem Publikum gewissermaßen freigehaltenen Text, um eine ‚thrakische‘ Katastrophe zu vermeiden.187 Letztlich, so könnte man pointieren, folgt ihm die royalistische Loyalitätskultur dorthin, indem sie einen (seinerseits privatisierten188) Monarchen zunehmend über situationsabstrakte Medien der Simulation – und nicht mehr der Teilnahme – verbreitet.189 Insgesamt strebten konservative Kräfte aus genannten Gründen letztlich eine Entkörperlichung und Privatisierung politischer Festkultur an, während es vor allem Radikale und Reformer waren, die eine Ausweitung oder zumindest weitergehende Theoretisierung und Propagierung der Feste forderten und unternahmen. Wenn es den Radikalen um eine Ausweitung der politischen Repräsentation des Volkes ging, führte der Weg also stets über eine ästhetische Repräsentation (und damit Erfahrbarkeit) der Gesellschaft als Gemeinschaft von Gleichberechtigten. Selbst der radikalste und gründlichste Theoretiker der repräsentativen Demokratie, Thomas Paine, dimensioniert diese Demokratie auch als ein Theater, was von seinen Nachfolgern begierig aufgegriffen und zu den hier vorgestellten Formen weiterentwickelt wurde. Predigten und Umzüge sind also vor allem als imaginative und näherhin theatrale Vollzüge von Politik anzusetzen; ihren Ausgang nehmen sie von einer auch in Großbritannien einflussreichen Konzeption Jean-Jacques Rousseaus, die sich eine Abwendung von der Monarchie als Wechsel von einem Theater zu einem (vollkommen) anderen vorstellen kann. Demokratie wird im Großbritannien der 1790er Jahre zunächst (fast) nur als eine ästhetische gewagt, was zur Folge hat, dass ihre Theoretiker eine der Grundprämissen von Burkes politischem Modell, nämlich diejenige einer unverzichtbaren Ästhetisie-
187 Vgl. 2.2.2.5. 188 Colley spricht bezüglich der Medialisierung von George III von einem „myth of royal ordinariness“, im Zuge dessen der König mehr und mehr als Privatmann (und zwar in Individualmedien) inszeniert wurde (Colley 1992: 233) und nicht mehr als öffentlich( greifbar)er Körper. Diese Strategie nahm der politischen Körperkultur und ihrem gefährlichen revolutionären Potential den Wind aus den Segeln – allerdings implizierte die Inszenierung des Monarchen als „homo clausus“ (Koschorke et al. 2007: 232) potentiell auch seine Devestitur im Zuge der Französischen Revolution: Der König stellt sich selbst als ein beliebiger seiner (individuellen, unsichtbaren) Untertanen dar, gewissermaßen als post-monarchischer König (vgl. ibd.: 250–256). Walter Scott überwindet diese Devestitur in seinen Romanen, wie wir sehen werden, indem er den König eine Verbindung seiner Privatheit/Individualität und seines öffentlichen Körpers erarbeiten lässt. ‚Textualisiert‘ wird dieser König aber letztlich auch. 189 Vgl. für die ‚Simulationsmedien‘ der Monarchie, etwa Spezialausgaben von Zeitungen oder Drucken mit dem Konterfeit des Königs, Colley 1992: 220–223. Die Benutzung dieser situationsabstrakten Text- und Bildmedien war integraler Bestandteil der Verstärkung der Loyalitätskultur im 18. Jahrhundert.
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rung des Politischen zum Ausgleich der Unterschiede190, teilen müssen. Wenn am Anfang dieses Kapitels von einer doppelten Auffassung der Repräsentation des Menschen im romantischen Theater als epistemisch-ästhetische und politische die Rede war, so erweist sich diese Doppelung hier als Einzug der politischen Repräsentation in die Kunst unter einem ästhetischen Primat. Das Theater des Menschen, das in den die Romantik vorbereitenden und begleitenden Diskursen entwickelt wird, ist einer der Hauptorte einer romantischen politischen Ästhetik. Damit stellt sich die Frage, ob und wie sich die in Reaktion auf die Französische Revolution erarbeiteten Theaterkonzepte in eine künstlerische Praxis umsetzen lassen, (in)wie(weit) die romantische Verschiebung der Französischen Revolution ins Theater also tatsächlich möglich ist. Auf die theoretischen Probleme der ästhetisch-epistemischen Selbst-Verfügung des Individuums bzw. des Kollektivs durch das Theater ebenso wie auf ihre Lösung im Modell der Intersubjektivität ist bereits hinlänglich hingewiesen worden. Im nun folgenden Abschnitt wird sich allerdings auch zeigen, dass selbst unmittelbar umsetzbar scheinende Theaterformen wie Burkes Rückführung einer passiv-betroffenen Masse zur Monarchie durch die Tragödie sich als unrealisierbar erwiesen – und zwar aus praktischen Gründen. Die Lösung liegt hier, wie wir sehen werden, im Medienwechsels romantischen Theater(denken)s in den (literarischen) Text. Die Option einer ästhetischen Demokratisierung wurde, wie wir sehen werden, von der literarischen Avantgarde um 1800, hier exemplarisch untersucht an William Wordsworth und Walter Scott, aufgegriffen und (weitgehend) textuell umgesetzt. Allerdings beschränkten sich diese Autoren nicht auf eines der angebotenen Theatermodelle, sondern bezogen sich auf alle drei Konzepte, die Tragödie der Monarchie, die Tragödie des Volkes und das Theater des Volkes. Die ersten beiden Modelle gehen stärker in die inhaltliche Ebene der Texte ein, während das Modell einer theatral-kollektiven Selbsterfahrung, zumindest bei Wordsworth, eher auf der Vermittlungs- und Verbreitungsebene der Texte berücksichtigt wird. Das führt jedoch dazu, dass die beiden Autoren in ihrer politischen Wirkungsabsicht niemals eindeutig konservativ oder radikal genannt werden können, sondern letztlich Grundannahmen beider Lager teilen. Nur aus der heutigen Perspektive einer weitgehend abgeschlossenen parlamentarischen Demokratie ist die Verschiebung der politischen Befreiung eines Volkes in die Ästhetik und näherhin ins Theater in jedem Falle konservativ zu nennen.
190 Vgl. 2.2.2.2.
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2.2.2.6 Die Verschiebung des/der Theater des Politischen in den Text Zu den zentralen Praktiken einer Verhinderung von britischem Theater um 1800, insbesondere einer Aufführung ästhetisch avancierter Theatertexte, gehört neben dem rigiden Patentierungsverfahren die Zensur, die vor allem Theaterprojekte mit politischem Inhalt oder politischer Wirkungsintention betraf. Referenzen auf lebende Politiker oder staatliche Würdenträger wurden in den dem Lord Chamberlain vorgelegten Dramen gnadenlos getilgt; wenn die tagespolitischen Referenzen thematische Dimensionen annahmen, wurde die Aufführung – nicht aber eine Veröffentlichung als gedruckter Text! – untersagt. Dramen mit direktem, affirmativem Bezug auf die Französische Revolution wurden George Taylor zufolge von der Zensur sofort aufgehalten und konnten nur noch als burlettas, also ohne gesprochenes Wort, an den ‚illegitimen‘ Bühnen Londons aufgeführt werden.191 Manche Dramen wählten daher den Weg über die historische oder geographische Verschiebung der revolutionären Thematik, aber auch diese wurden nur während der von vielen als gewaltfreie Emanzipation des französischen Volkes und als Analogie zur Glorious Revolution wahrgenommenen Frühphase der Französischen Revolution 1789 und 1790 zugelassen.192 Der Terreur des Jahres 1793 schlug sich endgültig als Theater-Furcht beim Londoner Zensor nieder, mit der Folge, dass auch antirevolutionäre Dramen im Geiste von Burkes Reflections zurückgewiesen wurden.193 Das Theater war als Ort des Politischen berüchtigt, nicht zuletzt aufgrund des im vorherigen Abschnittes rekonstruierten Diskurses um politische Theaterkonzepte; ‚revolutionäres‘ Bühnengeschehen vor einem Publikumskollektiv wurde als direkte Realisierung französischer Revolutionspolitik regelrecht gefürchtet. Dass allerdings auch eine Furcht vor den Folgen kollektiv erlebten antirevolutionären Ressentiments und promonarchischen Sentiments grassierte, hat wohl selbst Burke erstaunt. Staatstragendes Königtum wurde auf dem (Sprech-)Theater praktisch nur zugelassen, wenn es in der Gestalt von Shakespeares Tragödien und Historien erschien, etwa in John Philip Kembles berühmter Intendanz in Drury Lane ab 1788, während der
191 Taylor 2000: 42–67. 192 Taylor 2000: 47. So war etwa das Drama Helvetic Liberty, das ein gewisser „Kentish Bowman“ 1792 publizierte, vorgeblich, um seine Landsleute mit der Darstellung Schweizer Bogenkunst zu erfreuen (vii–viii), den Angaben des Vorworts zufolge an einem der patentierten Häuser verboten worden und durfte also bereits 1792 nur noch als Text erscheinen (vgl. auch Taylor 2000: 74). 193 Sogar Edwin Eyres Drama The Death of the Queen of France (1794), dem Titel nach zu urteilen eine unmittelbare Umsetzung von Burkes Tragödienkonzept, wurde vom Zensor sofort zurückgewiesen (Taylor 2000: 84–88). Auch die staatstragende Politisierung auf der Bühne wurde gefürchtet.
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er die wichtigsten Shakespeareschen Monarchen auch selbst spielte – insgesamt ein Projekt mit der Intention, die Legitimation der Monarchie über das Theater vorzunehmen.194 Von einer Beschwörung der unmittelbaren Gefahr aber, in der Burke die zeitgenössische Monarchie zu diesem Zeitpunkt sah, war er in seinen gediegen historisierenden Inszenierungen wohl weit entfernt. Allerdings scheint auch Burke selbst mit seiner Tragödienkonzeption nicht gerade auf das Theater gedrängt zu sein. An die Stelle des von ihm imaginierten Theaters tritt vielmehr Burkes ausufernder Text selbst. Dieser soll sowohl beim intradiegetischen Adressaten, dem „very young gentleman at Paris“, der die Reflections als Antwort auf eine Anfrage nach Burkes Einschätzung der Lage erhalten hat195, als auch beim extradiegetischen Leser jene Ernüchterung auslösen, die zu einem Festhalten an der Monarchie motiviert. Burkes wirkungsästhetische Aussagen über sein Theater der Ernüchterung sind demnach implizit auch Aussagen über die intendierte Wirkung des vorgelegten Textes, der durch diesen Bezug zu einem Ersatztheater im (theatralisierten) Text avanciert. Burkes Zeichnung einer bekehrenden Tragödie über die gefährdete Monarchie, die oben ausführlich zitiert wurde, stellt sich ja ein Publikum vor, das völlig unangemessen, kontraproduktiv reagiert und die Akteure mit „insult“ überschüttet.196 Erst ein dieses Publikum seinerseits beobachtendes Publikum – das zunächst aus Burke selbst sowie den Lesern seines Texts besteht – kann aus diesem Schauspiel (von erniedrigten Monarchen und tobender Volksmenge zusammen) jene reinigende „terror and pity“ ziehen, die es zur unbedingten Loyalität veranlassen. Zudem folgt dieser Abschnitt relativ dicht auf die beiden berühmtesten Stellen in Burkes Text, die Heraufbeschwörung der Vertreibung der Königsfamilie aus Versailles sowie die Erinnerung an die junge Marie Antoinette – beide in der Forschung längst als (textuelle) Theaterszenen etabliert.197 Damit lässt sich Burkes Theatertheorie auch als Leseanweisung für seinen eigenen Text auffassen, der aus Angst vor einer Entartung der monarchischen Tragödie zum höhnisch-entfesselten Volksspektakel an die Stelle des (Bühnen-)Theaters tritt. Neben die offizielle Theaterskepsis der Zeit tritt hier also eine inoffizielle, die in vorauseilendem Gehorsam zum theatralisierten Text umgestaltet, was für die Bühne gemeint und theoretisiert war.198
194 Taylor 2000: 54–58 und Moody 2000: 122f. 195 Burke 2001: 155. Es handelt sich bei diesem Adressaten um eine auch historisch nachweisbare Figur, nämlich Charles-Jean-François Depont, einen jungen Royalisten. Dieser wandelte sich, von Burkes Antwort scheinbar ungerührt, zu einem glühenden Revolutionär. 196 Burke 2001: 243. 197 Vgl. etwa Matala de Mazza 2006: 205f. 198 Ein analoger Umgang mit dem Burkeschen Theatermodell ist der, es auf die Bühne zu bringen, aber letztlich vorauseilend zu entschärfen. Julie Carlson hat in diesem Sinne S.T. Co-
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Burke entwirft sich in der Marie-Antoinette-Stelle zudem nicht nur als Idealzuschauer der französischen ‚Tragödie‘199, sondern indirekt auch als Akteur, nämlich als warnenden Retter des britischen Volkes – durch die Tat (dem imaginierten Zücken des Schwertes), vor allem aber im Wort. Bestes Beispiel dafür ist der Stil in seinem großem antirevolutionären Brief selbst, welcher nämlich als Nachahmung seiner ‚realen‘ politischen Rhetorik verstanden werden kann. In Burkes Reflections, aber auch den (zum Teil gegen ihn gerichteten) Predigten wird das Theater damit in Form der Imitation bzw. Virtualisierung emphatischer öffentlicher Rede präsent, wobei, wie wir in den Predigten gesehen haben, Elemente der Ikonisierung, etwa Kapitälchen, extreme Interpunktion oder Zeilensprünge, hinzukommen können. Kennzeichen intermedialen Bezugs zum Theater in diesen Texten ist daher neben ihrer Zuordnung zu tatsächlich verhandelten Theaterkonzepten der Zeit, etwa der (gepredigten) Nationalfeier, ihre Inszenierung der bei solchen Gelegenheiten gesprochenen, aber auch warnend geflüsterten oder erregt gebrüllten Sprache. Intermediale Thematisierung und intermediale Imitation kommen hier zusammen. Zur romantischen Rhetorisierung des Textes gehört aber eben auch die Bereitstellung eines ‚redenden‘ Subjekts, das – wie im Falle von Burkes Reflections – gar an die Stelle des gesellschaftlich und politisch ‚real‘ handelnden Akteurs tritt.200 Damit wird das rhetorisch textualisierte Theater der Romantik
leridges Theaterprojekt ab Mitte der 1790er Jahre als eine Umsetzung von Burkes Konzeption für das zeitgenössische legitimate theatre analysiert, welche aber zunehmend an ihrer eigenen ängstlich vorgreifenden Mäßigung scheitert. Coleridge ging es dabei Carlson zufolge weniger um die Zensur; vielmehr überträgt er den Gedanken der Ernüchterung von der Vermittlungs- auf die Inhaltsebene und entwickelt eine Dramatik, etwa in Zapolya (1817), in der die Helden selbst sich bereits so weit zurücknehmen, dass letztlich keine Handlung mehr zustande kommt. Damit wurde auch, so Carlson, die historische Chance vertan, Schillers Konzept einer (theater-)ästhetischen Erziehung, d.h. einer vorgreifenden Demokratisierung im Idealbereich der Kunst, nach Großbritannien zu importieren und bereits um 1800 ein ‚verbindliches‘ Nationaltheater einzuführen, was Coleridge durchaus vorgehabt habe (Carlson 1992 und 1994. Vgl. speziell mit Bezug auf das Tragische auch Murray 2013). 199 indem er zweimal „I saw“ verwendet (Burke 2001: 237). 200 Burke war nämlich in den frühen 1790er Jahren durch massive Entfremdung von seiner eigenen Partei (den Whigs) politisch zunehmend isoliert und hatte wenig Auftritts- und Einflussmöglichkeiten im Parlament. Er wurde somit, wie Zeitgenossen auch bissig bemerkten (vgl. Mallory 2003: 234 und Russell 1997: 4), zu einem ‚Papiertiger‘, der vor allem als textuelles Subjekt und weniger als körperlicher Akteur in Erscheinung trat. Faszinierenderweise wird Burke damit wieder einmal zu einer Doppelfigur: Einerseits der Verfechter der Erhaltung und künstlerischen Legitimation bestehender Repräsentationsformen wird er, aufgrund seines – zumindest vorübergehenden – Ausschlusses von diesen Repräsentationsformen, zum Vorbild von (Text-)Theaterformen, die auch seiner Gegner aufgriffen.
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zum virtuellen Handlungsraums eines Subjekts, das in diesem für sich selbst und andere verfügbar wird, politisch handelnd, aber auch sozial empfindend. Der derart rhetorisierte Text wird also auch für das im vorherigen Abschnitt untersuchte Theater des (sozialen) Menschen zu einem wichtigen Realisierungsverfahren. Dabei ermöglicht gerade die Tradition der Rhetorik, die ja an einen realen politischen bzw. sozialen Akteur und eben nicht an einen fiktionalen, von einem Schauspieler verkörperten Charakter geknüpft ist, die Umgehung des theatralen Fiktionalitätskriteriums. Zugleich gestattet ihre Textform die (nachträgliche) Beobachtung des subjektiven Fühlens und Sprechens, also die theatrale Selbstbeschau. Solchermaßen wird der rhetorisch theatralisierte Text zu einem zentralen Medium politischer und sozialer (Selbst- und Fremd-)Erfahrung des Subjekts. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass (textuelle) Rhetorizität zu einem zentralen Thema und Charakteristikum nicht nur der Langgedichte Wordsworths201, sondern auch der Romane Walter Scotts wird. Ein romantisch-theatralisches Subjekt erwächst auch aus dem anderen zentralen ‚Theater-Text‘ der Romantik, nämlich Rousseaus ‚Brief‘ an D’Alembert. Im Gegensatz zu Burke scheint Rousseaus Medienwechsel aber eher auf organisatorischen als auf zensorischen und politischen Gründen zu beruhen. Rousseaus Volkstheatermodell würde ja nur für den winzigen Genfer Stadtstaat funktionieren, auf den die Theaterfrage des Essays sich bezieht. Die regelmäßig wiederkehrende Mobilisierung größerer Kollektive zum Rousseauschen Ritual intersubjektiver theatraler Selbsterfahrung wäre also organisatorisch unmöglich – wie soll eine Bevölkerung vom Umfang der französischen (oder der britischen) jemals in repräsentativem Umfang zu derartigen Theatererlebnissen kommen?202 Rousseau lässt daher ebenfalls das Volkstheater vor allem in demjenigen Text Gestalt
201 Das Prelude thematisiert – und problematisiert – daneben natürlich auch die theatrale Selbstbeschau, vgl. 4.2. 202 Für den deutschsprachigen Raum hat den notwendigen Medienwechsel des Volksfestes in den Text, hier des romantischen Romans, am konsequentesten August Wilhelm Schlegel ausbuchstabiert (Pross 2001: 110–119): Das real verkörperte Volkstheater kann schlicht nicht alle Volksgruppen und -schichten ansprechen. Schlegel theoretisiert daher die medialen Vorteile des von ihm sog. ‚esoterischen‘ (also situationsabstrakt-privaten) Mediums des Texts gegenüber dem ‚exoterischen‘ (situationkonkret-öffentlichen) Medium des Theaters: Das Theater sei dabei immer mit den Reaktionen und Partikularinteressen seiner unmittelbaren Rezipienten konfrontiert, welche seine Bedeutungsbreite einschränken, während das Gedruckte keinen unmittelbaren Einspruch von seinem Publikum erfahre und sich daher viel ungehinderter verbreiten könne. Indirekt wird damit das freiere und weiterreichende Theater erst im Text möglich, dessen Leser sich Schritt für Schritt zur einer viel umfassenderen Gemeinschaft fügen können, gerade weil sie sich weder den situativen Zwängen der Realgemeinschaft eines Theaterpublikums noch der Notwendigkeit unmittelbarer emotionaler und politischer Reaktion aussetzen müssen.
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und Wirkung annehmen, der es entwirft – und zwar im Modus emotionaler und emotionalisierender poetischer Erinnerung: I remember when I was a boy, to have been struck with a very simple sight, which has been imprinted ever since in my memory […] The regiment of St. Gervais had performed their exercise, and according to custom they sat down to supper in companies; most of the regiment met after supper in the square of St. Gervais, and all went to dancing, officers and soldiers together, round the fountain, on the bason of which there were drums, fifes and men with flambeaus in their hands. […] [T]he concerted motion of five or six hundred men in uniform, holding one another by the hand, and forming a long band, which winded in cadence, and without the least confusion, with a thousand turns and returns, a thousand sorts of figured evolutions, the choice songs that spirited them, the noise of drums, the light of flambeaus, and a certain military apparatus amidst a scene of pleasure, all this together formed a very agreeable spectacle, which it was impossible not to be affected with. […] From all this there resulted a general rapture, which I cannot describe, but which, in times of universal joy, we naturally feel, when surrounded by everything dear to us. My father embracing me was seized with a palpitation, which I think I feel and share with him still. John, said he to me, love thy country. See here thy honest countrymen; they are all friends, all brothers; joy and concord are in their hearts. Thou art a Genevois […] I am very sensible that this sight, which so greatly affected me, would have had no charm to thousands others: one must have eyes made on purpose to see it, and a heart to feel it. No, there is no pure joy, but that of the community; and the genuine sentiments of nature are felt only by the people. O dignity, daughter of pride, and parent of corroding care, did ever thy gloomy slaves taste such a moment as this in all their lives?203
Das Theater des Volkes besteht aus flüchtigen Momenten, die zu erleben – und dann auch noch zum Gemeinschaftsgefühl zu verarbeiten – nur ganz wenigen vorbehalten ist. Aus Rousseau ist im Verlaufe dieses Abschnitts unter der Hand ein romantischer Dichter geworden, dessen Erinnerung an prägende Kindheitsszenen – hier die an ein funktionierendes Genfer Volkstheater – zum zentralen Inhalt seiner ‚Lyrik‘ wird, nicht zuletzt, weil er sich vor tausenden anderen durch besondere Emotionalisierbarkeit auszeichnet, die ihn dazu verpflichtet, das empfundene Gemeinschaftsgefühl auch anderen zugänglich zu machen. Zudem beruht das Gemeinschaftsgefühl hier wieder allenthalben auf Intersubjektivität, zwischen den Soldaten, zwischen den (anzunehmenden) Zuschauern, von denen mit dem erlebenden Ich mindestens einer verbürgt ist, und den Soldaten, unter den Zuschauern selbst sowie – als finaler Höhepunkt und Exempel – zwischen dem (späteren) Dichter und seinem Vater. Und aus diesen konzentrischen Kreisen, die sich erst ausweiten, um sich am Ende auf ein paradigmati-
203 Rousseau 1759: 187f. (dort Anm.).
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sches Paar zu verengen, erwächst das Volk, die Gemeinschaft. Das Medium der Ermöglichung theatraler Gemeinschaftsbildung für alle Nicht-Genfer, bzw. alle diejenigen, die diesen Moment nicht mitverfolgen bzw. mitfühlen konnten, ist der vorliegende Text selbst, der sich in Rousseaus Fall zu einer emphatischen und mitreißenden Rhetorik steigert, die den Moment für alle Leser nachvollziehbar machen und ihnen zugleich analoge Gemeinschaftsgefüle ermöglichen soll. Die Theaterkonzeption muss an Ort und Stelle des Texts, der sie entwickelt, gleichsam auch vollzogen werden. Damit ruht aber auch ein ‚Erwartungsdruck‘ auf dem Text, mit dem Leser selbst in ein intersubjektives Verhältnis zu treten. Der Einfluss dieser Konzeption auf William Wordsworths Poetik ist unübersehbar. Der englische Rezipient Rousseaus musste aber, wie wir in nachfolgenden Kapiteln sehen werden, erst den Weg durch ein (scheiterndes) Bühnenprojekt nehmen, bis er es Rousseau nachtat und ebenfalls eine Poetik der Übertragung kindlicher Gemeinschaftserlebnisse in den Text – und damit auf alle seine Leser – erarbeitete.204 Der Anspruch eines derartigen intersubjektiv wirkenden Text(-Theater)s wird die romantische Literatur von ihren Anfängen in Wordsworths Lyrical Ballads bis hin zu Walter Scotts spätem Roman Woodstock freilich nicht mehr loslassen und letztlich uneinlösbar bleiben. Wie in Burkes Tragödie der Monarchie ist also auch in Rousseaus Theater des Volkes der Medienwechsel in den Text, der dieses Theater allererst entwickelt, bereits angelegt. Die beiden wichtigsten Konzepte politischen Theaters in der Romantik entfalten sich damit also vor allem als textuelle. Rousseau geht es bei seiner Textualisierung um eine Propagierung demokratischen Theaters, aber er scheint im Medium seiner Propaganda auch bereits eine Hauptwirkungsstätte dieses Theaters zu sehen. Romantisches Theater wird im Text also immer auch ermöglicht und nicht nur, wie Burke das tendenziell noch verfolgt, eingeschränkt und gemäßigt. Monarchische Tragödie einerseits und Volksauflauf andererseits wurden durch Textualisierung gebändigt und entkörperlicht, zugleich aber auch allgemein (und unzensiert!) zugänglich gemacht – und damit ‚entfesselt‘. Die Doppelung von Entfesselung und Begrenzung des Theaters im Text ist für die Romantik, wie die vorliegende Studie nachweist, dabei übergreifendes Programm und allgegenwärtiges Problem zugleich: Das politische Theater ‚schwappt‘ in der
204 Vgl. 3.1 und 4.1. Auch Rousseau selbst ist seiner ‚Lyriktheorie‘ treu geblieben und hat weitere theatrale Gemeinschaftsmomente textualisiert, etwa die berühmte Szene am Brunnen in seinem posthum veröffentlichten „Essay sur l’origin des langues“; vgl. dazu auch Schwering 2004. Dabei ist Rousseaus Gemeinschaftspoetik natürlich immer eine (in seinen theoretischen Abhandlungen) implizierte geblieben; erst Wordsworth, so eine These der vorliegenden Studie, macht die Poetisierung von Gemeinschaft(sgefühl) zum expliziten dichterischen Programm.
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Romantik gewissermaßen über seine (medialen) Grenzen hinaus in den Text, aber es ist zugleich auch eines, das den Text, in dem es ersonnen wurde, letztlich niemals verlassen hat.
2.2.3 Die Theaterkonzepte und die Repräsentationskrise um 1800 Bevor wir zum Durchgang durch das Text-Theater von William Wordsworth und Walter Scott übergehen, sollen die referierten Theatermodelle aber noch in einen größeren kultur- bzw. wissensgeschichtlichen Kontext gerückt werden, da sie geradezu exemplarisch für diesen Kontext sind. Das romantische Text-Theater wird vor dem Hintergrund dieser Theaterkonzepte nämlich zu einem Paradigma einer Repräsentationskrise205 auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Wie Michel Foucault in seiner umfassenden wissensgeschichtlichen Darstellung Die Ordnung der Dinge darlegt, veränderte sich die gesamte Wissensordnung um 1800 grundlegend, da, wie er schreibt, der Mensch in diese Ordnung eintrat und zum zentralen wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand wurde. Ein Problem, das durch diesen Eintritt erwuchs, ist die Tatsache, dass damit Untersuchunggegenstand (Objekt) und Erkenntnisträger (Subjekt) identisch wurden; der Mensch wurde, wie Foucault in einer berühmten Formulierung schreibt, zur „empirischtranszendentalen Dublette“.206 Diese sehr breit ausgreifende und damit potentiell reduktive These207 hat zu einer ebenso breiten Verwendung des Konzepts der
205 Vgl. für eine Kritik an der bisherigen Verwendung von ‚Repräsentationskrise‘ als umbrella term für gesamtkulturelle Theatralitätsbewegungen 1.2. Das Phänomen einer Repräsentationskrise um 1800 ist bisher praktisch ausschließlich in der Germanistik untersucht worden, vgl. Peters 2001, Arbeitsgruppe München 2001 sowie Albes/Frey 2003 und Heinen/Nehr 2004. Die vorliegende Studie folgt dieser Datierung. 206 Foucault 1974: 384. Diese Duplizität ist in der Philosophie(geschichte) als ‚Subjekt-/Objektproblematik‘ bekannt und wurde nach übereinstimmender Ansicht gerade in der Philosphie um 1800, näherhin im deutschen Idealismus, zu einer zentralen Herausforderung. In der zeitgenössischen wissenschaftlichen Konzipierung menschlicher Wahrnehmung ist eine vergleichbare Doppelung zu verzeichnen (vgl. Crary 1990): Die Wahrnehmung des Menschen wurde einerseits als physiologisch bedingt erachtet und damit in den Körper und das Subjekt verlagert. Sie haftete den Dingen nicht mehr an, sondern war in den Wahrnehmenden eingesenkt. Damit wurde sie andererseits aber, wie der Mensch insgesamt, zu einem Objekt der Erkenntnis: Um ihrer Bedingtheit auf die Spur zu kommen, wurde sie untersucht und vermessen. 207 Foucault arbeitet zu ihrem Beleg umfangreiche wissenschaftliche Bereiche auf, so dass die von ihm postulierte Wende für die Wissenschaft durchaus glaubhaft erscheint. Was hier zur Debatte steht, ist die These einer gesamtkulturellen humanwissenschaftlichen – und in der Folge performativen – Wende, die besonders auch die Künste betraf. Diese These hat nämlich in der
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Historische Voraussetzungen: Theaterkultur und Theaterkonzepte um 1800
Repräsentationskrise vor allem im Zusammenhang mit der These einer gesamtkulturellen Theatralisierung geführt, die in 1.2 bereits kritisiert wurde. Als Alternative wurde dort eine Untersuchung des Drama-Theater-Verhältnisses sowie historischer Theater- und Theatralitätsdiskurse um 1800 angemahnt und als Bedingung für weiterführende Überlegungen zu einer Repräsentationskrise und einer theatralischen Antwort darauf genannt. Dies ist nun geschehen, wodurch einerseits das übergreifende Konzept einer Repräsentationskrise zumindest exemplifiziert und andererseits die romantische Text-Theater-Utopie und ihre beträchtliche Bereitschaft zur Paradoxie erklärt und kontextualisiert werden konnten. Die Theaterkonzepte, die wir untersucht haben, kulminieren letztlich durchgängig in jenem Paradox, dass das Subjekt in ihnen zur Anschauung seiner selbst gelangen will. Mit Bezug auf Foucaults epistemegeschichtliche Überlegungen ließe sich demnach konstatieren, dass auch das Theater vom Eintritt des Menschen in die Repräsentationsordnung betroffen war. Philosophen wie James Beattie und Jean-Jacques Rousseau entwarfen Theatermodelle, in denen der Mensch zur Selbstrepräsentation gelangen sollte. Diese Modelle griffen die Repräsentationskrise demnach auf und vertieften sie zum medienspezifischen Problem der (Total-)Identifizierung der Zuschauer mit den Akteuren, einer Identität von Zuschauer und Akteuren. Wie wir gesehen haben, wurde dieses Problem lösbar, wenn Subjektivität als Intersubjektivität, also als handlungssimultane Selbsterfahrung in gegenseitiger Wahrnehmung, entworfen wurde. Von einer ‚Theatralisierung‘ der Kultur als Antwort auf die Subjekt-/Objekt-Problematik, mithin einem Abrücken von situationsabstrakten Simulations- hin bzw. zurück zu situationskonkreten Partizipationsmedien kann aber gerade nicht die Rede sein. Vielmehr ist das Verhältnis geradezu dialektisch: Auf der konzeptuellen Ebene spielen Ideen einer Theatralisierung bzw. (Re-)Ritualisierung der Kultur, etwa beim Rousseauschen Theater des Volkes, durchaus eine Rolle. Realisieren lässt sich diese ‚Archaisierung‘ der Kultur dann aber signifikanterweise vor allem auf der Inhaltsseite letztlich immer fortschrittlicher werdender Medien. Daneben betrifft ein wichtiger Aspekt einer ‚Repräsentationskrise‘, den die bisherige Forschung zu diesem Konzept und Phänomen überhaupt nicht thematisiert, Fragen bzw. Umbrüche im Bereich der politischen Repräsentation, mithin die Interessenvertretung des Einzelnen und seine Beteiligung an kollektiven Prozessen und Entscheidungen. Auch hier hat die Beschäftigung mit Theatermo-
kulturwissenschaftlichen Forschung, vor allem in Deutschland, enorme Kreise gezogen und zahlreiche Forschungsprojekte zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert initiiert und gestützt, vgl. etwa Bergengruen/Borgards/Lehmann 2001, Albes/Frey 2003 sowie Heinen/Nehr 2004.
Diskursive Theaterkonzepte des 18. Jahrhunderts
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dellen um 1800 Exemplarisches zutage gefördert: Die Krise der Repräsentation um 1800 hat sich angesichts der Französischen Revolution und des durch sie in Großbritannien (mit)ausgelösten Radikalismus eben auch als eine Krise der politischen Repräsentation herauskristallisiert und sich in einigen ebenfalls problematischen Theatermodellen niedergeschlagen.208 Wie auch im Falle der epistemischen Repräsentation sind diese Modelle zentrale Lösungsangebote für die Krise der politischen Stellvertretung insgesamt und genau wie dort sind sie problematisch und modifikations- bzw. transformationsbedürftig. Zwar schwenken radikale DenkerInnen wie Rousseau, Mary Wollstonecraft oder William Crowe von sich aus auf den ästhetischen Bereich des Theaters um, wenn es darum geht, Demokratisierung voranzutreiben bzw. zu realisieren. Aber auch in dieser Form dürfen sie ihr(e) Theater nicht realisieren, sondern müssen letztlich auf das Medium des Textes ausweichen. Zugleich sind selbst konservative, also die politische Ordnung ästhetisch unterstützende Theatermodelle, wie Burkes Theater der Stärkung der Monarchie, von potentieller Zensur bzw. von tatsächlich erfolgter textueller Selbstbeschränkung betroffen. Das Theater des Subjekts um 1800 ließ sich demnach, wie bereits wiederholt festgestellt, in der britischen Kultur nur durch eine doppelte Verschiebung realisieren: durch die Weiterentwicklung von Subjektivität zu Intersubjektivität einerseits sowie durch einen Medienwechsel vom Theater zum (nichtdramatischen und daher ‚autonomen‘) Text andererseits. Wie wir im Verlaufe der nun folgenden Textinterpretationen feststellen werden, haben die beiden Elemente der Verschiebung ein problematisches, ja paradoxes Verhältnis zueinander: Intersubjektives Theater darf es nur im Text geben, wo es letztendlich aber nie voll realisierbar ist. Mit dem Theater des Subjekts hat sich die romantische Literatur demnach ein Projekt aufgehalst, das letztlich nur sie – aber auch sie gerade nicht – bearbeiten kann. Das macht die romantische Literatur umgekehrt zu einem Zentralort der ‚Austragung‘ der Repräsentationskrise, arbeitet sie doch deren Grundcharakteristika heraus: Auch die Frage der epistemischen und politischen Repräsentation des Menschen insgesamt erweist sich um 1800 als ein Problem, das interessante
208 Natürlich gibt es zahlreiche Untersuchungen zu den Umbrüchen in der politischen Ordnung sowie im politischen Imaginären im Zuge der Französischen Revolution, etwa Koschorke et al. 2007 (darin auch weiterführende Literatur, teils von den Autoren selbst). Die Verbindung des Umbruchs in Fragen politischer Repräsentation mit grundsätzlichen epistemisch-ästhetischen Darstellungsproblemen der Zeit wird allerdings sehr viel seltener thematisiert, am erschöpfendsten für den deutschsprachigen Raum von Vogl 2001. Vogl geht (bezogen auf ‚kontinentale‘ Probleme) auch auf Adam Smith und das englische Drama des 18. Jahrhunderts ein; dennoch sind diese Vorarbeiten in der internationalen Anglistik vor der vorliegenden Studie nicht aufgegriffen oder ausgeweitet worden.
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Historische Voraussetzungen: Theaterkultur und Theaterkonzepte um 1800
Lösungen hervorruft, gerade da es zu diesem Zeitpunkt nicht zu lösen ist. Als produktive Paradoxa sind Repräsentationskrise und romantisches Text-Theater demnach Korrelate.
3 W ordsworth und Scott auf dem Theater: The Borderers und The House of Aspen 3.1 Ausgangspunkt: Die Nobilitierung des Schauerlichen Durch den Theatre Act von 1737 und die darauffolgende Entwicklung eines spracharmen Unterhaltungstheaters wurde das (intermediale) Konzept des Dramas als textueller Vorlage einer Bühnenhandlung, welche primär auf der Aufführung der darin niedergelegten Wörter beruhte, systematisch sabotiert. Im Rahmen der erwähnten Theatergesetzgebung durfte, was der Theatergeschichte als ‚Drama‘ galt, nur noch im exklusiven Sonderstatus des legitimate drama, was ‚echtes‘ genauso wie ‚gesetzlich gebilligtes‘ Drama bedeutet, existieren. Gerade dadurch, dass das ‚normale‘ Drama dergestalt gegängelt, zensiert, limitiert und selektiert wurde, wurde es, wie wir im Laufe des nun folgenden Abschnitts sehen werden, für zeitgenössische Schriftsteller zutiefst problematisch. Dies bekamen auch die in dieser Studie behandelten Autoren William Wordsworth und Walter Scott zu spüren. Während sie im Laufe ihrer Werkentwicklungen auseinanderstrebten, sind sie sich in ihrem Bemühen, sich Ende des 18. Jahrhunderts als Verfasser echter (Sprech-)Dramen zu etablieren, wiederum ähnlich – und gerade deswegen auch so gut miteinander vergleichbar als Parallelfälle der Entwicklung eines (je eigenständigen) Text-Theaters jenseits der Bühnen ihrer Zeit. Interessanterweise bezogen sich beide jungen Autoren dabei auf eine Theatertextsorte, die selbst zwischen den Stühlen des legitimen und des illegitimen Dramas stand, nämlich das Gothic drama. Eine Zwischenstellung nahm es deswegen ein, da es zwar auch an den lizensierten Häusern Covent Garden und Drury Lane gespielt wurde – ja einen Gutteil der dort aufgeführten zeitgenössischen Dramatik ausmachte – dabei aber so sehr von den Unterhaltungsbühnen und deren sprachfernen Medienelementen geprägt war, dass es geradezu als ein Paradebeispiel für den Import von illegitimen Theaterformen nach Bühnen, die diese eigentlich gar nicht nötig hatten, gelten kann.1
1 Wie beim zeitgenössischen Drama allgemein (vgl. 2.1) ist der Grad des ‚Eindringens‘ illegitimer Elemente beim Gothic drama unterschiedlich. Wie Frederick Burwick (2009: 171) betont, ist etwa Matthew Lewis’ Castle Spectre (vgl. das Folgende) ein legitimate drama, während George Colman’s Blue-Beard aufgrund seiner Entgrenzung in den illegitimen Bereich als ein „fairy-tale spectacle“ bezeichnet wird.
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Wordsworth und Scott auf dem Theater: The Borderers und The House of Aspen
Wordsworths The Borderers und Scotts The House of Aspen sind beide bis zu einem gewissen Grad Schauerdramen. Wesen und Funktionen der Schauerliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts sind in der Forschung hinlänglich diskutiert und bestimmt worden2, wobei allerdings das Schauerdrama erst in neuerer Zeit verstärkt Berücksichtigung findet, dabei aber nicht nur als Ausprägung der Schauerliteratur gilt, sondern laut Michael Gamer zu einem Paradigma der Gothic Literature geworden ist.3 Die Bezüge zu dieser Kultur wird die nun folgende detaillierte Analyse der beiden Dramen herausarbeiten – wichtig ist aber an dieser Stelle, dass sie sich beide auf eine sogenannte ‚German tradition‘ des Schauerlichen beziehen, die scharfsinnige Geister wie S.T. Coleridge bereits zur damaligen Zeit als unerkannte ‚Reimporte‘ auf den Kontinent projizierter Elemente der britischen Kultur und ihrer Befindlichkeiten entlarvt haben.4 Angeblich deutsch an den beiden Dramen ist dabei insbesondere ihr Bezug zur Thematik des Freischärlertums, paradigmatisch verhandelt in Friedrich Schillers Drama Die Räuber (1781), sowie zur sogenannten ‚freien‘ oder Femen-Gerichtsbarkeit, wie sie in Johann Wolfgang von Goethes Götz von Berlichingen (Uraufführung 1774) eingehend und eingängig thematisiert wird. Interessant an diesen Bezügen ist nun zum einen, dass sie ihrerseits eng miteinander verbunden sind: In beiden Themen geht es um Selbstjustiz aus Gründen privater oder kollektiver Rache – was dazu geführt hat, dass sie, wie Reeve Parker zeigt, gerade im französischen Theater der Revolutionszeit auch zusammengeführt wurden.5 Zum anderen sind sie, wie erwähnt, nicht etwa genuin kontinentale Erfindungen – eben Kinder der Französischen Revolution, wie das zeitgenössische britische Rezensionswesen gerne behauptete – sondern Wiedereinführungen von Altbekanntem, aber Ungeliebtem, nämlich des Geistes
2 Vgl. etwa Gamer 2000: 48–89 und Robertson 1994: 68–116 zur Übersicht über die Forschung. Wichtig ist die von Ann Radcliffe etablierte Grundunterscheidung zwischen übernatürlich induziertem horror und auf erklärbaren Vorgängen beruhendem terror sowie die Dimension der Aufarbeitung eines historischen Traumas in der und durch die Schauerkultur. Diese Vergangenheitsbewältigung hat dabei oftmals den individuell psych(olog)ischen Ausgangspunkt etwa einer persönlichen Rache oder Wiedereinsetzung in eine legitime gesellschaftliche Position, zielt aber auch auf kollektive Prozesse wie die Französische Revolution des 18. und die Englische Revolution des 17. Jahrhunderts (vgl. 5.3.3). 3 Dazu Gamer 2000. Gamer geht von der Schauerkultur als „pageantry of fear“ (Überschrift S. 1) aus und privilegiert damit erstmals das Theater bzw. die Theatralität als Ort und Ausgangspunkt der Schauerkultur. In seinen Analysen dieses „pageantry“ spielen Dramen daher folgerichtig eine zentrale Rolle (vor allem 127–162). 4 Vgl. Evans 1947: 117–119. 5 Vgl. Parker 1988: 379–383. Parker weist eine freie französische Bearbeitung der Räuber, die deren Hauptmann gleichzeitig zu einem Femenrichter macht, als einen der wichtigsten Prätexte von Wordsworths The Borderers nach! (vgl. Anm. 50)
Ausgangspunkt: Die Nobilitierung des Schauerlichen
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des Aufruhrs und der willkürlichen Justiz, wie Großbritannien sie (nicht nur) in der Cromwell-Zeit der 1640er Jahre erlebt hatte und wie sie Niederschlag etwa in Horace Wal-poles Castle of Otranto (1764) oder Tobias Smollets Roman Ferdinand, Count Fathom (1753) fanden.6 Allerdings widerfuhr es der Thematik der revolutionären und autonomen Justiz bei ihrem Reimport nach Großbritannien, dass ihre Dimensionen ernsthafter histor(iograph)ischer Analytik (Götz) bzw. ernstgemeinter kulturell-politischer Revolution (Räuber) – natürlich auch aus den genannten theaterpolitischen Gründen – zurückgedrängt wurden. Vor diesem Hintergrund nun strebten Wordsworth und Scott danach, die Thematik von Selbstjustiz und politischer wie persönlicher Eigenmächtigkeit durchaus kritisch zu nobilitieren. Mit diesem Unterfangen fanden sie, wie wir sehen werden, nicht nur Begeisterung, sondern stießen – in mehrfacher Hinsicht – an die Grenzen ihrer Theaterkultur. Dabei ging es Wordsworth darum, mit Elementen des Schauerdramas eine moderne und postrevolutionäre Charaktertragödie zu entwickeln, während Scott das Gothic theme des Geheimtribunals zu einer eher konservativen Analyse postrevolutionärer Gesellschaften weiterentwickeln wollte. Wie Michael Gamer in seiner Untersuchung des Bezugs beider Dramen zu Matthew Lewis’ Erfolgs- und Schauer-Drama Castle Spectre (1798) darlegt, schwebte Wordsworth eine komplette Umgestaltung der zeitgenössischen Dramenkultur vor. Im Dialog mit Coleridge über Castle Spectre beklagten beide vor allem Unoriginalität und Schematismus dieses paradigmatischen Schauerdramas.7 Gamer zufolge störte Wordsworth an Castle Spectre zudem der Unterhaltungs- und Spektakelcharakter.8 In Absetzung davon wollte Wordsworth an eine Autorpersönlichkeit gebundene gedanklich-philosophische Aspekte in das Genre zurückbringen, es also im am Ende von 2.1 diskutierten Sinne (re)literarisieren. In diesem Zusammenhang griff er, wie wir sehen werden, intensiv auf die avanciertesten philosophischen und politischen Theaterkonzepte seiner Zeit zu – und machte sein Drama gerade deswegen in mehrfacher Hinsicht unaufführbar. Für Wordsworth bedeutete ‚Drama‘ zu diesem Zeitpunkt einen (aufzuführenden!) literarischen Text, der sowohl diskutierte als auch inszenierte, was das Theater für das Individuum in der postrevolutionären Gesellschaft leisten könnte, und wel-
6 Vgl. Evans 1947: 118–121. Insbesondere Castle of Otranto hat das Unheimliche in der deutschsprachigen Literatur der 1770er bis 1790er Jahre viel zu verdanken. Evans konzediert, dass das spezifische Motiv des Geheimtribunals tatsächlich erstmals in der deutschsprachigen Literatur entfaltet wurde, aber er weist auch nach, dass es sich in eine britische Schauertradition einfügte, die eine ganze Reihe vergleichbarer Motive kannte (130). 7 Vgl. Gamer 1999: 835–837. 8 Vgl. Gamer 1999 834f. und 841.
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Wordsworth und Scott auf dem Theater: The Borderers und The House of Aspen
cher zudem seinen Autor als starke neue Stimme in dieser und anderen zeitgenössischen kulturellen Debatten profilieren sollte. Dabei steht The Borderers den meisten der in 2.2 analysierten Theatermodellen zur Repräsentation und (Selbst-) Erfahrung des Subjekts allerdings so skeptisch gegenüber, dass die Tragik dieser Tragödie zu einem Gutteil im Nachweis der Gewalt bzw. des Scheiterns dieser Repräsentationsformen besteht. Gerade dieser Nachweis suggeriert zugleich eine ganz eigene, von Wordsworth als Alternative vorgeschlagene Theaterform, die er in seinen danach entstandenen Texten sukzessive praktizierte. In The Borderers verbinden sich also ein Scheitern an den zeitgenössischen äußeren Bedingungen der Dramenaufführung mit einer im Drama bereits angelegten Kritik an der Verkörperungs- und Visualisierungslogik des Theaters. Walter Scott griff im Gegensatz dazu viel stärker und vertrauensvoller auf praktizierte Theaterformen zu, was zur Folge hatte, dass er (zunächst) viel weniger Interesse an einer Teilnahme an der emergenten Kultur der (zeitgenössischen) Literatur hatte als William Wordsworth. Wie Scott in einem Brief vom Dezember 1801 – in Rückschau nach der Ablehnung von The House of Aspen – darlegt, stand er der modernen spektakelorientierten Theaterkultur durchaus mit Hochachtung gegenüber und verfasste seinen Erstling in bewusster Nähe zu den spektakulärsten Erfolgen des Gothic drama.9 Es ging ihm darum, die Potentiale dieser Form des Theaters, sich an zeitgenössischen sozialen und kulturelle Debatten und Problemstellungen zu beteiligen, unter Beweis zu stellen. In diametralem Gegensatz zu Wordsworths und Coleridges nervöser Distanzierung von Matthew Lewis’ Schauertheater suchte Scott die Nähe dieses Autors, der wohl besser als kultureller Impressario zu bezeichen wäre, und zog mit seiner jungen Frau nach London, um The House of Aspen mit Lewis’ Vermittlung in Drury Lane aufzuführen. Wordsworth versuchte sein Glück in Covent Garden, dem anderen patent theatre der damaligen Zeit.10 Scott strebte also durchaus nach einem ähnlichen Aufführungsort für sein Theater wie Wordsworth, nämlich dem legitimen Sprechtheater, aber es ging ihm eher darum, eine junge Populärkultur hoffähig zu machen, indem er ihre zeitgenössische kulturelle und gesellschaftlich-politische Relevanz aufwies und durch seinen eigenen Beitrag idealerweise auch verstärkte. In seinem „Essay on Drama“, einem Lexikonartikel aus dem Jahre 1819, zu einem Zeitpunkt also, als er sich schon weit vom Theater entfernt hatte, ist dieses Zutrauen in eine eigentlich marginalisierte und patronisierte Unterhaltungskultur noch immer spürbar: Während in diesem Essay die zeitgenös-
9 Zitiert nach Gamer 1999: 852. Scott erwähnt neben Castle Spectre und den „other drum and trumpet exhibitions of the day“ auch Blue Beard (1798). 10 Vgl. Gamer 1999: 852 sowie Sutherland 1997: 69–72.
Ausgangspunkt: Die Nobilitierung des Schauerlichen
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sische Dramatik insgesamt nicht gut wegkommt, lässt Scott als Ausnahme und hoffnungsvollen Ausgangspunkt einer neuen Tragödie unter anderem Horace Walpoles The Mysterious Mother (1768) gelten, eine Erz-Schauertragödie.11 Den Charakter einer ‚mysteriösen Mutter‘ übernimmt Scott in seine eigene Gothic tragedy The House of Aspen. Aus der Frau, die eine inzestuöse Beziehung zu ihrem eigenen Sohn unterhält, wird bei Scott allerdings eine Mutter, die ihren ersten Ehemann ermordet hat und diesen Fluch nun auf ihre Söhne, die Kinder ihres zweiten Ehemannes, fallen sieht. The House of Aspen ist demzufolge sehr viel stärker als Wordsworths Drama auf Spielbarkeit im konventionellen Sinne angelegt. Es handelt sich um die Bearbeitung einer deutschsprachigen Vorlage, nämlich Die Heilige Vehme (1795) von Weit Weber, einem Alias des Hamburger Theologen und Schriftstellers Leonard Wächter (1762–1837). Dieser Prätext ist ein rein auf Lektüre angelegter Dramentext, da er in der Erstausgabe über 400 (!) Oktav-Seiten lang ist und sich in einer Sammlung ansonsten rein episch-narrativer, sogenannter Sagen der Vorzeit findet. Scott will daher einen Lesetext durch drastische Kürzungen und Umarbeitungen zu einem aufführbaren Drama zu machen. Im Zuge der Straffung auf etwa 25 Prozent12 führt Scott den ausufernden Prätext in eine tragische Handlungstruktur von Ausgangskonflikt, Handlungssteigerung, Höhepunkt und finaler Katastrophe mit Lösung über.13 The House of Aspen ist demnach der erste
11 Scott 1834: 378. 12 Webers Text ist in der frühesten mir zugänglichen zweiten Auflage von 1795 404 Seiten lang. Scotts Drama erschien 1830 erstmals in einer Zeitschrift, nämlich The Keepsake, welche einen sehr viel engeren Seitenspiegel aufweist als Webers handliches Format. In dieser Ausgabe umfasst Scotts Drama sogar nur 66 Seiten. In einer Webers Seitenspiegel vergleichbaren Ausgabe, nämlich einer Raubkopie aus Paris in Buchform ebenfalls von 1830, kommt er aber auf 102 Seiten, also ziemlich genau ein Viertel von Webers gut 400 Seiten. 13 Das Verhältnis von The House of Aspen zu seinem Prätext ist von der Forschung noch nicht in nennenswerter Detailliertheit gewürdigt worden, was auch an der fast gänzlich fehlenden Sekundärliteratur zu Weber/Wächters – seinerzeit durchaus erfolgreichen – siebenbändigen Sagen der Vorzeit (erschienen zwischen 1787 und 1798) liegt. Webers Text ist nicht in Akte eingeteilt, Szenenwechsel sind nur durch Ortswechsel gekennzeichnet. Zu den bedeutendsten Veränderungen Scotts gehört neben unzähligen Details, auf die im Rahmen dieser Studie nicht eingegangen werden kann, die Erstellung eines 5. Aktes: Wo bei Weber die Gerichtsszene im Tribunal für Nebenhandlungen unterbrochen wird und etwa der Tod des Charakters der schuldigen Mutter – als Mord durch den Widersacher – auf ihrer eigenen Burg stattfindet, führt Scott all diese Elemente in einem intensiven Schlussakt, der ausschließlich der unterirdischen Geheimverhandlung gewidmet ist, zusammen. Die bedeutendsten Eigenerfindungen Scotts in diesem Szenario sind die Bereitschaft zur Selbstopferung des Sohnes, die dann von derjenigen der herbeigerufenen Mutter noch einmal übertrumpft wird, sowie die finale Aufhebung des legalistischen Grauens durch einen herbeigerufenen ‚Monarchen‘, den Herzog von Bayern. Bei Weber
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Wordsworth und Scott auf dem Theater: The Borderers und The House of Aspen
eigenständige Langtext aus Scotts Feder und nicht etwa, wie die Scott-Forschung bisher angenommen hat, in die Reihe von Übersetzungen deutscher Dramen einzuordnen, die er in den späten 1790er Jahren ebenfalls vorgelegt hat.14 Auch in The House of Aspen werden, wie wir im nun folgenden Abschnitt sehen werden, die im zweiten Kapitel referierten Theatermodelle aufgegriffen, stärkstens problematisiert und zuletzt einem Scheitern überantwortet. Das in der Katastrophe aufscheinende alternative Theatermodell kann, ganz wie bei Wordsworth, nur durch einen Medienwechsel zum Text realisiert werden.
3.2 R ezeption der epistemischen und politischen Theatermodelle in The Borderers und The House of Aspen The Borderers und The House of Aspen sind nicht nur aufgrund äußerer Gegebenheiten miteinander vergleichbar – etwa dass es sich bei beiden Werken zentrale Frühwerke junger Autoren handelt, dass sie beide einem der beiden Londoner Sprechtheater vorlagen und beide zurückgewiesen wurden –, sondern auch aufgrund innerer, ‚poetischer‘ Aspekte, die die Inhalts- und die Vermittlungsebene der beiden Dramen betreffen. Diese bestehen neben der Rezeption von Elementen der Schauerdramatik vor allem in der engen und äußerst komplexen Bezugnahme auf die im zweiten Kapitel aufgearbeiteten Theatermodelle. Dabei erscheinen das Theater des Subjekts und das Theater des Politischen bereits in jener Verklammerung, die sich in den Theatermodellen selbst bisweilen findet. Kurz gesagt: Die Tragödie des Monarchen, die Tragödie des Volkes und das aus letzterem erwachsende Theater des Volkes finden sich in Wordsworths und Scotts frühem Drama nicht nur intensiv reflektiert und eingesetzt, sondern bereits verknüpft mit jenem Doppel aus Aussteuerung und Repräsentation des Subjekts, wie sie von der philosophisch orientierten Theaterästhetik der schottischen Aufklärung konzipiert wurde.
endet der Text nach einer Reihe von Justizmorden in einer im dramatischen Sinne völlig ungeund unerlösten Offenheit. 14 Zu diesen Übersetzungen zählen neben einigen Balladen von G.A. Bürger vor allem Götz von Berlichingen (übers. 1798), Ifflands Die Mündel (übers. 1796), Josef Marius Babos Otto von Wittelsbach (übers. 1796–1797) und Jakob Maiers Fust von Stromberg (übers. 1797). Von diesen Übersetzungen wurde nur der Götz publiziert, im Jahre 1799 (Clark 1969: 260 und 262).
Rezeption der epistemischen und politischen Theatermodelle
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3.2.1 The Borderers William Wordsworth Tragödie The Borderers soll zunächst das Augenmerk gelten. Robert Osborne, der Herausgeber von The Borderers in der Cornell-Ausgabe von Wordsworths Werken, nennt das Drama „Wordsworth’s first major work“. Er sieht es im Zentrum der vorhergehenden und darauffolgenden Werke: Es habe Wordsworth nicht nur die Themen für die nachfolgenden Projekte The Ruined Cottage, The Pedlar und das sogenannte „two-part Prelude“ geliefert, sondern sei auch der Durchbruch zu dem von Wordsworth in der Folge so stark verwendeten Blankvers gewesen. Zudem sei es von den vorher entstandenen Salisbury Plain-Gedichten geprägt.15 Die Einordnung von The Borderers als einem Konzentrationspunkt von Wordsworths Frühwerk vor den Lyrical Ballads und gleichzeitig einem auf das Theater bezogenen Ausgangspunkt seines Werkes möchte die vorliegende Studie teilen und weiter ausführen.16 Interessanterweise weisen auch The Ruined Cottage, The Pedlar sowie die Salisbury Plain Poems – und natürlich das Prelude – Bezüge zu Wordsworths Theaterprojekt auf, auf die wir noch zu sprechen kommen.17 Erste Ansätze zu The Borderers reichen in das Jahr 1796 zurück. Mitte 1797 lag eine erste Fassung vor, die als handgeschriebene fair copy auch an Thomas Harris, den Intendanten von Covent Garden, ging und von diesem nach kurzer Prüfung abgelehnt wurde. Diese Fassung wurde 1799 ein weiteres Mal ins Reine geschrieben, galt Wordsworth fortan als abgeschlossener Text und blieb sodann mehr als vier Jahrzehnte unverändert – allerdings auch unpubliziert. Erst in den Jahren 1841 und 1842 nahm Wordsworth sich den Text wieder vor, um das Drama aus seiner revolutionären Frühphase mäßigend umzuarbeiten und sodann in Poems. Chiefly of Early and Late Years (1842) zu veröffentlichen, einem Ergänzungsband seiner Poetical Works von 1841.18 Robert Osborn machte 1982 erstmals beide Versionen in Lesetexten zugänglich. Die Forschung hat sich seitdem – ähnlich wie im Prelude19 – fast ausschließlich auf die eigentlich unveröffentlichte Urfassung konzentriert, eine Tendenz, welcher auch die vorliegende Studie folgt.
15 Wordsworth 1982: ix. 16 Vgl. für eine ähnliche Einschätzung der Bedeutung von The Borderers für Wordsworths Werk u.a. Rieder 1997, Bromwich 1998 und Parker 2011. 17 The Ruined Cottage und The Pedlar sind Vorstufen der „Margaret’s Tale“ in The Excursion (vgl. 4.3.2). Die Salisbury Plain Poems stehen in Zusammenhang mit dem Gedicht „The Female Vagrant“ aus den Lyrical Ballads (vgl. 4.1.3.1). Zum Prelude vgl. 4.2. 18 Vgl. Wordsworth 1982: 4–7 u. 6–9. Alle folgenden Zitate aus The Borderers erfolgen aus dieser Ausgabe und zwar nach dem Schlüssel „Akt(röm. Ziffern in Majuskeln).Szene(röm. Ziffern in Minuskeln).Vers“, also z. B. I.v.39–45. 19 Vgl. 4.2.
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Wordsworth und Scott auf dem Theater: The Borderers und The House of Aspen
The Borderers spielt im Grenzgebiet zwischen England und Schottland während der Herrschaft von Henry III im 13. Jahrhundert.20 Die Tragödie schildert die Anstiftung des lauteren Bandenanführers Mortimer zum Mord an Herbert, dem Vater seiner Geliebten Matilda. Advocatus diaboli ist dabei das Bandenmitglied Rivers, der Herbert bezichtigt, Matilda, die gar nicht seine leibliche Tochter sei, zunächst einer Bettlerin abgekauft zu haben und nun als Mätresse an einen berüchtigten Adeligen weiterverkaufen zu wollen. Zu diesem Zweck heuert Rivers eine Bettlerin an, die sich als die Mutter Matildas ausgibt und die Verleumdungen bestätigt. Mortimer setzt Herbert daraufhin auf der Heide aus, um die göttliche Providenz über ihn richten zu lassen. Da er aber vergisst, ihm Proviant mitzugeben, kommt dieser Akt einem Mord gleich. Als die Intrige aufgedeckt und Rivers’ Motiv deutlich wird – nämlich, dass er in der Vorgeschichte einen ähnlichen Mord am Kapitän eines Schiffes, auf dem er angeheuert hatte, begangen hat, den er nun wiederholt wissen will –, wird Rivers von der Bande zu Tode gebracht, während Mortimer sich von der menschlichen Gemeinschaft lossagt und in die Heide geht. Die meisten der hier genannten Personen sind nicht nur dramatische Charaktere, sondern stehen zugleich durch ihr Auftreten bzw. ihre Strategien für die innovativen Theatermodelle aus Wordsworths Zeit. Dabei erweist sich der schurkische Antagonist Rivers – ähnlich Iago in Shakespeares Othello – als Regisseur in praktisch allen der in The Borderers reflektierten Theaterkonzepte, was auf deren problematischen Status innerhalb des Dramas hinweist. Ausgangspunkt von Rivers’ Theaterintrige ist die Burkesche Tragödie der Monarchie, die in The Borderers dann aber zu dem von Burke so gefürchteten Volksspektakel wird. Im Anschluss daran inszeniert Rivers eine Tragödie des Volkes, aus deren Rezeption, zu der unter anderem ein Königsmord gehört, ein höchst problematisches Theater des individuellen Selbstausdrucks erwächst. Zunächst zur Königstragödie. Als Peripetie des Dramas schildert Rivers Mortimer, wie er in der Vorgeschichte den Kapitän seines Schiffes auf einer einsamen Insel aussetzen ließ, weil dieser ihn seiner Ansicht nach verleumdet und ungerechtfertigt gezüchtigt hatte.
20 Laut Purinton (1992: 31f.) war dies eine Zeit des Aufruhrs unter lokalen Mächten und des gleichzeitigen Niedergangs der feudalen Monarchie. Bei Wordsworth wird sie zu einem Macht vakuum, in dem es zu den Formen der Selbstjustiz kommt, die die in Borderers geschilderte Bande begeht – in der Vorgeschichte des Dramas offensichtlich durchaus in gerechter Form. Hiermit vergleichbar ist die in The House of Aspen geschilderte Geheimjustiz des mittelalterlichen Femegerichts. Beide Autoren beziehen sich also auf vergleichbare politische und juristische Übergangsphasen, um daraus einen komplexen Kommentar zur revolutionären Situation, in der sich ihre eigene Epoche auf dem europäischen Festland befindet, zu erarbeiten.
Rezeption der epistemischen und politischen Theatermodelle
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And in that miserable place we left him— A giant body mid a world of beings None of which could give him any aid, Living or dead.
Mortimer ist von dem entworfenen Bild des Jammers so bewegt, dass er es begierig mit einem selbst imaginierten Bild ergänzt: A man by men deserted, Not buried in the sand—not dead or dying, But standing, walking—stretching forth his arms: In all things like yourselves, but in the agony With which he called for mercy—and even so, He was forsaken.
Rivers schildert nun die Reaktion des Publikums auf diese tragische Szene: There is a power in sounds: The groans he uttered might have stopped the boat That bore us through the water. . . . . . . Some scoffed at him with hellish mockery, And laugh’d so loud it seem’d that the smooth sea Did from some distant region echo us. (IV.ii.41 u. 53–55)
„[W]hen kings are hurl’d from their thrones [...] and become the objects of insult to the base, and of pity to the good, we behold such disasters in the moral, as we should behold a miracle in the physical order of things“21 heißt es in Edmund Burkes bereits eingehend analysierter Konzeption einer Tragödie der Monarchie. Mit dem von Wordsworth in The Borderers am Wendepunkt des Dramas geschilderten Szenario wird dieses Konzept en détail abgeschritten, dabei aber auch, wie es zunächst scheint, konterkariert mit seinem gefürchteten Gegenteil: Aus dem gigantischen politischen Körper des ‚Monarchen‘ („giant body“) wird bei Wordsworth ein ganz normaler Sterblicher, dessen Niedergang mit dem Stillstand des Bootes das ‚Wunder‘ auslöst, das Burke als Analogie zum aufrüttelnden Effekt auf das Publikum nennt. Allerdings beschreibt Wordsworth in Konkurrenz zu den sublimen Jammerlauten des leidenden Monarchen das Triumphgegröhle („hellish mockery“) der wegrudernden Seeleute. Damit greift er bis in die Wortwahl hinein die Beschwörungen jenes „insult“ gegen den fallenden König in der zitierten Stelle bei Burke auf, die dieser mit Blick auf das leidende französische Königs-
21 Burke 2001: 243, vgl. 2.2.2.2.
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Wordsworth und Scott auf dem Theater: The Borderers und The House of Aspen
paar als „horrid yells, and shrilling screams [...] and infamous contumelies, and all the unutterable abominations of the furies of hell“22 konkretisiert.23 Burke freilich sieht gerade in der Reaktion des Mob das empörendste und zur Monarchie gewissermaßen ‚bekehrendste‘ Element der tragedy of monarchy, die er nicht zuletzt mit seinem eigenen Text vorgestellt hat. Wordsworth aber belässt es in der Schilderung der Reaktion weitgehend beim Hohn der (ehemals) Untergebenen, und auch Mortimers anfängliche Empörung24 weicht schnell nüchterner Distanz: But then, he was a traitor—these expedients Are terrible.—But the fault is not ours. (IV.ii.61f.)
Wordsworths intradiegetisches Publikum25 ist nicht bereit, den Pöbel mit einer edlen Reaktion der Ernüchterung zu transzendieren. Vielmehr betrachtet es den Königsmord genau mit jener Abgeklärtheit, die Wordsworth im Letter to the Bishop of Llandaff als Rezeption der durch Tragödien des Volkes aufgeklärten Theatergänger schildert; der Berufung auf die ‚Mittel zum Zweck‘ („expedients“) hier in den Borderers entspricht der Gedanke einer zur Tragik letztlich prädestinierten, da unnatürlichen Monarchie im Letter.26 Mortimer billigt den ‚Königsmord‘, da dessen Opfer sein ‚Volk‘ verleumdet und ungerecht bestraft hat, wobei
22 Burke 2001: 233; meine Hervorhebung. 23 Vgl. zur Interpretation der Inselstelle als Königsmord-Szenario auch Erdman 1978: 31f. John Rieders Widerspruch gegen diese Lektüre, dass die Stelle letztlich eher einen – völlig verlassenen – Bettler imaginiert als einen König, muss mit dem Hinweis auf das durchaus vorhandene und gerade an Burkes königsmordendem Mob orientierte Publikum widersprochen werden (Rieder 1997: 139). David Marshalls Lektüre dieser Stelle (1988) verzeichnet wie die meinige ihre metatheatrale Dimension, ignoriert aber – wie Rieder – die Referenzen auf ein gröhlend triumphierendes Publikum, so dass er ählich Rieder die „inability [of the real audience] to give any aid that leaves the characters alone, deserted, isolated, islanded“ (397) betonen kann, aus der sich implizit ein Aufruf Wordsworths zu dem von Rousseau konzipierten Theater des Volkes ergebe. Rieder und Marshall übergehen also beide, dass diese Stelle auf die Perversion des monarchischen Theaters zum Volksspektakel referiert und damit vor einem Theater des Volkes geradezu warnt (s.u.)! 24 Die mit den Worten „Rivers, / I ought to tear you piece-meal“ (IV.ii.52f.) allerdings – für den Moment – geradezu einen monarchistischen, von der Tragödie des Königs aufgestachelten Gegen-Mob erstehen lässt. 25 An sich handelt es sich um ein intradiegetisches Publikum zweiter Ordnung (bzw. ein intraintradiegetisches Publikum), da es ja selbst schon ein erzähltes Publikum ‚beobachtet‘. 26 „It is from the passion [...] directed [by the influence of reason] that [...] men are afflicted by the catastrophe of the fallen monarch. They are sorry that the prejudice and weakness of mankind have made it necessary to force an individual into an unnatural situation, which requires more than human talents and human virtues, and at the same time precludes [the monarch] from attaining even a moderate knowledge of common life and from feeling a particular share in the interests of mankind.“ (Wordsworth 1974: Bd. 1, 33; vgl. 2.2.2.2)
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Wordsworth im Letter to the Bishop of Llandaff die widernatürliche Abtrennung des Monarchen von seinem Volk als Ursache angedeutet hat. Allerdings geht Wordsworth den Weg von 1793 – der mit der Billigung der Hinrichtung des Königs ja auch die Ablehnung einer monarchistischen Reuetragödie und das Plädoyer für eine Tragödie des Volkes impliziert hat – in den Borderers nur bis zum hier analysierten (Wende-)Punkt. Sodann aber verkehren sich – wir schreiben inzwischen das Jahr 1796 oder 1797 – die Dinge geradezu ins Gegenteil. Es erweist sich, dass nicht nur der Kapitän völlig zu Unrecht bestraft worden ist, sondern auch Herbert, den Mortimer ja unterdessen ebenfalls zu Tode gebracht hat, schuldlos starb. Damit sind aber auch die alternativen Theaterformen kompromittiert: Die in ihr Gegenteil pervertierte Tragödie des Monarchen aus der Vorgeschichte führt, wie wir im Anschluss sehen werden, mittelbar nämlich tatsächlich zu einer Tragödie des Volkes und von dort zu einem Theater individuellen Selbstausdrucks. Allerdings erweisen sich damit genau die Theaterformen, die Wordsworth 1793 noch leidenschaftlich verteidigt hatte, im Jahre 1797 als aus boshaftem Antagonismus erwachsene tragische Irrtümer. Während man das Aussetzungsszenario eher von seiner Wirkung auf die Zuschauer her als Theaterkonzeption verstehen kann, beruht Rivers’ Volkstragödie auf einer auch produktionsseitigen Inszenierungsstrategie. Die gesamte dritte Szene des ersten Aktes besteht in der Aufführung eines sentimentalen Ausbeutungsdramas durch eine Bettlerin. Diese wird von Rivers als Opfer des verderbten Adeligen Lord Clifford eingeführt, der sie missbraucht, fallengelassen und damit dem Wahnsinn anheimgestellt habe (I.iii.5–23). In ihrem darauffolgenden Auftritt schildert die Beggar sodann zunächst Kindstodfantasien (24–42), bevor sie die (angebliche) Katze aus dem Sack lässt: Vor etlichen Jahren habe sie ihr (und angedeuteterweise Cliffords) Kind an Herbert verkauft, der dieses, seine angebliche Tochter Matilda, – und damit schließt sich der Kreis – nun an Lord Clifford verkaufen möchte (71–176). All dies ist Verleumdung und Inszenierung, die Bettlerin zwar wohl eine echte Bettlerin, aber sicher nicht aus den melodramatischen Gründen, welche Rivers sie gegen Bezahlung geltend machen lässt.27 Wordsworths angesichts seiner eigenen Sentimentalismen28 erstaunlich bissige
27 Vgl. II.iii.243–253, wo die Bettlerin ihre Reue schildert, Geld von Rivers angenommen zu haben, um Mortimer etwas vorzuspielen. 28 Vgl. etwa die Analyse der Lyrical Ballads in 4.1, deren Sentimentalitäten allerdings, wie wir sehen werden, eine bewusste Übersteigung des Melodramas darstellen sollen. Wie der Herausgeber der Borderers Robert Osborn allerdings schildert, konzipierte Wordsworth die hier beschriebenen Bettlerstellen – sowie The Borderers insgesamt – zunächst durchaus als ‚direktes‘ und ernstgemeintes, so Osborne, „spectacle of action and suffering“ (Wordsworth 1982: 15), was erkennen lässt, dass Wordsworth sich im Laufe der 1790er Jahren und im Zuge der Arbeit an den
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Dekonstruktion des Melodramas ist umso erstaunlicher, als sie sich unzweideutig auf das Muster einer Offenbarung der Ausbeutung des einfachen Volkes durch den Adel bezieht, welches er einige Jahre zuvor noch glühend verteidigt hatte. An dieser Stelle ist die Tragödie des von den Mächtigen geknechteten Volkes nur noch eine abscheulich intrigante Inszenierung, die ihr Publikum aufstacheln und zu kalkulierten Gewalttaten hinreißen soll. Die Volks(theater)tribune selbst sind hier die Mächtigen und ihr Opfer das ahnungslose Publikum, welches sich repräsentiert wähnt, wo es nur manipuliert und ausgesteuert wird. Die Manipulation des ‚Zuschauers‘ Mortimer ist perfekt, lässt er sich doch durch die Intrige gegen seinen Schwiegervater in spe dazu hinreißen, ihn dem Tod auf der Heide zu überantworten. Um dies zu erreichen, lässt Rivers die Auftritte Herberts als eines blinden, hilfsbedürftigen alten Mannes wie eine gezielte Verstellung29 eines Kollaborateurs mit den Mächtigen aussehen, der danach strebt, bald selbst zu ihnen zu gehören, indem er Matilda Clifford überlässt und dafür ‚geadelt‘ wird. Auf Mortimers Zögern, den alten Mann mit einem Schwertstreich zu ermorden, reagiert Rivers mit gespielter Empörung: Plague! is he alive? […] Herbert! the Baron Herbert! since you will have it, he will be the Baron Herbert when Matilda is Clifford’s Harlot.—Is he living? (II.iii.281f.; Hervorhebungen im Original)
Herberts Hinfälligkeit in The Borderers ist natürlich echt (gemeint) und wird denn auch, wie wir sehen werden, zum Ausgangspunkt einer alternativen Tragödie der Leidenden – jenseits der Borderers. Hier aber wird er von Rivers systematisch als eine Herrscherfigur aufgebaut, welche dann, parallel zum Kapitän der Vorgeschichte, dem kläglichen Tod durch Aussetzung anheimgestellt wird. Die übelste Konsequenz von Rivers Volkstragödie ist demnach ein Königsmord – und zwar genau von der Art, von der dieses Theater ausgegangen war. Herbert stirbt seinen ‚Königstod‘ zu Beginn des vierten Aktes. Völlig erschöpft ist er dem Klang einer einsamen Glocke gefolgt – Wordsworths Rezeption eines beliebten Motivs der Gothic tragedy:
Borderers allmählich von einem Anhänger zu einem Kritiker und Dekonstrukteur der sentimentalen Volkstragödie gewandelt hat. 29 Zum Abschluss des von Rivers’ inszenierten und von der Bettlerin gespielten Auftritts in I.iii ist Mortimer selbst davon überzeugt, dass Herbert nur die „mask“ (178) eines Vaters trage.
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That bell—if I have strength—to reach it—oh! (Stretching out his hand) This wall of rocks—and the sound never nearer— Hear me ye men upon the cliffs that pray To God the father of all mercy—hear me— My child—my child—dark—dark—I faint—this wind, This stifling wind. [He sinks down in a corner of the stage. (IV.i.1–6)
Wir befinden uns in/an einem retadierenden Moment: Die Glocke stellt sich als sturmgeläutetes ‚Irrlicht‘ einer Kapellenruine heraus, genauso wie ein cottager, der Herbert kurz vor seinem Tod tatsächlich noch findet, den Sterbenden aus Angst vor juristischen Verwicklungen zurücklässt.30 Der Kreis hat sich geschlossen: Wieder wird ein zum einfachen Menschen herabgesunkener Adeliger31 aus ‚rationalen‘ Gründen nicht bemitleidet, so dass es ein weiteres Mal zum Königsmord kommen kann – und zugleich zum Scheitern der Burkeschen Köngstragödie. Rivers’ Volkstragödie hat ihre Wirkungsziele erreicht: Das Theater Burkes ist ein weiteres Mal ‚absichtlich‘ gescheitert und von der Tragödie des Volkes verdrängt worden.32 Rivers ist aber noch nicht am Ende mit seinen Inszenierungen. Zielvorgabe seiner Regisseurstätigkeit ist nämlich nichts Geringeres als ein Theater der totalen Selbstrepräsentation. „We dissect / The senseless body, and why not the mind? [...] [T]he mind of man upturned / Is a strange spectacle.“ (III.ii.25–28) heißt es in einem der Monologe, in denen Rivers seine Intrige rechtfertigt. Rivers ruft demnach zur wissenschaftlichen Vergegenständlichung des menschlichen Geistes auf, den er zugleich als aufregendes Schauspiel entwirft. Von dieser para-
30 Robert, der cottager, der Herbert findet, nennt dessen Siechtum zwar ein „piteous spectacle“ (IV.iii.41), fürchtet sich aber vor der juristischen Verfolgung (deren Verliese und Foltermethoden er schon kennengelernt hat), die eingetreten wäre, wenn „he had died in his arms“ (69). 31 Herbert ist – ironischer- und komplizierterweise – tatsächlich ein entrechteter Adeliger, der kurz vor der Wiedereinsetzung auf seinen Landsitz und seinen Titel steht. Ein Pilger berichtet: „Myself I heard / The sheriff read in open court a letter / Which purported it was the Royal pleasure / The Baron Herbert [...] / Should be forthwith restored“ (II.ii.7–10). Rivers’ Intrige, Herbert als skrupellosen ‚Neuadeligen‘ zu denunzieren, funktioniert demnach nur, wenn er dessen echten Adel verschweigt. In diesem Sinne hat das Szenario des Todes Herberts auf der Ebene der Wirkung auf die Zuschauer tatsächlich Züge einer Tragödie der Monarchie. 32 Vgl. zur Verdrängung der königlichen Tragödie durch eine Tragik der kleinen Leute auch Liu 1989: 278. Liu bezieht die Herabsetzung des tragischen Pathos aber auf Northrop Fryes Modell der Ironisierung des Tragischen im Rahmen eines zyklischen Literatur(geschichte)modells und nicht auf zeitgenössische Diskurse einer Tragödie des Volkes. Daher entgeht ihm auch die komplexe Kritik Wordsworths an den Theatermodellen seiner Zeit und seine nur sehr relativierte Zulassung einer populären Tragik – nämlich im poetischen Text (s. weiter unten).
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doxen Idee und ihrer höchst problematischen Lösung ist Rivers besessen und Wordsworths Tragödie bestimmt. Paradox ist sie, da theatrale Objektivierung und vollgültige Analyse des menschlichen Geists einander letztlich ausschließen. Wie Philosophie und Wissenschaft um 1800 zunehmend annehmen, ist der menschliche Geist in seiner ganzen Potenz einzig sich selbst zugänglich.33 Das macht es aber unmöglich, ihn zu vergegenständlichen oder gar als Schauspiel zu erleben. Rivers’ Rede vom „strange spectacle“ deutet ja darauf hin, dass es wieder einmal34 um ein Theater des Subjekts geht, in dem der Geist dabei beobachtet werden soll, wie er seiner Erregung freien Lauf lässt. Wie oben bereits herausgearbeitet, fallen in diesem Theater aber, parallel zur Konzeption einer notwendigen Selbstanalyse des menschlichen Geistes, Schauspieler und Zuschauer zusammen. Das ist nicht nur logisch unmöglich, sondern auch wissenschaftlich unsauber, da sich bei einer solchen Art der Anthropologie, wie Immanuel Kant pointiert, die Bedingungen wissenschaftlicher Analyse und die Verfügbarkeit des Untersuchungsgegenstands gegenseitig aushebeln.35 Das Theater der Selbstbeobachtung ist eben zutiefst paradox, da es von seinem Benutzer verlangt, (erregter) Akteur und (ruhiger) Beobachter zugleich zu sein. Wie kann Rivers aber dennoch zu einem „strange spectacle“ seiner selbst kommen? Seine Lösung ist ebenso naheliegend wie folgenreich: Rivers inszeniert das Theater des eigenen Geistes in einem anderen Menschen, der zugleich aber identisch ist mit ihm selbst, so dass er den eigenen Geist ‚in Ruhe‘ beobachten kann, wenn er in Erregung ist, sich also im vollen Umfang seiner Möglichkeiten zeigt. „I’ll have him [Mortimer] / A shadow of myself, made by myself“ (V.ii.32f.) ist die bündigste Erklärung für dieses perverse Theaterprojekt. Rivers strebt nichts Geringeres an als die Verdoppelung seiner selbst in Mortimer, was ihm eben nicht nur sich selbst, sondern damit auch den menschlichen Geist – im wörtlichen Sinne: ‚an sich‘ – beobachtbar machen würde; Eigenes/Subjekt/ Geist würde im anderen/Objekt/Körper verfügbar. Rivers’ Interesse daran, Mortimer sein Ursprungsverbrechen wiederholen zu lassen, ist also weniger ein rein
33 Vgl. zu einer ähnlichen Analyse bezüglich der Philosophie Hegels und Schellings v. Uslar 1974: 315–320. Michel Foucault spricht davon, dass das Subjekt die Wissensordnung betritt (Foucault 1974, 377; vgl. 2.2.3). 34 Vgl. 2.2.1.3. 35 Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798 zufolge kann der Mensch sich nicht beobachten, „wenn die Triebfedern in Aktion sind“; umgekehrt „[ruhen die Triebfedern,] wenn er sich beobachtet“ (Kant 2000: 5). Zur Uneinholbarkeit eigener Handlungen durch eigene Wahrnehmungen (da diese selbst wieder zu beobachtende Handlungen sind) kommt hier ein anderer Gedanke: Im Moment der Wahrnehmbarkeit der eigenen Handlung ist diese bereits nicht mehr gegeben.
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individualpsych(olog)isches – im Sinne der Aufhebung einer existentiellen Einsamkeit – als vielmehr ein wissenschaftliches: Es geht um die Beobachtung des menschlichen Geistes, der aber vollgültig zugänglich nur als der eigene Geist ist. Das in 2.2.1.3 eingeführte zeitgenössische Modell eines Theaters des Subjekts wird hier aufgegriffen und vertieft: Das Subjekt schafft sich komplexe Strukturen der theatralen Selbstbeobachtung, um zu humanwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Funktionsweise des menschlichen Geistes an sich (also im subjektiven Modus) zu gelangen. Durch die Projizierung des Selbst auf einen anderen löst Rivers zudem die zentralen Paradoxien des Theaters des Selbst, nämlich die infinite Verschiebung der Handlungsbeobachtung sowie die Unvereinbarkeit von eigener Handlung und deren Beobachtung.36 Als Theater Rivers’ ist Mortimer extern beobachtbar und dennoch authentisch. Exteriorisiert auf einen anderen kann diese Analyse des Selbst mit intensiver Selbsterfahrung und dynamischer Selbstlegitimation zusammenkommen, welche nicht etwa nur harmlose Nebenprodukte der wissenschaftlichen Analyse, sondern deren analytisches Wunschobjekt, das menschliche Selbst in seiner vollen Potenz, darstellen. In Mortimer kann Rivers demnach völlig eigennützig zu sich selbst gelangen. „[L]et each man see and love himself in others, to the end that they may be all the more intimately united.“37 heißt es in Rousseaus berühmtem Entwurf eines intersubjektiven Theaters des Volkes mit Bezug auf die Theorie der sympathetischen Bindung. Rivers’ Selbstverdoppelung scheint diesen Vorschlag beim Wort zu nehmen, allerdings in kompletter Konterkarierung von Rousseaus (und Smiths) Gedanken einer Gemeinschaftsbildung durch Angleichung an das Gegenüber im Akt des Mitgefühls.38 Rivers’ – inverse – Angleichung des anderen an ihn geht es nicht um das Herausfühlen und Herausbilden der Gemeinsamkeiten aller, sondern im Gegenteil um die externalisierte Setzung eines Selbst, dessen ‚Repräsentation‘ nicht nur erkenntnisfördernd, sondern auch politisch wirkungsvoll ist. Rivers dramatisiert das Volkstheaterkonzept Rousseauscher Prägung, um es auf den Kopf zu stellen und zu einem Modell umzuarbeiten, das Selbstjustiz, die Anmaßung der Staatsgewalt durch das Individuum, legitimiert und perpetuiert. Denn Rivers verdoppelt ja nicht nur sich selbst, sondern auch
36 Auch wenn diese beide Paradoxien insofern unterschiedlich sind, als sie Wahrnehmung einmal als Handlung auffassen und einmal gerade nicht, zielen sie doch auf dasselbe Grundproblem des Theaters des Ich: dass die Positionen des Zuschauers und des Akteurs in ihm zusammenfallen müssen. 37 Rousseau 1759 : 173; vgl. 2.2.2.4. 38 „[W]e find [in Rivers] moral sentiments to which we attach a sacred importance applied to vicious purposes“ heißt es in Wordsworth eigenem einführenden Essay zum Charakter von Rivers mit direktem Bezug auf Smiths berühmten Traktat (Wordsworth 1982 : 67).
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seinen Königsmord und stilisiert ihn dadurch nicht nur zu einer wissenschaftlich ergiebigen Form der Selbst-Erfahrung, sondern auch zu einer politisch legitimen Art des Selbstausdrucks.39 Daher ist es zutiefst ironisch, wenn der von Rivers beschworene „independent intellect“ (III.v.33), der sich gegen die „tyranny / Of moralists and saints and lawgivers“ (29f.) wende, angeblich die Lüge der Selbstbespiegelung im anderen durchschaut und überwunden habe: „we are praised by men because they see in us / The image of themselves“ (IV.ii.152f.) benennt Rivers das, was er angeblich hinter sich gelassen hat. Tatsächlich beruht sein Handeln auf nichts anderem mehr als einerseits diesem „image of [him]sel[f]“, als das er Mortimer (re)konstruiert hat, und andererseits auf einer weitaus schlimmeren Tyrannei als derjenigen, die zu überwinden er vorgibt. Das Theater des Selbst – der wissenschaftlichen Selbstbeobachtung wie der politischen Selbstsetzung – zahlt damit den Preis für die Lösung seiner Paradoxien in Form einer Entfesselung von Gewalt: Es beruht auf einem willkürlichen antiautoritären Tötungsakt, den es in doppelter Weise fortpflanzt, indem es zunächst eine fremde Identität durch theatrale Aussteuerung – die Wirkung des Leidensspektakels der gedungenen Bettlerin auf Mortimer – gewaltsam der eigenen angleicht und diese sodann diese Tötung wiederholen lässt. Rivers’ Theaterexperiment fordert somit drei Opfer.40 Politisch gesehen ist Rivers zudem der absolute Autokrat, der die Mäßigungen der Macht in der politischen Geschichte der Menschheit rückgängig macht, indem er, wie John Rieder herausgearbeitet hat, zu den Ursprungsritualen zurückkehrt, mit denen sich Macht und Gemeinschaft einst etabliert haben: Rivers attempts to institute a new order by an act of violence. He calls upon nature as an amoral model for the freedom of a new kind of order. In ironic contrast to his rhetoric of sublimely isolated will, however, he attempts to bind Mortimer to himself by means of seizing the power of death over another, making of that other a sacrificial victim […] The play
39 Bailey (2011: 85–110) erkundet in The Borderers ebenfalls die fundamentale Problematisierung Smithscher (weniger: Rousseauscher) Sympathielehre im Kontext von Rivers’ psychologischer und politischer Selbstisolierung und -ermächtigung. Nach seinem Dafürhalten kritisiert Wordsworth in The Borderers sowohl zeitgenössische juristische Überlegungen zur Wahrung gesellschaftlichen Zusammenhalts als auch die Lehre einer apriorischen sympathetischen Bindungsenergie in menschlichen Gemeinschaften. In der Folge schlage Wordworth Rituale zur Herstellung sozialer Bindungen vor, wie sie etwa in „The Old Cumberland Beggar“ entwickelt werden (160–163; vgl. 4.1.3.4). Die vorliegende Studie sieht die Entwicklungslinie von The Borderers zu den Lyrical Ballads ähnlich, bettet sie aber im Gegensatz zu Bailey in weiterreichende theater-, medien- und kulturhistorische Zusammenhänge ein. 40 Auch Mortimer wird zuletzt durch die Einsicht in das, was mit ihm geschehen ist, in die graduelle Selbstzerstörung getrieben.
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lets us know that this procedure is nothing new […] Rivers’s scheme of isolating Mortimer by involving him in an unjust crime is only the ironic counterpart of the form of community enacted in the theater of justice itself [based on the] […] expulsion and sacrifice of the symbolic Other41
Herberts einsamer Tod auf der Heide erhält demnach, ‚theater-politisch‘ gesehen, eine faszinierende Doppelfunktion: Sein Leidensspektakel ist einerseits eine bewusst und zynisch unterbundene Königstragödie, deren einziger (intradiegetischer) Zuschauer viel zu rational reagiert, und andererseits das Ritual der Ausstoßung eines (beliebigen) Einzelnen, mit dem eine Gemeinschaft – und die Macht in der und über diese Gemeinschaft – sich Wordsworths Analyse zufolge allererst etabliert.42 Was (für ein Theater) bleibt nach Wordsworths unerbittlicher Analyse der Zusammenhänge von Individualität, Macht und Theater? Gibt es eine Alternative zu diesem fatalen Theater-Zyklus, bei dem die Repräsentation von Macht zum Spektakel ihrer Beseitigung durch das selbstherrliche Individuum führt, das genau damit aber die Ursprungsgewalt der (monarchischen) Macht letztlich nur wiederholt und sich zu einer noch unbedingteren Herrschaft aufschwingt?43 Zunächst kontempliert Mortimer folgerichtig eine Aufgabe der Individualität, die
41 Rieder 1997: 125, 137. Es handelt sich um eine Interpretation von III.v.101–105. 42 Die von Burke für die Königstragödie vorgesehene Wirkungsästhetik erweist sich hier also als äußerst prekär: Der sterbende König kann seinen pathetischen Aufruf zur Rückkehr zur Monarchie total verfehlen und sodann zum Etablierungsritual einer Gemeinschaft werden, die ihre Autorität(en) neu setzt. Allerdings sehen wir im Falle Rivers’, dass diese Art von Gründungsritual letztlich in eine weitaus schlimmere, weil institutionengeschichtlich noch nicht regulierte und gemilderte Autokratie führt als diejenige, von deren Beseitigung sie ausgegangen war. Hier schließt sich der Kreis des Theaters absoluter Macht: Der Tod Herberts wiederholt demnach nicht nur den Tod des Kapitäns, er wird auch zu einem Urszenario der Machtergreifung. Victoria Myers deutet dieses ‚wiederholte‘ Urszenario als (Wordsworths kritische Aufarbeitung der) Reaktion auf das Machtvakuum nach der Französischen Revolution (Myers 2001: 444f.). 43 Rivers’ Autokratie bleibt im Bereich der Andeutung und wird durch seinen absichtlichen Selbstverrat zu Ende gebracht, nicht zuletzt, da es ihm ja auch um ein wissenschaftliches Experiment geht, bei dem menschliche Identität und/als Macht in einer Laborsituation erzeugt und untersucht, aber nicht an ihr logisches Ende geführt werden. Dennoch ähnelt Wordsworths Analyse hier dem politologischen Gemeinplatz, etwa in Ciceros De re publica, demzufolge der revolutionäre Sturz der Monarchie durch das zu einer Gemeinschaft freier Individuen gewordene Volk gerade zu einer totalitären Knechtschaft unter einem dieser Individuen, das die freigewordene Macht an sich reißt, wird (Tyrannis). Napoleons Machtergreifung im Zuge der Französischen Revolution ist ebenfalls so gesehen worden. Vgl. 5.3.3.3 zur Analyse – und Inszenierung – einer ganz ähnlichen Entwicklung bei Oliver Cromwell in Walter Scotts Roman Woodstock sowie Koschorke et al. 2007: 283–286 zur Deutung einer derartigen Konstellation als potentiell gewalttätigem Brüderbund nach Ermordung des Vaters.
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die von Burke geforderte Rückkehr zur totalen Unterwerfung unter traditionelle Autoritäten beinhaltet: I’ll prove it that I murdered him—I’ll prove it Before the dullest court in Christendom . . . . . . I will wander on . . . . . . A thing by pain and thought compelled to live, Yet loathing to live, till heaven in mercy strike me With blank forgetfulness—that I may die. (V.iii.180f.; 271–275)
Mortimers finales Streben nach Selbstaufgabe freilich beinhaltet auch, dass er sich unerbittlich der Erinnerung an seine Verbrechen aussetzt, bis ihn der Himmel mit Entzug seines Selbsts begnadigt. Zugleich fordert er die Mitglieder seiner Bande auf, ein „monument“ zu errichten, welches „may record [his] story for a warning“ (V.iii.261f.). Liegt in/an diesem Gedächtnisort nicht bereits die Ahnung eines anderen Theaters, eines Theaters allerdings, das den Fluch der individuellen Selbstsetzung umgeht, gerade indem es ein individuelles Schicksal warnend nachzeichnet? Wordsworth, so scheint es, kann und will weder Theater noch Individualität aufgeben und so zur absoluten und ‚selbstlosen‘ Unterwerfung unter das Theater der Monarchie zurückkehren – allerdings wird sich dieses andere Theater des Einzelnen, wie wir im übernächsten Abschnitt und dem dann folgenden Kapitel zu Wordsworths Versdichtung sehen werden, erst im poetischen Text verwirklichen lassen, da es als Bühnentheater zu pervertierter Intersubjektivität und Gewalt geführt hat. Wordsworth wird das Drama hinter sich lassen müssen, um zu seinem Theater zu gelangen. Zugleich wird ein Subjekt William Wordsworths in die Repräsentationsordnung treten, welches die Rivers’/ Mortimer’sche Krise wird wiederholen müssen.44 An diesem Moment von Peripetie und Prospektion, der uns auf ein anderes Medium und ein späteres Kapitel verweist, werden wir Wordsworth zunächst nun hinter uns lassen und uns der – ähnlich komplexen und paradoxen – Rezeption der neuen Theatermodelle in Walter Scotts Tragödie zuwenden.
44 Die Rede ist von der Entwicklung des ‚Ichs‘ im Prelude, vgl. 4.2.3.
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3.2.2 The House of Aspen Wordsworths Tragödie geht von Schauerelementen aus, zielt dann aber darauf, gerade diese Elemente im Kontext einer ganz anders gearteten anspruchsvollen (Meta-)Sprechtragödie philosophisch zu reflektieren. So werden die Elemente unheimlicher Landschaft bei Wordsworth zu Aspekten von metatheatral reflektierten Theatermodellen – etwa die sturmgeläutete Glocke während Herberts Untergang –, während der ‚schauerliche‘ Versucher Rivers ja das ‚Subjekt‘ einer komplexen politisch-epistemischen Versuchsanordnung ist, die mit einem fatalen Theater des Selbst zusammenhängt. Auch Walter Scott scheut in The House of Aspen den Kontakt zur Unterhaltungsgattung des Schauerdramas keineswegs. Auch er versucht, dem Genre der Gothic tragedy kritisch-analytische Dimensionen einzuschreiben, also die materiellen Spektakelelemente zugunsten gedanklicher Aspekte zurückzudrängen. Seine Transzendierung des Schauerdramas geht aber in die Richtung der (inszenierenden) Analyse eines im Gegensatz zu Wordsworth überindividuellen Theaters der Gewalt, welches Individualität gleichwohl erzeugt. The House of Aspen entstand in zeitlicher Nähe zu Wordsworths The Borderers, nämlich zwischen 1799 und 1800. Im Frühjahr 1800 lag es Scotts Freund Richard Heber vor, der es an John Kemble, zu diesem Zeitpunkt Intendant von Drury Lane, weitersandte. Ganz ähnlich wie The Borderers wurde dieses Erstlingsdrama eines jungen Autors abgelehnt.45 Diese äußeren Ähnlichkeiten sind der Forschung bereits aufgefallen46, führten aber nicht zu einem inhaltlichen Vergleich nennenswerten Umfangs47. Der Prätext von The House of Aspen ist, wie in 3.1 bereits herausgearbeitet, ein deutsches Lesedrama aus der Zeit des sogenannten Sturm und Drang. Aller-
45 Clark 1969, 263f. Nach der Veröffentlichung des Dramas im Keepsake for 1830 im Jahre 1829, auf der Höhe von Scotts Ruhm, kam es zu einer Inszenierung am Theatre Royal in Edinburgh im Dezember 1829, allerdings in einer vom Intendanten W.H. Murray auf drei Akte gekürzten und stark mit humoristischen und musikalischen Elementen angereicherten Fassung. Zeitgenössische Rezensionen dieser Aufführung im Scotsman (19.12.1829: 816 u. 23.12.1829: 824) und im Evening Courant (19.12.1829: 2) betonen so stark die melodramatischen Elemente dieser Inszenierung, dass davon auszugehen ist, dass es sich bei ihr um eine vollständige Anverwandlung der Tragödie an die Bedürfnisse des illegitimate theatre handelt. 46 V.a. Gamer 1999: vor allem 852. 47 Erste Ansätze dazu in Evans 1947: 228, der aber nur erwähnt, dass Wordsworth in seinem Drama einem ‚persönlichen Problem‘ nachgehe, während Scott „omitted himself entirely“. Obwohl die These in dieser Verdichtung ziemlich reduktiv ist, erweist sie sich im Kontext der hiesigen Analyse als Schritt in die richtige Richtung, geht es Wordsworth doch um das Individuum im Theater der Persönlichkeit, während Scott letztlich versucht, das Individuum durch ein überindividuelles Theater zu repräsentieren, wie die nun folgende Analyse zeigen wird.
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dings ist die von Scott selbst „rather a rifacimento than a translation“48 genannte Schauertragödie gerade im zentralen Schlussakt inhaltlich so eigenständig, dass sie insgesamt als erster Langtext aus Scotts Feder gelten kann. Wie The Borderers auch spielt The House of Aspen im Mittelalter und beschäftigt sich zugleich mit Problemen, die aktuellen Bezug haben. Scott wählt ein räumlich nicht näher konkretisiertes Bayern des 12. Jahrhunderts49, um ähnlich wie Wordsworth an der Thematik der Selbstjustiz Probleme der politischen und (theater)ästhetischen Selbstrepräsentation des Individuums aufzuarbeiten. Im Zentrum von The House of Aspen steht ein Geheimtribunal, das seit Goethes Götz von Berlichingen in der europäischen Kultur des späten 18. Jahrhunderts berühmt-berüchtigt wurde und in zahlreichen Werken verarbeitet wurde.50 Die Mitglieder des Tribunals in The House of Aspen sind geheim und wissen oft auch voneinander nichts über ihre Zugehörigkeit, da viele in den – ebenfalls geheimen – Verhandlungen vermummt auftreten. Aufgrund dieser Geheimhaltung sowie der Strenge der Urteile, die unmittelbar vollstreckt werden und damit fast unmöglich anzufechten sind, ist das Tribunal bei Scott eine allgegenwärtige Bedrohung. Sein Wirken trifft in The House of Aspen Isabella, die Gattin des Baron of Aspen, auf der durch den Mord an ihrem ersten Ehemann ein Fluch lastet. Ihr Geheimnis gelangt durch die letzten Worte eines sterbenden Soldaten, der auf ihrer Seite gekämpft hat, in den Besitz des ärgsten Widersacher der Aspens, nämlich Roderics, des Count of Maltingen. Dieser klagt nun vor dem Tribunal nicht
48 Walter Scott, The House of Aspen, in The Keepsake for 1830: 1–65, hier: 1. (Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit Angabe von Akt, Szene und Seitenzahl zitiert.) Ähnlich wie Wordsworth also veröffentlichte Scott sein Erstlingsdrama erst Jahrzehnte nach dessen Abfassung, auf der Höhe seines Ruhmes und in sicherer Distanz zu einer nun eher belächelten ‚revolutionären‘ Frühphase. Im Gegensatz zu Wordsworth aber ließ Scott sein Jugendwerk unverändert. Eine handschriftliche fair copy des Dramas aus der Entstehungzeit in der National Library of Scotland in Edinburgh zeigt nur geringfügigste Unterschiede zur später veröffentlichten Fassung, etwa bei den Regieanweisungen. 49 Terminus post quem der Dramenhandlung ist die auf S. 7 erwähnte Belagerung der ägyptischen Grenzfestung Ascalon im Verlaufe des zweiten Kreuzzuges, die 1153 zu Ende ging. 50 Neben Götz von Berlichingen ist – für Großbritannien – vor allem John Boadens Drama The Secret Tribunal zu nennen (Boaden 1795) sowie auf französischer Seite Jean-Henri Ferdinands de Lamartelières Räuber-Bearbeitung Les Voleurs von 1793, die ja auch The Borderers stark beeinflusste (vgl. Parker 1988: 379–383), sowie vom selben Autor Les Francs-Juges (1807). Letzteres Drama diente als Vorlage für das Libretto einer gleichnamigen Oper des französischen Komponisten Hector Berlioz (komponiert 1825/1826 und 1829) – ebenfalls ein unaufgeführtes Erstlingswerk, das in Berlioz’ Fall interessanterweise zu einem eher an Wordsworths Entwicklung gemahnenden Theater des Ichs in Form seiner Symphonie fantastique (uraufgef. 1830, op. 14) und seines Monodramas Lélio ou Le Retour à la vie (uraufgef. 1832, op. 14b) führte.
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etwa Isabella, sondern deren Sohn George an – und zwar des Verschweigens einer schweren Straftat, nach den Gesetzen des Tribunals ebenfalls ein Kapitalverbrechen. George, der in einer bewegenden und peripetischen Szene im dritten Akt von seiner Mutter in Kenntnis gesetzt worden ist, versucht, die (drohende) Verurteilung Isabellas zu verhindern, indem er den Vorwurf des Verschweigens bekräftigt, um das Geheimnis dergestalt bewahren zu können. Er wird verurteilt und sofort hingerichtet. Seine Mutter, der George eingeschärft hatte, alle Vorwürfe zu leugnen, wird nun auch vorgeführt, bleibt aber standhaft. Erst, als sie die Leiche ihres Sohnes bemerkt, beschließt sie, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Der von Roderic ebenfalls vorgeladene Baron von Aspen kann nur noch schwer erschüttert die Tode der beiden bezeugen, ebenso wie der herbeigerufene Duke of Bavaria, der – als ‚Präsident‘ dieses Gerichts – die Ordnung wiederherstellt, indem er Roderic aus dem Tribunal und dem Ritterstand entlässt sowie die übrigen Mitglieder zur strengen Selbstkontrolle und Einschränkung ihrer Selbstjustiz aufruft. In The House of Aspen kommt es im Gegensatz zu den Borderers nicht zu einem ambivalenten Spektakel erniedrigter Monarchie. Vielmehr werden die Theatralität des Königs und seiner Justiz durch die Etablierung des ungreifbaren Geheimtribunals von Anfang an systematisch umgangen und ersetzt. Allerdings macht das Wirken des Femengerichts die Gesellschaft erst recht zu einem Theater: „They say that, unknown and invisible themselves, these awful judges are ever present with the guilty; that the past and present misdeeds, the secrets of the confessional, nay, the very thoughts of the heart, are before them.“ (12) Aus dem Theater der Monarchie, das zu sehen ist, auch wenn es seinerseits als Zuschauer den Untertanen beobachtet, ist ein unsichtbares Theater geworden, in dem potentiell jeder Beobachter und Akteur sein könnte. Die zentrale Bühne bzw. Tribüne der Monarchie ist durch ein ortloses Theater der gegenseitigen Überwachung aller ersetzt worden, in dem die Rollen nicht klar verteilt sind und zudem dauernd changieren. John Rieder verzeichnet einen ganz ähnlichen Übergang in der Theorie einer postmonarchischen, individualisierten Gesellschaft in William Godwins Political Justice: „[T]he daunting effects of regal showmanship are transformed into the coercive power of neighborly censure, which Godwin depends upon to maintain public order in the absence of legal or police authorities“.51 Im Gegensatz zu Godwins Szenario hat die Überwachung bei Scott aber auch einen offiziellen Autoritätsstatus. Um diese Autorität zu wahren, ist es darauf angewiesen, dass potentiell jeder sowohl Richter als auch Verurteilter sein könnte. Seine Macht
51 Rieder 1997: 121.
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spielt sich also gerade dadurch aus, dass es ortlos und damit in der gesamten Gesellschaft wirksam ist. Im dritten Akt beschwört George seine Mutter, vor dem Tribunal nicht zu fliehen; schon der Versuch sei unmöglich: Thou canst not fly; instant death would follow the attempt; a hundred thousand arms would be raised against thy life; every morsel thou didst taste, every drop which thou didst drink, the very breeze of heaven that fanned thee, would come loaded with destruction. (III.i, S. 35)
Das Prinzip des Femengerichts ist der Totalitarismus, bei dem jeder entweder „must become a brother of [the] order, or die!“ (V.i., S. 63).52 Bei Scott führt demnach die Suspendierung der monarchischen Mitte der Gesellschaft zu einem panoptischen Volkstheater, das die politische Gewalt nicht aufhebt, sondern vielmehr, ähnlich der rituellen Urgewalt, die The Borderers beschwört, verschlimmert und gegen die Gemeinschaft als ganze richtet: Wie Rivers für die Wiederholung seines Königsmords letztlich jedes (geeignete) Opfer recht war, kann auch in The House of Aspen potentiell jeder denunziert und hingerichtet werden. Wieder einmal wird das Theater des Volkes, das „open theatre of the world“, das Paine, Wollstonecraft und Godwin in der Nachfolge Rousseaus gegen ein exklusives Theater der Monarchie profiliert haben53, desavouiert – zumindest wenn es, wie Rivers das ja ebenfalls getan hat, die zwischenmenschlichen sympathetischen Bindungskräfte systematisch missbraucht: „Wo [sic] to those who would advance the general weal by trampling upon the social affections! they [sic] aspire to be more than men—they shall become worse than tigers.“ (V.i, S. 57) wirft George dem Tribunal vor, bevor er von ihm zum Tode wegen Geheimhaltung eines Verbrechens verurteilt wird.54 In diesem Sinne bleibt also auch bei Scott die Möglichkeit eines Theaters aller bzw. jeden bestehen, wenn es das menschliche Mitgefühl („social affections“) nicht missbraucht, sondern weckt und umsetzt. In der Konturierung dieses alternativen Theaters innerhalb eines Bühnengeschehens wird Scott aber, wie sehen werden, ähnliche Schwierigkeiten haben wie Wordsworth. Beide Autoren plädieren für eine (mediale) Eindämmung individualisierter Selbstrepräsentation, gerade um sie zu ermöglichen, erkennen aber doch, dass die Bühne ihnen hierbei die falschen Grenzen
52 Außerdem macht es die Formulierung der „hundred thousand arms [...] raised against thy life“ implizit zu einer Inversion der Tragödie der Monarchie, welche von Burke ja mit den folgenden Worten beschworen (und hergestellt) wird: „I thought ten thousand swords must have leaped from their scabards to avenge even a look that threatened [Marie Antoinette] with insult.“ (Burke 2001: 238; vgl. 2.2.2.2). 53 Vgl. 2.2.2.4 54 Vgl. 5.2.1, wo diese Stelle als Ausgangspunkt der Überwindung dieser Art des Volks(theaters bzw. -tragödie) in Scotts Roman The Heart of Mid-Lothian dient.
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auferlegt. Daher transponieren sie ihr Theater des Menschen, wie wir ausführlich nachzeichnen werden, in den literarischen Text. Was Scotts Volkstheaterkritik von derjenigen Wordsworths unterscheidet, ist, dass er den Zusammenhang zwischen Aussteuerung und Ausdruck des Subjekts anders dimensioniert: Wo Wordsworth in der sympathetischen Aussteuerung des Gegenüber die Möglichkeit einer theatralen Selbstverdoppelung sieht (bzw. befürchtet), entwirft Scott ein weitaus statischeres Modell, bei dem sich jeder einzelne in einer permanenten feindseligen Beobachtung wähnt, die er nicht lokalisieren kann. Wordsworths bzw. Rivers’ Theater individuellen Selbstausdrucks beruht auf der aktiven Umformung eines anderen in den Darsteller seiner (Rivers’) selbst, während bei Scott Individualität dadurch entsteht, dass jedes Mitglied der Gesellschaft völlig isoliert einer potentiellen Zuschauerschaft gegenüber steht, über die es sich mit den anderen nicht austauschen kann, so dass es ihr gegenüber alleine bleibt. Individualität ist in diesem Falle die alleingelassene, verzweifelte Anpassung an – und Einpassung in – eine Ordnung, deren Regeln man nicht kennt. Die Subjektivität in Rivers’ Theater ist eine der aktiven Gestaltung (Aussteuerung) und Beobachtung, diejenige in The House of Aspen eine des völlig passiven Beobachtet- bzw. Ausgesteuertwerdens. Anders als es die bisher ausführlichste Interpretation von The House of Aspen behauptet55, geht es dem Drama also nicht um eine Verteidigung von Individualität gegenüber einer Gesellschaftsordnung, die diese unterdrücken will. Vielmehr arbeitet das Drama heraus, dass es eine spezifische Form isolierter Individualität gibt, die von einer Gesellschaft, die ihren Monarchen hinter sich gelassen hat, allererst erzeugt und gepflegt wird, um den Menschen in dieser Position ruhig zu stellen und zu kontrollieren. Die Gemeinschaft unter dem Tribunal ist also keine raumzeitlich ferne Schauergesellschaft, sondern Walter Scotts Bild für eine
55 „As used in The House of Aspen, the Vehme Gericht figures the threat to individual thought and conscience, and to the society as a whole, posed by the powers invested in secret organisations.“ (Robertson 1994: 234) Robertson übersieht die Bildung von Individualität durch die (Geheim-)Gesellschaft sowie deren allgegenwärtigen, allumfassenden Status, aus dem das Tribunal einen Gutteil seines Schreckens allererst bezieht. Das Tribunal in diesem Schauerszenario ist die Gesellschaft und nicht ihr Gegner. Im Verlauf ihrer Interpretation nähert sich Robertson allerdings dieser komplexeren Sicht auf das Tribunal an, etwa, wenn sie von der ‚Normalität‘ ihrer Mitglieder spricht (237) oder seine zeitgenössischen Assoziationen mit englischer Urgerichtsbarkeit bzw. der katholischen Kirche herausarbeitet (237–241). Ihr Fazit, „the Vehme Gericht is used [...] in The House of Aspen [...] to suggest the threat posed to the individual by the group“ (240) ist unterkomplex und müsste sich aus einer machtanalytischen Perspektive (vgl. die folgende Anm.) vorwerfen lassen, die Machtinteressen hinter dem Mythos ‚Individualität‘ zu bedienen und nicht zu analysieren.
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postmonarchische Gesellschaftsordnung, wie sie sich zu seiner Zeit in Frankreich herausbildete. Damit nimmt Walter Scott in überraschender und ihm von seinen Interpreten bisher nicht zugetrauter Klarheit das moderne, (post)marxistische Individualismuskonzept vorweg, wie es etwa Michel Foucault gerade auch als Entwicklung nach der Französischen Revolution analysiert hat56; Foucaults Lösungsvorschläge für die von ihm verzeichneten postrevolutionären gesellschaftlichen Zu- und Missstände sind dann aber, wie wir sehen werden, geradezu diametral zu Walter Scotts politischen Ansichten. Zudem lässt Scott neben der passiven Individualität innerhalb der von ihm dargestellten Gesellschaft ‚panoptischer‘ Überwachung und Bestrafung auch so etwas wie aktive Subjektivität zu. Diese aber besteht tragischerweise nur noch in der aktiven Aneignung, im freiwilligen Heraufbeschwören der (meist tödlichen) Strafe. Bei Scott kommt das Subjekt also zum Ausdruck, indem es sich selbst freiwillig opfert und nicht etwa, wie bei Wordsworth, andere zu Opfern seiner Selbstsetzung macht. So wird paradoxerweise Georges Selbstanklage zum triumphalen Moment der Selbstenthüllung und Selbstsetzung. Auf den verzweifelten Entlastungsversuch eines Tribunalmitglieds reagiert der Accuser/George mit einem Überraschungseffekt: Accuser. What if George of Aspen should not himself deny the charge? Member. Then would I never trust man again. Accuser. Hear him, then, bear witness against himself (throws back his mantle). Rod[eric]. Baron George of Aspen! Geo. The same—prepared to do penace for the crime of which he stands self-accused. (V.i, S. 56; meine Hervorhebung im Haupttext)
56 In Überwachen und Strafen analysiert Foucault ‚Individualität‘ als Ort der Überwachung und Zurichtung durch die Macht in der postmonarchischen Gesellschaft (Foucault 1977: passim, vor allem 243–246). Nach der Abschaffung der Monarchie ist es gerade die Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit der Macht, die ihr den einzelnen unterwirft, indem dieser sich potentiell ständig von ihr kontrolliert, geprüft, zensiert fühlt, etwa durch bürokratische Vorgänge. Faszinierenderweise sieht auch Foucault im Zentrum dieses Wandels vom Monarchen zum Individuum als Bezugspunkt der Gesellschaft das Theater bzw. Theatermodelle: Während die Monarchie und ihre Sichtbarkeit Ausdruck im Theater des Zeremoniells bzw. der spektakulären öffentlichen Hinrichtung der Gegner der Monarchie findet, sind in der postmonarchischen Gesellschaft Überwachen und Strafen (des isolierten Individuums) diskret geworden und finden ihr Medium in dem von Foucault ausführlich analysierten Theater des Panoptismus, bei dem jeder zum einsamen Akteur gegenüber einem generalisierten und damit unsichtbaren Wächterturm geworden ist: „Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar.“ (257). Auch Joanna Baillie dient das Bild eines überwachten Strafgefangenen zur Illustrierung des Dispositivs ihres Theaters (vgl. 2.2.1.2).
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Isabellas Selbstbezichtigung (und damit paradoxe Selbstaffirmation), die sich gar auf einen Mord bezieht, findet ebenfalls erst auf der äußersten Grenze, dem Moment ihres Todes durch Selbstmord vor dem Tribunal, statt. Ihrem Ehemann, der sie retten und rächen will, ruft sie zu: No! No! endanger not thy life! Myself! myself! I could not bear thou shouldst know—Oh! (Dies.) (S. 63; meine Hervorhebung im Haupttext)
Aktive, selbstgesetzte Subjektivität jenseits der passiven Unterwerfung unter potentielle Dauerbeobachtung besteht also nur im Akt der Selbstauslöschung, im Moment des Ausschlusses aus der Überwachungs- und Bestrafungsordnung – und findet dabei interessanterweise ihren Auftritt, ihr Publikum im Theater des unterirdischen Gerichtssaals. Aber dieses Aufblitzen von Selbsthaftigkeit ist zutiefst ambivalent: Die Betroffenen können zwar endlich ihre Isolation durchbrechen und ihr ‚wahres Ich‘ preisgeben, werden aber durch die dazu nötige Selbstopferung auch wieder (willkommene) Opfer eines Systems, das sich – ähnlich der Autokratie Rivers’ in The Borderers – über den Verstoß bzw. Ausstoß eines Beliebigen ein Außen schafft, gegen und über das es sich definieren kann. „[B]etter for me your altars should be stained with my blood, than my soul blackened with your crimes.“ (57) ruft George kurz vor seiner Hinrichtung aus – deutlicher Ausdruck einer paradoxen Selbstaffirmation, die sich doch wieder den ‚Göttern‘ des Systems unterwirft. Auf diesem Wege stiften die nach freier – im Gegensatz zu: unterworfener – Individualität strebenden Menschen kurze Momente der Überraschung im Theater des Gerichts; seinen Fortbestand indes sichern sie eher, als dass sie ihn gefährdeten. Ein dynamisches Theater des aktiven Subjekts kann im statischen Theater gegenseitiger Überwachung passiver ‚Subjekte‘ (im Sinne von ‚Unterworfenen‘) nur kurz aufblitzen, es aber nicht durchbrechen – im Gegenteil: Das Theater der Überwachung findet in dieser ‚Gerichtsshow‘ letztlich auch einen es affirmierenden Höhepunkt. Eine Lösung auf der inhaltlichen wie der metatheatralen Ebene erhält die Tragödie erst durch den finalen Auftritt eines Monarchen. Der von einem Bruder Georges herbeigerufene Duke of Bavaria und oberster Vorsitzender des Femengerichts hält triumphalen Einzug in die unterirdische Gerichtsstätte. Die Regieanweisung lässt keinen Zweifel an der ästhetisch-theatralischen Überhöhung seines Auftretens, einer Burkeschen ‚pleasing illusion‘57, sowie ihrer Wirkung auf die Anwesenden:
57 Burke 2001: 239; vgl. 2.2.2.2.
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The Duke of Bavaria, attended by many members of the Invisible Tribunal, enters, dressed in a scarlet mantle trimmed with ermine, and wearing a ducal crown.—He carries a rod in his hand.—All rise.—A murmur among the members, who wisper to each other, “The Duke,” “The Chief,” &c. (S. 64)
Der Effekt der Unterwerfung unter diesen König ist unmittelbar. Ganz im Sinne Burkes werden die Zuschauer reumütig unter den Mantel des Monarchen zurückgeführt, wobei das Theater der Monarchie nicht ex negativo, also in Form des leidenden Königs wie in The Borderers, sondern ex positivo, als unmittelbar überwältigender theatralischer Ausdruck monarchischer Ästhetik wirkt. Das Theater der Überwachung wird vom Theater einer triumphal zurückkehrenden Monarchie abgelöst. Von seinen (intradiegetischen) Zuschauern fordert der König Reue und Einkehr – die Burkesche Abkehr von allem postmonarchischem Theater: „Judges and condemners of others, God teach you knowledge of yourselves!“ (65) Mit diesen Worten wird das Theater der gegenseitigen Observation ein weiteres Mal angefochten und eine Alternative skizziert: Die Zuschauer im Theater der Monarchie sollen den Blick nicht wenden vom Einen, alle Überragenden – in dem Wissen, dass er Stellvertreter ist für einen noch viel größeren König. Dessen unerbittliche Beobachtung soll es ihnen aber ermöglichen, den Blick auf das eigene Ich zu richten – mithin ein Theater des Gewissens zu errichten, das sich von aller Observanz dieser Welt unabhängig weiß. „We know our hearts are open to our Creator: shall we fear any earthly inspection?“ (13) weiß der Baron of Aspen schon im ersten Akt, wobei ihm allerdings erst der monarchische deus ex machina am Ende des fünften Akts diese selbstbewusste Überwindung des Tribunaltheaters aus dem Geist des religiösen Gewissens wirklich gestattet. Scotts Gegenmodell zum modernen Theater der Selbstüberwachung des Volkes ist demnach eines der Rückkehr zum Blick aller auf den Monarchen, welcher dadurch die Gemeinschaft konstituiert und jedem bzw. jeder einzelnen zugleich freien Umgang mit seinem/ ihrem Gewissen ermöglicht. Aber ist das persönliche Gewissen tatsächlich eine Überwindung des Theaters der Überwachung? Der Epilog zu einem weiteren britischen Tribunal-(Schauer-) Drama, James Boadens The Secret Tribunal von 1795, zeichnet die Bewegung vom finsteren Tribunal zum hellen Schein englischer (monarchischer) Justiz ebenfalls nach, deutet aber ein Kontinuum der Überwachung an: SUCH the dread scenes of a benighted age, Now only known in the historic page: Thence by our Poet drawn, but to display Old English Justice in unclouded day.
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But are these institutions quite destroy’d? Secret Tribunals, are none now employ’d? Thousands. Yes, while we sink in soft repose, The Heart is the tribunal which we fear, For ever hid, and yet for ever near; Its Agents are the Senses, and they gain Intelligence for that shrewd Judge the Brain.58
Das individuelle Gewissen ist das moderne Tribunal, das in Zeiten aufgeklärter englischer Justiz weiterbesteht. Das Theater des Gewissens kann das Tribunal nicht etwa überwinden; vielmehr unternimmt es die Interiorisierung der Überwachung durch die (unsichtbaren) anderen zur Selbstüberwachung, eine Bewegung, die auch Michel Foucault als Zielvorstellung des Panoptismus ausgewiesen hat.59 Die Stelle beschwört ein Theater des Selbst, in dem die einzelnen juristischen Positionen von Funktionen des psycho-physiologischen Wahrnehmungs-, Gefühls- und Gedankenapparats des Menschen übernommen werden. Zu dieser Konzeption eines Theaters des Subjekts als Selbstüberwachung und Selbst-Justiz des menschlichen Organismus werden wir bei der Analyse von Wordsworths The Prelude ausführlich zurückkommen müssen.60 Allerdings scheinen an dieser Stelle schon einige ihrer Probleme auf: Scotts final angedeuteter Vorschlag für ein Theater des Subjekts ist demnach der einer unerbittlichen Selbstüberwachung unter den gedachten und gefühlten Augen eines (Gott-)Königs, welche aber letztlich die (Selbst-)Opferungsmentalität des Tribunals verinnerlicht und perpetuiert. Wo Wordsworth in The Borderers also die gewalttätig-autoritäre Selbstverdoppelung, basierend auf dem Fremdopfer, als (dystopische) Vision eines Theaters des Subjekts beschwört, deutet Scott mit seinem Konzept der Verinnerlichung eines nicht minder ‚autokratischen‘ Blicks, die ihre Herkunft letztlich aus der Selbstopferung hat, eine ebenso problematische und lösungsbedürftige Konzeption eines Selbst-Theaters an. Die (Rückkehr der) Monarchie in The House of Aspen enthebt die Überwachungsordnung der vorherigen irdisch-institutionellen Rückbindung, gibt ihr zugleich aber eine metaphysische Grundierung, die sie letztlich nur umso effektiver macht. Das Drama mag daher, wie Fiona Robert-
58 Boaden 1795: 71. 59 Foucault 1977: 260. Vgl. auch die Konzeption eines „impartial spectator“ des Selbst bei Adam Smith, die am Ende von 2.2.1.3 analysiert und – vor allem aus Gründen der Logik – problematisiert worden ist: Zu den logischen Problemen der Selbstbeobachtung kommen hier also gewissermaßen politische – mit beiden wird es William Wordsworth in seinem Prelude zu tun bekommen (vgl. 4.2.3)! 60 Vgl. 4.2.2.
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son argumentiert, katholischen Ritualismus und Inquisition kritisieren61, aber es ersetzt diese auch durch eine protestantische Konzeption des individuellen Gewissens, die nicht minder ideologisch und autoritär ist. In diesem Sinne sind auch die Amtshandlungen des Duke of Bavaria alles andere als milde. Er beschuldigt Roderic der Befangenheit aus persönlichen Rachemotiven. Da er ihm aber keine Rechtsbeugung nachweisen kann, verstößt er ihn ‚lediglich‘ aus dem Orden, der Ritterschaft – und damit der Gesellschaft. I cannot do unto thee as I would, but what I can I will. […] I degrade thee from thy sacred office (spreads his hands, as pushing Roderic from him). If after two days thou darest to pollute Bavarian ground by thy footsteps, be at the peril of the steel and the cord. […] I take from thee the degree of knight, the dignity of chivalry (S. 65)
Roderic muss sich diesen Anweisungen beugen, da der Duke, wie er betont, sein ‚Lehnsherr‘ – „liege lord“ (65) – ist. Ähnlich ergeht es Bertram, dem Bruder des ermordeten ersten Mannes Isabellas, der sich bei den Aspens eingeschlichen hat und an der Gerichtsverhandlung ebenfalls beteiligt ist. Der Duke befiehlt schlicht und folgenreich, ‚Hand an ihn zu legen‘ (66). Der zurückkehrende Monarch versucht hier demnach, Selbstjustiz einerseits und Blutrache andererseits zu unterbinden, um den – auch in The Borderers subtil analysierten – Zirkel aus Selbstherrlichkeit und archaischer Gewalt zu durchbrechen. Das gelingt ihm aber insofern nicht, als die Restitution der Monarchie als eigentlich historischinstitutionell (und nicht zuletzt: religiös) gemäßigter Macht wiederum auf Verstoßung und Erzeugung eines Außen62 beruht. Das Theater der Monarchie setzt im Moment seiner Rückkehr, ja: zur Ermöglichung seiner Rückkehr, die juristische Gewalt des vorgängigen revolutionären Volkstheaters fort. Obwohl The House of Aspen daher eine im Verhältnis zu The Borderers geradezu inverse Bewegung vom Theater des Volkes zurück zum Theater der Monarchie nachzeichnet, sind die finale Gewaltverstrickung und Lösungsbedürftigkeit der beiden Dramen doch vergleichbar. Beide Dramen weisen nach, dass das Theater der modernen Subjektivität letztlich auf „expulsion and sacrifice of the symbolic Other“ (John Rieder63) beruht, sei es, dass es – gewalttätiger als diese selbst – aus dem Spektakel der Monarchie hervorgeht, wie in The Borderers, oder aber zu ihm zurückkehrt, ohne die revolutionäre Überwachungsgewalt irgendwie überwunden zu haben, wie in The House of Aspen. Die Selbst-Setzung des
61 Robertson 1994: 237. 62 Die Monarchie wirkt eben nicht all-integrativ, sondern beseitigt Bertram und lässt Roderic mit „a dumb expression of rage“ (S. 66) zurück. 63 Rieder 1997: 137.
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modernen Ich auf dem Theater projiziert (Wordsworth) bzw. verinnerlicht (Scott) die aufkommende Gewalt, aber sie scheint sie auf der Bühne nicht nur nicht überwinden zu können, sondern geradezu zu brauchen, um sichtbar werden zu können. Der nun folgende Abschnitt wird den Gründen für das ‚tragische‘64 Scheitern dieser beiden romantischen Urdramen an der Materialität des Theaters eingehender nachgehen. Zugleich sollen die Lösungsvorschläge herausgearbeitet werden, die The Borderers und The House of Aspen eröffnen – wobei diese allerdings erst an den äußersten Enden der beiden Theatertexte sowie des Mediums Theater aufscheinen, wo sie in den literarischen (Lese-)Text gewissermaßen schon überhängen.
3.3 S cheitern auf dem Theater und Vorbereitung des Text-Theaters Als Ausgangspunkt meiner Analyse des Scheiterns der beiden Dramen an und auf der Bühne dienen die überlieferten Gründe der Ablehnung durch die Intendanten. Im Falle von The House of Aspen müssen wir Walter Scott selbst beim Wort nehmen, da das „Advertisement“ zu seinem Drama die einzige Quelle für die Reaktion John Kembles von Drury Lane ist. There was […] too much blood, too much of the dire catastrophe of Tom Thumb65, when all die on the stage. It was besides esteemed perilous to place the fifth act and the parade and show of the secret conclave, at the mercy of underlings and scene-shifters, who, by a ridiculous motion, gesture or accent, might turn what should be grave into a farce. (1f.)
Gründe für die Ablehnung von The House of Aspen sind demnach die übermäßige Gewalt, die auf der Bühne hätte gezeigt werden müssen (und auch ein zensorisches Problem hätte darstellen können), sowie die Abhängigkeit der Schlüsselszene des Dramas von einem visuellen Spektakel und dessen Gelingen. Letztlich beziehen sich beide Kritikpunkte auf den Schlussakt und problematisieren damit jenen Punkt, an dem das Theater der Überwachung in seiner inneren Funktionsweise auf der Bühne zur Anschauung gelangen und sodann vom zurückkehrenden Theater der Monarchie überwunden werden soll.
64 Die beiden Tragödien sind in diesem Sinne auch Tragödien ihrer selbst bzw. ihrer Tragödienkonzeptionen. 65 Wohl eine Anspielung auf Tom Fieldings Farce The Tragedy of Tragedies, or the History of Tom Thumb the Great (1731) – seinerseits eine Parodie auf das heroische Drama und dessen Grausamkeiten.
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Ein Durchgang durch die ausführliche Regieanweisung, mit der dieser Akt beginnt, ‚enthüllt‘ das visuelle Paradox: The subterranean chapel of the castle of Griefenhaus. It seems deserted and in decay. […] At each door stands a warder clothed in black, and masked, armed with a naked sword. […] In the back scene is seen the dilapidated entrance into the sacristy, which is quite dark. […] Each [Member of the Invisible Tribunal] whispers something as he passes the Warder […] The costume of the Members is a long black robe, capable of muffling their faces: some wear it in this manner; others have their faces uncovered, unless on the entrance of a stranger: they place themselves in profound silence upon the stone benches. (S. 54; im Original kursiv, meine Hervorhebungen durch Unterstreichung)
„[T]he parade and show of the secret conclave“ sind demnach ein Widerspruch in sich, müssen sie doch ausgerechnet das Unsichtbare, Stille und Geheime als den Kern des Überwachungstribunals zum Spektakel machen. Das Theater der gegenseitigen Überwachung ist ja, wie bereits verschiedentlich festgestellt, konstitutiv (und sensu strictu) latent und stößt daher auch im Moment seiner Offenlegung an seine eigene Nichtdarstellbarkeit bzw. enthüllt sich als letztlich eben nicht zu enthüllen. Die wechselseitige Observanz und die daraus hervorgehende verinnerlichte Selbstbeobachtung sind Theatermodelle, die an die Grenzen des Mediums in seiner materiellen Tradition stoßen, da sie letztlich ein Theater bezeichnen, das durch die Nichtsichtbarkeit wirkt bzw. das Unsichtbare visualisiert. Das Schweigen und die Vermummung der Figuren dieses Szenario ist insofern symbolisch (und paradox), als sie dadurch Anonymität und Isolation des modernen Individuuums ‚verkörpern‘ sollen und damit in Gegensatz zu den personalen Individuen, den Charakteren, der Theatertradition geraten. Im Theater dieses Tribunals werden die Individuen nur sichtbar, wenn sie angeklagt sind, und zu Charakteren letztlich nur, wenn sie seine Gewalt auf sich herabbeschwören. Sichtbarer (Bühnen-)Charakter ist, wenn man den entscheidenden letzten Akt als Repräsentant von The House of Aspen insgesamt ansieht, das moderne (selbst)überwachte Individuum demnach nur im Moment der Anklage oder des Todes. Letztlich bedeutet das, dass Scotts Theater die Gewalt, deren Übermaß John Kemble bemängelte, braucht, um das Subjekt in der von ihm analysierten postrevolutionären66 Verfasstheit überhaupt darstellen zu können. Die Opazität des Tribunaltheaters wird in der Folge auch zum Vermittlungsproblem für das Theater der restaurierten Monarchie. Nicht nur ideologisch verbleibt letzteres im Bannkreis von ersterem; der zitierte Auftritt des Duke of Bava-
66 Darüber hinaus wäre die Anspielung auf zeitgenössische französische Verhältnisse ein externer, theaterpolitischer Zensurgrund gewesen, vgl. 2.2.2.6.
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ria mit seiner Regieanweisung zur Erzeugung monarchischer Ästhetik lässt auch offen, wie die strahlend und farbig zurückkehrende Monarchie im dunklen Verlies theatertechnisch umgesetzt und sichtbar gemacht werden soll.67 Genau diese Sichtbarkeit ist aber entscheidend, möchte Scott doch sein Theater als Gegenmodell für das revolutionäre „open theatre of the world“ profilieren, das dem Theater der Monarchie seinerseits vorhielt, „something kept behind a curtain, about which there is a great deal of bustle and fuss, and a wonderful air of seeming solemnity“ zu sein und nur „by fraud and mystery“ 68 überhaupt zu funktionieren. Scotts ‚open theatre of monarchy‘ müsste im Gegensatz dazu nicht nur strahlend hell sein, sondern eben auch aufgeklärt im Sinne einer Bloßlegung seiner politischen und vor allem juristischen Mechanismen. Dass es gerade mit letzterer Offenheit in The House of Aspen noch nicht weit her ist, und dass das Theater der Monarchie vielmehr an der arkanen Selbstjustiz des königslosen Volkes noch teilhat, haben wir ja am Ende des letzten Abschnitts festgestellt. Scott wird es in seinen historischen Romanen ein großes Anliegen sein, nicht nur die Restauration der Monarchie gegenüber ‚völkischer‘ Geheimbündnerei zu inszenieren, sondern ebenso den Übertritt des Königtums aus dem Intransparenten in einen Zustand der allseitigen Aufklärung darzustellen.69 Genau diese Offenlegung ist einer der Gründe für den Reichtum an historischen Details in Scotts Romanen, die die Transparenz des repräsentierten politisch-juristischen Systems durch Authentizität und Akkuratesse sicherstellen sollen. Auf der Bühne war ein solches Theater nicht zu realisieren – zumal, wenn es im selben Drama auch noch in eine dialektische Verschränkung mit dem Theater dunkler Volksüberwachung gerät. Die Grenzen der ‚erhellenden‘ Darstellung der Mechanismen dieser Machtordnung zeigen sich aber nicht nur in der Schlussszene, sondern schon im Verlauf des Dramas. So muss Scott bei der Präsentation von Formen des Machtaustausches, die er eigentlich billigt – in diesem Falle der ‚offensichtlichen‘ feudalen Auseinandersetzung unter freiem Himmel –, zum Stilmittel der Teichoskopie greifen. Die dritte Szene des ersten Aktes beginnt folgendermaßen:
67 Die Theaterbeleuchtung um 1800 erlaubte noch keine extremen chiaroscuro-Effekte, die hier nötig gewesen wären, etwa das direkte Anstrahlen des Hermelinmantels mit einem Scheinwerfer o.ä. Da künstliches (Gas-)Licht erst 1815 eingeführt wurde (vgl. 2.1.) und zu diesem Zeitpunkt auch eher statisch eingesetzt werden musste, wäre an Scotts ‚König‘ wohl schlicht nicht zu sehen gewesen, was überwältigen und bekehren sollte. 68 Paine 1984: 182, vgl. 2.2.2.3. 69 Vgl. vor allem 5.2.3 und 5.3.3.
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The gallery of the castle, terminating in a large balcony commanding a distant prospect.— Voices, bugle horns, kettle-drums, trampling of horses,&c. are heard without. […] Rud. There they go at length—look, Isabella! look, my pretty Gertrude—these are the ironhanded warriors who shall tell Roderic what it will cost him to force thee from my protection—(Flourish without, Rudiger stretches his arms from the balcony.) (I.iii. S. 10)
Nur jenseits der Bühne, in einem (medialen) Raum, zu dem Rudiger sehnsuchtsvoll gestikuliert, existiert das Theater einer offengelegten (monarchischen) Machtordnung – und zwar, wie hier angedeutet, im Modus ihrer narrativen Beschreibung, wie Scott sie in seinen Romanen realisieren wird.70 Wordsworth nimmt im Gegensatz dazu den Weg (zurück) in die Versdichtung. Wie sehen die zeitgenössisch geäußerten Gründe für die Ablehnung seines Dramas aus? Im Falle von The Borderers sind diese noch spärlicher überliefert als bei The House of Aspen sowie ebenfalls nur indirekt: Elizabeth Threlkeld, einer Tante von Dorothy und William Wordsworth, zufolge war es vor allem die „metaphysical obscurity of one character“71, die zur Ablehnung durch Thomas Harris geführt habe. Generell wird angenommen, dass es sich hierbei um Rivers gehandelt habe, dessen Gründe für seine Intrige scheinbar für viele Leser und Interpreten im Dunkeln liegen, sich aber, wie meine und einige andere Lektüren des Dramas gezeigt haben sollten72, durchaus entschlüsseln lassen. In der hiesigen Analyse der ‚Unaufführbarkeit‘ von The Borderers geht es daher eher um die metaphysische Dunkelheit Mortimers, dessen Ambivalenz am Ende des Stückes viel größer ist und auch viel größere (meta)theatralische Konsequenzen zeitigt. Die Selbstauslöschung Mortimers am Ende des Dramas hat ihre Gründe in einer überwältigenden, tragischen Schuld, die ihn über die Opferrolle in Rivers’ Subjekttheater weit hinaushebt, da er in diesem Theater ja prominent ‚mitspielt‘. Als Rivers’ Doppel ist er auch Täter und nach Rivers’ Tod sogar der einzige überlebende (Anteil) von Rivers’ Subjektivität. Daher ist es nicht überraschend, dass er Tendenzen zeigt, sich nun seinerseits in seiner (ehemaligen) Verlobten Matilda durch das geteilte Leiden am Tode ihres Vaters verdoppeln zu wollen: Matilda, at this moment I feel a most unusual fondness for thee. Thou must be wise as I am, thou must know
70 Vgl. für den Übergang v.a. 5.1, sowie für ein narratives Theater feudaler Auseinandersetzung in Ivanhoe 5.3.1. 71 Zitat einer (wohl brieflichen) Äußerung Threlkelds vom 14. Februar 1798 (Wordsworth 1967: 197, Anm. 1). 72 Etwa die zitierten Interpretationen von Rieder 1997 und Myers 2001.
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What human nature is, decoyed, betrayed— I have the proofs. (V.iii.56–60)
In diesem Moment hat Rivers’ Theaterperversion gesiegt. Seine Selbstverdoppelung war so erfolgreich, dass Mortimer den Drang dazu scheinbar übernommen hat73 – allerdings nur für den Moment, denn Mortimer sagt sich im Anschluss von Matilda und der Menschheit los und geht in die vollkommene Einsamkeit. Auch als isoliert Leidender wird Mortimer aber immer Täter (bzw. früherer Täter) bleiben, darin besteht sein Leiden. Die Interirorisierung einer kriminellen Schuld, die Mortimer hier betreibt, sieht Alan Liu als zentralen Ausgangspunkt romantischer Subjektivität, die er deswegen als in sich gespalten und in theatraler Selbstbeobachtung befangen fasst. Über die Folgen des Charakters Mortimer(s) schreibt er: The ne plus ultra of personification will be the alienated, memorial, or otherwise self-differentiated person-within-a-person that we are rapidly approaching: the Romantic self. […] [T]he self domesticated the allegory of difference and became its own criminal and king, its own offense and tribunal74
...sowie sein eigener Akteur und Zuschauer, möchte man hinzufügen. Hier zeigen sich wieder einmal enge Parallelen zu The House of Aspen, das ja ebenfalls an einer Konzeption schuld- und gewissenhafter Selbstbeobachtung arbeitet. Allerdings geht Scott den anderen (Medien-)Weg der Rückkehr des Königs und überlässt es Wordsworth, das Gewissenstheater des Selbst auch medial sowie medientheoretisch auszubuchstabieren. Wie das Zitat bereits impliziert, folgt Alan Liu Wordsworth interpretatorisch auf diesem Weg, kürzt ihn allerdings, mit einer Zwischenstation in „The Ruined Cottage“, ziemlich unbotmäßig ab und landet
73 In diesem Sinne könnte sich Rivers’ Individualtheater sogar ausbreiten und irgendwann das Volk als ganzes umfassen, darin dann Scotts Überwachungstheater und dessen Inklusionswahn ganz ähnlich! 74 Liu 1988: 294, 299. Vgl. auch Anthony Kubiak (1991) im Rahmen einer Analyse von Manfred und Prometheus Unbound: „[T]he ‘mind’ as it is treated in romantic verse theatre did not exist before the appearance of this theatre but was in fact composed by it […] [T]he very scenic agency of ‘the mind’ that is so emblematic of romanticism is the substance of romanticim’s repressend theatre.“ (97) Die Titelfigur von Lord Byrons Drama Manfred verkörpere dabei einen ‚Demos des Geistes‘, die neue soziale Formation des ‚psychologischen Menschen‘ (103f.), eine innere Gesellschaft. Kubiak deutet eine ähliche Entwicklung für The Borderers an („I could have treated [...] The Borderers in similar fashion“, 185, dort Anm. 22). Wie Liu hebt Kubiak hervor, dass dieses innere Theater auch eine schmerz- und krisenhafte Interiorisierung des (verschwundenen) Monarchisch-Politischen bzw. -Juristischen in der postabsolutistischen Zeit sei, „eine „internalization of discipline and guilt“ (98).
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Wordsworth und Scott auf dem Theater: The Borderers und The House of Aspen
sehr schnell beim Prelude als der Endstation – die chronologisch dazwischenliegenden Lyrical Ballads werden einfach ausgelassen. Eine Analyse des Schicksals des romantischen Subjekttheaters in dieser berühmten Anthologie ist aber unerlässlich, da Wordsworth in den Lyrical Ballads die Positionen von Opfer und Täter, Leidendem und Beobachter, Akteur und Zuschauer zunächst wieder auseinanderzieht. Darin ist ein Rückschritt von der Komplexität Mortimers zu sehen, der Alan Liu dazu veranlasst haben dürfte, die Ballads besser zu ignorieren; allerdings wird sich auch zeigen, dass in dieser Rückkehr zum echten Doppel auch eine Lösung für die Paradoxien des Subjekttheaters besteht, die Wordsworth im Prelude wieder heimsuchen werden. Insgesamt wird Wordsworth nicht wie Rivers verfahren und einen anderen zwangsweise zum eigenen Ebenbild machen. In der Darstellung der Folgen einer Veräußerlichung des eigenen Selbst in einer Theaterkonstellation besteht ja die Tragik der Borderers – damit implizit aber auch in der Warnung vor der Medialität des Theaters selbst: Gibt das Subjekt seinem Drang nach Exteriorisierung in der Welt der Beobachtung anderer Menschen nach, so Wordsworths Mahnung, kommt es zu gewalttätigen Verdoppelungen und schmerzhaften Identitätsverlusten.75 Auf der Bühne ist das Theater des Subjekts daher nicht möglich, da dort andere Menschen das Subjekt verkörpern müssen. In diesem Sinne ist The Borderers eine Tragödie der Tragödienform – ein Ausweis des Scheiterns des Theaters an einer emergenten Theaterkonzeption und ein Verweis dieser Konzeption auf ein anderes Medium. Wordsworth begibt sich in die medialen Dilemmata des Subjekttheaters, da er diese Dilemmata als konstitutive und lösungsbedürftige Probleme nicht nur dieser Theaterkonzeption, sondern auch von Subjektivität an sich ansieht. Das Subjekttheater sieht Materialität eben auch als Problem des Subjekts an, obwohl – oder gerade weil – es dieses Subjekt theatral zur Anschaulichkeit und zur Anschauung seiner selbst bringen will. Neben dem (Nicht-)Materiellen halst Wordsworth seinem Theater damit ein Authentizitätspostulat auf, welches er auf der Bühne der Borderers ja auch nicht hätte lösen können. Die gedungene Bettlerin, mithin die Schauspielerin, die dafür bezahlt wird, dass sie sich verstellt, ist ihm ja der Inbegriff der Manipulation, einer geheuchelten Volkstragödie, die zu einem tödlichen und epidemischen Subjekttheater führt.
75 Vgl. dazu die Interpretation der Borderers von Jacobus (1983), die das Theater bei Wordsworth als ein Imaginäres fasst, das ohne Bewusstsein bzw. aus dem Unterbewusstsein des Dichters zur Realisierung drängt (383–387). Von einem reflektierten Medienwechsel zum Text geht Jacobus allerdings nicht aus.
Scheitern auf dem Theater und Vorbereitung des Text-Theaters
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Zugleich ist die performance der Bettlerin aber auch Sinnbild für das Melodrama, das zu dieser Zeit von den Unterhaltungsbühnen aus ja auch auf die legitimate theatres übergriff und das Wordsworth ein Dorn im Auge war. Dem „deprav’d State of the Stage at present“76, dem er vor allem seine Abhängigkeit von prunkvoller, kostspieliger Ausstattung und zugleich Inauthentizität vorwarf77, möchte er ein Theater gegenüberstellen, in dem nicht gekaufte, sondern echte Gefühle kommuniziert werden. Dieses Ideal deutet er mit dem Charakter Herberts, der ja gerade nicht der Erzheuchler ist, zu dem Rivers’ Intrige ihn macht, sondern die einzige Figur, die als wahrhaft leidend rezipiert werden soll78, sowie im Charakter des (finalen) Mortimers bereits an, kann es aber noch nicht umsetzen, da auch die beiden bei einer Inszenierung von bezahlten Schauspielern verkörpert würden. In beiden Figuren ist demnach ein anderes, ein alternatives Theater des sozialen Leidens angedeutet, das in The Borderers vor den Augen der Zuschauer kurz aufscheinen, zugleich aber auch als auf der Bühne der Verstellung und ‚Bestechung‘ noch nicht umsetzbar erscheinen soll. Das wahre Subjekt soll demnach authentisch, aber eben auch theatral sein, damit es sich in wiederhol- und steuerbaren Konstellationen der Darstellung seiner selbst auch kommunizieren kann. Damit aber sind Wordsworths eigene Bedürfnisse denen Rivers’ ganz ähnlich, und er gerät in Gefahr, mit der Intention seines Dramas dessen tragische Handlung zu perpetuieren. Die Vermeidung dieser Gefahr besteht letztlich darin, echte Gefühle zu kommunizieren bzw. zu erkennen – die Akteure müssen ehrlich sein und die Zuschauer unterscheiden lernen. Wichtig und schwierig ist dabei, dass das Selbst und seine Gefühle nicht nur theatral vermittelbar sein müssen, sondern in diesem theatralen Austausch letztlich überhaupt zu be- bzw. erstehen haben. Wordsworth lässt nämlich auch Rivers ein authentisches Selbst gegen den oberflächlich materiell-theatralen Weltenlauf profilieren, warnt aber zugleich eindringlich vor dessen Schlussfolgerung, dass das wahre Subjekt für sich selbst letztlich kein Theater kennt und deswegen gewalttätig und egomanisch vervielfältigt werden muss.
76 Zitiert nach einer Äußerung Wordsworths gegenüber Elizabeth Threlkeld (Wordsworth 1967: 197, dort Anm. 1). Threlkeld zufolge hoffte Wordsworth auf „reforms“ der Theaterkultur Großbritanniens mit „visionary plans“ (ibd.). Beides fand dann aber, so könnte man argumentieren, nicht auf der Bühne, sondern in den textuellen Theatervisionen Wordsworths statt. 77 Brief vom 6.3.1798 (zu Castle Spectre), zit. nach Gamer 1999: 834. 78 Damit findet auf der Wirkungsebene eine gewisse Rehabilitierung der Tragödie des leidenden Königs statt – wobei Herbert aber von vorneherein ein gebrochener und relativierter ‚Monarch‘ ist und daher eher für eine (produktive!) Entgrenzung der Tragödie des Monarchen in die Tragödie des Volkes steht, die wir noch näher untersuchen werden.
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Wordsworth und Scott auf dem Theater: The Borderers und The House of Aspen
Das wahre Selbst ist für Wordsworth eines, das im Akt des Austausches miteinander, der Kommunikation mit anderen allererst sichtbar wird und (damit) zu sich kommt. Wordsworth spricht in seinem „Essay“ zu Rivers von dessen Pervertierung der „moral sentiments“ und kehrt mit den Implikationen, die am Ende von The Borderers stehen bleiben, ebenfalls zu Adam Smiths Sympathielehre und deren Konzeption einer Sozialisierung ‚der Selbste‘ im Austausch der Gefühle zurück. Wordsworth greift die Sympathielehre in den Lyrical Ballads, wie wir sehen werden, in ihrer vollen (theatertheoretischen) Komplexität auf, geht also auch davon aus, dass das Subjekt durch den Gefühlsaustausch nicht nur sozialisiert und ausgesteuert werden soll, sondern auch repräsentabel gemacht werden in dem Sinne, dass es im sympathetischen Austausch entsteht und sichtbar wird. Wordsworth arbeitet in Lyrical Ballads demnach die bei Adam Smith angedeutete Verbindung des Theaters der Aussteuerung mit demjenigen der Repräsentation des Subjekts durch und greift dabei auch den Lösungsvorschlag für das Problem der Darstellung des Selbst, nämlich durch den medialisierten Gefühlsaustausch mit anderen, also durch Intersubjektivität, auf. Das alles ist – in nuce und im Vorgriff – die Poetik der Lyrical Ballads, um die es im folgenden Abschnitt gehen wird. Dieser Text soll eine avancierte Theaterkonzeption, die auf der Bühne nicht möglich war, realisieren.79 Zugleich werden die Lyrical Ballads aber auch zum Ausgangspunkt eines Paradoxes, das bestimmend (und fruchtbar) für Wordsworths weiteres Schaffen sein wird: Wie kann Intersubjektivität in einem Medium wirksam werden, das die beteiligten Subjekte nicht beide voll, also als Sender und Empfänger, miteinander in Beziehung setzen kann?
79 Alexandra Boyer (2013) sieht The Borderers als eine Schaltstelle zwischen der Beschäftigung mit dem Leiden des (Dichter-)Subjekts (in diesem Fall Mortimers als Stellvertreter des Dichters) und dem Leiden anderer (hier Robert und seine Frau), wobei letzteres dann in Lyrical Ballads ins Zentrum des Interesses trete. Nach ihrem Dafürhalten kommt das autobiographische Subjekt in Lyrical Ballads durch diese Fremdbetrachtung denn auch zur Ruhe. M.E. wirkt Wordsworths Subjektproblematik aber über The Prelude weiter bis zur Excursion und umfasst dabei mediale Aspekte, die Boyer nicht in den Blick nimmt.
4 W illiam Wordsworth: Das Theater des Menschen in der romantischen Versdichtung 4.1 Lyrical Ballads William Wordsworths The Borderers basiert in seiner Anlage auf einer Rezeption der zentralen neuen Theatermodelle der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und reflektiert, ob mit diesen Modellen ein umfassendes Theater des Menschen, seiner epistemischen wie politischen Repräsentation, erarbeitet werden könne. Die Antwort auf diese Frage ist aus der Sicht von Wordsworths Tragödienversuch negativ: In den Borderers fallen die neuen Theaterkonzepte in die Hände eines üblen Impressario, der aus ihnen ein megalomanisches Theater seiner Selbstrepräsentation machen will, in dem sich totale Selbsterfahrung mit politischer Allmacht verbindet. Zu diesem Zweck pervertiert er den aufklärerischen Gedanken gegenseitiger theatraler Aussteuerung im Mitgefühl, wie Adam Smith und JeanJacques Rousseau ihn entwickelt haben, zur gewaltsamen Angleichung eines anderen an sich selbst, so dass er sodann sich selbst erblicken und erleben kann. Auch in der berühmten Gedichtsammlung Lyrical Ballads kann Wordsworth nicht von der Rezeption dieser Theaterkonzepte lassen, obwohl er das Genre und damit das Medium wechselt: Auch in seinem Gedichtband1, so meine These, geht es darum, eine tragische Darstellung des Volkes zu einem Theater individueller und kollektiver Selbsterfahrung, kurz: einem Theater des Volkes, weiterzuentwickeln, in dem die Aussteuerung der Subjekte im theatral-emotionalen Miteinander mit der Repräsentation jeden teilnehmenden Subjekts verknüpft werden soll. Wordsworth bleibt bei den Theatermodellen seiner Zeit, da er davon ausgeht, dass Subjektivität sowie letztlich auch sein eigenes Subjekt nur im theatral-inter-
1 Lyrical Ballads, And Other Poems erschien erstmals 1798, in einer einbändigen Ausgabe. 1800 wurde eine zweibändige Ausgabe publiziert, die 1802 und 1805 jeweils durchgesehen und wiederveröffentlicht wurde. Einige der Gedichte stammen aus der Feder von S.T. Coleridge, nämlich „The Rime of the Ancyent Marinere“, „The Nightingale“, „The Foster-Mother’s Tale“ und „The Dungeon“, wobei die letzteren beiden interessanterweise Auszüge aus seiner parallel mit Wordsworths Borderers verfassten Tragödie Osorio sind. Allerdings weisen die Gedichte Coleridges signifikante Unterschiede in ihrer Verfahrensweise zu Wordsworths Gedichten auf, was Coleridge in seiner heftigen Ablehnung von Wordsworths dramatischer Poetik auch unterstrichen hat (vgl. Parrish 1973: 147). Coleridges Schaffen geht also einen anderen Weg als Wordsworths Text-Theater, wenngleich er sich, wie Julie Carlson herausgearbeitet hat, ebenfalls dem Theater annähert (Carlson 1994). Vgl. zur Rezeption romantischer Theater- und insbesondere Tragödienkonzepte bei Coleridge auch Murray 2013.
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William Wordsworth: Das Theater des Menschen in der romantischen Versdichtung
subjektiven Austausch verfügbar wird. Mit Blick auf Wordsworth ist demnach die romantische Versdichtung als textuelle Anverwandlung einer zeitgenössischen Theaterpoetik zu reakzentuieren. Vom dramatischen Charakter der Lyrical Ballads2 sowie der Ballade allgemein3 ist in der Forschung seit langem die Rede. Diesen Ausführungen folgt meine Interpretation, indem sie Wordsworths berühmte Gedichte erstmals detailliert auf ihren Bezug zum zeitgenössischen Theater(diskurs) sowie auf ihre Entfaltung eines alternativen Theaters untersucht.
4.1.1 Das „Preface“ Greifbar wird Wordsworths theatrale Auffassung von Subjektivität und Versdichtung bereits in seinem berühmten poetischen Manifest, dem „Preface“ zu den Lyrical Ballads, das 1800 in der ersten und 1802 in seiner endgültigen Form vorlag. Ganz am Anfang des „Preface“ findet sich eine konzise Formel für Wordsworths poetisches Unterfangen in den Lyrical Ballads: Im ersten Absatz definiert er seine Arbeitsweise als „fitting to metrical arrangement a selection of the real language of men in a state of vivid sensation“.4 Mit dem Hinweis auf Männer bzw. Menschen, deren natürliche Sprache es auszuwählen und zu metrisieren gilt, begibt er sich in einen Bereich, der traditionell der Gattung des Dramas vorenthalten ist, nämlich den glaubwürdigen Ausdruck der emotionalisierten Rede anderer Charaktere als des Dichters selbst. Nimmt man die bereits referierten Tragödienkonzepte von Beattie und Baillie als Beispiele für zeitgenössische Dramentheorie, wäre es damaligen Lesern wohl schwer gefallen, bei diesen Ausführungen nicht an Dramatik und insbesondere Tragödiendichtung zu denken.5
2 So schreibt Stephen Maxfield Parrish in seiner wegweisenden Monographie zu den Lyrical Ballads: „Of the sixteen [poems of the 1798 edition by Wordsworth], twelve are dramatic or semi-dramatic in form [...] Only four of the sixteen are spoken solely by the poet in his own character.“ (Parrish 1973: 83) Wie die Auseinandersetzung mit Parrishs Argumentation in der Folge zeigen wird, sind auch die Gedichte ‚aus dem Charakter des Dichters heraus‘ gewissermaßen dramatische Texte. Parrishs Charakterisierung entwickelte sich in der Folge zu einer einflussreichen Position der Forschung zu den Lyrical Ballads, etwa bei Jacobus 1976, Averill 1980 und Bialostosky 1991 (s. weiter unten). 3 Vgl. Anm. 74 in diesem Kapitel. 4 Wordsworth 1992, 741. Alle nachfolgenden Zitate aus den Lyrical Ballads aus dieser Ausgabe (der sog. „Cornell Wordsworth“). 5 Der Tragödientheorie von Joanna Baillie zufolge „[tragedy] unveil[s] to us the human mind under the domination of [...] strong and fixed passions“ (Baillie 2001, 86; vgl. 2.2.1.2). James Beattie vertritt wie Wordworth die Konzeption, dass sich gerade Bauern und andere einfache Menschen als Tragödienhelden eignen (vgl. 2.2.2.3). Zudem integriert er wie Wordsworth in sein
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Vor dem Hintergrund dieses Dramen- bzw. Dramentheoriebezugs möchte ich die berühmt gewordenen Aspekte etwa des spontanen Gefühlsüberschwangs oder der „emotion recollected in tranquillity“, welche zu einer Auffassung des „Preface“ als Poetik lyrischer, subjektivitätsbasierter Einzelrede geführt haben, neu perspektivieren. Wordsworth geht es, wie ich zeigen möchte, durchaus auch um lyrische Einzelrede und die Erschließung des Subjekts, aber er entwirft beides stets im Austausch mit anderen, anderen Genres bzw. Medialitäten genauso wie anderen Subjekten. Ich möchte die Poetik der Lyrical Ballads neu konturieren als eine der – durchaus problematischen – Verbindung von Lyrik und Dramatik zur Erschließung von Subjektivität durch Intersubjektivität. Wordsworth begibt sich im „Preface“ in den Bereich der Dramenpoetik, und so nimmt es nicht wunder, dass er sein in der Folge umstrittenes Konzept einer natürlich-authentischen Sprache6 durch den Bezug auf diejenigen seiner Gedichte, die er selbst „dramatic parts“ nennt, legitimiert, „where the Poet“, wie Wordsworth definiert, „speaks through the mouth of his characters“. Er fährt fort: there are few persons, of good sense, who would not allow that the dramatic parts of composition are defective, in proportion as they deviate from the real language of nature, and are coloured by a diction of the Poet’s own7
Wordsworths Ablehnung für die hier erwähnte „poetic diction“ gilt allerdings durchgängig, also auch für die jenigen Gedichten, in denen „the Poet speaks to us in his own person and character“.8 Und analog gilt die von ihm propagierte Poetik natürlich auch für alle Gedichte, die er schreibt. Wordsworth unterscheidet an dieser Stelle demnach zwischen ‚dramatischen‘ und ‚lyrischen‘ Gedichten, aber die beiden gemeinsame Poetik einer natürlichen, gefühlsbezogenen Sprache legt nahe, dass die beiden Gruppen starke Parallelen haben, ja, dass ihre Poetik den Dichter und andere Menschen dramatisch zusammenbringt.9 Wordsworth
Tragödienkonzept die Idee des theatralen Selbstausdrucks des Dichters gerade durch die Tragödie (vgl. 2.2.1.3). 6 Die berühmte „plainer and more emphatic language“ der „essential passions of the heart“ in „[l]ow and rustic life“ (Wordsworth 1992: 743). 1802 fügt Wordsworth dieser Stelle noch die Konkretisierung „language really used by men“ (ibd.) hinzu, vielleicht, da die ‚language of passions‘ als Metapher aufgefasst werden konnte. 7 Wordsworth 1992: 753. 8 Wordsworth 1992: 753. 9 Parrish (1973: 140) fasst die von Wordsworth im „Preface“ erarbeitete Poetik folgendermaßen zusammen: „For the truth revealed in poetry was psychological truth, and it was revealed most plainly in dramatic utterance, in the language really spoken by men in a state of passion.“
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entgrenzt entsprechend die Sphäre von fremden Charakteren und diejenige des eigenen Charakters: the Poet is chiefly distinguished from other men by a greater promptness to think and feel without immediate external excitement, and a greater power in expressing such thoughts and feelings as are produced in him in that manner. But these passions and thoughts and feelings are the general passions and thoughts and feelings of men. […] These, and the like, are the sensations and objects which the Poet describes, as they are the sensations of other men and the objects which interest them. The Poet thinks and feels in the spirit of the passions of men.10
Der Dichter wird hier von anderen, ‚normalen‘ Menschen durch seine höhere Sensibilität und emotionale wie poetische Ausdrucksbereitschaft unterschieden; allerdings gilt sein Interesse diesen anderen Menschen bzw. den gemeinsamen, verbindenden Gefühlen. In diesen Kontext ist auch das berühmte Diktum vom „spontaneous overflow of powerful feelings“11 zu stellen, das Wordsworth in seine Erläuterungen zu Sprache und Themen der Lyrical Ballads zu Beginn des „Preface“ integriert. Wordsworth paraphrasiert diese Formulierung nämlich folgendermaßen: Sinn und Zweck seiner Gedichte sei, „to follow the fluxes and refluxes of the mind when agitated by the great and simple affections of our nature“, wobei er als Beispiele unter anderem „the maternal passion“ sowie „the last struggles of a human being at the approach of death“12 anführt. Es geht dem Dichter also auch hier gerade nicht um die eigenen Gefühle, vielmehr um einen Zugang zu den Gefühlen anderer durch die eigenen Gefühle hindurch. Erwartungsgemäß sind die genannten Beispiele wiederum ‚dramatische‘ Gedichte, die der Versenkung in andere Charaktere als den Dichter gewidmet sind. Diese Gedichte stehen im Zentrum der Lyrical Ballads. Wir werden auf sie am Ende dieses Abschnitts noch einmal zu sprechen kommen. Der Dichter wird zum Sprachrohr anderer Menschen bzw. des Menschen allgemein. Mag dies auch bedeuten, wie wir gleich sehen werden, dass der Dichter seine Texte alleine schreibt, so beharrt Wordsworth an anderer Stelle darauf, dass dieses Schreiben aus einem emotionalen Austausch mit anderen Menschen herrührt, der das eigene und das fremde Bewusstsein so sehr ineinander entgrenzt, dass die beiden Seiten sich an- und ineinander konstituieren – weit hinausgehend über bisherige Konzeptionen sowohl des Lyrischen als auch des Dramati-
10 Wordsworth 1992: 753f.; meine Hervorhebung. 11 Wordsworth 1992: 744. 12 Wordsworth 1992: 745.
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schen: Der Dichter und die Menschen, die er beobachtet, erleben ein gemeinsames Theater sympathetischen Austauschs. Wordsworth entwirft gewissermaßen ein Drama, das zu seiner Verwirklichung ein völlig neues Theater benötigt. [The Poet] considers man and the objects that surround him as acting and reacting upon each other, so as to produce an infinite complexity of pain and pleasure [...] he considers him as looking upon this complex scene of ideas and sensations, and finding every where [sic] objects that immediately excite in him sympathies which, from the necessities of his nature, are accompanied by an overbalance of enjoyment.13
Der Dichter beobachtet den (Gefühls-)Austausch des Menschen mit der Natur. In der Formulierung von Aktion und Reaktion zwischen Mensch und den „objects“ seiner Umgebung tritt allerdings eine Logik zutage, die auf die Entfaltung von Intersubjektivität in dieser Konstellation hinweist: Wie können die natürlichen Objekte reagieren, wenn sie nicht selbst belebt, näherhin Menschen und Subjekte sind? Wordsworths ‚Natur‘ entpuppt sich an dieser Schlüsselstelle von Wordsworths Poetik als menschliche Natur; gemeint sind als Austauschpartner des Subjekts nicht Landschaftsformen, sondern andere Menschen, andere Subjekte. Diese Zurückdrängung bzw. Umdeutung von Wordsworths Naturbezug wird uns im Rahmen der Interpretationen seiner Texte noch eingehend beschäftigen; sowohl in den Lyrical Ballads selbst als auch im Prelude und der Excursion wird sich als das eigentliche Gegenüber des Subjekts nicht die Natur, sondern der Mensch in der Natur entpuppen. Aus diesem Grunde wird sich Subjektivität in Wordsworths zentralen Werken als Intersubjektivität herausstellen – welche an dieser Stelle im „Preface“ als sympathetischer Austausch konturiert wird. In der zweiten Hälfte des Zitats setzt Wordsworth nämlich den beobachteten Menschen seinerseits als Beobachter genau diesen Austauschs an, wobei sowohl die Tatsache dieses Austausch als auch die beobachteten Austauschpartner sympathetische Gefühlsregungen in diesem Beobachter auslösen – „immediately“, wie Wordsworth nicht ganz logisch hinzufügt. Also noch der distanzierteste Betrachter wird in das Betrachtete hineingezogen, wie umgekehrt auch der involvierteste Austauschpartner immer auch Beobachter sein kann – und zwar von anderen Menschen, deren Austausch untereinander und von seinen eigenen Reaktionen auf all dies. Was Wordsworth hier in einer Komplexität, die dem Gegenstand gerecht wird, zu kommunizieren versucht, ist eine Szenerie der Intersubjektivität, die den Beteiligten im Austausch miteinander die Erfahrung der eigenen Subjektivität ermöglicht, also die wechselseitige Beobachtung des eigenen Handelns und Erlebens im anderen. Wordsworth entwickelt hier die Dramentheorie seiner
13 Wordsworth 1992: 752.
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Zeit weiter zu einem Theater des Subjekts, in dem sich dessen sympathetische, intersubjektive Aussteuerung mit der Möglichkeit zu subjektiver Selbsterfahrung und Selbstausdruck in natürlicher Sprache verbindet. An diesem Punkt müssen wir aber noch einmal zu Wordsworths Rede vom „spontaneous overflow“, zurückkehren, und uns einem Medienparadox seiner Lyrik wie des romantischen Text-Theaters allgemein stellen. Wordsworth wägt an dieser Stelle nämlich auch zwischen Spontaneität und Reflexion des Dichters ab. Konkretisiert wird diese Abwägung durch das Verhältnis – und die Verbindung – von „feelings“ (Spontaneität) und „thoughts“ (Reflexion): Wordsworth sieht Gedanken als Repräsentanten früherer Gefühle sowie, und das ist entscheidend, als Erkundungsmöglichkeiten dessen, „what is really important to men“.14 Nur durch das zurückgezogene Sinnen und Schreiben, die berühmte „emotion recollected in tranquillity [...] [when] successful composition generally begins“15, wie Wordsworth an späterer Stelle formuliert, können seine Gedichte entstehen: Den Erfahrungen menschlichen Austauschs stehen medien- bzw. produktionsseitig Isolierungen des Subjekts gegenüber, in denen es diese rekonstruiert, als Themen und Inhalte der Gedichte gestaltet und somit rezeptionsseitig für den Leser zugänglich macht. Wordsworth entwirft sein neues Theater als Verbindung der Stimme eines einzelnen Dichters, die in zurückgezogenen Schreibakten entsteht, und intersubjektiven Begegnungen, die Wordsworth, wie wir noch vertiefen werden, als Weiterentwicklung der zeitgenössischen Tragödie versteht. Wordsworth wird in seinen Werken unablässig versuchen, die beiden Seiten anzunähern und ein medial ‚durchgängiges‘ Theater der Intersubjektivität zu entwickeln. Schon die Lyrical Ballads werden in ihrem Verlauf zu einem Theaterprojekt zur Aussteuerung und Repräsentation aller an ihm beteiligten Subjekte, also von Charakteren, Leser und Dichter. Ideal dieses Theaters ist die vollkommene Intersubjektivität, also das vollständige Erleben des Selbst im anderen und zugleich des anderen im Selbst.16 Diese Art von Theatralität wird zu einer Zielvorgabe für seine Poetik, die Wordsworth noch weit über die Lyrical Ballads hinaus beschäftigen wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt des „Preface“ ist, dass Wordsworth Ideen aus den Borderers aufgreift, deren gewalttätige, tragische Folgen aber überwinden möchte: Von einer Tragik des neuen Theaters möchte er zu einer Tragik in einem neuen Theater gelangen. Rousseaus Theaterkonzept mit dem Motto „let each man see and love himself in others, to the end that they may be all the more inti-
14 Wordsworth 1992: 745 („thoughts are indeed the representatives of all our past feelings“). 15 Wordsworth 1992: 756. 16 Bialostosky 1991: 28–31, paraphrasiert Wordsworths Poetik im „Preface“ als die Erarbeitung einer „community of pleasure“.
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mately united“17 ist im „Preface“ ein weiteres Mal impliziert – diesmal aber unter strikter Vermeidung der Riversschen Gewalt. However exalted a notion we would wish to cherish of the character of a Poet, it is obvious, that, while he describes and imitates passions, his situation is altogether slavish and mechanical, compared with the freedom and power of real and substantial action and suffering. So that it will be the wish of the Poet to bring his feelings near to those of the persons whose feelings he describes, nay, for short spaces of time perhaps, to let himself slip into an entire delusion, and even confound and identify his own feelings with theirs.18
Der Dichter ist der Sphäre echten ‚Handelns und Leidens‘ enthoben. Vorderhand bezieht sich diese Formulierung auf die Weltentrücktheit des Dichters und die Mittelbarkeit ihrer poetische Aufzeichnung. Auf der Anspielungsebene distanziert sich Wordsworth mit diesen Worten allerdings auch von der Tragik der Borderers: Er zitiert hier nämlich eine zentrale Stelle aus den Borderers, in der Rivers das Verhältnis von Handeln und Erleben dieses Handelns durch das Subjekt folgendermaßen beschreibt: Action is transitory, a step, a blow […] . . . . . . […] and in the after vacancy We wonder at ourselves like men betray’d. Suffering is permanent, obscure and dark, And has the nature of infinity.19
Untaten verwandeln, wie Rivers es hier formuliert, die Selbstreflexion in unendliches Leiden, in das Gefühl von Selbstbetrug und letztlich Selbstdistanz. Das Wordsworthsche Subjekt der Lyrical Ballads vermeidet diese Situation, indem seine Tätigkeit das (Er-)Leben anderer beobachtet und nachzeichnet. Damit ist aber auch das Theater des Subjekts, das sich daraus ergibt, ein völlig anderes als in The Borderers: Das Subjekt in Lyrical Ballads braucht zum Erleben seiner selbst nicht mehr die gewaltsame Angleichung eines unschuldigen anderen, an dem es seine eigenen (Un-)Taten nachvollziehen kann – wie Rivers. Es ist genau umgekehrt: Das friedliche, ‚unschuldige‘ Subjekt identifiziert sich mit dem Leiden anderer, welches zudem authentisch („real and substantial“) ist, also weder, wie in The Borderers, auf Schauspielerei (Bettlerin) noch auf Fremdprojektion (Rivers auf Mortimer) beruht.
17 Rousseau 1759: 173; vgl. 2.2.2.4 und 3.2.1. 18 Wordsworth 1992: 751; meine Hervorhebungen. 19 Borderers III.v.60–65; meine Hervorhebungen.
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William Wordsworth: Das Theater des Menschen in der romantischen Versdichtung
Wordsworth greift hier zugleich den aus der Schauspielästhetik bekannten Gedanken der Selbstaufgabe („delusion“) des Schauspielers durch komplette Identifikation mit seiner Rolle auf20; im Kontext von Wordsworths Poetik gegenseitigen Erlebens liegt in diesem Modell aber das Potential eines ganz anderen Theaters gegenseitiger Erfahrung von Subjekten in anderen Subjekten: Die Identifikation des Dichters mit den anderen, die er beobachtet und erlebt, ermöglicht diesen ja gerade die Selbstwahrnehmung durch Beobachtung des Dichters. Und weitergedacht kann der Dichter in der Beobachtung dieser Beobachtung (die etwa Dankbarkeit für die Offenheit und Selbstaufgabe des Dichters zum Ausdruck bringt) wiederum sich selbst in den anderen ablesen und damit ebenfalls eine Selbsterfahrung machen. „[A]ction“ und „suffering“, die bei den vom Dichter Beobachteten anderen ja durchaus noch vorhanden sind, sollen in dieser wechselseitigen Selbsterfahrung zudem nachhaltig abgemildert werden – wiederum im Sinne einer Alternative und Überwindung der Tragik der Borderers. Wie diese Theater allerdings über das Textmedium implementiert werden soll, ist auch an dieser Stelle noch alles andere als gelöst; Wordsworth stößt seine Leser ja wiederum regelrecht auf das Dilemma, Gegenseitigkeit gerade in einem Medium zu vermitteln, das, von der beschworenen Interaktionssituation und ihrer Authentizität weit entfernt, eigenen technischen Voraussetzungen gehorcht („describes and imitates [...] slavish and mechanical“) und zudem einsam produziert und einsam rezipiert wird. Die Frage, wie einsames – und in diesem Sinne lyrisches – Schreiben (und Lesen) und das posttragische Theater der Intersubjektivität zusammenkommen können, ist im „Preface“ noch ungelöst. Der Bezug der Poetik der Lyrical Ballads zu den Borderers geht aber noch weiter: Rivers’ wahnsinniges Subjekttheater in den Borderers ist ein Forum der Selbstermächtigung durch Königsmord, der auf einer perfekt inszenierten – und darum umso schädlicheren – Tragödie des Volkes beruht. Auch in der Poetik der Lyrical Ballads, des Nachfolge- und Überwindungsprojekts der Borderers, bezieht sich Wordsworth auf die verschiedenen Modelle eines Theaters des Politischen – allerdings nicht direkt im „Preface“21, sondern in einem Brief aus dem April 1801 an den Londoner Zeitungsherausgeber John Taylor, dem Wordsworth seinen Gedichtband zugeschickt hat. In diesem Brief begrüßt Wordsworth Taylors Charakterisierung der Poetik der Lyrical Ballads als „pathos of humanity“, dis-
20 Vgl. 2.2.1.3. 21 Letztlich enthält aber bereits Wordsworths berühmte Ablehnung der „sickly and stupid German Tragedies“ (Wordsworth 1992: 747) im „Preface“ eine Absage an die politischen Dimensionen dieses Genres, die in seinen Augen auch in einer (melodramatischen) Aufwiegelung des Volkes durch Darstellung seines Leidens bestanden (vgl. das Folgende).
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tanziert sich unter Berufung auf seinen Mitstreiter S.T. Coleridge zugleich aber energisch von einem „jacobinical pathos“: [Coleridge] pointed out as worthy of the severest reprehension, the conduct of those writers who seem to estimate their power of exciting sorrow for suffering humanity, by the quantity of hatred and revenge which they are able to pour into the hearts of their Readers.22
Mit dem „pathos of humanity“ ist die Tragödie des Volkes aufgerufen, um gleich darauf von derjenigen Gestaltungs- und Inszenierungsstrategie abgesetzt zu werden, die den Rezipienten wie in Rivers’ Intrigen in den Borderers zu revolutionären Gewalttaten hinreißen soll. Die Lyrical Ballads sind demnach eine Volkstragödie nach der revolutionären Volkstragödie, eine nachrevolutionäre Volkstragödie, die gemäßigte, das Mitgefühl, aber nicht das Rachegefühl ansprechende Leidensbeobachtungen enthalten soll. Aus diesen kann jenes Gemeinschaftsgefühl erwachsen, das Rousseau als Charakteristikum des Theaters des Volkes gepriesen hat.23 Wordsworth möchte in den Lyrical Ballads demnach auch ein Theater des Politischen erarbeiten, in dem aus dem Mit-Gefühl ein Wir-Gefühl erwächst, in dem jedes Ich seinen Platz hat und sich zugleich auch als politisch repräsentiert empfindet. Mit der Rede von „Readers“ ist die hier verhandelte Tragödie allerdings wiederum primär als Text angesetzt. Wordsworth rezipiert mit dieser Tragödienkonzeption die ausführlich dargelegte Theatertheorie der schottischen Aufklärung, wobei James Beattie der wichtigste Einfluss ist. Beattie scheint zum einen für die Engführung des subjektiven mit dem dramatischen Modus, die für Wordsworths Poetik entscheidend ist, Pate gestanden zu haben.24 Wordsworth erweitert, wie wir gesehen haben,
22 Wordsworth 1967: 325f. 23 David E. Simpson hat herausgearbeitet, dass sich Wordsworths Konzeption der „poetic diction“ eng an Rousseaus Charakterisierung des von ihm abgelehnten herkömmlichen Theaters im Lettre à M. D’Alembert anlehnt (Simpson 1987: 65f.). Simpson verfolgt diese Parallele leider nicht in Wordsworths natürliche Poetik hinein, die damit mit Rousseaus Naturtheater kurzgeschlossen werden müsste. Vgl. zu Wordsworths demokratischem Sprachverständnis, das eine allgemeine (und nicht etwa eine Unterschichten-)Sprache verfolgt, Smith 1986: 210–222, leider ohne Rückschlüsse auf demokratische Medialisierungsformen, sowie Fulford 1996. Fulford führt in diesem Zusammenhang weiter aus, dass Wordsworth im „Preface“ dem Ideal einer Demokratie von Kleingruppen und deren Versammlungen folgt (162–164), was deutlich an Mark Wilks Konzeption eines nationalen Festivals der Repräsentanten erinnert (vgl. 2.2.2.5). Wie wir sehen werden, hat Wordsworth dabei ähnlich wie Wilks das Problem, dass die ‚Repräsentation‘ der verschiedenen Volksgruppen vor allem in Wordsworths Texten selbst zu erfolgen hat, das Nationaltheater demnach vor allem in Form seiner Versdichtung (bei Wilks: Predigt) besteht. 24 Vgl. 2.2.1.3.
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den Gedanken des dichterischen Selbstausdrucks in der dramatischen Dichtung um das Konzept der intersubjektiven Emotionalisierung in einer Interaktion, die er als neue Tragödienform auffasst: Das Subjekt kommt zu Selbstwahrnehmung und Selbstausdruck durch einen Austausch mit anderen Subjekten. Zum anderen greift Wordsworth Beatties Forderung nach einer Miteinbeziehung der natürlichen Sprache unterer Schichten in die Tragödie auf.25 Er überschreitet jedoch Beatties herablassende Berücksichtigung des einfachen Mannes deutlich hin zu einer Volkspoetik, die Sprache und Erlebnisse der Landbevölkerung als exemplarisch für Ausdruck und Schicksal der britischen Nation auffasst. Zugleich möchte er die radikal-revolutionären Wirkungsabsichten, mit dem die Konzeption der Volkstragödie bei Paine und Mackintosh verknüpft wird, explizit vermeiden.26 Neben den politischen hat Wordsworths Text-Theater die in der Theatertheorie der schottischen Aufklärung ebenfalls angelegten und von Wordsworth in den Borderers vertieften epistemischen Funktionen: Es dient der Kommunikation (menschlichen) Wissens über den menschlichen Geist am einzigen Ort, an dem es romantischer Wissenschaftsauffassung gemäß verfügbar ist, nämlich im Subjekt des Forschenden selbst. Da zugleich Rivers’ perverse Lösung der Aporien dieses Selbst-Labors nicht gangbar ist, muss Wordsworth sein Theater auch in wissenschaftlicher Hinsicht anders gestalten: Das eigene Erleben wird der Poetik des „Preface“ gemäß durch intersubjektiven Austausch mit anderen verfügbar, aber nicht im Sinne einer gewaltsamen Angleichung dieses anderen an das Selbst, sondern als wechselseitige Erfahrungen des Selbst in der Reaktion des jeweiligen Gegenüber. Humanwissenschaftlich gewendet – und Wordsworth ist an dieser Wendung sehr interessiert, wie wir gleich sehen werden – durchdringen sich in diesem Prozess auch die Größen menschliche Gattung und Einzelwesen: Der einzelne Mensch gelangt zum individuellen Ausdruck seiner selbst, indem er sich zunächst vom Mit-Gefühl für einen Artgenossen anrühren lässt. Parallel zu dieser Selbsterkenntnis ersteht in jedem Teilnehmer eines solchermaßen intensivierten und durch das romantische Text-Theater institutionalisierten menschlichen Miteinander Wissen(schaft) vom Menschen.
25 Damit wird James Beattie zu einem wichtigeren Vorläufer von Wordsworths Poetik als der vielfach beschworene Hugh Blair. Wie Duncan Wu zeigt, kannte Wordsworth beider Werke. Allerdings findet sich in Beattie, bezogen auf die schottische Aufklärung, der locus classicus der Poetik einer natürlichen Sprache – herausgearbeitet ausschließlich mit Bezug auf die Tragödie! Wus Behauptung, „[t]here is something on nearly every page of Blair’s [poetics] that would have interested Wordsworth and Coleridge, and which ties in with various statements they made subsequently. This was the most important single borrowing during the period“ (Wu 1993: 182), muss daher auf James Beattie ausgeweitet werden. 26 Vgl. hierzu auch 2.2.2..
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Wordsworth nimmt für seine Poetik tatsächlich den Rang eines neuen wissenschaftlichen Paradigmas in Anspruch und unterzieht damit ‚herkömmliche‘ Wissenschaft einer Radikalkritik. Im Anschluss an die oben analysierte „sympathies“-Stelle („[The Poet] considers man...“) heißt es nämlich: And thus the Poet, prompted by this feeling of pleasure which accompanies him through the whole course of his studies, converses with general nature with affections akin to those, which, through labour and length of time, the Man of Science has raised up in himself, by conversing with those particular parts of nature which are the objects of his studies. The knowledge both of the Poet and the Man of Science is pleasure; but the knowledge of the one cleaves to us as a necessary part of our existence, our natural and unalienable inheritance; the other is a personal and individual acquisition, slow to come to us, and by no habitual and direct sympathy connecting us with our fellow-beings. The Man of Science seeks truth as a remote and unknown benefactor; he cherishes and loves it in his solitude: the Poet, singing a song in which all human beings join with him, rejoices in the presence of truth as our visible friend and hourly companion. Poetry is the breath and finer spirit of all knowledge; it is the impassioned expression which is in the countenance of all Science.27
Wordsworth spricht dem Dichter einen spontanen und unmittelbaren Umgang mit der Natur zu, während der herkömmliche Wissenschaftler sich mühevoll einen ihrer Teilbereiche aneignet. Die Wissenschaft des Dichters ist zudem Wissenschaft vom Menschen als der wichtigsten und ‚menschlichsten‘ Wissensform („our natural and unalienable inheritance“), die er im unmittelbaren sympathetischen Austausch mit anderen Menschen erarbeitet und kommuniziert – aus der Intersubjektivität von Individuen entsteht Gattungswissen. Im Gegensatz dazu erscheint die empirische Naturwissenschaft, die andere Untersuchungsgegenstände wählt, als menschenfern und ‚esoterisch‘. Ihr Wissen ist in zurückgezogener Einsamkeit entstanden und daher individuell und subjektiv („personal and individual acquisition“), aber eben ohne kollektiv-intersubjektive Dimension. Der Dichter hingegen lässt uns aus unserer Mitte heraus unverzichtbare Aspekte unserer Existenz als Individuum und als Gattungswesen zukommen. Er tut dies (und hier wird Wordsworths Theaterprojekt wieder greifbar), indem er „sing[s] a song in which all human beings join with him“. Wissenschaft vom Menschen und menschliche Wissenschaft werden an diesem Punkt identisch, da der Dichter die Unhintergehbarkeit menschlicher Subjektivität im Bezug auf jedes Wissen erkannt und daraus die Konsequenz einer intersubjektiven Erlebens- und Vermittlungsform einer ‚Humanwissenschaft‘ gezogen hat, welche ihren Ausgangspunkt im Austausch von Emotionen hat. „Poetry is the breath and finer spirit of all knowledge; it is the impassioned expression which is in the countenance of
27 Wordsworth 1992: 752f., meine Hervorhebungen.
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all Science.“ Wordsworth ‚vollzieht‘ bzw. exemplifiziert hier die von Michel Foucault postulierte humanwissenschaftliche Wende auch für die Kunst – und zwar im Rahmen eines intersubjektiven (Text-)Theaterprojekts, welches die in der vorliegenden Studie für eine derartigen Wende-These und insbesondere für einen damit verknüpften kulturellen performative turn angemahnte historische Konkretisierung darstellt.28 Und wieder zeigt dieses Projekt, dass zu einer ‚Performativität um 1800‘ genauso stark eine Textualität gehört, die diese Performativität ermöglicht, zugleich aber auch zutiefst problematisiert. Wordsworth ist dieses Problem bewusst: An anderer Stelle im „Preface“ ergibt sich aus der hier angestrebten Kollektivität – und Simultaneität – von Wissensproduktion und Wissenskommunikation bei gleichzeitiger (bzw. changierender) Identität von Wissenschaftler und wissenschaftlichem Objekt das Ideal einer „poetry“, die sich selbst verifiziert und verbreitet: [The] object [of poetry] is truth, not individual and local, but general, and operative; not standing upon external testimony, but carried alive into the heart by passion; truth which is its own testimony, which gives strength and divinity to the tribunal to which it appeals, and receives them from the same tribunal.29
Wordsworths Theater des Menschen nimmt hier in doppelter Hinsicht performative Züge an – als Wahrheit, die sich selbst verbürgt, und als Wissen vom Menschen, das sich durch das, was es beschreibt, weiterverbreitet („by passion“) und dabei selbst zu einem lebendigen Organismus wird.30 Wordsworth wird mit diesem Selbstkonstitutions- und Selbstlegitimationsanspruch seines Theaters noch große Schwierigkeiten bekommen – vor allem im Prelude; hier in den Lyrical Ballads ist es, wie bereits geschildert, vor allem der Gedanke der Umsetzung des Beschriebenen/Behaupteten, des Umsprungs von der Inhalts- auf die Vermittlungsebene, der Wordsworth beschäftigen wird. Die Lyrical Ballads kommen immer wieder an Punkte, an denen die Selbstverwandlung des Textes in das Theater, das er beschreibt, – und damit ihre Selbstverbreitung – zum verzweifelten und uneinlösbaren Desiderat wird. In der eben besprochenen Stelle projiziert
28 Foucault 1974: vgl. 2.2.3. Zugleich liefert Wordsworth ein zentrales Beispiel für ein Projekt romantischer Wissenspoetik (vgl. 2.2.2.1). 29 Wordsworth 1992: 751f. 30 Vgl. dazu McLane 2000, die Wordsworths Streben nach einer Aufklärung in einem besseren, da emotionalisierenden und humanisierenden Medium herausarbeitet (66). Sie zitiert Wordsworths „Essay on Morals“, in dem dieser davon spricht, dass „poetry incorporate itself with the blood & vital juices of our minds“. Poetry entgrenzt in dieser Konzeption Körper und Geist des Menschen auf mehreren Ebenen ineinander.
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Wordsworth die Isoliertheit des Dichters interessanterweise auf den Naturwissenschaftler („personal and individual acquisition“), während er mit „sing[s] a song in which all human beings join with him“ für sein eigenes Projekt eine Medialität vorsieht, die der Realität noch längst nicht entspricht. Dichtung zum ‚Miteinstimmen‘ wird Wordsworth erst in und mit der Excursion tatsächlich umsetzen können.31 Bis zu einem gewissen Grad kann Wordsworths Konzept eines wissenschaftlichen Theater(labor)s über den Entwurf eines totalen Wissens des Menschen hinausgehend aber bereits in den Lyrical Ballads weiter konkretisiert werden. Trotz des Anspruchs auf die Erarbeitung und Verbreitung eines Allwissens lässt sich angesichts von Wordsworths Interesse am Wissen über die menschliche Natur und seine Voraussetzungen, näherhin am menschlichen Geist, seine Episteme weiter ausführen, wenn man sie mit der zeitgenössischen Anthropologie und Psychologie in Beziehung setzt. Zudem kann dadurch wiederum die These einer humanwissenschaftlichen Wende auch der Kunst um 1800 exemplifiziert werden. An einer Stelle im „Preface“ formuliert Wordsworth ein Forschungsinteresse an den „primary laws of our nature“32 in und durch seine Versdichtung und legt damit den Bezug zur Anthropologie nahe. Wie Alan Bewell in seiner Studie zur Aufklärungsrezeption in Wordsworths Werk erläutert, entwickelte sich in der Moralphilosophie der schottischen Aufklärung ein Interesse an der menschlichen Natur, ihrer ursprünglichen Form, ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihren noch unrealisierten Potentialen. In diesem Zusammenhang wurde die wissenschaftliche Studie des Menschen eine Untersuchung anderer Menschen, schon um den Zusammenfall von wissenschaftlichem Subjekt und Objekt zu verhindern, aber auch, da vermutet wurde, dass der Ursprung der Menschheit in fremden Kulturen oder (anderen) ‚unterentwickelten‘ Menschen greifbar(er) sei: Anthropologie wurde Ethnologie, wie die heutige Bedeutung des englischen Wortes ‚anthropology‘ noch zeigt. Wie Bewell herausarbeitet, greift Wordsworth Teile dieses Programms auf, aber er gibt ihnen und dem Projekt der Anthropologie/ Ethnologie insgesamt eine provokative Wendung: Obwohl viele seiner Gedichte leidende Außenseiter beobachten, so sind dies doch – prononciert – Mitglieder der eigenen Gesellschaft, welche zudem in (intersubjektive) Beobachtungskonstellationen eingehen, in denen – zumindest versuchsweise – die Rolle von Beobachter und Untersuchungsobjekt, Zuschauer und Akteur, ständig wechselt: Wordsworths Anthropologie, so Bewell, ist daher „domestic anthropology“33 in
31 Vgl. 4.6.3. 32 Wordsworth 1992: 743. 33 Bewell 1989: 31.
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doppelter Hinsicht und ihr radikaler Schritt zu einer (auch historischen) Phänomenologie des Forschergeistes selbst, wie sie das Prelude unternimmt, letztlich nur eine logische Folgerung.34 Die Wendung der Menschenkunde in den menschlichen Geist lässt bereits erahnen, dass Wordsworths Anthropologie sich mit einer weiteren zu seiner Zeit emergenten Wissenschaft vom Menschen, nämlich der Psychologie, verband.35 Schon in den Lyrical Ballads gilt sein Interesse, wie bereits angesprochen, den „fluxes and refluxes of the mind when agitated“.36 In diesem Ausdruck klingt nicht zufällig Rivers’ Interesse am „mind of man upturned“ nach: Wordsworth profiliert in wenigen Worten eine neue Psychologie, die wie Rivers fasziniert ist vom durch Leiden erregten Geist, durch das intersubjektive Hin und Her zwischen eigener und fremder Psyche, auf welches „fluxes and refluxes“ vielleicht sogar anspielen37, die gewaltsame Riverssche Übertragung aber verhindern möchte. Letztlich gehen Anthropologie und Psychologie in Wordsworths Textexperimenten38 eine Einheit ein, deren Provokation nicht nur in der damit praktizierten ‚Interdisziplinarität‘ liegt, sondern auch in der gegenseitigen Infragestellung, die sich daraus ergibt: In Wordsworths Theater der Intersubjektivität wird die Psychologie zur Inter- oder Transpsychologie mehrerer Geister und umgekehrt die Anthropologie zur Menschenkunde des eigenen Geistes – beides lässt sich nicht voneinander trennen. Zugleich überrascht es nicht, dass die von Bewell und Averill auf ihre Anthropologie und Psychologie hin untersuchten Gedichte genau diejenigen sind, die Wordsworth selbst als exemplarische Stücke seines Menschentheaters in Lyrical Ballads bezeichnet und im oben referierten Zusammenhang von Dichter-Spontaneität und der Erkundung basaler menschlicher Gefühle als zentrale Exempel seiner lyrisch-dramatischen Poetik betrachtet.
34 So wird aus der anthropology des anderen eine (philosophische) Anthropologie des ‚Selbst‘ – in mehrfacher Hinsicht (vgl. Bewell 1989 passim). 35 Vgl. zur Rezeption der Psychologie in den Lyrical Ballads vor allem Averill 1980. Laut Averill ist auch Wordsworths psychologisches Projekt das einer (Mit-)Untersuchung der Beobachter, nämlich Dichter und Leser, etwa durch eine bewusst experimentelle Sprache, die einerseits den für wissenschaftliches Vorgehen notwendigen experimentellen Charakter hat, andererseits aber auch Dichter und Leser ‚tiefenpsychologisch‘ analysierbar macht (147–180). Wie sich in meiner Analyse von „Simon Lee“ aber zeigen wird, erstreckt sich diese Analyse des Therapeuten vor allem auf den Dichter und bleibt bei der Instanz des Lesers eher vage. 36 Wordsworth 1992: 745. 37 Gemeint ist zunächst die Bewegtheit des Dichter-Geistes – allerdings, wie oben analysiert, beim Nachspüren der Seelen anderer! 38 Wordsworth bezeichnet die Lyrical Ballads im ersten Satz des „Preface“ als „experiments“ (Wordsworth 1992: 741).
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Die nun folgende Interpretation, die die Konturen von Wordsworth politischepistemischem Theater des Menschen39 in der Praxis herausarbeiten möchte, berücksichtigt drei dieser zentralen Lyrical Ballads.40 Die Auswahl ist auch insofern paradigmatisch, als in ihr die Formen bzw. Entwicklungsschritte von Wordsworths Theater des Menschen augenscheinlich werden, nämlich der dramatische Monolog in „The Mad Mother“, das halb präsentische, halb narrative Begegnungsgedicht „Simon Lee“, Gedichte in Dialog- („Expostulation and Reply“) bzw. Dramenform („The Brothers“) und zuletzt, mit „The Old Cumberland Beggar“, eine Mischform aus diesen, die das Wordsworthsche Text-Theater der für die Lyrical Ballads erreichbaren Zwischenlösung zuführt.41 Eingeleitet werden soll dieser Durchgang durch die Lyrical Ballads aber durch eine Interpretation der beiden Eröffnungsgedichte der Sammlung. In diesen Gedichten erfährt Wordsworths Theater des Menschen gewissermaßen seine Exposition in all seinen Potentialen und Problemen.
39 James Phillips (2010) arbeitet aus dem „Preface“ Wordsworths ebenfalls ein poetisches, über das Subjekt(ive) weit hinausgehendes Gemeinschaftsmodell heraus, das bewusst epistemische mit politischen Dimensionen verbindet. Während Phillips bei diesem Modell, das er „fraternity of joy“ nennt und als eine postrevolutionäre Version des „body politic“ beschreibt, den philosophischen Bezug zur Natur überzeugend darlegt, fehlt m.E. eine Erkundung von Wordsworths Verständnis des Politischen (Umfasst es etwa, so könnte man Phillips verstehen, neben der menschlichen Gemeinschaft auch die Natur?) sowie von Wordsworths Konzeptionen, wie ein solcher Bruderbund ästhetisch-medial konkret umzusetzen sei. Die letzteren beiden Aspekte werden in der vorliegenden Studie eingehend thematisiert. Zudem bestimmt Phillips Dichtung und Wissenschaft bei Wordsworth tendenziell eher als Gegensatzpaar (v.a. 619), während nach meinem Dafürhalten in Wordsworths Theater des Menschen Wissenschaft vom Menschen ja gerade ermöglicht und praktiziert wird. 40 Wordsworth erwähnt „We Are Seven“, The Childless Father“, „Poor Susan“, „The Two Thieves“, „Two April Mornings“, „The Fountain“, „Old Man Travelling“, „Idiot Boy“, „The Complaint of a Forsaken Indian Woman“, „The Mad Mother“, „Simon Lee“ und „The Brothers“. Von diesen Gedichten werden die letzten drei in dieser Studie eingehend analysiert und die zwei davor genannten zu diesen Analysen in Beziehung gesetzt. Darüber hinaus geht „Old Man Travelling“ in „The Old Cumberland Beggar“, das hier ebenfalls ausführlich interpretiert wird, teilweise auf. 41 Nicht berücksichtigt werden hier zum einen epigrammatische Gedichte (vgl. zur Theatralität des Epigramms aber die Interpretation von The Excursion, vor allem 4.3.3) und zum anderen Gedichte, die auf die Gegenwartsebene eines als autobiographisch inszenierten lyrischen Sprechers zentriert sind, also lyrische Texte im engeren Sinne. Es handelt sich bei diesem Typus aber auch nur um zwei Texte, nämlich um das berühmte „Tintern Abbey“-Gedicht sowie um die viel weniger bekannten „Lines Written at a small distance from my house“. Trotz der Bekanntheit von „Tintern Abbey“ ist dieser Typus als weniger wichtig für die Lyrical Ballads und ihre Theatralitätskonzepte anzusehen. Virulent wird die Theatralität eines präsentischen Subjekts erst im Prelude, dem ein eigenes Kapitel dieser Studie gewidmet ist.
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4.1.2 Programmatische Eröffnung von Wordsworths Theater des Menschen In ihrer zweibändigen Fassung ab 1800 beginnen die Lyrical Ballads mit zwei kurzen Gedichten, in denen die weltanschauliche und wissenschaftliche Position Wordsworths – auch über die Form der Texte – herausgestellt wird. Wordsworth inszeniert diese Gedichte, die in der Erstausgabe von 1798 schon enthalten waren, ab 1800 demnach als programmatische Eröffnungsgedichte, die die neue Episteme nicht nur beinhalten, sondern auch formal umsetzen. Die Verbindung von theoretischer Philosophie und philosophischer Praxis erweist sich aber als schwierig. Das erste dieser beiden Gedichte, „Expostulation and Reply“, hebt mit dem Dichter an, aber in programmatisch anderer Weise als von der Tradition her zu erwarten: Der Dichter spricht nicht – er wird angesprochen und visualisiert: “Why, William, on that old grey stone, “Thus for the length of half a day, “Why, William, sit you thus alone, “And dream your time away?42
William, eine intradiegetische Figur des Dichters William Wordsworth, wird hier, a priori gewissermaßen, zum Objekt der Wahrnehmung und zum Partner in einem Dialog. Der vielbeschworene „Poet“ des „Preface“ beginnt seine Textsammlung nicht als distanzierter Beobachter, sondern als beobachteter Akteur, was den innovativen und theatralischen Charakter der nachfolgenden Gedichte betont. Gemäß Wordsworths intersubjektiver (Theater-)Poetik muss der Beobachtete/Angesprochene seinerseits zum Beobachter und Sprecher werden, ein Dialog der Meinungen, aber auch der Gefühle, sollte sich entspinnen.43 In diesen Dialog werden nun zwei umfassende Denkmodelle eingespeist, von denen eines, wie wir gleich sehen werden, genau jene buchlastige und – in mehrfacher Hinsicht – isolierende traditionelle Wissenschaft ist, von der Wordsworth sich im „Preface“ ja bereits programmatisch distanziert hat. Das andere ist Wordsworths dialogisch-intersubjektive Episteme, welche mit „wise passiveness“ (108, l. 24)44 paraphrasiert und folgendermaßen charakterisiert wird:
42 Wordsworth 1992: 107f. 43 Schon in den zwanziger Jahren hatte sich die Forschung auf den dramatischen Charakter des Gedichts verständigt (Pancoast 1922 in Reaktion auf Campbell 1921, dazu auch Sheats 1973: 208f.) und diskutierte vor allem, ob diese Form die Philosophie des Gedichts unterminiere oder nicht. 44 Angaben zu Gedichten aus den Lyrical Ballads beziehen sich auf Wordsworth 1992. Versangaben werden durch „ll.“ eingeleitet.
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“The eye it cannot chuse but see, “We cannot bid the ear be still; “Our bodies feel, where’er they be, “Against, or with our will. (108, ll. 17–20)
Wordsworth umreißt die primäre Aufnahmebereitschaft des menschlichen Subjekts vor allem somatisch, indem das Subjekt auf seine untrennbare Verbindung mit der menschlichen Physis, seine Doppelnatur als Geist-Körper hingewiesen wird. Allerdings hat dieses Doppelwesen zuvor etwas vernehmen müssen, was seiner „wise passiveness“ widerspricht und sie letztlich zum Stillstand bringen würde: “Where are your books? that light bequeath’d “To beings else forlorn and blind! “Up! Up! and drink the spirit breath’d “From dead men to their kind. (108, ll. 5–8)
William wird hier von seinem Dialogpartner Matthew, einer fiktiven Figur, die trotz beträchtlicher Forschungsbemühungen nie eindeutig auf eine realweltliche Person zurückgeführt werden konnte45, dazu ermahnt, aufzustehen und aktiv zu werden – um Bücher zu lesen. Einerseits ist dieser Appell berechtigt und richtig, denn er reißt den intradiegetischen Dichter aus einsamer Naturbetrachtung, gibt der „wise passiveness“ ihre Ausrichtung auf einen anderen Menschen, nämlich Matthew, und beginnt damit jene Interaktivität, auf die es den Lyrical Ballads ankommt. Auf ihrer Inhaltsseite zerstört Matthews Intervention dann aber gleich wieder jene Dialogizität, die sie anstößt: Die Offenheit und Austauschbereitschaft Williams hätte nämlich ein Ende, wenn er dieser Aufforderung Folge leisten würde, selbst wenn sie mit dem Bild vom gehauchten Geist als Plädoyer für ein lebendiges Wissen verbrämt wird. William würde sich fortan über wissenschaftliche Publikationen beugen, in denen tote Männer sich verewigt haben, und wäre für die Interaktion mit lebenden Menschen verloren. Die intersubjektive Episteme eines lebendigen Wissens vom Menschen würde hier genau an dem Punkt von ihrem wissenschaftlichen Widersacher übermannt, wenn sie das praktizierte, was sie selbst predigt, nämlich Offenheit. Zugleich rückt die Metapher vom geatmeten Geist die ‚Buchwissenschaft‘46 in gefährliche Nähe zur „wise passiveness“,
45 Vgl. den Forschungsüberblick in Wordsworth 1992: 355f. 46 Mit den „books“ sind Werke der „moral philosophy“ der schottischen Aufklärung gemeint, wie Wordsworth im kurzen „Advertisement“ der Ausgabe der Lyrical Ballads von 1798 expliziert (Wordsworth 1992: 739). Damit wird die von Bewell nachgezeichnete Überwindung der Anthropologie der schottischen Aufklärung in den Lyrical Ballads hier gerade auch im Bezug auf ihre
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zumal letztere an dieser Stelle selbst auf das Buch, das Buch der Lyrical Ballads, als Vermittlungsform angewiesen ist. Wordsworth entgrenzt hier nicht nur metaphorisch, sondern auch auf formaler Ebene sein eigenes Weltbild in genau diejenige Episteme, die er eigentlich als konträr ansieht und zu überwinden trachtet. Eine Lösung für dieses Problem ergibt sich, indem das Gedicht das Aufgreifen der traditionellen Wissenschaft (und den Angriff durch sie) explizit macht und William nach der Profilierung der „wise passiveness“ die Ausgangsfrage am Ende des Gedichts in seiner Stimme wiederholen und damit seinerseits eine feindliche Übernahme vornehmen lässt: “—Then ask not wherefore, here, alone, “Conversing as I may, “I sit upon this old grey stone, “And dream my time away.” (ll. 29–32)
Die traditionelle Wissensordnung ist damit zum Schweigen gebracht, gegen die Regeln des Dialogs, seine Offenheit und Endlosigkeit aber auch verstoßen worden. Von der Inszenierung eines zwischen Handeln und Zuschauen oszillierenden und nicht abschließbaren intersubjektiven Geschehens in diesem Gedicht kann nur bedingt die Rede sein, selbst wenn in diesen Abschlussversen eine Betonung zwischenmenschlichen Austauschs („[c]onversing as I may“) das Zitat der Stimme des Gegners noch einmal durchbricht. Wordsworths programmatische textuelle Auseinandersetzung mit einem gegnerischen Wissensprogramm unterminiert demnach sein eigenes Vorhaben eines Menschentheaters, indem es auf mehreren Ebenen dessen Offenheit untergräbt und es zudem implizit auf die eigene ‚Buchhaftigkeit‘ stößt, die es eigentlich verzweifelt hinter sich lassen möchte. Das nachfolgende Gedicht lässt durch seinen Titel „The Tables turned; an Evening Scene, on the same subject“ erkennen, dass es ein noch ungelöstes Problem wieder aufgreift und nun endgültig den Spieß umkehrt. Allerdings lässt die Form eines durchgängiger (dramatischen) Monologs, der nicht mehr in zitierter Rede erscheint, ahnen, dass Wordsworth auf diesem Weg nicht zu einem (praktizierten) Theater des Menschen kommen wird. In acht Balladenstrophen wird gegen das Buchwissen gewettert und als Gegenmodell ein menschlich-subjektiver Austausch mit der Natur ausgemalt. Drei davon im Zitat:
Praxis (lebendiger Austausch statt Buchwissen!) bestätigt – allerdings nur bedingt, wie wir sehen werden.
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Books! ’tis a dull and endless strife, Come, hear the woodland linnet, How sweet his music; on my life There’s more of wisdom in it. […] [Nature] has a world of ready wealth, Our minds and hearts to bless— Spontaneous wisdom breathed by health, Truth breathed by chearfulness. […] Enough of science and of art; Close up these barren leaves; Come forth, and bring with you a heart That watches and receives. (109, ll. 9–12, 17–20 u. 29–32)
Wordsworth verändert demnach die Konstituenten seines Austauschgeschehens, indem er das menschliche Subjekt (zurück) in ein intersubjektives Verhältnis zur umgebenden Natur stellt: Diese Verschiebung ist ein problematisches Charakteristikum von Wordsworths Werk, das uns im Prelude noch eingehend beschäftigen wird47 – der Naturaustausch wird dabei zum Ersatz für den Austausch mit einem anderen Menschen. Auch hier liegt der Verdacht nahe, dass Wordsworth von der „conversation“ unter Menschen abrückt, um deren Unterminierung seiner Programmatik zu vermeiden: Die Natur als Austauschpartner kann nicht plötzlich und ohne, dass man weghören dürfte, von der traditionellen, buchgestützten Wissenschaft sprechen. In den Imperativen des hier zitierten Ausschnitts wird ein Gegenüber zwar durchaus angesprochen. Aber auch dieser bleibt stumm, so dass auch der neben Matthew48 andere Adressat des Gedichts, nämlich der/die Leser/in, sich angesprochen fühlen kann. Wordsworth übersteigt hier die komplexen Dialogprobleme des ersten Gedichts, indem er einen Austausch mit der Natur beschreibt und von einem Dialog mit der anderen Episteme zu einem Austausch mit der Natur und einem Dialog mit den Lesern wechselt. Diese mögen sich durch die letzten Zeilen des Gedichts, ihren nachdrücklichen Appellcharakter und die intensiv(iert)e Balladenform, die strophisch, metrisch und vom Reim her die beiden Schlüsselwörter
47 V.a. bei der Analyse der Mount Snowdon-Episode in 4.2.5. 48 Matthew wird in der Kommnikationssituation des Gedichts nicht expliziert. Vgl. zur (problematischen) Intersubjektivität mit expliziten Adressaten in Wordsworths Versdichtung die Analyse des Prelude, vor allem 4.2.4.
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„watches“ und (vor allem) „receives“ stark betont49, angesprochen fühlen, in den Dialog zu treten und damit das Theater des Menschen zu (er)füllen. Allerdings rufen diese Zeilen semantisch zum Zuklappen des Buches auf, was bei Befolgung diesen Dialog wiederum verhindern würde (ironischerweise aus genau gegenteiligen Gründen als im vorausgehenden Gedicht) und ein weiteres Mal – und diesmal gewissermaßen von der anderen Seite – darauf hinweist, dass das hier ein Buch und noch kein Theater des Menschen ist. Form und Inhalt untergraben einander: Wordsworth kann seine Programmatik nicht gleichzeitig predigen und praktizieren.50 „Expostulation and Reply“ und „The Tables Turned“ nehmen letztlich noch eine Zwischenstellung zwischen expositorischem „Preface“ und poetischen Lyrical Ballads ein. Wordsworths Theater an sich braucht aber andere Inhalte als die programmatische Auseinandersetzung über alte und neue Wissenskonzepte (selbst mit Dialogpartnern), um zu funktionieren, nämlich gewissermaßen lebendige(re) Menschen – damit es diese und sich selbst epistemisch und politisch repräsentieren kann.
4.1.3 Tragödien des Volkes, Theater des Selbst Wordsworth, so scheint es, setzt dieses Desiderat sofort um: In der Ausgabe von 1800 sind die auf die Programmgedichte unmittelbar folgenden Gedichte bereits Tragödien von Menschen, nämlich „Animal Tranquillity and Decay“, ein Begegnungsgedicht, sowie „The Complaint of a forsaken Indian Woman“, wie „The Tables Turned“ ein dramatischer Monolog. Wordsworths Tragödie des Volkes ist hier demnach in den zentralen Konstituenten ‚Begegnungsgedicht‘ und ‚dramatischer Monolog‘ sogleich exponiert. Wir wollen unsere Untersuchung dieser Tragödie und ihrer weiteren Implikationen für Wordsworths Theater des Menschen mit dem letzterem beginnen, da der dramatische Monolog, wie wir sehen werden,
49 „[R]eceives“ befindet sich strophisch, metrisch, vom Reim her und im Bezug auf das Gedicht insgesamt auf der auffälligen, nachwirkenden Endposition. Metrisch auffällig ist auch das Interplay von Vers- und Wortbetonung (steigendes Metrum, fallende Betonung) bei „watches“ und die Übereinkunft der beiden Betonungen bei „receives“, so dass sich bei den beiden Schlüsselwörtern eine Art chiastisches Betonungsmuster ergibt (wátches, recéives), das die Endakzentuierung noch unterstreicht. Wordsworth selbst schreibt im „Preface“, das Metrum – und implizit die formalen Mittel von „poetry“ generell – dienten u.a. dazu, „to impart passion to the words“ (Wordsworth 1992: 756), um damit die Leseranbindung zu erhöhen. 50 Auch Thomas Pfau (1997: 199) sieht die alternative Episteme als eine poetische. Allerdings geht er ähnlich wie ich davon aus, dass in den beiden Gedichten letztlich ihr Scheitern als praktizierte Predigt vorgeführt wird.
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einer früheren ‚Schicht‘ der Lyrical Ballads zugehört und mit den Borderers noch enger verbunden ist als die Begegnungsgedichte. Diese werden uns im Anschluss an die Monologe beschäftigen.
4.1.3.1 Tragische Monologe: „The Female Vagrant“, „The Mad Mother“ „The Female Vagrant“ ist der älteste Text in den Lyrical Ballads und letztlich in ein vorgängiges Projekt gehörig, nämlich ein narratives Langgedicht, das bereits in der ersten Hälfte der 1790er Jahre entstanden ist, aber erst nach umfangreichen Überarbeitungen 1842 als Guilt and Sorrow; or Incidents upon Salisbury Plain veröffentlicht wurde.51 Damit fällt das Gedicht in die Zeit vor den Borderers, die in diesem Sinne bereits eine Weiterentwicklung von „The Female Vagrant“ darstellen. Als dramatischer Monolog inszeniert das Gedicht die direkte Rede der Stimme eines literarischen Charakters. Allerdings erzählt diese Stimme vor allem von der Vergangenheit, in der die Vagabundin die tragischen Gründe für ihren ‚jetzigen‘ Zustand darlegt, sich aber nur ganz selten auf eine Gegenwartsebene bezieht oder bewegt. Zudem wird die Diegese von „The Female Vagrant“ nicht von einem Ich-, sondern einem unpersönlichen, also extradiegetischen Erzähler in der 3. Person abgerundet. Gegen Ende des Gedichts heißt es: And now across this moor my steps I bend— Oh! tell me whither—for no earthly friend Have I.—She ceased, and weeping turned away, (58, ll. 265–267)
Die im Gedicht zuletzt endlich erreichte Gegenwartsebene des Ich erweist sich also als einer weiteren Handlungsebene in der Vergangenheit unterworfen, was die Form des dramatischen Monologs endgültig durchbricht. „The Female Vagrant“, ist einem unpersönlichen, quasi subjektlosen Erzählen unterstellt und von einem intersubjektiven Theater noch weit entfernt. Allerdings stellt das Gedicht eine Urstufe von Wordsworths Tragödie des Volkes dar, die sich, wie wir sehen werden, auf der Vermittlungsseite noch stark weiterentwickeln wird. In den Borderers wird dieses Substrat, etwa in den Auftritten der dortigen Bettlerin, in den Zusammenhang eines Dramas gestellt und damit der Beginn der Tragödie des Volkes wirklich eingeläutet – allerdings in der dortigen bereits analysierten Entwicklung zu einem gekauften Theater simulierten Leids, das melodramatisch so übersteigert ist, dass es die tragische Katastrophe auslöst. Auf-
51 Wordsworth 1992: 50–58. Vgl. zu den Problemen einer genaueren Datierung Wordsworth 1992: 343.
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gabe der Lyrical Ballads ist es nun, das Drama weiblichen Bettelns dem bereits erwähnten „jacobinical pathos“ zu entreißen und in ein „pathos of humanity“ zu überführen, was im Sinne der intersubjektiven Überdeterminierung von Wordsworths Theaterprojekt eine menschliche Auseinandersetzung mit dem Leiden anderer Menschen und der Menschheit insgesamt meint. Dabei bleibt die wichtigste Voraussetzung der Tragödie des Volkes, nämlich die Würdigung des Leids nichtadeliger Charaktere, bestehen, aber dieses Leid muss in einen zutiefst menschlichen Darstellungsmodus überführt werden, der es authentisiert und vom dargestellten Leiden(den) im Gegenzug selbst authentisiert wird. An sich ist der dramatische Monolog eine dem Drama nahestehende Form, was man daran erkennt, dass solche Monologe ohne Veränderung Teile eines größeren dramatischen Zusammenhangs werden können.52 Das macht solche Texte im – für Wordsworth auch unmittelbar historisch gesehen – herkömmlichen Sinne theatralisch, macht die Möglichkeit ihrer Authentizität bzw. Authentisierung aber aus demselben Grund fraglich. Die erwähnten Rahmung durch eine Vergangenheitsebene in „The Female Vagrant“ könnte in diesem Zusammenhang eine Lösung sein, bei der der Rahmenerzähler die gerahmte Stimme authentisiert – allerdings mit den geschilderten Folgen einer Distanzierung vom intersubjektiven Theater. In „The Mad Mother“, wo sich eine ähnliche Rahmung findet, wird dieses Problem explizit: Wordsworth lässt das Sprechen der „Mother“, wie wir sehen werden, selbst schon die Grenzen seiner selbst, seiner (inter)subjektiven Verbindlichkeit, ausweisen und auf ein fehlendes Gegenüber flehentlich verweisen. Wordsworths Theater ist unvollständig, da es letztlich den Zuschauer – sowie den Modus des Zuschauens – als Teil des Geschehens mitdramatisieren möchte. „The Mad Mother“ ist ein auf weibliche Nichtsesshaftigkeit bezogenes und damit thematisch eng an die Borderers und „The Female Vagrant“ angelehntes Gedicht. Der Text ist auf doppelte, allerdings auch problematische Weise authentisiert: Zunächst einmal gibt es eine – deutlich nachträgliche – Authentisierung im Paratext: In den „Fenwick Notes“, Kommentaren Wordsworths zu seinen Hauptwerken aus dem Jahre 1843, die er einer Bewunderin in die Feder diktiert hat, erklärt Wordsworth eine „Lady of Bristol“ zur Zeugin und daher Gewährsfrau für den in der „Mad Mother“ inszenierten Charakter.53 Daneben nimmt das Gedicht selbst wiederum eine Rahmung vor, die die wahnsinnige Mutter authentisieren soll – diesmal aber, indem das Gedicht sie in präsentischer Unmittelbarkeit vor den Leser stellt. Es beginnt folgendermaßen:
52 Daher wurden solche Monologe zu dieser Zeit auch als „monodramas“ bezeichnet, etwa Gedichte von Robert Southey (Parrish 1973: 115f.). 53 Vgl. Wordsworth 1992: 353.
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Her eyes are wild, her head is bare, The sun has burnt her coal-black hair, Her eye-brows have a rusty stain, And she came far from over the main. She has a baby on her arm, Or else she were alone; And underneath the hay-stack warm, And on the green-wood stone, She talked and sung the woods among; And it was in the English tongue. (88, ll. 1–10)
Anders als im „Female Vagrant“ steht die Rahmenhandlung hier also am Anfang des Gedichts; damit soll gewissermaßen der Weg freigemacht werden für die authentische Stimme einer mehrfach marginalisierten Frau – kulturell, sozial, und aufgrund ihres Geschlechts, das ihre Einsamkeit erst so prekär macht. Diese Rahmung steht größtenteils im Präsens54 und folgt daher nicht der Tradition des narrativen Präteritum. Sie erscheint eher als eine dramatische, Unmittelbarkeit erzeugende Setzung des Gedichts selbst und nicht als Einordnung in einen größeren narrativen Kontext. Zudem deutet sich mit dieser ‚Präsentierung‘ im Gedicht die Ebene einer externen Wahrnehmung an, welche aber – was für „The Mad Mother“ (als Gedicht und als Charakter) thematisch werden wird – nicht weiter ausgebaut wird. In Mittelpunkt des Textes steht nämlich die erregte Psyche einer isolierten, mit ihrem Kind alleingelassenen Mutter und deren „fluxes and refluxes“.55 Die Mutter wird zu einer tragischen Akteurin, für die die rein formale Notwendigkeit der Selbstbeobachtung56 als ihr Wahnsinn thematisch wird. Dieses Gedicht greift demnach das aus den Borderers bekannte Motiv des Wahnsinns einer verlassenen Mutter auf, vertieft es aber psychologisch und entlastet es zugleich, ganz im Sinne eines humanen Pathos, von offensichtlichem politischen Anklagecharakter, da der Vater, der die
54 Dieses Präsens wird in den letzten beiden Versen des Zitats von einer narrativen Vergangenheit, also einer „The Female Vagrant“ ähnlichen Erzählsituation abgelöst (das Präteritum „came“ in Vers 4 ist dagegen ‚tatsächliche‘ Vorzeitigkeit zum präsentischen Sprechen, also ein Teil von diesem). Diese wird aber nur noch angedeutet, da im Vers danach der dramatische Monolog der Titel-‚Heldin‘ anhebt und bis zum Ende des Gedichts weiterläuft. 55 Averill liest „Mad Mother“ als eine anthropologisch-psychologische Studie Wordsworths zur postnatalen Depression bei Frauen, wobei Wordsworth eine Theorie des zeitgenössischen Arztes und Biologen Erasmus Darwin zu Hilfe genommen habe (Averill 1980: 156). Wie meine Interpretation zeigen wird, hat ihr psychisches Leiden – gerade aufgrund ihrer Isolation – sehr viel weiter reichende Implikationen, die letztlich ihre Subjektivität als ganze in Frage stellen, und wird gerade dadurch (human)wissenschaftlich. 56 Formal wird Selbstbeobachtung nötig, da die Ebene einer Beobachtung durch einen Dichter/Erzähler (oder gar Leser) nur angedeutet ist.
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kleine Familie verlassen hat, abwesend ist und nicht näher charakterisiert wird, etwa als unmoralischer Adeliger.57 Nicht nur im Rahmen der fiktiven psychischen Prozesse, die das Gedicht inszeniert, sondern auch auf der Ebene seiner Kommunikationssituation wird der Säugling, den die Mutter bei sich trägt, zur Projektionsfläche und zum Publikum, die der Sprecherin die Selbsterfahrung erst ermöglichen: „[t]he babe I carry on my arm, / He saves for me my precious soul“ (90, ll. 47f.) formuliert die Mutter diese fatale Abhängigkeit ihrer Psyche vom Gegenüber des Kindes. In dieser Konstellation kommt die Wende – und damit die für den dramatischen Monolog typische dramatische Entwicklung des Gedichts –, als der Junge sich sattgetrunken hat und gewissermaßen vom Körper der Mutter abfällt: My little babe! thy lips are still, And thou hast almost suck’d thy fill. —Where art thou gone my own dear child? What wicked looks are those I see? Alas! alas! that look so wild, It never, never came from me: If thou art mad, my pretty lad, Then I must be for ever sad. (90, ll. 83–90)
Das Loslassen ihres Körpers empfindet die Mutter als Verrat durch ihren Sohn. Damit werden seine Blicke zu ‚wilden‘, die die ihrigen eben nicht mehr spiegeln – durchaus auch im real-physiologischen Sinne eines Widerscheins in seinen Augen. Diese Art des Wahnsinns58 würde die Mutter, wie sie am Ende des Auszugs zu Recht befürchtet, wohl tatsächlich traurig machen – sie verlöre den Bezug, der ihr Subjekt erst zu einem Subjekt macht. In der ‚Ablehnung‘ durch ihr Kind droht der Selbstverlust. Die Lösung der letzten Strophe sieht das Eingehen beider Subjektivitäten zu einem gemeinsamen Wir in die Natur vor; am selben Ort wird aber in einem wei-
57 Vgl. auch Jacobus 1976: 148 f.: „[Wordsworth] is moving away from the social victim, dwarfed by the injustice [s]he exists to expose, towards the human being and [her] individual capacity for suffering.“ Laut Jacobus geben Vorgängergedichte, etwa von Oliver Goldsmith, ihren Leidenscharakteren eine schematische und für eine gewisse gesellschaftliche Gruppe repräsentative Anklagefunktion. Wordsworth entfernt sich in der „Mad Mother“ tatsächlich von derlei politischer hin zu individualpsych(olog)ischer Repräsentation, muss erstere für sein Theater des Menschen in der Folge dann aber auch erst wieder erarbeiten. 58 Die Wahnsinnsunterstellung an sich ist natürlich eine Projektion einer selbst ‚Wahnsinnigen‘.
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teren Akt der Projektion auch der verzweifelt gesuchte Vater situiert – der tatsächlich benötigte Widerpart: [“]Oh! smile on me, my little lamb! For I thy own dear mother am. My love for thee has well been tried: I’ve sought thy father far and wide. I know the poisons of the shade, I know the earth-nuts fit for food; Then, pretty dear, be not afraid; We’ll find thy father in the wood. Now laugh and be gay, to the woods away! And there, my babe; we’ll live for aye.” (90; ll. 91–100)
Die Natur wird hier, wie bereits in „The Tables Turned“, zu einem Äquivalent des menschlichen Gegenübers, zugleich aber auch als ultimativer Projektionsgrund entlarvt, der das entflohene Kind aufnehmen, den verlorenen Vater wiederherstellen und der wiedervereinten Familie zu einer unauslöschlichen kollektiven Identität verhelfen soll, wobei die vorletzte Zeile mit ihren beiden zentralen Anapästen (zwischen zwei rahmenden Jamben) in seiner Marschhaftigkeit eine unheimliche, da völlig unrealistische Aufbruchsstimmung verströmt. Auf diese Weise erweist sich der Mensch nach „The Tables Turned“ zum zweiten Mal als das eigentliche Gegenüber des Menschen und die Natur nur als sein Surrogat. Natürlich sind solche Projektionen und die mit ihnen verbundenen Auflösungsfantasien traumatische Reaktionen eines Opfers, deren Genese im Verlust eines – in mehrfacher Hinsicht – essential other das Gedicht ja gerade nachzeichnen will: Die Mutter ist wahnsinnig geworden, da sie vom Partner und Vater ihres Kindes verlassen worden ist. Und doch liegt in diesen Projektionen – und ihrer Tendenz einer gewaltsamen ‚Verspiegelung‘ eines völlig hilf- und ahnungslosen Kindes – auch etwas von Rivers’ Verbrechen gegen Mortimer, deren Herkunft in einer (bei Rivers freilich selbstverschuldeten) Traumatisierung hier im Gegenzug ebenfalls ahnbar wird. Letztlich droht dem Menschen ohne das Gegenüber der Selbstverlust, eine Katastrophe, gegen die er sich, wie Wordsworth drastisch zeigt, mit aller Gewalt wehrt. In den Lyrical Ballads wird dieses Defizit nun aber nicht wie in den Borderers gewaltsam ausgeglichen, sondern im Gegenteil sogar auf die kommunikative Ebene des Textes gehoben und damit weiter exponiert. Die Versuche der Mutter, sich mit/vor ihrem Kind als Zuhörer zu etablieren, scheitern an dessen Verständnislosigkeit und erweisen sich als gewaltsame Schaffung eines Gegenübers. Der Verdacht, ungehört zu verhallen bzw. ein Gegenüber zu erzwingen, fällt davon ausgehend auf den dramatischen Monolog insgesamt und diskreditiert die Gattung als adäquate Repräsentation des Menschen. In dieser Hinsicht
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spielen Form und Inhalt, dramatischer Monolog und dramatisierte Psyche, in „The Mad Mother“ zusammen und begehen beide eine gewissermaßen unvermeidliche Selbstauslöschung. In dieser selbstausgewiesenen Unbrauchbarkeit wird der dramatische Monolog damit für Wordsworth zuletzt eminent brauchbar, wird er doch zu einer Form, die mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Notwendigkeit zum Ausdruck bringt, sie selbst hin zu Wordsworths formalen Innovationen im Begegnungsgedicht zu übersteigen. Die Frage nach der Authentizität des dargestellten Leids wird nicht eindeutig positiv beantwortet, zugleich aber auch auf eine höhere Ebene gehoben: Die Form des ‚einsamen‘ Monologs impliziert natürlich zunächst einmal Authentizität – vor wem sollte sich die Frau verstellen? Allerdings deutet die Rahmung „She talked and sung the woods among“ doch einen externen Zuhörer, zumindest einen overhearer an. Und auf dieser Ebene liegt auch die Beschreibung ihres – eher unbestimmt – exotischen Äußeren59, welches sie wiederum in die Nähe der ‚verkleideten‘ Bettlerin in The Borderers rückt. Jedoch entlarvt Wordsworth eine derartige Herangehensweise an die Frage wiederum als oberflächlich, indem das Gedicht insgesamt zum Ausdruck bringt, dass es für das Subjekt selbst um das Problem des Authentischen geht, dass die Frage der Verkleidung also nicht nur die Wahrnehmung der anderen betrifft, sondern schlicht auch die Selbstwahrnehung: Die „Mad Mother“ verstellt sich (ohne freilich anders zu können) vor sich selbst, ist sich selbst verstellt – auch und gerade wenn sie nur mit sich selbst spricht. Menschliches Leid wird für das Subjekt erst erträglich und verfügbar (und damit auch ‚authentisch‘), wenn es in einem mitfühlenden anderen gespiegelt – und nicht nur vom einem vagen Zuhörer/Zuschauer ‚mitbekommen‘ – wird. In Wordsworths Theater ist also ein Hineinziehen des Betrachters auf allen Ebenen konstitutiv nötig, da nur so die Kombination von Verfügbarmachung und Authentisierung von menschlichem Leid möglich ist, die den Menschen für andere und sich selbst überhaupt zum Menschen macht. Wie wir gesehen haben, muss Wordsworth für dieses Theater die Bühne meiden, da dort die Präsentation von authentischem Leid konstitutiv unmöglich ist, und in den Text ‚ausweichen‘. Das bedeutet allerdings gerade nicht, dass er damit
59 Das exotische Element des Gedichts steht auch in Zusammenhang mit der fehlenden Begegnung: Wordsworth siedelt das Gedicht deutlich zwischen einem Hier (England) und einem Dort („the main“, exotisch-‚zigeunerhaftes‘ [?] Aussehen der Frau) an, belässt das Subjekt des Gedichts also auch in kultureller Hinsicht in einem liminalen Dazwischen und versagt ihm die eindeutige Zugehörigkeit zu einem ‚Volk‘. Damit wird ein Scheitern dieses Abschnitts in Wordsworths Tragödie des Volkes auch in politischer Hinsicht (als politische Repräsentation) angedeutet – allerdings zur Legitimation und Ermöglichung poetischen Fortschritts, durch den sich das Theater des Volkes zuletzt erfüllt.
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auch das Theater an sich hinter sich lassen und ‚reine‘ Lyrik schreiben kann. Im Gegenteil: Eine intersubjektive Oszillation von Handeln und Zuschauen erweist sich als epistemologisch und ästhetisch unhintergehbar – und wird damit zum zentralen Postulat für die neue, volksnahe und ‚verbindliche‘ Versdichtung, die Wordsworth vorschwebt. Diese Dichtung muss also bis zu einem gewissen Grad theatralisch sein, das herkömmliche Theater aber auch hinter sich lassen, da dort ein Changieren der Positionen von Schauspieler und Zuschauer eben nicht möglich ist und ferner ein Fiktionalitätsdiktat herrscht. Wordsworth will, dass in und mit seiner Dichtung das zuschauende Subjekt in die Handlungsebene eintritt und dadurch aus den ‚Akteuren‘ echte Menschen macht, nämlich gleichermaßen handelnde und zuschauender Subjekte. Schon in The Borderers wird der Zuschauer ja auch auf die Inhaltsebene gezogen, was dort aber noch höchst negative Folgen zeitigt: Rivers lässt sich ja nicht auf eine gegenseitige Authentisierung von Handeln und Zuschauen mit Mortimer ein; vielmehr stempelt er ihn zum reinen Akteur einer fremden Sache ab60, um in dieser künstlichen Trennung von Zuschauen und Handeln (und damit auch Mortimers von sich selbst) seiner selbst ansichtig werden zu können. In den Lyrical Ballads soll diese Art der Katastrophe überwunden werden, indem eine primäre betrachtende Offenheit für (Er-)Leben und (Er-)Leiden des anderen, die Rivers völlig abgeht, auch das eigene Leid und Leben verfügbar macht, für andere wie für einen selbst. Wordsworths Theater ist dabei in fundamentalem, aber auch problematischem Sinne intermedial, da es nicht nur lyrisch-subjektiven Wahrnehmungsund theatralischen Handlungsmodus ineinander entgrenzt, sondern die unhintergehbare Notwendigkeit dieser Kombination erweist. Damit hat Wordsworth sich für seine Dichtung eine ungeheuer komplexe Aufgabe gestellt, die unter anderem darin besteht, beide Medien, Text und Theater, aneinander weiterzuentwickeln. Allerdings hat bereits Robert Langbaum diese Art von intermedialer Zusammenarbeit als konstitutiv nicht nur für die romantische Versdichtung, sondern für die Darstellung von Subjektivität nach der Aufklärung allgemein erklärt.61 Laut Langbaum wurden durch die wissenschaftlichen Objektivierungs-
60 Mortimer ist natürlich nicht die ganze Handlung hindurch Akteur, sondern ebenfalls Zuschauer (etwa der ‚Untaten‘ seines Fast-Schwiegervaters Herbert). Allerdings beruht gerade die (Perversion der) Theaterkonstellation von Rivers darauf, dass er ihn an seiner statt (passiv, unbewusst, automatisch) handeln lässt. 61 Zwar spricht Langbaum durchweg von „drama“ bzw. „dramatic“, meint aber eine theatralische Inszenierung von Subjektivität, die das Drama letztlich gar nicht umsetzen könnte. Impliziert ist damit das in der vorliegenden Studie erstmals ausführlich erschlossene Theater des Subjekts – allerdings ohne dessen intersubjektive Komponente.
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projekte der Aufklärung Subjekt und Welt auseinandergerissen, so dass das Subjekt fortan nicht nur seine Erfahrung der Welt, sondern auch sich selbst objektivieren musste: Darstellungsmodi, in denen eine subjektive Perspektive/ Stimme seine Erfahrung und sich selbst entwirft und damit objektiviert, sind die Folge.62 Exemplarisch für derartige Weltzugänge ist für Langbaum das sogenannte „dramatic lyric“, das schon im letzten Drittel des 18. Jahrhundert – und a fortiori mit den Experimenten Wordsworths63 – zur dominanten literarischen, ja: kulturellen Gattung des Weltzugangs des einzelnen wird, und dabei auch sein Gegenstück, das „lyrical drama“, letztlich dominiert.64 Wie meine Analyse eines wichtigen dieser frühen dramatischen Monologe aber zeigt, exponiert diese Gattung – zumindest bei Wordsworth – gerade ihre Unfähigkeit, ‚ihr‘ Subjekt an sich selbst zu objektivieren, und ruft daher nach einem anderen Subjekt, das es beobachtend objektivieren möge (damit es von ihm im Gegenzug ebenfalls objektiviert werde).65 Das nachaufklärerische Subjekt braucht daher einen intersubjektiven Modus, dessen Erarbeitung bei Wordsworth Langbaum übersieht. Auch Stephen Parrish beschränkt in seiner ansonsten bahnbrechenden Untersuchung zur Dramatik der Lyrical Ballads deren Dramatisches auf den dramatischen Monolog 66 und erkennt ab 1800 eine ‚nach-dramatische‘ Phase Wordsworths, die Texte wie „The Brothers“, aber auch „The Old Cumberland
62 Langbaum setzt als aufklärerisches Zentraldogma das isolierte Subjekt und die Unzugänglichkeit der objektiven Realität für dieses Subjekt an. Dennoch ist der romantische Subjektivismus laut Langbaum ein historisches Missverständnis (Langbaum 1985: 28). Vielmehr ist der Drang des Subjekts, isoliert in einer von verbindlichen Wahrheiten entleerten Welt und unter einem Bruch zwischen den subjektiv( gefühlt)en Werten und (entsprechenden) Objektivierungen in der Welt leidend, der nach Objektivierung. Alle nachaufklärerische Philosophie und Versdichtung ist erfüllt von einem Drang nach Objektivität, der sich aus dem alleingelassenen bzw. auf seine (rein physiologischen) Gefühle zurückgeworfenen (und damit, etwa bei Hume, auch leugbaren) Subjekt äußert. Wie wir gesehen haben, deutet Wordsworth diesen Objektivitäts- aber in einen Intersubjektivitätsdrang um. 63 Auch Bialostosky verzeichnet bei Wordsworth das Projekt einer lyrisch-dramatischen Mischform (Bialostosky 1991: 32–36). 64 Das „lyrical drama“, d.h. das Lesedrama der Romantik, sieht Langbaum letztlich als „dramatic lyric“ eines übermächtigen Subjekts, dem gegenüber die anderen dramatischen Charaktere nur niedere Objekte sind (Langbaum 1985: „The Dramatic Lyric and the Lyrical Drama“, 38–74). 65 Langbaum erwähnt „Mad Mother“ auch (71f.), versucht es aber gerade aufgrund seiner visuellen Rahmung von seiner Konzeption des „dramatic lyric“ auszunehmen – übersehend, dass gerade diese Visualisierung Andeutung eines neuen Theaters der Intersubjektivität ist! 66 Parrish fasst erstaunlicherweise vor allem die balladenhaften Gedichte mit einem greifbaren Erzähler als dramatische Monologe auf (etwa „The Thorn“; Parrish 1973: 95–114) und vernachlässigt dadurch die frühen von den Borderers beeinflussten Psychodramen.
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Beggar“ letztlich aus dem Theater Wordsworths ausklammert.67 Sein Schüler James Averill dagegen untersucht (mit impliziter Kritik an Parrish) gerade die Begegnungsgedichte als neue Tragödien Wordsworths, erkennt er in diesen doch ein „pathos that not only appeals to crude emotion but also dramatizes the power of mind in its engagement with tragic materials“.68 Wordsworths Theater des Menschen ist eines, muss eines sein, das tragisches Handeln und bewegtes Zuschauen miteinander verbindet, wobei, wie „The Mad Mother“ lehrt, beides bei beiden beteiligten (emergenten) Subjekten vorhanden sein muss: In Wordsworths Theater der Begegnung, das wir im nächsten Abschnitt an „Simon Lee“ exemplarisch untersuchen werden, werden Zuschauer und Akteure letztlich aneinander zu Subjekten, in denen die Akteure die (Selbst-)Betrachtung, die Zuschauer aber das Handeln lernen.
4.1.3.2 „Simon Lee“ und die Tragödie der Begegnung Höhepunkt von Wordsworths Begegnungstheater in den Lyrical Ballads – gleichzeitig aber auch dessen nachhaltigste Problematisierung – ist „Simon Lee“.69 Lyrical Ballads enthält eine ganze Reihe von Gedichten, die die Begegnung des Dichters mit einem leidenden Mitmenschen beschreiben70, aber nirgends ist die Intersubjektivitätsthematik so stark ausgearbeitet bzw. problematisiert und darüber hinaus so stark auf das Verhältnis zwischen Charakter, lyrischem Ich und Leser bezogen wie in „Simon Lee“. Daneben greift „Simon Lee“ wichtige Elemente aus den schon analysierten tragischen Texten Wordsworths auf und vertieft bzw. ermöglicht deren Tragödienhaftigkeit. Die ersten acht Strophen bestehen aus der Kombination der unmittelbaren Präsentation einer Leidensfigur, wie wir sie vom Anfang der „Mad Mother“ her kennen, mit der Erschließung einer ‚tragischen‘ Vorgeschichte, wie sie ja zu einem Gutteil „The Female Vagrant“ ausmacht. Letztere wird in „Simon Lee“ aber eng mit der ‚Leidenspräsenz‘ verwoben und damit viel stärker zu einer poetisch-
67 Die Folge ist eine widersprüchliche Deutung der „Brothers“, das von Parrish im selben Atemzug als „dramatic achievement“ und als Ausdruck einer Bewegung „away from the experimental techniques [and] from the dramatic method in general“ (Parrish 1973: 134) charakterisiert wird. 68 Averill 1980: 13. 69 Wordsworth 1992: 64–67. Vollständiger Titel ist „Simon Lee, The Old Huntsman, with an Incident in which He was Concerned“. 70 In der Erstausgabe von 1798 sind es neben „Simon Lee“ noch die Gedichte „We are Seven“, „The Last of the Flock“ und „Old Man Travelling“. In der zweibändigen Ausgabe von 1800 kommt eine ganze Reihe weiterer Gedichte über Begegnungen bzw. mit Begegnungselementen hinzu.
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theatralischen Präsentierung des Tragischen im Gegensatz zu seiner Erzählung.71 Andererseits wird auch die Leidenspräsentation erweitert, indem sie nicht in die einsam ertönende Stimme einer Verlassenen mündet, sondern in die explizit thematisierte Stimme des Dichters: An diese Strophen schließt sich nämlich eine Anrede des Lesers durch das Dichter- (und Erzähler-)Ich an (Strophen 9 u. 10). Den letzten Teil des Gedichts bildet eine kurze Begegnungsszene der Dichterfigur mit der Leidensfigur und ein finaler Ausblick im präsentischen Perfekt (Strophen 11–13). Das Gedicht zerfällt aus der Perspektive dieser Kommunikationssituationen daher in drei Teile, wobei die Leserapostrophe – in vielerlei Hinsicht zu Recht – den Mittelteil bildet. Der erste Teil verbindet die Beschreibung eines gebeugten alten Mannes mit der Rekonstruktion seiner Vorgeschichte als Jagdmeister eines Landsitzes, die zum einen den tragischen Ausgang seines alleinigen Überlebens hat, ihr Pathos zum anderen aus der Konfrontation von Vergangenheit und Gegenwart bezieht. Rhythmus und Reim sind der einer beschwingten Ballade, was dem angestrebten Tragikprojekt des ganzen Gedichts scheinbar zuwiderläuft – und dementsprechend auch durchbrochen wird. Allerdings hebt das Gedicht zunächst auch inhaltlich als die interessante Geschichte eines namentlich genannten Mannes, also als Ballade, an – nur dass ihr Sujet bald die traurige Ereignislosigkeit der Gegenwart ist. In the sweet shire of Cardigan, Not far from pleasant Ivor-hall, An old man dwells, a little man, I’ve heard he once was tall. […] No man like him the horn could sound, And no man was so full of glee; To say the least, four counties round Had heard of Simon Lee: His master’s dead, and no one now Dwells in the hall of Ivor; Men, dog, and horses, all are dead; He is the sole survivor. (64f., ll. 1–4; 17–24 [Strophen 1 u. 3])
71 „The Female Vagrant“ ist praktisch frei von einer Gegenwartsebene, welche in „Simon Lee“ (in unterschiedlichen Ausprägungen) die Schlüsselmomente des Gedichts ausmacht.
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Simon Lee ist der einzige Überlebende einer Jagdkultur; ihm bleibt vor allem sein geschundener und schwindender Körper zurück. Der Körperbezug aus „Expostulation and Reply“ wird hier wieder aufgegriffen, nur dass es sich diesmal um einen Körper handelt, dessen ‚passiveness‘ ein Leiden im Wortsinne ist. Sein Körper ist schwächer als der (s)einer Frau, was ihn im Marginalitätsgrad – im Potential für eine Tragödie des Volkes – der „Mad Mother“ mindestens ebenbürtig macht: His hunting feats have him bereft Of his right eye, as you may see: . . . . . . He has no son, he has no child, His wife, an aged woman, Lives with him, near the waterfall Upon the village common. And he is lean and he is sick, His little body’s half awry, His ancles they are swoln and thick, His legs are thin and dry. . . . . . . […] Old Ruth works out of doors with him, And does what Simon cannot do; For she, not over stout of limb, Is stouter of the two. (65f.; ll. 25f. u. 29–32; 33–36; 49–52 [Strophen 4, 5 u. 7])
Die Gegenwart zahlt den Preis für die feudale Vergangenheit, die vollkommen erloschen ist und ihr nichts als Armut und Beschwerden zurücklässt. Angedeutet wird hier demnach der Niedergang des Monarch(isch)en, den Edmund Burke ja zum Modell einer mahnenden Tragödie für die Gegenwart profilieren wollte, der hier aber, angesichts sang- und klanglosen Verschwindens der Adeligen, entleert und zu einer Tragödie des zurückbleibenden Volkes transponiert wird. Bindeglied dieser Übertragung ist ein blauer Mantel Simons, der – gewissermaßen als Requisit – noch an die abwesende Aristokratie gemahnt, zugleich aber zum Abzeichen äußerster Armut geworden ist: A long blue livery-coat has he, That’s fair behind, and fair before; Yet, meet him where you will, you see At once that he is poor. (65, ll. 9–12 [Strophe 2])
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Traurig ist der Mantel schon durch den Hinweis auf das, was er überlebt hat – und damit im Burkeschen Sinne tragisch; traurig ist er aber auch, indem er zeigt, was der Adel aus dem Volk gemacht hat und sei es nur durch sein Verschwinden – tragisch damit im Sinne Paines, Wollstonecrafts und Macintoshs. Das Gedicht führt damit eine Verschiebung der Tragödie der Monarchie zu einer Tragödie des Volkes geradezu vor72, möchte mit letzterer aber eindeutig nicht zur Empörung gegen den Adel aufrufen – sondern weist vielmehr darauf hin, dass Monarchie und Volk zusammenhängen und damit auch ihre Tragödien. Anders als in seinem „A Letter to the Bishop of Llandaff” und in The Borderers steht die Verbindung der beiden Tragödientypen hier nicht für eine Billigung des Königsmordes durch das (ebenfalls) leidende Volk, sondern für ein gemeinsames Schicksal. Wordsworth überwindet demnach in Lyrical Ballads, wie wir am Gedicht „The Brothers“ noch vertiefen werden, die radikale Tragödie des Volkes und deren feindselige Aneignung der Tragödie der Monarchie hin zum – folgenreichen – Kompromiss einer Tragödie ‚des Volkes-mit-König‘. Nach dem konkreten geschichtlichen Hintergrund dieser Stelle ist viel geforscht worden73 – und natürlich beschwört Wordsworth hier keinen nationalen Sturz der Monarchie, sondern allenfalls das Verlöschen einer kleinen Landdynastie. Aber das macht den allegorischen, die Theatermodelle und ihre Möglichkeiten politischer Repräsentation abwägenden Charakter dieser Stelle, nach dem noch nicht gefragt worden ist, nicht weniger dringlich: Wordsworth mahnt hier ein Volk an, in dem die Adeligen und die Armen in ihrem Schicksal miteinander verbunden sind („all are dead“), alle Schichten damit zusammengehören (sollten) und daher auch alle am Schicksal von Simon Lee teilnehmen (sollten). Die Tragödie des Volkes ist für Wordsworth eben tatsächlich eine Tragödie aller seiner Mitglieder und damit auch kein schismatisch-revolutionäres Genre, das mit dem Klassendenken auch den Klassenkampf ermöglicht,
72 Als Element einer niedergegangenen Adelskultur ist Simon Lee dem Charakter Herberts aus den Borderers ähnlich, wobei die dort angedeutete Transformation des Spektakels Herberts von einer (inversen) Tragödie des Königs zu einer Tragödie des Volkes hier in „Simon Lee“ – teilweise zumindest – glückt. 73 Vgl. vor allem Simpson 1987: 149–159 und Pfau 1997: 117–120: Simpson interpretiert das Gedicht auch als autobiographischen Hinweis auf Wordsworths Anmietung von Alfoxden House i. J. 1797 (als einer Art Übernahme von Ivor Hall), was ich abwegig finde. Pfau dagegen liest „Simon Lee“ als eine Ermahnung zur Traditionspflege an den Leser, die das Dicher-Ich selbst – in einer vom Gedicht bezweckten Didaktik des schlechten Beispiels – nicht genügend betreibt. Pfau betont m.E. zu sehr den pädagogisch-ideologischen Charakter des Gedichts, den er in Wordsworths Werk insgesamt vermutet. Es geht „Simon Lee“ vielmehr um die Beschwörung individueller und kollektiver Selbsterfahrungsmodelle, deren Verhältnis zu einer humanen Tragik und um die Tragik ihrer drohenden Unrealisierbarkeit in diesem Gedicht.
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sondern im Gegenteil ein Schauspiel, dessen Pathos jeden (britischen) Rezipienten anspricht, und das damit das Potential zu einem Theater des Volkes hat, von dem sich jeder einzelne repräsentiert fühlt. Grundlage für ein solches Theater ist aber ein Gemeinschaftsgefühl, das, wie wir von Rousseau, aber auch von Wordsworth selbst vernommen haben, vor allem im intersubjektiv-sympathetischen Austausch mehrerer Subjekte er- und besteht. (Wie) Kann sich in der Betrachtung von, im Austausch mit Simon Lee (und „Simon Lee“) eine solche Gemeinschaft bilden? Diese Frage steht – erwartungsgemäß – in engem Zusammenhang mit der Dramatisierung der verschiedenen Beobachtungsebenen im Gedicht, die hier als nächstes in den Blick kommen. In einer genial angelegten Mündung des Textes in die Darstellungsgegenwart wird Simon zunächst in eine Art verklärende Zukunft geführt, die aber zugleich seine Anrede des Lesers imaginiert. Der Tod Simons wird durch die Veränderung des Darstellungsmodus aufge(sc)hoben – eben durch die Miteinbeziehung des Lesers, die sodann in eine Apostrophe des Lesers durch den Dichter übergeht. Der Übergang, der uns en détail interessieren wird, in vollem Zitat: Few months of life has he in store, As he to you will tell, For still, the more he works, the more His poor old ancles swell. My gentle reader, I perceive How patiently you’ve waited, And I’m afraid that you expect Some tale will be related. O reader! had you in your mind Such stores as silent thought can bring, O gentle reader! you would find A tale in every thing. What more I have to say is short, I hope you’ll kindly take it; It is no tale; but should you think, Perhaps a tale you’ll make it. (66f.; ll. 65–89; Strophe 9 u. 10; meine Hervorhebungen)
Die Anrede des „gentle reader“ mündet direkt in einen Akt der Beobachtung seines (oder ihres) (Nicht-)Handelns durch den Dichter („I perceive / How patiently you’ve waited“), was tatsächlich zum Ausgangspunkt für eine relativ umfangreiche Darstellung geistig-seelischer Vorgänge des Lesers wird – allerdings auf der hypothetischen Ebene des Irrealis. Interessanterweise erhält im Zuge dieser Betrachtung des Lesers durch den Dichter eher ersterer, und weniger der Dichter selbst, die zentrale Zuschauerposition: Der Leser-Geist wird zum Ort einer Reflexion über das Ges(ch)ehene, die dieses in den Rang einer sinnstiftenden Erzäh-
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lung („tale“) heben würde.74 Demnach beginnt ein Prozess gegenseitiger Subjektbildung von Zuschauer und Akteur, typisch für die Begegnungsgedichte und hier mit schöner Berücksichtigung der Verklammerung von Innen (Geist) und Außen (Ges[ch]ehenes) – verknüpft mit einer gemeinsamen Sujet-Bildung.75 Als Vorgang theatraler Intersubjektivität bleibt er allerdings rein hypothetisch und imaginiert noch dazu den Leser und nicht den Dichter als Zuschauer-Akteur. Was ist mit dem Dichter, und vor allem: Was gibt es zu sehen, dem der Leser erst die Sujethaftigkeit verleihen muss? One summer-day I chanced to see This old man doing all he could About the root of an old tree, A stump of rotten wood. The mattock totter’d in his hand; So vain was his endeavour That at the root of the old tree He might have worked for ever. “You’re overtasked, good Simon Lee, Give me your tool” to him I said; And at the word right gladly he Received my proffer’d aid. I struck, and with a single blow The tangled root I sever’d, At which the poor old man so long And vainly had endeavour’d.
74 Der Forschung zu „Simon Lee“ zufolge ist die Leseransprache als Konfrontation der Ebene des Erzählten und derjenigen des Erzählens auch eine von Ballade und Lyrik, wobei das Balladeske aufgrund seiner Herkunft aus der deutschen Schauerliteratur zeitgenössisch auch mit herkömmlicher Dramatik bzw. Sensationstragik assoziiert wurde. Aber auch die ‚lyrische‘ Ebene des Erzählens, deren entsentimentalisierende und authentisierende Wirkung der Forschung nicht entgangen ist und auf eine neue Tragödie bezogen wurde (s.u.), wurde allgemein als eine ‚Dramatisierung‘ des Dichters beschrieben, so dass insgesamt in diesen Gedichten eine neue, aber eben auf dem Theater nicht realisierte Dramatik eine alte überschreibt (Parrish 1973: 119, Griffin 1977, Zimmerman 1999: vor allem 86, und Leader 2001). Die Bedeutung des Lesers als eigentlichen Zuschauers auf der Bühne des neuen Theaters wurde so (intensiv) wie in der vorliegenden Studie aber noch nicht beschrieben. Formalpoetisch wird der Übergang vom Balladenhaften über die Leseranrede zur Begegnung übrigens wenig markiert; das balladeske Schema (ein Wechsel aus vier- und dreihebigen Jamben mit Kreuzreim) läuft einfach weiter. Allerdings sorgen die Schilderungen selbst durch ihre sprunghaftere Syntax (direkte Rede, Apostrophe, Ausruf, Gedankenstrich) für ein Interplay mit dem munter (weiter)wandernden Balladenton. 75 Sujethaftigkeit ist im Rahmen von Juri Lotmans Literaturtheorie die Ereignishaltigkeit eines literarischen Textes, die ihn von reinen Sachtexten unterscheidet (Lotman 1972).
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The tears into his eyes were brought, And thanks and praises seemed to run So fast out of his heart, I thought They never would have done. —I’ve heard of hearts unkind, kind deeds With coldness still returning. Alas! the gratitude of men Has oftener left me mourning. (67; ll. 81–104; Strophen 11–13)
Die Begegnung des Dichters mit Simon ist zunächst in die Vergangenheit entrückt, was im Kontext der Frage nach seinem Subjektstatus in „Simon Lee“ wichtige Implikationen hat: Er wird zu einem Charakter in einer Erzählung von bereits Geschehenem. Die Dichterfigur zeigt zwar nicht nur verbale, sondern auch eine in den Begegnungsgedichten einzigartige physische Aktivität. Gerade diese körperliche Handlung aber ist problematisch und problematisch vieldeutig. Die Symbolik des Zertrennens der Wurzel kann und muss an dieser Stelle nicht eindeutig geklärt werden76, was auch daran liegt, dass Wordsworth mit der Wurzel ein kulturelles Zentralsymbol in eine ‚absichtlich‘ und reflektiert banale Situation verpflanzt. Wichtiger ist, dass die Dichterfigur mit dieser Handlung auch die Probleme der Erfahrung und Sinngebung des Handelns auf sich nimmt und damit auf einen Beobachter angewiesen ist. Vor diesem Hintergrund wiegt die berühmt-berüchtigte Sympathiekrise von Simon und Dichter umso schwerer. Zwar findet zwischen den beiden ein vielfältiger, verbaler, aktionaler und wohl auch emotionaler Austausch statt. Allein, mit der Reaktion Simons auf seine Tat kann der Dichter nicht leben: Viel schwerer als die in der Wordsworth-Exegese beargwöhnte Brutalität des Wurzeldurchtrennens wiegt meines Erachtens der gedankliche Kommentar des Dichters auf die in geradezu mustergültiger Weise veräußerten Gefühle77 Simons: ‚Ja hört das denn nie
76 Die Arbeit an der Wurzel wurde als ‚Zerhauen‘ einer bestehenden Ordnung (Simpson 1987: 149–59 und Rieder 1997: 73) oder aber als geglückte gemeinsame Rückkehr zu den Ursprüngen und daher als Gemeinschaftsbildung mit Simon gesehen – allerdings nur auf Inhaltsebene (Turley 2002: 47–49). Campbell sieht die Wurzel gar als ein Symbol für Simon selbst und das allmähliche ‚Verrotten‘ eines einst ‚stolzen Baums‘ (Campbell 1991: 126). 77 Das Bild der – ähnlich wie die Tränen, aber eben auch als Worte – aus seinem Herzen strömenden Dankes- und Lobesbekundungen („thanks and praises seemed to run / [...] fast out of his heart“) entgrenzt dabei im Sinne theatraler Intersubjektivität innere Vorgänge in (absichtliche und unabsichtliche) körperliche Vorgänge, wobei in den geäußerten Worten selbst leibliche und seelische Vorgänge wiederum zusammentreffen. Simon Lee hat seinen ‚Part‘ der Intersubjektivität erfüllt, die Dichterfigur nur eben nicht den ihrigen.
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auf?!‘ (l. 100)78 Damit ist der Austausch gehemmt und die (Erzählung der) Situation vorbei. Was folgt, ist eine Beobachtung dieser Beobachtung der Dichterfigur durch den rückblickenden Dichter in weitgehend namenloser Trauer. Diese kann als Traurigkeit über den allgemeinen Mangel an guten Taten interpretiert werden, der, wenn denn mal eine stattfindet, solche Dankbarkeitsexzesse auslöst. Allerdings geht diese Traurigkeit weiter: zurück zum gescheiterten intersubjektiven Austausch, zur nicht verarbeiteten Handlung, zum – nimmt man das Intersubjektivitätsmodell und seine Krise ernst – dadurch bruchstückhaft gebliebenen Ich, des Dichters, aber eben auch Simon Lees. Wordsworth beschwört hier eine Smithsche Mitgefühlskrise in Reinform: Der Leidende leidet zu viel, dadurch fühlt der Mitfühlende zu wenig mit.79 Und wo Adam Smith an dieser Stelle, wie wir gesehen haben, implizit das Theater als Gefühlslabor fordert, um Gefühle und deren Verarbeitung in authentischer Form zu ermöglichen, da wendet sich Wordsworth hilfesuchend an seinen Leser. Der Leser forme eine Geschichte, eine ‚neue Tragödie‘80, aus diesen disiecti membra poetae81, und er vollende damit auch die arretierte Subjektwerdung Simons und des Dichters. Letztlich setzt sich damit aber der Dichter dem Blick des Lesers aus, wird auch er zu einem tragischen Akteur, der authentisiert werden möchte – paradoxerweise von seinem eigenen Leser: In der finalen Trauer des Gedichts, die ja – qua present perfect – in der Gegenwartsebene des Textes stattfindet, wird bei der Dichter-Figur zwar eine emotionale Selbst-Beobachtung, und damit ein funktionierendes Theater des Selbst, angedeutet.82 Allerdings wird er gerade dadurch ein Teil des – repräsentiert durch Simon Lee – auf der Gegenwartsebene des Textes leidenden Volkes.83
78 In direkte Gedankenrede übersetzt heißt „I thought / They never would have done“ etwa „I thought: ‘Will they ever have done?’“ 79 Vgl. 2.2.1.1. 80 Implizit profiliert Wordsworth durch die Nicht-Ereignishaftigkeit des Treffens so etwas wie eine Tragik des/im hoffnungs- und entwicklungslos Banalen, wie sie im (Bühnen-)Theater ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielt. Im Jahre 1798 ist ein Autor, der so verfährt, aber durchaus noch auf das Wohlwollen seiner Rezipienten und deren Mithilfe dabei angewiesen, ausgerechnet ein/das Nicht-Ereignis als Tragödie zu etablieren. 81 Dieses berühmte Horaz-Zitat (Satiren IV, i, 62) bezeichnet einen absichtlich entstellten (d.h. durch Umstellung entmetrisierten) poetischen Text und stellt von daher die Frage, was Integrität und Struktur der Texte eines Dichters ausmacht. In der hiesigen Anwendung wird das Bild allerdings gewissermaßen wörtlich genommen und auf das nicht intakte, sondern nur bruchstückhaft greifbar werdende Subjekt – bzw. Sujet! – von Wordsworth bezogen. 82 Campbell interpretiert diese Stelle als ein Psychogramm des Dichters, das negative und gehemmte Gefühle zutage fördert (Campbell 1991: 127f.). 83 Aus dieser Perspektive ist dann auch die Sympathiekrise ein ‚funktionierendes‘ tragisches
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Das Gedicht entwöhnt damit den Leser der herkömmlichen Tragödie, wie die Forschung bemerkt hat, und konfrontiert ihn zugleich mit einer geradezu herausfordernd realistischen (und damit potentiell ereignislosen) neuen Tragödie.84 Aber es bildet keine Gemeinschaft mit dem Leser, die Simon ausschließt85, und es macht den Dichter und nicht den Leser zum ‚Fall‘.86 Der Leser wird herbeigerufen, um dem fragmentalen Text sein Sujet und dem darbenden Dichter seinen Subjektstatus zurückzugeben und dann – vielleicht – von Gedicht und Dichter seinerseits subjektstiftend erfüllt zu werden. Die auf der Charakterebene arretierte Intersubjektivität wird demnach auf das Text-Leser-Verhältnis projiziert, damit aber einer geradezu konstitutiven Potentialität überantwortet. Ob die Auseinandersetzung mit dem Text im Leser ebenfalls Gemeinschaftsgefühle anregt, ob er sich durch das Gedicht auch als politisches Wesen repräsentiert fühlt, muss genauso dahingestellt bleiben: Eine Tragödie des Volkes bildet dieses Gedicht in Ansätzen; den Übergang zum intersubjektiven Theater des Volkes aber belässt es vollends in den Händen und Herzen der Leser(innen). Ein Theater des Volkes ist dieser Text nur insoweit, als er versucht, für den Leser eine Position anzulegen, die ihn authentisiert, ermächtigt und Gemeinschaftsgefühle in ihm anregt.
Element – jedoch wäre dies eine Tragödie der neuen Tragödie, nämlich ein Scheitern gerade der Miteinbeziehung des Zuschauers in das tragische Geschehen auf allen Ebenen! 84 Allerdings geht die Forschung, wie wir gesehen haben, bezüglich der konventionellen, zu überschreibenden Tragik eher auf das Schauertragische der Balladentradition ein und weniger auf das Narrativ des niedergehenden Aristokraten, das in „Simon Lee“ ja in eine Tragödie des Volkes überführt werden soll. 85 Die Forschung hat den Leser durchaus – wie in der vorliegenden Deutung – als Beobachter zweiter Ordnung ausgemacht, hebt davon ausgehend aber immer wieder darauf ab, dass der Dichter zusammen mit ihm/ihr eine Gemeinschaft bilde und sich damit über Simon hinwegsetze (Glen 1983: 239f. und Averill 1980: 162–166 sowie Rieder 1997: 74–76). Wie meine Interpretation zeigt, ist der Dichter – mit Ausnahme des Beginns seiner Leseranrede, die aber gerade den Stab an diesen weitergibt – nicht auf derselben Ebene wie der Leser, sondern als Akteur eher auf derjenigen Simons. 86 Laut Averill (1980) wird der Leser einerseits für seine Abhängigkeit von sentimentalen Tragödien kritisiert und andererseits mit echtem Leid konfrontiert – Wordsworths kritisch-kulturelle Arbeit zur Überwindung einer Sympathie-Krise. Wordsworth schreibe eine Tragödie des Alltäglichen, in der jeder Leser zu seinem eigenen Fall werden kann. Ich denke aber eher, dass eine Sympathiekrise vorliegt, die die Subjektwerdung des Dichters verhindert bzw. auf den Leser verlagert. Auch Rieder (1997) spricht von einer – letztlich utopischen – Gemeinschaftsbildung zwischen Mittelklasse-Lesern und Unterschicht-Charakteren in „Simon Lee“. Wenn überhaupt, dann bleibt diese Gemeinschaft utopisch: Ihre Konturen sowie soziokulturellen Probleme werden nämlich erst in späteren Gedichten, beginnend mit „The Old Cumberland Beggar“, angegangen.
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Während Adam Smith und sein Umfeld sich angesichts der in The Theory of Moral Sentiments angedrohten Sympathiekrise zur rituellen Erzeugung und Kommunikation gesellschaftlicher Gefühle das Theater wünschen, schielt Wordsworth für dieselben Prozesse hoffnungsvoll auf den Text und die Potentiale der Leseraktivität. Der Leser wird zum Beobachter zweiter Ordnung, der des Dichters Aktivitäten (zu denen auch eine Beobachtung erster Ordnung gehört) erlebbar macht – auch für den Dichter selbst.87 Der Leser muss nun den Prozess des Intersubjektiven, der auf der Inhaltsebene arretiert wurde, zu seinem erfolgreichen Ende führen. Das Text-Leser-Verhältnis wird hier mit Erwartungen aufgeladen und mit Aufgaben betraut, die so nur die Theatertheorie der Zeit gekannt hat, die aber gerade als Theorie des Theaters letztlich unerfüllbar waren: Es ersteht die Vision eines romantischen Hyper-Mediums, das die Potentiale zweier zentraler kultureller Medien (Text und Theater) zusammenfasst und dabei beide Medien transzendiert, um zentrale (psycho)soziale und politische Prozesse zu implementieren. Als größtes Problem dieser Vision bleibt aber, dass zentrale Aspekte dieser Prozesse auf die Ebene des Potentiellen gespiegelt werden müssen: Ob Leser durch Texte – und gar Texte durch Leser – zu Subjekten werden, ist vorab nicht zu bestimmen und kommt letztlich in jeder einzelnen Lektüre immer wieder auf den Prüfstand. In einem anderen, in der zweiten Ausgabe der Lyrical Ballads von 1800 erschienen Gedicht, „The Brothers“, vermeidet Wordsworth die Problematik einer nur hypothetischen Involvierung des Lesers, indem er zum – im traditionellen Sinne – dramatischen Dialog zurückkehrt. In diesem Darstellungsmodus ist die unmittelbare Anrede des Lesers, die ja der Ausgangspunkt der Aufladung der Rezipientenposition in „Simon Lee“ war, nicht möglich; die Intersubjektivität von Leid und dessen Beobachtung wird auf die Ebene des dramatischen Dialogs zurückgeführt. Wordsworth verliert demnach die Möglichkeit(en) des im traditionellen Sinne dramatischen Modus nicht aus den Augen. Allerdings lässt er auch dieses Theater emotionaler Intersubjektivität, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, in eine Sympathiekrise geraten, die dieses Gedicht ebenfalls eher zum Fanal für die Notwendigkeit weiterer Lösungsangebote werden lässt und auch die Forderung nach erweiterter Leseraktivität nicht hinter sich lassen kann.
87 Streng logisch gesehen ist dies, da die Charaktere und der Dichter mit dem Leser ja nicht in Austausch treten können, nur möglich, wenn der Dichter seinen eigenen Text liest (vgl. die Analyse des Prelude in 4.2.4 und 4.2.6). Die Charaktere eines Textes bleiben allerdings weiterhin vom Leser-Feedback ausgeschlossen. In „The Old Cumberland Beggar“ (s. weiter unten) wird die Konsequenz dieser medialen Restriktion gezogen und dem (primären) Akteur Subjektivität a priori abgesprochen.
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Die in „The Brothers“ wiederholte Sympathiekrise ruft nach der Konzeption eines sozialen Rituals, das derartige Situationen des Gefühlsaustauschs endlich einmal ermöglicht bzw. zu Ende bringt. Ein solches Ritual wird in „The Old Cumberland Beggar“ entworfen, ein Gedicht, das im übernächsten Abschnitt zur Sprache kommt und ebenfalls erstmals in der zweiten Ausgabe der Lyrical Ballads publiziert wurde.88 Ob das Ritual dabei vom poetischen Text selbst auch implementiert und abgehalten wird, wird sich dort ebenfalls zeigen.
4.1.3.3 „The Brothers“ – Tragödie echten Theaters „The Brothers, a Pastoral Poem“ führt zwei gleichberechtigte Personen ein, die einen unmittelbar präsentierten Dialog halten, wobei ihre Namen im Nebentext erscheinen – es ist daher ein dramatischer Text. Genauer gesagt entwirft Wordsworth mit diesem Gedicht ein Drama, bei dem die Zuschauer-Schauspieler-Konstellation ähnlich wie in The Borderers auf die Handlungsebene projiziert ist, diesmal allerdings unter dem Ideal eines intersubjektiven Austauschs. Idealerweise sind in diesem Theater die Beteiligten abwechselnd Akteure (authentischen) Leids und dessen Zuschauer. Wenn „Brothers“ daher fehlschlägt bzw. sein eigenes Scheitern inszeniert, dann aus anderen Gründen als die Borderers. Wordsworth hat seine Lektion der Gewaltvermeidung gelernt, und so scheitert das Theater diesmal nicht an der Gewalt einseitig übermittelter Gefühle, sondern am Mangel ihres intersubjektiven Austauschs. Die von Wordsworth verwendete Form ist innovativ, aber nicht einzigartig. Vielmehr entwickelte sich laut der umfangreichen Rekonstruktion des Entstehungskontexts der Lyrical Ballads durch Mary Jacobus im späten 18. Jahrhundert eine neue (pastorale) Ekloge in Form einer „dramatic or semi-dramatic presentation“ von Themen der Hirtendichtung. Da diese Gedichtform zudem Politisches thematisierte bzw. eine Politisierung der eigenen Form suchte89, war sie
88 Damit erweisen sich die beiden in der Folge untersuchten Gedichte nicht nur auch als logisch, sondern auch chronologisch nachgeordnete Lösung(sversuche) auf die im dramatischen Monolog und im Begegnungsgedicht virulent gewordenen Probleme für Wordsworths Menschentheater. Dieses Theater entwickelt sich demnach im (Voll-)Zuge der Lyrical Ballads, die damit über eine Gedichtanthologie hinausgehend zumindest in Ansätzen zur Gedichtsequenz werden. 89 Jacobus 1976: 167–172. Dabei erwies sich gerade die Hirtendichtung, wie Jacobus mit Verweis auf Hugh Blair darlegt, als ein Genre, an dem auch die zeitgenössische Literaturtheorie eine Poetik der Darstellung natürlicher Gefühle naturnaher Charaktere propagiert hat. Die Weiterführung dieser Poetik zu einer dramatischen Form mit politischen Implikationen hat dann laut Jacobus erstmals Robert Southey vorgenommen, allerdings nicht mit der (meta)theatralischen Komplexität von Wordsworths Gedicht.
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als Verhandlungsort sowohl einer Tragödie als auch eines Theaters des Volkes prädestiniert. Zugleich sind solche Gedichte ein Beispiel für das Abwandern des Dramatischen in eigentlich nichtdramatische und dezidiert theaterferne literarisch-textuelle Zusammenhänge, in denen sie dann neuartige Theaterformen konturieren – symptomatisch für das romantische Text-Theater als Alternative und Konkurrenz zu dem, wie in 1.3.2 und 2.1 beschrieben, problematisch gewordenen Verhältnis von Drama und Theater um 1800. In „The Brothers“ wird ein Konflikt zwischen fiktiver und echter Tragik sowie zwischen ‚echtem‘, also persönlich-theatralem, und textuellem Gefühlsaustausch geradezu thematisch und wiederum mit der Tragik des Ausbleibens der (herkömmlichen) Tragödie konfrontiert: Die dramatische Handlung des Gedichts kreist nämlich komplexerweise um das Ausbleiben der Anagnorisis eines Heimkehrenden, welcher zugleich nicht die Katharsis vom Leid am Tod seines Bruders erfahren darf, von dem ihm erzählt wird. Bittererweise findet der Gefühlsaustausch zwischen den Akteuren zuletzt nur auf der Ebene eines Briefes statt – Wordsworth thematisiert hier wieder einmal, wie wir sehen werden, textintern seine Poetik eines Text-Theaters. Zusätzlich kommt es bereits auf der formalen Ebene zu einer Konfrontation von Erzählen und (dramatischem) Zeigen: Insgesamt ist das Gedicht, wie gesagt, ein dramatischer Dialog. Dieser enthält jedoch in den extensiven Äußerungen eines der Dialogpartner, die dadurch zum Monolog tendieren, umfangreiche Binnenerzählungen, und wird zudem von zwei kurzen, ein- und ausführenden narrativen Rahmenteilen eingefasst. Leonard, einer der Dialogpartner, ist nach zwanzig Jahren auf See ins heimatliche Cumbria zurückkehrt. Erfüllt von einer ängstlichen Vorahnung, dass sein einziger Angehöriger, sein geliebter Bruder James, mittlerweile verstorben ist, gibt er sich nicht zu erkennen, sondern besucht den Friedhof, auf dem er ja Auskunft auf diese Frage bekommen müsste, inkognito. Die Gräber aber sind unbeschriftet, und so lässt Leonard sich auf ein Gespräch mit dem Pfarrer ein, der ihn für einen sentimentalen Touristen hält und ihm, zunächst widerwillig, dann immer bereitwilliger, vom Leben und Sterben in der Gemeinde erzählt. Auf Leonards vorsichtige Frage nach (dem Mangel an) Veränderungen im Dorf skizziert der „Priest“ pikiert eine Dorfgeschichte, die sowohl aus natürlichen, etwa einem heftigen, landschaftsverändernden Blitzschlag, als auch aus kulturellen Ereignissen, wie dem Wechsel eines Ziffernblatts an der Uhr des Gemeindehauses, besteht. Zugleich gäbe es zwei Chroniken, „one serving, Sir, / For the whole dale, and one for each fire-side“ (148, ll. 161f.), also ein kollektives Gedächtnis und eine Ansammlung von individuellen Gedächtnissen der Bewohner des Tales, wobei die beiden – besonders bezüglich ihres anzunehmenden gemeinsamen Kommunikationsortes an den einzelnen Kaminen der Gemeindemitglieder – eng zusam-
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menhängen. Auf Leonards wiederum sehr zaghaften Einwand, dass ein solches kollektiv-individuelles Gemeinschaftsnarrativ doch einen wunderschönen Ausdruck in einem beschrifteten Friedhof, also einem lieu de mémoire, fände, antwortet der Pfarrer hochfahrend und das milieu de mémoire90 beschwörend: „We have no need of names and epitaphs, / We talk about the dead by our fire-sides.“ (148; ll. 176f.) Das Zitat macht bereits deutlich, dass der Pfarrer sich als Sprachrohr der Gemeinde und ihrer Erinnerungen versteht, was im Kontext des Gedichts allerdings auch bedeutet, dass er sich an deren Spitze setzt, sie in seinen Monolog aufnimmt und sie damit auch – bezogen bereits auf die Form des Gedichts – ersetzt. Die Gemeinschaft und ihre Geschichten, die den nun einsetzenden Mittelteil des Dialogs ausmachen (ll. 198–402), existieren nur aus dem Munde des „Priest“.91 Dieser Mund wird nun zur Quelle einer Sequenz von Tragödien, die zwar an einen lebenden Akteur gebunden sind, von diesem aber nur berichtet werden: Der Pfarrer erzählt Leonard nacheinander eine sozioökonomische Tragödie (des Volkes), nämlich das Schicksal von dessen Großvater, eine exotische Tragödie, nämlich paradoxer- und entlarvenderweise die von Leonards Tod, und dann – endlich – die zwischen Sentimentialität und Humanität stehende Tragödie des Todes seines Bruders. Die ersten beiden Tragödien hängen eng zusammen und bedingen sich gegenseitig. Das Schicksal von Walter Ewbank, dem Großvater Leonards, ist die typische sozioökonomische Katastrophe eines Wordsworthschen Begegnungsgedichts – etwa „Simon Lee“, aber auch des hier nicht interpretierten Gedichts „The Last of the Flock“, eine Tragödie des Volkes repräsentiert durch den Sturz eines ihrer Mitglieder, gewissermaßen vom König zum Bettelmann92:
90 Vgl. zur Unterscheidung der beiden Gedächtnisbegriffe bei Pierre Nora, aber auch zu ihrer Entgrenzung in den Gedichten Wordsworths, die Erinnerungsmilieus beschwören und damit selbst zu Erinnerungsorten werden, Merten 2005b: 93f. 91 Die Rede des „Priest“ ist die einzige Quelle für das Gemeinschaftsnarrativ. Vgl. dazu die Interpretation von „Brothers“ durch Michael Baron, der im Monolog des Priesters ebenfalls die Monopolisierung/Monologisierung des Gemeinschafstsnarrativs sieht, durch die andere Versionen (etwa Leonards Rückkehr als Lebender anstelle der Erzählung seines Todes – s. weiter unten) ausgeschlossen werden (Baron 1995: 74–77). 92 Natürlich handelt es sich bei Leonards Großvater nicht um einen Aristokraten, sondern einen unabhängigen Landbesitzer (die in Wordsworths Zeit interessanterweise „statesmen“ genannt wurden). Allerdings sind der beschriebene Sturz und seine Beschreibung so drastisch, dass ähnlich wie in „Simon Lee“ das Muster des Falls des Monarchen aufgerufen und in die Tragödie des Volkes entgrenzt wird.
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[PRIEST.] For five long generations had the heart Of Walter’s forefathers o’erflow’d the bounds of their inheritance […] . . . . . . Year after year the old man still preserv’d A cheerful mind, and buffeted with bond, Interest and mortgages; at last he sank, And went into his grave before his time. . . . . . . But, as I said, old Walter was too weak to strive with such a torrent; when he died, The estate and house were sold, and all their sheep, A pretty flock, and which, for aught I know, Had clothed the Ewbanks for a thousand years. Well—all was gone , and they were destitute, And Leonard, chiefly for his Brother’s sake, Resolv’d to try his fortune on the seas. ’Tis now twelve years since we had tidings from him. (149f., ll. 202–204 u. 211–214; 153, ll. 295–303)
Der Niedergang von Leonards Familie, verkörpert durch den Großvater – sein Vater war ohnehin längst gestorben – war der Auslöser für seinen Weggang aus Cumbria. Diese Ausführungen scheinen korrekt oder sind zumindest nicht falsifizierbar. Was darauf aber folgt, ist nichts Geringeres als die – dramatisch ungeheuer ironische – Schilderung seines eigenen Todes, eine Sensationstragödie mit exotischen Elementen, die den Priester und seine Gemeinschaft in mehrfacher Hinsicht in ein problematisches Licht rückt: […] When last we heard of him, He was in slavery among the Moors Upon the Barbary Coast—’Twas not a little That would bring down his spirit, and, no doubt, Before it ended in his death, the Lad Was sadly cross’d. […] (154, ll. 312–317)
Die Gemeinde scheint sich den Tod eines weggegangenen Mitglieds zu erzählen bzw., was die Sache noch komplizierter macht, der Priester erzählt diese Geschichte und impliziert, dass diese auch im Dorf kursiert. Und da diese Geschichte nun offensichtlich falsch ist bzw. nicht verbürgt sein kann, steht der „Priest“ mit einem Mal sehr viel problematischer da: Wenn das nicht stimmt, was ist dann sonst noch alles ausgedacht? Hat der Priester diese Lüge in seiner Gemeinde in die Welt gesetzt, oder, noch viel unheimlicher: Sind schon seine
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Behauptung, die Gemeinde erzähle sich Geschichten, sowie seine Darstellung ihrer mündlichen Erzählkultur, Lügen? Denn: Die einzige Rede aus der Gemeinde, die in diesem Drama unbestreitbar ist, ist die des Pfarrers, und dieser lügt ebenso unbestreitbar – zumindest einmal. Von dieser einen Lüge ist gewissermaßen die gesamte Kultur, für die der Priester steht, mit einem Mal infiziert, und was bleibt, dem wir als Leser/Zuschauer Vertrauen schenken können, ist nichts als die Reden zweier Männer. Was allerdings – leider – ebenfalls verbürgt ist, sind zwei der Todesfälle, von denen der „Priest“ erzählt. Zu dem vom Gedicht ja verifizierten Tod von Leonards Großvater kommt als dritte Tragödie nämlich nun der Tod seines Bruders, den Leonard – und damit der Text insgesamt – als wahr (an)erkennen, da er durch ein neu hinzugekommenes Grab sanktioniert wird, „looking at the grave, [Leonard] said, ‘My Brother’“ (158, l. 407). Was dadurch aber in Gang gesetzt wird, ist die unheimliche Vermutung, dass die (reine) Erzählung des Todes eines Bruders (Leonard) den realen Tod des anderen Bruders (James) ausgelöst haben könnte. Die Hintergründe seines Todes sind nämlich die folgenden – allerdings laut Bericht des Priesters: [PRIEST.] […] From his youth, James, though not sickly, yet was delicate, And Leonard being always by his side Had done so many offices about him, That, though he was not of a timid nature, Yet still the spirit of a mountain boy In him somewhat was check’d, and when his Brother Was gone to sea and he was left alone The little colour that he had was soon Stolen from his cheek, de droop’d, and pin’d and pin’d. (154f., 327–336)
James – technisch gesehen ein Vollwaise – wurde daraufhin bei wechselnden Gemeindemitgliedern aufgenommen, wo er relativ glücklich lebte, „unless“, wie der Pfarrer sinister betont, „[h]is thoughts were turn’d on Leonard’s luckless fortune“ (157, ll. 386f.). Mit diesen Erinnerungen an etwas, das ja gar nicht stattgefunden hat, verknüpft ist sodann ein Hang zum Schlafwandeln, der, so der Priester, ihn schließlich von einer Klippe in den Tod stürzen ließ. Selbst wenn wir weiterhin nur das Grab und die Rede des „Priest“ als verbürgt ansehen, so ergibt sich daraus eine furchtbare Schuld dieses Mannes und – unter Umständen – seiner ganzen Gemeinde: Dass er – und vielleicht das ganze Dorf – den Tod Leonards James gegenüber im Munde führten, ist anzunehmen, und dass diese Erzählungen James psychisch so zusetzten, dass er schließlich wie auch immer (vielleicht durch Selbstmord?) starb, glauben wir dem „Priest“ auch gerne
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– angesichts der geradezu gemeinen Unterstellung zu Beginn des Zitats, Leonard habe seinen Bruder durch Verzärtelung verdorben. Natürlich ist das alles nur (von William Wordsworth) erfunden, aber eine Ebene hat die fiktive Welt doch, die ‚real‘ sein soll, und diese sieht meines Erachtens so aus: Der Priester (und vielleicht die ganze Gemeinde) hat den Tod des weggegangenen Bruders praktisch herbeigewünscht, dem zurückgebliebenen Bruder dementsprechend zugesetzt und schiebt jetzt alles auf den Exilanten. Der priesterliche (oder dörfliche) Gemeinschaftssinn wird hier als innovationsfeindliche Ideologie der Selbstbespiegelung relativiert: Das Weggehen von Leonard kann von der Gemeinde nur als dessen komplettes Scheitern ertragen werden – für ihn selbst und seine Familie –, damit das eigene Verharren vor Ort als grund-anständig erscheinen kann. Auf klägliche Weise scheint der Zusammenhalt der Gemeinschaft von der Tragödie des Scheiterns Leonards abhängig zu sein, einer Gemeinschaft zudem, die sich vielleicht schon längt keine Geschichten mehr erzählt, sondern das von ihrem ‚Seelenbeamten‘ übernehmen lässt. Die Gemeinde opfert eines ihrer Mitglieder (James), macht es – und ein weiteres (Leonard) – zum Sündenbock, um den Gemeinschaftssinn zu erhalten bzw. allererst zu stiften. Von der Konstellation der Borderers, bei denen eine Tragödie des Volkes zu einer Opferung führte und diese dann zu einem – auf mehreren Gewaltakten aufruhenden – Theater des Volkes, sind wir hier nicht weit entfernt.93 Allerdings ist all dies ein intradiegetisches (bzw. -dramatisches) Theater und schon von daher relativiert. Es gibt ja noch ein über alledem stehendes Theater, nämlich das Drama, das der Text formal ganz unmissverständlich darstellt. Leider kann aber auch dieses Theater keine Lösung und Alternative für das zum wiederholten Male gescheiterte Gemeinschaftstheater entwickeln – und das gerade wegen der inner-dramatischen Tragödien. Das ‚echte‘ Drama kreist um diese Erzählungen und die Frage, wie ein Zuhörer, der von ihnen zwar zutiefst betroffen ist, aber unerkannt bleiben möchte, auf sie reagieren kann. Und wir wissen bereits, dass er unerkannt bleiben wird, was am Ende des Gedichts deutlich – und schmerzlich – dadurch unterstrichen wird, dass der Ausruf „‘My Brother’“ (p. 158, l. 407) vom Priester nicht gehört wird und damit unerhört auch im
93 Der Pfarrer erwähnt, dass ein Freudenfest („festival“) für Leonards Heimkehr geplant war, nach seinem ‚Tod‘ aber natürlich hinfällig wurde (und auch jetzt nicht stattfinden wird, da er sich nicht zu erkennen gibt). Mit dem Begriff des „festival“ ist durchaus eine gemeinschaftsbildende politische (Theater-)Veranstaltung konnotiert, wie wir in 2.2.2.5 gesehen haben. Dieses ‚komische‘ Theater des Volkes bleibt aus, da die Gemeinschaft selbst dessen tragische Version vorzieht und damit zugleich den Heimkehrenden in eine komplexe Tragödie des Tragischen (keine Anagnorisis, keine Katharsis) zwingt.
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engeren Sinne bleibt. Die Dorfgemeinde mag sich an den sentimentalen Todesgeschichten weiden, aber der echte Angehörige, der Betroffene, muss seine Tränen weitgehend verbergen und den lediglich von einem allgemeinen menschlichen Schicksal Berührten spielen. [PRIEST.] […] If you weep, Sir, To hear a stranger talking about strangers, Heaven bless you when you are among your kindred!
– so der Priester in bitterer Verkennung der Situation und schmerzlicher dramatischer Ironie. Wenn „The Brothers“ daher eine Differenz zwischen zwei Arten der Tragödie diskutiert, so ist das viel mehr als der Unterschied zwischen sentimental-voyeuristischen und menschlich ‚realistischeren‘ Tragödien, wie die Forschung meint – denn auch letztere finden ja im und über das Gedicht nicht statt.94 Es ist der Unterschied zwischen inszenierten und echtem Leid – und das letztlich im Bezug auf beide Arten der Leidensgeschichte: Denn das Melodrama vom Sterben Leonards, das (sich) die Gemeinde erzählt bzw. ihren Pfarrer erzählen lässt, ist für sie wohlige Selbstbestätigung, wird für Leonards Bruder aber zum tödlichen Trauma. Vergleichbar den Borderers wird hier aus Machtgründen eine Tragödie ‚aufgeführt‘, die von einem Betroffenen geglaubt wird, damit tödliche Folgen hat und ein wirkliches Opfer fordert. Der gemeinschaftliche Drang zu dieser Art von schauerlichem Melodrama führt sodann in eine zweite ‚Katastrophe‘, die einem weiteren wirklich Betroffenen gerade keine kathartische Verarbeitung des Leids ermöglicht. Der Missbrauch des Melodramas hat hier geradezu die Verhinderung der Tragödie, ihrer Anagnorisis und ihrer Katharsis zur Folge – und zwar auch der realistischen oder gar authentischen Tragödie. Wordsworth plädiert zwar, wie wir gesehen haben, für einen Einschluss echten, authentischen
94 Vgl. Averill 1980: 222–231: Leonard vollziehe in der Bewertung des Priesters einen Wandel vom Freund des „[sensational] pathos of moving accident“ zum Anhänger des „pathos of tenderness“ (227), dem das Gedicht selbst anhänge – mit allen Problemen einer derartigen Konzeption. Das Gedicht handelt nämlich auch laut Averill eher vom Erzählen von Dramen/Tragödien, nicht von Tragödien selbst, genauer: von der Narrativierungs- und damit Bewältigungsfunktion von Tragödien. Allerdings stelle sich eben keine Katharsis ein, sondern eine Diskrepanz zwischen Erzählung und (zeigbarer) Reaktion; Leonard fühle unerträglichen Leidensdruck und nicht dessen Verarbeitung – der beteiligte Zuschauer scheitere, Wordsworth lasse dieses Projekt hinter sich. Allerdings möchte ich stärker als Averill, der ihr Gelingen in „The Brothers“ zuletzt doch postuliert (228), betonen, dass eine „tragedy of tenderness“ mit einer textinternen Zuschauerfigur gerade nicht stattfindet! Daneben wird dieses Theaterprojekt an dieser Stelle auch nicht etwa abgebrochen, wie Averill behauptet, sondern in der Excursion wieder aufgegriffen.
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Leids in sein Theater des Menschen sowie für einen intersubjektiven Austausch über dieses Leid in diesem Theater. Zugleich ist er sich des (inter)subjektivitätszerstörerischen Potentials authentischen Leids wohl bewusst und strebt daher langfristig danach, es gänzlich hinter sich zu lassen und aus der Tragödie des Volkes ein posttragisches Theater des Volkes zu machen. Dies wird ihm allerding erst in der Excursion gelingen.95 In „Brothers“ findet denn auch keinerlei intersubjektiver Austauschs zwischen diesen zwei Zuschauenden-und-Agierenden statt, die geradezu – vor allem angesichts der Erwartung, die das Gedicht geschürt hat – dazu angetreten waren, sich verbal, aktional, emotional etc. auszutauschen und damit endlich die Subjektivitätserfahrung vorzunehmen, die Wordsworth als Ziel und Zweck seiner Kunst vorschwebt.96 Die Dorfgemeinschaft mag sich mit ihren Schauergeschichten sentimental zusammenhalten und epistemisch wie politisch repräsentieren, wie in den Erzählungen des Pfarrers angedeutet. Auf der dramatischen Handlungsebene des Gedichts ist davon nichts zu spüren: Hier passiert eben kein Zusammenhalt, kein Gemeinschaftsgefühl – und zwar vor allem aufgrund der mangelnden Empathie eines der Akteure, dessen Erzählungen auf dieser Ebene plötzlich nicht mehr helfen, sondern nur namenloses Leid auslösen und den Zuhörer in die Flucht treiben: his cherish’d hopes, And thoughts which had been his an hour before, All press’d on him with such a weight, that now, This vale, where he had been so happy, seem’d A place in which he could not bear to live[.] . . . . . . That night, [he] address’d a letter to the Priest Reminding him of what had pass’d between them, And adding, with a hope to be forgiven, That it was from the weakness of his heart He had not dared to tell him who he was. (158f., ll. 418–422 u. 425–429)
Ausgerechnet ein Brief ermöglicht zuletzt die Kommunikation echter Gefühle und der wahren Identität auf der Handlungsebene. Ob der Priester antworten wird – und kann? Und ausgerechnet interne Fokalisation (in der ersten Hälfte
95 Vgl. 4.3, vor allem 4.3.4. 96 Vgl. im Gegensatz dazu die Intersubjektivität zwischen Leonard und seinem Bruder in der Vorgeschichte, die jetzt unwiederbringlich verloren ist bzw. nur noch als Sentimentalismus des Priesters weiterexistiert: „They were such darlings of each other. [...] They had much love to spare, / And it went all into each other’s hearts.“ (151, ll. 240 u. 243f.; meine Hervorhebungen)
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des Zitats) und der Wechsel in den narrativen Modus ermöglichen die Kommunikation der Gefühle, die den Priester (noch) nicht erreicht haben, an den Leser.97 Letztlich vermittelt nur dieser in den Rahmungen ebenfalls vorhandene narrative Modus überhaupt die Spannung zwischen dem sich verstellenden und dem echten Leonard und damit die Beurteilung des „Priest“, dessen Sentimentalität und Schuld.98 Werden damit erzählte Innerlichkeit und das Erzählen insgesamt über den dramatischen Modus gehoben und das Drama verabschiedet? Nein: Narrative Techniken verhelfen dem Leiden in „The Brothers“ zwar zu einer Stimme sowie dem Text insgesamt zu seinem Funktionieren – auf der Handlungsebene wird aber eine profunde Skepsis gegen das Erzählen erarbeitet: Es ist gerade das erzählte Melodram, das, da es sich nicht visuell verbürgen muss, zwei Brüder tötet, den einen in seiner fiktionalen ‚Handlung‘ und den anderen letztlich aufgrund seiner ästhetischen Wirkung. „The Brothers“ ist und bleibt ein Text, der auf (überwiegend) dramatische Weise ein neues Theater fordert, in dem Gefühle unmittelbar ausgetauscht werden sollen, und der dem Erzählen äußerst skeptisch gegenübersteht. Das bedeutet aber nicht, dass Wordsworth nun entweder diesen Text oder aber sein Theaterkonzept verwerfen müsste. Vielmehr hat er einerseits „The Brothers“ vollendet und veröffentlicht; andererseits lässt er auch weiterhin den Einschluss narrativer Verfahren in sein Theater zu, vom textuellen Status seines Werks ganz zu schweigen. Wordsworth akzeptiert diese Intermedialität als ein notwendiges Übel, als Verwirklichungsbedingung für ein (auch im philosophiehistorischen Sinne) idealistisches Theaterkonzept und setzt sie auch weiterhin ein.99 Textualität, ob narrativ oder nicht, bleibt damit weiterhin unhintergehbar und zwar gerade auch als eine für authentisches Leid notwendige mediale Rahmung, also Kommunikation und Bewältigung zugleich. Insofern gleicht Words-
97 Zur Ersatzfunktion von Brief und Gedicht vgl. auch Turley 2002: 54. 98 Vgl. vor diesem Hintergrund vor allem die antisentimentalistische Kritik des Pfarrers an Leonard als einem ‚Touristen‘ zu Beginn des Gedichts. Dass der Priester selbst – in profunder dramatischer Ironie – der sentimental(st)e Geschichtenerzähler des Gedichts ist, ist der Forschung aber bisher weitgehend entgangen. 99 So benutzt er denselben – dramatisch-narrativen – Mischmodus in einer weiteren Publikation, dem (sehr viel längeren) Langgedicht Excursion von 1814, und setzt dabei ähnliche Themen in einem ähnlichen Setting mit vergleichbaren Protagonisten ein. Der Unterschied und die Weiterentwicklung im Verhältnis zu „Brothers“ ist aber, dass der narrative Modus dort intensiv – und kritisch – in einen funktionierenden intersubjektiven Gefühlsaustausch auf der Handlungsebene eingebunden wird, und dass Leidensgeschichten dort nur (inter)subjektivitäts-stiftend ‚funktionieren‘, wenn sie von den Beteiligten unmittelbar verbürgt, verarbeitet und zuletzt ganz überwunden werden (vgl. den Argumentationsgang zur Excursion von 4.3.2 über 4.3.3 zu 4.3.4).
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worths Gedicht dem Brief, den Leonard dem Priester schreibt, und folgt wieder einmal der (impliziten) Smithschen Ermahnung, zur Kommunikation echter, unverstellter Gefühle kulturelle Rahmungen einzusetzen. Das textuelle framing, das Wordsworth verwendet, hat aber zur Folge, dass Wordsworth auch weiterhin auf die enge Mitarbeit seine Leser angewiesen ist, damit die Gefühle so fließen wie sie sollen.
4.1.3.4 „The Old Cumberland Beggar“: Theater des Rituals – Ritual des Theaters „The Old Cumberland Beggar“ findet zwar eine Lösung für die Sympathiekrisen von „Simon Lee“ und „Brothers“ und erarbeitet von daher ein Theater des Individuums und der Gemeinschaft – allerdings, wie wir sehen werden, mit einigen Vorbehalten. Um diese zu beseitigen, wechselt Wordsworth wieder einmal auf die mediale Seite und beschwört seinen Text als einzig mögliche Erfüllung des geschilderten volkstheatralischen Rituals. Dennoch bleiben auch so noch mediale Unterschiede zwischen Volkstheater und Gedicht, die diesen Medienwechsel problematisch erscheinen lassen. Das Gedicht bezeichnet sich selbst als „Description“ und hebt mit der narrativen Beschreibung einer Beobachtung durch das lyrische Ich an („I saw an aged Beggar in my walk“), also einem Element der Begegnungsgedichte. Nach 21 Versen wird diese Beobachtung von einer Beschwörung des Bettlers in der Textgegenwart abgelöst, die an den Beginn von „Simon Lee“ erinnert: […] he seems not older now; He travels on, a solitary man, So helpless in appearance […] . . . . . . […] On the ground His eyes are turn’d, and, as he moves along, They move along the ground; and evermore, Instead of common and habitual sight Of fields with rural works, of hill and dale, And the blue sky, one little span of earth Is all his project. […] (229, ll. 23f.; 230, ll. 45–51; erste Hervorhebung von mir)
Von diesem Leidensspektakel ausgehend beschreibt das Gedicht eine intensive und ritualisierte Form der Begegnung mit dem Bettler. Der Bettler unternimmt nämlich, wie das Gedicht in einem Epigraph erklärt, „a stated round in [the] neighbourhood [...] [on] certain fixed days“ (228). Diese wird für die Gemeinschaft, eine Dorfgemeinschaft ähnlich wie in „The Brothers“, zum erinnerungsstiftenden Ritual:
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[…] While thus he creeps From door to door, the Villagers in him Behold a record which together binds Past deeds and offices of charity Else unremember’d, and so keeps alive The kindly mood in hearts which lapse of years, And that half-wisdom half-experience gives, Make slow to feel, and by sure steps resign To selfishness and cold oblivious cares. (231, ll. 79–88)
Die regelmäßigen Spenden gehen vor allem mit Erinnerungen an frühere Wohltaten einher. Gerade diese halten in den Spendern die Güte wach, wohingegen bei sporadischen, daher nicht intensiv erfahrenen und zugleich leicht vergessenen Handlungen eine typische Halb-Weisheit im Menschen heranwächst, die einen oberflächlichen Egoismus und eine beständige Sorge um das eigene Wohlergehen zur Folge hat. Das Ritual ermöglicht dagegen ein Gemeinschaftsgefühl, das sich sogar in einer reiferen und humaneren Individualethik niederschlägt: Aus einem Theater, in dem die ‚Zuschauer‘ nicht nur betrachten, sondern auch handeln, ersteht eine erfahrbare Gemeinschaft und ein erfahrbares Selbst. Damit ist diese Gemeinschaft an dieser Stelle politisch und epistemologisch repräsentiert: Die Teilnehmer erfahren die Werte und Pflichten dieser Gemeinde und damit ihre Beteiligung an ihr, erhalten aber zusätzlich Kenntnis darüber, wie sie als Einzelund Kollektivwesen anthropologisch und psychologisch funktionieren. Das Gedicht unterscheidet allerdings streng zwischen Teilnehmern des Rituals, also solchen, die, wie zitiert, zuschauen, spenden und nachdenken, und solchen, die distanzierter sind, scheinbar nur zuschauen – sowohl dem Bettler als auch den Spendern –, aber selbst nicht aktiv werden. Diesen wird der Bettler nicht zum „record“, also zum Verzeichnis der gemeinschaftlichen Güte, sondern er hat eine strengere Funktion: The easy man Who sits at his own door, and […] . . . . . . Feeds in the sunshine; the robust and the young, The prosperous and unthinking, they who live Shelter’d, and flourish in a little grove Of their own kindred, all behold in him A silent monitor, which on their minds Must needs impress a transitory thought Of self-congratulation, to the heart Of each recalling his peculiar boons, His charters and exemptions […] (232, ll. 108f. u. 111–117; meine Hervorhebung)
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Den Mittelklassefamilien und ihren leicht selbstgefälligen Vorständen, die, wie es scheint, die Feierabendsonne auf der Bank vor dem Haus genießen, wird der Bettler zu einem Mahnmal („silent monitor“), dankbar zu sein für die Gnade, die ihnen selbst zuteil geworden ist. Ihre „self-congratulation“ ist etwas völlig anderes als das „kindly mood“, das Wordsworth bei den Spendern diagnostiziert, und eher mit der „selfishness“ verwandt, die die Spendenwilligen ja gerade vermeiden. Wordsworth zieht in die Grade der Teilnahme am Gemeinschaftstheater zudem deutliche gesellschaftliche Unterschiede ein, denn gerade die „poorest of the poor“ sind die eifrigsten Spender: […] the poorest of the poor Long for some moments in a weary life When they can know and feel that they have been Themselves the fathers and the dealers out Of some small blessings […] (233, ll. 140–144)
Auch Simon Lee und seine Frau gehörten – expressis verbis – zu diesen Ärmsten der Armen100, was die übergreifende Lösungsfunktion dieses Gedichts noch deutlicher macht: Wordsworth entwirft in „The Old Cumberland Beggar“ ein Szenario, in dem Leute wie Simon und seine Frau ihren Status als passives Spektakel der Not hinter sich lassen und selbst zu aktiv Handelnden werden können. Aus Akteuren101 werden sodann auch ‚richtige‘ Zuschauer, nämlich eines anderen Spektakels sowie ihres eigenen Handelns gegenüber diesem Spektakel („they can know and feel that they have been / Themselves...“) – Akteure werden im anderen zu Zuschauern ihrer selbst. Nur bei den aktiven Ritualisten aus der Unterschicht wird das Ritual demnach zu jenem Theater der Selbstbetrachtung (im anderen), das identisch und äquivalent ist mit einem Prozess der moralischen und sozialen Einbindung in eine Gemeinschaft. Zugänglich sollte dieses Ritual aber allen Schichten sein, nicht nur der Mittel-, sondern auch der Oberschicht, die Wordsworth in diesem Gedicht an einem Herrenreiter exemplifiziert. Dieser beteiligt sich im Vergleich zu den Familienvätern aus der Mittelschicht aber viel stärker am Spendenritual: The sauntering horseman-traveller does not throw With careless hand his alms upon the ground, But stops, that he may safely lodge the coin Within the old Man’s hat […] (229, ll. 26–29)
100 Die beiden werden auch als „poorest of the poor“ (66, l. 60) bezeichnet. 101 Denn gerade als passives Spektakel stehen Simon und seine Frau auf der Akteursseite des Theaters.
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Bei einer Beteiligung aller wäre das beschriebene Ritual tatsächlich die Lösung für die angehäuften Probleme aus Wordsworths Theaterprojekt: Die Sympathiekrise aus „Simon Lee“ und „The Brothers“ wäre überwunden, da ein – ebenso bewegendes wie verbürgtes – tragisches ‚Geschehen‘ aus dem Volk zu Gemeinschaftsgefühlen einerseits sowie zur Erfahrung individuellen Handelns und subjektiven Wahrnehmens andererseits befähigen und damit die Verbindung der Tragödie des Volkes mit dem Theater des Volkes und des Selbst stiften würde, die Wordsworth für die Lyrical Ballads vorschwebt. Wordsworth wäre aber nicht Wordsworth, wenn nicht ein caveat bliebe, das die Erfüllung verschiebt und weitere Texte nötig – und möglich – macht. Die Relativierungen des Durchbruchs betreffen dabei vor allem die Frage der gesellschaftlich-kulturellen Umsetzung dieses Rituals. Wie wir gesehen haben, funktioniert das neue Theater gerade nicht gesellschaftsweit, sondern nur durch ein Engagement von unten und oben: Die gesellschaftlich zentrale Mittelschicht zieht sich weitgehend in – und auf – ihre Familien zurück.102 Daneben gibt es ein weiteres – und diesmal konstitutiv – aus dem Ritual ausgeschlossenes Subjekt, nämlich den Bettler selbst. Wordsworth hebt zwar mit den „poorest of the poor“ bewusst die Leidensspektakel früherer Gedichte ebenfalls auf den Status von Zuschauer-Handelnden, aber er braucht doch bis zuletzt einen, der ausschließlich Spektakel bleibt. Wie im ersten, längeren Zitat aus dem Gedicht klar gemacht wurde, ist der Bettler selbst ganz dezidiert kein Zuschauer: Sein Blick bleibt auf den Boden geheftet und sieht auch dort nichts mehr: „seeing still, / And never knowing that he sees“, wie Wordsworth an anderer Stelle pointiert (ll. 53f.). Der Bettler ist aus dem Ritual letztlich ausgeschlossen, bleibt sein unbewusster Akteur, auf den keine Gefühle – und damit auch kein Status als ein Subjekt – übertragen103 werden.104 Aus dieser Perspektive wäre die Sündenbockmentali-
102 In den Zeilen 125 bis 140 setzt Wordsworth noch einmal dezidiert die selbstbezogene Mittelschicht von der engagierten Unterschicht ab und wirft ersterer – sehr subtil – eine „cold abstinence from evil deeds“, die sich lediglich zu „inevitable charities“ (l. 137f.) herablasse, vor. Es gibt eben, mit Erich Kästner gesprochen, nichts Gutes außer man tut es! 103 Mitleid wird von den Betrachtern/Spendern vielleicht ‚ausgesandt‘, kommt aber nicht an. 104 Insgesamt tritt das Gedicht zwar gegen eine Politik der panoptischen Überwachung des Bettlers in einem workhouse ein, wie Jeremy Bentham sie zeitgenössisch vorgeschlagen hat, ersetzt die Wächter des workhouse aber durch die Dorfbewohner. Die anti-Benthamschen Deutungen (vor allem Pfau 1997, s.u.) vergessen nämlich, dass Wordsworth dem Bettler jede Aktivität in Abrede stellt und das Überwachungsheim letztlich nur noch aus medizinischen Gründen ablehnt. Der Bettler wird zwar nicht von der Gesellschaft isoliert – aber gerade deswegen von allen beobachtet! Allerdings wird sein Wandern nicht selbst zum workhouse, wie James Chandler behauptet (vgl. Benis 1999: 122f.). Auch findet keinerlei Reaktion des Bettlers auf die Blicke (etwa im Foucaultschen Sinne ihrer Interiorisierung zur Selbstüberwachung, vgl. die Lektüre von House
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tät aus The Borderers noch immer nicht überwunden105 und, was viel schwerer wiegt, auch keine Intersubjektivität hergestellt: Das Gedicht beschwört zwar einen komplexen Zusammenhang von Handeln und Beobachten, kann in seinem Kern aber keine unmittelbare intersubjektive Situation herstellen, in der Handeln und Beobachten sowie die mit den beiden verbundenen Gefühle ad hoc ausgetauscht würden. Und dieser Fehler in seinem Zentrum breitet sich gewissermaßen über das gesamte Ritual aus. Der Bettler reagiert anscheinend nicht auf Spenden – zumindest kann er nicht seinerseits Gefühle aussenden; die Spender reagieren offensichtlich nicht auf die Beobachtung (durch Familienväter auf der Bank) – was die emotionale Intersubjektivität in ihrem Kern fraglich werden lässt. Das Ritual besteht also, wenn man es genau nimmt, tatsächlich durchgehend nur aus Handlungen bzw. Beobachtungen des Handelns anderer, die unter Umständen zur Selbstbeobachtung führen, aber nicht aus unmittelbarer Re- bzw. Interaktion (Handeln des einen, Reagieren als Handeln des anderen, Re-Reagieren usf.). Wordsworth versucht dieses Problem, so scheint es, zu lösen, indem er es ausweitet und einen weiteren Ausnahmepunkt in dieses Ritual installiert:
of Aspen in 3.2.2) statt – den Schritt von der Überwachung zur Selbstüberwachung machen ja die Dorfbewohner, also die Zuschauer! Der Überwacher wird zum Selbstüberwacher, nicht der Überwachte! Pfaus Deutung des „silent monitor“ (Pfau 1997: 188) als Modell der Selbstüberwachung ist daher irreführend, da der Bettler weder sich selbst noch andere betrachtet, sondern schlicht ein stilles Mahnmal ist; Pfau fasst die Bedeutung von ‚monitor‘ anachronistisch als ‚Monitor‘ auf, wo doch schlicht ‚Mahner‘ gemeint ist. Laut Harrison (1994: 57–78) entwickelt Wordsworth ausgehend vom sympathetischen Beobachter bei Adam Smith ein nachaufklärerisches Subjekt, bei dem die transzendental-empirische Duplizität des Menschen als die gesellschaftlich-politische Angreifbarkeit des Individuums im Zentrum der postmonarchischen Gesellschaft wiederkehrt. Daraus entsteht ein von einem ritualisierten Armen interpelliertes Subjekt, das sich seiner eigenen ökonomischen wie epistemologischen Prekarität (Beobachter und Beobachtetes zugleich!) klar wird. Auch wenn man den Bettler in „The Old Cumberland Beggar“ nicht als aktiven Beobachter und damit ‚Interpellator‘ ansetzen kann, sehe ich in Wordsworths Begegnungsdichtung dasselbe problematisch-krisenhafte Theater des Subjekts initiiert wie Harrison. 105 Rieder analysiert mit Bezug auf eine Interpretation durch Cleanths Brooks in „The Old Cumberland Beggar“ eine ritualistische Ausschließungs- bzw. Ausnützungsgewalt, die derjenigen von The Borderers ganz ähnlich sei (Rieder 1997: 62f.). Im Gegensatz dazu arbeitet Collings in seiner Deutung des Gedichts heraus, wie dieses die Gewalt der Borderers gerade überwindet: Der Bettler wird nicht mehr geopfert, sondern wandert als ein bereits lebender Toter von Haus zu Haus. Damit ist die Friedlichkeit von „The Old Cumberland Beggar“ aber eine eingebildete und – im Freudschen Sinne – unheimliche, eine (Kapitelüberschrift) „Ghastly Mildness“ (Collings 1994: 109–115). Letztlich ist der Bettler der Gemeinschaft vollkommen ausgeliefert und damit Herbert aus The Borderers doch ähnlich – überwunden wird das dann, wie wir sehen werden, erst durch die ‚Bettler‘-Figur des Wanderer in The Excursion.
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[…] Some there are, By their good works exalted, lofty minds And meditative, authors of delight And happiness, which to the end of time Will live, and spread, and kindle; minds like these, In childhood, from this solitary being, This helpless wanderer, have perchance receiv’d That first mild touch of sympathy and thought, In which they found their kindred with a world Where want and sorrow were. [...] (231f.; ll. 97–103 u. 106–108)
Mit diesen „lofty minds“ sind zweifelsohne die Dichter gemeint – und damit gerade auch der Verfasser des hier analysierten Gedichts. Wordsworth stilisiert hier seine eigene Rolle als eine Ausnahmeposition im Ritual: Ihm genügte eine einzige (intersubjektive?) Begegnung mit dem Bettler106 in der Kindheit als Initialzündung für sein Weltmitleid, das ihn nun in den Stand setzt, Gedichte – und vor allem dieses Gedicht – zu verfassen und das Ritual textuell zu verbreiten („spread, and kindle“). Wordsworth unternimmt diese riskante Ausnahme also, um letztlich zu einer Lösung für die intrinsischen, vor allem aber die Umsetzungsprobleme des Rituals zu gelangen. Dabei geht es ihm nicht nur um die Herstellung von Intersubjektivität für das Ritual, sondern auch um die Gewährleistung seiner kulturellen Kontinuität angesichts aussterbender Bettler(kultur).107 Die Niederlegung der Begegnung durch den zurückgezogenen Dichter ist hier im Vergleich zum „Preface“ von einem Problem zu einer vorübergehenden Lösung geworden: Vom Bettler geht der Weg über den Dichter zum Gedicht, welches fortan an die Stelle des Rituals tritt und zugleich für dessen Verbreitung sorgt. In diesem Sinne wird der Dichter zu einem Sprachrohr der in „The Old Cumberland Beggar“ evozierten Gemeinschaft und potentiell der britischen Gesellschaft insgesamt.
106 Averill (1980: 121–141) untersucht die Dichterfigur in „The Old Cumberland Beggar“ ebenfalls mit Bezug auf deren Rolle als privilegierter Zuschauer. Zunächst zeigt er, dass Wordsworth alle Zuschauerfiguren in „The Old Cumberland Beggar“ auf die Tragödientheorie seiner Zeit bezieht: Die bei der Beschreibung von Spendern angesprochene moralische Verbesserung entstammt der sentimentalen Tragödientheorie. Der Gedanke, dass die (Mittelklasse-)Zuschauer dankbar für ihr eigenes (milderes) Schicksal würden, ist ein klassisches Theorem zur Tragödie aus Lukrez’ De rerum natura. Die weitestgehende Reaktion, die Herausbildung der „imagination“ durch den Zuschauer und späteren Dichter, ist laut Averill allerdings hauptsächlich Wordsworths eigene Konzeption. 107 Vgl. Wordsworths Anmerkung im Epigraph des Gedichts, das beschriebene Ritual sei „soon [...] extinct“.
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Allerdings deutet das Gedicht schon durch die Unterscheidung der Reaktionen die schwierige Übertragbarkeit des in ihm beschworene Rituals auf eine Lesekultur an und problematisiert dadurch das Konzept einer einbindenden und egalisierenden Gedichtlektüre: Derartige literarische Texte werden ironischerweise hauptsächlich von derjenigen Schicht gelesen, nämlich der Mittelschicht, die auf der Handlungs- und damit der Ritualebene des Gedichts ja nur unzureichend beteiligt war. Somit wird das Manko dieses Rituals zwar ausgeglichen und die inaktive Schicht qua Text am Ritual beteiligt.108 Das Gedicht allein genommen setzt die Ausschließung allerdings von der anderen Seite her fort: „[T]he poorest of the poor“ könnten sich nämlich keine Bücher leisten, sollte das Ritual tatsächlich einmal nur noch in ihnen stattfinden.109 Zudem ist das Problem, über Texte Intersubjektivität herzustellen, eher verschärft als gelöst. An diesem Punkt ruht nämlich wieder einmal alle Hoffnung auf dem Leser und dessen ‚Beobachtung‘ des Gedichts. Der Leser beobachtet seinerseits die komplexe Beobachtungsordnung des Gedichtes (und deren Über-Beobachtung durch den Dichter) und tritt dem Dichter damit gewissermaßen als gleicher gegenüber: Die Lektüre soll nicht nur alle Leser(innen) gleich (und gleich aktiv), sondern dem Dichter als dem privilegiertesten Beobachter des Gedichts ebenbürtig machen. An die Stelle der im Textzentrum fehlenden Intersubjektivität zwischen Bettler und Spender tritt diejenige zwischen Dichter und seinem alter ego, dem Leser. Wordsworth stilisiert den Leser zum Äquivalent eines aktiven Ritualisten. Im Verhältnis zu „Simon Lee“ erhöht Wordsworth allerdings damit den Erwartungsdruck auf den Leser, der mit Gedicht und Dichter in einen diesmal ja gegenseitigen Austausch zu treten hat. Wie genau dieser Austausch
108 Man könnte argumentieren, dass Mittelklasseleser auch keine aktiveren Ritualisten wären als Mittelklassezuschauer. Allerdings dimensioniert Wordsworth die Gedichtlektüre deutlich als aktivere Ritualteilnahme als das träge Zusehen auf der sonnenbeschienen Bank. In der zitierten Stelle behauptet er etwa, dass die Dichter „authors of delight“ seien, die durch ihre Texte ( „good works“ vielleicht auch in diesem Sinne?) die Gefühle bei der Begegnung mit dem Bettler weitertragen („spread, and kindle“). 109 King 2010 problematisiert das Gedicht ebenfalls auf der Basis seiner Verfügbarkeit nur für relativ wohlhabende LeserInnen. Nach seinem Dafürhalten entwickelt der Text auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit ähnlicher ‚humanitarian poetry‘ (45) aber ein Modell, welches das karitative Mitgefühl der Mittelklasseleserschaft als klischiert ansieht, seine Wirkung bezweifelt und daher die Subjekt-Losigkeit des Bettlers ganz bewusst als post-sympathetische schockhafte Konfrontation mit einer Art ‚nacktem Leben‘ inszeniert. Ich teile die Annahme einer derartigen sympathy-skeptischen Haltung Wordsworths in den Lyrical Ballads, glaube aber, dass diese Haltung v.a. daher rührte, dass Wordsworth echte sympathy medial noch nicht umzusetzen wusste. Damit war diese Haltung bewusst vorläufig und stand zur Überwindung in weiteren Werken, v.a. in The Excursion, an.
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aussehen soll, ist an dieser Stelle von Wordsworths Œuvre noch nicht formuliert bzw. formulierbar.110 Demnach haben wir in „The Old Cumberland Beggar“ zwar intensiv erfahren, wie das Wordsworthsche Theater des Menschen für alle funktionieren könnte; von einer vollständigen und garantierten Implementierung dieses Funktionswissens sind wir aber noch immer weit entfernt. Am Ende der Lyrical Ballads, an dem wir mit der Analyse von „The Old Cumberland Beggar“ angelangt sind, stellen sich Wordsworth somit zwei zentrale Herausforderungen, die sich im Laufe seiner weiteren Karriere auch in zwei Hauptwerken niedergeschlagen haben: Zum einen muss er einen Text schaffen, der zwischen Dichter und Leser jenes Theater der Intersubjektivität schafft, mit dem das in „The Old Cumberland Beggar“ beschriebene Ritual an seine Grenzen tritt. Dieser Text heißt Prelude. Es dürfte klar geworden sein, dass The Prelude durchweg im Modus und aus der Perspektive des Dichter-Ichs verfasst sein muss, um jene Subjektivität zu theatralisieren111, aus deren Beobachtung der Leser seinerseits zu einem Subjekt wird. Wordsworth entwirft vor diesem Hintergrund textintern zwei Über-Leser, nämlich S.T. Coleridge und sich selbst, die das Funktionieren einer derart aufgeladenen Poetik gewährleisten sollen. Funktionieren müsste diese aber letztlich bei jeder/m, der/die die Leserposition einnimmt. The Prelude wird also als ein weiteres Text-Theater zu interpretieren sein, in dem auf allen Ebenen der ebenso visionäre wie letztlich unmögliche Versuch unternommen wird, zwischen Dichter und Leser ein Verhältnis identitätsstiftender Inter-
110 Über die Defizite der Gemeinschaftsbildung in „The Old Cumberland Beggar“ herrscht Konsens in der Forschung (etwa Williams 1973: 130–132; Hadley 1995, Rieder 1997: 72, Simpson 2009: 65–68 und Schwalm 2010: 135f.; vgl. aber ohne derartige Problematisierung Bailey 2011: 158: „The Old Cumberland Beggar is able to bind distant communities together through acts of love.“); allerdings ist die Reflexion dieser Defizite im Gedicht selbst wenig bemerkt – und ihre Überwindung in späteren Projekten Wordsworth als Antwort auf die Problematik wenig untersucht worden. Elaine Hadleys anklagender Hinweis (Hadley 1995: 23–30) auf den Medienwechsel vom Ritual zum Text (und von der Gemeinschaft zum Individuum) muss daher relativiert und, wie in dieser Studie geschehen, kulturgeschichtlich stärker kontextualisiert werden. Hadleys Differenzierungen zwischen Ritual und Text sind wichtig, aber Wordsworths Projekt kompliziert eher bestehende ästhetische sowie politisch-soziale Theatermodelle im Zeichen der Subjekt-/Objektduplizität, als dass es diese in den Text verschiebt und verabschiedet. Allerdings hat Hadley mit ihrer These, dass sympathy in diesem Gedicht auf Beobachtung reduziert wüde, auch wieder recht (aber dezidiert nicht bei Smith selbst, wie sie auf S. 19 behauptet): Gegenseitigkeit erreicht Wordsworth erst in der Excursion. 111 Diese Theatralisierung findet im „Old Cumberland Beggar“ ja nicht statt: Obwohl der Dichter auf der Inhaltsebene zum priorisierten Gemeinschaftsmitglied und durch seine Aufrufe auch zum politischen Sprachrohr des Volkes wird, wird er doch als Subjekt – gar in einem Theater seines fortgesetzten Handelns-Beobachtens – nicht greifbar; das Gedicht steht fast durchweg in der 3. Person („description“).
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subjektivität festzuschreiben. Wie sich zeigen wird, muss diese Intersubjektivität tatsächlich erst auf der Handlungsebene eines dramatischen Textes gestiftet werden, bevor sie sich auf das Verhältnis von Text, Dichter und Leser spiegeln lässt. Dieser Text ist The Excursion. In diesem Sinne ist das Prelude (Kapitel 4.2) dann tatsächlich nur das ‚Vorspiel‘ zur Excursion (Kapitel 4.3). Damit in der Excursion aber endlich das intersubjektive Theater komplettiert wird, das Wordsworth von Beginn seiner Karriere vorschwebt, muss diese medialisierte Intersubjektivität zusätzlich gesamtgesellschaftlich zugänglich gemacht werden – wodurch zuletzt, wie wir sehen werden, auch The Excursion an ihre Grenzen tritt. Aus dieser Perspektive ist auch dieses Werk wiederum nur eine Ouvertüre, nämlich zum historischen Roman Walter Scotts (Kapitel 5), dessen erstes Beispiel im Jahre 1814, dem Jahr der Veröffentlichung von The Excursion, erschienen ist. Die Romantik ist produktiv gerade auch in den Fragen, die sie offen lässt...
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4.2 The Prelude als Theater des Subjekts Eines der Desiderate der Lyrical Ballads ist ein Theater der Intersubjektivität, bei dem sich zwei Textsubjekte, seien es Dichter-Ich, Leser oder sogar der Text selbst, gegenseitig beobachten und wechselseitig konstituieren. Bei einem derartigen Projekt muss die Beobachter- bzw. Leserposition im Text selbst angelegt sein. Wie wir sehen werden, modelliert Wordsworth im Prelude zu diesem Zweck textuelle Figurationen von Idealrezipienten. Vorher geht (die textuelle Figur von) Wordsworth aber auf langen Strecken des Prelude durch ein krisenhaftes Selbst-Theater, das er schließlich in einer intersubjektiven Gemeinschaft zu lösen versteht, als deren Mitglied er zuletzt auch den (Ideal-)Leser entwirft. Das Prelude ist ein stark an die epische Tradition angelehntes retrospektives autobiographisches Langgedicht, bei dem ein ‚erzählendes‘ Dichter-Ich die allmähliche Dichterwerdung eines erlebenden Ichs von Kindheit an rekonstruiert. Entstanden ist es in mehreren Fassungen zwischen 1798 und dem Tode des Dichters 1850. Bereits 1805 lag es in seinen endgültigen Umfang von 13 Büchern vor, welche aber zu Lebzeiten nicht veröffentlicht, sondern in einer Reinschrift zurückgehalten und immer weiter überarbeitet wurden, bis dieses Manuskript kurz vorm Tode Wordsworths 1850 eingeteilt in nun 14 Bücher zum Druck freigegeben wurde. Die Fassung von 1805 ist heute die maßgeblichere und liegt auch der hiesigen Untersuchung zugrunde. Das Prelude schildert die Dichterwerdung seines Autors von dessen Kindheit im Lake District über seine Schul- und Studienzeit, die Kontinentalreisen und eine Alpenüberquerung beinhaltet, bis hin zum traumatischen Erlebnis der Französischen Revolution, dessen Überwindung als Ausgangspunkt des Textes selbst inszeniert wird. Die Erzählweise des Textes ist daher die Auftrennung in ein erzählendes und ein erlebendes Ich, wobei auf der Ebene von ersterem starke lyrische Momente hinzutreten.112 Zu Beginn inszeniert sich ein im Präsens sprechendes Dichter-Ich als Stadtflüchtiger, „from yon City’s walls set free“ (1, 7), der erst durch diese Befreiung zu sprechen anheben kann.113 Da ein umfangreicher Abschnitt des Prelude, näm-
112 Das Prelude ist zusammen mit den Lyrical Ballads einer der meistinterpretierten literarischen Texte der angloamerikanischen Welt. Auf einen regelrechten Forschungsüberblick muss daher verzichtet werden; die folgende Analyse setzt sich aber nicht nur mit thematisch einschlägiger, sondern auch mit grundsätzlich einschlägiger Forschung zu diesem Zentraltext der britischen Romantik auseinander. 113 Im Folgenden wird aus der von Mark L. Reed 1997 herausgegebenen Ausgabe des sog. Thirteen-Book Prelude von 1805 zitiert (Cornell Wordsworth) und zwar aus dem sog. „Reading Text“ im ersten Band der Ausgabe, nach folgendem Schlüssel: Buch, Vers (beides in arabischen Ziffern).
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lich die Bücher 7 bis 10, den krisenhaften Aufenthalt des Sprechers (als intradiegetischer Charakter) in London und Paris schildert, an dessen Ende die Überwindung dieser Krise durch das Schreiben von Versdichtung geschildert wird, liegt es nahe, als (inszenierten) Anfang und Grundbedingung des Prelude ebendiese poetische Bewältigung der Großstadt anzusetzen.114 Zur Verdeutlichung dieser Struktur bezieht sich der Anfang von Buch 11 expressis verbis sowohl auf das Überwundene als auch auf den Anfang von Buch 1 (zurück): Die dort für das erzählende Ich beschriebene Befreiung aus der Großstadt ist nun gewissermaßen auch für das erlebende Ich erfolgt.115 Das Prelude ist demnach ein Text, der die Bedingungen seiner Möglichkeit aus seinem Ende heraus selbst schafft, und seine Legitimation damit, wie Heinrich von Kleist in anderem Zusammenhang im Hinblick auf romantische Rhetorik sowie revolutionäre Politik pointiert, beim Reden gewissermaßen selbst verfertigt.116 Auf die Zirkularität und Performativität dieser (offenen) Textgestalt wird zurückzukommen sein; für die Erschließung dieser Struktur liegt es nahe, zunächst die Stadtkrise zu analysieren und sodann auf die ersten sechs Bücher sowie das Prelude insgesamt zurück- bzw. auszugreifen. Es wird sich zeigen, dass sich das Prelude aus einer auf der Inhaltsebene erzählten Stadtkrise, die vor allem eine Krise des großstädtischen Theaters sowie eines sich daraus ergebenden Theaters des Selbst ist, zu einem (auf der Vermittlungsebene) vielfältigen Theater der Intersubjektivität entwickelt, das aber einige Fragen offen lässt. Die übergreifende Theatralität des Prelude ist in Ansätzen erkannt und interpretiert worden. Wenn die Interpretation über Einzelstellen117 hinausging und die Ästhetik des Gesamttextes in den Blick nahm, geschah dies allerdings praktisch ausschließlich mit Bezug auf überzeitliche Theater- bzw. Theatralitätsmodelle und ohne Berücksichtigung zeitgenössischer Theatervisionen, zu denen Wordsworths Theater der Intersubjektivität gehört.118 Das Prelude thematisiert auf allen
114 Vgl. für eine weitere umfassende Lektüre des Prelude, die ebenfalls die Londonepisoden des 7. Buches in den Mittelpunkt stellt, Pfau 1997, vor allem 362–382 (s. a. weiter unten). 115 Zu Beginn des 11. Buches heißt es: „Not with [Man’s unhappiness and guilt] began / Our Song; and not with these our song must end.“ (11, 7f.), bevor sodann die Formulierung „gentle breeze“ aus der ersten Zeile des Prelude zitiert wird („[...] gently, breezes [...]“; 11, 10). 116 Heinrich von Kleist „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (1805/6). Vgl. zu Strukturen der Selbstlegitimierung im Prelude auch 4.2.3 und 4.2.4. 117 So wurde etwa die Schilderung der Theaterbesuche in London durchaus auf ihre Theatralität im Abgleich mit zeitgenössischen Theatermodellen befragt (vgl. das Folgende), dies aber nicht auf die Poetik und Anlage des Gesamttexts ausgeweitet. 118 Ähnlich wie bei den Lyrical Ballads ist auch das Prelude schon eingehend auf theatralische Strukturen untersucht worden. Herbert Lindenberger macht im Prelude v.a zwei Theatermomen-
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Ebenen und in vielerlei Hinsicht die Kultur des Theaters und modelliert dabei in Ansätzen ein alternatives Theater, das sich in der Excursion vollständig realisiert. Intermediale Thematisierungen verdichten sich im Prelude immer wieder zu Imitationen des Theaters und gehen von dort sogar zur Implementierung einer alternativen (literarischen) Bühne über. Wie in den theoretischen Überlegungen zu dieser Studie dargelegt, stärkt dergestalt die romantische Literatur die eigentlich ‚schwache‘ Intermedialität zwischen Theater und (nichtdramatischem) literarischem Text und bezieht dabei die Position eines alternativen literarischen Theaters.
4.2.1 B uch 7: Das zeitgenössische Theater und die epistemisch-politische Repräsentation des Subjekts In Buch 7 des Prelude, dem Buch, das Wordsworths Aufenthalt in London schildert, wird das zeitgenössische Theater überaus ausführlich behandelt. Words-
te aus, nämlich einerseits „language as reenactment“, d.h. ein prozessualer (Mit-)Vollzug des Geschilderten in und durch die schildernde Sprache (Lindenberger 1963: 41–67), und ein damit verbundenes Moment der „interaction“, d.h. eine vor allem sprachlich vollzogenen Struktur der Verbindung, die Innen und Außen bzw. Geist und Körper genauso umfasst (41–98) wie Begegnungen des erlebenden Ichs mit anderen Charakteren (205–231). Überraschenderweise wird das erlebende Ich bei diesen Begegnungen aber (auch) als ein spectator ab extra gesehen, der auf Distanz zu den Begegneten bleibt – womit sich Lindenberger m.E. in einen Widerspruch verwickelt. Dieser könnte gelöst werden durch die hier vorgenommene Differenzierung von Inhaltsebene und Vermittlungsebene, hin zur Analyse des Prelude als eines (durchaus problematischen) intersubjektiven Theaters der Fremd- und Selbstbegegnung. Auf diese Weise könnte auch Lindenbergers Behauptung, das Tragische im Prelude sei überall eine bereits bewältigte Tragödie (23–39), differenziert und relativiert werden: Auf der Vermittlungsebene gibt es von Anfang an ein (bedingt) funktionierendes Intersubjektivitätstheater, dessen – durchaus tragische – Entstehung auf der Inhaltsebene geschildert wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Ashton Nichols’ Charakterisierung des Prelude als „Literary Drama“ sowie (bezogen auf eine Frühfassung) als „Dialogic Dramatic Monologue“ (Nichols 1998: Teile von Kapitelüberschriften S. 29 und 56) – auf beides wird zurückzukommen sein. Die wichtigste poststrukturalistische Interpretation des Prelude als eines Theaters ist Kneale 1988: Kneale untersucht theatrale Szenen im Prelude als Figurationen der Selbstbegegnung des Subjekts in einer Sprache, die nicht Identitäten und Distanzen, sondern Differenzen erzeugt, welche narzisstisch um sich kreisen: Jedes Theater im Prelude ist Theater im Subjekt und in der Sprache. Ich möchte solche Überlegungen im Folgenden stärker auf tatsächliche theatertheoretische und -historische Aspekte beziehen; auch ignoriert Kneale den Aspekt intersubjektiver Theatralität im Prelude (obwohl oder gerade da er Dorothy und Coleridge als „second selves“ von Wordsworth erkennt [119], das aber nicht ausarbeitet).
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worth greift das Thema ‚Theater‘ in Vers 281 auf und lässt es die restlichen 460 Verse des Buches – sowie letztlich auch die folgenden drei Bücher – nicht mehr los. Die Beziehung des Prelude zum zeitgenössischen Theater ist demnach schon formal betrachtet nicht herablassend und kurz angebunden, sondern eher obsessiv und energisch korrektiv. Im Zentrum des Interesses steht dabei das illegitimate theatre, dessen Formen zum autobiographisch rekonstruierten Zeitpunkt119 längst auf alle Theater Londons übergegriffen und das legitimate drama in den Schatten gestellt haben.120 Wordsworths am ausführlichsten thematisierten Theaterbesuche beziehen sich auf Sadler’s Wells, ein bereits erwähntes berühmtes illegitimate theatre.121 Wordsworth beschwört die dort gegebenen Aufführungen als multimediale Spektakel, nämlich „[exhibitions] of wid[e] scope, where living men, / Music, and shifting pantomimic scenes / Together join their multifarious aid / To heighten the allurement“ (7, 282–285).122 Dass dieses Theater letztlich aus der Not der Theatergesetzgebung die Tugend früher Multimedialität machte, wie wir gesehen haben, verschweigt er geflissentlich und bezichtigt es lieber der gezielten Reizüberflutung. An anderer Stelle beschreibt er dann allerdings, wie der Illusionismus dieses Spektakels durch eine unabsichtliche Thematisierung des medialen Rahmens, in dem es stattfindet, (nämlich den Schlag auf die Bühnenbretter) unterbrochen wird: […] The lustres, lights, The carving and the gilding, paint and glare, And all the mean upholstery of the place, Wanted not animation in my sight, Far less the living Figures on the Stage, Solemn or gay: whether some beauteous Dame Advanced in radiance through a deep recess Of thick entangled forest […]
119 Das Buch thematisiert hauptsächlich einen London-Besuch Wordsworths aus dem Jahre 1791, bezieht dabei aber auch Erlebnisse eines späteren Besuchs von 1802 ein (vgl. Wordsworth 1995: 601). 120 Das 7. Buch des Prelude erwähnt auch Besuche von Aufführungen von legitimate dramas (496–516), allerdings recht knapp und in starker Anlehnung an die Aussagen über die Besuche im illegtimate theatre. 121 Vgl. 2.1. 122 Zur Multimedialität kommt noch eine ‚Multipersonalität‘, die „Singers, Rope-dancers, Giants and Dwarfs, / Clowns, Conjurers, Posture-masters, Harlequins“ (7, 294f.) umfasst. Als Theaterformen erwähnt Wordsworth die zeittypischen patriotischen Stücke („sea-fight“, 314), Katastrophendramen („[s]hipwreck“, 315) sowie (vgl. ausführlich 4.2.6) eine Art ‚bürgerliches‘ Melodram („some domestic incident“, 315).
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[…] or mumbling Sire, A scare-crow pattern of old Age, patch’d up Of all the tatters of infirmity, All loosely put together, hobbled in, Stumping upon a Cane with which he smites, From time to time, the solid boards, and makes them Prate somewhat loudly of the whereabout Of one so overloaded with his years: (7, 441–448 u. 455–462)
Wordsworth bietet hier eine Programmatik des zeitgenössischen illegitimate theatre, seiner Charaktere und medialen Ausstattung, die zwischen Innovation und Vergrößerung einerseits sowie Billigkeit („mean upholstery“) und Fassadenhaftigkeit andererseits schwankt, und damit jene Übergangsphase vermittelt, während derer die kleineren Theater des 18. Jahrhunderts allmählich zu den Vergnügungstempeln des 19. Jahrhunderts ausgebaut wurden. Auf der einen Seite wird demnach der Illusionismus des zeitgenössischen Theaters zunehmend stärker und überwältigender; auf der anderen Seite kann es die Künstlichkeit seines mediale Rahmens nicht hinter sich lassen bzw. entwickelt gerade in seiner überbordenden Reizdichte eine neue Künstlichkeit. Wordsworths Konzept eines natürlichen Theaters des Menschen muss sich hierzu in prononcierten Gegensatz stellen, und es tut dies durch eine Darstellung dieser Künstlichkeit und ihrer Grenzen, die letztlich genauso detailreich und überbordend ist wie das Dargestellte selbst.123 Text-Theater tritt an dieser Stelle bereits an die Stelle von Bühnentheater, auch wenn es hier noch kaum alternative, sondern imitativ-parodistische Zielsetzungen hat. Wordsworths Skepsis gegenüber dem Illusionismus dieses Theaters wird besonders stark, wo er einen Missbrauch seines eigenen Mediums, näherhin der Schrift, durch das Theater vermutet. To have, for instance, brought upon the scene The Champion Jack the Giant-Killer, Lo! He dons his Coat of Darkness […] . . . . . . Delusion bold! and faith must needs be coy; How is it wrought? His garb is black, the word Invisible flames forth upon his Chest! (7, 302–304 u. 308–310)
123 Die Theaterszene ist deutlich länger als hier zitiert und enthält Impressionen anderer Charaktere, nämlich eines „sovereign King“, eines „Captive led in abject weeds“ sowie eines „romping Girl“.
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Die textkritische Ausgabe gibt hier bei „Invisible“ vermutlich getreu die vergrößerte Handschrift wieder, die Wordsworth in seiner fair copy einsetzt, um die Verwendung von Schrift auf der Unterhaltungsbühne zu persiflieren, aber auch durch ein eigenes Schrifttheater zu konterkarieren. Anders als von Teilen der Forschung dargestellt124, wird Schrift nämlich erst in Wordsworths Text und nicht bereits in der rekonstruierten Bühnensituation in erhöhter Intensität eingesetzt. Was Wordsworth an dieser Stelle kritisiert, ist der Einsatz von Buchstaben als einer schlichten Markierung: Der schwarze Mantel des Schauspielers verhüllt dessen Körper so vollkommen, dass er auf der – wohl ebenfalls schwarzen – Bühne schlicht nicht mehr zu sehen ist. Daher muss der Mantel mit einer auffälligen Markierung („flames forth“) versehen werden, die nicht nur den „GiantKiller“, sondern auch die Perfektion der Mimesis von Unsichtbarkeit sichtbar werden lässt. Dies ist natürlich ein philosophisch interessanter Fall der Zelebrierung perfekter Illusion durch ihre Aufhebung; er wird aber nicht erst durch die Zeichen der Schrift möglich. Vielmehr kann jede materielle Spur in einer helleren Farbe diese Funktion übernehmen, und Wordsworth kritisiert die Herabwürdigung, die Entsemiotisierung der Schrift von einem symbolischen zu einem primitiven deiktischen Zeichen („da ist irgendetwas“). Ein würdevolles Schrifttheater ist für Wordsworth, wie wir sehen werden125, etwas anderes, und er deutet es in der Großschreibung von „Invisible“ auch schon an – nämlich die Ausstellung der Schrift in ihrer Materialität, die über den symbolischen Aussagewert der Zeichen vorsichtig hinausgeht, sich dabei aber intensiv und verstärkend auf diesen bezieht126 – und nicht nur die rein strategische und affirmierende Bloßstellung
124 Vgl. etwa Simpson 1982: 53, der im „Invisible“ das Abzeichen einer „relation of negation“ zwischen Signifikant und Signifikat sieht und somit Schrift als eine Figur des Theaters im Prelude auffasst. Das Theater wiederum verkörpert laut Simpson die Täuschungsfähigkeit der Repräsentation in einer ‚überrepräsentierten‘ Stadt. M.E. geht es in dieser Stelle aber weniger um eine Reflexion auf das sprachliche Medium (das ja kein signifikanter oder gar emblematischer Teil des Bühnengeschehens ist), sondern schlicht um die (Anklage einer) Ausnützung der Sprache! 125 Vgl. 4.2.4. 126 Nur in Wordsworths Text, aber nicht schon auf der Bühne, wird daher auf das Funktionieren von Schrift reflektiert – und zwar durchaus im Sinne der Andeutung eines Über-Theaters, das nicht auf dem Theater, sondern erst im Schrift-Text stattfinden kann: Wo die Bühne ihre (visuelle) Darstellung von Unsichtbarkeit zerstören muss, um sie überhaupt zu kommunizieren, kann die Schrift alles Unsichtbare ganz einfach bezeichnen und damit darstellen – und das sogar, wenn die Schrift künstlich vergrößert und damit ihre Visualität verstärkt/thematisiert wird. Wordsworth deutet hier demnach ein Über-Theater im literarischen Text an, das mit seinen Mitteln ganz bequem alles Unsichtbare darstellen und dabei sogar die Medialität des versagenden visuell-akustischen Theaters einfließen lassen kann. Vgl. Chase (1986: 32–64), die die Leichtigkeit der Darstellung von Unsichtbarkeit durch Sprache im Gegensatz zum Theater ebenfalls be-
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des Funktionierens eines anderen, in diesem Falle visuell-ikonischen Mediums! Eine tatsächlich intermediale Thematisierung des Theaters in der Literatur wächst sich zu einer Imitation aus, welche aber geradezu konterkarierend wirken soll: Wordsworth bezieht sich hier auf ein Auftreten der (Literatur-)Schrift auf dieser (Theater-)Bühne127, wobei er mit seiner Großschreibung die Vergrößerungsund Vergröberungspotentiale der zeitgenössischen Bühne imitiert, um genau dadurch auch ein besseres Theaters in seinem eigenen Medium anzudeuten. Die pragmatische Intermedialität zwischen Drama und Theater ist hier signifikant ausgesetzt; gerade deswegen kann eine intermediale Einzelthematisierung, die sich zu einer Imitation auswächst, anstelle dieser Intermedialität eine Provokation beider Medien vornehmen, die vor allem für das Textmedium, näherhin die romantische Versdichtung, progressives Potential entfaltet.128 Eine alternative Theatralisierung der Schrift ist aber nicht Wordsworths Hauptanliegen bei der Konzipierung eines neuen, die zeitgenössische Bühne überwindenden Theaters. Vielmehr geht es ihm um die Realisierung eines Theaters, das Intersubjektivität vermittelt, also sowohl darstellt als auch unter den Beteiligten selbst vollzieht. Daher konzipiert Wordsworth eine viel konkretere Aufhebung des zeitgenössischen Theaters in der Beschreibung (der Beobachtung) des Publikums. […] Nor was it mean delight To watch crude nature work in untaught minds; To note the laws and progress of belief; Though obstinate on this way, yet on that How willingly we travel, and how far! (7, 297–301)
tont, von dort aber zu sehr zur Erkundung einer Verunmöglichung von Wordsworths Selbst-Repräsentation gerade in und durch die Sprache übergeht. Ich erkunde ebenfalls die Grenze von Wordsworths Theater des Selbst – gerade auch die Grenzen der Sprache dabei, die wiederum aufs Visuelle zurückverweisen/-fallen (vgl. 4.2.6) –, arbeite aber auch Wordsworths Bewusstsein für diese Grenzen (die Grenzen jeder Art von Medialisierung des Subjekts) heraus sowie seine ständige Suche nach Alternativen, um die Vermittlung und Implementierung von Subjektivität letztendlich doch, nämlich als Intersubjektivität, zu erreichen. 127 was für sich genommen schon starke Intermedialität im Paechschen Sinne wäre (vgl. 1.3.1). Man könnte mit Hauthal argumentieren, dass das Theater hier auf seine Interdependenz mit der (Dramen-)Schrift hinweise – allerdings handelt es sich hierbei aber gerade um ein Theater, das nicht vom Drama oder anderen Textvorlagen abhängig ist und deswegen Sprache nur als Markierung verwendet. 128 Vgl. 1.3.2.
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Aus dem Bühnentheater ist unversehens ein Theater der Zuschauer geworden, deren „minds“ offensichtlich gerade deswegen so leicht einzusehen sind, da sie ungebildet und damit einfach und vorhersehbar sind. In die Beobachtungen schließt der Sprecher aber sich selbst ein („we“); ganz wie im „Preface“ zu den Lyrical Ballads beschworen129, ist die Beobachtung der anderen (Beobachter) demnach verknüpft bzw. potentiell verknüpfbar mit Selbstbeobachtung. Allerdings ersteht hier (auf der Inhaltsebene) ein Theater der Intersubjektivität nur in Ansätzen, da die Zuschauer, noch zu sehr vom unnatürlichen und distanzierten Bühnengeschehen gebannt, nicht miteinander in emotionalen Austausch treten bzw. mit den ebenfalls entfernten und sich verstellenden Schauspielern dieses Theaters nicht zu einem solchen Austausch kommen können. An diesem Punkt der Geschichte des Dichters, so stellt es der Autor Wordsworth dar, sind wir von einem Theater der Intersubjektivität auf der Erlebens-Ebene noch recht weit entfernt. Im Prelude versteift sich der (rekonstruierte, fiktionale) Dichter nämlich auf Kosten der gegenseitigen Beobachtung und Erfahrung zunächst auf die im Theater möglich gewordene Selbstbeobachtung und lässt dabei sowohl die Beobachtung anderer Beobachter als auch die gegenseitige Beobachtung vorerst hinter sich – mit fatalen Folgen auf Jahre hinaus! Aus den Besuchen des illegitimate theatre in London ersteht nämlich ein schicksalhaftes Theater des eigenen Geistes: […] Through the night Between the show, and many-headed mass Of the Spectators, and each little nook That had its fray or brawl, how eagerly, And with what flashes, as it were, the mind Turn’d this way, that way! sportive and alert, And watchful, as a kitten when at play, (7, 466–472; meine Hervorhebung)
Die differenzierte Beobachtung des Publikums wird hier zusehends zum distanzierten Blick durch das Dunkel des Parketts130 auf eine „many-headed mass“ und deren unübersichtliches Treiben. Gerade in diesem (bzw. jenem) Moment wird der Geist des (fiktionalen) jungen Wordsworth in Bewegungen, die den Spielbewegungen eines Kätzchens ähneln, zugänglich: Das zunächst vom Bühnengeschehen auf die Zuschauer ausgeweitete Theater wird hier entscheidend verengt zum Theater des Geistes nur eines Zuschauers. Zudem wird diese Theater-Erfahrung mit einer weiteren, noch weiter zurückliegen-
129 Vgl. 4.1.1. 130 „[N]ight“ ist hier räumlich als die (gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmende) Dunkelheit des Zuschauerraums aufzufassen.
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den assoziiert, bei der gerade das Bewusstsein, „where [Wordsworth’s younger self] was“, nämlich in einem Zuschauerraum, bei diesem Zuschauer für eine emotionale Intensität sorgt, die die herkömmliche Theatererfahrung deutlich übertrifft. Das jugendliche Ich nämlich, so heißt es weiter, „gladdened more than if [he] had beheld / Before [him] some bright cavern of romance“ (7, 82–84). Die Selbsterkenntnis wird zur Bühne, die das zeitgenössische Unterhaltungstheater explizit ablöst.131 In der Folge beschäftigt sich Wordsworths persona mit der zeitgenössischen Entgrenzung von Theater und Politik.132 Politische Praxis wird ganz bewusst als Form des Theaters aufgefasst, denn Politik ist, so Wordsworth, „more near akin to [theatrical entertainments] than [the different] names imply“ (7, 520), also letztlich (fast) dasselbe wie das Theater trotz der anderen Bezeichnung und des höheren Ansehens. Folgerichtig wird der Westminster Palace, den das jugendliche Ich besucht, zum „great Stage / Where Senators […] perform“ (522f.). Welche Form von Theater erwartet Wordsworths younger self in diesem Parlament? Zunächst
131 Die Stelle ist gerade in der neueren Forschung als Überwindung des (Bühnen-)Theaters durch eine Alternative erkannt worden: So sieht Thomas Pfau den Moment als eine Bewältigung des Theaters durch ein Subjekt, das zugleich in seinem bzw. als ein „cultural unconscious“ (Pfau 1997: 376) kartiert wird. Pfau liest die Stelle tendenziell eher als antitheatralisches Moment, interpretiert in der Folge aber – wie ich – den Diskurs dieses Ichs ebenfalls als ein Theater (s.u.). Auch Plotz (2000: 38f.) verfolgt an dieser Stelle die Aufhebung des Theaters in einer es bemeisternden Versdichtung, auf deren eigene Theatralität er dann nicht mehr eingeht. Wichtig ist auch die Deutung von Kneale (1988: 117f.), der hier – in einer unentscheidbaren Oszillation zwischen Zuschauer und Akteur einerseits und einem (unendlichen) Zuschauen des Zuschauens andererseits – eine zentrale Szene der Entstehung eines Theaters des Subjekts, das freilich in der selbstreferentiellen Sprache endet, ansetzt. Die ausführlichste Würdigung der Passage stammt von Betsy Bolton, die in dieser Szene eine Distanzierung des romantischen Melodramas durch Wordsworth zu einem „theatre of the mind“ (Bolton 1997: 751) sieht, das dieses zugleich aber auch verinnerlicht und ‚heimelig‘ macht. Insgesamt wird Wordsworths ‚Theater‘ (wozu Bolton auch die Lyrical Ballads rechnet, vgl. 4.2.6!) so eines des problematischen und zutiefst ambivalenten Bezugs zum Unterhaltungstheater seiner Zeit. Nach meiner Ansicht ist für Wordsworth aber eher die mediale Distanz als die emotionale Nähe zum illegitimate drama problematisch. Auch Taylor 2009 verzeichnet in Buch 7 zunächst eine Annäherung von Wordsworths Poetik an die illegitime Theaterkultur Londons, da diese im Zeichen der ‚legitimacy‘ politisch marginalisiert werde. In der ‚Maid of Buttermere‘-Szene (vgl. ebenfalls 4.2.6) werde diese Annäherung aber durch die Inszenierung eines normierenenden und Gefühle regulierenden Theatermoments konterkariert, welcher eher mit Burkes Theaterästhetik in Zusammenhang zu bringen sei. M.E. wird Burkes Tragödienpoetik aber nicht zum Muster für das Prelude insgesamt; gerade die ‚Maid of Buttermere‘-Stelle möchte ein Theater der Intersubjektivität implementieren. 132 Vgl. 2.2.2.
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ist es die herkömmliche Ästhetik der Monarchie, die überwältigen und zum freiwilligen Gehorchen bewegen soll: Oh! the beating heart! When one among the prime rose up, One, of whose name from Childhood we had heard Familiarly, a household term, like those The Bedfords, Glocesters [sic], Salisburys of old, Which the fifth Harry talks of. Silence! hush! (7, 514–529)
Bei dem aufgerufenen Politiker handelt es sich zwar allem Anschein nach um William Pitt, den damaligen Premierminister Großbritanniens.133 Allerdings ersteht hier – auch in der Wahrnehmung durch den jungen Zuschauer – nicht etwa der Eindruck eines ‚demokratischen‘ Theaters des Volkes. Mit der Referenz auf Shakespeares Mythisierung von Henry V zum britischen Über-Monarchen (bzw. auf die dem fiktionalen König in den Mund gelegte Mythisierung seiner Kampfesbrüder zu Über-Adeligen134) wird vielmehr vor allem Burkes Theater der Monarchie aufgerufen, das das younger self gerade zu einem Zeitpunkt in ergebene Aufregung („Silence! hush!“) versetzt, als in Paris die Revolution tobt und Louis XVI arg bedrängt. Jedoch gefährdet das monarchische Gebaren des Redners, das heißt: die fehlende Einbindung des Zuhörers durch allzu große Distanz zum (Theater des) Volk(es), das politische Theater auch hier: [Der Redner] winds away his never-ending horn; . . . . . . […] till the Strain, Transcendent, superhuman as it is, Grows tedious even in a young man’s ear. (7, 539 u. 541–543)
Das zum Theater seiner selbst avancierte erlebende Ich erwartet mehr als nur die Rolle eines distanzierten Zuschauers im Theater des Politischen – es handelt sich ja immerhin auch um eine konstitutionelle, parlamentarische Monarchie –, er möchte eingebunden, repräsentiert und handlungsfähig sein. Die bereits in „Simon Lee“ angelegte Verbindung des Theaters der Monarchie mit dem Theater des Volkes wird hier nicht etwa erweitert, sondern scheitert folgenreich, zumal auch der Besuch einer Predigt, einer weiteren „public Show[...]“ (544) und Anwärterin auf ein Nationaltheater unter der Führung eines Gottes bzw. seines Stellver-
133 Vgl. Wordsworth 1995: 604. 134 „Then shall our names, / Familiar in his mouth as household words […] Be in their flowing cups freshly remembered” (IV, 3, 52–56, zit. nach hg. Craik 1995).
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treters, ebenfalls kein Gemeinschaftselebnis ermöglicht. Der Prediger ist nur ein „comely Bachelor, / Fresh from a toilette of two hours“ (7, 547f.), dessen Physiognomie kein body politic ist, sondern sich auf ein lächerlich verzerrtes Mündchen reduziert135, aus dem eine Rhetorik dringt, die sich mit der im „Preface“ zu den Lyrical Ballads gebrandmarkten Hirtendichtung assoziieren lässt.136 Demnach erweist sich der Priester weder als ein Vertreter Gottes noch als das Zentrum eines pastoralen Theaters des Volkes, das alle beteiligte, sondern nur als (schlechter) Schauspieler in einem herkömmlichen Theater der Distanz. Die egoistischen, un-verbindlichen Auftritte von Politiker und Priester führen nicht zur Bildung einer Gemeinschaft, die das jugendliche Ich miteinschlösse. Ganz im Gegenteil beklagt der Erzähler in seinem Rückblick die Zersplitterung der Gesellschaft in tausende solcher Redner, welche „[i]n Hall or Court, Conventicle or Shop, / In public Room or private, Park or Street / With fondness reared on [their] own pedestal, / Look out for admiration“ (7, 569–572). Das Theater des Politischen ist ein Theater des Individuums geworden, in dem jeder sich selbst repräsentiert und legitimiert. Zum epistemischen Theater des Subjekts kommt hier also das politische Theater des Individuums, beide – wie wir schon in den Borderers erleben konnten – für Wordsworth die negative Kehrseite des epistemisch-politischen Theaters der Intersubjektivität, das ihm vorschwebt. Das erlebende Ich erleidet diese zweite (Selbst-)Theatralisierung durchaus auch selbst. In der Folge wird sein Theater der Selbstbetrachtung nämlich durch das Erlebnis der großstädtischen Masse mit der Selbstlegitimation des Individuums, wie sie die Redner und Prediger vollziehen, verbunden: Die Konfrontation mit den vielen anderen hebt Wordsworths Ideal der Selbstbeobachtung nämlich nicht etwa auf, sondern vertieft und ‚politisiert‘ sie im Gegenteil noch. Der Londoner Bartholomew Fair wird in der Beschreibung Wordsworths nämlich zu nichts anderem als einem in das städtische Leben entgrenzten Unterhaltungstheater in einer entfesselten Multimedialität, „a dream / Monstrous in colour, motion, shape, sight, sound“ (7, 662). Die anderen Zuschauer rücken erwartungsgemäß in noch weitere Ferne zum erlebenden Ich und werden zu einem undurchdringlichen Schwarm einer „undistinguishible world to men“ (7, 699f.). Dabei wird der
135 Wordsworth bezeichnet den Mund als „orifice / Most delicate“ (553f.) und als „lurking eylet“ (554). 136 Wordsworth spricht von „ornaments and flowers / To entwine the Crook of eloquence [of this] pretty Shepherd“ (7, 563–565), assoziiert die Predigerrhetorik im Bild also mit der kritisierten herkömmlichen Pastoraldichtung in „poetic diction“, gegen die er mit den Lyrical Ballads anschreibt.
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falschen Individualismus dieser Menschen nicht etwa aufgehoben, sondern vielmehr zum schönen Paradox der „one identity, by differences / That have no law, no meaning, and no end“ (7, 704f.) verdichtet: Alle sind sich darin gleich, dass sie auf sinnlose Weise unterschiedlich sind. Die Darsteller und Requisiten dieses Theaters durchschwärmen nun, den sinnlos Individualisierten gleich, den Jahrmarkt137, und bilden gerade darin genau das, was Wordsworth am meisten fürchtet, ein „Parliament of Monsters“ (692) – nämlich die monströse Verzerrung eines Theaters des Volkes.138 Alle Teilnehmer dieses Theaters sind wie das erlebende Ich Zuschauer-Akteure ihrer selbst geworden und dieses Ich selbst im Gegenzug ein auch politischer Selbstdarsteller. Obwohl wie in Rousseaus Vision die Distanz zwischen Zuschauer und Akteur aufgehoben wird, kommt es nicht zum intersubjektiven Aufbau von Bindungskräften und Persönlichkeiten als Alternative zur schmerzlichen Distanz zu den Akteuren in Parlament und Kirche, sondern vielmehr zu einem sinn- und formlosen Rotieren absolut selbstbezogener politischepistemischer Ich-Theater, die sich nur zu einem Parlament eigentlich unvereinbarer Monstrositäten ‚verbinden‘ lassen.139 Wichtig ist, dass in diesem Theater auch Texte kursieren140, die wieder einmal lediglich zur Werbung für andere, visuelle Medien dienen und damit einen erneuten Missbrauch der Schrift darstellen, den der Text aber noch immer nicht zu einem intersubjektiven Text-Theater überschreiten kann. Er belässt es nämlich bei der bloßen Erwähnung ihrer Existenz im Schwarm der Medien und
137 Die asyndetische Beschreibung erstreckt sich über mehrere Verse und enthält „The Horse of Knowledge“, „The Stone-Eater“, „the Invisible Girl“ und andere Figuren sowie „The Wax-work, Clock-work, all the marvelous craft / Of modern Merlins, wild Beasts, Puppet-shows“ (7, 682–687) Neben Darstellern kursieren in Wordsworths tobendem, grenzenlosen Theater also auch wiederum verschiedene Medien. 138 Vgl. zur Dialektik einer Gemeinsamkeit in der Unterschiedlichkeit sowie zur Parodie/Pervertierung von ‚Repräsentation‘ im monströsen Parlament auch Hamilton 1986: 108–114. 139 Wordsworths „Parliament of Monsters“ gleicht hierin überraschend Burkes Desavouierung des Volkstheaters als meuchelnder Mob (vgl. 2.2.2.4). Im Gegensatz zu Burke geht es Wordsworth aber nicht um die Rückkehr unter ein Theater des Monarchen, sondern vielmehr um ein Theater der intersubjektiven Volksgemeinschaft, das den König ein-, aber nicht überordnet. Der hier noch entfesselte Londoner Mob formiert sich ja, wie wir sehen werden (vgl. 4.2.3), gerade unter dem Eindruck der Französischen Revolution sehr schnell zu einem geeinten Volk, das dann gerade den aus dieser Revolution zurückkehrenden Wordsworth ausschließt. 140 etwa „huge scrolls, / Dumb proclamations of the prodigies“ (7, 666f.) oder „Advertisments, of giant size“, von denen eines „fronted with a most imposing word“ vielleicht, wie Wordsworth vermutet, „one in masquerade“ (210–214) ist. Diese ominöse Formulierung bezieht sich John Barrell zufolge auf sog. ‚mock playbills‘, in denen politische Ereignisse parodistisch wie Theatervorstellungen angekündigt wurden (Barrell 1998: 20), also ein politisches Text-Theater in direkter Konkurrenz und schärfstem Gegensatz zu Wordsworths eigener Konzeption.
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Menschen, ohne sie zu zitieren oder gar zu konterkarieren. An dieser Stelle im Prelude gibt sich Wordsworths eigener Text auch auf der Ebene seiner Ästhetik eher dem entfesselten Theater hin, das es zu beschreiben gilt – nicht aber, wie die Forschung vermutet hat141, aus geheimer Faszination für dieses Treiben oder aus Unfähigkeit, sich von ihm abzusetzen, sondern vielmehr, da es intensiv zu vermitteln gilt, dass in diesem Stadium von Wordsworths Ich(-Theater) noch kein Gegentheater zur Verfügung stand, das er diesem falschen, entfesselten Theater des Volkes hätte entgegensetzen können. Dies gilt gerade auch für den Text auf der Brust des berühmten „Blind Beggar“: Dieses „Label“ (7, 617), „the Story of the Man and who he was“ (7, 615), ist zwar Wordsworth zufolge ein „type, / Or emblem, of the utmost that we know both of ourselves and of the universe“ (619f.) und wäre damit selbst schon die ideale Vertextung von Wordsworths Begegnung mit einem „Spektakel“, das seinen Geist auf den Kopf gestellt hat142 – ist aber gerade aus diesen Gründen an dieser Stelle eben noch nicht zitierfähig, sondern geht in die Flut anderer Werbetexte ein.143
141 Die Forschung schwankt zwischen der Analyse einer (versuchten) Distanz Wordsworths zu diesem Treiben (King 1993: 66–68, Sharpe 1990: 16–38) und der (absichtlichen oder unabsichtlichen) Entgrenzung (Galperin 1993: 115–126, Stokes 2012). Sharpe betont auch die Kreativität lähmende Qualität des Fair, während Plotz (2000: 15–42) ihn – und die Stadt insgesamt – eher als ‚dialektischen‘ Ermöglichungsgrund von Wordsworths Versdichtung ansieht (m.E. sind wir hier von der Fundierung von Wordsworths Poetik durch die Großstadt aber weit entfernt). Laut Pfau (1997: 370–382) stehen Wordsworths Text und seine Modelle der Identitätsbildung (für Dichter und Leser) insgesamt in Konkurrenz zu den Unterhaltungsspektakeln Londons. Diese drohen Leser- und Dichtergeist zu besetzen, müssen aber dennoch von Wordsworths Text exorzistisch durchlaufen werden. Dieses Modell eines Durchlaufens zur Entwicklung einer eigenständigen Repräsentation steht meiner eigenen Lesart des Prelude recht nahe, zumal auch Pfau das Werk als gigantisches Projekt einer Identitätsbildung zwischen Autor und Leser ansetzt. Pfau beschreibt dieses Projekt daneben ebenfalls als mediale Implementierung einer aufklärerischen Aussteuerungs- und Ausdrucksästhetik, die er – bezogen auf die Vermittlungsebene – wie ich als (Annäherung an) ein Theater konkretisiert, nämlich als „figural highly mediated dramaturgy of ‘expression’“ (380). 142 Wordsworth macht aus dem Bettler geradezu die Quintessenz des Begegnungstheaters, das wir in den Lyrical Ballads kennengelernt haben: „my mind did at this spectacle turn round / As with the might of waters“ (7, 616f.). 143 Diese Lektüre steht im Gegensatz zu den vielen, vor allem poststrukturalistisch ausgerichteten Lesarten der Stelle, die im „Blind Beggar“ eine aporetische Selbstverdoppelung Wordsworths (Kneale 1988: 72–99; Sharpe 1990: 16–38; Bode 2008: 67–70) oder ein Versagen einer theatralisierten Sprache (vor allem Friedman 1996: 44–63) ansetzen – und nicht eine als biographisch bedingt markierte Aufschiebung von Wordsworths Text-Theater des (Inter)Subjekts. Daneben gibt es Lesarten, die von einer Sympathiekrise Wordsworths innerhalb des Großstadterlebnisses ausgehen, d.h. sich mehr auf die Inhaltsebene beziehen und diese nicht sofort mit der Vermittlungsebene kurzschließen. So sieht Meyer den Bettler als Inbegriff des heillosen Massentheaters, bei
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Hier in London, im Jahre 1792, ist mit einem Bettler, der blind ist, kein intersubjektiver Austausch möglich – und damit auch keine lyrische Ballade zur Vertextung und Verbreitung dieser Begegnung und ihres Gefühlaustauschs.144 Wordsworths Reaktion am Ende des 7. Buches ist eine stolze Distanznahme zum Volksspektakel London(s)145, die aber auch darauf hindeutet, dass er seine Gemeinschaft und seine Einbindung noch nicht gefunden hat.
4.2.2 R eaktion 1: Die Textualisierung eines Theaters des Volkes zum Melodrama des Volkes (Buch 8) Das achte Buch hebt in unmittelbarem Anschluss an den Bartholomew Fair mit einem anderen Jahrmarkt an, dem Grasmere Fair, und stilisiert diesen zur Kontrastfolie.146 Dieser Markt besteht nur aus einer „little Family of Men, / Twice twenty, with their Children and their Wives / And here and there a Stranger inter-
dem „the alienating encounters between individuals in mass society do not generate identities and relationships but suspend isolated subjects between unknown and unknowable differences“ (Meyer 2003: Absatz 9). Für Pirie wird der Zettel auf der Brust zum Ausdruck des menschlichen Wunsches nach Selbstausdruck und dessen Grenzen und zum – teils negativen – Abzeichen des Rechts auf Anerkennung als Individuum, ein „appeal for sympathy“ (Pirie 1980: 230), also eine Flehen um Intersubjektivität. Durch seine Blindheit und Statik verschärft der Bettler zugleich laut Pirie die Passivitätsproblematik des „Old Cumberland Beggar“ (vgl. die folgende Am.). 144 Aber auch der „Old Cumberland Beggar“ von 1800 ist ja gewissermaßen blind, der Austausch mit ihm gehemmt und der Text, der aus der Begegnung mit ihm folgt, noch nicht das intersubjektive Theater, das Wordsworth vorschwebt. Wordsworth (re)konstruiert mit dem 1804 im Prelude beschriebenen Bettler daher die Vorstufe eines aus der Perspektive des Rekonstruierten späteren Gedichts, das selbst noch nicht die Lösung für die aufgeworfenen Fragen ist. Die Lösung für die offenen Probleme beider Texte bzw. Textstufen, die Excursion von 1814, kennt er zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht. 145 Wordsworth behauptet von sich: „But though the picture weary out the eye, / By nature an unmanageable sight, / It is not wholly so to him who looks / In steadiness, who hath among least things / an undersense of greatest“ (7, 709–712). Von diesem ‚steady gaze‘, der auch im Entmischtesten noch das Größte und das Große Ganze entdeckt, ist im 7. Buch allerdings nicht viel zu entdecken – gerade da auch der rückblickende Dichter die Erfahrung des erlebenden Ichs auf der Vermittlungsebene nicht, oder kaum, übersteigen möchte. Wordsworth nimmt aus London eher eine isolierte Selbstschau mit, die ihm dann in der Französischen Revolution (fast) zum Verhängnis wird. 146 Buch 8 ist eindeutig als Alternative zu den London-Schilderungen aus Buch 7 profiliert. Das hier Geschilderte lässt sich aber autobiographisch auf das Jahr 1788, also die Zeit vor London, beziehen, was es Wordsworth gestattet, am Ende des Buches zu seinem Londonaufenthalt zurück- und zugleich voranzuschreiten.
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spersed“ (8, 7–9). Wordsworth bezeichnet das Treiben als „Summer Festival“, das eingebettet in die Berge des Lake District alljährlich hier und in anderen Tälern stattfindet (8, 10–14), und greift damit – bewusst oder unbewusst – Rousseaus Beschwörung eines alternativen Theaters der Genfer Republik auf.147 Wordsworth verstärkt das bei Rousseau nur angedeutete Element eines Natur-Theaters, indem er die umgebende Bergwelt abwechselnd als Zuschauer bzw. -hörer148 und als Bühne149 ansetzt – diese Entgrenzung des Theaters (und gerade auch des Theaters des Subjekts) in die Natur ist eine Dimension von Wordsworths Theaterprojekt, die uns noch interessieren wird.150 An dieser Stelle geht es ihm aber eher um die Beschwörung einer ländlichen Modellgemeinschaft, die in ihrem Jahresfest genau jenes Theater des Volkes darstellt, das Wordsworth poetisch implementieren möchte.151 Modellgemeinschaft ist diese Gruppe auch in dem Sinne, dass sie mit Bettlern, Musikern, bescheidenen Kaufleuten und Schaustellern sowie einer Dorfschönheit diejenigen Menschen(typen) beschwört, die nach Wordsworths Dafürhalten jenen ritualisierten intersubjektiven Austausch vornehmen können, den das ideale Menschentheater auszeichnet: Bettler und Musiker tauschen, wie in „The Old Cumberland Beggar“, Spenden gegen Dankbarkeit, der Großvater und seine Enkel Geschenke (und das Gefühl, reich zu sein) gegen gezeigte Freude und das Bewusstsein der Großzügigkeit; die Kaufleute und Schausteller
147 Vgl. Rousseau: „let the sun dart its rays on your innocent spectacles, and then you will form yourselves, the finest that eyes can behold [...] [L]et the people be assembled round, and this shall be called a festival.“ (Rousseau 1759 : 172f.; vgl. 2.2.2.4) 148 „What sounds are those, Helvellyn, which are heard / Up to thy summit? [...] what Crowd / is yon, assembled in the gay green Field?“ (8, 1–5) 149 „Immense / Is the Recess, the circumambient World / Magnificent, by which they are embraced.“ (8, 46–48). Letztlich entgrenzt sich in dieser Passage die Bühnen- in die Publikumsfunktion der Natur. 150 Vgl. 4.2.5. 151 Für Ross King (1993: 72f.) fungiert der Grasmere Fair in Buch 8 ebenfalls als Alternative zum Medienspektakel Londons – als überschaubares Land-Theater mit herausragenden genremalereiartigen Typen – allerdings mit starker Betonung der umgebenden überwältigenden Naturbühne. Vgl. Rovee 2006: 22–32 für einen Bezug derartiger (textueller und piktorialer) Genremalerei auf zeitgenössische Konzeptionen des Volkskörpers. Vgl. zur Absetzung eines „healthy body politic“, der sich aus dem Grasmere Fair ergibt, von einem Londoner „malformed [body politic], thus producing abortions, grotesques and prodigies“ auch Stokes 2012: 217. Wordsworth differenziert insgesamt wie Rousseau ein romantisches Landtheater vom massenhaften Stadttheater und wäre nur bei ersterem einer Aufhebung der Trennung zwischen Zuschauer und Akteur nicht abgeneigt. Laut Averill (1980: 260–276) rekapituliert Buch 8 die human otherness (im Sinne der Öffnung gegenüber anderen Menschen), um die Gleichgültigkeit der Menschen füreinander aus Buch 7 zu überwinden.
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bieten Waren und Unterhaltungs(medien)152 gegen gerechte Bezahlung feil; und das junge Mädchen wechselt scheue Blicke und Gefühle mit den bewundernden Betrachtern (8, 18–46). Der Erzähler behauptet auch von diesem, gegenüber dem „Old Cumberland Beggar“ sehr viel ausführlicher geschilderten Theater des Volkes, es habe auf ihn die Menschenliebe übertragen sowie zur Ausbildung eines „watchful eye“ verholfen (8, 64), „[w]hich, with the outside of the human life / Not satisfied, must read the inner mind“ (66–68), also zur Fähigkeit der Versenkung in den anderen, zur Betrachtung seiner eigenen Seele gerade durch den visuell-emotionalen Austausch. Diese Gaben stehen hier wieder einmal für die Entstehung des Dichters aus dem Gemeinschaftsritual, zumal sie ein weiteres Mal auf das Begegnungstheater vorausweisen: Für das so gerüstete jugendliche Ich wurde nämlich jeder „Stranger in [his] path“ zu einem „Brother of this world“ (8, 78f.). Diesmal aber macht Wordsworth unmissverständlich klar, warum es nicht zu einem Theater der Intersubjektivität kommen konnte/kann, und warum er sein Theater isolierter Subjektivität in und durch die Französische Revolution tragen musste. Er geht direkt auf poetische Werke aus diesem Stadium ein, die weit vor den Lyrical Ballads liegen, und schreibt diese als fatale Transformationen eines erfahrbaren Theater des Volkes bzw. einer Tragödie des Volkes zu einem falschen Volks-Melodrama fest.153 So habe er in dieser Zeit aus einem „common death“ und „common mishap“ noch kein funktionierendes (tragisches oder sonstwie verbindliches) Theater des Menschen machen können, sondern sei dem „tragic super-tragic“ (8, 532) verfallen, also dem Melodram des Volkes: Then, if a Widow, staggering with the blow Of her distress was known to have made her way To the cold grave where her husband slept, One night, or haply more than once […] . . . . . . The fact was caught at greedily, and there She was a visitant the whole year through, Wetting the turf with never-ending tears And all the storms of Heaven must beat on her. (8, 533–541)
152 Wordsworth erwähnt vor allem Balladen und eine Wander-Puppenbühne, Unterhaltungsformen, die offensichtlich anders funktionieren als das Großstadtspektakel, da sie in das Theater der Intersubjektivität eingespeist werden können und nicht umgekehrt die beteiligten Subjekte absorbieren. 153 Averill (1980: 260–276) arbeitet aus dieser Stelle eine Überwindung/Absage an die Lyrical Ballads heraus, ignoriert aber die zahlreichen Begegnungsepisoden im Prelude selbst (vgl. 4.2.6) sowie die Tatsache, dass es hier gerade nicht um die Lyrical Ballads geht.
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Wordsworth bezieht sich hier auf die Darstellungsformen eines ‚volkstragischen‘ Melodramas, die er in einem in dieser Zeit entstandenen poetischen Text angewandt habe.154 Diese Verfahren sind ja bereits in seinem ‚unmöglichen‘ Drama The Borderers kritisch reflektiert und sodann, wie geschildert, in den Lyrical Ballads mit einem Theater der Begegnung überschrieben worden. An dieser Stelle in seiner (re)konstruierter Biographie hat Wordsworth das erlebende Ich demnach zwar endlich ein Theater des Volkes als Gegensatz zum Spektakel der Großstadt erfahren lassen; gleichzeitig ist es noch nicht so weit, es in eine allgemeingültige und vor allem menschliche Medialität zu überführen; vielmehr gestaltet es diese Erfahrung zu einem Text um, der – in der hiesigen Charakterisierung – genauso gut auf einer Londoner Unterhaltungsbühne aufgeführt werden könnte. Interessant ist dabei, dass die Erlebnisse in der Rückschau, die ja bereits durch die Lyrical Ballads und deren Ergebnisse gegangen ist, gerade auch in ihrer Befähigung für ein verständliches und verbindliches menschlichen Fühlen und Leiden dargestellt werden – die durchaus normale, nachvollziehbare und gerade deswegen nicht minder bewegende Trauer der Witwe am Anfang des Zitats –, eben als Ausgangspunkt einer funktionierend(er)en Tragödie des Volkes, wie Wordsworth sie etwa in „Simon Lee“ erarbeitet. Im kurzen Moment der Darstellung dieser zutiefst menschlichen Tragik wird damit nicht nur die hier (seinerzeit) verpasste Chance eines Theaters des Menschen erahnbar, sondern blitzt auch kurz eben dieses Theater des Menschen selbst in seiner bisher, eben durch die Lyrical Ballads, erreichten Form auf. Das ist aber nicht genug: Wordsworth rekonstruiert auf der Inhaltsebene seinen Weg zu den Lyrical Ballads, weiß aber auch, dass der Text, in dem er das tut, als ganzes die Aufgabe hat, für die dort ungelösten Probleme und offenen Fragen nun seinerseits Lösungen anzubieten. Auf der Inhaltsebene führt der Weg des Prelude zu den Lyrical Ballads (als dem Ausgangspunkt des Prelude); auf der Vermittlungsebene bzw. in der Wirkung der Ästhetik des Textes insgesamt muss er weit über die Lyrical Ballads hinausführen. Diese Überschreitung der Lyrical Ballads werden wir im Abschnitt 4.2.5 analysieren – vorher muss aber noch die bewegende Tragödie eines Ich-Theaters in der Französischen Revolution in den Blick kommen.
154 Jonathan Wordsworth zufolge meint Wordsworth sein frühes Langgedicht An Evening Walk, das er 1788 und 1789 schrieb (Wordsworth 1995: ix).
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4.2.3 R eaktion 2: Ermächtigung und Krise des theatralisierten Subjekts im Theater der Französischen Revolution (Buch 9 und 10) Zu Beginn des in den Büchern 9 und 10 geschilderten Aufenthalts des erlebenden Ichs im Frankreich der Revolution bezeugt es ein weiteres Theater des Volkes.155 Diesmal sind die Gemeinschaftsgefühle aggressiver, die politische Kraft stärker und der Ton der Schilderung schärfer: Even files of Strangers merely, seen but once, And for a moment, men from far with sound Of music, martial tunes, and banners spread, Entering the city, here and there a face, Or person, singled out among the rest, Yet still a stranger and beloved as such, Even by these passing spectacles my heart Was oftentimes uplifted, and they seem’d Arguments sent from Heaven that ’twas a cause Good, pure, which no one could stand up against, Who was not lost, abandoned, selfish, proud, Mean, miserable, wilfully depraved, Hater perverse of equity and truth. (9, 281–293)
Wordsworth beschreibt hier nicht etwa seine Fremdheit gegenüber den Franzosen, sondern vielmehr die spontanen Bindungskräfte der revolutionären Bewegung zwischen Franzosen, die sich gar nicht kennen: Das erlebende Ich fühlt, als integrierter Bestandteil der Stadtgemeinde von Blois156, wie ein Franzose für seine von Ferne in die Stadt einmarschierenden ‚Landsleute‘ – eine Kategorie, die in diesem Ritual erst entsteht, nämlich Unbekannte, die man liebt, da sie mit
155 Die Forschung sowohl zur Französischen Revolution und/als Theater (vgl. im Überblick Liu 1989: 148–163) als auch in ihrer theatralischen Darstellung durch Wordsworth ist immens (vgl. unter den bereits erwähnten Autoren Kneale 1988: 121–128, Friedman 1996: 64–90, Collings 1994: 207–236 – sowie zusätzlich Williams 1989: 139–161). Während Liu für die Repräsentation der Revolution durch Wordsworth eine Abfolge von Genres ansetzt, die freilich in einer Tragödie endet (Liu 1989: 373–380; vgl. Friedman 1996: 64–90), sieht Kneale die Bücher 9–11 insgesamt als eine Tragödie. Laut Collings betrifft der Genrewechsel aber vor allem die Revolution selbst (in der Art, wie Wordsworth sie erlebt hat), wobei sie allerdings in einer Art Anti-Genre totaler Gewaltentfesselung endet. Was in dieser Forschung trotz ihres enormen Niveaus fehlt, ist eine Untersuchung der Rezeption von zeitgenössischen Theatermodellen bzw. Theatervisionen, allen voran von Rousseaus Theater des Volkes, und deren Radikalisierung und Problematisierung im Prelude. 156 Der Aufenthalt wird im 9. Buch ausführlich geschildert, vor allem Wordsworths Umschwenken von der royalistischen auf die revolutionäre Seite (9, 127–550).
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einem dieselbe ‚Nation‘ teilen. Daher sind die am Ende der Passage geschilderten Gefühle nicht die eines Touristen, sondern die eines ‚Franzosen‘, der, wie das Wordsworthsche Ich selbst in den davorliegenden Monaten seines Frankreichaufenthalts, bisher immer eher Royalist gewesen ist und sich nun anschickt, auf den revolutionären Kurs der ‚Nation‘ umzuschwenken. Für den solchermaßen Gallisierten und Ritualisierten ist der Fremde keine isolierende Bedrohung mehr wie für den Wordsworth im Londoner Jahr zuvor, sondern gerade das Gegenüber, mit dem ein Austausch notwendig ist, um eine politische und persönliche Identität in einem Theater des Volkes zu entwickeln. Die in der dritt- und vorletzten Zeile des Abschnitts auftauchenden Asyndeta sind keine atemlose Schilderung eines überbordenden Spektakels, das wie im 7. Buch von außen bedroht, sondern bereits Zeugen der Heftigkeit der im Inneren entstandenen Identitätsgefühle und ihrer Ausschlussmechanismen: Dieses Theater konstruiert demnach über den begegnungsfähigen anderen hinausgehend am Ende des Zitats den uneinsichtigen Royalisten als das ganz ‚Andere‘, das Außen, das Verstoßenswerte des Volkes.157 In der Folge wird dieses Theater vom Königstheater des Absolutismus mit seinem „empty pomp“ und „sensual state“ (9, 529f.) scharf abgegrenzt – aus dem erlebenden Ich ist an dieser Stelle ein Revolutionär geworden, der die Burkesche Theaterforderung gewissermaßen mit Paineschen Mitteln und dem Konzept eines open theatre of the world kontert und an anderer Stelle sogar bereit scheint, dieses Gemeinschaftsgefühl durch empörende Volkstragödien zu verbreiten.158 Die Integration des younger self hat aber ihr Ende, als er Paris betritt und gezwungenermaßen auf sein Ich zurückfällt. Das dortige Revolutionsgeschehen gleicht dem politischen Theater des englischen Parlaments, mit seinen Auftritten
157 Ausgebaut, mit einem ‚revolutionären‘ König versehen und sodann tiefgehend problematisiert wird diese Form des Theaters, nämlich eines revolutionären Subjekts auf der Suche nach seinem Volk, in Walter Scotts Waverley, vgl. vor allem 5.2.2.1. 158 Entsetzt von der juristischen Willkür gegenüber der Bevölkerung vermittelt Wordsworth die „tragic Tale“ (9, 551) von „Vaudracour and Julia“ (9, 556–935). Diese Geschichte ist ihm laut fiktionaler autobiographischer Rekonstruktion von anderen Revolutionären erzählt worden, um zum Einschreiten gegen das Rechtssystem anzustiften (9, 550–555). Interessanterweise wird aber auch diese Vertextung – vergleichbar den Volksmelodramen aus der Grasmere-Zeit – als scheiternd dargestellt: Innerhalb dieser Geschichte sind es gerade Briefe und Erzählungen, die den Gefühlsausbruch gegen die Ungerechtigkeiten vereiteln bzw. zum Stillstand bringen, da sie nicht so stark sind wie der theatrale Augenschein. Und auch auf den (intradiegetischen) Adressaten dieser Erzählung insgesamt, nämlich den jugendlichen Wordsworth selbst, kann keine Wirkung verzeichnet werden. Wieder einmal erscheint das politisch-epistemische Text-Theater des Menschen als noch nicht möglich – diesmal aber auch aus dem Grund, dass dieses Theater Ausdruck (und mehr oder weniger erfolgreicher Auslöser) einer revolutionären Identität ist, deren notwendige Überwindung Wordsworth ja in seinem Prelude vermitteln möchte.
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überragender, aber distanzierter Redner, nur dass Maximilien de Robespierre und Jean-Baptiste Louvet sich ungleich heftigere Gefechte liefern als die „Senators“ in London.159 Daher ist das younger self auch alles andere als gelangweilt von diesem Theater des Politischen, sondern begehrt im Gegenteil seine Teilnahme: An insignificant Stranger, and obscure, Mean as I was, and little graced with powers Of eloquence even in my native speech, And all unfit for tumult and intrigue Yet would I willingly have taken up A service at this time for cause so great, However dangerous. […] (10, 130–136)
Dieser Fremde ist nun tatsächlich eher ein ausgeschlossener Tourist, der keinerlei Teilnahmemöglichkeit mehr hat. Dabei scheint er aber zu empfinden, was Immanuel Kant für den Zuschauer der Französischen Revolution aus fremder Nation als „Theilnehmung dem Wunsche nach, [...] deren Äußerung [...] mit Gefahr verbunden“ sei, beschrieben hat.160 Bei Kant wie bei Wordsworth kommen demnach Beteiligungs- und damit Rededrang mit Risikobereitschaft zusammen. Kant allerdings macht aus der Beobachtung der Revolution bereits die Teilnahme an einem Theater des Volkes, das jeden Zuschauer schon dann einbindet und politisch repräsentiert, wenn er sich nur wünscht, die Grenze zur Bühne hin zu überschreiten.161 Das ist im Gegensatz zu Rousseaus Modell aber ein Theater des Volkes, das über die Distanz zum politischen Geschehen funktioniert. Für Wordsworth indes, eher Anhänger Rousseaus (wenn auch mit royalistischen Restüberzeugungen) als Kants, wird dieser Abstand zu den Ritualen der Politik zum Problem, da er sein Begehren, die Grenze zum Handeln bzw. zum Zuschauen-und-Handeln zu überschreiten, nicht realisieren kann.162
159 Wordsworth bezieht sich hier auf einen Angriff Louvets auf Robespierre in der Nationalversammlung im Oktober 1792. Faszinierenderweise bezieht das younger self seine Kenntnis dieser Rede aus einem Pamphlet, das von Pariser Straßenhändlern lauthals angepriesen wird (10, 83–100). Dieses politische Text-Theater funktioniert daher bei seinem jugendlichen Leser – aber eben gerade, indem es sein Selbst-Theater unheilvoll vertieft! 160 Kant 1907, 85; vgl. 2.2.2. 161 Der Wunsch nach Teilnahme lässt „das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen [...], sondern [ist] selbst schon ein solches“ (Kant 1907: 85; vgl. 2.2.2.). Vgl. hierzu auch Merten 2009c: 112. 162 Mary Jacobus (1983) setzt in ihrer Interpretation Wordsworthscher (bzw. allgemein romantischer) Theatralität den Übertritt von der Vorstellung in die Handlung – die Entgrenzung von Ästhetik und Politik – als Bedrohung an, die aufs Stärkste bekämpft und unterdrückt wird. Wordsworth erlebt in Buch 10 laut Jacobus eine Krise der Rhetorik, die die Befriedung durch „poetry“
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Als Folge verinnerlicht das erlebende Ich seinen politischen Erlebnis- bzw. Repräsentationsdrang und gestaltet sich selbst – in einer Verschmelzung des Londoner Ein-Mann-Theaters mit dem Volkstheater aus Blois – mehr und mehr als ein rein selbstbezügliches Subjekt. In unmittelbarem Anschluss an sein Isolationserlebnis träumt es nämlich von einem „Spirit thoroughly faithful to itself“ (10, 147), der zugleich „one paramount mind“ ist, welches „clear[s] a passage for just government / And [leaves] a solid birthright to the State“ (179–186). Die Vorstellung von einem Subjekt, das vollkommen über sich selbst verfügt, also immer zugleich (epistemischer und politischer) Zuschauer-Akteur seiner selbst ist, hat sich letztlich schon in London entwickelt, verbindet sich hier aber mit der Fantasie einer aus sich selbst heraus legitimierten, gewissermaßen autopoetischen Staatsgründung und -verkörperung durch diesen Einzelnen. Die Londoner oneman-shows, in der jeder einzelne sich selbst politisch repräsentiert hat, werden weiterentwickelt zur Vision eines Einzigen, Auserwählten, der die (Legitimation der) Nation aus sich selbst heraustreibt.163 Das jugendliche Ich wünscht sich an dieser Stelle, dass dieser Geist über Frankreich und die Welt kommen möge,
hinfällig macht und Wordsworth zum Schweigen verdammt. Aus dieser Perspektive wird für Wordsworth die Wiederherstellung einer antitheatralischen Imagination, die seine Identifikationen mit Burke und Robespierre hinter sich lässt, entscheidend (353–365). Für Wordsworth sind m.E. das Ästhetische und das Politische, Vorstellung und Handlung, an diesem Punkt aber längst entgrenzt. Aus dieser Perspektive begehrt er Einlaß ins Theater der Revolution, das er als ästhetisch-politisches Gemeinschaftserlebnis auffasst und in das man sich durch Teilnahme (an Ritualen) oder rhetorische Beteiligung einbringt. Die negativen Folgen des dann rein imaginären Eintritts kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen. Und auch aus diesen Folgen erwächst nicht etwa Antitheatralität, sondern ein alternatives Theater der Intersubjektivität. 163 Wordsworths Entwicklung hat starke politikgeschichtliche Implikationen, die dem von mir beschriebenen zeitgenössischen Modell eines Theaters des Subjekts wichtige zusätzliche Dimensionen geben: Den Umschlag vom Konzept der politischen Repräsentation jedes einzelnen zum Konzept der Legitimation und Repräsentation der Gemeinschaft durch einen einzigen ist eine Krise, die laut Koschorke (Koschorke et al. 2007: 250–258) vor allem frühe postmonarchische Gesellschaften befallen hat und eine Überlagerung von König und Individuum ist: Während der König noch als gottgegebene Verkörperung aller galt (wie es etwa das berühmte Frontispiz von Hobbes’ Leviathan visualisiert), entwickelte sich im revolutionären Frankreich (aber auch in der Weimarer Republik) die Vision eines überlegenen Anführers, der den Staat nicht nur verkörpert, sondern seine (eigene und die des Staates) Legitimation selbst gebiert (vgl. zur Parallelisierung von Wordsworths mind mit dem französischen Volk auch Hamilton 1986: 118–122). Die schwierige Frage der Vermittlung und Verbindung zwischen einzelnem und einzigem, also zwischen Repräsentation des Individuums und Verkörperungslogik, beschäftigt Wordsworth über das Prelude hinausgehend auch in The Excursion (vgl. vor allem 4.3.4) und wird zudem zu einem Zentralproblem in Walter Scotts Text-Theater (vgl. Kapitel 5 passim).
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zugleich wird aber auch suggeriert, dass es sein eigener sein könnte.164 Einerseits macht ihn dies gewissermaßen zur Nation von seinen Gnaden; andererseits bedeutet es aber auch, dass er in seiner Fantasie eines Ein-Mann-Staates völlig isoliert ist. Mit der Rückkehr des younger self nach London gelangen die Aporien dieses Theaters an die Oberfläche und verschärfen sich zur identitätsbedrohenden Krise. Das revolutionäre Ein-Mann-Theater trifft dort nämlich auf ein antifranzösisches Kollektiv, dessen Bindungsrituale das erlebende Ich nur von Ferne beobachten kann. […] It was a grief, Grief call it not, ’twas anything but that, A conflict of sensations without name, Of which he only who may love the sight Of a Village Steeple as I do can judge, When in the Congregation, bending all To their great Father, prayers were offer’d up, Or praises for our Country’s Victories, And ’mid the simple worshippers, perchance, I only, like an uninvited Guest, Whom no one owned, sate silent […] (10, 262–273)
Ausgerechnet das Nationaltheater der Predigt, das beim vorherigem Aufenthalt in London nicht in der Lage war, irgendjemandem Bindungskräfte und Identitätsbildung zur Verfügung zu stellen, funktioniert jetzt mit einem Mal und stiftet eine nationale Gemeinschaft, von der der Wordsworth-Charakter als einziger ausgeschlossen ist. Er kann nämlich von seinem revolutionären Glauben (an sich selbst) nicht lassen und verweigert trotzig, aber durchaus mit gemischten Gefühlen, seine sympathetische Teilhabe am Kollektiv. Gegenüber diesem Theater des Volkes kollabiert sein politisch-epistemisches Selbsttheater: Es ist, als ob die gewaltsame Zusammenzwingung von Subjekt und Objekt zur Vorstellung absoluter Selbstverfügung einerseits und die Verschmelzung dieser Selbstverfügung mit einer Staatssubjekts-Fantasie andererseits nun dazu führt, dass das Theater (der Macht) in seinem Geist implodiert. Dabei internalisiert das erlebende Ich den Ausschluss aus dem (britischen) Theater des
164 Lindenberger unterstellt Wordsworth an dieser Stelle apolitischen Individualismus und übersieht dabei völlig die hier verhandelte Dimension eines individualen politischen Körpers (Lindenberger 1963: 262–270). Nichols sieht Wordsworths Stimme(n) eher als demokratisches Ringen der Vielen zur Herausbildung einer Nation und eines politischen Körpers (Nichols 1998: 48f.) – der m.E. dann aber doch eher totalitär wäre.
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Volkes zu einer Verfolgung und Befragung durch ein Volkstribunal, wie es es in Frankreich kennengelernt hat. I scarcely had one night of quiet sleep, Such ghastly visions had I of despair, And tyranny, and implements of death, And long orations which in dreams I pleaded Before unjust Tribunals, with a voice Labouring, a brain confounded, and a sense Of treachery and desertion in the place The holiest that I knew of, my own soul. (10, 373–380)
Das jugendliche Ich imaginiert hier die Ausübung der Macht, die es sich selbst gegeben hat, gegen sich selbst. Selbstermächtigung schlägt in Selbstunterwerfung um. Verbunden ist dies mit einem epistemischen Selbstverlust, in dem das Selbst sich (über sich) selbst täuscht und das Theater seiner selbst verwaist findet. Subjekt und Objekt, Macht Erleiden und Machtausübung, Episteme und Politik, Realität und Imagination165 erscheinen als heillos ineinander kollabiert. Die halbbewusste Vision eines inneren Gerichtsspektakels verschärft sich in der Folge sogar noch zum bewussten Ritual unerbittlicher Selbstbefragung eines politisch und persönlich völlig Desorientierten: [...] Thus I fared, Dragging all passions, notions, shapes of faith, Like culprits to the bar; suspiciously Calling the mind to establish in plain day Her titles and her honours, now believing Now disbelieving, endlessly perplex’d With impulse, motive, right and wrong, the ground Of moral obligation, what the rule And what the sanction, till, demanding proof And seeking it in every thing, I lost All feeling of conviction, and in fine Sick, wearied out with contrarieties, Yielded up moral questions in despair (10, 888–900)
165 Wordsworths Theater des Politischen dürfte durchaus imaginativ (die einzelnen Teilnehmer in ihrer Vorstellungswelt betreffend/ansprechend), aber eben nicht imaginär (nur in ‚Wordsworths‘ Vorstellungswelt überhaupt existierend) sein. Das imaginäre Theater des Volkes ist eine negative Entgrenzung von Ästhetik und Politik. Wie wir sehen werden, muss auch Edward Waverley in Scotts Roman (mit einigen Hindernissen und Rückfällen) seinen Weg vom imaginären zum imaginativen Theater des Politischen machen (vgl. 5.2.2).
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Das Ich richtet seinen autoritären Staat nun gegen sich selbst, indem es sich selbst von sich selbst observieren und verhören lässt sowie einen permanenten Gerichtshof gegen sich selbst einrichtet. Dieser Prozess einer Internalisierung politischer Überwachung und Machtausübung zum (schlechten) Gewissen moderner Identität ist ein Prozess, den wir bereits an Walter Scotts Drama The House of Aspen untersuchen konnten.166 Bei Scott schafft die revolutionäre Gesellschaft mit dem Individuum eine Position, die zunächst der Fremd- und mit der Rückkehr des Königs dann der Selbstbeobachtung unterworfen ist. Wordsworth setzt für seine Zeit durchaus auch eine Tendenz zur Vereinzelung – und daher zum Ich-Theater – an, thematisiert Selbstunterwerfung aber als einen extremen Fall und als eine interkulturelle Krise, die aus dem Kontakt mit einer im Gegensatz zu Großbritannien revolutionären Gesellschaft erwachsen ist. Die Lösung, die er im Prelude und später in der Excursion für diese Krise erarbeitet, soll aber wieder kollektiv verbindlich und für ganz Großbritannien gültig sein.167 Die Verinnerlichung des Tribunals ist von daher das Einzelschicksal eines Revolutionstouristen und nicht des gesamten britischen Volkes, das gerade angesichts der revolutionären Prozesse in Frankreich zusammengerückt ist und seinen Monarchen ja nie verloren hat.168
166 Vgl. 3.2.2. 167 Wordsworth lässt offen, ob viele Franzosen bzw. englische Revolutionstouristen einen ähnlichen Prozess durchmachen wie er (was bedeuten würde, dass seine Individual-Pathologie wie in The House of Aspen macht- bzw. gesellschaftsgeneriert sein könnte). In The Excursion gibt es allerdings einen ähnlichen ‚Fall‘ wie hier (vgl. 4.3.3), was darauf hindeuten könnte, dass die revolutionäre französische Gesellschaft tatsächlich als ‚Erzeugerin‘ pathologischer Individuen (bzw. Individualität) angesetzt wird, wobei diese Prozesse jedoch deutlich als auf Großbritannien nicht zutreffend charakterisiert werden: Wie das Prelude im 7. Buch betont, erzeugte London in den 1790er Jahren zwar die Vereinzelung, im Zuge der Französischen Revolution rückte die britische Gesellschaft dann aber wieder zusammen. Walter Scott hält diesen Optimismus für naiv, bezieht daher in seinen Romanen den in The House of Aspen analysierten Machtprozess intensiv auch auf die britische Gesellschaft und mahnt damit seine Überwindung – bzw. vollständige Vermeidung – an (vgl. Kap. 5, vor allem 5.2.1, 5.2.3.1 und 5.3.3.2). 168 Vgl. zur Internalisierung eines Fremdtheaters zum Selbsttheater in Wordsworths Prelude auch Kneale 1988: 123, aber wiederum eher mit dekonstruktivistischem Akzent: Für mich ist das Theater des Selbst ein historisches (Einzel-)Schicksal und keine anthropologische Konstante, wie Kneale impliziert. Zu diesem Internalisierungsprozess auch Collings 1994: 207–236, allerdings ebenfalls mit (negativ-)anthropologischem Akzent sowie eindeutiger Ausweitung der revolutionären Prozesse auf Großbritannien. Collings sieht die Wordsworthsche Selbst-Unterwerfung als Folge einer (selbst pathologischen) Krise der Revolution. In seiner Historiographie/Autobiographie könne Wordsworth daher nur eine unheimliche (Unmöglichkeit der) Geschichte vermitteln, die mehr und mehr zur parrizidalen und selbstzerstörerischen Fantasie der Internalisierung der Revolution und vor allem der – bewusst gesuchten – Bedrohung gegen ihn selbst werde.
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Die fortgesetzte und unaufhaltsame Verschärfung der Situation in Frankreich entfremdet das zurückgekehrte Ich zunehmend von seinem (früheren) revolutionären Selbst. Da es aber, so scheint es, präsent bleibt, wird das Gedächtnis des younger self zu einem weiteren schizophrenen Theater der Auseinandersetzung des Selbst mit sich selbst. Damit unterwirft es seine positiven Erinnerungen an das frührevolutionäre Frankreich jenem schlechten Gewissen, das letztlich auch aus Frankreich stammt. Der „Terreur“, von dem es sich von Großbritannien aus nun distanzieren möchte, und sein Seelenkampf sind Äquivalente in Wordsworths innerer Revolution: As Lear reproach’d the winds, I could almost Have quarrell’d with that blameless spectacle [die positiven Erinnerungen] For being yet an image in my mind To mock me under such a strange reverse [dem Terreur] (10, 462–466)
Das Wordsworthsche Ich ficht mit seinen Erinnerungsbildern wie Lear mit dem Wind, wird also zu einem Theater, auf dem das rückblickende Subjekt mit seinem früheren Erleben hadert, Zuschauen und Handeln also wieder einmal schmerzhaft enggeführt werden. Dabei wird mit King Lear ein Drama aufgerufen, bei dem der Kampf des Protagonisten mit den Antagonisten abschnittsweise in ein absurdes Ringen des Subjekts mit sich selbst überführt worden ist.169 Dies ist nicht nur ein Hinweis auf Shakespeares Drama (und dessen etwaiges Lösungspotential für die Krise), sondern insbesondere eine Anspielung auf Wordsworths eigenes (‚echtes‘) Drama des paradoxen Selbst, nämlich The Borderers. Dieses Drama externalisiert, ähnlich wie King Lear170, die paradoxe Selbstverdoppelung eines Subjekts bzw. beschreibt dessen Versuche, sich selbst verdoppelnd zu externalisieren – und ist gerade darum unaufführbar.171 Im Prelude vertieft Wordsworth nun die Auseinandersetzung mit d(ies)em Theater: Sein jugendliches Ich erlebt eine Theaterkrise,
Das Selbst-Tribunal sei Ausdruck einer Opferkrise, in der Opfer und Opfernder nicht mehr unterschieden werden können. Die Gewalt werde auf Großbritannien und daher auf die symbolische Familie übertragen, wobei die lustvoll internalisierte Verwundung zugleich Ermächtigung sein solle. 169 Gemeint ist Lears Verinnerlichung des Konflikts mit seinen Töchtern zur Selbstverwünschung („[a] poor, infirm, weak and despised old man“) im Sturm (III, 2, 1–24; hier 20, zit. nach hg. Foakes 1997). 170 Lears Ringen mit dem Sturm ist in diesem Sinne eine Veräußerlichung des (vorher internalisierten) Konflikts mit sich selbst. 171 Im Gegensatz zu den Borderers hat sich King Lear in der Theatergeschichte natürlich als durchaus aufführbar erwiesen.
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die derjenigen Rivers gewissermaßen inversiv gleicht. Beide Krisen sind auf denselben Wunsch zurückzuführen, nämlich sich selbst durch bzw. als Theater politisch-epistemisch repräsentiert zu sehen. Wordsworths direktes Zitat von Rivers’ selbstmächtigem „independent intellect“ (10, 829)172 im Bezug auf sein jugendliches Selbst weist diese Parallele nach: Beide scheitern an ihrem Begehren nach einem Theater des Selbst, Rivers, indem er es nach außen und der junge Wordsworth, indem er es nach innen verlegt.173 Rivers begeht den Gewaltakt der theatralischen Externalisierung seines Geists, der Wordsworth-Charakter internalisiert externe Gewalt bzw. externes Theater in seinen Geist. Was Rivers gebraucht hätte, wäre, wie wir gesehen haben, ein Theater echter, nicht pervertierter Intersubjektivität – und genau diesen Weg geht nun die persona Wordsworths.
4.2.4 Lösung 1: Das Gemeinschaftstheater und dessen Textualisierung In der zunächst angesteuerten Lösung wird die Parallele zu den Borderers zu einem deutlichen Kontrast weitergetrieben: Wo Rivers zwei Menschen (Herbert und Mortimer) durch pervertierte sympathy opfert, wird der Wordsworth-Charakter durch die die echte sympathy zweier Menschen, nämlich seiner Schwester Dorothy und von S.T. Coleridge, erlöst. Diese Konstellation wird zur Vision eines vollkommenen Theaters der Intersubjektivität. Es erlöst das romantische Subjekt von seinen Konflikten, wiewohl es Zuschauer und Akteur nicht wieder voneinander trennen muss. Ah! then it was That Thou, most precious Friend! about this time First known to me, didst lend a living help To regulate my soul, and then it was That the belov’d woman in whose sight Those days were passed […] . . . . . . Maintain’d for me a saving intercourse With my true self […] (10, 904–909 u. 914f.)
172 Vgl. Borderers III.v.33 und Kapitel 3.2.1. Das Selbstzitat kondensiert „the immediate law / Flashed from the light of circumstances / Upon an independent intellect“ (Borderers) zu „the light of circumstances, flash’d / Upon an independent intellect“ (Prelude). 173 Laut Kneale (1988, 125) eröffnet Wordsworth mit dieser Anspielung aber auch einen dramatischen Intertext seiner selbst und zieht somit die Selbsttheatralisierung gewissermaßen auch auf die Vermittlungsebene.
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Der Text zeichnet hier den häuslichen Verbund Wordsworths mit seiner Schwester Dorothy und S.T. Coleridge nach, den Wordsworth realweltlich ab 1795 in Racedown und später in Alfoxden House bzw. Dove Cottage erleben durfte, und der kulturgeschichtlich zu einer Art Modellgemeinschaft der Romantik wurde. Im gemeinsamen Arbeiten und, wie hier beschrieben, in wechselseitiger Betrachtung ersteht ein sympathetischer Zusammenschluss von Gleichgesinnten. Die Lösung für die Krise des jugendlichen Selbst ist aus dieser Perspektive – zunächst einmal – genial einfach: Der Kollaps des Theaters ins Subjekt, den das junge Ich erlitten hat, wird in der Kleingruppe intersubjektiv agierender und einander beobachtender Freunde aufgehoben. Das Subjekt nimmt sich in der Reaktion des vertrauten anderen wahr und ermöglicht diesem zugleich eine vergleichbare Selbstwahrnehmung. Dorothys Blick auf ‚Wordsworth‘ führt also tatsächlich zu dessen ‚rettenden Verkehr mit seinem wahren Selbst‘, wobei sie umgekehrt ihre Güte in Wordsworths dankbarer Reaktion erleben kann. Die schmerzliche Engführung von Handeln und Beobachten ist überwunden; dennoch bleiben Handeln und Beobachten im (sinnvollen) Verbund bestehen: Eigenes Handeln ist in der Reaktion des anderen wahrnehmbar geworden, genauso wie Wahrnehmung selbst zu einer (für andere und in einem zweiten Schritt für einen selbst) beobachtbaren Handlung geworden ist. ‚Wordsworths‘ Subjekt ist gerettet und zugleich erfahrbar gehalten. Das Theater der Intersubjektivität hat in dieser Gemeinschaft, so scheint es, seine ideale Form gefunden.174 Dieses Theater der Gemeinsamkeit wird sogleich mit einem anderen kontrastiert, das auf der Ebene des zurückblickenden Dichters herrscht und letztlich nichts weiter ist als eine unerbittliche Fortsetzung des Ich-Theaters, dem Wordsworth hier glücklich entronnen ist. Das Dichter-Ich beschwört zunächst weiter seinen Verbund mit Dorothy und wechselt sodann auf die Ebene des Erzählten, um dieses Band gegen die Katastrophe von Napoleons Kaiserkrönung im Jahre 1804, also zum Zeitpunkt der Abfassung des 10. Buches, zu halten: [Dorothy] in the midst of all preserv’d me still a A Poet, made me seek beneath that name My office upon earth and nowhere else, . . . . . . […] hath still Upheld me, and upholds me to this day In the catastrophe […]
174 Kneale (1988: 126) sieht diese Stelle als Anagnorisis in Wordsworths Tragödie der Französischen Revolution, aber er verkennt sie als reine Selbstbegegnung und eben nicht als (intersubjektives) Erlebnis des Selbst im anderen.
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[…] when finally, to close and rivet up the gains of France, a Pope Is summon’d in, to crown an Emperor; . . . . . . […] when the sun That rose in splendour, was alive, and moved In exultation among living clouds Hath put his function and his glory off, And, turn’d into a gewgaw, a machine, Sets like an opera phantom. (10, 917–919, 928–930, 931–933 u. 935–940)
Napoleon instrumentalisiert den Heiligen Stuhl und die Natur175 zu den Requisiten eines Bühnengeschehens, das in seiner Selbstkrönung endet. Damit rekapituliert dieser Moment implizit auch Wordsworths eigenes Ich-Theater und wird zugleich zu dessen endgültiger „catastrophe“176, der nun ein Theater gelebter Intersubjektivität gegenübersteht. Dennoch beansprucht Wordsworths Gemeinschaftstheater mit dieser Parallele auch weiterhin ein politisches Repräsentationspotential. In den letzten Versen des Prelude, wo auf diese Gemeinschaft noch einmal beschwörend eingegangen wird, erscheinen die drei als „[u]nited helpers forward of a day / of firmer trust, joint labourers in the work [...] of their redemption“ (13, 438–441), wobei „their“ sich auf ‚am Boden liegende Nationen‘ (435) wie auf „men“ (433) ingesamt beziehen kann. Die Kleingemeinschaft wird zu einem – gleichermaßen urdemokratischen wie elitären – Staatsmodell, auf das in der Analyse der Excursion zurückzukommen sein wird.177 Mit dem Bezug auf Dorothys Dichterhilfe am Anfang des Zitats wird aber auch unmissverständlich klar gemacht, dass es sich bei dieser Gruppe um einen Kunstzirkel handelt, der den demokratischen Staat in und als Ästhetik lebt und genau deswegen zum elitären Vorbild, zur exklusiven Fundierung für eine – in visionärer Zukunft – von allen gelebte Freiheitsordnung werden kann. Die Engführung von Ästhetik und Politik bleibt also bestehen, allerdings bereinigt vom Schrecken der Selbstbezüglichkeit und der Isolation bloßer Imagination, wie
175 Alan Liu erwähnt einen von der zeitgenössischen Presse als Naturwunder interpretierten Durchbruch der Sonne durch die Dezemberwolken genau im Moment der Krönung Napoleons in Notre Dame (Liu 1989: 440f.). Für Wordsworth wird die Sonne damit gewissermaßen zu einem der immer aufwendiger werdenden Illusionstricks des zeitgenössischen Unterhaltungstheaters, die tatsächlich mechanische Sonnenaufgänge enthielten. 176 Auch Kneale (1988: 126) verweist auf den „catastrophe“-Status dieser Stelle in Wordsworths eigener Tragödie der Französischen Revolution, übersieht aber die bereits zur Verfügung stehende Intersubjektivität. 177 Vgl. 4.3.4.
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Wordsworth sie während seiner Ich-Krise erlebt hat.178 Die in diesem Zirkel entstehende und kursierende Versdichtung ist denn auch die Anbindungsmöglichkeit seiner Freiheit und seiner Menschlichkeit an die ‚weite Welt‘. Wie im „Old Cumberland Beggar“ wird die Übertragung des in den Texten geschilderten Austauschsmodells auf die Wirkung und Kommunikation der Texte mitgedacht bzw. mitproblematisiert. Die Zirkulation der Texte, die intersubjektive Sympathisierung einer ganzen Nation durch das Lesen, ist und bleibt natürlich schwierig; jedoch entwickelt Wordsworth über „The Old Cumberland Beggar“ und „Simon Lee“ hinausgehend hier im Prelude die Wirkung seiner Versdichtung weiter – als eine dem ‚lebendigen‘ Austausch in einem Kreis von Gleichgesinnten ähnliche. Am Ende des 10. Buches ist also endlich Wordsworths Theaterkrise bewältigt – auch durch das Schreiben von Versdichtung, zu der Wordsworth hier im Prelude auch das Prelude selbst zählt: Er stilisiert den (Schreib-)Beginn des Prelude als Überwindung einer Stadtkrise und verweist am Ende dieser Stadtkrise, am Anfang des 11. Buches, auf diesen Beginn zurück. Wie bereits erwähnt, kommen am Ende des 10. und am Anfang des 11. Buches rekonstruierte Vergangenheit und Schreibgegenwart des Textes ja zusammen. 179 Dabei dimensioniert Wordsworth die Heilung in der Kleingruppe nicht nur als (Wieder-)Beginn dichterischen Schreibens, unter anderem auch des Prelude. Vielmehr wird diese Gruppe auch zum Modell der Poetik des Textes: Das Prelude soll insgesamt als Dialog zwischen William Wordsworth, S.T. Coleridge und Dorothy Wordsworth und damit als Text-Theater der Gemeinschaft verstanden werden. Diese Dimension eines gemeinhin als lyrisch-episches Mischgebilde verstandenen Langgedichts mag überraschen. Und doch ist das Werk strukturiert über Apostrophen an Coleridge und/oder Dorothy, die das narrativ Erinnerte an eine auf die (Schreib-)Gegenwart bezogene Ebene des Fühlens und Schreibens anbinden: Die Anreden der beiden fungieren als Legitimation für die ausführlichen Reminiszenzen einerseits (die dadurch suggestiv selbst zu Teilen dieser Apostrophen werden) und als Ausdruck des auf der Gegenwartsebene Gefühlten
178 Parallelen zu diesem Entwurf finden sich auch in der deutschsprachigen Kultur: Laut Schillers Briefen über die ästhetischen Erziehung des Menschen (1795) kann im Imaginationraum der Ästhetik der Wandel zu einer freiheitlichen Gesinnung gewaltfrei, d.h. ohne Eingreifen in bestehende politischen Institutionen erreicht werden. Der Einzelne kann sich hier gleichermaßen als Kollektiv(wesen) erleben, ohne in oder gegen ein Kollektiv handeln zu müssen (Koschorke et al. 2007: 308). Politik wird damit ästhetisch und individualisiert zugleich. Um wie Wordsworth den Schrecken der Isolation zu umgehen, der mit diesem Modell des Politischen droht, schlägt auch Schiller kleine Kunstzirkel vor, die diese Freiheitlichkeit im gemeinsamen Kunstgenuss in der Idylle gewaltfrei leben können. 179 Vgl. 4.2.1.
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andererseits.180 Das Prelude weist fast jedes Mal, wenn von der Ebene des Erzählten auf die Erzählebene gewechselt wird, eine Anrede an Coleridge und/oder Dorothy auf. Daher verdichten sich diese Anreden an Schlüsselstellen des Werks, etwa an seinem Anfang (1, 654–663) und Ende (13, 211–452) sowie am Eingang in die Reisephase des Prelude in Buch 6 (208–331) oder am Ausgang aus der Theaterkrise am Ende von Buch 10 (961–1038), zu umfangreichen apostrophischen Beschwörungen von Wordsworths Bezugsgruppe, die der Anbindung des erzählten Lebens an seine Erzählung und seinen Erzähler dienen, zugleich aber auch einen Vortrag des Werkes in diesem Kleinzirkel beschwören. Wordsworth versteht das Prelude als poetische Implementierung eines Intersubjektivitätstheaters, das er als Heilung vom Kollaps eines bzw. in ein Theater des Subjekts erlebt hat.181 Dieser Status wird deutlich in dem Titel, den das Prelude zu Wordsworths Lebzeiten, und gerade auch in dem Zirkel, den es ‚medialisiert‘, trug, nämlich „Poem
180 Vgl. dazu vor allem Nichols 1998: 56–131 und Waldoff 2001: 152–164. 181 Die implizite Dialogstruktur des Prelude ist von der neueren Forschung intensiv erkundet und in dieser Implizität problematisiert worden. Allerdings wurde ihre Anbindung an eine bzw. ihre textuelle Genese aus einer autobiographischen – und damit gerade fiktional aufgearbeiteten – Theaterkrise und deren Lösung noch nicht voll erkannt. Pfau kommt dieser Lesart am nächsten: Ihm zufolge hängt von der Leserappellation (durch eine geeignete, vergegenwärtigende Rhetorik/Form) geradezu das Funktionieren des Wordsworthschen body politic ab, den Pfau zwar als Gegen-Theater zu den Londoner Unterhaltungsspektakeln versteht, aber nicht auf die krisenhafte Ich-Theatralität Wordsworths im Zuge der Französischen Revolution bezieht (Pfau 1997: 362–382). Ständig vermittele das Gedicht zwischen authentischer Subjektivität und den inauthentischen Diskursen zur Kommunikation des Subjektiven. Damit wird das Problem der Selbst-Erhältlichkeit letztlich auf das Werk insgesamt übertragen, das das Selbst zwar permanent verschiebt und veräußert, aber eben in der Erhältlichkeit für andere erst konstituiert. Das Selbst wird zu einem Theater des Selbst, das nur idealistisch sein kann. Bei Nichols (vgl. die vorherige Anm.) ist es neben der generell dialogischen Form (auch in Form eines Dialogs des Ichs mit sich selbst und mit der Vergangenheit sowie der Reflexion der notwendigen Textualität dieses Dialogs) vor allem die auf Coleridge gerichtete heilende Wirkung, die den Adressatenbezug ausmachen. Laut McConnell (1974) ist die Sprechsituation des Prelude die aus dem confessional narrative stammende Bekehrung des Lesers bzw. Adressaten, ausgehend von Coleridge. Auch derart als ‚Monolog‘ aufgefasst ist das Prelude demnach zutiefst abhängig von einem Publikum, das immer auch im Text mitgeführt bzw. allererst konstituiert wird (20). Wordsworth hat immer eine Art Mindestpublikum (39), das durch sein Mitgefühl die Innerlichkeit des Dichters letztlich erst ermöglicht. Die Übertragung einer eigenen Bekehrung auf Zuhörer heißt ‚Erbauung‘ („edification“). Die „narratives“ dienen dabei immer dieser Erbauung, wobei die „retrospects“ die Funktion der Vermittlung („mediating“), vor allem zwischen der imagination als einer übergeordnenten Macht und den Menschen, haben – beide aber sind Formen der Adressierung. Von dieser Differenzierung ausgehend lässt sich laut McConnell das ganze Prelude strukturieren.
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to Coleridge“ – auch wenn dieser Titel die Kleingruppe unter Ausschluss von Dororthy auf einen Männerbund verengt.182 Als exemplarisches Moment dieser Gemeinschaftlichkeit soll hier folgerichtig die große Anrede Coleridges, die auf die erzählte Heilung in der Kleingruppe unmittelbar folgt, analysiert werden. Das Gedicht stilisiert sich auch als Anrede eines abwesenden Freundes, also als Ersatz für ein Miteinander körperlich kopräsenter Subjekte, wobei Coleridge 1804 in Italien weilt, um seine Opiumsucht auszukurieren. Als Höhepunkt der Beschwörung der „sympathy“ für den abwesenden Freund heißt es: I feel for thee, must utter what I feel: The sympathies, erewhile, in part discharged Gather afresh, and will have vent again; My own delights do scarcely seem to me My own delights […] (10, 986–990)
Der Schreibende bekundet in der Apostrophe der ersten Zeile („thee“) intensivste Gefühle für das nun entfernt lebende Gruppenmitglied Coleridge, charakterisiert sich aber energisch als ein Inter-Subjekt, das seine eigene Gefühlswelt („My own delights“) nicht als seine (an)erkennen kann („do scarcely seem to me / My own delights“), wenn der andere krank und abwesend ist, und es sich nicht mit ihm austauschen kann. Allerdings könnte man die stark ausgeprägte Anapher der letzten beiden Zeilen als konkret visuellen Ausdruck von emotionaler Intersubjektivität gerade in der Formulierung ihrer Unmöglichkeit verstehen: Die Gefühle Wordsworths werden nun doch ‚repräsentabel‘, da sie nämlich – in Form der Wiederholung der „delights“ am Anfang der letzten beiden Verszeilen – den Gefühlen des anderen ‚beobachtbar‘ gegenübergestellt werden. Intersubjektive Sympathie wird vom theatralisierten Text gewissermaßen direkt visualisiert. Und genau auf der Scheide zwischen Versagen und Funktionieren eines Text-Theaters der Intersubjektivität steht auch die Apostrophe: Sie artikuliert die schmerzliche Einsamkeit, durchbricht sie zugleich aber durch ihre Kommunikativität. Damit wird die Passage auf der formalen Ebene von einem (inhaltlichen) Ausdruck von Einsamkeit und Distanz zum eigenen Selbst zu einem funktionierenden Theater der sympathy, wobei die Apostrophe genau in der Mitte zwischen beiden Textdimensionen steht. Apostrophe und materiell-visuelle Form bezeugen gleichermaßen, wie das textuelle Intersubjektivitätstheater Wordsworths (im Prelude) funktioniert – nämlich durch die geradezu konstitutive Abwesenheit der ange-
182 Vgl. Nichols 1998: 79 sowie die Kapitelüberschrift in McConnell 1974: 15(–57).
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sprochenen Subjekte und ihren virtualisierenden ‚Nachbau‘ im Distanzmedium der Schrift. Mit dieser Stelle setzt Wordsworth sowohl dem ‚unsichtbaren‘ Schauspieler als auch dem „Blind Beggar“, die wir im 7. Buch kennengelernt haben183, endlich ein funktionierendes Schrift-Theater der Intersubjektivität gegenüber. Für das Text-Theater des Prelude ist die Apostrophe insgesamt aber eine wichtigere Form als die ‚visuelle Poesie‘, was sich auch darin zeigt, dass die Visualisierung von Intersubjektivität hier eine Anrede unterstreicht und verstärkt. Die Poetik der Apostrophe geht im Prelude aber noch viel weiter – hin zur Lösung auch in den Lyrical Ballads noch offener Probleme. Mit Coleridge und Dorothy bekommen nämlich nicht nur die (sterblichen) Mitglieder von Wordsworths Bezugsgruppe einen festen Ort im Text; vielmehr erhält durch die zu einem Subjekt mit Existenz und Identität ausgearbeitete Größe des ‚realen‘184 Adressaten jeder Rezipient dieses Textes gewissermaßen eine Position mit Körper und Geist. Der Adressat ist hier auch ein Idealleser, der den Reallesern nach dem Willen Wordsworths intensivste, geradezu (inter)subjektivitätsbildende Momente ermöglichen soll – wenn sie sich mit den konkret angesprochenen und (dadurch) ausgearbeiteten Subjekten ihrerseits identifizieren. Die Benutzung extra- und intradiegetischer Adressaten – in der Romantik auch im Roman: man denke etwa an Mary Shelleys Frankenstein185 – erweist sich im Prelude demnach als Versuch der Gestaltung eines sympathetisch-intersubjektiven Text-Theaters, das auch den Leser miteinbeziehen soll. Im Gegensatz zu intradiegetischen Adressaten sind die beiden Angesprochenen zwar stumme Zeugen und nicht eifrig Reagierende; Wordsworth gestaltet seinen Text ja nicht als Wechsel von Rede und Gegenrede, sondern als gigantische Hymne eines Einzelsprechers, der in der Intensität seiner Adressen die Gemeinschaft, zu der er gehört, sprachlich nachbildet, diese aber gerade nicht zu Wort kommen lässt. Allerdings soll wohl gerade diese Abwesenheit die Funktion der Angesprochenen als Projektionsfläche für Erzähler und Leser potentiell sogar noch verstärken. Dorothy und Coleridge verbinden ihre realweltlich nachweisbare Identität demnach mit der Identitätsoffenheit extradiegetischer Adressaten.
183 Vgl. 4.2.1. 184 Es handelt sich um einen extradiegetischen Adressaten (den sog. „narratee“) auf der Ebene des Erzählens, mit dem besonderen Charakteristikum einer identifizierbaren, realweltlich (ebenfalls) vorhandenen Identität. 185 Vgl. dazu etwa Schäbler 2006.
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Im Falle Coleridges186 thematisiert das Prelude die formale Abwesenheit der Adressaten exzessiv innerhalb der Apostrophen selbst. Die Forschung hat herausgearbeitet, dass sich diese ‚verdoppelte‘ Abwesenheit Coleridges in einem äußerst problematischen Verhältnis des Sprechers zu seinem Ansprechpartner spiegelt, das zwischen erbitterter Konkurrenz zu einem anspruchsvollen Dichter-Leser und gönnerhafter Herablassung gegenüber einem fernen Kranken schwankt187 – und beide Einstellungen zuletzt in einer Fantasie von Coleridges Ableben188 verbindet: Oh! yet a few short years of useful life, And all will be complete, thy race be run, Thy monument of glory will be raised; (13, 428–430)
„[U]seful life“ referiert auf den vielversprechenden Dichter und (ex negativo) den ‚nutzlosen‘ Drogenabhängigen gleichermaßen und lässt sich demnach als (zweischneidiger) Ansporn und (schwacher) Trost zugleich lesen. Auf alle Fälle imaginiert Wordsworth hier ein Verschwinden beider – des Kranken durch den Gnadentod und des Dichterfürsten Coleridge durch ein Verstummen nach dem magnum opus. Dieser Brudermord ist ein weiterer – und der letztgestellte – Ermöglichungsgrund für das Prelude insgesamt und der Text damit tatsächlich eher ein Gedicht gegen Coleridge.189 Die Überwindung eines unmöglichen Subjekttheaters führt Wordsworth demnach zwar in die intersubjektiv-theatralische Kleingemein-
186 Dorothy ist eher als zwar schweigende, aber zur Zeit des Verfassens des Textes durchaus anwesende bzw. in der Nähe befindliche Instanz konzipiert. Es ist Coleridge, der als auch räumlich entfernt vorgestellt wird und gerade deswegen zum ideal(er)en Adressaten des Werks avanziert. 187 Gänzlich auf ein problematisches, exploitatives, ja destruktives Verhältnis der beiden ausgerichtet ist Lucy Newlyns Interpretation (1986): Wordsworths Queste ist die eines Alleingängers, für die/den Freundschaft letztlich irrelevant ist. Coleridge wird einerseits mythologisiert/ überhöht, um Wordsworths Vergangenheit aufzuwerten, und andererseits ‚erniedrigt‘, um als Kontrastfolie zu dienen (summarisch auf 166). Zudem ist das Prelude durchgehend von der Angst geprägt, vor Coleridges Erwartung an das poetische Projekt nicht zu bestehen. Nichols, der ja durchwegs die Heilungsbedürftigkeit, aber auch den Heilungserfolg Coleridges durch Wordsworth(s Text) betont, verweist (Nichols 1998: 92; vgl. auch Newlyn 1986: 176) sogar auf eine Stelle im Prelude (6, 178–180 u. 308–317), die an Coleridge ein ungesundes Theater des Selbstbezugs ausmacht. In diesem Sinne würde Wordsworth versuchen, sein kollabierendes Selbst-Theater auf Coleridge zu projizieren. Ähnlich wie Newlyn interpretiert Susan Wolfson (1986) Adressierungen Coleridges als unsichere Fragen, die sich im Prelude mit „bold statements of closure“ abwechseln, diese aber auch immer wieder unterminieren. Am Ende des Prelude sei es sogar zweifelhaft, ob Coleridge überhaupt Teil der von diesem Text beschworenen community ist (177). 188 Vgl. McConnell 1974: 56. 189 Vgl. Newlyn 1986: 192–194.
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schaft mit Coleridge und Dorothy. Im Versuch, sie textuell zu gestalten und zu erhalten, überschreibt Wordsworth sie dann allerdings und steht zuletzt doch wieder alleine da. Wordsworths Text-Theater beruht auf Zuschauer-Akteuren, die sich bis auf einen gerade nicht materialisieren dürfen, wenn es funktionieren soll. Dieses konstitutive Manko weist auf einen Text, der Intersubjektivität endlich auch szenisch gestaltet, als ein stehendes Desiderat voraus, wie Wordsworth auf dem Höhepunkt seiner Krise schreibt: […] Time may come When some dramatic Story may afford Shapes livelier to convey to thee, my Friend, What then I learn’d, or think I learn’d of truth (10, 879–881)
Und dieser Text, die Excursion, kann den Mitgliedern eines ästhetisch-politischen Modellzirkels dann endlich auch eine Stimme und ein (Inter-)Subjekt geben. Allerdings sind auch für das Prelude schon Versuche zu verzeichnen, eine intaktere Intersubjektivität zu gestalten, die Inhalt und Vermittlung gleichermaßen bzw. gleichmäßiger umfasst als die analysierte Gemeinschaft aus monologisierendem Dichter und abwesenden Apostrophierten. Es handelt sich um den Modus der Selbstbegegnung, den Wordsworth in zwei Komplexen, der Begegnung mit seinem externalisierten Geist sowie der (Selbst-)Erinnerung gestaltet. Wordsworth will also ausgerechnet durch die Rückkehr zum Theater des Selbst Intersubjektivität erreichen.
4.2.5 L ösung 2: Das „image of a mighty Mind“ (Buch 13) und das Theater der Selbstbegegnung Zunächst wollen wir unser Augenmerk auf die berühmte Wordsworthsche Begegnung mit seinem eigenen Geist richten. Zu Beginn des letzten Buches des Prelude beschreibt Wordsworth eine nächtliche Besteigung des walisischen Mount Snowdon. Auf dem Weg zum Gipfel begegnet dem erlebenden Ich an einer Kante mit einem Mal eine spektakuläre Szene: […] I look’d about, and lo! The moon stood naked in the Heavens, at height Immense above my head, and on the shore I found myself of a huge sea of mist, Which meek and silent, rested at my feet: A hundred hills their dusky backs upheaved All over this still Ocean […]
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. . . . . . […] and from its shore At distance not the third part of a mile Was a blue chasm, a fracture in the vapour, A deep and gloomy breathing-place through which Mounted the roar of waters, torrents, streams Innumerable, roaring with one voice. The universal spectacle throughout Was shaped for admiration and delight, Grand in itself alone, but in that breach . . . . . . […] had Nature lodg’d The Soul, the Imagination of the whole. (13, 40–46, 54–62, 64f.)
Wordsworth bezeichnet die Szene als „perfect image of a mighty Mind, / [...] that feeds upon infinity / That is exalted by an underpresence“ (13, 69–71). Dieses ‚universale Spektakel‘ ist deutlich als der abschließende Höhepunkt der Theaterszenerien des Prelude gestaltet – und das zu Recht, stellt es doch eine der Theatervisionen der Romantik in Reinform dar: Wordsworth setzt im wasserdurchströmten Abgrund das Bild von Seele und Imagination an, und er deutet es von daher als theatralische Darstellung eines Wahrnehmungsvorgangs dieses Geistes („feeds upon“), als Wahrnehmung der Natur, die in diesem Moment natürlich auch das Bild selbst umfasst. Das Wordsworthsche Ich sieht ein Bild, das seinen eigenen Geist bei der Wahrnehmung genau diesen Bildes zeigt. Wordsworth gelingt hier, so scheint es, das perfekte Theater des Subjekts, nämlich eines, das das Subjekt endlich für sich selbst wahrnehmbar macht – und zwar genau im Moment dieser Wahrnehmung! Das Theater des Ich wird möglich, da es das Ich auf der ‚Bühne‘ zugleich als Zuschauer vor dieser Bühne zeigt.190
190 Vgl. Hodgsons Lektüre (1980: 112–140) des „mighty Mind“ als Emblem für Wordsworths Geist und dessen Wahrnehmung der Natur. Die Komplexitäten des „mighty Mind“ sind auch in einigen klassischen Lesarten schon erkannt worden: Jonathan Wordsworth (1982) betont die folgenreiche Wörtlichkeit der Verlagerung der/einer Imagination in einen realen, natürlichen Abgrund (318–328). Zugleich stelle Wordsworth das „spectacle“ bewusst als Artefakt dar – aber eben nicht von Menschenhand. Dabei sei die Szene voll von gewollten, kunstvollen Paradoxien: Der Schlund ist autonom und abhängig zugleich; er muss, um so ‚sein‘ zu können, zu einer transzendenten Größe gehören – und genau das ist unmöglich. Natur und Gedicht werden Äquivalenzen, der Dichter zum Arrangeur ähnlich der Natur bzw. umgekehrt. Geoffrey Hartmann (1971: 60–65) sieht die Offenbarung als unfertig, prozessual und (auf ein Naturbild) verschoben an: Das Selbst wird zu einer Art ‚Zwischen‘ von Beobachtung und Beobachtetem. Wichtigste poststrukturalistische Interpretation ist die psychoanalytisch-dekonstruktive Lesart von Mary Jacobus (1989: 276–293): Sie sieht im „image of a mighty Mind“ die Doppelung eines Moments der Gefährdung des Subjekts (bzw. der Einsicht in seine fundamentale Instabilität bzw. Spal-
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Diese Szene ist ein Höhepunkt romantischer Naturbeschreibung, aber sie ist dies auch, da sie die Bedeutung der Natur für Wordsworth wie für die Romantik insgesamt als eine über die Natur selbst hinausführende deutlich macht: Das romantische Subjekt erkennt in der Natur weniger die Natur selbst als vielmehr sich selbst genau im Moment dieser Erkenntnis. Die Natur ist weniger ein Theater ihrer selbst als vielmehr ein Theater des Menschen in authentischer Selbstwahrnehmung. Allerdings muss auch dieses Theater, um funktionieren zu können, Wordsworth ‚sein‘ Subjekt als ein externalisiertes zeigen – als wäre es ein anderes Subjekt –, damit es sich nicht wieder das Paradox des Ineinsfallens von Handeln und Beobachten aufzwingt. Das „image of a mighty Mind“ ist daher ein durch das Subjekt von außen wahrnehmbares Bild seiner selbst und in dieser Hinsicht mit den Freunden vergleichbar, die das Wordsworthsche Ich von außen betrachten konnte, um seine Handlungen und sein Wesen zu erfahren. Dadurch wird diese Selbstbegegnung zu einer Form von Intersubjektivität – zumindest in einer Richtung. Allerdings ist das Theater des Selbst, das die Natur bietet, im Gegensatz zu den Freunden eine instabile Naturerscheinung. Wie kann sie Stabilität erhalten, um Wordsworth den Status eines externen Selbst zu gewährleisten? Die Mount-Snowdon-Episode selbst liefert den Aufschluss. Wordsworth spricht zunächst der Natur die Fähigkeit zu, „[to] mold[…] endue[...], abstract[...] und „combine[...]“ „the outward face of things“ (13, 79f.), also zur aktiven Umgestaltung der äußerlichen (Objekt-)Welt nach ihrem Willen. Das deutet zunächst darauf hin, dass die Natur selbst dieses Bild geschaffen hat, um Wordsworth sich selbst zu zeigen – was uns letztlich zum unheimlichen Modus der unkontrollierbaren Fremdüberwachung zurückführen würde. Wordsworth unternimmt den entscheidenden Schritt aus dem Dilemma hin zu einem eigenen Text-Theater, indem er diese „glorious faculty“ ganz deutlich auch den Dichtern als Trägern eines überlegenen Geistes, wie wir sie im „Preface“ zu den Lyrical Ballads und dem Gedicht „The Old Cumberland Beggar“ kennengelernt haben, zuspricht:
tung) mit einem Moment der ästhetischen Überwindung, aber auch Übertünchung dieser Gefahr (vor allem durch die projizierende Externalisierung dieser Gefahr in die Natur), die zugleich den Geist sich selbst als ästhetisches Objekt zugänglich macht. Das „image“ ist daher letztlich ein Bild, das sowohl das Reale als auch das Imaginäre figuriert und zusätzlich die Überdeckung des Realen durch das Imaginäre. Mit diesem Bild wird das Funktionieren (bzw. Naturalisieren) dieser Signifikation nicht einfach nur gewährleistet, sondern auch vorgeführt. Auch nach meinem Dafürhalten repräsentiert das Bild „the Mind“ und seine künstlerische Darstellung und weist auf die Grenzen dieser Darstellung hin, aber eben hin zu einer Theatralität/Ästhetik des Inter-Subjektiven, die Jacobus nicht erwähnt. Zudem geht Jacobus m.E. zu wenig auf die (beträchtlichen) Paradoxien einer Selbst-Zugänglichkeit des menschlichen Geistes ein, an denen sich die Romantik abgearbeitet hat.
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„They from their native selves can send abroad / Like transformation, for themselves create / A like existence“ (13, 93f.), das heißt: Sie können äußere Objekte ebenfalls verändern, damit diese ihnen sie selbst bei der Wahrnehmung dieser Objekte zeigen. Wordsworth dimensioniert hier (seine) Poetik als eine Nutzung gegebenen Materials zur Schaffung von permanenten (Kunst-)Werken der Selbstbespiegelung des Menschen, zu denen das poetische Bild vom „mighy Mind“ natürlich selbst exemplarisch gehört. Einen solchen Anspruch auf Selbst-Vergegenwärtigung, den wir im nächsten Abschnitt an einer Parallelstelle noch einmal überprüfen wollen, hat auch das Moment der Selbstapostrophe, welches an einer Schlüsselstelle kurz nach der Passage des „mighty Mind“ zu finden ist – wodurch seine dem Selbst-Bild parallele Bedeutung unterstrichen wird: „In some green bower / Rest, and be not alone, but have thou [‚Wordsworth‘!] there / The One who is thy choice of all the world“ (13, 156–158). Der Wordsworthsche Sprecher fordert sich hier gewissermaßen selbst zur Modellgemeinschaft mit Dorothy („The One“) auf, was aber eher verdeutlicht, dass deren Ansprache einer Selbst-Anrede191 gewichen ist und die Textualisierung von Wordsworths Kleingruppe wieder nur ‚Wordsworths‘ Stimme bzw. sein Subjekt zurücklässt.192 Für den Leser bedeutet das zudem, dass er die Wirkung dieser Selbstbegegnung nur dann verspüren kann, wenn er gewissermaßen mit dem Autor identisch wird, das heißt entweder der Autor selbst ist oder aber, was letztlich unmöglich ist, sich mit dem geschilderten Ich vollkommen identifiziert – weit mehr, als im Falle ‚abwesender‘ Adressaten notwendig ist. In dieser Hinsicht ist das Prelude ein Ich-Theater, das voll nur für Wordsworth selbst funktioniert. Will Wordsworth sich selbst in einem Modus begegnen, der für (andere) Leser ebenfalls als intersubjektive Selbstbegegnung nachvollziehbar wäre, so müsste er einen Text verfassen, der Subjektivität einerseits als Spiegelung des Selbst im anderen, andererseits aber auch als ständigen Austausch verschiedener Subjekte gestaltet. Folglich müsste ein solcher Text das Moment der Selbstbegegnung aus dem Prelude, das letztlich Ausdruck der Isolation ist, mit einem ‚echten‘ und textuell ‚gleichrangigen‘ Zusammensein unterschiedlicher Menschen kombinieren und zudem endlich auch die Poetik einer intersubjektiven Gemeinschaft stiften.
191 Der Selbst-Befehl könnte hier sowohl als künstliche (nämlich sprachliche) Selbst-Externalisierung ähnlich dem „image of a mighy Mind“ als auch als Rückfall in die paradoxe Engführung von Handeln und Beobachten gedeutet werden. 192 Der Schritt von der Apostrophe Abwesender zur Selbst-Anrede ist insofern ein konsequenter, vollendet er doch einen Modus der isolierten Rede, der bei Wordsworth in der Apostrophe von Anfang an angelegt war.
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Damit würde er das Verhältnis von Text und einzelnem Leser als der Instanz der Erfüllung des romantischen Text-Theater wieder entlasten; der Erwartungsdruck auf den Leser ist nämlich im Prelude im Verhältnis zu den Lyrical Ballads eher noch gewachsen. Im Vorgriff ist hier bereits die Rede von der Excursion, die im nächsten Kapitel analysiert wird. Das Prelude selbst erscheint insgesamt als das intensivste Projekt eines Theaters des Subjekts, das die Romantik hervorgebracht hat. Zugleich aber hat sich gezeigt, dass Wordsworth mit seinem Vorhaben, (s)ein (Einzel-)Subjekt als ein intersubjektives zu theatralisieren, seinem Ziel eines Intersubjektivitätstheaters zwar näher gekommen ist, es aber noch nicht erreicht hat.
4.2.6 C oda: Zurück ins Theater – Zusammenfassung aller Lösungen in der „Maid of Buttermere“ Der Abschluss dieses Kapitels soll uns noch einmal kurz ins Sadler’s Wells-Theater entführen, wo Wordsworths Theaterprojekt auf der Inhaltsebene ja begann. Dort sieht er nämlich ein „domestic melodrama“, dessen Kritik auf der Vermittlungsebene alle Lösungen bzw. Lösungsversuche zur Überwindung der Krise des Subjekttheaters enthält und in unmittelbarem Abgleich mit dem illegitimate drama erfahrbar macht. Das Stück, um das es geht, ist folgendes: I mean, O distant Friend! a story drawn From our own ground, the Maid of Buttermere, And how the Spoiler came, “a bold bad Man” To God unfaithful, Children, Wife, and Home, And wooed the artless daughter of the hills . . . . . . […] O Friend, I speak With tender recollection of that time When first we saw the maiden, then a name By us unheard of; in her cottage Inn Were welcomed, and attended on, by her, Both stricken with one feeling of delight, And admiration for her modest mien, And carriage, mark’d by unexampled grace. Not unfamiliarly, we since that time Have seen her; her discretion have observ’d, Her just opinions, female modesty, Her patience, and retiredness of mind, Unsoiled by commendation and the excess Of public notice. This memorial verse Comes from the poet’s heart, and is her due (7, 321–325, 327–341)
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Wordsworth bezieht sich hier auf ein tatsächlich existierendes Melodrama, nämlich Edward and Susan von Charles Dibdin, das 1803 am Sadler’s Wells gegeben wurde. Der Adressat dieser Stelle ist wieder einmal Coleridge, der in die nun folgende Reminiszenz an das Mädchen bewusst einbezogen wird: Die beiden haben Mary in ihrem Landgasthaus kennengelernt, wo sie von ihrer Bescheidenheit und Würde hingerissen waren und genau dasjenige „delight“ zusammen verspürten, das Wordsworth in seinem oben analysierten Ausruf an Coleridge zu (re)konstruieren versucht hat. Die Stelle versteht sich als ein würdigendes Erinnerungsgedicht, mit dem Wordsworth (selbst)bewusst in Konkurrenz zum Unterhaltungstheater tritt. Die einfühlsame Beobachtung der positiven Charaktereigenschaften des Mädchens wird somit zum Ausgangspunkt eines Theaters der Repräsentation des Menschen, die sich in bewussten Gegensatz zur voyeuristischen „public notice“ setzt, für die das populäre Drama steht. Die Zeilen artikulieren erstmals und praktisch einmalig in Wordsworths Werk eine Begegnung zu zweit, also zusammen mit einem anderen Mitglied von Wordsworths Zirkel, der daher auch aufgerufen und miteinbezogen werden kann: Das Begegnungstheater der Lyrical Ballads wird hier mit Elementen des apostrophischen Gemeinschaftstheaters des Prelude verbunden. Die ‚doppelte‘ Beobachtung soll die Legitimität und das Selbstbewusstsein dieses Gegen-Theaters unterstreichen und konstituiert zugleich einen seltenen Moment emotionaler – intersubjektiver – Übereinstimmung zwischen Wordsworth und Coleridge. Aber Wordsworth geht noch weiter und verbindet die in der Vergangenheit liegende Begegebenheit mit der Gegenwartsebene, in dem zusammen mit Coleridge nun auch das Mädchen Teil des intersubjektiven Text-Theaters werden soll. Die Stelle setzt sich nämlich unmittelbar so fort: These last words utter’d, to my argument I was returning, when, with sundry forms Mingled, that in the way which I must tread Before me stand, thy image rose again, Mary of Buttermere! She lives in peace Upon the spot where she was born and rear’d; Without contamination does she live In quietness, without anxiety; Beside the mountain Chapel sleeps in earth Her new-born Infant; fearless like a lamb That thither comes from some unshelter’d place, To rest beneath the little rock-like Pile When storms are blowing. Happy are they both, Mother and Child! […] (7, 346–360)
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Die Apostrophe gilt nun der „Maid of Buttermere“ selbst. Zunächst wird das soeben Geschehene, nämlich der Erinnerungsvorgang, im Präteritum geschildert, welches dann in den präsentischen Ausruf ihres Namens mündet. Die darauffolgende Beschwörung ihrer Verklärung im Leben sowie ihres Kindes und dessen Tod stehen denn auch im Präsens. Diese Schilderung ist genau jenes Menschentheater, das Wordsworth auch in seinen Begegnungsballaden angestrebt hat, hier aber eindeutig weitertreibt: Anders als in „Simon Lee“ endet die Begegnungsepisode nicht in einer Sympathiekrise, die den Leidenden ausschließt und den Dichter zum Spektakel der Ratlosigkeit macht. Hier wird die Leidende direkt angesprochen und von einem Dichter, der sich seiner Moral, die auch ein gefallenes Mädchen aufheben kann, völlig sicher ist, als Exempel der Menschlichkeit postuliert. Und anders als in „The Old Cumberland Beggar“ ist sie kein passives Leidensspektakel, sondern ein ansprechbares Subjekt, das Wordsworths Darstellungsintention zufolge mit seiner Schuld bewundernswert umgeht und gerade damit zum Inbegriff einer würdigen Volkstragödie wird, die den Zuschauer nicht gegen die ausbeuterischen oberen Schichten (verkörpert durch den Heiratsschwindler) aufwiegelt, sondern nüchtern die Verstrickung aller sozialen Gruppen Großbritanniens in menschliche Schicksale aufzeigen soll.193 Die Einrückung am Anfang des Zitats weist – zusammen mit dem erwähnten ‚unmittelbaren Präteritum‘ – aber auf einen weiteren Aspekt dieser Stelle hin, mit dem Wordsworth das hiesige Menschentheater wieder an seine Grenzen treibt.
193 Die Forschung sieht diese Intersubjektivität vielfach als ein einseitiges Ausnützungsverhältnis, übersieht dabei aber die im Vergleich zu Coleridge und Dorothy stärkere Präsentwerdung der „Maid“ im Text sowie die Tatsache, dass diese Ausnützung – qua Coleridge – nicht auf weibliche Charaktere beschränkt ist. Vgl. dazu Meyer 2003, Absatz 3: „In the theatre of the poetic mind, the maid enters the stage again as an innocent maiden after her betrayal. The poet effaces her sexual initiation and her fall and defies the transformation of her experience into a sensational entertainment, but he himself exposes another ‘fallen’ woman to the voyeuristic gaze of the reader.“ Dazu auch Bolton 2000: 106–140 (vgl. Bolton 1997): Wordsworth schreibe seine eigene Version des Melodramas von Mary Robinson, sichtbar, sprachlos, aber auch von der Sprache (der öffentlichen Aufmerksamkeit) nicht verletzbar. Zugleich belasse er die Welt von Dibdins Melodrama aber insofern, als er Mary ein passives Opfer bleiben lässt. Insgesamt sei die „Maid of Buttermere“ der Versuch der Befriedung einer Erinnerung in einer pastoralen Vergangenheit durch Erinnerungsrituale; diese ersteht aber wieder auf. Die Forschung sieht hier also vor allem Gender- und individualpsych(olog)ische Probleme einerseits sowie (u.U. damit verbundene) Probleme der Abgrenzung vom illegitimate theatre. Mich interessieren eher die Probleme auf der Projekt- und Medienebene, wobei nach meinem Dafürhalten Wordsworths Theater weniger an inhaltlich zu kleiner als an formal-medialer zu großer Differenz zum Bühnentheater seiner Zeit zu arbeiten hat, da er das Theater ja nicht im Sinne einer nichttheatralen Versdichtung vermeiden, sondern im Gegenteil in und durch seine poetry neu stiften will.
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Die beiden Elemente sollen einen kurzen Moment der Stille evozieren, in dem das Erinnerungsbild Marys im Geist des Dichters ganz unwillkürlich aufgestiegen ist. Dieses innere Bild ist einer der oben erwähnten Momente der Selbstbegegnung in Wordsworths Text, mit deren Hilfe ein künstlerisches Intersubjektivitätstheater (mit)konstituiert werden soll. Wordsworth setzt es hier ein, um den Vergangenheits- unmittelbar an den Gegenwartsmodus anzubinden und zur direkten Auseinandersetzung mit der Leidenden zu gelangen. Ohne diese Pause wäre dieses Hinübertreten in die Gegenwart nicht möglich und mithin die Intensivierung der Lyrical Ballads hier auch nicht über eine Apostrophe an den (ja konstitutiv abwesenden) Adressaten Coleridge hinausgelangt. Erst jetzt können Dichter und Mädchen sich gewissermaßen gegenseitig konstituieren, indem das Mädchen den Dichter zu tiefstem Selbstbewusstsein (im Doppelsinn) bewegt und der Dichter es menschlich-moralisch glorifiziert.194 Damit zeigt sich aber auch schon eines der Hauptprobleme von Wordsworths (Inter-)Subjektivitätstheater im Prelude, nämlich die Unverfügbarkeit seiner eigentlichen und stärksten Momente: Die Selbstbegegnung des Dichters mit seiner Erinnerung soll ja zugleich – als in diesem Augenblick erscheinendes Erinnerungsbild („image“) – die präsentische Intersubjektivität mit der „Maid of Buttermere“ ermöglichen, und genau dieser Moment doppelten Intersubjektivitätstheaters ist im Text nicht greifbar. Wordsworth kündet vom Erinnerungsbild nämlich nur im Modus der erinnerten Erinnerung, kann also gerade den Moment stärkster – und authentischster – Selbst- und/als Fremdbegegnung nicht als gegenwärtig präsentieren.195 Er gelangt zu einem Eindruck seiner selbst, zu einer Begegnung mit sich selbst (und davon ausgehend zu einer ‚unmittelbaren‘ Fremd-Begegnung196) nur, indem er diese Begegnung schematisch und in der Vergangenheit nachstellt („thy image rose again, / Mary of Buttermere!“). Oder
194 In Mary Jacobus’ Lektüre (1989: 206–236) erscheint diese Stelle nicht als fruchtbare Medialisierung des Subjekts, sondern im Gegenteil als gefährliches Emporkommen der weiblich konnotierten Romanze sowie von Figuration allgemein, die in der Folge unterdrückt und bewältigt werden muss. Jacobus’ (dekonstruktive) Lesart steht also diametral gegen eine der produktiven Intermedialität von Bild und Schrift, von Theater und Text bei Wordsworth: Laut Jacobus unterdrückt Wordsworth (erfolglos) Bild, Romanze, Weiblichkeit, aber auch die Materialität der Schrift. 195 Höchstens könnte man die Lücke im Text als eine direkte Ikonisierung des (schweigenden) Erinnerungsvorgangs verstehen und damit als einen weiteren Moment eines Theaters der Schrift im Prelude – allerdings einen, der gerade im Nicht-Schreiben besteht... 196 In dieser Hinsicht hat auch die Begegnung mit der „Maid of Buttermere“ eine gewisse Mittelbarkeit, die sich darin ausdrückt, dass zwar eine direkte Apostrophe erfolgt („Mary of Buttermere!“), Mary in der Folge aber in der 3. Person erscheint („She lives in peace“ etc.).
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umgekehrt gesagt: Der Moment gewissermaßen ‚wirklichen‘ Austauschs mit dem Selbst und davon ausgehend mit dem anderen erweist sich als im aufzeichnenden autobiographisch poetischen Text letztlich nicht darstellbar – ein Problem, das auch das „image of a mighty Mind“ betrifft, dessen Vergegenwärtigungsleistung strenggenommen ja auch nach-erzählt werden muss. Insgesamt geht die ‚lyrische Ballade‘ von der „Maid of Buttermere“ mit ihrer Begegnung zu zweit und der direkten Ansprache der ‚Begegneten‘ zur angedeuteten gegenseitigen Konstituierung zweier Subjekte über die Lyrical Ballads – und selbstverständlich auch das Melodrama – weit hinaus. Zugleich zeigt sich aber auch, dass Wordsworth im Modus der poetischen Einzelrede und des homodiegetischen Erzählens nicht bis zu einem voll funktionierenden Intersubjektivitätstheater gelangen kann. Dazu ist eine progressive Rückkehr zum Drama nötig, wie er sie mit der Excursion unternimmt.
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4.3 T he Excursion: Wordsworths intersubjektives Theater des Menschen 4.3.1 Einführung: Zeitgenössische und heutige Kritik Mit der Vollendung des Prelude hat Wordsworth den kritischen Punkt in seiner Karriere erreicht: Die Gestaltung einer intersubjektiven Gemeinschaft durch eine ‚Appellstruktur‘ zwischen Dichter, Adressat(in) und Leser(in) hat sich als schwierig erwiesen. Letztlich greift Wordsworth nun durch das Prelude hindurch wieder auf die Lyrical Ballads zurück, um die in „The Old Cumberland Beggar“ thematisierte bzw. in „The Brothers“ problematisierte Kultur eines intersubjektiven Theaters des Volkes wieder aufzunehmen und stärker in und mit dem textuellen Medium zu realisieren. In The Excursion verbindet Wordsworth auch die in Lyrical Ballads stückhaft gebliebene theatrale Poetik der Begegnung mit einem bis dato ebenso eher rudimentären intersubjektiven Kleingemeinschaftstheater, wie er es im Prelude mit einem Dichtersubjekt als Zentrum projektiert hat. In diesem Projekt soll dann endlich auch der Leser seinen festen Platz in Wordsworths TextTheater finden. Trotz der schlechten Erfahrungen mit dem Drama kehrt Wordsworth nun zum dramatischen Modus zurück und gibt diesem für Begegnungen einerseits und Subjekte andererseits Raum. The Excursion ist ein Langgedicht, in dem nach Wordsworth eigenen Angaben „the intervention of Characters speaking is employed, and something of a dramatic form adopted“.197 Zugleich charakterisiert er dieses Gedicht wieder nur als Zwischenstation, nämlich als „intermediate part“ seines philosophischen Großprojekts The Recluse, zu dem Wordsworth auch das Prelude rechnete. Angesichts der Tatsache, dass The Excursion die letzte größere Veröffentlichung aus diesem Projekt ist, stellt dieses Werk in effectu den Zielpunkt des Recluse dar. Der neueren Forschung und insbesondere der großen textkritische Ausgabe von Sally Bushell, James A. Butler und Michael C. Jaye von 2007, selbst der Endpunkt des wegweisenden Cornell Wordsworth, ist es zu verdanken, dass The Excursion neuerdings als dieser Zielpunkt akzeptiert worden ist. Die vorliegende Studie greift diese Forschung auf und will zeigen, dass The Excursion auch und gerade in seiner Offenheit und Vorläufigkeit das poetische Hauptwerk eines romantischen Projekts darstellt, das darauf abzielte, das Theater im und als Text zu ver-
197 Wordsworth 2007: 39; meine Hervorhebung. Bei der hier zitierten Ausgabe handelt es sich um die von Sally Bushell, James A. Butler und Michael C. Jaye herausgegebene Edition innerhalb des Cornell Wordsworth. Zur Absetzung von Nachweisen aus dem Prelude sollen im folgenden bei Angaben aus der Excursion für die Buchnummern große römische Ziffern verwendet werden.
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wirklichen, da es sich auf der Bühne nicht so weiterentwickeln konnte, wie es progressiven Autoren dieser Zeit vorschwebte. Dieses Theater wird nicht zuletzt deswegen immer „intermediate“ bleiben, im Recluse wie in der Romantik insgesamt, da es intermedial ist: Es ist im Medium des Textes niedergelegt, impliziert aber zugleich eine Weiterverwendung bzw. Weiterentwicklung in einer neuartigen Theaterkultur. Gerade dieser Zwischenstatus aber war es, der aus der bisherigen Kritik an diesem Werk, von Wordsworths Zeitgenossen198 bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein, eine Kritik im Sinne einer Zurechtweisung machte, die von Francis Jeffreys berüchtigtem „This will never do.“199 bis hin zu Geoffrey Hartmans ebenso vernichtendem „One must admit that to read carefully its nine books is a massively depressing experience.“200 reicht. Mit der Wende zum 21. Jahrhundert aber und dem wachsenden Interesse an medialen Interferenzen und intermedialen Zwischenstadien ist Wordsworths Text verständlicher geworden und in Ansätzen als radikales Experiment der Virtualisierung der Potentiale eines Mediums (Theater) in einem anderen Medium (Text) erkannt worden. Das Text-Medium wird dadurch so stark aufgeladen und an seine Grenzen geführt, dass es tatsächlich als unzureichend oder frustierend empfunden werden mag – aber nicht muss. Mit Wordsworths The Excursion endet ein Projekt der versdichterischen Texttheatralisierung ganz konstitutiv in einem Zwischenstadium, wird dadurch aber auch zum Bindeglied einerseits (zu) einer Lesegemeinschaft, andererseits zu einem weiteren Genre, nämlich dem Roman. Die neuere Forschung zur Excursion beschreibt dieses Werk daher als bewusst gebrochen, dialogisch und meist auch theatralisch, allen voran eine der HerausgeberInnen der neuen Cornell-Ausgabe Sally Bushell in ihrer Monographie zur Excursion.201 Im Gegen-
198 S.T. Coleridge verurteilte die ‚Dramatik‘ der Excursion aus denselben Gründen wie diejenige der Lyrical Ballads (vgl. Galperin 1989: 30f. sowie 4.1. Anm. 1). 199 Bushell 2002: 32f. 200 Hartman 1971: 292. 201 Sally Bushell sieht The Excursion als polyphones und dialogisches Gedicht mit einer stark dramatischen Struktur, deren Relativierungen und Selbstunterminierungen sie – im Gegensatz zu früheren Interpreten – als eine intentionale, nämlich leseraktivierende Theatralität des Gedichts ansieht. Bushell verortet Wordsworths Projekt in der Konzeption eines dramatischen Dichters, wie sie auch Parrish und Averill verfolgen, und akzentuiert Wordsworth stark als einen Dramatiker außerhalb des Theaters. Vor allem sieht sie wie ich Wordsworths Text-Theater als Verlagerung von Teilen medialer Theatralität in den literarischen Text des „dramatic poem“ (Bushell 2002: 44f.). Der Text internalisiert dabei dramatische Elemente in seine Struktur und weist sich daher selbst als textualisiertes Theater aus, welches seine Erfüllung erst in gemeinsamer Lektüre findet: „The internalisation of dramatic signposts directly anticipates a semi-dramatic representation [i.e. reading aloud] of the work“ (55). Im Gegensatz zum Drama kann das Text-
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satz zu Bushell sehe ich aber weniger Dialogizität im Sinne eines kritischen Austauschs von Meinungen und Positionen als Anliegen des Werks202, als die Vermittlung von Intersubjektivität (durchaus gleichwertiger Subjekte) auf verschiedenen Werkebenen.203 Wordsworth greift nämlich in der Excursion die offenen Enden seines Intersubjektivitätstheaters aus den Lyrical Ballads und dem Prelude auf, um sie an die Grenzen des Mediums Text(-Theater) zu führen. Zunächst geht er das Problem der Intersubjektivität bei der Leidensbegegnung an, das er in zwei Stufen löst, wobei er die offenen Fragen von Lyrical Ballads und Prelude gleichermaßen überwindet. The Excursion ist ein Text, dessen Ziel auch darin besteht, vorherige Stadien des Wordsworthschen Text-Theaters, Begegnungsgedicht und Theater des Ich, in eine nun tatsächlich intersubjektive dramatische Konstellation einzubetten. Die Länge der dramatischen Äußerungen in diesem Text als unrealistisch zu kritisieren, wie das seit seinem Erscheinen vielfach geschehen ist, greift also zu kurz, da sich diese Äußerungen oft nicht einfach nur auf Personen beziehen, sondern exemplarisch für ganze Abschnitte aus Wordsworths Schaffen vor der Excursion stehen, die hier gewissermaßen wiederholt und endlich ‚intersubjektiviert‘ werden.
4.3.2 M argarets Tragödie und die Intersubjektivität ihrer Zuschauer (Bücher I und II) The Excursion beschreibt den Ausflug dreier Männer, eines Dichters, eines fliegenden Händlers (Wanderer) sowie eines Solitary genannten resignierten Privatier zu einem vierten Mann, einem Landpfarrer. Das Treffen mit dem Pfar-
Theater laut Bushell damit seine eigene Theatralität reflektieren. Vgl. zum Aspekt der angelegten Gruppenlektüre 4.3.6. Thematisch ist The Excursion für Bushell vor allem ein Drama des ‚(re)telling‘, d.h. die Dramatisierung von Erzählakten aus verschiedenen Perspektiven und Zeitstufen, so dass ein Charakter nicht mehr lyrisch aus sich selbst heraus, sondern im Bezug auf andere spricht. Dabei werden nicht nur die einzelnen Erzählungen, sondern auch die Erzählvorgänge als vielschichtig dargestellt (59f.). Gravil 2011 interpretiert The Excursion eher in Richtung eines dialogischen „metrical novel“. Allerdings geht auch er dabei von einem „quasi-dramatic contest of ideas“ (146), in denen sich die Positionen stark gegenseitig relativieren, und einer „quasi dramatic art“ (149) der Excursion insgesamt aus, so dass nicht ganz nachvollziehbar ist, warum er The Excursion nicht eher als eine besondere Form des Dramas bzw. textuellen Theaters auffasst. 202 Vgl. zur Auseinandersetzung mit Bushells Thesen die vorliegende Argumentation passim. 203 Vgl. aber auch Bushell zum Aspekt der „interaction between human lives“ in der Excursion (Bushell 2002: 85). Bushell rückt „interaction“ aber stärker in Richtung eines dialogischen Austauschs von Meinungen und Positionen und bezieht den Begriff weniger auf den (auch körperbezogenen) Austausch von Gefühlen.
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rer und der anschließende Ausflug an einen See nehmen die zweite Hälfte des Gedichts ein – die Bücher V bis IX, jeweils durchschnittlich 1000 (Blank-)Verse umfassend. Die Bücher II, III und IV gelten der Heilung des Resignierten durch die Gespräche und das Wandern mit dem Dichter und dem Wanderer. Das erste Buch ist der Begegnung von Poet und Wanderer gewidmet, wobei zunächst der Dichter alleine auftritt, er sodann den Wanderer trifft und von diesem schließlich eine zutiefst bewegende Geschichte über eine dritte Person, eine verlassene junge Ehefrau und Mutter, vernimmt. Aus der Knappheit dieser Paraphrase wird schon die legendäre Plot-Armut der Excursion ersichtlich – allerdings vielleicht auch die Fundamentalität der in diesem Werk behandelten Themen. The Excursion möchte anthropologische Konstanten und (volks)gemeinschaftliche Fundamentalien gleichermaßen vermitteln, versteht sich also, wie die nun folgende Analyse herausarbeiten will, als ein anthropologisches Theater des (britischen) Volkes, wobei es epistemologische mit politischer Repräsentation zu verbinden sucht. Es handelt sich um ein im tiefsten Sinne erbauliches, nämlich Subjekt(e) konstituierendes Werk – daher die statische Grundsätzlichkeit, die verhandelt, was die Briten alle angeht. Erzählt wird die ganze ‚Exkursion‘ aus der Ich-Perspektive des Dichters, der Rückschau nimmt, da Erzählpräteritum vorliegt, wobei die äußere Handlung so knapp und die Figurenreden so ausgedehnt sind und so selten von inquit-Formeln durchbrochen werden, dass der Text zu einem von einem Ich-Erzähler erzählten (und, wie wir sehen werden, verbürgten) Drama tendiert.204 Das erste Buch ist um die Reaktion zweier Zuschauer auf eine Tragödie aus dem Volk sowie aufeinander zentriert, wobei sich diese Konstellation als strukturelle Grundformel des Werks insgesamt erweist. Die Rezeption des ersten Zuschauers, des Wanderer, basiert auf einer direkten Begegnung mit einer leidenden Frau, so dass dieser Abschnitt an Geist und Problematik der Lyrical Ballads partizipiert. Die Weitergabe an den zweiten Zuschauer, oder besser: Zuhörer,
204 Zu den Vorläufern/Einflüssen dieser Erzählform Lyon 1950: 34–36. Generisch knüpft das Gedicht an das von Coleridge entwickelte und benannte conversational poem (Bushell 2002, 36–38) sowie die lokodeskriptive Reisedichtung, etwa Thomsons The Seasons (Lyon 1950: 31–33), an. Ein weiteres Vorbild ist die Sammlung von Erzählungen in Gedichtform, etwa George Crabbes The Parish Register (Lyon 1950: 37–40). Allerdings ist The Excursion im Gegensatz zu Coleridges Gedichten in Dialogen und nicht in Monologen mit anwesend gedachten, aber schweigenden Gegenübern angelegt (letzteres träfe eher auf The Prelude zu). Daneben sind die lokodeskriptiven Anteile eher klein und die Dialoge so umfassend, dass das Gedicht auch Anleihen an der Tradition des philosophischen Dialogs, einer ebenfalls texttheatralen Gattung, hat (vgl. Bushell 2002: 102–109). The Excursion erweist sich als Mischgattung zur Erzielung einer neuen Summe aus den hier erwähnten Gedichtformen sowie aus den Teilen des romantischen Text-Theaters.
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findet sodann in Form der Erzählung dieser Erfahrung statt, und genau diese Verarbeitung ist das Neue an der Excursion und die Lösung für die Probleme der Lyrical Ballads mit Leidensbegegnungen, wie sie in „Simon Lee“ und „The Brothers“ aufscheinen. Eine weitere Referenz auf ein zentrales Gedichts der Lyrical Ballads, nämlich auf „The Old Cumberland Beggar“, liegt im Charakter des Begegnenden, des Wanderer, vor. Er erscheint zunächst, ganz wie der Bettler in der oben behandelten Lyrical Ballad, selbst wie ein zutiefst berührendes ‚Spektakel‘, „alone / And in the middle of the public way / Stationed“ (I, 39–41), oder, in weiterer Anlehnung an die Diktion des „Old Cumberland Beggar“: […] The rough sports And teazing ways of Children vexed not him . . . . . . Active and nervous was his gait; his limbs And his whole figure breathed intelligence. (I, 444f. u. 456f.)
Die letztgenannte Intelligenz bezeugt eine Aktivität, die die passive Spektakularität des „Old Cumberland Beggar“ allerdings bereits entscheidend übersteigt: Der Wanderer ist nicht nur ein passives, Wohlfahrt(sgefühle) auslösendes Spektakel, sondern ein aktives Subjekt, das selbst anderen Leidenden begegnet, mit diesen spricht und Dritten sodann von ihnen erzählt.205 Damit hat er selbst das Zeug zum Dichter, wenn er es auch vorgezogen hat, den Dichter-Charakter und IchErzähler der Excursion bereits als Kind zu entdecken und ihn sodann auf seine kommende Profession vorzubereiten, indem er ihm Inspirationsquelle sowie Vorbild ‚poetischer‘ Rede war. He loved me; from a swarm of rosy Boys Singled out me, as he in sport would say, For my grave looks—too thoughtful for my years. . . . . . . […] he pleas’d me with his sweet discourse Of things which he had seen [...] . . . . . . [...] or at my request would sing Old songs—the product of his native hills; A skilful distribution of sweet sounds, Feeding the soul, and eagerly imbibed As cool refreshing Water […] (I, 60–62, 67f. u. 70–74)
205 Zur Dimension des Wanderer als Lehrer und Prediger vgl. 4.3.5.
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Während der „Old Cumberland Beggar“ unbewusst zum Dichter prägt, ist diese Dimenson beim Wanderer mit Intentionalität erfüllt. Insgesamt ist der Wanderer eine aktive Subjekt-Version des Bettlers und übersteigt dessen emotionalisierende Qualitäten durch aktives Handeln. Mit dem Wanderer der Excursion ist der „Old Cumberland Beggar“ der Lyrical Ballads aktiviert und eines der offenen Probleme der Lyrical Ballads bereits gelöst: Der Wanderer kann Anmutung nicht nur auslösen, sondern sie seinerseits empfangen und auf sie reagieren; damit ist er, anders als der Bettler, fähig zur Intersubjektivität.206 Dieser ideale ‚Begegner‘ trifft, bzw. traf in der Vorgeschichte, auf Margaret, die Quintessenz aller leidenden Frauen in Wordsworths Werk. Margaret vermisst ihren Ehemann, der nach dem Verlust seiner Rücklagen zur Armee gegangen und spurlos verschwunden ist, so dass die Zurückgebliebenen, seine Ehefrau und zwei Kinder, unaufhaltsam verelenden. Durch diese Entbehrung wird Margaret mehr und mehr zum Leidensspektakel207, deren ergreifende idée fixe die Suche nach ihrem Ehemann ist. Im folgenden Zitat gibt der Wanderer dem Dichter-Zuhörer gegenüber zunächst Margarets Rede wieder und fügt dann eigene Worte hinzu: “[...] to-day I have been travelling far; and many days About the fields I wander, knowing this Only, that what I seek I cannot find.[”] . . . . . . […] It would have grieved Your very soul to see her; Sir, I feel The story linger in my heart: I fear ’Tis long and tedious; but my spirit clings To that poor Woman:—so familiarly Do I perceive her manner, and her look And presence; and so deeply do I feel Her goodness, that, not seldom, in my walks A momentary trance comes over me; And to myself I seem to muse on One By sorrow laid asleep;—or borne away, A human being destined to awake To human life, or something very near To human life, when he shall come again For whom she suffered. [...] (I, 798–801 u. 811–825; meine Hervorhebungen)
206 Vgl. 4.1.3.4. 207 Etwa: „Her face was pale and thin, her figure too / Was changed.“ (I, 786f.)
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Bis ins Zitat hinein208 wird hier das Theater der Selbstbegegnung durch die Erinnerung an eine leidende Frau wiederaufgesucht, das Wordsworth im Prelude für die „Maid of Buttermere“ eröffnet hat.209 Zudem wird es mit einer Anapher verknüpft, die wie in der im Prelude analysierten Anrede an Coleridge die intersubjektive Verbundenheit texttheatralisch vorspielen soll – mit einem signifikanten Unterschied: Während die beiden Apostrophen an Coleridge an einen Abwesenden gerichtet sind, kann sich der Wanderer an dieser Stelle mit einem Anwesenden austauschen, den er genau durch diesen Austausch zu einem Zuschauer zweiter Ordnung, nämlich von Margaret, macht. Das ist auch nötig, denn der Austausch mit der „Maid“ in der Vorgeschichte scheitert, vergleichbar demjenigen des Dichters mit „Simon Lee“. „I wist not what to do, / Or how to speak to her“ (I, 684f.), gesteht der Wanderer dem Dichter angesichts eines Weinkrampfes von Margaret – legt mit dem Eingeständnis dieses Scheiterns aber den Grundstein für eine erfolgreiche intersubjektive Verarbeitung und Kommunikation dieses Leids.210 Die Forschung sieht im Austausch des Wanderer mit dem Dichter über Margaret abwechselnd eine Relativierung des
208 Vgl. mit „familiarly“ hier „not unfamiliarly“ im Prelude 7, 321. 209 Vgl. 4.2.6. Allerdings ist Margaret eine sowohl negative als auch problematische „Maid of Buttermere“: Sie wird nur andeutungsweise mit ihrem Schicksal versöhnt und durch die Begegnung nicht etwa konstituiert, zumal sie später verstirbt. Aus der Perspektive der Thematik wahnsinniger Frauen ist The Excursion daher kein Fortschritt gegenüber den Lyrical Ballads und eher ein Rückschritt gegenüber dem Prelude. Margaret ermöglicht allerdings eine Konstitution zweier Subjekte aneinander, nämlich des äußeren Erzählers (Wanderer) und des Zuhörers (Dichter), welche wiederum über The Prelude hinausgeht. Allgemein ‚text-theatralisch‘ ist das ein Fortschritt, der jedoch die weibliche Bettlerin – als Figur wie als Thema – letztlich opfert und zurücklässt (vgl. das Folgende). 210 Laut Bushells umfassender Lektüre (2002: 131–138) findet zwischen Erzähler und Zuhörer ein kompensatorischer Gefühlsaustausch statt, der den scheiternden Austausch zwischen Leidendem und Zuschauer/-hörer kompensiert/ersetzt. Margarets Erzählung sei eine Binnenerzählung „to the fifth degree“ (131, das hat gegen Bushells Anspruch auf Entdeckung aber schon MacDonell 1979: 447f. erkannt und im Schaubild festgehalten), in deren Mitte (der Erzählung Margarets gegenüber dem Wanderer) die Unfähigkeit zur Kommunikation stehe. Diese Unausdrückbarkeit bohre sich durch alle anderen Erzählschichten, so dass die Unübersetzbarkeit von Gefühlen in Worte und der verzweifelte Versuch, kompensatorisch zu erzählen, thematisch würden (Bushell 2002: 134). Der Austausch zwischen Wanderer und Margaret bestehe gar aus einer doppelten sentimentalen „speechlessness“ (135). Der Wanderer möchte diese in seinem „retelling“ gegenüber dem Poet überwinden, etwa durch emphatische Ausrufe. In der Folge arbeitet Bushell aus der „Margaret’s Tale“ eine komplexe Struktur der Gabe heraus, bei der Erzählungen die einzige Währung seien (bis 137). Gefühle blieben demnach nicht wertlos, sondern würden in gemeinschaftsstiftende Erzählungen umgemünzt.
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Dichters durch den Wanderer211 oder aber umgekehrt eine Relativierung des Wanderer durch den Dichter.212 Letztlich ist das nicht entscheidbar; von daher empfiehlt es sich, eher als von einem Dialog der Positionen von einer gegenseitigen, intersubjektiven Durchdringung emotionaler Reaktionen auszugehen, im Zuge derer beide zu einer an den Gegenüber, aber auch an sie selbst kommunizierbaren Verarbeitung des bezeugten Leids gelangen. Dazu ist ein Abgleich zweier unterschiedlicher Reaktionen auf das Leid vonnöten, der nicht dazu führt, dass sich eine der beiden durchsetzt, sondern dass beide sich zu einer gemeinsamen emotionalen Verarbeitung vereinen. Zunächst möchte der Wanderer, der hier eine Ethik ruhiger, ja verklärender Reaktion auf Leiden und Tod vertritt, die Geschichte nämlich gar nicht bis zu ihrem Ende erzählen. Mit der Krise des Ehemannes, die ihn zum Verlassen der Familie bewegt, hört der Wanderer zunächst auf – mit folgender Begründung: [“]Why should a tear be in an old Man’s eye? Why should we thus, with an untoward mind, And in the weakness of humanity, From natural wisdom turn our hearts away, To natural comfort shut our eyes and ears, And, feeding on disquiet, thus disturb The calm of nature with our restless thoughts?” (I, 628–634)
Der Wanderer spricht zwar vom „wisdom“ und „comfort“ der sie in diesem Moment umgebenden Natur als Ausgangspunkte für die notwendige Mäßigung, versucht mit diesen aber gerade die natürliche Reaktion des Weinens zu unterdrücken. Das Paradox weist darauf hin, dass der Wanderer an dieser Stelle noch immer vom Leid überfordert ist und wie der Dichter in „Simon Lee“ keinen anderen
211 So analysiert etwa Reeve Parker in der „Margaret’s Tale“ eine Umstimmung des Erzählers zu einem ‚humanistischen‘ Umgang mit menschlichem Leid durch den Wanderer und spricht daher von einem „didactic drama“ (Parker 1972: 103). Susan Meisenhelder geht davon aus, dass der Wanderer (Natur-)Erfahrungen für den Dichter und den Solitary (sowie den Leser) vorstrukturiert, so dass diese zu Bildern/Erfahrungsformen eines Ideals menschlicher Zuversicht und menschlichen Ausharrens werden (Meisenhelder 1988: vor allem 202 und 218f.). Vgl. auch die Positionen von Wolfson und Bushell in der übernächsten Anm. 212 Zu einer Relativierung des Wanderer durch den Poet vgl. vor allem Givens/Russell 1998, die den Wanderer als verzweifelten Verfechter eines Natur-Schönen sehen, das sich zuletzt auf metaphysische Rücksicherung stützen muss, während der Poet ein Vertreter des ethischen Erhabenen ist, das einer erkanntermaßen ordnungslosen Welt eine Willensbehauptung und/als ästhetische Form entgegensetzt. Vgl. auch Gravil 2003: 213f., der die kühle Frömmigkeit des Wanderer vom Text heftig ironisiert sieht. Für Galperin (1989: 29–49) ist der Wanderer letztlich nichts weiter als eine kulturell-religiöse Verkleidung eines absolut selbstbezüglichen Ichs.
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Ausweg als den Abbruch seiner Vermittlung sieht. Doch da diesmal ein ‚echter‘ Zuschauer (und -hörer) zugegen ist, muss er weitermachen, ist er gezwungen, gewissermaßen die Krise von „Simon Lee“ zu überwinden. Sein Zuschauer verspürt nämlich bereits eine derartig starke Bindung an die Leidende, dass er das Ende der Geschichte wissen muss: […] In my own despite, I thought of that poor Woman as of one Whom I had known and loved. He had rehearsed Her homely tale with such familiar power, With such an active countenance, an eye So busy, that the things of which he spake Seemed present; and, attention now relax’d, There was a heart-felt chillness in my veins.— I rose; and, turning from the breezy shade, Went forth into the open air, and stood to drink the comfort of the warmer sun. Long time I had not staid, ere, looking round Upon that tranquil Ruin, I return’d, And begged of the old Man that, for my sake, He would resume his story.— (I, 642–656, meine Hervorhebungen)
Der Grund für die entstandene sympathy ist also die Erzählweise des Wanderer, die es durch Körpersprache vermag, die Dinge zu vergegenwärtigen und aus einer Erzählung ein (kompensatorisches) Theater zu machen, bei dem der ursprüngliche Leidenszeuge zum Schauspieler für einen weiteren Zuschauer wird. Dieser ist zunächst, wie der Zuschauer erster Ordnung selbst, vom erfahrenen Leid überfordert, dringt aber – im Gegensatz zu diesem – auf eine Fortsetzung der Vorstellung, die es ihm ermöglicht, diese Gefühle durch Kommunikation ‚abzureagieren‘. Der Dichter-Charakter ist in ein Theater des Leids eingetreten, das er nicht eher verlassen kann, als dass auch er Gefühle aussenden und sehen kann, wie sie empfangen werden. Für den Zuschauer erster Ordnung ist das aber nur gut, denn auch dieser sollte ja weitermachen, sollte selbst mehr Gefühle aussenden, um das Leid und sodann sich selbst endlich kontinuierlich erfahren zu können. Die inständige Bitte um Fortsetzung, die der Dichter am Ende des Zitats äußert, ist also letztlich für beide ein wichtiger Ausgangspunkt einer gemeinsamen Verarbeitung des Leids. Der Poet kontert die emotionale Mäßigung, für die der Wanderer steht, mit einem notwendigen Plädoyer für eine emotionale Aktivierung. Es geht also um einen intersubjektiven Ausgleich. Das bedeutet aber, dass, wenn der Wanderer von der Anregung durch den Poet, dieser auch von der Beruhigung durch jenen profitieren kann. Am Ende der Geschichte, die mit dem kläglichen Tod Margarets endet, ist dann nämlich, so scheint es, der Wanderer (tat-
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sächlich) beruhigt und mit seinen Gefühlen im Reinen; der Dichter aber hatte zu viel und bedarf nun seinerseits des „calm“ des Wanderer: The old Man ceased: he saw that I was moved; From that low Bench, rising instinctively I turn’d aside in weakness, nor had power To thank him for the Tale which he had told. I stood, and leaning o’er the Garden wall Reviewed that Woman’s sufferings; and it seemed To comfort me while with a Brother’s love I blessed her in the impotence of grief. . . . . . . The Old Man, noting this, resumed, and said, “My Friend! enough to sorrow you have given, The purposes of wisdom ask no more: Be wise and chearful […][”] (I, 952–959 u. 966–969; meine Hervorhebungen)
Dem Rat, es jetzt genug sein zu lassen, folgt der Poet, und so endet das Buch in gemeinsamer Harmonie und Einkehr in das Nachtlager. Die Forschung sieht in diesem Abgleich meist die Konkurrenz zweier Rezeptionshaltungen des Tragischen, bei der sich der Wanderer213 durchsetze. Zunächst ist gegen die Assoziation der Ruhe, die der Ältere fordert, mit der Konzeption einer ‚neuen‘, human-verklärenden Tragödie einzuwenden, dass diese Ruhe, wenn sie sich durchgesetzt hätte, zum Abbruch der Geschichte an ihrem Anfang geführt hätte und somit eher eine Tragödienverhinderungskonzeption ist. Die Haltung des Wanderer muss mit der des Dichters versöhnt werden (und umgekehrt), damit sodann eine gemeinsame und gegenseitige Verarbeitung des Leids – und das ist die neue Tragödienkonzeption! – sich einstellen kann. Es geht also nicht darum, eine bestimmte
213 Wolfson 1986 sieht in „Margaret’s Tale“ eine intensive Verhandlung verschiedener (Zuschauer-)Reaktionen auf menschliches Leid, die Wordsworths Beschäftigung mit diesen Themen in früheren Gedichten vertieft und abschließt. Für sie ist das Plädoyer für eine ruhige Rezeption beim Wanderer die Überwindung eines jugendlichen Interesses an Melodramen bei ihm selbst (101f.), aufgrund derer er heute eine „spectator[ship] ab extra“ (103) propagiere und den Poet von dessen eigener Sensationslüsternheit abzubringen versuche. Auf die übrigen Bücher der Excursion bezogen aber leugnet Wolfson solche Dialogizität überraschenderweise und sieht als Folge das Prelude als den fragenderen und dialogischeren Text, da die Excursion seine innere Spaltung einfach externalisiere (130). Auch Sally Bushell setzt in der Excursion die Entstehung einer Spannung zwischen einer sentimentalen und einer ruhig-verklärenden Reaktion an (Bushell 2002: 148f.), wobei sich letztere in ihren Augen als eine zugleich emotionale und intellektuelle durchsetze und – qua Stellvertretung des Lesers im Text durch den Dichter-Zuhörer – auch an die Leser kommuniziert werde (vgl. 4.3.6).
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Rezeptionshaltung zu empfehlen. Was in The Excursion vielmehr propagiert wird, ist eine Kultur des Austauschs von Leidenserlebnissen und Versuchen ihrer Verarbeitung, die dann im Mit- und Aneinander zu einer Praxis humaner Leidensund Selbsterfahrung führt. Diese Praxis ist es, die die Traumata der Lyrical Ballads überwindet. Das Trauma der überwältigenden Leidenskonfrontation und deren dichterischer Vermittlung aus „Simon Lee“ wird bewältigt, indem eine Konstellation gefunden wird, in der der Begegner-Erzähler sich mit einem dramatisierten Zuhörer über das Erlebte austauschen kann, wobei letzterer nicht nur bei der Erarbeitung einer Bewältigung hilft, sondern zudem durch seine Reaktion die Theatralität dieser Erzählung, dieses ‚Dichtens‘ bezeugt. „Margaret’s Tale“ und ihre Einbettung zeigen, wie aus einer ‚lyrischen Ballade‘ tatsächlich ein Theater der Intersubjektivität werden kann.214 Das bedeutet natürlich auch, dass der Abgleich der Reaktionen des Wanderer und des Poet Prozesse der Leserreaktion vorstrukturieren und den Leser somit in das intersubjektive Theater einbinden soll. „Margaret’s Tale“ löst „Simon Lee“ also in doppelter Hinsicht, indem sie einerseits die Intersubjektivität vom Verhältnis Leidender-Zuschauer zum Verhältnis zwischen Zuschauer erster Ordnung und Zuschauer zweiter Ordnung verschiebt und damit andererseits eine Leserposition im Text schafft.215 Gelöst werden mit dieser Konstellation aber auch die Probleme aus „The Brothers“: Zwei Anteilnehmende können sich emotional, also offen und ehrlich, über eine Leidenserzählung austauschen, in die sie – signifikanterweise – nicht involviert sind, deren Authentizität sie aber durch den Schauplatz dieses Austauschs und ehemalige Heimstatt von Margaret, die Ruined Cottage216, verbürgen können.217 Die gemeinsame Erarbeitung einer humanen Reaktion auf echtes Leid ist gerade aufgrund dieses echten Austauschs möglich. Es geht ja auch in „The Brothers“ nicht um den schematischen Vergleich zweier Möglichkeiten des tragischen Habitus, wie die Forschung das angesetzt
214 Die früheste Version der „Margaret’s Tale“ ist bereits von 1797. In dieser gibt es, wie in „Simon Lee“, aber nur einen Leidenden und dessen Zuschauer/Vermittler (Averill 1980: 116). Einen Zuschauer/Zuhörer 2. Ordnung gibt es allerdings schon ab der ersten Überarbeitung 1798 (Averill 1980: 117) – veröffentlicht und, wie wir sehen werden, in den Kontext eines viel weiter ausgreifenden Theaters der Intersubjektivität eingebettet wurde diese Lösung aber erst 1814. 215 Vgl. zur Einbindung des Lesers in das Text-Theater der Excursion auch 4.3.6. 216 ein weiterer Arbeitstitel Wordsworths für die ‚Erzählung Margarets‘. 217 Das macht sie den Gräbern in „The Brothers“ vergleichbar, die den Tod von Leonards Bruder, aber eben signifikanterweise nicht den (vorgängigen) Tod von Leonard selbst authentisieren können, da dieser ja in diesem Moment vorm Erzähler seines eigenen Todes steht und sich nicht offenbaren kann.
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hat218, sondern um authentische Offenheit füreinander, die sich dort aber nicht vollzieht.219 Daher ersetzt in „Margaret’s Tale“ auch nicht der Brief den Austausch wie am Ende der „Brothers“, sondern umgekehrt der Austausch zwischen Wanderer und Poet einen Brief, den Margaret von ihrem Ehemann erwartete und niemals bekam. Erst auf einer weiteren Stufe wird dieser Austausch durch einen Text, nämlich denjenigen der Excursion, ersetzt. Dieser findet sich aber zum einen durch die Assoziation des Zuhörer/-schauers zweiter Ordnung mit dem Leser und zum anderen durch die Assoziation des theatralen Erzählens des Wanderer mit einer funktionierenden lyrischen Ballade hier bereits reflektiert und legitimiert.220 Der geschilderte Prozess muss allerdings noch weiter- und über den Kompromiss der Theatralisierung nur indirekt Betroffener hinausgehen: Auch der Leidende, der Involvierte, eben jemand wie Margaret oder Leonard, muss in dieses Theater eingebunden werden und dort seine (Inter-)Subjektivität finden können – letztlich um sein Leiden, seine Tragödie zu überwinden.
4.3.3 D ie Tragödie des Solitary: Aufnahme des Leidenden in das Theater der Intersubjektivität (Buch II bis IV) Mit der „Margaret’s Tale“ hat Wordsworth die Dramatisierung der Leidensbegegnung dadurch ermöglicht, dass er sie auf den Austausch zweier Zuschauer verschoben hat. So gerüstet, kann die Excursion im nächsten Schritt die Rückkehr zur direkten Konfrontation mit einem Leidenden wagen, der nun aber in die funktionierende Konstellation eingebunden wird. Dabei wird auch die in „Margaret’s Tale“ implizite Geschlechterdichotomie überwunden bzw. einfach zurückgelassen: Aus dem Austausch zweier Männer über eine leidende, verstorbene Frau, der ihnen zur gegenseitigen Subjektkonstitution dient, wird in diesem weiteren Schritt eine intersubjektive Konstellation, die ein leidendes männliches Subjekt einschließt und entwickelt. Daraus entsteht ein exklusiver Männerbund, den
218 Vgl. 4.1.3.3. 219 In diesem Sinne ist „The Brothers“ letztlich selbst der stärkste Einspruch gegen Wolfson und Bushell (vgl. Anm. 213), da dort gezeigt wird, dass voreingenommene Konzeptionen der richtigen Zuschauerhaltung (in „The Brothers“ beim „Pastor“) gerade nicht zu einer humaneren Reaktion auf das Leid führen. Es ist das Setzen von Zuschauerkonzeptionen (bei den Charakteren wie bei der Forschung), die (für beide) den Zugang zum einem neuen Theater der (intersubjektiven) Humanität versperrt. 220 Zur – durchaus nicht unkomplizierten – tatsächlichen Umsetzung des Intersubjektivitätstheaters durch den Text der Excursion und einer damit verbundenen tatsächlichen Lesereinbindung vgl. 4.3.6.
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Wordsworth bis zum Ende der Excursion aufrechterhält. Zwar beruht er nicht mehr auf Leid und Tod einer objektivierten Frau, führt aber dennoch dazu, dass sie in anderer Hinsicht ‚gestorben‘ ist: Sie wird nicht mehr instrumentalisiert, aber auch – nach einer Funktionalisierung, die über ihre Leiche verlief – einfach zurückgelassen und, zusammen mit der weiblichen Perspektive insgesamt, nicht mehr thematisiert. In The Excursion ist die Intersubjektivität über die Geschlechterdifferenz hinweg, die im Prelude zumindest ansatzweise eine Rolle spielte221, kein Thema mehr.222 Im zweiten Buch besuchen der Wanderer und der Poet einen in einem abgelegenen Tal eremitisch lebenden Mann, dessen momentane Existenz und Verfassung das Ergebnis einer Reihe von schweren Schicksalsschlägen ist: Nach dem Verlust von Frau und Kindern durch Krankheit wandte sich der Solitary Denken und Handeln der Französische Revolution zu, geriet aber durch ihre Gewaltexzesse in eine tiefe Begründungs- und Selbstkrise, die er durch Emigration nach Amerika zu überwinden trachtete. Desillusioniert auch von der Neuen Welt ist er zurückgekehrt und lebt nun zurückgezogen im Lake District. Zunächst erfahren wir nur durch Erzählungen aus dem Mund des Wanderer von diesem Leid.223 Das Verfahren von „Margaret’s Tale“ wird also weitergeführt und die Beteiligten nicht durch direkte Konfrontation mit dem sufferer überfordert. Allerdings wird dieses Verfahren zunehmend problematisch: Anders als die Margaret-Geschichte löst die (reine) Erzählung, mag sie auch noch so anschaulich sein, bei ihrem Zuhörer, dem Poet, diesmal kaum noch emotionale Reaktionen aus.224 Als eine weitere Problematisierung des ‚bloßen‘ Erzählens an dieser Stelle könnte die Tatsache gesehen werden, dass die beiden Ausflügler einen vorüberziehenden Trauerzug fälschlicherweise mit dem Solitary in Zusammenhang bringen und ihn sogleich
221 Beispiele eines Einschlusses von Frauen in die Intersubjektivität in The Prelude wären Dorothy sowie die „Maid of Buttermere“ in The Prelude. 222 Das Tragisch-Weibliche erscheint in The Excursion zwar noch einmal in der „Ellen’s Tale“ (vgl. 4.3.4), wird dort aber letztlich zu einer paradigmatisch-verdichtenden Reprise, die wiederholt, was The Excursion insgesamt unternimmt: die Überwindung einer weiblich konnotierten Tragik zum posttragischen Theater des Volkes. In Walter Scotts Romanen spielt die Intersubjektivität von Mann und Frau eine wichtigere Rolle (vgl. Kapitel 5 passim); letztlich beruht die britische Nation bei ihm auf einem intersubjektiven Ausgleich zwischen Mann und Frau, der eine versuchte Ausbeutung eines weiblichen subject durch einen männlichen Herrscher vorausgegangen ist. Verbunden damit arbeitet Woodstock den Komplex weiblicher Verkörperung eines tragischen Volks durch, um ihn dann zurückzulassen (vgl. 5.3.3.2 und 5.3.3.3). 223 Vgl. II, 171–332. 224 Vgl. Bushell 2002: 150: „He offers no response or comment upon what he has been told, and his ensuing behaviour suggests that he has not been listening very closely and has not been emotionally involved at all.“
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für tot ‚erklären‘.225 Es scheint, dass die Einbindung des Leidenden ins Theater der Intersubjektivität als nächster Schritt jetzt wirklich nötig ist. Seine Distanzierung in Erzählungen versagt ihm seine (Inter-)Subjektivität, was seiner Tötung gleichkommt – wie der ‚melodramatische‘ Mord an Leonard in „The Brothers“, dessen Problematik hier endlich überwunden wird: Indem die Gemeinde dort seinen Tod beschwört, tötet sie letztlich seinen Bruder und verhindert zugleich seine eigene (intersubjektive) Überwindung dieses Leids. In The Excursion wird die wohlfeile Distanznahme zum Leidenden durch Schauergeschichten über sein Leid nun endlich durch eine gemeinsame Konfrontation mit ihm ersetzt. Überwunden wird dadurch auch die „Margaret’s Tale“, wenn auch in problematischerer Weise: Während die Erzählung des Sterbens eines weiblichen Opfers, also gewissermaßen ihre doppelte Tötung, ein voll funktionstüchtiges und nicht hinterfragtes Theater der Intersubjektivität ihrer (männlichen) Zuschauer gewährleistet, wird bei einem leidenden Mann das Erzählen problematisiert und auf seine Erscheinung und Einbindung gedrängt. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Überwindung objektivierten weiblichen Leids zugleich als Ausschluss der Frau: Wordsworth schaltet nämlich genau an der Stelle von einer leidenden Frau auf einen leidenden Mann um, wo es darum geht, für dieses tragische Opfer (Inter-)Subjektivität zu erarbeiten. Im nächsten Abschnitt tritt nämlich der Solitary auf – eine Erscheinung, die den Text zur zu einer, wenn auch formelhaften, Leseranrede im Präsens bewegt und damit die Überwindung des ‚tötenden‘ Erzählens durch das (Text-)Theater sogleich umsetzt: „Behold the Man whom [the Wanderer] had fancied dead!“ (I, 523) Zunächst ist er, ähnlich dem „Old Cumberland Beggar“ bzw. dem Wanderer bei dessen erstem Erscheinen, ein unbewusstes Spektakel („He saw us not“, I, 528), welches aber sogleich sympathetisch in die Gruppe eingebunden wird. Der Wanderer begrüßt seinen alten Freund aufs Herzlichste. Der Solitary reagiert darauf mit einer heftigen körperlichen Reaktion, die eine unwillkürliche Aufhellung seines Gesichts mit einer intendierten Geste des physischen Austauschs verbindet: […] Vivid was the light Which flashed at this from out the Other’s eyes; He was all fire: the sickness from his face Passed like a fancy that is swept away. Hands joined he with his Visitant,—a grasp, An eager grasp; […] (II, 542–546)
225 „[...] ‘God rest his Soul,’ / The Wanderer cried, abruptly breaking silence, ‘He is departed, and finds peace at last!’“ (II, 402–404)
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Das körperliche Band zwischen dem Solitary und dem Rest der Gruppe gibt den Ton an für den langen, letztlich konstitutiv unvollendet bleibenden intersubjektiven Gruppenprozess zwischen dem Solitary und den anderen Charakteren in The Excursion. Im Unterschied zum vorherigen erzählt der Solitary nun seine eigene Leidensgeschichte und wird dabei – stärker noch als der Wanderer – wiederum zum Tragödiendarsteller: […] while he spake, look, gesture, tone of voice, Though discomposed and vehement, were such As skill and graceful nature might suggest To a Proficient of the tragic scene Standing before the multitude, beset With sorrowful events; […] (III, 470–475)
Der Solitary wird zum tragedian seiner selbst, also sowohl Tragödiendichter als auch Tragödienschauspieler seines eigenen Schicksals und seiner eigenen Seele – ganz ähnlich dem oben erkundeten Konzept eines Theater des Selbstausdrucks bei James Beattie.226 Und erst hier, in The Excursion, hat die romantische Literatur einen Weg gefunden, dieses Theater des Subjekts auf der Vermittlungsebene zu implementieren, nämlich als beständigen Austausch von Subjekten, die abwechselnd Darsteller ihrer selbst und Zuschauer des Schicksals anderer werden und dabei auch sich selbst, die Darstellung ihrer selbst, im anderen, in dessen Zuschauer-Reaktion erblicken können. In The Excursion verbinden sich die Erzählung solcher Auftritte und der Reaktionen auf diese mit dramatischen Reden, die diese Auftritte und Reaktionen direkt umsetzen. In diesem Zusammenhang ist der Solitary ein Meilenstein in Wordsworths Œuvre, da mit ihm erstmals ein Betroffener, ein Leidender selbst in der intersubjektiv-theatralen Gruppensituation durch Ausdruck seiner selbst präsent wird: Die Lyrical Ballads zeigten das leidende Subjekt ja entweder isoliert („Mad Mother“) bzw., wenn es sich in einer Austauschsituation befand, objektiviert zu einem sprachlosen Spektakel („Simon Lee“, „The Old Cumberland Beggar“) oder aber fremd- bzw. fehlrepräsentiert und vollkommen gehemmt („The Brothers“). Im Prelude, wo in der Figur des jungen Wordsworth Leiden und Selbsttheatralität in einen Teufelskreis gegenseitiger Verstärkung gerieten, konnte die intersubjektive Heilung nur (kurz) erzählt und dann mit abwesenden Adressaten bzw. in einer problematischen Selbstbegegnung vollzogen werden. Vor diesem Hintergrund ist The Excursion ein Höhepunkt und keine Krise in Wordsworths Werk,
226 Vgl. 2.2.1.3.
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wird hier doch durch den ‚kleinteiligen‘ Gefühlsaustausch und Positionstausch innerhalb einer Kleingruppe endlich das Theater vollzogen, das Wordsworth seit Beginn seiner Karriere verfolgt hat. Wie sehen die Hauptabschnitte, die Akte in diesem Theater aus? Die Exposition der (Leidens-)Subjektivität des Solitary besteht text-theatergemäß aus einer langen Rede, in der er einerseits das vom Wanderer bereits über ihn Erzählte bestätigt, es andererseits mit einer eigenen Darstellung seiner Trauer übersteigt, die die Vermutungen des Wanderer über das emotionale Temperament des Solitary eher widerlegt. Der Wanderer wähnte beim Solitary nämlich nach dem Tod seiner Frau eine „uncomplaining apathy“, da er „[t]o private interest dead, and public care“ (II, 218 u. 220f.) gewesen sei. Die Begeisterung für die Französische Revolution habe dann zumindest die politische Apathie zeitweise überwunden, die komplette Desillusionierung über die Revolution habe den Solitary nun, so der Wanderer abschließend in seiner Version, der Welt abhanden kommen lassen: „[...] he will live and die / Forgotten,—at safe distance from a ‘world / Not moving to his mind.’“ (II, 330–332) Wieder einmal erwartet sich der Wanderer zu viel der Ruhe als Leidensreaktion, und wieder einmal kann auch er im emotionalen Austausch etwas erfahren, was gut für ihn selbst ist, nämlich die Größe der Gefühle, auch wenn sie negativ sind. “You never saw, your eyes did never look On the bright Form of Her whom once I loved.— Her silver voice was heard upon the earth, A sound unknown to you; else, honoured Friend, Your heart had borne a pitiable share Of what I suffered, when I wept that loss, And suffer now, not seldom, from the thought That I remember, and can weep no more.—[”] (III, 488–495; meine Hervorhebung)
In einer wahrhaft überwältigenden Darstellung der Psychologie der Trauer bezeugt der Solitary eine Intensität von Verlustgefühlen auf der Vergangenheitsund der Gegenwartsebene des Textes, die letztlich über ihre eigene Erschöpfung trauert. Einerseits ist das ein übermäßiger Gefühlausbruch, der seinerseits gemäßigt werden muss; andererseits soll aber auch zum Ausdruck gebracht werden, dass sich hier ein lebendiger Mann selbst artikuliert – artikulieren muss, damit ihn nicht wie in „The Brothers“ Geschichten aus fremden Mund ‚töten‘. In diesem Selbstausdruck darf er aber gerade nicht isoliert bleiben, da er sich sonst an sich selbst ‚totlaufen‘ würde. Er muss seinen Schmerz anderen vermitteln, sich in ihnen selbst erblicken, aber auch emotional mäßigen. Ein zentraler Punkt, nicht nur in der Selbst-Suada des Solitary, sondern auch in Wordsworths Text-Theater insgesamt, ist daher der in dieser Rede aufleuch-
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tende Widerschein – des Solitary Reaktion auf die Reaktion der anderen auf sein Leid: It soothes me to perceive Your courtesy withholds not from my words Attentive audience. […] (III, 608–610)
„Attentive audience“ ist ein adäquates Konzept romantischer Zuschauerschaft vor dem Leiden anderer: Aus der Rezeptionshaltung wird zugleich ein Handeln, und zwar gerade das Aufführen des emotionalen Zustands der gespannten Anteilnahme. Zuschauer sind immer auch Darsteller im Theater der Intersubjektivität, wie umgekehrt die tragedians in diesem Theater in ihrer Darstellung zu Zuschauern anderer und (damit) ihrer selbst werden können: Der Solitary erkennt in Anspannung und Aufmerksamkeit seiner Gegenüber die Bedeutung seiner selbst, im Doppelsinn von importance und meaning, aber er bezeugt auch die Ruhe der anderen im Aushalten seines Leids, die zu einem ‚soothing‘ dieses Schmerzes führt. Die abschließende Reaktion von Wanderer und Poet auf eine Rede, die Handeln und Zuschauen zugleich war, ist sich der Bedeutung der performance of spectating denn auch bewusst, zeigt aber zugleich, zumindest in Ansätzen, eine emotional-persönliche Reform auch bei ihnen. Here closed the Tenant of that lonely Vale His mournful narrative—commenced in pain, In pain commenced, and ended without peace: Yet tempered, not unfrequently, with strains Of native feeling, grateful to our minds; And doubtless yielding some relief to his, While we sate listening with compassion due. Such pity yet surviving, with firm voice, That did not falter though the heart was moved, The Wanderer said— (IV, 1–9)
Zunächst erscheint die Trauer des Solitary ungebrochen, wobei die chiastische Anadiplosis zwischen Vers 2 und 3 nicht nur die emotionale Anteilnahme der Gruppe durch die Wiederholung emphatisch zum Ausdruck bringt, sondern formal auch einen geschlossenen ‚Zirkel‘ graphisch umsetzt, der für die hiesige Kleingruppe stehen könnte. Diese Aufmerksamkeit führt zum ‚tempering‘ des Solitary, das interessanterweise zuerst in der Wirkung auf die „minds“ der Zuschauer und erst dann, als sei diese gewissermaßen schon Reaktion, in derjenigen auf den Geist des Gemäßigten selbst verzeichnet wird. Diese emotionale (und intersubjektive) Verschlingung fußt buchstäblich auf dem „we sate listening with
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compassion due“, wobei das ‚angemessene Mitgefühl‘ nicht nur Ausgangspunkt produktiven Zuschauens, sondern auch sein Ergebnis ist, das den Zuschauern – man denke nur an die apathische Einstellung des Wanderer, aber auch die emotionslose erste Reaktion des Poet – zu mehr Emotionalität, Menschlichkeit und letztlich auch Persönlichkeit verhilft. Wieder einmal geht es in Wordsworths Theater um eine emotionale ‚Besserung‘ miteinander und aneinander, wie auch Bushell herausgearbeitet hat – nicht aber im Sinne der Verbesserung einer falschen Einstellung, auf die sie noch zu sehr abhebt. Die Stimme des Wanderer am Ende des Ausschnitts bringt die „pity“ sodann absichtlich nicht voll zum Ausdruck, was wiederum auf die notwendigen Grenzen der Emotionalität hinweist, für die der Wanderer sich trotz eigenem Lernbedarf zurecht weiterhin einsetzt: Mitleid ist wichtig und muss auch kommuniziert werden, aber nicht so sehr, dass die Stimme, die Repräsentation dieses Mitleids, versagt. Wordsworths Beharren auf der gegenseitigen ‚Heilung‘ von Solitary und Wander ist und bleibt konsequent. Mit diesem ‚Komplex‘ gelangt der Prozess gegenseitiger Anmutung und Heilung zu einem ersten Höhe- und Ruhepunkt. Der Wanderer setzt zwar am Ende des letzten Zitats zu einer gewaltigen Rede an, die, so der Titel dieses Buches, die Niedergeschlagenheit des Solitary ‚korrigieren‘ soll („Despondency Corrected“). Aber das Wichtigste ist letztlich schon gesagt bzw. auf weiteren Ebenen als der bloßen Rede ausgetauscht worden. Auf der einen Seite ist die Heilung hier schon abgeschlossen, da das Theater der Intersubjektivität den Leidenden vollständig aufgenommen und zu Ausdruck und Wahrnehmung seiner Persönlichkeit verholfen hat. Auf der anderen Seite ist sie unabschließbar, da dieses Theater natürlich immer weitergehen muss, wollen die Beteiligten für sich selbst und die anderen verfügbar und seelisch ausgeglichen bleiben.227 Allerdings geht es dem Solitary im Verlauf der Excursion immer besser, er wird zu einem „smile [...] break[ing] from an expanding heart“ (V, 842f.) genauso fähig wie zu Tränen des Mitleids für eine andere Leidende, deren Schicksal er vernimmt, ist also vom ‚Leidenssender‘ auch zum Leidensempfänger geworden.228 Zu Beginn des vorletzten Buches zieht er mit einer bemerkenswerten „sedate compliance“ ein (vorläufiges!) Resümee seiner Heilung: „[...] [I]n return for sympathy bestowed / And patient listening, thanks accept from me.“ (VIII, 3 u. 8f.) Allerdings lässt er sich bis zuletzt nicht zu
227 Celeste Langan spricht hier von einer ‚walking cure‘, die sie freilich als zutiefst paradox ansieht: Gerade die Gewährleistung von Mobilität perpetuiere das Symptom absichtlich und mache die Ärzte selbst zu Patienten, nämlich heillosen Wandersubjekten (Langan 1995: 225–271). 228 „I noted that the Solitary’s cheek / Confessed the power of nature.“ (VI, 1083f.) heißt es über seine Reaktion auf die sog. „Ellen’s Tale“ (s. 4.3.4).
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einer statischen Rezeptionshaltung bekehren, sondern verweist auf zukünftiges Zusammensein in diesem Theater.229 Durch diesen Prozess wird das Leiden eines Selbst geheilt, indem es intersubjektiv überstiegen wird. Wordsworth ‚intersubjektiviert‘ in der Excursion nicht nur einen Leidenden aus den Lyrical Ballads, sondern auch das poetische Ich aus dem Prelude und zwar durch eine Wiederaufnahme von dessen Ich-TheaterKrise während der Französischen Revolution. Die autobiographischen Berichte des Solitary sind nicht nur inhaltlich, sondern auch als homodiegetische Erzählung über die eigene Vergangenheit dem Ich-Theater im Prelude sehr ähnlich, solange sie die Heilung durch die anderen, bzw. die Selbstheilung des Solitary durch Reaktionen auf die anderen, noch nicht miteinschließen. Zusätzlich nimmt Wordsworth hier eine Rückbindung des Prelude an die Lyrical Ballads vor: Als Grund der Selbsttheatralisierung wird hier ein psychisches Trauma durch einen Familienverlust, wie er in den Lyrical Ballads, nicht aber im Prelude vorkommen könnte, genannt. […] She melted from my arms; And left me, on this earth, disconsolate. . . . . . . […] Then my Soul Turned inward,—to examine of what stuff Time’s fetters are composed; and Life was put To inquisition, long and profitless! By pain of heart—now checked—and now impelled— The intellectual power, through words and things, Went sounding on, a dim and perilous way! (III, 688f. u. 704–710; meine Hervorhebung)
Wordsworths inquisitorische Selbsttheatralisierung aus dem 10. Buch des Prelude230 erhält hier eine zusätzliche Ätiologie: Der Betroffene verfällt – traumatisiert durch eine Familientragödie – theatralisch auf sich selbst. Dabei wird er nicht nur zu einem Wiedergänger der Zurückgelassenen der Lyrical Ballads, etwa Leonard oder „The Mad Mother“, sondern gleicht auch Rivers’ Zustand in The Borderers; auch dieser überwindet ja einen – wenn auch selbstverschuldeten – Todesfall durch ein (freilich anders geartetes) Theater des Selbst. Wordsworth verbindet im kulminativen Projekt der Excursion demnach alle bisherigen Stränge seines Theaterprojekts, ‚korrigiert‘ davon ausgehend aber vor
229 „[...] But, ere he turned / Aside, a welcome promise had been given, / That he would share the pleasures and pursuits / Of yet another summer’s day, consumed / In wandering with us through the Vallies fair, / And o’er the mountain-wastes.“ (IX, 773–778). 230 Vgl. 4.2.3.
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allem das Prelude: Der Solitary scheitert wie Leonard aus „The Brothers“ an der Rezeption einer Tragödie der eigenen Familie und wird dadurch zu dem Ich-Theater, das wir so (ähnlich) aus den Borderers und The Prelude kennen. Im Detail weicht diese Figur vom Wordsworthschen Krisen-Ich ab231, aber in dem Moment, in dem der Wanderer und der Poet ihn treffen, sagt ersterer ihm dieselbe Ich-Krise nach, an der auch die persona Wordsworths im Prelude litt.232 In The Excursion wird dieses Theater des Ich nun durch Intersubjektivität in/mit einer heilsamen Gemeinschaft233 geheilt. In Ansätzen gab es eine solche Heilung durch Intersubjektivität ja bereits im Prelude. Allerdings findet sich dieses Theater in The Excursion – im Gegensatz zum Prelude – in action und nicht nur in der Rückschau beschworen bzw. über Abwesende konstituiert. Die Heilung wird in einem umfangreichen intersubjektiven textuellen Theater vorgeführt, das ab Buch II den Gesamtext umfasst und letztlich am Ende nicht abgeschlossen ist. In diesem Sinne überwindet The Excursion in der Figur des Solitary die Tragödie des Ich in den Revolutionsbüchern des Prelude, aber durch den Textprozess insgesamt auch die Tragödie des Prelude an sich, nämlich das Ausbleiben echter und vollständiger Intersubjektivität zwischen Dichter und Leser. In The Excursion wird der lange Dichter-Monolog, den das Prelude insgesamt darstellt, in eine dramatische Konstellation mit ‚echten‘, reagierenden Adressaten eingebettet und damit gewissermaßen in der Intersubjektivität wiederholt.
4.3.4 D ie Ausweitung der intersubjektiven Volkstragödie zum posttragischen Theater des Volkes (Buch V bis VII) Eklatant an der Excursion ist die Verknüpfung dieses lokalen Prozesses mit globalen Intentionen: Was den Solitary heilen soll, kann auch jeden anderen heilen – wenn er/sie sich an diesem Heilungsprozess beteiligt. Die Tendenz geht also
231 Interessanterweise wird der Solitary genau zu demjenigen politischen Prediger in Großbritannien und Frankreich (II, 235f. und III, 767–775), der auch Wordsworths persona im Prelude (vergeblich) sein will. Aber vergleichbar dem Prelude führen auch diese Auftritte den Solitary nicht zurück in die Gemeinschaft, sondern letztlich immer nur noch weiter ins Theater des Ich. 232 Hier heißt sie „self-indulging spleen“ (II, 328). 233 Wie bereits im Prelude setzt Wordsworth auch in The Excursion das Theater der Selbstüberwachung als individuelle Pathologie und nicht etwa als gesellschaftlich verbindliches Subjektmodell an, wie es in Walter Scotts The House of Aspen erscheint. Zudem ist es wiederum ‚französisch-revolutionär‘ konnotiert. Der Solitary krankt zwar nicht nur an ‚französischem‘, sondern auch an heimatlichem Leid, wird aber signifikanterweise von einer gesunden, offen-intersubjektiven englischen (Kleinst-)Gesellschaft von seiner Selbstüberwachung geheilt.
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insgesamt zu einer Anbindung dieses intersubjektiven Theaters an eine (intersubjektive) Neutheatralisierung des Kollektivs – und zwar in Form des Wiederaufgreifens einer sozialen Ritualität, wie sie etwa in „The Old Cumberland Beggar“ (nur) beschrieben wurde234, hier aber auf der Handlungsebene und sodann auch auf der Vermittlungsebene des dramatisch-narrativen Textes umgesetzt wird. Diese Entwicklung wird in den letzten Versen des Prelude ebenfalls angedeutet, aber erst hier, im Nachfolgeprojekt der Excursion, ausgeführt.235 Im Zuge dieses Prozesses wird auch die Leidensdimension der Excursion überwunden; das neugewonnene Theater der Intersubjektivität ist zugleich auch eine Überwindung der Tragödie des Volkes durch ein anthropologisch-soziales Theater des Volkes. Entscheidenderweise taucht aber in der epistemisch-politischen Dimensionierung dieses Theaters der Gedanke der Führung bzw. Moderierung der Intersubjektivität durch ein einzelnes Subjekt wieder auf. Auch in dieser Hinsicht ist die Excursion eine Verbindung von Lyrical Ballads und Prelude. Ausgangspunkt dieses Theaters des Volkes ist eine anthropologische Praxis, die sich zu einer kollektiven Menschlichkeits- und Gemeinschaftserfahrung auswächst. Daher ist es wichtig, dass sich diese Anthropologie gegen Tendenzen einer negativen Anthropologie abgrenzt. Diese negative Anthropologie in The Excursion besteht – ihrem auch heute noch üblichen Doppelsinn entsprechend236 – zum einen in einer pessimistischen Sicht auf die Natur des Menschen (eine Negativierung des Menschen) und zum anderen in einem Beharren auf der Nichterkennbarkeit der Natur des Menschen durch den Menschen selbst (eine Negativierung der Erkenntnis des Menschen). Die Negativierung des Menschen ist eine Einstellung des Solitary, wodurch im Umkehrschluss die in The Excursion angestrebte positive Anthropologie mit seiner Heilung eng verknüpft ist.237 Die Negativierung der Erkenntnis des Menschen dagegen ist mit Charakteren assoziiert, die auf den ersten Blick so heilungsbedürftig nicht scheinen, nämlich dem Wanderer und einem Pastor, der zum Zentralcharakter der Excursion ab Buch IV wird: Aber auch diese Erkenntnisskepsis (die vor allem religiös motiviert ist) muss selbst relativiert und in einer heilsamen Praxis der Menschlichkeits- und Menschheitserfahrung aufgefangen werden. In beiden Fällen wird eine negative Theorie nicht etwa widerlegt, sondern durch eine ‚positive‘ Praxis und die daraus
234 Vgl. 4.1.3.4. 235 Vgl. 4.2.4. 236 Vgl. zu diesem Begriff von negativer Anthropologie Groh 2004. 237 Vgl. ebenfalls zur Konzipierung einer progressiven Anthropologie in The Excursion, die allerdings auf einem Fortschritt der Menschheit insgesamt basiere, Hamilton 2010. M.E. trifft dieser Progress in The Excursion nicht auf die Menschheit insgesamt zu, sondern v.a. auf das britische Volk (vgl. 4.3.4).
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gewonnenen Erfahrungen gewissermaßen ‚überspielt‘. Das Negative an der Theorie ist, dass sie nur aus abstrakt-mentalem und vor allem auf das Einzelsubjekt zentriertem (Nicht-)Handeln besteht. Die schweren Schicksalsschläge, die er zu verkraften hatte, führten den Solitary zu einer pessimistischen Sicht auf die Potentiale – Fähigkeiten und Hoffnungen gleichermaßen – des Menschen. Interessanterweise entzündet sich diese negative Anthropologie für ihn vor allem an Ritualen. Rituale stehen, als Untersuchungsgegenstand und Ausführungsform gleichermaßen, im Zentrum der später selbst in Gruppenritualen erarbeiteten positiven Anthropologie; zunächst aber sind sie für den Solitary der Inbegriff lediglich verbrämter Hoffnungslosigkeit. Beim Friedhofsbesuch, der uns noch ausführlich beschäftigen wird, entfährt es ihm: […] [“]If this mute earth Of what it holds could speak, and every grave Were as a volume, shut, yet capable Of yielding its contents to eye and ear, We should recoil, stricken with sorrow and shame, To see disclosed, by such dread proof, how ill That which is done accords with what is known To reason, and by conscience is enjoined; How idly, how perversely, Life’s whole course, To this conclusion, deviates from the line, Or of the end stops short, proposed to all At her aspiring outset. […] . . . . . . […] In due time A day of solemn ceremonial comes; When they, who for this Minor hold in trust Rights that transcend the loftiest heritage Of mere Humanity, present their Charge, For this occasion daintily adorned, At the baptismal Font. [...] . . . . . . Corrupt affections, covetous desires, Are all renounced; high as the thought of man Can carry virtue, virtue is professed; A dedication made, a promise given For due provision to controul and guide, And unremitting progress to ensure In holiness and truth.” (V, 246–257, 269–275 u. 282–287; meine Hervorhebungen)
Der Solitary selbst setzt alle (rationalistische ebenso wie metaphysische) Theorie über den Menschen negativ von dem ab, was Körper und Taten des Menschen
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künden. Interessanterweise gehört auch das Theoretisieren selbst für ihn zu einer Kultur der Übertünchung menschlicher Kreatürlichkeit und Fehlbarkeit. Ziel seines Spotts wird die Taufe, da sie, obwohl sie ein Bewusstsein für den menschlichen Makel besitzt, ausgerechnet das bloße Ritual, Burkes ‚decent drapery‘ gewissermaßen238, als Mittel seiner Beseitigung wählt. Religion steht im Zentrum seiner Verachtung, da sie eine Theorie der Erhöhung des Menschen aus seiner Niedrigkeit ausgerechnet mit einer rituellen Ordnung zum Erreichen dieser Erhöhung verbindet. Der Solitary ist an dieser Stelle letztlich gegen alle menschliche Kultur, sei diese Praxis oder Theorie, da sie uns über unsere Niedrigkeit im unklaren lässt. Das einzige Kulturelement, das er, fern aller kulturellen Praxis, gelten lässt, ist das Theorem dieser Niedrigkeit. Diese Provokation ist eine profunde – und auch für heutige Leser noch spürbar, da sie mit der menschlichen Religion auch die menschliche Kultur an sich denunziert. Das Klischee vom unerträglichen Quietismus der Excursion sollte an dieser Stelle eigentlich ein Ende haben, lässt Wordsworth diesen Nihilismus doch mit dem Solitary aus dem Munde eines Charakters erwachsen, der nicht etwa ein bloßer Antagonist, sondern vielmehr ein voll eingebundenes Gemeinschaftsmitglied ist, das durch gemeinsame kulturelle Praktiken sanft bekehrt, nirgends aber widerlegt oder gar zum Widerruf getrieben werden soll. Vielmehr ist es Teil des Gemeinschaftsgeistes, solche Standpunkte gelten zu lassen und argumentativ, nicht apodiktisch zu kontern: “You cannot blame,” Here interposing fervently I said, “Rites which attest that Man by nature lies Bedded for good and evil in a gulf Fearfully low; nor will your judgment scorn Those services, whereby attempt is made To lift the creature tow’rds that eminence On which, now fallen, erewhile in majesty He stood; or if not so, whose top serene At least he feels ’tis given him to descry[”]; (V, 289–297)
Der Dichter argumentiert hier von einem religiösen Standpunkt, der die These von der Niedrigkeit des Menschen aber übernimmt und den Einspruch des Solitary gegen die Perfektibilität gelten lässt. Den Menschen (s)eine höhere Natur durch Rituale erahnen („descry“) zu lassen, wobei bewusst dahingestellt bleibt,
238 Die Einstellung des Solitary ist an dieser Stelle demnach auch ein Theaterhass, den Burke mit einer revolutionären Zerstörungswut gegenüber Tradition und Kultur (der Monarchie) gleichsetzen würde (vgl. 2.2.2.2).
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ob diese überhaupt seine Natur ist, stellt letztlich seine zentrale Forderung dar.239 Das Zitat lässt zwei Dinge deutlich werden: zum einen, dass die anderen Charaktere aus einer religiösen Haltung heraus eine ähnlich pessimistische Sicht auf den Menschen hegen wie der Solitary; zum anderen aber, dass sie ihre Ansichten nicht für eine abstrahierbare Theorie halten, die daher, wie der Solitary das tut, apodiktisch vertreten werden könnte, sondern an die Umsetzbarkeit ihrer Überzeugung gerade durch Rituale glauben – was sie vom ‚Kulturpessimismus‘ des Solitary deutlich unterscheidet. In diesem Sinne ist die Religiosität der Excursion das Plädoyer für eine religiöse Praxis, die immer auch durchgeführt werden muss, um zu bestehen – nicht zuletzt auch in diesem und durch dieses Werk selbst. Und die Theorie zu dieser Praxis ist keine theologische Metaphysik, sondern eine Religionsanthropologie, die durch den berüchtigten Gottesdienst in Buch IX – der letztlich gar keiner ist, da er keine Eucharistie enthält – nicht widerlegt, sondern vielmehr praktiziert wird.240 Daher ist es nur konsequent, dass Theorie und Praxis des Anthropologischen in der Excursion noch weiter zusammengeführt werden, nicht zuletzt, um mit einer solchen Fusion das negative Menschenbild, das ja bis zu einem gewissen Punkt alle Charaktere der Excursion hegen, zu überwinden – und zwar intersubjektiv. Wanderer, Poet und Solitary suchen den Pastor im fünften Buch vor allem auf, da sie letztlich alle von Zweifeln an der Fähigkeit des Menschen, nach Höherem zu streben, geplagt werden. Der Pfarrer löst diese Zweifel auf, indem er sie zunächst vertieft. Das wichtigste ‚negative‘ Charakteristikum des Menschen ist für ihn nämlich seine eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit. Diese Beschränkung betrifft letztlich alle Erkennnisgegenstände des Menschen, da dieser die Realität emotional – und nicht etwa rational – erschließt bzw. korrigiert. Besonders virulent wird sie aber im Hinblick auf seine eigene Natur, da in der Anthropologie Erkenntnisträger und Erkenntnisgegenstand zusammenfallen:
239 Im Sinne der Intersubjektivität der Excursion lässt sich der Solitary auf diesen Kompromiss ein und bezeichnet Liturgien und andere Rituale als „natural process“ (V, 310). 240 IX, 679ff.: In dieser Predigt wird das Christentum von früheren Religionen zwar deutlich abgesetzt, zugleich aber auf ein Kontinuum der Beschwörung bzw. Bewältigung von Gewalt durch Religion bezogen, welches im ‚blutenden Christus‘ (718f.) einerseits aufgehoben, andererseits aber auch fortgesetzt wird. Wordsworths Thesen stehen hier in eklatanter Nähe zu den Überlegungen René Girards, der ja auch die Aufhebung religiöser Gewalt durch die Lehre vom Opfertod Christi feiert und dabei historische Religionsanthropologie und nicht etwa christliche Dogmatik betreibt (vgl. etwa Girard 1987). Für heutige religionsferne Leser ist das vielleicht dasselbe, nicht aber für die Zeitgenossen, die Wordsworths Umgang mit der Religion scharf kritisierten, etwa James Montgomery, der die fehlende Priorisierung christlicher Dogmatik gegenüber (anderer) Philosophie zutiefst bedauert (vgl. Bushell 2002: 94f.).
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“Our nature,” said the Priest, in mild reply, “Angels May weigh and fathom: they perceive, With undistempered and unclouded spirit, The object as it is; but, for ourselves, That speculative height we may not reach. The good and evil are our own; and we Are that which we would contemplate from far. Knowledge, for us, is difficult to gain— Is difficult to gain, and hard to keep— . . . . . . Love, admiration, fear, desire, and hate, Blind were we without these: through these alone Are capable to notice or discern Or to record; we judge, but cannot be Indifferent judges. ’Spite of proudest boast Reason, best Reason, is to imperfect Man An effort only, and a noble aim; A crown, an attribute of sovereign power, Still to be courted—never to be won! (V, 480–488 u. 490–499, meine Hervorhebung)
Damit wird der Fluch des Menschen zirkulär – die Natur des Menschen ist, sie nicht zu kennen –, die bange theoretische Frage, ob der Mensch gut oder schlecht sei, aber auch hinfällig. Das einzige Wissen des Menschen über sich selbst ist seine Praxis, mithin eine kasuistische Anthropologie.241 Die Inspiration für diese Praxis kommt – ganz im Sinne der Intersubjektivität – freilich von einem anderen Charakter, nämlich dem Wanderer. Er fordert den Pastor auf: […] May I entreat Your further help? The mine of real life Dig for us […] . . . . . . […] Say what Man He is who cultivates yon hanging field; What qualities of mind She bears, who comes, For morn and evening service, with her pail,
241 Die Fundierung einer kasuistischen Anthropologie in einem Rekurs auf Engel hat einige interpretatorische Aufmerksamkeit erhalten, zuletzt in Merten 2009b. Auch Bushell sieht diese Stelle als Ausgangspunkt einer Moralistik zwischenmenschlicher Verbindungen und gegenseitiger Erzählungen basierend auf subjektiven Standpunkten (Bushell 2002: 89f. und 193–195). Ihr zufolge entwickelt Wordsworth in der Excursion eine performative, interaktive Philosophie, aus der zuletzt eine ‚communal structure‘, die Charaktere und Leser umfasst, erwächst (Bushell 2002: 85). Und auch Hickey (1997: 93f.) bemerkt an der ‚Engel-Stelle‘ das Plädoyer für einen antiobjektiven Skeptizismus und ein Interesse am Einzelleben.
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To that green pasture; place before our sight The Family who dwell within yon house Fenced round with glittering laurel; or in that Below, from which the curling smoke ascends. Or rather, as we stand on holy earth And have the Dead around us, take from them Your instances; for they are both best known, And by frail Man most equitably judged. Epitomize the life; pronounce, You can, Authentic epitaphs on some of these (V, 630–632 u. 640–653; meine Hervorhebungen)
Die Gruppe in der Excursion zieht aus der Relativierung der (Selbst-)Erkenntnis des Menschen die Konsequenz, den Menschen als Ansammlung individueller, je differenter Einzelfälle („instances“) zu studieren bzw., besser noch, intersubjektiv zu erfahren. Diese dialogisch-kasuistische Anthropologie wurde ja in den Lyrical Ballads schon in Angriff genommen242, bekommt aber erst hier in The Excursion, ähnlich wie die anderen Aspekte der Intersubjektivität, ihre endgültige Form.243 Zugleich wird die anthropologische Aporie in den Borderers mitsamt ihrer gewaltsamen Folgen überwunden: Aus Rivers’ letztlich paradoxer Lehre von der Subjektivität als einer quasi höheren Objektivität des Menschen und der deraus folgenden erzwungenen Projektion des Selbst auf einen anderen Menschen, um ‚den Menschen‘ zu studieren244, wird in der Excursion die Einsicht, dass aufgrund dieser Subjektivität Objektivität prinzipiell unmöglich ist, gerade wenn es um das Studium der eigenen Natur geht. Vielmehr müssen Gruppen das Wissen vom Menschen aus individuellen ‚Exempeln‘ intersubjektiv erarbeiten. Die humanwissenschaftliche Wende in Wordsworths Versdichtung, ein zentrales kulturelles Exempel für diese Wende allgemein, ist hier an ihrem Höhe- und Endpunkt angelangt. Die in The Excursion erarbeitete Konstellation ist ein idealer, nämlich nicht theoretischer, sondern praktischer Erfahrungsort des Wissens über den Menschen– was im übrigen, wie wir noch herausarbeiten werden, auch für den Text gilt, der diese Repräsentation nun seinerseits repräsentiert. Hauptort dieser kasuistisch-pragmatischen Anthropologie ist, überraschenderweise vielleicht, zunächst ein Friedhof, dessen Besuch in den Heilungsprozess des Solitary gehört. Während dieses Rundgangs erzählt vor allem der Pastor
242 Vgl. 4.1.1. 243 In seinen späteren „Fenwick Notes“ vertieft Wordsworth laut Bushell seine „anthropological anxiety“ (Bushell 2002: 242) hin zu realweltlichem Anspruch, indem er die Echtheit seiner „instances“ zu beweisen versucht, und weist damit energisch die (intendierte) Authentizität und Exemplarität der in The Excursion durchgearbeiteten ‚Beispiele‘ aus. 244 Vgl. 3.2.1.
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Geschichten (vor allem) über die dort Beerdigten, mithin die vom Wanderer erbetenen „instances“. Darum wird diese Totenstätte nicht etwa zum Ort der (Wieder-)Geburt einer negativen Anthropologie, wie die Forschung, vor allem wenn sie dekonstruktiv beeinflusst ist, postuliert hat245, sondern zum Raum einer intersubjektiven Gemeinschaftserfahrung, die, wie wir sehen werden, die Qualität eines Theaters des Volkes hat, wie es Rousseau vorschwebt.246 Schon das letzte Zitat beweist, dass sich die Initialzündung zu dieser Anthropologie-als-Volkstheater zunächst auf Lebende bezieht, die in die bühnenartig beschworene Natur eingebettet sind und dabei repräsentativen Charakter erhalten – als Menschen wie als Mitglieder des (britischen) Volkes.247 Die Pragmatik der ‚exkursionistischen‘ Anthropologie liegt also in einer Kasuistik und einer identitätsstiftenden Gruppenerfahrung gleichermaßen und ist daher nicht nur Erkenntnis (Episteme), sondern ebenfalls kulturelle Praxis, also Moral und Politik. Eine wichtige Theoretisierung dieses Volkstheaters, wenn auch kein Ersatz für seine Praxis, sind Wordsworths eigene „Essays on Epitaphs“, von denen der erste 1810 in der von Coleridge herausgegebenen Zeitschrift Friend erschien – also während der Abfassung der Excursion, die hauptsächlich zwischen 1809 und 1814 stattfand.248 Diesen „Essay“ fügte Wordsworth als Anmerkung in die Excursion
245 Vgl. dazu vor allem Langan 1995: 260–271, Sharp 1995, und Goodman 2004: 106–143. Alle drei Interpreten sehen den Friedhof als Ort einer sei es bewussten, sei es unbewussten Fundierung moderner (und menschlicher) Subjektivität bzw. Gemeinschaftlichkeit im Tod und unterstellen Wordsworth davon ausgehend eine entweder dekonstruktiv-erkenntniskritisch oder existentialistisch-nihilistisch fundierte negative Anthropologie. Die Epitaphe (s. weiter unten) werden bei solchen Interpreten zu selbst paradoxen Medien dieser Anthropologie. Solche Deutungen übersehen aber die Selbstkorrektur der Friedhofsschau hin zu einem posttragischen Theater des Volkes, wie sie hier herausgearbeitet wird. 246 Vgl. zu einer derartigen Interpretation Bushell 2002: 181–191, 203–209 und Schor 1994: 151–195. Schor arbeitet wie ich einen Bezug der Friedhofsszenen zu Edmund Burkes Konzept des body politic heraus, welcher ihrer Ansicht nach aber zu zerfallen drohe und durch die Narrative zusammengehalten werden müsse (vor allem 151–161). Die Absetzung des Konzepts eines (eher kontinuierlichen) social body von diesem statisch-tragischen body politic, die ich weiter unten herausarbeite, nimmt Schor freilich nicht vor. Bushell betont, dass durch die schiere Masse an Erzählungen schon der Eindruck eines Volkes entstehe, und differenziert einen dialogischen Austausch über die Gräber, vor allem zwischen Pastor und Wanderer, von einer zunehmend monologischen Addierung der Grabreden, die zu einer ‚Volksmenge‘ tendiert (Bushell 2002: 206–208). Auf die Monologisierung des Volkstheaters durch den Pastor wird zurückzukommen sein. 247 Vgl., noch ohne die anthropologische Dimension, die Beschwörung des Grasmere Fair im Prelude als Volkstheater in 4.2.2. Dort jedoch bleibt es bei einer knappen Beschreibung mit expliziter Nicht-Realisierung, während das Volkstheater hier zunächst nicht nur ausführlich beschrieben, sondern vom Text auch ausführlich und reflektiert ‚aufgeführt‘ wird. 248 Vgl. Wordsworth 2007 : 426–428.
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ein. Wordsworth beschwört dort die „Parish Church“ als „visible community of the living and the dead“249, wobei die „Spectators“ von Kirche und Friedhof durch die Doppelerfahrung von Gottes- und Totendienst Tragik und ‚Fest‘ des Volkes miteinander verbinden können.250 Auf dem Friedhof kann darüber hinaus selbst die nackte Angabe von Namen und Lebensdaten auf den Gräbern der Ausgangspunkt einer Familien-, Gemeinde- und sodann Nationalversammlung sein.251 Wie Mark Wilks252 (aber auch Burke253) theoretisiert Wordsworth die Erstehung eines Theaters des Volkes aus kleinen Keimzellen, was sich eng auf die Situation in der Excursion beziehen lässt. Allerdings sind für dieses Theater ausgedehntere Grabinschriften puren Datenangaben vorzuziehen. Erstere werden, so Wordsworth, zum „medium“254 der „sympathy“255, indem sie Leben und Persönlichkeit des Individuums an allgemeine Aspekte der menschlichen Natur anknüpfen. Das Tugend-Lob auf den Inschriften entspricht der Emotionalität und dem Umgangston innerhalb von engen, vertrauten Gemeinschaften, wie Wordsworth im zweiten „Essay on Epitaphs“ schreibt256, und ist daher authentischer als jede ‚objektive‘ Analyse von außen. Erwartungsgemäß muss der Verfasser solcher Inschriften diese Authentizität gewährleisten; jegliches Rollenspiel ist verboten.257 Wordsworth entwirft hier insgesamt ein textpoetisches Gemeinschaftstheater ganz im Sinne der Lyrical Ballads, wo sich der Dichter ja ebenfalls authentisch-sympathetisch über Dritte äußert.258 Über die Lyrical Ballads hinausgehend beschwört er zugleich eine konkrete Gemeinschaft, in der die Texte ihre Wirkung entfalten.
249 Wordsworth 2007 : 308. 250 „The sensations of pious cheerfulness, which attend the celebration of the Sabbath-day in rural places, are profitably chastised by the sight of the Graves of Kindred and Friends, gathered together in that general Home towards which the thoughtful yet happy Spectators themselves are journeying. Hence a Parish Church, in the stillness of the Country, is a visible centre of a community of the living and the dead [...]“ (Wordsworth 2007: 308). 251 So heißt es im dritten Essay: „Such a frail memorial then is not without its tendency to keep families together; it feeds also local attachment, which is the tap-root of the tree of Patriotism.“ (Wordsworth 1974: Bd. 2, 93) 252 Vgl. 2.2.2.5. 253 Burke beschwört in den Reflections das ‚attachment‘ des einzelnen „to the subdivision“, die ‚Liebe‘ für das „little platoon we belong to in society“ (Burke 2001: 202) als Ausgangspunkt von Gesellschaft und Nation. 254 Wordsworth 2007 : 310. 255 Wordsworth 2007 : 309. 256 Wordsworth 1974 : Bd. 2, 64. 257 Wordsworth 1974 : Bd. 2, 70. 258 Vgl. 4.1.1.
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Die Excursion interessiert sich mehr für diese Gemeinschaftskultur als für die in Stein gemeißelten Epitaphe. Die Grabsprüche werden (zunächst) mündlich geäußert259; als ‚lyrische Balladen‘260 sind sie demnach intradiegetisch keine geschriebenen Texte, sondern werden erst in einer Überformung durch den Text der Excursion dazu. Das ist letztlich auch der Gedanke hinter den Lyrical Ballads; nur ist dieser dort eher implizit, während er hier im Rahmen einer konkreten gemeinschaftlichen Vortragssituation dramatisiert wird. Darin liegt die Weiterentwicklung gegenüber den Lyrical Ballads: Während diese die Gemeinschaftsbildung letztlich postulieren und damit auf den Leser verlagern müssen, wird diese in der Excursion, ausgehend von einer ‚echten‘ Rezeptionsgemeinschaft, gemeinschaftlich ausgehandelt, so dass das Theater des Volkes aus den ‚Balladen‘ mehrfach erwachsen kann – aus den Vorträgen, der Reaktion auf sie und der Reaktion des Vortragenden auf diese Reaktionen. Nach dem Leidenden werden nun gewissermaßen die Texte über das Leid, die „Lyrical Ballads“, in das Theater der Intersubjektivität gestellt, so dass aus ihnen nun endlich ein (Text-)Theater des Volkes entstehen kann.261 Der Gedanke der Verhandlung führt zu einer Verwandlung der Vorträge in The Excursion: Sie werden von den Gruppenmitgliedern intensiv kommentiert und ändern sich, bis das Theater des Volkes erreicht ist, das der Gemeinschaft – und Wordsworth – vorschwebt. Hauptmodifikation ist die Abkehr vom Tragischen des Volkes, wie wir es in der „Margaret’s Tale“ noch ganz eklatant erlebt haben, aber auch von der Tragödie des Königs, wie sie seit Burkes Vorstoß gegen die Französische Revolution als moralisch-politisches Erfahrungsmuster vorliegt. Erst aus dieser doppelten Überwindung der Tragödie kann sodann ein (posttragisches) Theater des Volkes erwachsen, wie es Wordsworth vorschwebt. Im Rahmen der umfangreichen Kirchen- und Friedhofsbegehung in den Büchern V bis
259 So haben viele der Gräber des in der Excursion beschriebenen Friedhofs gar keine Inschriften (vgl. VI, 623f.: der Friedhof ist „almost wholly free / From interruption of sepulchral stones“). Dies macht sie dem Friedhof in „Brothers“ ähnlich, nur dass die in der Excursion ausgetauschten Erinnerungen die Inauthentizität und Gehemmtheit des Austausches im früheren Gedicht bewusst überwinden. 260 Die Forschung bezeichnet die Grabreden der Excursion teilweise als Fortschritt gegenüber den Lyrical Ballads (Dabundo 1988: 11), teilweise aber auch als Rückschlag (Gravil 2003: 216 sieht die Epitaphe als Rückschritt gegenüber den Lyrical Ballads, da sie monologisch immer denselben Sprecher verwenden und nicht jedem Leben eine eigene Perspektive einräumen.). Die vorliegende Studie sieht dagegen vor allem eine formal-mediale Weiterentwicklung hin zu einem Reden über Lyrical Ballads in der Excursion und damit einer dramatisierten Weiterarbeit an ihnen. 261 Eine solche Reflexion auf ‚lyrische Balladen‘ lag bis zu einem gewissen Grad auch schon bei der Reaktion des Erzählers auf die Margaret-Geschichte des Wanderer vor (vgl. 4.3.2). Erst hier wird an solchen Geschichten intensiv gearbeitet und ihre Tragik überwunden.
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VII wird an zwei Stellen explizit und ausführlich über den Bezug der Begrabenen und ihrer Geschichten auf das Tragische diskutiert, und beides Mal wird seine Transzendierung gefordert. Zunächst entwirft der Pastor die Vision der Toten unter seinen Füßen als pars pro toto einer menschlichen Gemeinschaft, von der er Szenarien des Tragischen bewusst absetzt: And blest are they who sleep; and we that know, While in a spot like this we breathe and walk, That all beneath us by the wings are covered Of motherly Humanity […] . . . . . . […] A battle-field, In stillness left when slaughter is no more, With this compared, is a strange spectacle! . . . . . . […] Ah! who would think That all the scattered subjects which compose Earth’s melancholy vision through the space Of all her climes; these wretched—these depraved, To virtue lost, insensible of peace, From the delights of charity cut off, To pity dead—the Oppressor and the Oppressed; Tyrants who utter the destroying word, And slaves who will consent to be destroyed; Were of one species with the sheltered few, Who with a dutiful and tender hand Did lodge, in an appropriated spot, This file of Infants […] (V, 929–932, 934–936 u. 940–952)
Am Ende des Zitats erscheint sogar die traurige Handlung der Kindsgrabpflege als humane Alternative zum vorher geschilderten Pandämonium menschlichen Leids, das Unterdrücker und Unterdrückte in einer verzweifelten Dialektik umfasst, mithin als Alternative zu einer revolutionär-anstachelnden Tragödie des Volkes, die den König als Erzschurken mitthematisiert. Noch deutlicher um die Tragödie bzw. deren Überwindung geht es an einer Stelle im sechsten Buch, die auf den Gedanken der Tragödie des Volkes zurückgreift. Diesmal wird kein königlicher Bösewicht gezeichnet; vielmehr werden König und Volk im Rahmen eines Angriffs gegen die Ständeklausel parallelisiert. Der Solitary setzt sich nämlich unter solchen Vorzeichen für die Tragödienfähigkeit des kleinen Mannes ein und plädiert nun für das Tragische der hier Beerdigten: [“]— Exchange the Shepherd’s frock of native grey For robes with regal purple tinged; convert The crook into a sceptre;—give the pomp
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Of circumstance; and here the tragic Muse Shall find apt subjects for her highest art. —Amid the groves, beneath the shadowy hills The generations are prepared; the pangs, The internal pangs are ready; the dread strife Of poor humanity’s afflicted will Struggling in vain with ruthless destiny.” (VI, 563–572; meine Hervorhebung)
Das Tragische erscheint hier verengt auf einen aussichtlosen Kampf der Menschen gegen ein übermächtiges Schicksal – und zugleich als Inbegriff der nihilistisch-negativen Anthropologie des Solitary. Aus dieser Perspektive wird die Tragödie zum Problem, selbst wenn man, wie der Pastor, dem Anrecht des Volkes, tragisch-erhaben wahrgenommen zu werden, emphatisch zustimmt: […] I could tell, not travelling for my theme Beyond the limits of these humble graves, Of strange disasters262; but I pass them by, (VI, 584f., meine Hervorhebung)
Die gemeinschaftliche Überwindung der Tragödie hin zu einem Theater der Menschheit ist insgesamt ein Therapeutikum nicht nur für ein einzelnes Mitglied dieser Gemeinschaft, sondern für den gesamten Kreis, wobei in dieser Gruppentherapie selbst schon eine (Erfahrungs-)Form des Menschheitstheaters vorliegt. ‚Passing by‘ bedeutet dabei nicht, dass man die Tragödie einfach zurücklässt, sondern vielmehr aktiv durcharbeitet. In diesem Sinne ist die Angabe des Priesters, er würde die Volkstragödien, die er kenne, unerwähnt lassen, nicht ganz richtig. Eher muss das Posttragische gewissermaßen durch die Tragische hindurch erreicht werden: Im Rahmen seiner Friedhofserzählungen trägt der Pastor daher eine tragedy to end all tragedies vor. Diese enthält und überbietet nicht nur alles Volks- und ‚Frauentragische‘, das Wordsworth jemals erarbeitet hat, sondern beschwört darüber hinaus eine Metatragödie, nämlich eine schmerzliche Abkehr von einem funktionierenden Theater des Volkes. […] A spreading Elm Stands in our Valley, named The Joyful Tree; An elm distinguished by that festive name, From dateless usage which our Peasants hold Of giving welcome to the first of May By dances round its trunk.[…] . . . . . .
262 In einer späteren Überarbeitung Wordsworths wird aus „strange disasters“ „grievous crimes“ (Wordsworth 2007, 210), was den Bezug des Pastor auf das Tragische noch verstärkt.
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William Wordsworth: Das Theater des Menschen in der romantischen Versdichtung
[…] The Queen of these gay sports, If not in beauty yet in sprightly air, Was hapless Ellen.—No one touched the ground So deftly […] . . . . . . She loved—and fondly deemed herself beloved. The road is dim, the current unperceived, The weakness painful and most pitiful, By which a virtuous Woman, in pure youth, May be delivered to distress and shame. Such fate was hers.—The last time Ellen danced, Among her equals, round The Joyful Tree, She bore a secret burthen […] (VI, 849–854, 857–860 u. 863–870)
Die gefallene Frau, die sich später als Amme verdingen und dabei hilflos dem Tod des eigenen Kindes zusehen muss, war vordem die beste Tänzerin um den Gemeinschaftsbaum – eine Metonymie für ein Rousseausches Volksfest (bzw. Volkstheater) unter freiem Himmel.263 Mit ihrem Niedergang verliert demnach die Gemeinde ihre zentrale Akteurin und ein Theater des Volkes seine Königin. Genau dieses Theater, ein Volkstheater, das auch eine(n) monarch in seiner Mitte weiß, ist, wie bereits in Lyrical Ballads und im London-Buch des Prelude angedeutet, der Zielpunkt von Wordsworths Theaterschaffen. Wordsworth betrauert hier demnach den durch die Tragödie verschuldeten Verlust einer bereits erreichten, bzw. ursprünglich vorhandenen, Erfüllung seiner Theaterträume, eines Theaters ‚des Volkes-und-des-Königs‘. Über die Verbindung der Tragödie des Volkes mit der Tragödie des Königs aus „Simon Lee“ hinausgehend steht hier der Wunsch, das Tragische an sich möge überwunden werden, hat es doch ein originäres gesamtgesellschaftliches Volkstheater verdrängt: Die Tragödie erscheint als eine Vernichtungsmaschine, die ihre eigene Alternative, ein nicht-tragisches Theater des Volkes, ihrem Prinzip des Niedergangs unterwirft. Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass ein Volkstheater, das einen heiteren Volkskönig enthält, die Tragödie nicht neben sich behalten, sondern hinter sich lassen muss, um von ihr nicht wieder eingeholt zu werden. Das Tragische erscheint demnach in The Excursion nicht nur als Pathologicum des Solitary, sondern letztlich der Kultur an sich, als
263 Vgl. zum Konzept eines Nationaltheaters als Volksfest an Feiertagen (bei William Crowe) auch 2.2.2.5. Eine ausführliche Maifest-Szene, die die Excursion darüber hinaus mit dem Grasmere Fair im achten Buch des Prelude verbindet, findet sich in Excursion II, 125–146. V.a. im Werk Walter Scotts wird der Volksbaum als Zentralsymbol für ein Theater des Volkes aufgebaut, dann aber auch problematisiert und damit gewissermaßen wieder abgebaut (vgl. 5.2.3.3 und 5.3.3.4).
The Excursion: Wordsworths intersubjektives Theater des Menschen
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Teil jener negativen Anthropologie, die ihre eigenen (kulturellen) Voraussetzungen frisst. In diesem Sinne sind die Friedhofsgeschichten der Excursion getrieben vom Willen, das Tragische zu befrieden, ihm seine Kraft zu nehmen, das Erzählte zu zerstören, indem dessen Niedergang erzählt wird.264 Die Friedhofsgeschichten der Excursion enthalten eine ganze Reihe socher Überwindungsszenarien. Deren zentraler Status wird schon dadurch sichtbar, dass die beiden ‚Friedhofsbücher‘ von solchen Geschichten gerahmt werden, also die erste und die letzte Geschichte Tragödienüberwindungen sind. Die erste Friedhofsgeschichte, die sich sehr bald aus dem oben zitierten Wunsch nach menschlichen „instances“ ergibt, beschreibt ein kinderloses Ehepaar, das in friedlicher Eintracht und in Unterhaltungen miteinander lebt. Beide sind in Absetzung vom Geist des Tragischen sowie den Friedhofsgeschichten allgemein zufrieden und am Leben, wobei der Abgrund zur Tragödie, der in ihnen überwunden werden kann und muss, die Erzählung vom Aussterben einer Dynastie ist. Der erzählende Pastor berichtet, wie er bei einem Besuch das Gesicht des Mannes studiert habe. Es wird dabei zur Physiognomie der Überwindung aristokratischen Niedergangspathos hin zum Bild eines Volkes, das sich an vielen Stellen gleichzeitig und immer wieder neu verjüngen kann: […] the eye, the mind, the heart, Found exercise in noting, as we sate By the bright fire, the good Man’s face—composed Of features elegant; an open brow Of undisturbed humanity; a cheek Suffused with something of a feminine hue; Eyes beaming courtesy and mild regard; . . . . . . […] From a fount Lost, thought I, in the obscurities of time, But honoured once, those features and that mien May have descended, though I see them here. In such a man, so gentle and subdued, Withal so graceful in his gentleness, A race illustrious for heroic deeds,
264 Vgl. auch die ‚Tragödien‘ des Solitary sowie von Leonard in „The Brothers“, bei denen in beiden Fällen die Narrativierung des Abwesenden durch die Gemeinschaft deren Tod beinhalten muss. In diesem Sinne ist der Priester in der Excursion gerade dadurch ein (r)echter Gemeinschaftsstifter, dass er – im Gegensatz zum Priest in „Brothers“ – das Tragische als Gemeinschaftsnarrativ überwindet und eben nicht instrumentalisiert. Das Problematische an narrativen Tragödien ist an dieser Stelle freilich auf das Tragische an sich ausgeweitet worden.
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Humbled, but not degraded, may expire. This pleasing fancy (cherished and upheld By sundry recollections of such fall From high to low, ascent from low to high, As books record, and even the careless mind Cannot but notice among men and things) Went with me to the place of my repose. (V, 784–790 u. 793–806; meine Hervorhebungen)
Das Volk nimmt den degradierten ‚König‘ gnädig auf und kann diesen Abstieg, das Verlöschen dieser Dynastie bzw. des Dynastischen an sich, heiter-gelassen überwinden. Dies ist die entscheidende Weiterentwicklung in Wordsworths Theater des Politischen: Aus den tragisch zum einfachen Menschen abgesunkenen Monarchen in The Borderers265 bzw. der Tragödie des Volkes durch das tragische Verschwinden des Monarchen in „Simon Lee“ ist ein Theater des nicht mehr als tragisch empfundenen Absinkens des Aristokraten in das Volk geworden. Damit hat der König die Tragödie hinter sich gelassen und ist im (Theater des) Volk(es) angekommen, für das Aufstieg („ascent from low to high“) und Niedergang („fall / From high to low“) ganz einfach Abschnitte eines Kontinuums sind. Dieses Muster, das hier nur angedeutet bzw. in hoher Konzentration vorgestellt ist, wird in weiteren signifikanten Geschichten zur Keimzelle des Volkstheaters (in) der Excursion ausgearbeitet. So wird am Ende von Buch VI, ebenfalls an einer auffälligen Stelle, nämlich dem Übergang zwischen dem ersten und dem zweiten Friedhofsbuch, in einer recht ähnlichen Geschichte vom Abfangen eines familiären wie ökonomischen Niedergangs durch die kluge Wiederheirat eines Witwers erzählt.266 In der Mitte von Buch VI werden wir vor das gemeinsame Grab eines enttäuschten jakobitischen Whig aus Schottland und eines englischen Hanoverian geführt, beide Überlebende gewissermaßen historischer Tragödien, die ihre Erzfeindschaft beigelegt und sich in diesem Gedenkort zusammengefunden haben.267 Noch einmal regelrecht ausbuchstabiert wird diese Überwindung in den beiden letzten Friedhofsgeschichten. Die erste erzählt vom Leben und Sterben Oswalds, eines lokalen Volkshelden, und droht zunächst zu einem Revolutionsspektakel zu werden. In der unmittelbar folgenden Abmilderung wird dieser Held dann zur Verkörperung der Nation268, zum alleinigen Repräsentanten eines ‚alten‘ Englands:
265 Es handelt sich hierbei um die Figuren des Kapitäns und Herberts, vgl. 3.2.1. 266 VI, 1240–1308. 267 VI, 420–537. 268 Die Verkörperung der Nation ist die Verbildlichung dieses Kollektivs durch den Körper eines Einzelnen (bzw. Einzigen), bespielsweise des Königs, aber auch – bezogen auf die Romane Scotts
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Why do ye quake, intimdated Thrones! For, not unconscious of the mighty debt Which to outrageous Wrong the Sufferer owes, Europe, through all her habitable bounds, Is thirsting for their overthrow, [...] . . . . . . […] But less impatient thoughts, And love “all hoping and expecting all,” This hallowed grave demands, where rests in peace A humble Champion of the better cause A Peasant-youth, so call him, for he asked No higher name; in whom our country shewed, As in a favourite son, most beautiful. In spite of vice, and misery, and disease, Spread with the spreading of her wealthy arts, England, the ancient and the free, appeared In him to stand before my swimming eyes, Unconquerably virtuous and secure. (VII, 858–862 u. 867–878)
Unter der Leitung des Pastor findet sich das ‚Volk‘ über dem dead body des Volkshelden zusammen, um den Niedergang einstiger Größe zu beweinen.269 Trotz seiner doppelten Widerrufung des Tragischen weiter oben verfällt der Pastor gegen Ende seiner Friedhofstour also wieder auf eine (politische) Tragödie. Dass eine solche Tragödienpolitik, und noch dazu eine nostalgische, nicht das letzte Wort des Volkstheaters der Excursion sein kann, ist klar. Mit der unmittelbar auf die Oswald-Erzählung folgenden Geschichte eines Ritters, der sich in die abgelegene Gemeinde zurückgezogen hatte und dort gestorben ist, wird nicht nur das Ende des Rittertums beschworen, sondern gleich der Wandel vom elitären, letztlich absolutistischen Konzept des body politic, für das Oswald exemplarisch stand, zum egalitären des social body270 vollzogen – von den Einzelherrschern und ihren Tragödien also zu einer letztlich optimistischen Darstellung des wandlungsfähigen Kollektivs:
(vgl. 5.) – verschiedener weiblicher Charaktere. Für das Konzept einer Repräsentation des Volkes als eines vielgestaltigen Körpers mit unterschiedlichen Organen wird der englische Begriff „so cial body“ verwendet. Vgl. zu dieser Unterscheidung Poovey 1995 (übernächste Anm.). 269 Zur Burke-Rezeption bei der Trauer um Oswald vgl. Schor 1994: 154f. sowie 195. 270 Vgl. Poovey (1995: 7f.), die argumentiert, dass dieses Konzept im 19. Jahrhundert inklusiver ist als dasjenige des body politic, aber auch, ganz wie es in der Excursion geschieht (vgl. 4.3.6), Überwachungs- und Heilungsbedürfnis suggeriert. Poovey erwähnt The Excursion aber nicht, obwohl der Text ein zentrales Zeugnis des Übergangs vom body politic zum social body ist.
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William Wordsworth: Das Theater des Menschen in der romantischen Versdichtung
Their [The Knights’] virtue, service, happiness, and state Expire; and Nature’s pleasant robe of green, Humanity’s appointed shroud, enwraps Their monuments and their memory. The vast Frame Of social nature changes evermore Her organs and her members, with decay Restless, and restless generation, powers And functions dying and produced at need,— And by this law the mighty Whole subsists: With an ascent and progress in the main; (VII, 1018–1027)
Der social body überwindet die tragischen ‚Erinnerungsmonumente‘ nicht nur faktisch, sondern auch programmatisch, steht er doch für ein andersartiges Geschichtskonzept, das den historischen Wandel als langsamen, aber unaufhaltsamen Fortschritt sieht. Mit dieser Einstellung ist ein posttragisches Darstellungsprinzip erreicht, das im Volkstheater der Excursion seine Erfüllung finden soll. Die Heilungsgemeinschaft erzählt sich Geschichten aus dem Volk, die dessen Integrativität und Wandlungsfähigkeit bezeugen und erfahrbar machen. Inhaltlich ist dieses Theater des Volkes in The Excursion noch prozessual: Die anfängliche Modellgeschichte über das „Childless Couple“, die dem Geist dieses Volkstheaters schon entspricht, wird aus den Augen verloren zugunsten eines Rückfalls in die Tragik. Diese muss sodann in einem gemeinsamen Prozess wieder verlassen und das Theater des Volkes wieder erarbeitet werden. Von seinem Vollzug her ist dieser Prozess aber selbst schon Teil dieses Volkstheaters: eine sozial und weltanschaulich offene Erfahrung des Kollektivs unter der Leitung eines gütigen Monarchen. Das Friedhofsritual konkretisiert bzw. konstituiert das Theater des Volkes selbst – und das in seiner von Wordsworth angestrebten Form eines Volkes mit König. Die Gespräche finden nämlich in einer Art Rousseauschen Schweizer Volkstheater statt, das den Pastor als „Father of his People“ und (sanft in das Volk aufgenommenen) König bewusst an seine Spitze stellt: “As ’mid some happy valley of the Alps,” Said I, “once happy, ere tyrannic Power, Wantonly breaking in upon the Swiss, Destroyed their unoffending Commonwealth, A popular equality doth seem Here to prevail; and yet a House of State Stands yonder, one beneath whose roof A rural Lord might dwell.” . . . . . .
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Nor feudal power is there; but there abides in his allotted Home, a genuine Priest, The Shepherd of his Flock; or, as a King Is stiled, when most affectionately praised, The Father of his People. (V, 91–98 u. 102–106).
Es entsteht eine Erlebnisgemeinschaft mit einem symbolischen Zentrum bzw. einem Zentrum der Erzählkraft und der Symbolik, das aus einem – friedlich abgemilderten – feudalen Führungsanspruch erwachsen ist. In diesem Sinne führt der Pastor auch die Erlebnisgemeinschaft auf dem Friedhof diskret an und macht aus dem Dialog mit dem Wanderer oftmals ein monologisches Abschreiten der Gräber ohne ‚Widerrede‘.271 Das unterminiert das intersubjektive emotionale ‚Gemeinschaftserlebnis‘ (im signifikant doppelten Sinne) aber gerade nicht. Vielmehr erwächst aus dieser Kommunikationssituation die Poetik des Textes selbst, die wir im nächsten Abschnitt als zentralen Bestandteil einer Wordsworthschen Kultur des Volkstheaters in den Blick nehmen wollen.
4.3.5 Kultureller Betrieb des Theaters des Volkes: Wandern und Predigen Geht man vom Inhalt der Excursion aus, stehen im Zentrum von Wordsworths Volkstheaterkonzept Kleingemeinschaften, die von einem wohlwollenden und wohlgelittenen Anführer geleitet zu einer Erfahrung des Kollektivs gelangen, die auf dem gemeinsamen Vernehmen von repräsentativen, die Wandlungsfähigkeit und Vielgestaltigkeit des Volkes zum Ausdruck bringenden Viten beruht. Die Frage, die sich ergibt, ist, wie überall im Land derartige Kleingemeinschaften entstehen sollen, die in ihrer Gesamtzahl zuletzt das gesamte Volk umfassen müssten. Wordsworths Antwort auf diese Frage ist indirekt, aber gerade deswegen profund: Fliegender Handel, Predigen – oder The Excursion (vor)lesen und propagieren. In diesem Abschnitt soll es zunächst um die in diesem Text verhandelte Volks(verbreitungs)kultur gehen. Ein von vielen Interpreten beargwöhntes Charakteristikum der Excursion ist Wordsworths Interesse an der Kultur des fliegenden Handels. Gerade die berühmtesten ‚Feinde‘ der Excursion, Jeffrey und Coleridge, haben über die Figur des Wanderer die Nase gerümpft, da dessen Tätigkeit einerseits zu primitiv und seine Ansichten andererseits zu hochtrabend seien.
271 So von der Ellen-Geschichte (s.o.) bis zum Ende des sechsten Buches (vgl. Bushell 2002: 207).
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William Wordsworth: Das Theater des Menschen in der romantischen Versdichtung
Allerdings stützt Wordsworth sich hier auf eine Quelle, die er genüsslich zitiert, da sie ihm das Konzept der Kulturverbreitung bietet, das er braucht. In einer Anmerkung schreibt er: At the risk of giving a shock to the prejudices of artificial society, I have ever been ready to pay homage to the Aristocracy of Nature; under a conviction that vigorous human-heartedness is the constituent principle of true taste. It may still, however, be satisfactory to have prose testimony how far a Character, employed for purposes of imagination, is founded upon general fact. I, therefore, subjoin an extract from an author who had opportunities of being well acquainted with a class of men, from whom my own personal knowledge emboldened me to draw this portrait. […] [“]As in their peregrinations they have opportunity of contemplating the manners of various Men and various Cities, they become eminently skilled in the knowledge of the world. As they wander, each alone, through thinly-inhabited districts, they form habits of reflection and of sublime contemplation. With all these qualifications, no wonder that they should often be, in remote parts of the country, the best mirrors of fashion, and censors of manners; and should contribute much to polish the roughness and soften the rusticity of our peasantry.[”]272
Wordsworth greift den Gedanken einer zivilisierenden Wirkung fliegender Händler in der Excursion auf, transponiert ihn aber zu einem Konzept der Aufnahme und Weitergabe von Volkskultur. Der Gedanke der Zivilisierung der Landbevölkerung wird dabei geradezu auf den Kopf stellt, lernt doch der Wanderer viel eher von der ländlichen ‚Menschlichkeit‘: He wandered far; much did he see of Men, Their manners, their enjoyments, and pursuits, Their passions and their feelings; chiefly those Essential and eternal in the heart, Which, mid the simpler forms of rural life, Exist more simple in their elements, And speak a plainer language. (I, 369–376)
Die „passions“ der Menschen sind, wie Wordsworth im „Preface“ zu den Lyrical Ballads ausführlich entfaltet, auf dem Land stärker vorhanden und intensiver kommunizierbar.273 In der Excursion wird nun weiter ausgeführt, dass ein inten-
272 Wordsworth 2007: 298, Hervorhebung im Original. Diese Anmerkung findet sich in den Ausgaben der Excursion ab 1827 und wird in den Ausgaben davor von Wordsworth, durch eine Formulierung des Bedauerns, das Buch nicht zur Hand zu haben, angekündigt. Die Quelle, aus der Wordsworth zitiert, ist Robert Heron, Observations Made in a Journey Through the Western Counties of Scotland (1793). 273 Vgl. 4.1.1; „passions [...] / Essential“ und „plainer language“ sind wörtliche Anklänge an das „Preface“ (vgl. 4.1.2).
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siver und abwechslungsreicher Kontakt mit dem Landleben, etwa durch regelmäßige und flächendeckende Touren, dem „Wanderer“ einen Reichtum an „our best experience“ (I, 401) ermöglicht hätten, wobei das Possessivpronomen nicht nur anthropologisch, sondern auch national gemeint ist: He had observed the progress and decay Of many minds, of minds and bodies too; The History of many Families; How they had prospered; how they were o’erthrown By passion or mischance, or such misrule Among the unthinking masters of the earth As makes the nations groan. (I, 404–410)
Das Erlebte gleicht hier noch ganz der Tragödie des Volkes, und so nimmt es nicht wunder, dass der Wanderer schon bei der Geschichte Margarets danach strebte, das Tragische seiner Erfahrungen zu bannen. Allerdings benötigte er selbst im Gegenzug eine Therapie des Erzählens, wie wir gesehen haben, um seine Apathie zu überwinden und sodann mit dem Poet, dem Solitary und dem Pastor in ein Theater des Volkes eintreten zu können. Gerüstet durch diesen – gewissermaßen doppelten – Durchgang durch die Tragödie zum Theater des Volkes, kann er nun zum idealen Verbreiter dieses Theaters (und damit nun doch selbst zum Zivilisationsbringer) werden, indem er es fortan bei seinen Touren im Munde führt und so weitere Erzähl- und Zuhörensgemeinschaften stiftet. Nach dem Friedhofserlebnis stilisiert er sich daher bewusst zu einem Nachfolger des Ritters, welcher die Funktion wandernder Kulturstiftung übernimmt, zugleich aber auch übersteigt hin zu größerer Offenheit und Mobilität – ganz im Sinne der Ablösung des statischen body politic, für den das Rittertum in der Excursion ja auch steht, durch einen social body. —“The peaceable Remains of this good Knight Would be disturbed, I fear, with wrathful scorn, If consciousness could reach him where he lies That one, albeit of these degenerate times, Deploring changes past, or dreading change Foreseen, had dared to couple, even in thought, The fine vocation of the sword and lance With the gross aims and body-bending toil Of a poor Brotherhood who walk the earth Pitied, and, where they are not known, despised. —Yet, by the good Knight’s leave, the two estates Are graced with some resemblance.[”] […] (VIII, 36–47)
Das neue (Nach-)Rittertum überwindet dabei einen Gegenwartspessimismus, der die eigene Zeit – letztlich nur aus feiger, reformfauler Nostalgie – für ‚degeneriert‘
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erklärt, und propagiert ein Bewusstsein für den oben zitierten „ascent and progress in the main“ eines wandlungsfähigen sozialen Körpers.274 Zugleich signalisiert der Vergleich mit dem Ritter aber auch einen gewissen Führungsanspruch. Wie der Pastor sieht sich der Wanderer in der Rolle eines Königs aus dem Volk, der die Erfahrung eines egalitären Volkes zulässt und verbreitet, da er sie anleitet und moderiert.275 Eine vergleichbare Führungs- und Propagierungsaufgabe kommt in der Excursion Predigern zu, wenn Wordsworth auch deren Kultur nicht so ausführlich erkundet wie den fliegenden Handel. Indirekt aber ist die Predigt ein zentrales Konstituens des Textes, da sie seine Rhetorik prägt und – im Sinne dramatischer Glaubwürdigkeit – legitimiert. Ausgehend vom Pastor als professionellem Prediger können viele zentrale Äußerungen der Charaktere, auch und gerade des Solitary, der ja den Beruf des Predigers ebenfalls ausgeübt hat276, als bewusste sermons angesehen werden, die in Inhalt und Stil auf Erbauung und Moralisierung einerseits, andererseits aber auch auf die Erzielung eines Gemeinde-, und damit Gruppengefühls abzielen und so eine konkrete (Vortrags-)Kultur zur Erarbeitung eines Volkstheaters bereitstellen.277 Der elaborierte, vielfach als ‚undramatisch‘ kritisierte Stil der Excursion kann daher auf einer höheren Ebene wieder als dramatisch angesetzt werden, nämlich als authentische Wiedergabe bewusst stilisierten und ausführlichen Sprechens.278
274 Vgl. dazu vor allem Langan 1995, die aus dem Wanderer geradezu die Archäologie des modernen Subjekts ableitet, das von seinem eigenen (versprochenen) Überfluss in Bedürftigkeit und damit in Bewegung gehalten wird (vor allem 253–259). Diese Bewegung wird zur Grundstruktur moderner Subjektivität (auch ökonomisch und militärisch etc.) und findet sich etwa im Doppel körperlicher und emotionaler Bewegung wieder. Daher entwickelt die Moderne Repräsentationsformen, die auf die Verknüpfung emotionalen Stresses (beim ‚Schauspieler‘ wie beim Zuschauer) mit medialer Bewegung, „moving images“, angelegt sind. Der Wanderer verbreitet ein mobiles Pathos, wird ein Art mobiler Familienersatz, der die Not-Struktur aber letztlich auch expandiert (254). ‚Moving images‘ in diesem Sinne sind sowohl die ausgetauschten Tragödien als auch die Epitaphe und natürlich der Text selbst. Letztlich teile ich diese Ausbreitungshypothese bis hin zu Langans medientheoretischen Überlegungen zur Einbindung des modernen Individuums, arbeite aber stärker als Langan die Rolle des Wanderer (und des Texts) in der Gemeinschaftsbildung, also die transindividuelle Ebene, heraus, welche vom Austausch zwischen zwei Zuschauer-Akteuren bis hin zum nationalen Kollektiv reicht. 275 Im Gegensatz zum Pastor kommt der Wanderer zwar aus ganz einfachen Verhältnisses „on a small herditary Farm“ (I, 114) in Schottland, wird bezeichnenderweise aber in in Wordsworths Anmerkung zu Robert Herons Text als einer „Aristocracy of Nature“ zugehörig bezeichnet. 276 Vor seiner Rolle als politischer Prediger war der Solitary nämlich Militärpfarrer (II, 186). 277 Vgl. 2.2.2.5. 278 Dieser Aspekt ist daher neben der Interiorisierung von Exempeln früherer Stufen von
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Wordsworth sieht auch die Prediger als mobile ‚Könige‘ an, die – wiederum im Sinne der Intersubjektivität mit einem privilegierten Subjekt – die Gemeinschaftsbildung steuern. Erinnern wir uns: Zentraler Aspekt des Scheiterns eines Volkstheaters im Prelude war die negative Erfahrung, die das An- und Einbindung suchende Subjekt in London mit Politikern und Priestern machte. Diese hielten sich ausgerechnet für ‚Könige‘, verbanden diesen Führungsanspruch aber mit einem kalt-distanzierten Auftreten, das in die revolutionäre Entfremdung ihrer Zuhörer und zum politisch-epistemischen Theater des Einzelnen führte.279 Hier in der Excursion nun verstehen die ‚Priester‘ ihr Königtum richtig, nämlich als integrierte und integrierende Moderation eines Gruppenprozesses. Neben dem Pastor predigt vor allem der Wanderer, nicht nur gegenüber dem Solitary, sondern große Abschnitte des letzten Buches hindurch, die die Philosophie des social body und des Volkstheaters noch einmal zusammenfassen, aber im Sinne ihrer Umsetzung auch ausführen.280 Auch der Charakter des Poet wird zu einem Prediger, nicht nur im Sinne des Textganzen, das er verbürgt, sondern auch in seiner Rolle als Charakter innerhalb der Handlung: In dieser Funktion liefert er nur einige (wenige) Predigten unter vielen anderen. An einigen Stellen überträgt sich diese Äußerungsform vom erlebenden auf ein nicht näher markiertes erzählendes Ich, so dass der Text ‚unvermittelt‘, also ohne Anbindung an einen der Charaktere, zu ‚predigen‘ anhebt. Wichtigste dieser Textpredigten sind die ersten 75 Verse des sechsten Buches, wobei der Abschnitt durch das dort enthaltene Plädoyer für einen Ausbau des Priestertums zur Predigt über das Predigen, zur Metapredigt wird.281 An solchen Stellen schlägt das Theater im Text in das Theater des Textes um, wodurch der wichtigste Aspekt von Wordsworths
Wordsworths Text-Theater (vgl. v.a. 4.3.2 und 4.3.3) die zweite Begründung für die sperrige Äußerungslänge in The Excursion. 279 Vgl. 4.2.1. Dieses Theater des Einzelnen enthielt ja auch den Gedanken, den Staat als Einzelner/Einziger zu repräsentieren, mithin die (post)revolutionäre Variante des body politic. Und genau dieses Prinzip wird ja durch die Excursion auch überwunden hin zum Konzept einer Repräsentation der vielen durch viele. 280 Laut Bushell (2002: 239) widerspricht die (monologische!) Performanz der Abschlusspredigt allen bisherigen dialogischen Prinzipien des Textes. Man könnte aber mit Bushell selbst argumentieren, dass auch die (monologischen) Predigten miteinander und mit anderen Textelementen in Dialog treten (s.o.). 281 Vgl. etwa VI, 56–59: „[...] be that Priesthood still, / For her defence, replenished with a Band / Of strenuous Champions, in scholastic arts / Thoroughly disciplined [...]“. Lyon (1950: 136) zählt eine ganze Reihe von Stellen auf, in denen der Text auf der Vermittlungsebene, losgelöst von der Inhaltsebene, zu predigen beginnt, etwa die „eulogy of church and state“ zu Beginn von Buch IV oder die Ermahnung an die „British Lawgivers“ in Buch IX.
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Volkstheaterkultur eklatant wird: das ‚wandernde Predigen‘ und Moderieren von Volksgemeinden durch den Text der Excursion selbst.
ie Implementierung dieser Kultur durch das Text-Theater: 4.3.6 D Die Excursion und ihre Grenzen Einige der Elemente, die The Excursion selbst zum Theater des Volkes machen, haben wir im Verlaufe der Argumentation schon kennengelernt. Der Text hebt das anvisierte intersubjektive Geschehen erstmals in Wordsworths Œuvre auf die Ebene einer funktionierenden (quasi-)dramatischen Handlung, über die er auch die menschen- und volkskundlichen Grabreden sowie (andere) Predigten kommuniziert. Solchermaßen ist gegenüber früheren Texten an volkstheatraler Kommunikativität viel gewonnen. Weiterhin offen ist aber die Frage nach der ‚Aufführung‘ dieses Theaters, da Wordsworth aus dem Fiasko der Borderers ja gelernt hat und mit der Excursion ein Drama vorlegt, das auf einer Bühne gar nicht gespielt werden könnte, sondern Lesetext bleibt. Entscheidend ist aus dieser Perspektive wieder einmal der Leser für das Funktionieren von Wordsworths Text-Theater. Die Leserwirkung und -steuerung steht im Zentrum von Sally Bushells wichtiger Monographie zur Excursion. Ihre Analyseergebnisse lassen sich insofern in die hiesige Argumentation eingliedern, als auch Bushell, allerdings ohne die Hintergründe und Konsequenzen einer solchen Bestimmung in den Blick zu nehmen, Wordsworths Text als eine Art Lesedrama sieht und dementsprechend die Position des Lesers intensiv und innovativ erkundet. Nach ihrem Dafürhalten ist das Verhältnis des Textes zu seinen Lesern Hintergrund typischerweise das ihrer Aktivierung282, worüber in der Excursion-Forschung aber ohnehin weitgehend Konsens herrscht.283 Bushell zufolge284 bindet der Text den Leser als einen gleichberechtigten Teilnehmer in das Geschehen ein, wofür sie wichtige Belege in den auch hier ana-
282 Vgl. Bushell 2002, insbesondere Kapitel 5 „Making the Reader Active“, 141–178. 283 Vgl. zur Leseraktivierung in der Excursion auch Galperin 1980 sowie 1989: 50–52. 284 Laut Bushell (2002: 117) soll der Leser eine „position of equality in relation to characters within the poem and the poet“ erhalten. Eine bedingte Kontrolle („controlled freewill“) über den Leser will der Dichter aber noch behalten. Die Reaktion, die Wordsworth sich vorstellt, sei eine zwischen „rational and emotional response“ (126) – das gilt vor allem, wie Bushell mit Rückgriff auf die Lyrical Ballads illustriert, für die Reaktion auf menschliches Leid. Ferner wird der Leser laut Bushell (Kap. 5 „Making the Reader Active“, 141–178) – im Sinne Iserscher Rezeptionstheorie – aktiv gehalten, indem entweder verschiedene Reaktionen auf dieselben Erzählungen oder unterschiedliche Erzählungen zum selben Thema/Charakter aufgeboten werden, und der
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lysierten Komplexen der Margaret-Geschichte sowie der Solitary-Heilung findet. In beiden Fällen findet bei intradiegetischen Zuhörern ein profunder emotionaler Wandel statt, der weiter oben als Erfahrung (und Vermittlung) der eigenen Subjektivität gedeutet worden ist.285 Von dieser Deutung aus- und über Bushell hinausgehend kann man argumentieren, dass durch die Funktion dieser Zuhörer als Leserrepräsentanten diese Prozesse auch bei den Lesenden ausgelöst werden sollen. Die Leser können dabei sogar in eine doppelte Intersubjektivität treten, mit den Leidenden Margaret und Solitary einerseits und mit deren im Text vorstrukturierten ‚Lesern‘ andererseits. Auf der Handlungsebene löste die Reaktion auf einen seinerseits auf einen Leidenden Reagierenden auch im Wanderer tiefgreifende Gefühlsprozesse aus, die seine (Inter-)Subjektivitätshemmung überwanden. Zu einem solchen ‚Wanderer‘ kann gewissermaßen auch der Leser werden. Bushell bezieht sich bei ihrer Bestimmung der Lesereinbindung auf einen ein Jahr nach der Excursion erschienenen poetologischen Text Wordsworths, nämlich das „Essay, Supplementary to the Preface“, das 1815 als Einführung zur ersten Gesamtausgabe seiner (bis dahin geschriebenen) Gedichte erschien. In diesem Text macht Wordsworth seine Prinzipien der Leseraktivierung explizit und bindet sie, unbemerkt von Bushell, an die zeitgenössische Tragödientheorie an. Im Rahmen einer Diskussion der künstlerischen Vermittlung von Leid ruft Wordsworth zunächst wieder die tragödientheoretischen Schlüsselbegriffe „suffering“ und „action“ auf, die wir schon aus The Borderers und ex negativo aus dem „Preface“ zu den Lyrical Ballads kennen.286 Auch das „Preface“ konturierte ja die Poetik einer alternativen und zugleich poetisch-textuellen Tragödie – dort in expliziter Befriedung von Handeln und Leid. In der ‚Ergänzung‘ zu diesem „Preface“ 15 Jahre später arbeitet Wordsworth ebenfalls an einer neuen Tragödie – noch immer konzipiert als Lesetext. Er macht deutlich, dass „without the exertion of a co-operating power in the mind of the Reader, there can be no adequate sympathy“, bevor er erklärt, wie diese Ermächtigung des Lesers im Rahmen seiner Tragödie aussehen soll. Dabei lässt er „suffering“ und „action“ zunächst wieder zu: Passion, it must be observed, is derived from a word which signifies suffering; but the connexion which suffering has with effort, with exertion, and action, is immediate and inseparable. […] To be moved, then, by a passion, is to be excited, often to external, and always to internal, effort; whether for the continuance and strengthening of the passion, or for
Leser damit zur Modifikation von Urteilen gezwungen ist. In dieser Hinsicht ist die „Margaret“Geschichte exemplarisch (s.o.). 285 Vgl. 4.3.2 286 Vgl. 4.1.1
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its suppression, accordingly as the course which it takes may be painful or pleasurable. If the latter, the soul must contribute to its support, or it never becomes vivid,—and soon languishes, and dies. And this brings us to the point. If every great poet with whose writings men are familiar, in the highest exercise of his genius, before he can be thoroughly enjoyed, has to call forth and to communicate power, this service, in a still greater degree, falls upon an original writer, at his first appearance in the world. […] Is it to be supposed that the reader can make progress of this kind, like an Indian prince or general—stretched on his palanquin, and borne by his slaves? No; he is invigorated and inspirited by his leader [the writer], in order that he may exert himself; for he cannot proceed in quiescence, he cannot be carried like a dead weight. Therefore to create taste is to call forth and bestow power, of which knowledge is the effect; and there lies the true difficulty.287
Die wahre Tragödie ist die innovative poetry des „original writer“, wie Wordsworth sie für sich in Anspruch nimmt. Diese macht ihren Leser zum aktiven Teilnehmer weniger äußerer als vielmehr innerer Handlungen288, nicht aber indem sie ihm Wissen (oder etwa Bilder) vermittelt, sondern zuallererst, indem sie ihn als vollgültig und vollempfindend Teilnehmenden fordert und einbindet. Dies geschieht durch eine innovative Repräsentation von Leid, die den Leser so weit involvieren soll, dass sein „effort“ im Falle der Excursion, wie wir gesehen haben, die Transzendierung von Leid und damit die Überwindung der Tragödie zum Theater des Volkes umfasst. Der Leser bleibt bei dieser Einbindung weiterhin eine konstitutiv textexterne Größe, aber er übersteigt doch die Adressatenappelle und Einladungen zur Intersubjektivität bzw. zur Identifikation mit Dichterfiguren in den bisherigen Gedichten Wordsworths: Im Gegensatz zu diesen Strategien findet sich der Leser eben nicht nur angerufen, sondern als (fiktionaler) Beobachter/Zuhörer konkret repräsentiert – und gefordert. Dadurch wird er in die in der Excursion dramatisierten Entwicklungen und Wendungen stärker eingebunden, sei es, dass er mit Wanderer und Poet zusammen die Lebendigkeit des totgeglaubten Solitary verarbeiten muss oder aber die intensiven Revisionsprozesse um das richtige Volkstheater mitvollzieht. Im Gegensatz zur (Be-)Deutungsarretierung etwa in „Simon Lee“
287 „Essay, Supplementary to the Preface“, Wordworth 1974: Band 3, 53–107, hier 81f.; Hervorhebungen im Original. 288 Mit der Differenzierung von ‚external‘ und ‚internal effort‘ und der Bevorzugung von letzterem kommt Wordsworth auch wieder auf die Überwindung der Borderers im „Preface“ zu den Lyrical Ballads zurück; dort freilich bezog sich die Absage an Gewalt und (äußere) Handlung nicht auf den Leser/Rezipienten, sondern auf den Akteur der Tragödie und (in Übertragung) auf das Dichter-Subjekt. In beiden Fällen aber geht es letztlich um dieselbe Interiorisierung tragischer Handlungsmacht zu emotional-subjektiver Intensität, denn in Wordsworths intersubjektivem Theater sollen ja an allen Beteiligten dieselben Prozesse ablaufen.
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bietet The Excursion weitaus mehr Stellungnahmen und Standpunkte auf – was entsprechend kritisch-polemisch beäugt wurde. Allerdings handelt es sich dabei um Meinungen, die zum Teil eklatant gegeneinander stehen und entsprechende Kompromissbildungen verlangen. Und in solche Prozesse mag der Leser sich durchaus stärker miteinbezogen fühlen als in die finale Ratlosigkeit von „Simon Lee“. All dies sind Aspekte, die – und das weiß auch Bushell – jeder dialogische Text für sich in Anspruch nehmen kann, und die für sich genommen diesen noch nicht zum Text-Theater machen. Was den Leser tatsächlich zum Besucher eines Theaters macht und vor allem eines Kleingruppentheaters, wie Wordsworth es in der Excursion entworfen hat, ist das Konzept einer gemeinschaftlichen Lektüre des Textes in einer Lesegruppe. Es ist kein Zufall, dass Wordsworth im „Essay, Supplementary to the Preface“ als ergänzende Praxis zu seiner poetry deren Rezitation verlangt: I require nothing more than an animated or impassioned recitation, adapted to the subject. Poems, however humble in their kind, if they be good in that kind, cannot read themselves […]289
An dieser Stelle wird das zentrale Medienparadox des romantischen Text-Theaters explizit konfrontiert: Texte, und allen voran Text-Theater der Intersubjektivität, können sich nicht selbst lesen – sie werden nicht von alleine zu dem, was sie beschreiben. Sie müssen rezitiert, also in einer Gruppe von Zuhörenden vorgetragen werden. Faszinierenderweise erwähnt Bushell eine zeitgenössische, in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen dokumentierte Gruppenlektüre der Excursion im Kreis um den berühmten Chronisten der britischen Romantik, Henry Crabb Robinson.290 Eine Wordsworthsche Kultur zur Aufführung eines Text-Theaters in der sympathetischen Kleingruppe existierte also in Theorie und Praxis, wobei
289 Wordsworth 1974: Bd. 3, 29; meine Hervorhebung. 290 Das laute Vorlesen soll eine kommunale Rezeptionssituation schaffen, bei der die Leser in Relation zueinander treten können (Bushell 2002: 120), selbst eine „conversation“ unternehmen und als Folge daraus einen „sympathetic response“ (122) entwickeln können. Die tatsächlich stattgefundene Gruppenlektüre um Robinson habe dann aber eher Fragen nach dem Wert des Textes, des Dichters sowie des eigenen „response“ (126) aufgeworfen. Dennoch blieb Robinson diese Praxis wichtig – gerade auch als Alternative zur Bühne seiner Zeit: Lyon (1950: 22) zitiert eine autobiographische Äußerung von Robinson, derzufolge er sich aus dem Theater gestohlen habe, um die Excursion-Lesegruppe aufzusuchen! Interessanterweise fanden Gruppenrezitationen bereits 1797 bei The Borderers statt (vgl. Wordsworth 1982: 3f.). Diese umfassten aber nur Wordsworths engsten Zirkel und bezogen sich v.a. nicht auf einen Text, der selbst eine Gruppenkultur entwirft.
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ihre überragende Bedeutung als missing link von Wordsworths Text-Theater des Volkes über Bushell hinausgehend unterstrichen werden muss: Mit dem Modell der Gruppenrezitation der Excursion hat Wordsworth einen Weg gefunden, sein Text-Theater nicht nur in die erkundete Kleingruppenkultur rückzubinden, sondern diese Kultur national auszudehnen. Die Beschränkung der Volkstheatererfahrung auf die intime Kleingruppe macht die Ausdehnung des Volkstheaters auf das Volk zum Problem. Hier kann nun in geradezu idealer Weise ein Text eintreten, welcher medienseitig als Theater zwar auch defizitär ist, dieses Defizit in Kombination mit einer Gruppenrezitation aber überwinden sowie als Text deren Beschränkung nun seinerseits aufheben und zum Katalysator nationaler Ausbreitung des Volkstheaters werden kann – wenn genügend Texte verbreitet werden und sich dementsprechend überall im Land Lesegruppen bilden. Damit würde dieses Volkstheater der gefeierten Vielgestaltigkeit und Offenheit des social body gerade dadurch gerecht, dass es aus einer (variablen) Vielzahl (verschiedenartiger) Lesegruppen besteht. Der situationsabstrakte und damit mobile, aber niemals vollständig theatrale Text und das situtationskonkrete, theatralische, aber per se singuläre, nach außen nicht unmittelbar kommunizierbare und damit immobile Gruppenerlebnis seiner Rezitation finden zusammen zu einer Erfüllung von Wordsworths Theaterträumen in der Intermedialität: TextTheater und Kleingruppenrezitation ergänzen sich ideal, da sie nicht allein, aber zusammengenommen, in pragmatischer und fundamentaler Intermedialität291, zu einem vollständigen Theater des Volks werden können. Die geschwächte ‚starke‘ Drama-Aufführungs-Intermedialität wird von einem dichterischen TextTheater und seinen Rezitationszirkeln ergänzt bzw. ersetzt – zumindest in der Absicht Wordsworths, der dieses Prozess in einer konzentrierten Abfolge von (an sich ‚schwachen‘) Einzelthematisierungen bzw. -imitationen des Theaters in seinen Texten vorbereitet und fundiert hat. Wie wir am Anfang dieses Kapitels festgestellt haben, war The Excursion nicht genügend Erfolg bei den Zeitgenossen beschieden, um diesen Übergang wirklich statthaben zu lassen. Wordsworths exemplarische Ausarbeitung eines romantischen Text-Theaters zeigt allerdings auf konzeptionelle Weise, wie schwache, monomediale Intermedialitäten zu einer neuen fundamentalen Intermedialität werden könnten. Damit wird auch Wordsworths Konzept eines primus inter pares als Moderator seines Volkstheaters weitergetragen. Letztlich ist dieser Moderator zunächst der Text der Excursion selbst, der nach Wordsworths Vorstellung im Zentrum der Rezitation stehen muss, damit das Theater des Volkes sich verbreitet – selbst wenn deren Ergebnisse, etwa die erarbeitete Anthropologie und deren ‚Men-
291 Vgl. 1.3.1.
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schen‘, jeweils andere sind. Der Text der Excursion insgesamt übernimmt damit die Funktion, die Figuren wie der „Wanderer“ und der „Pastor“ textintern erfüllen: die moderierende Anleitung eines durchaus vielstimmigen Gruppenprozesses, der menschliche Natur und britische Nation zugleich erfahrbar machen soll. Damit realisiert die Excursion eine typisch britische Variante eines ‚monarchischen Volkstheaters‘: Einerseits werden die Theaterformen des Politischen – konservatives Theater der Monarchie und revolutionäres Theater des Volkes – miteinander vermischt; andererseits soll die Wahl eines festgelegten situationsabstrakten Mediums und eines ‚festen‘ Moderators das Kippen dieses Theaters in ein Revolutionsspektakel vermeiden.292 In diesem Sinne wird auch der politische Repräsentationsanspruch293 des Volkstheaters auf die Wirkung des Textes selbst ausgeweitet: Das 9. Buch der Excursion macht, ausgehend von der ‚Politik‘ seiner Kleingruppe, ausführliche volksdidaktische und kulturimperialistische Vorschläge zur (inter)nationalen Ausweitung dieser Politik, in Ergänzung zur Verbreitung der Excursion selbst.294 Wordsworth dimensioniert die Excursion dabei als eine Art Text-Parlament, das vor allem die Mittel- und Oberschicht ‚repräsentiert‘; in der Ausführung ist dieses
292 Vgl. 2.2.2.5 und 2.2.2.6. 293 Der politische Repräsentationsanspruch der Excursion ist als Versuch der textuellen SelbstVerfassung einer „community, a nation, an empire“ (Hickey 1997: 149) durch den Text bzw. als versuchte künstlerische Intervention in einen historischen Moment (Dabundo 1988: 13) gedeutet worden. Das folgende Zitat zeigt, dass beide Aspekte zusammen die Politik der Excursion ausmachen. 294 Vgl. zum Diskurs der (Volks-)Erziehung in der Excursion Richardson 1994: Richardson sieht in The Excursion ein widersprüchliches Erziehungskonzept aus moralisierender Rückständigkeit und volksbildender Progressivität am Werk (98–104). Zentral für eine medien- und diskursanalytisch sensible Interpretation des Themas aber ist Hickey 1997, die die Rezeption der Pädagogik von Andrew Bell in der Excursion am ausführlichsten analysiert. Dabei modelliert laut Hickey Bells Prätext selbst schon ein Volkstheater: Wordsworth referiere mit Bells sog. ‚Madras-System‘ nämlich auf ein Theater der Erziehung, das die Eingliederung des individuellen Geistes in die Gemeinschaft beobachtbar mache – dabei entstehe ein politischer Körper, ein Theater des Volkes (vor allem 110, 114f.). Bells System beruhe auf einer hierarchisierten gegenseitigen Überwachung, einer nahtlosen Verschmelzung von Individuum und Gemeinschaft – was an Rousseaus Didaktik erinnere (112). Wordsworths spätere Kritik an Bell relativiere seinen Bezug auf dessen Pädagogik und ersetze ihn durch ein eher individuell orientiertes Modell allmählichen ‚Herausführens‘ (119–121, 123, 128). Laut Hickey nimmt die Performanz des Textes dieses allmähliche Lernen (des besten Lernens) selbst vor (129f.). Ich sehe im Gegensatz dazu diesen ‚Individualismus‘ in der Excursion als durch einen intersubjektiven Austausch mehrerer Individuen überwunden an, der privilegierte Führung und Beobachtung allerdings durchaus noch miteinschließt und damit Volkstheater ebenfalls mit Volkserziehung verbindet.
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Parlament dann aber der (kollektive) Aufruf an das andere, das Londoner Parlament aus dem Munde eines Dichters: [“]Vast the circumference of hope—and ye Are at its centre, British Lawgivers, Ah! sleep not there in shame! Shall Wisdom’s voice, From out the bosom of these troubled times Repeat the dictates of her calmer mind, And shall the venerable Halls ye fill Refuse to echo the sublime decree? Trust not to partial care a general good; Transfer not to Futurity a work Of urgent need.—Your Country must complete Her glorious destiny. […] . . . . . . Shew to the wretched Nations for what end The Powers of civil Polity were given!” (IX, 401–411 u. 418f.)
Die Leser, die dieser Text erreicht, sind ähnlich privilegiert wie der Dichter und bleiben von den anvisierten Disziplinierungsmaßnahmen letztlich ausgenommen, da sie ja über die Text-Gruppen-Kultur verfügen. Die Maßnahmen sind daher problematischerweise für diejenigen reserviert, die die Excursion nicht lesen wollen oder können – die Unterschicht. Dieser soll soll zwar „[t]he rudiments of Letters“ (IX, 300) vermittelt werden; Zieltext ist dabei aber die Bibel und sicherlich nicht anspruchsvolle zeitgenössische Verspoetik. Auch wenn die Excursion über „The Old Cumberland Beggar“ hinausgehend seinen eigenen rituellen Modus erschöpfend dimensioniert und den Text dabei miteinbezogen hat, bleiben die Verbreitungsprobleme des Textes (und damit des Rituals), die wir schon bei der Analyse jener Lyrical Ballad kennengelernt haben, also bestehen: Neben der Mittelschicht ist jetzt vielleicht die Oberschicht mitrepräsentiert, und zwar im Konzept des ‚bedingten‘ Monarchen ebenso wie in der Verbreitung des Textes selbst, die Wordsworth durch eine Widmung an einen Adeligen bewusst auf die Aristokratie auszuweiten versucht.295 Die Unterschicht bleibt von Wordsworths Text-Theater aber final ausgeschlossen und wird letztlich einer rigorosen Überwachungsideologie unterworfen, die über den Geist der Borderers (und auch von The House of Aspen) nicht wirklich hinausgelangt.
295 Die Excursion ist Wordsworths Gönner, dem Earl of Lonsdale, gewidmet. Wordsworth fügt der Excursion sogar ein Widmungsgedicht hinzu, das den Earl als „illustrious Peer“ (Wordsworth 2007: 37) apostrophiert – womit an einer Stelle dem Prelude vergleichbar doch wieder ein textexterner Adressat eingeführt ist.
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In den eben zitierten Worten verklingt die Nationalpredigt des Wanderer und macht einem Naturerlebnis Platz, mit dem die Excursion endet. Es kündigt sich an, dass ein finales Naturtheater, ähnlich wie im Prelude, das Bisherige enthalten, aber auch überbieten soll.296 Das letzte Landschaftsbild der Excursion ist denn auch bewusst als Steigerung angelegt, nicht nur gegenüber dem Rest der Excursion, sondern auch gegenüber dem Mount-Snowdon-Erlebnis im Prelude. We sate reclined—admiring quietly The frame and general aspect of the scene; And each not seldom eager to make known His own discoveries; or to favourite points Directing notice, merely from a wish To impart a joy, imperfect while unshared. . . . . . . […] Already had the sun, Sinking with less than ordinary state, Attained his western bound; but rays of light— Now suddenly diverging from the orb, Retired behind the mountain tops or veiled By the dense air—shot upwards to the crown Of the blue firmament—aloft—and wide: And multitudes of little floating clouds, Pierced through their thin ethereal mould, ere we, Who saw, of change were conscious, had become Vivid as fire—clouds separately poized, Innumerable multitude of Forms Scattered through half the circle of the sky; And giving back, and shedding each on each, With prodigal communion, the bright hues Which from the unapparent Fount of glory They had imbibed, and ceased not to receive. That which the heavens displayed, the liquid deep Repeated; but with unity sublime! (IX, 582–587 u. 590–608)
Schon die initiale Schilderung der Rezeptionssituation betont die Gemeinsamkeit der Vision, die „imperfect while unshared“ sei. Gemeinsam muss diese Vision sein, denn sie ist eine Vision der Gemeinsamkeit: Zahllose kleine Wolken emp-
296 In diesem Sinne relativiert die Frau des Pastor zweimal das Predigen des Wanderer bzw. des Textes an sich: Nach seinem ‚abrupten‘ (IX, 419) Verstummen ergreift sie sofort das Wort und weist auf die Naturschönheiten hin; etwas später relativiert sie sogar explizit die „meditations“ (463) des „eloquent Old Man“ (461) gegenüber den „combinations so serene and bright“ (471), die die Natur biete.
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fangen von der untergegangenen, daher unsichtbar bleibenden Sonne ein Licht, das sie sich untereinander, fast möchte man sagen: intersubjektiv, weitergeben. Dabei sind sie eine „multitude of forms“, Inbegriff uneinholbarer Verschiedenheit, aber doch alle gleichermaßen stark beim Empfangen und Weitergeben von Licht, „in prodigal communion“, wie Wordsworth formuliert. Wiederholt wird die wundersame Einheit in der Spiegelung der Szene im Grasmere Lake darunter, dort aber gewissermaßen ‚sublimiert‘ zu einer „unity sublime“. Natürlich soll dies ein Bild der volkstheatralen Kleingemeinschaft sein, welche einerseits intersubjektiv Emotionen und Subjektivitäten austauscht, anderseits aber auch in der Lage ist, daraus eine Einheit zu schaffen, den Eindruck einer Volksgemeinschaft, welcher unter ihr noch einmal gespiegelt, repräsentiert wird. Erwartbarerweise gibt es in dieser Szenerie auch einen Monarchen, die Sonne, die alledem erst das Licht, das Material zum Austausch gewissermaßen, spendet. Und in wunderbarer Konsequenz ist dieser König „abgesunken“, und damit per se unsichtbar bzw. unauffällig („unapparent“), geworden.297 Wie im Theater des Mount Snowdon schafft Wordsworth hier einerseits das Bild eines (diesmal intersubjektiven) Wahrnehmungsvorgangs, andererseits aber auch ein Bild von der Bildlichkeit dieses Bildes, als Spiegelung des Ganzen im See nämlich. Problematisch ist hier die Tatsache, dass ausgerechnet ein intersubjektives Geschehen und noch dazu dessen je unterschiedliche Wahrnehmung bzw. Prägung durch das einzelne Subjekt in einem einzigen Bild zum Ausdruck gebracht werden sollen. Letztlich wendet sich die drohende Aporie aber dadurch ab, dass dieses Naturbild nur als Zugabe zu einem bereits funktionierenden Volkstheater verstanden wird und nicht eines seiner zentralen Erfüllungsmomente ist wie der Mount Snowdon im Prelude. Einerseits ist dieses Bild also ein dezentraler Moderator eines ansonsten intersubjektiv und zumindest teilweise selbstregulierend ablaufenden Geschehens. Andererseits thematisiert das Bild selbst den Bezug zu einem ‚Anführer‘ als durchaus entlastend, gibt es doch ganz behaglich Kunde davon, dass all dies auf dem Licht eines Sonnenkönigs bzw. Sonnengottes von außen und nicht auf den Wölkchen (als den ‚Subjekten‘) selbst beruhe. Die-
297 Hickey 1997: 122f. liest diese Stelle als Erzielung eines Bellschen (Erziehungs-)Theaters der Gemeinschaft inklusive privilegierter Zuschauerposition. Ferner dramatisiere das Bild die Schwierigkeiten, eine gemeinsame Vision zu erreichen und das Subjekt hinter sich zu lassen. Die Quelle der Gemeinsamkeit sei ja gerade eine „unapparent fount“ (155f). Alderman 2005 sieht das Bild als bewussten Verweis auf eine Vermittlung von Universum und Gemeinschaft nur in der/ qua Repräsentation (basierend auf der realen Abwesenheit dieser Einheit!) und setzt sie zugleich als Gegenteil von Mount Snowdon an, wo Natur und Kunst nach seinem Dafürhalten zusammenarbeiten (36–38). Allerdings lese ich eher den Mount Snowdon als Reflexion auf die problematische eigene Künstlichkeit und sehe diese Problematik als hier überwunden an.
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ses Bild und die in ihm und von ihm symbolisierte Führung entlasten also vom Selbstbezug, sind dabei aber selbst nicht unersetzlich. Damit überwinden sie die Abhängigkeit des isolierten Subjekts im Prelude von einer Selbstbegegnung in ‚nachträglichen‘ textuellen Bildern auf doppelte Weise. Wir sind nicht auf uns selbst zurückgeworfen, sondern erfahren uns gruppenweise und unter Moderation, die von einem literarischen Text und seinen Bildern durchgeführt werden kann, aber eben nicht muss. Die Mobilität des Führungsprinzips, seine Realisierung in vielen kleinen Kontexten als lokale, je unterschiedliche Führung von Kleingemeinschaften ist seine Stärke. Aus der konzeptuellen Öffnung, Mobilisierung, des Prinzips der Mobilität selbst erwächst aber eine letztlich schon nachromantische Relativierung der Kunst. Die Excursion und der ‚Dichterfürst‘ Wordsworth, der sie schrieb, sind sicher besonders berufene Anführer bzw. Verbreiter der Volkstheatergemeinschaften, Anführer-Anführer gewissermaßen; das Wichtigste für Wordsworth ist aber letztlich die Propagierung des Prinzips lokaler und lokal angeführter Mensch- und ‚Brite‘-Seins-Erfahrung. Und die sich daraus ergebenden Aufgaben können neben der Kunst letztlich auch andere Diskurse, Religion und Bildungswesen etwa, übernehmen. Dieses Prinzip bleibt insofern ein Theater, als es auf dem moderierten intersubjektiven Austausch menschlicher bzw. nationaler Exempla zwischen körperlich kopräsenten Subjekten beruht. Diese benutzen zu ihrer Moderation die Excursion oder etwas/jemand anderen, das/der/die seinen Geist teilt, und arbeiten damit den Rousseauschen Entwurf eines alternativen Theaters ohne Bühne zu einer umfassenden Theaterpraxis aus. Diese ist freier als das herkömmliche Theater, unterstellt sich aber jenseits von Rousseaus Vorstellungen einem begleitenden Moderator bzw. Text. Wordsworths Werkverlauf von den Borderers, über die Lyrical Ballads und das Prelude bis hin zur Excursion ist somit die Erarbeitung eines romantischen Text-Theaters – eine neue Perspektive auf ein zentrales romantisches Werk und dessen Zusammenhalt. Indem dieses Theater aber je nach Perspektive die Kunst entweder transzendiert oder totalisiert, akzeptiert es das künstlerische Medium, das diesen Vorschlag entwickelt, zwar als Teilnehmenden, benötigt es aber nicht mehr unbedingt. Gerade im Moment seiner Erfüllung übersteigt Wordsworths Theater nicht nur die Möglichkeiten der Bühne, sondern zuletzt auch des poetischen Text-Theaters, das zu seiner Fassung erfunden wurde. Im Jahre 1814 tritt Wordsworths Versdichtung im Augenblick der Realisierung ihrer kühnsten Träume zugleich an ihre Grenze und ihre Selbstaufhebung. Das bedeutet aber nicht, dass das alternative literarische Theater der Romantik damit insgesamt vorbei wäre. Vielmehr unternimmt es jetzt einen Genrewechsel, durch den das überbordende Theaterkonzept wieder eingefangen und in einem anderen literarischen Genre zur Geltung gebracht werden kann. Diese Relite-
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rarisierung hat aber zur Folge, dass die eingesetzten Texte gesellschaftlich und diskursiv weiter reichen müssen als Wordsworths Versdichtung, also populärer sein und mehr von dem übernehmen müssen, was Wordsworth zum Beispiel an das Bildungssystem delegiert. Die Rede ist hier vom historischen Roman, der mit Waverley 1814 das Licht der Welt erblickt und zugleich das Staffelholz romantischer Texttheatralität übernimmt.
5 W alter Scott und das Roman-Theater: Subjekt, Monarch, Volk 5.1 Einführung: England in 1814 Das romantische Text-Theater erhält seit 1814 und in Reaktion auf The Excursion starke Impulse durch die historischen Romane Walter Scotts. Scotts Romane sind eine neue Form der Literarisierung romantischen Theaters, die die in der Excursion unerfüllt gebliebenen Desiderate aufgreift: The Excursion verschiebt die von ihr anvisierte Volkserziehung letztlich auch auf Diskurse außerhalb der Literatur und suggeriert zugleich, dass das durch den Text vertretene (Theater-)Modell der Gesellschafts- bzw. Nationenbildung ebenso durch andersartige Praktiken umgesetzt werden könnte als das Gedicht selbst. Scott möchte dagegen den didaktischen Aspekt wieder stärker in den literarischen Text, das literarische Theater, aufnehmen und es zugleich als Medium leichter zugänglich und besser verbreitbar, also populärer gestalten als die recht elitäre romantische Versdichtung. Hand in Hand damit geht das Bestreben, das exoterische Theatermodell Wordsworths wieder eindeutig literarisch zu medialisieren, nicht zuletzt, da Scott, wie wir sehen werden, theatrale Gruppenerfahrungen eher literarisch virtualisiert als von körperlichen, kopräsenten Subjekten ausagiert sehen will. Wie Wordsworth ist er daran interessiert, das Kollektiv bzw. die Nation nicht nur zu besprechen, sondern auch anzusprechen. Im Mittelpunkt seiner Romane steht aber eine Thematisierung und Theatralisierung des Kollektiven auf der Inhaltsebene, wobei das Kollektiv letztlich – in deutlichem Unterschied zu Wordsworth – individualisiert rezipiert werden soll. Daneben lernt Scott bei Wordsworth den Gedanken einer Überwindung der Volkstragödie kennen, welche ja in The Excursion auch die innernationalen Konflikte verfeindeter Volksgruppen, näherhin Jakobiten und Königstreuen umfasst.1 Ersetzt werden soll dieses tragische Theater laut Wordsworth durch ein heiter-offenes Theater des Volkes unter der Führung eines sanft ab- und ins Volk eingesunkenen Monarchen – aufgesplittet allerdings in ebenso sanft geführte Kleingruppen. Dieses Theater wird von Scott deutlich problematisiert und dann neu erarbeitet – und zugleich neu medialisiert: Ein (eher) traditioneller, starker König tritt vor das ganze Volk bzw. zumindest vor eine deutlich größere Repräsentation des Kollektivs als bei Wordsworth. Scott thematisiert demnach auf der Inhaltsebene ein stärkeres politisches Begeh-
1 Dies ist einer der Kerngedanken des Romans Waverley, vgl. 5.2.2.
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ren und folgenreichere politische Prozesse als Wordsworth, umgeht zugleich aber (potentiell politische) Gruppenprozesse bei der Rezeptionssituation durch deren Virtualisierung.2 Allerdings muss diese Innovation Scotts ein Problem beseitigen: Weil bei Wordsworth der König nur noch ein führendes Gruppenmitglied, ein primus inter pares, ist, kann sein Theater gesellschaftliche Unterschiede thematisieren und bei entsprechender Multiplikation der Gruppen einem Theater des social body zustreben. Da Scott aber den König ‚stark‘ zurückbringen möchte, läuft er Gefahr, dass dieser dem Kollektiv nicht als Teilnehmer, sondern letztlich als deren (einzige) Repräsentation gegenübertritt. Das Volk droht wieder im König aufzugehen; die Gefahr des Rückfalls in den body politic und dessen Tragik, die in The Excursion an Oswald ja überwunden wurde3, erwächst. Sein Theater ist also eines, das den König nicht einfach nur einordnet und mitführt, sich aber gerade deswegen auch selbst im König aufzuheben droht. Scott bannt diese Gefahr, wie wir sehen werden, durch das Konzept einer Intersubjektivität von König und Volk, die in ihrem endgültigen Funktionieren auf einer sorgfältigen Ausbalancierung des politischen und des natürlichen Körpers des Königs, seinem Status als ‚Einziger‘ und als ‚Einzelner‘, beruht. Ausgangspunkt der hiesigen Untersuchung von Scotts Text-Theater im Anschluss an Wordsworth ist wiederum eine bereits von den Zeitgenossen verzeichnete sowie von der modernen Forschung eingehend untersuchte Theaterhaftigkeit von Scotts Texten. Scott selbst scheint größtes Interesse an einer Rezeption seiner Romane als theaterhaft gehabt zu haben, denn er lancierte Theatralität in einer anonymen Rezension seiner eigenen Romane in der Quarterly Review von 1817 geradezu als ihr Programm: There may be something of a system in it […] for we have remarked, that with an attention which amounts even to affectation, [the author] has avoided the common language of narrative, and thrown his story, as much as possible, into a dramatic shape. In many cases this
2 Vgl. Ward 1998: 210f. mit Verweis auf Marilyn Butler 1981: 109–111: Die Romantik und insbesondere die Romane Walter Scotts entwickeln ein breites Politikverständnis, das die Vorgänge und Bedürfnisse der ganzen Gesellschaft berücksichtige. Ward referiert dabei auf die Rolle der Literatur als Trägerin einer solchermaßen breiten Politik, aber er betrachtet sie mehr auf der Inhaltsebene, etwa in ihrer provokativen Darstellung von ‚niederen‘ Politikern. Die Potentiale, aber auch die Grenzen einer Politik (in) der Literatur bekommt er damit aber nicht in den Blick. 3 Vgl. 4.3.4. Oswald ist zwar kein monarchischer body politic, sondern einer aus dem Volk; allerdings überwindet Wordsworth in The Excursion zusammen mit der Tragödie des Volkes ja auch die Tragödie des Monarchen – in Sinne eines sanften, posttragischen Absinkens einer monarchenähnlichen Figur in das Volk, wie sie der Ehemann des „Childless Couple“ bzw. der Pastor selbst sind.
Einführung: England in 1814
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has added greatly to the effect, by keeping both the actors and action continually before the reader, and placing him, in some measure, in the situation of an audience at a theatre, who are compelled to gather the meaning of the scene from what the dramatis personae say to each other, and not from any explanation addressed immediately to themselves.4
Diese Richtungsvorgabe hat die Rezeption der Scottschen Romane zutiefst geprägt, allen voran die Behauptung, Scotts Romane erzeugten beim Lesen einen Effekt, der dem Zuschauen im Theater ähnele, hätten also eine theatralische Wirkungsästhetik. Diese Art der Theatralität ist nicht nur von Scotts Zeitgenossen kommentiert5, sondern auch von der Forschung schon eingehend diskutiert worden. Scott hat ein theatralisches Darstellungspotential des Romans postuliert und damit populär gemacht hat. Georg Lukács hat diese Theatralisierung des modernen Romans in seinem bahnbrechenden Buch zum historischen Roman in den Zusammenhang einer Abwanderung des Dramas in den literarischen Text gestellt, die wiederum stark im Einklang mit den Grundüberlegungen der vorliegenden Studie steht: Fehlen im gesellschaftlichen Leben die Voraussetzungen zu[m] […] Aufgipfeln der an sich dramatischen Formen zum wirklichen Drama, so brechen sie in Richtungen durch, die einerseits die dramatische Form problematisch machen, andererseits in andere literarische Formen dramatische Elemente hineintragen. Beides ist besonders in der Literatur des 19. Jahrhunderts sichtbar. [...] Balzac hat dann – mit spezieller Berufung auf Walter Scott als den Initiator – das Dramatische als ein unterscheidendes Merkmal des neuen Romantypus im Gegensatz zum früheren herausgehoben.6
4 Zit. nach Glaubitz 2003: 159. Die umfangreiche Rezension ist eine Koproduktion Scotts mit zwei weiteren Autoren, das Gesamtergebnis aber sicherlich in seinem Sinne. 5 Brown 1979: 28 zitiert eine Rezension von Francis Jeffrey, in der dieser ausdrücklich die „dramatic or picturesque representations“ über die stellt, in denen, wie auch Wordsworth es im „Preface“ formuliert, der „author speaks in his own person“. Weitere Zeitgenossen, die Scotts ‚Dramatik‘ diskutiert haben, sind insbesondere Edward Bulwer-Lytton (1833) und Stendhal (1823): Stendhal sieht die Romane Scotts als einen Vorreiter einer (noch unerfüllten) romantischen Dramatik, seine Romane seien „de la tragédie romantique, entremêlé de longues déscriptions“ (zit. nach Warning 1999: 90). Bulwer-Lytton konkretisiert diese Vorreiterrolle zusätzlich, indem er für das romantische Drama einen notwendigen Bezug zum Populärdrama konstatiert, der sich in Scott eben gerade auch finde: „What the ballads of Monk Lewis were to Scott, the melodrames [sic], whether simple or gorgeous, should be to the future Scott of the drama.“ (Bulwer-Lytton 1833, 155f.). Und da Scott ja nicht nur Schauerballaden, sondern insbesondere auch das „[gorgeous] melodrame“ rezipiert hat, stellt sich die Frage, ob er die Erfüllung des romantischen Theaters nicht bereits selbst ist! 6 Lukács 1965: 149. Das „Aufgipfeln“ bestehe etwa in der Repräsentation des eminent theatralischen Phänomens der Revolution. Lukács sieht Scotts historische Romane, wie den modernen Roman insgesamt, stark auf das Drama und dessen Tradition bezogen, ganz im Gegensatz zur
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Walter Scott und das Roman-Theater: Subjekt, Monarch, Volk
Davon ausgehend hat sich insbesondere die deutsche Anglistik Konstanzer Provenienz mit der Theatralität der Romane Scotts beschäftigt.7 Wolfgang Iser sieht Scotts Romanästhetik als doppelt dramatisch und weist zugleich auf die epistemische Funktion dieses Dramas als anthropologisch verbindlichen Vermittlung von menschlich erlebter Vergangenheit, also Geschichte, hin.8 Isers Schüler Horst Tippkötter sieht im Anschluss daran ebenfalls Dramatik als das zentrale Darstellungsmittel von Scotts Romanen, verzeichnet als ihre Funktion aber vor allem „Unterhaltung“, die den historischen Roman gar als Vorläufer des Films erscheinen lässt.9 Auf seine Unterscheidung von ‚bildhaft-statischen‘, ‚bildhaft-
Antike, wo Tragödie und Epos streng getrennt gewesen seien (Lukács 1977: 175f.). Er weist auf die Tradition hin, Scott in die Nachfolge Shakespeares zu stellen. Mit seiner Konzentration auf Konfrontationen sei das (moderne) Drama zwar die ideale Darstellungsform für Revolutionen (Lukács 1977: 185), in der Literatur des 19. Jahrhunderts würden die großen Revolutionen der Zeit aber im Medium des Romans theatralisiert. 7 In der britischen und amerikanischen Anglistik gibt es vergleichsweise wenige Untersuchungen zur Theatralität der Romane Scotts, auch weil Lukács in die dortige Scott-Forschung weniger stark hineingewirkt hat. Robert C. Gordon (1969) spricht von einer „openness to invasions from other forms as well as [a] frequent imitation of those forms“ (vii) als typisch für den Scottschen Roman. Er konkretisiert diese Imitation insbesondere als „lifelong indebtedness to the drama“ (7), die sich in einer „inclination toward the oral and the mimetic“ zeige. „[T]he theatre supplied Scott with models of scenic presentation, and his novels often reveal a remarkable scenic competence.“ (8) Gordon verzeichnet dabei wie Lukács, dass Scott das Theater seiner Zeit überstieg: „there is more good theatre in Scott than in the theatre he knew.“ (8) Eine weiteres Beispiel einer Analyse der Theatralität von Scotts Romanen aus der angloamerikanischen Forschung ist James Chandlers Buch England in 1819 (1998): Chandler argumentiert bezüglich Scott, dass dieser in seinen Romanen die Verdichtung der Geschichte in ‚dramatistischen‘ (Kenneth Burke) Szenen bzw. ‚Fällen‘ analysiere, und geht von dort in Ansätzen zur Konzipierung eines Scottschen Text-Theaters über, auf die wir noch eingehen werden (Chandler 1998: besonders Kap. 5 „Reopening the Case of Scott“ 303–349). 8 Iser 1964 sieht in Waverley diese doppelte Dramatik, da einerseits die Phantasie des Helden die Geschichte in epistemologisch notwendiger Weise dramatisiere, um sie überhaupt erfahren zu können; andererseits bezeichne Scott die Geschichte selbst schon als „drama of past ages“, deren „Darsteller und Sprecher“ Waverley nur noch verlebendigen müsse (151). 9 Tippkötters Monographie (1971) erkundet alle Wirkungsaspekte von (Scotts) Roman-Theatralität eingehend. Er geht dabei vom Begriff des Pittoresken aus. Scott selbst unterscheide zwischen einem „picturesque in action“ und einem „picturesque in scenery“ (157). Ersteres beziehe sich auf besonders (und ähnlich wie Landschaften) kontrastreiche Geschichtsepochen, wobei Scott das Erlebnis der Geschichte Schottlands als Paradigma des Erlebens von Geschichte an sich herausarbeite (174f.). In diesem Kontext werde der passive Held zu einer Art Rückenfigur der Leserwahrnehmung und die Wahrnehmung der Geschichte mit (visueller) Anschauung assoziiert. Das Pittoreske in Aktion ist also weniger von der Malerei als vom Drama beeinflusst (176f.). In diesem Sinne definiere Scott in seinem „Essay on Drama“ den Romancier als Auslöser von Dramen in der Imagination seiner Leser, die die Kapazitäten der tatsächlichen Dramatik
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bewegten‘ und ‚szenisch-dramatischen‘ Erzähleinheiten wird bei der Analyse von Woodstock zurückzukommen sein.10 Ein anderer Iser-Schüler, K. Ludwig Pfeiffer, verbindet, so könnte man sagen, Isers Anthropologie mit Tippkötters Unterhaltung: Scott, so Pfeiffer, problematisiere letztlich die Umsetzbarkeit des menschlichen Begehrens sowohl nach Evidenz als auch nach Unterhaltung im Roman und verweise daher von sich aus auf eine (inter)mediale Vervollständigung des in den Romanen Dargestellten im Medium der Oper.11 Nicola Glaubitz, ihrerseits Schü-
weit überstiegen (177). In der Folge analysiert Tippkötter dann durch Textinterpretationen eingehend das Wechselspiel von Aktions- und Landschafts-Pittoreskem bei Scott. Dabei gehe es Scott zunächst um die Konstruktion einer möglichst zeitnahen, also authentischen, aber auch lesernahen, also mittleren Perspektive (181 und 185). Die zeitgenössische Kritik (s.o.) erkenne in diesem bereits einen „spectator“ (und eben nicht „actor“ oder „sufferer“) in Smithschem Sinne (185). Perspektive und Psychologie dieses Helden treten laut Tippkötter in den Mittelpunkt (191), auch wenn Scott zur Unterstützung durchaus Perspektiven von Nebenfiguren, etwa zur rahmenden Einführung, einsetze (195). Der Einsatz spezifischer „Erzähleinheiten“ (198, vgl. die folgende Anm.) führt, so Tippkötter summarisch auf S. 210f., zu einer Art Zusammenschnitt eines historischen ‚Films‘ in der Imagination des Lesers – womit die dramenübersteigende und fantastische Qualität des Rezeptionsprozesses ein mediales Korrelat erhält. 10 Laut Tippkötter besteht der Scottsche Roman aus einer „Reihe kürzerer oder längerer, perspektivisch eingegrenzter ‚Erzähleinheiten‘ (198). Eingeleitet werden solche Szenen von deskriptiven Passagen, die dem Landschafts-Malerischen entstammen, aber auch historische Hintergrundsbeschreibungen oder Charaktereinführungen sein können. Gerade letztere sollen das Imaginativ-Dramatische an Scotts Romanen rahmen und entsprechend herausstellen, laufen aber Gefahr, die Leserimagination durch Überlänge eher zu hemmen (200). Neben diesen ‚bildhaft-statischen‘ (vor allem Landschaftsbeschreibungen) und den ‚bildhaft-bewegten Erzähleinheiten‘, den „moving pictures“ (200f.), spricht Tippkötter sodann noch von ‚szenisch-dramatischen Erzähleinheiten‘, d.h. großen, historisch bewegenden Dialogen u.ä. (204), die „the picturesque of character“ herausarbeiten. Alle drei Arten aber sind ähnlich aufgebaut und vor allem perspektiviert, meist auf den sog. ‚mittleren Helden‘ hin (207), der in der vorliegenden Studie als exemplarisches Subjekt in Scotts Theater interpretiert wird. In der Folge setzt Tippkötter die englischen von den schottischen Romanen aber negativ ab und unterstellt ersteren eher „moralisierend-wertende Beschreibung“ (225) anstelle der szenischen Darstellung. Meine Analyse von Woodstock soll dieses etwas vorschnelle Urteil gerade durch (wenn auch historisch kontextualisierende) Anwendung der Tippkötterschen „Erzähleinheiten“ widerlegen (vgl. 5.3.3.4). 11 Pfeiffer (1999), der sich auf Iser und Tippkötter bezieht, analysiert die intermedialen Strategien von Scotts Roman The Bride of Lammermoor von 1819. Der Roman inszeniere letztlich die Unmöglichkeit narrativer (und historischer) Kohärenz sowie der Erfahrbarkeit eines Charakters im Medium des Romans (103). Dabei konfrontiere The Bride of Lammermoor überdetaillierte, ziellose Beschreibungen mit melodramatischen Momenten von „Pseudo-Unmittelbarkeit“ (105). Der Roman versage sich selbst zuletzt aber die Evidenz auf historisch-diskursiver wie melodramatischer Ebene und dränge von sich aus zu Momenten der Selbst-Evidenz, wie sie die Oper des 19. Jahrhunderts entwickelt habe. Das gedruckte Wort des (Scottschen) Romans erkenne sein Angewiesensein auf intermediale Strategien und laufe Gefahr, „sich nur schwer als selbstgenüg-
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lerin von Pfeiffer, greift all diese Überlegungen im Kontext ihrer ausführlichen Thematisierung des Einflusses zeitgenössischer Kulturanthropologie auf den schottischen Roman um 1800 auf12 und konstatiert eine Doppelstrategie Scotts, die die These der vorliegenden Studie zum literarischen Theater der Romantik bestätigt und sich auch mit den in 3.2.2 erarbeiteten Überlegungen zu Scotts eigenem Vorspiel auf dem Theater deckt. Glaubitz stützt sich dabei implizit auf die These Lukács’. Für Scott […] erwies sich die Kluft zwischen dem anerkannten, dichterisch hochwertigen romantischen Lese- und Problemstück [...] und ‚niederen‘, aber spektakulären Formen des Theaters als kaum überbrückbar. Scott wählte den Kompromiss, anonym ‚dramatische‘ Romane zu schreiben und bei ihrer Umarbeitung in ‚musical plays‘ zu assistieren. (183)
Mit dieser Aussage ist Scotts Text-Theater denn auch in seinen Grundzügen bereits umrissen: Scotts Romane sind Lesedramen im Medium des historischen Romans. Ihre Rezeption aber führt zum Bühnentheater zurück und schließt von daher, wie auch die vorliegende Studie herausarbeiten wird, von sich aus die Kluft zwischen dem alternativen literarischen Text-Theater der Romantik und der Bühne.13 Wenn
sames Medium einrichten und halten“ zu können (107). Zur Weiterführung dieser Thesen hinsichtlich einer Scottschen Text-Theatralität vgl. die folgende Anm. 12 Glaubitz (2003) untersucht vor allem „medienreflexive Aspekte“ von Scotts theatralisch-dramatischen „Darstellungsstrategien“ (156). Im Zuge dieser Untersuchung fasst sie die ihr vorgängige Forschung zu diesen Strategien, von Iser bis Pfeiffer, erstmals zusammen. Glaubitz geht wie Pfeiffer über Tippkötters Analyse hinaus, indem sie in Scotts Romanen „Qualitäten und Defizienzen des Schreibens“ gegenüber dem theatralen Modus (168), also die Möglichkeiten und Grenzen des in ihnen vorgenommenen Text-Theaters, reflektiert sieht. In diesem Sinne problematisiert sie im Anschluss an Pfeiffer die bei Tippkötter so wirkungsvolle Zusammenarbeit von deskriptiver und unmittelbar-szenischer Theatralität und bezieht diese Formen der Theatralität zudem auf die zeitgenössische Bühnenkultur. In den von ihr analysierten Romanen Old Mortality und The Bride of Lammermoor sieht Glaubitz eine Entwicklung von klar perspektivierten Theatermomenten hin zu eher disparaten, semantisch schwer faßbaren und perspektivisch losgelösten Beschreibungen ‚schauriger‘ Versatzstücke (173), deren „romanzenhaften oder melodramatischen Konventionen zufolge erwartbare Auflösungen ausbleiben“ (174). Im Gegensatz zu diesen Effekten stehen Momente „diskursiver Problemerörterung“ (182), die diese in Richtung ernster Literatur und des legitimate drama übersteigen. Glaubitz sieht als das Zielmedium der Scottschen Romane also weniger die Oper als das Sprechtheater – wobei sie den textuellen Status von Teilen dieses Theaters durchaus anerkennt und auch für Scott postuliert, er habe mit dem ‚legitimen‘ Anteil seines Theaters im Roman verbleiben wollen. 13 Scotts Schaffen für das Theater war zwischen 1800 (Abfassen von House of Aspen) und 1814 (Veröffentlichung von Waverley) als Intendant und Regisseur zwar weitergegangen, aber ohne dass er seine zentrale Beschäftigung, nämlich das Abfassen von Texten, eingebracht hätte. Als
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das literarische Theater in den 1790er Jahren in den Text abwanderte, so kehrte es mit Dramatisierungen von Scotts Romanen wieder zur Bühne zurück, um die dortige Kultur mit dem in der Zwischenzeit im Text Erarbeiteten zu beeinflussen. Wie genau dieses Interregnum eines literarischen Theaters als Text-Theater aussah, ist Thema der vorliegenden Studie und – bezogen auf Walter Scotts Romane – dieses Kapitels. Zur Rückkehr der Romane zum Bühnentheater wird demnach am Ende des Kapitels zurückzukehren sein. Bis dahin muss zusätzlich zu dem von Glaubitz und anderen Geleisteten eine Untersuchung von Scotts Aufgreifen zeitgenössischer politisch-epistemischer Theatermodelle hinzukommen, da diese wie bei Wordsworth das Besondere und über die zeitgenössische Bühne Hinausweisende von Scotts Text-Theater ausmachen. Trotz ihrer bahnbrechenden Analyse des Bezugs von Scott zur zeitgenössischen Bühnenkultur interessiert sich Glaubitz relativ wenig für Scotts Rezeption von Theaterkonzepten jenseits der Bühne, auch wenn sie „semantische[...], realistische[...] und politische[...]“ Dimensionen der Theaterszenen in Scotts Romanen andeutet.14 Insgesamt hat die ScottForschung vor allem das Wirken einer quasi überzeitlichen Theatralität auf der Vermittlungsebene der Texte analysiert; die (auch inhaltliche) Thematisierung zeitgenössischer Theatermodelle in den Romanen Scotts und deren möglicher Wirkung auf die Vermittlungsebene (im weiten Sinne von textuellem discours und der Kommunikation durch das Buchmedium) blieb dagegen – mit der Ausnahme des erwähnten Giddings, eines Aufsatzes von Paul Hamilton zu Waver-
Regisseur inszenierte er z.B. 1810 (Garside 1991: 45) die Tragödie Family Legend von Joanna Baillie, was ihn zu einem umfassenden Bühnenentwurf der Highland-Kultur veranlasste (vgl. Craig 2001: 13). Allerdings ist diese Arbeit auch als Vorbereitung eines sich gleichzeitig entwickelnden Text-Theaters zu sehen. Zur selben Zeit nämlich, ab 1808, mit Fortsetzung 1810 und Vollendung 1813–1814 schrieb Scott Waverley (Scott 2007: 367), einen Roman, der die Highland-Kultur in viel umfassenderer und weiterreichender Weise theatralisierte. Daher wird Waverley in dieser Studie als zentrales Beispiel für Scotts Text-Theater analysiert (vgl. 5.2.2). Interessanterweise schrieb er zwischen 1800 und 1810, gewissermaßen parallel zu Wordsworth, auch Versdichtung, etwa die seinerseit sehr berühmten Texte The Lay of the Last Minstrel (1805) oder The Lady of the Lake (1810). Die vorliegende Studie konzentriert sich aber auf die historischen Romane als Reaktion auf Wordsworths versdichterisches Text-Theater und als seine Weiterentwicklung. 14 Glaubitz 2003: 177. Glaubitz bezieht sich hier auf Giddings 1983, der als Theatralitätsmodell weniger für die Romane Scotts als vielmehr für deren Vertonungen die Konzeption eines ein ganzes Volk (Kollektiv) umfassendes Nationalgefühl ansetzt (Giddings 1983: 197f.). Die Ausweitung der Kleingruppe zum Kollektiv, die Giddings mit dem Übergang von „‘gentlemen’s wars’“ zur mobilisierten Nation (198) fasst, steht dabei auch im Zentrum der Analyse zentraler Scottscher Romane und ihrer Theatralität in dieser Studie.
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ley15 und einer kurzen Analyse desselben Romans durch Michael Ragussis in seinem Buch Theatrical Nation16 – weitgehend unbeobachtet. So legt Craig 2001, ein weiterer bedeutender Beitrag zu Scottts Theatralität, zwar den Grundstein der Analyse eines Theaters des Politischen in Scotts Romanen. Aber da er es nicht historisch kontextualisiert, gerät dieses Theater zum Ausdruck heutiger multikultureller und identitätspolitischer Belange. Scott entwickelt, so Cairns, in seinen Romanen ein theatrales Modell der demokratischen Aushandlung der Nation durch die Charaktere und den Leser. Dabei krankt Craigs Analyse von Scotts Theatralität aber daran, dass er zugleich die Beschwerde Benedict Andersons über den rein imaginären Charakter der Nation zurückweisen, also letztlich in heutige Nationalismusdebatten eingreifen und den Gedanken einer imaginativen17 Politik nobilitieren möchte: Scott understood that the dramatization of the nation was not about its fictionalization or its truth, but about the values which its imaginings tested [...] The real and ironic success of the notion of ‘imagined communities’ lies in the fact that it makes nation an aesthetic construction. ‘Imagined community’ may be a term of despair about rational politics or history, but it is a term which puts artists back in the position of being ‘unacknowledged legislators’ of the world.18
15 Hamilton 2003: 115–138. Hamilton sieht das Theatralische in Waverley als eine absichtlich inadäquate Reaktion auf die bzw. Repräsentation der Französische(n) Revolution, die deren eigene, von Zeitgenossen ja auch wiederholt analysierte Theatralität liminal wiederhole, bis ein historistisch-distanziertes Vorgehen wieder möglich werde. Zugleich verzichte eine solche Darstellung auf die „mastery“ durch Ironie oder Historismus, um ihre eigene historische Verstrickung bzw. den ‚Ernst der Lage‘ besonders deutlich zu machen. 16 Ragussis (2010) analysiert den britischen Roman um 1800 in seinen Reaktionen auf die Bühnenkultur der Zeit, insbesondere die Darstellung des kulturell Fremden zur Konstitution einer britischen Nationalidentität über das Theater. Von den Romanen Scotts kommt insbesondere Waverley in den Blick (vgl. 5.2.2), wobei Ragussis v.a. im Titelhelden selbst einen „performing hero“ (175) sieht, der durch die an Smiths Sympathielehre geschulte Hineinversetzung in andere Identitäten und Kulturen „move[s] toward embracing and legitimizing multiple ethnic and cultural points of view“ (182). Die Interpretation in der vorliegenden Studie sieht im Durchgang durch mehrere Romane die Thematik der theatralen Annäherung an das fremde Volk nur als Vorstufe einer Integration des sympathetischen Subjekts in das ‚eigene‘ Volk. Die Fremdheit der Highlanders in Waverley dient aus dieser Perspektive eher der Ermöglichung einer Laborsituation, in der das Zusammenwachsen von britischem Subjekt, König und Volk auf ästhetisch-theatraler Ebene nachvollzogen werden kann (vgl. 5.2.2.1). 17 Die Bedeutungsunterschiede von ‚imaginär‘ und ‚imaginativ‘ verdeutlichen den Wertungsunterschied einer Politik in der Imagination für Anderson und Craig: ‚Imaginär‘ bedeutet ‚[nur] vorgestellt, eingebildet‘, während ‚imaginativ‘ neutraler ‚auf die Imagination bezogen, durch Vorstellungsprozesse erarbeitet‘ bedeutet. Letztlich ist Scotts Theater, wie wir sehen werden, durchaus imaginativ, aber eben nicht demokratisch im Sinne Craigs. 18 Craig 2001: 27.
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Für Craig ist die politische Imagination bei Scott gerade deswegen ernst zu nehmen, da sie imaginativ ist: In der Freiheit des Vorstellungsraums sind demokratische Aushandlungen von politischen Fragen möglich. Am anderen Ende der Bewertung der politischen Imagination bei Scott steht James Chandler, der Scotts Poetik auf die von Burke propagierte ‚Bemäntelung‘ der Machtverhältnisse durch ihre Ästhetisierung bezieht und damit, ähnlich der Burke-Interpretation der vorliegenden Studie, diametral zu Craig eine ‚nur‘ ästhetische Demokratie – eine nur vorgespielte Freiheit der Aushandlung – für Scott und die Romantik allgemein herausarbeitet.19 Wie wir sehen werden, liegt Scotts Auffassung von politischer Ästhetik näher bei Chandlers Deutung, was nicht zuletzt daran liegt, dass Chandler zwar nicht speziell zeitgenössische Theatermodelle, aber doch zeitgenössische Überlegungen zu einer (politischen) Ästhetik allgemein rezipiert. Gegen Cairns Demokratisierung Scotts muss daher eingewandt werden, dass die in Scotts Romanen geschilderten Gruppenprozesse zum einen relativ ‚einstimmige‘ Erlebnisse des Kollektivs und nicht etwa demokratische Aushandlungen von unterschiedlichen Meinungen sein sollen. Zudem wird diesen Gruppen, wenn sie erfolgreich waren, immer ein Monarch hinzugesellt. Demokratisch werden sie zum anderen höchstens dadurch, dass ihre Darstellung im/als Roman leichter zugänglich ist als etwa die Versdichtung Wordsworths und sie daher von vielen verschiedenen Leserschichten rezipiert werden können. Allerdings macht gerade diese Beschreibung die politischen Prozesse wiederum nur passiv konsumierbar und nicht aktiv mitgestaltbar. Im folgenden soll Scotts Text-Theater vor allem als kritische Weiterarbeit an William Wordsworths Volkstheaterkonzept aus The Excursion analysiert werden. Scott minimiert dabei den epistem(olog)ischen Aspekt dieses Theaters zugunsten seiner gesellschaftlich-politischen Dimension. Daher analysiert er weit eingehender als Wordsworth die ‚Verfassung‘ des vorgelegten Modell eines Theaters des Kollektivs, verzichtet aber weitgehend auf Überlegungen zur Natur des Menschen an sich und ihrer (Selbst-)Repräsentation. Scott sieht den Menschen viel stärker als Wordsworth in seiner jeweiligen historisch gewachsenen und insbesondere sozialen und politischen Verfasstheit und weniger in seinem transhistorischen Wesen. Die Arbeit an diesem Theater des Politischen und Sozialen erstreckt sich über eine ganze Reihe von Romanen. Letztlich ist Scott mit ihm erst am Ende eines späten Romans, nämlich Woodstock von 1826, konzeptuell am Ziel. Die
19 Chandler 1989: 55f., vgl. 2.2.2.2. Chandler 1998 bezieht sich zwar ausführlich auf die Theatralität von Scotts Romanen, geht aber, wie die anderen genannten Autoren, kaum auf die Rezeption zeitgenössischer Theatermodelle durch Scott ein. Auch hier (1989) bezieht er Scott auf Burkes Ästhetik-, aber nicht speziell auf sein Theaterkonzept.
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Länge dieses Prozesses beeinflusst auch seine Analyseform in der vorliegenden Studie. Anders als bei der Interpretation der Hauptwerke von William Wordsworth soll bei Scotts Romanen zunächst die Erarbeitung seines Theaterkonzepts auf der inhaltlichen Ebene durch eine ganze Reihe von Romane verfolgt werden, bevor die kommunikative Umsetzung dieses Theaters durch die Texte selbst in den beiden abschließenden Abschnitten (5.3.3.4 und 5.3.3.5) in den Blick kommt. Das von Scott dabei entwickelte Text-Leser-Verhältnis erweist sich insgesamt als weitaus problematischer und offener als dasjenige von Wordsworth. Aufgrund dieser konzentrierten Analyse der Medialität des Scottschen Text-Theaters wird dort auch die Frage seiner Intermedialität summarisch – und vor allem eher negativ – beantwortet: Es wird sich zeigen, dass Scotts Intermedialität eher eine Einverleibung des Theaters durch den Roman und eine Unterwerfung unter dessen Mediengesetze darstellt. ‚Schwach‘ ist diese Intermedialität dadurch aber – pace Paech – gerade nicht: Denn sie hat, wie wir sehen werden, durchaus auf die Theaterkultur ihrer Zeit zurückgewirkt. Bei der Analyse von Scotts Romanwerk sollen jeweils Exemplarananalysen die beiden zentralen Werkabschnitte der ‚schottischen‘ und ‚englischen‘ Romane beleuchten. Von Scotts 26 veröffentlichten Romanen sind die neun ersten, von Waverley (1814) bis A Legend of the Wars of Montrose (1819) der schottischen Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, insbesondere Konflikten zwischen Schottland und England, gewidmet. Mit Ivanhoe (1820) wendet sich Scott weiter zurückliegenden Epochen und vor allem der englischen Geschichte zu. Dieser Werkabschnitt erstreckt sich bis Woodstock von 1826. Scott hat auch Romane zur außerbritischen Geschichte geschrieben, etwa Quentin Durward (1824) und Anne of Geierstein (1829). Dieser Aspekt seines Werkes soll hier nicht berücksichtigt werden, da ein Theater des britischen Volkes das Hauptanliegen von Scotts Romanschaffen und auch der Ausgangspunkt seiner Entwürfe zu anderen Nationen ist. Eingeleitet werden sollen der ‚schottische‘ bzw. ‚englische‘ Analyseabschnitt zudem von zwei kurzen Präambeln, die jeweils einem Roman gewidmet sind, in dem Scott die zentralen Aspekte des jeweiligen Theatermodells inhaltlich umreißt, aber noch nicht (vollends) ausarbeitet. So beginnt der nun folgende Abschnitt zu den schottischen Romanen mit einer Präambel zu The Antiquary (1816), gefolgt von ausführlichen Analysen der (Volks-)Theaterkonzepte bzw. deren Problematisierungen in den beiden wohl berühmtesten Romanen von Walter Scott, nämlich Waverley (1814) und The Heart of Mid-Lothian von 1818.20
20 Die Romane werden in der maßgeblichen Edinburgh Edition der Edinburgh University Press (1993–2012) zitiert. Die im Folgenden verwendete Ausgabe von The Antiquary ist die in der Pagination leicht abweichende, aber weitaus weiter verbreitete Taschenbuch-Version der Edinburgh
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5.2 D ie Arbeit am Theater des Volkes in den schottischen Romanen 5.2.1 Präambel: The Antiquary Die wenig umfangreiche Forschung zu Walter Scotts drittem Roman The Antiquary von 1816 lässt sich durchaus beleben, wenn man die bisher nur flüchtig verzeichneten Parallelen21 zu Wordsworths The Excursion eingehender analysiert und zugleich als Ausgangspunkt für Scotts eigenes Text-Theater-Konzept fasst. Eklatante Entsprechungen sind eine Gesprächsstruktur, die den Konversationen in The Excursion ähnelt, sowie insbesondere die Figur des fliegenden Händlers Edie Ochiltree22, den Wordsworth ja selbst wiederum der schottischen Kultur ‚entnommen‘ hat.23 Dabei soll die berühmteste Stelle des Romans als Präambel zu Scotts Theaterkonzept(en) im Vordergrund stehen. Scott greift mit dieser Stelle nämlich – bisher unbemerkt – das Schlussbild aus The Excursion auf und unterzieht dessen summarische Theatralität einer umfassenden Kritik. Der Rest des Romans tritt hinter dieser Schlüsselstelle zurück, nicht zuletzt, da er die durch diese Stelle indirekt geforderte Arbeit am politischen Theater Wordsworths selbst nicht24 vornimmt. The Antiquary verharrt nämlich im Bereich des Kritisierten, indem er umfängliche Konversationen in der Kleingruppe vorführt, ohne das
Edition des Romans, die 1998 bei der Penguin Press erschien (ursprngl. Edinburgh University Press 1995). 21 Vgl. Bushell 2002: 130, dort Anm. 9, für den Vergleich der Bettlerfigur Edie Ochiltree mit dem Wanderer. Vergleichbar wäre Edie auch mit dem ‚Old Cumberland Beggar‘. 22 Im „Advertisement“ zu The Antiquary weist Scott auf die Parallele zur Thematisierung niederer Schichten sowie deren ‚Poetik‘ vor allem in den Lyrical Ballads von Wordsworth explizit hin (Scott 1998, 3). Die ausführlichste Interpretation der Bettler-Figur in The Antiquary, ihrer moralisch-ethischen und religiös-philosophischen sowie kulturell-kommemorativen Bedeutung für die community findet sich bei Elbers (1973: 419–421), der aber die Parallele zu den Wordsworthschen Figuren nicht bemerkt. „In a novel organized around a series of contrasts between isolation and community Edie represents the value of sympathetic connection between man and man.“ (421) 23 Wordsworth zitiert als ‚Quelle‘ seines Fliegenden Händler ja einen auf Schottland bezogenen Reisebericht, vgl. 4.3.5. 24 Waverley führt die von Scott geforderten Korrekturen am Text-Theater Wordsworthscher Versdichtung in umfassenderer Weise als The Antiquary selbst durch, obwohl Waverley bereits 1814 erschienen ist. The Excursion erschien zwar im selben Jahr wie Waverley, aber danach, so dass Scott sich in diesem Roman eher auf frühere Ausprägungen von Wordsworths Text-Theater, allen voran die Lyrical Ballads, beziehen kann. Erst in The Antiquary thematisiert und konfrontiert Scott The Excursion, die Summe von Wordsworths Text-Theater, und macht sich an deren ‚Überarbeitung‘ sodann in den nachfolgenden Romanen, etwa The Heart of Mid-Lothian von 1818.
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Desiderat, nämlich die Darstellung eines viel umfassenderen Volkes auf der Suche nach seinem König, über Andeutungen hinausgehend zu realisieren. Letztlich ist The Antiquary ein zutiefst ironischer Roman, der, wie wir gleich sehen werden, die einzige Szene, in der sich dieses Volk dann doch konstituiert, auf falschem Alarm basieren lässt. In The Antiquary erscheint das politische Theater, das Scott anstrebt, gewissermaßen ex negativo. In der erwähnten Schlüsselszene geht es aber ‚zur Sache‘. Scott lässt, ziemlich am Anfang des Romans, die Sonne, die am Ende von The Excursion versinkt, noch einmal untergehen, und er deutet das Bild zwar ebenfalls sozial-politisch, aber vollkommen anders, nämlich als Niedergang von König und Volk: As Sir Arthur and Miss Wardour paced along, enjoying the pleasant footing afforded by the cool moist hard sand, Miss Wardour could not help observing, that the last tide had risen considerably above the usual water-mark. Sir Arthur made the same observation, but without its occurring to either of them to be alarmed at the circumstance. The sun was now resting his huge disk upon the edge of the level ocean, and gilded the accumulation of towering clouds through which he had travelled the livelong day, and which now assembled on all sides like misfortunes and disasters around a sinking empire and falling monarch. Still, however, his dying splendour gave a sombre magnificence to the massive congregation of vapours, forming out of their unsubstantial gloom the show of pyramids and towers, some touched with gold, some with purple, some with a hue of deep and dark red. The distant sea, stretched beneath this varied and gorgeous canopy, lay almost portentously still, reflecting back the dazzling and level beams of the descending luminary, and the splendid colouring of the clouds amidst which he was setting. Nearer to the beach the tide rippled onward in waves of sparkling silver, that imperceptibly, yet rapidly, gained upon the sand. (54)
Wie am Ende der Excursion sieht sich hier eine wandernde Kleingruppe einem Sonnenuntergangsszenario gegenüber, bei dem die versinkende Sonne den Monarchen repräsentiert. Direkte Echos aus Wordsworths Excursion sind der rote „hue“ der Sonne, der den Wolken, zwischen denen er untergeht, ein „splendid colouring“ verleiht, sowie die Spiegelung des gesamten Wolkentheaters im Gewässer darunter.25 Die Anwesenheit der „distant sea“ gemahnt zugleich an die Mount-Snowdon-Episode aus dem Prelude26 und schreibt auch diese entscheidend um, denn das Meer kommt hier bedrohlich näher. Wie in der Excursion strahlt der niedergesunkene König auf seine Untertanen bzw. deren Kultur, die hier eher architektonisch evoziert wird.27
25 Vgl. „the bright hues / Which from the unapparent Fount of glory / [The clouds] had imbibed“ in Excursion IX, 604–606 sowie „That which the heavens displayed, the liquid deep / Repeated; but with unity sublime!“ (IX, 607f.). 26 „[...] and beyond, / Far, far beyond [...] the real sea [...]“ (Prelude 13, 46–49). 27 Auch für die ‚Wolkenarchitektur‘ und deren Bezug auf Urbanistik und Monarchie gibt es eine Parallelstelle in der Excursion, nämlich II, 864–904.
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Allerdings wird dieses Niedergehen völlig anders gedeutet als bei Wordsworth. Der König und sein ganzes Volk gehen nämlich katastrophal unter – Wordsworths final-friedliches Theater des Volkes wird hier geradezu provokativ zurückversetzt in genau diejenige Tragödie des ‚Volkes und des Königs‘, die es zu überwinden trachtete. Das näherkommende Meer ist überzeugend als Hinweis auf die Französische Revolution gedeutet worden, ebenso wie darauf hingewiesen wurde, dass die bedrohten Protagonisten dieser Szene zu jener Aristokratie gehören, deren Niedergang an dieser Stelle so warnend beschworen wird.28 Mit dem Heraufbeschwören der Französischen Revolution erscheinen Wordsworths Gedanken eines friedlichen Einsinkens des Monarchen ins Volk mit einem Mal entsetzlich naiv und der Ausdruck dieses Gedankens in einem ebenso friedvollen Naturbild des Sonnenuntergangs inhaltlich dekadent und formal quietistisch. Scott wirft Wordsworth vor, dass sein politisches Ordnungskonzept die Monarchie in den Untergang treiben würde, und suggeriert zugleich höhnisch, dass schon das Bild des Einsinkens den Niedergang der Monarchie nicht nur unbewusst mittransportiert, sondern letztlich befördert. „Wir brauchen nicht nur starke Könige, sondern stärkere Repräsentationen von ihnen!“ scheint er Wordsworth an dieser Stelle zuzurufen. „In und durch solche Bildchen geht die Monarchie doch unter!“ Allerdings ruft die Szene nicht nur dazu auf, das politische Theater des Volkes zu entbagatellisieren und auf einen stärker repräsentierten Monarchen zu beziehen, sondern verlangt gewissermaßen auch eine Stärkung des Volkes. Mit der Gefahr, in der sich die Ausflügler mit einem Mal befinden, wird nämlich auch das Konzept der Wordsworthschen Kleingruppe enorm problematisiert. Die zwei eben noch so ergriffenen Naturbetrachter sehen sich nämlich durch die heraufkommende Jahrhundert-Flut plötzlich in akuter Lebensgefahr, vor der sie nur durch ein kollektives Zusammenstehen der Gemeinde, das das darauffolgende Kapitel schildert, gerettet werden können. Wordsworthsche Ausflügler sind mit einem Mal von einem feindseligen, ‚revolutionären‘ Meer umzingelt, dem sie gerade als naives Wandergrüppchen nichts entgegenzusetzen haben: Das Wordsworthsche Wander-, Erlebnis- und Austauschsubjekt, das im Verlauf der
28 Der Roman spielt im Jahre 1794 (vgl. die „Historical Note“ in Scott 1998: 357). Vgl. dazu Elbers 1973, der den Sonnenuntergang als revolutionäre Drohung gegen die Monarchie, „to threaten symbolically Sir Arthur and Isabella as members of the traditional ruling classes“ (410), ansieht. Eine Analyse dieser Szene findet sich auch in Lee 2004: 92, allerdings wiederum ohne Hinweis auf Wordsworth. Die Szene entlarve einen hohl-theatralischen Monarchismus Napoleonischer Prägung als im Niedergang befangen, wobei Lee hier wie ich den Untergang einer – laut Lee kraftlos gewordenen – britischen Nation und von deren Verkörperung durch Wardour und seine Tochter ansetzt. Insgesamt sieht also auch Lee die Niedergangsszene als Hinweis auf ein niedergehendes monarchisches Theater des Volkes (vgl. 98).
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Excursion einiges erlitten, aber noch mehr beobachtet hat (auch wenn in diesem Beobachten, wie wir gesehen, haben, wiederholt ein Handeln lag), wird in eine Prekarität zurückgestoßen, aus der es letztlich nur durch eine Schicksalsgemeinschaft gerettet werden kann. Man könnte sagen, dass die Revolution, an der der Solitary in The Excursion zwar noch immer, aber immer weniger gelitten hat, mit einem Mal zurückkehrt – und zwar gerade als symbolische Aufladung der in The Excursion so friedlichen und friedensbringenden Natur. Und zur Bewältigung bzw. Vermeidung der Revolution braucht das Subjekt keine Wandergrüppchen, so Scott hier implizit, sondern größere, ansässige Gemeinden als Keimzellen des Volkes.29 Scott stößt Wordsworth darauf, dass die Briten sowohl stärkere Gemeinschaften als auch intensivere Gemeinschaftserlebnisse benötigen als sich das seine Versdichtung träumen lässt. Es geht um ein starkes (Theater des) Volk(es), welches wiederum den ebenso starken bzw. stark repräsentierten König benötigt. Mit der Prekarität der Subjekte kehrt auch wieder die Drohung ihres Untergangs in dieser ‚Revolution‘, also die Tragik des Volkes, zurück, die Wordsworth ja gerade (auch) im Volkstheater des Sonnenuntergangs als überwunden ansetzte. “My God, my child!” “My father, my dear father!” exclaimed the parent and daughter, as, fear lending them strength and speed, they turned to retrace their steps, and endeavoured to double the point, the projection of which formed the southern extremity of the bay. (56) “Good man,” said Sir Arthur [zu Edie Ochiltree, der zu ihnen gestoßen ist], “can you think of nothing?—of no help?—I’ll make you rich—I’ll give you a farm—I’ll”— “Our riches will be soon equal,” said the beggar, looking out upon the strife of the waters— “they are sae already; for I hae nae land, and you would give your fair bounds and barony for a square yard of rock that would be dry for twal hours.” (58)
Hier, in einer berühmten und seinerzeit vielbewunderten und -zitierten Szene, wird die von Scott kritisierte Wordsworthsche Volk-König-Idylle zur Tragödie (zurück)entwickelt: Der Aristokrat wird dem Bettler gleich, und darin werden sie beide – als Repräsentanten ihrer Nation – untergehen. Scott zeigt hier noch einmal deutlich, dass diese Integration des Monarchen, sein ‚Einswerden‘ mit dem Bettler an sich schon tragisches Potential hat. Was ebenfalls ‚tragisch‘ zurück-
29 Wichtigste Sekundärliteratur zu dieser Thematik ist wiederum Elbers 1973: „Against this backdrop of rock and sea, the human figures appear small and fragile, isolated beings helpless in the face of elemental natural forces.“ (409) „In voiding their obligations to society [...] the Wardours expose themselves not only to physical destruction as individuals but, as representatives of hereditary rank, to political destruction by the revolutionary ideas of equality“ (410). Elbers betont die Schlüsselrolle des – einstmals von Wardour bedrohten – Wanderer Edie in der Rettung der beiden, schließt aber: „Final rescue [...] depends upon the concern and cooperation of all members of the community of Fairport.“
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kehrt, ist die Verkörperung des Volkes und der Gefahr, in der es sich befindet, durch Einzelfiguren, mithin der (tragische) body politic und seine Verkörperungslogik. Scott suggeriert, dass das Eindringen dieser Logik in das Muster der Volkstragödie damit zusammenhängt, dass sie in Wordsworths Version, nach unserer Analyse bereits in „Simon Lee“30, den König emphatisch ins Volk integriert. Aus dieser Perspektive wird letztlich (wiederum31) ein absolutistisches Repräsentationsprinzip auf das Volk übertragen, welches damit auch das Burkesche (anti)revolutionäre Pathos der Königs-Dämmerung ‚erbt‘. Für Scott folgt das Modell der Volkstragödie scheinbar derselben obsoleten Logik der Verkörperung des Volkes durch Einzelkörper wie die Tragödie des Monarch(isch)en, die sie eigentlich herausfordern möchte.32 Das Wordsworthsche Eingehen des Monarchen in sein Volk ist damit doppelt tragisch, nämlich sowohl von Seiten des dadurch ‚verarmten‘ Monarchen als auch des nun rückständig repräsentierten Volkes. An der Excursion haben wir bezüglich der Oswald-Figur die subtile Überwindung dieser Logik hin zu einer viel progressiveren und vielgestaltigeren Repräsentation des social body analysiert. Scott aber lässt mit der Tragik des Volkes-mit-König das Problem seiner obsoleten Repräsentation in Einzelkörpern zurückkehren. Zugleich impliziert er zynisch, dass die von Wordsworth angestrebte Naturerlebnis-Kleingruppe diese Verbindung gerade nicht transzendiert, sondern perpetuiert. Auf metafiktionaler Ebene traut Scott die Repräsentation des social body also nicht Wordsworths Versdichtung, sondern erst seinem Roman zu. Die Katastrophe wird zwar mit Mühe und vereinten Kräften noch einmal abgewendet. Die Tragik der Verkörperung des leidenden Volkes aber bleibt und wird nicht gebannt, sondern zur (erneuten) Durcharbeitung angemahnt. In späteren Szenen kehrt sie nämlich zurück, etwa in einer anderen bekannt gewordenen Szene, in der eine arme Fischersfamilie einen ertrunkenen Sohn betrauert. The body was laid in its coffin within the wooden bedstead which the young fisher had occupied while alive. At a little distance stood the father, whose ragged weather-beaten countenance, shaded by his grizzled hair, had faced many a stormy night and night-like day. He was apparently revolving his loss in his mind, with that strong feeling of painful grief peculiar to harsh and rough characters, which almost breaks forth into hatred against the world, and all that remain in it, after the beloved object is withdrawn. The old man had
30 Vgl. 4.1.3.2. 31 Bei Wordsworth war neben Oswald (vgl. das Folgende) vor allem Simon Lee eine solche tragische (Einzel-)Verkörperung des Volkes – interessanterweise mit Merkmalen sowohl des Königs als auch des verarmten Volkes. 32 Betrachtet man Paines Evozierung der Volksträgödie als einer eines (einzelnen!) „real prisoner of misery, sliding into death in the silence of a prison“ (Paine 1984: 59; vgl. 2.2.2.3), so könnte man Scott sogar zustimmen.
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made the most desperate efforts to save his son, and had only been withheld by main force from renewing them at a moment, when, without the possibility of assisting the sufferer, he must himself have perished. [...] In another corner of the cottage, her face covered by her apron, which was flung over it, sat the mother, the nature of her grief sufficiently indicated by the wringing of her hands, and the convulsive agitation of the bosom, which the covering could not conceal. Two of her gossips, officiously whispering into her ear the commonplace topic of resignation under irremediable misfortune, seemed as if they were endeavouring to stun the grief which they could not console. (247f.)
Tragisches Opfer und Symbol des gebeutelten Volkes ist hier eine Familie. Letztlich löst sich auch diese Szene teilweise in ‚Wohlgefallen‘ bzw. zumindest Weiterleben der Gemeinschaft auf, nicht zuletzt, da der aristokratische „Laird“ der Gemeinde sich als ein Sargträger anbietet und dem Volk damit die (letzte) Ehre erweist.33 Aber auch hier wird die auf einzelne Leidensspektakel konzentrierte Volkstragik durch den Zusammenschluss (während) der Prozession nur teilweise überwunden, denn die Traueratmosphäre bleibt der Szene konstitutiv erhalten und gibt der Geste des Adeligen erst die Bedeutung. Einerseits wird in The Antiquary also ein sehr viel optimistischeres, progressiveres Theater des Volkes deutlich angemahnt.34 Zugleich macht Scott aber klar, dass die Drohung dieser Tragik zunächst einmal bleiben wird, und im Zuge seiner Romane die Entwicklung von dieser hin zu einem heiter-offenen Volkstheater erst erarbeitet werden muss. Wenn sich das Volk am Ende des Romans dann endlich in größerer Zahl zusammenfindet, ist dieser Zusammenschluss denn auch mehrfach gebrochen. Zunächst mobilisiert nur die Meldung einer Invasion durch die revolutionären Franzosen, also eine äußere – und erneut potentiell tragische – Bedrohung, das Kollektiv überhaupt, sich zusammenzutun: Those who have witnessed such a scene can alone conceive the state of bustle in Fairport. The windows were glancing with a hundred lights, which, appearing and disappearing rapidly, indicated the confusion within doors. The women of lower rank assembled and clamoured in the market-place. The yeomanry, pouring from their different glens, galloped through the streets, some individually, some in parties of five or six, as they had met on the road. The drums and fifes of the volunteers beating to arms, were blended with the voice of the officers, the sound of the bugles, and the tolling of the bells from the steeple. The
33 Die Trauergemeinde weist dabei direkt auf die (momentane) Überwindung einer von ihr deutlich empfundenen sozialen Ungerechtigkeit durch diese Geste hin, was der Erzähler bestätigt: „Mr Oldbuck gained more popularity than by all the sums which he had yearly distributed in the parish for purposes of private or general charity.“ (252) 34 Auch in The Excursion stand ja der Trauerzug für den body politic Oswald (vgl. 4.3.4) eher für das Bewusstsein einer notwendigen Überwindung der Volkstragödie hin zum Volkstheater, aber eben noch nicht für dieses Theater des Volkes selbst.
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ships in the harbour were lit up, and boats from the armed vessels added to the bustle, by landing men and guns destined to assist in the defence of the place. [...] A loud and cheerful acquiescence was given by all present, and the substance of the wealthy, with the persons of those of all ranks, were unanimously devoted to the defence of the country. (350)
Der Volk ist hier zwar in den meisten seiner Facetten repräsentiert und schließt auch die vermögende Oberschicht emphatisch ein. Allerdings findet es nur mühsam zu einer Ordnung, die es effektiv und als Kollektiv überhaupt erfahrbar macht. Daher wartet es auf seinen ‚König‘, der es im Sinne Scotts viel deutlicher ordnen und anführen soll als Wordsworth es für nötig befand. Gerade mit der scheinbaren Ankunft dieses Königs zeigt sich aber die Latenz einer derartigen Volkserfahrung, ihr Status als Desiderat, aber eben noch nicht als Realität. Two things were still anxiously expected—the presence of the Glenallan volunteers, who, in consideration of the importance of that family, had been formed into a separate corps,—and the arrival of the officer before announced [...] whose commission would entitle him to take upon himself the full disposal of the military force. […] At length a cry among the people announced, “There’s the brave Major Neville come at last, with another officer;” and their post-chaise and four drove into the square, amidst the huzzas of the volunteers and inhabitants. The magistrates, with their assessors of the lieutenancy, hastened to the door of their town-house to receive him. But what was the surprise of all present […] when they became aware, that the handsome uniform and military cap disclosed the person and features of the pacific Lovel! (351)
Statt des ‚Soldatenkönigs‘ erscheint ein friedliebender Charakter, der eher für die in diesem Roman thematisierten Liebeshändel steht. Damit wird zum dritten Mal die Bedrohung gebannt, das Theater des Volks aber auch spektakulär zurückgenommen: Der ganze militärische Auflauf beruht nämlich auf dem falschen Alarm, den ausgerechnet ein „bonfire“ (352) an der Küste auslöste, das ein Leuchtturmwärter für ein Alarmsignal hielt und dementsprechend weitergab.35 Hier wird demnach nicht mehr einfach nur die drohende Volkstragik durch eine Vergrößerung der in Not geratenen Kleingemeinschaft überwunden; vielmehr werden das Zusammenfinden des Volks bzw. sein Ruf nach dem König (nur) unter der unmittelbaren Drohung seines tragischen Untergangs vorgeführt. Das spektakuläre Nichterscheinen des Monarchen sowie der damit verbundene Zusam-
35 Lee 2004 sieht bei dieser Szene bereits eine Brechung des tragischen Pathos zugunsten einer Komödie (der Gemeinschaft), die Scott vorschwebe (100), und somit als Reflexion auf Scotts Darstellungsverfahren selbst (103f.). Bis zu einem gewissen Grad ist das auch richtig, nur dass diese ‚Komödie‘ eine warnend knappe Vermeidung des Tragischen ist, der letztlich das Anliegen zugrundeliegt, die Gemeinschaft möge sich ‚heiter-offen‘ konstituieren und erfahren, bevor es zu ihrer tragischen Bedrohung kommen kann.
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menbruch der Tragik geben dann aber nicht etwa Entwarnung, sondern ermahnen das Volk, sich eben nicht nur dann auf sich selbst und seinen Monarchen zu besinnen, wenn es als ganzes von außen bedroht erscheint. Eher soll es sich aus sich selbst heraus konstituieren, gerade auch als Prävention für Bedrohungen von innen, und nicht erst nach seinem König rufen, wenn es vielleicht zu spät ist. Dann nämlich könnten dessen Abwesenheit und die daraus resultierende UnOrdnung fatale Folgen haben... Wie wir sehen werden, braucht Scott lange, um diese Szenarien der Bedrohung ganz zurückzulassen. In vielen seiner Romanen geht es um die Selbstfindung des Volkes vor dem warnenden Hintergrund von (volks)tragischen Szenarien, die sich gerade noch vom Volk abwenden lassen. Die nun analysierten Romane Waverley und The Heart of Mid-Lothian handeln diese Suche nach dem Theater ‚des Volkes und seines Monarchen‘ zudem vor dem Hintergrund innernationaler Spannungen aus. Vor allem in The Heart of Mid-Lothian wird eine interne revolutionäre Atmosphäre beschworen, vor der The Antiquary indirekt warnt, und die auf die offenen Probleme aus The House of Aspen zurückverweist. Auch in Scotts frühem Drama gab es ja eine königslose Gesellschaft isolierter Individuen. Diese aber löste die Gefahren ihres mangelnden Zusammenhalts durch ein System latenter (gegenseitiger) Beobachtung, in dem Subjektivität letztlich nur im Moment der Verurteilung greifbar wurde. Zu diesem ‚Volk‘ kehrte die Monarchie in The House of Aspen in (bedingter) Burkescher Pracht und Theatralität zurück, allerdings nur, um die politische Gewalt fortzusetzen und dem einzelnen nahezulegen, diese Überwachung zur Selbstüberwachung unter den Augen des ‚Gott-Königs‘ zu interiorisieren. Diese (schauertragischen) Gewalt(en), des Volkes wie des Königs, muss Scotts Text-Theater überwinden. Verbunden damit war in The House of Aspen auch das Desiderat einer Erhellung der Monarchie, die den König und sein Volk überhaupt erst sichtbar macht – für das Theater, aber letztlich auch für sich selbst. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, greifen Scotts Romane dieses Desiderat auf und ergänzen es um die in The Antiquary mit Bezug auf Wordsworths Versdichtung herausgearbeiteten Postulate: Das Subjekt braucht das Volk(stheater), welches wiederum aber, um seiner potentiellen Selbstzerstörung vorzubeugen, einen starken König braucht. Dieser aber muss seinerseits als transparentes und bindungsfähiges Subjekt bzw. Subjekttheater erscheinen, um das Volk zu vereinen und zu führen.36
36 The House of Aspen wird insgesamt aber, wie wir sehen werden, viel stärker von Heart of MidLothian als von Waverley aufgegriffen und abgearbeitet. Waverley bezieht sich eher auf die allgemeineren, ‚ästhetischen‘ Probleme der Scottschen Tragödie, etwa die Erarbeitung eines „open theatre of monarchy“ (vgl. 5.2.2.1).
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Diesen ungemein wichtigen Bezug der Romane Scotts auf seine frühe Tragödie hat bisher als einziger John P. Farrell herausgearbeitet. Scott, so Farrell, sehe vor allem den in The House of Aspen ja explizit beklagten Mangel an „social affections“37 als Auslöser der Volkstragödie und arbeite in seinen historischen Romanen daher an Modellen des sozialen Zusammenhalts.38 Abgewendet wird der Niedergang des Volkes laut Farrell durch eine Doppelstruktur, die einer politischen Tragödie ein Gemeinschafts- bzw. Volksideal gegenüberstellt.39 Diese Doppelstruktur, die auch Farrell als Miteinander von Theaterformen, nämlich Tragödie und Komödie40, fasst, soll im Mittelpunkt der nun folgenden Analyse von Waverley und The Heart of Mid-Lothian stehen. Dabei geht Scott aus mehren Gründen von der Schauertragödie zu einem als Text-Theater verstandenen Roman über: Das Gothic play ist nicht komplex und gleichzeitig nicht transparent genug, um die ‚sympathetische‘ und intersubjektive Verbindung von Volk und Monarchen zu umzusetzen, die Scott vorschwebt, bzw. um die Problematisierung, Durch- und Abarbeitung verschiedener Theaterformen, die Scott in seinen Romanen vornimmt, überhaupt zu fassen.41
37 House of Aspen: 57; vgl. 3.2.2. 38 Farrell 1980: 72. 39 „There is a primary plot in which the hazards, opportunities, inducements, and, most important, the polarizations of political action are dominant. And there is a counterplot [...] in which the abandoned or lost treasure of community becomes the focus of discovery. [...] The narratives are structured in such a way that the life of community, the life shaped by the social affections, is always substantiating itself in the very midst of the ideological contests that seem to dominate the action.“ (Farrell 1980: 83) 40 Farrell zitiert Scotts „Essay on Imitations of the Ancient Ballad“, in dem dieser bewundernd von einer Mischung von „scenes of tragic distress, as they occur in common life, with those of a comic tendency“ in der zeitgenössischen deutschen Literatur spricht (Farrell 1980: 74). Farrell sieht diese Mischung aus (Volks-)Tragödie und (Volks-)Komödie als wichtigen Aspekt von Scotts Romanästhetik an. 41 Vgl. 3.3. Zwei Autoren, die sich im Anschluss an Farrell mit dem (Zusammen-)Wirken (potentiell) theatralischer Formen in Scotts Romanen beschäftigt haben, sind Ian Duncan (1992) und Fiona Robertson (1994). Duncan sieht The Heart of Mid-Lothian exemplarisch als komplexe ‚Symphonie‘ eines Übergangs von der Historiographie in die Romanze bzw. Idylle, den er auch als Wechsel von der Tragödie zur Komödie dimensioniert (150f.). Daher propagiere Scott für sich das Shakespearesche Modell der Tragikomödie (151f.) – ich sehe in The Heart of Mid-Lothian durchaus auch das Vorhaben einer Überwindung des Tragischen, nur dass es (ausgestelltermaßen!) nicht ganz funktioniert (s.u.). Robertson bezieht bei ihrer Untersuchung der Rolle des Schauerliterarischen in Scotts Werk eine ganze Reihe von Romanen (neben The House of Aspen selbst, vgl. 3.2.2!) ein und analysiert wie die vorliegende Studie die Wiedereinsetzung einer politischen Ordnung vor dem Hintergrund stets drohender ‚schauriger‘ Szenarien ihrer Gefährdung. Dabei geht sie aber kaum auf die zentralen Romane Waverley und the Heart of Mid-Lothian ein
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5.2.2 Waverley: Das Subjekt und das Theater des Volkes In Waverley arbeitet Scott auf der Inhaltsebene ein umfassendes politisches Begehren durch: Der Einzelne, das Subjekt, möchte/soll ins Kollektiv aufgenommen werden, was durch intersubjektiven Austausch mit einem herausgehobenen Einzelnen, dem starken König, gelingt. In diesem königlichen Einzelnen darf das Kollektiv aber nicht aufgehen; er darf nicht der Einzige sein, der das Volk durch Gesamtverkörperung repräsentiert. In der Begegnung mit dieser externen Größe erfährt und konstituiert sich nämlich auch das Volk, vor allem wenn es an ihr die Einbettung eines Einzelnen in das Volk miterleben darf. Allerdings muss es dabei gerade als Kollektiv präsent bleiben und in die Repräsentation eingehen, also ein echtes Theater des Volkes bilden. Wie in der Reaktion Scotts auf Wordsworth in The Antiquary bereits angedeutet, ist das Ziel eine Repräsentation der Vielheit, die den Einzelnen nicht nur als Individuum, sondern durchaus auch als übergeordnete, königliche Größe kennt. Dieser König muss aber stets ein Teil der Vielheit bleiben und darf nicht zu ihrem Äquivalent werden. In Waverley erlebt das exemplarische Subjekt diese Eingliederung über ein zwar ebenfalls exemplarisches, aber revolutionäres Volk und einen Thronprätendent. Zugleich ist Waverley ein Roman, der nach den Bedingungen und Möglichkeiten britischen Nationalgefühls fragt. Scott möchte in seinem ersten historischen Roman demnach einen politischen Urzustand untersuchen, der in seiner politisch-sozialen Gegenwart nicht gegeben ist und künstlich wiederhergestellt werden muss. Er bleibt allerdings geographisch und historisch so nah wie irgend möglich an dieser Gegenwart, indem er den Aufstand wählt, der erst eine Generation zuvor und im eigenen Land stattgefunden hat.42 Damit erscheint das (intern) Revolutionäre in einer wichtigen neuen Bedeutung: Im Gegensatz zu The House of Aspen (aber auch, wie wir sehen werden, zu The Heart of MidLothian) ist die Revolution in Waverley letztlich eine Brutstätte von individueller und kollektiver politischer Verfasstheit an sich und damit letztlich ein Äquivalent der ästhetischen Volkserfahrung, die Scott insgesamt vorschwebt. Die Revolution in Waverley ist wie Scotts Theater des Politischen ein Labor zur (Selbst-)Erfahrung des Volkes jenseits der real-politischen Zusammenhänge. Das bedeutet aber auch, dass diese Revolution ihre Überwindung bereits enthält, da sie letztlich die Entwicklung einer legitimen Verfassung nachvollzieht bzw. nachzuvollziehen
und bekommt daher auch Scotts zentrales Anliegen eines Theaters des Volkes nicht in den Blick, genausowenig wie sie die Überwindung des (Schauer-)Tragischen durch dieses Theater – mithin eine Transformation von Theaterformen – als zentrales Anliegen von Scotts Romanen erkennt. 42 Thema des Romans ist der sog. zweite Jakobitenaufstand von 1745.
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versucht (was diesem Roman auch eine gegenüber dem House of Aspen sowie den Revolutionsbüchern des Prelude43 hellere Atmosphäre gibt).44 Das Gemeinschaftstheater, das Waverley erlebt, ist nicht etwa ein falsches, zu überwindendes. Es muss nur – das aber ist entscheidend! – auf die richtige Seite wechseln und um den richtigen Monarchen ergänzt werden.45 Nach innen macht die Revolutionsgemeinschaft politisch gesehen nämlich (fast) alles richtig – nur dass sie sich danach gegen den legitimen König und dessen Volk richtet. Dadurch wird das Revolutionäre diesem Volk (und seinem König) zuletzt doch zum Verhängnis: Das emergente Theater des Volkes stürzt am Ende in die Tragödie des Volkes und seiner Verkörperung.
43 Waverley untersucht wie The Prelude in den Revolutionsbüchern die Eingliederung des Subjekts in ein revolutionären Theater, d.h. die Überwindung der Zuschauerposition. Dort führt der Status als Einzelner aber bezeichnenderweise in die Wahnvorstellung, der Einzige zu sein, d.h. letztlich die Verkörperung dieser Revolution (vgl. 4.2.3). 44 Vgl. Anm. 39. Allerdings arbeitet Farrell bei Waverley insgesamt einen Rückzug Waverleys aus der Politik (85) als Eingliederung des Helden in die Gemeinschaft heraus und erkennt nicht die Gemeinschaftselemente bereits der revolutionären Politik. In diesem Zusammenhang sieht Duncan 1992 das Paradigma des Revolutionären in Waverley als tragisch und altmodisch an. Beides müsse im Verlauf des Romans durchgearbeitet und zurückgelassen werden – allerdings im Zuge der Fügung unter eine praktisch nachhistorische, häuslich-feminine Identität, die der Roman selbst vertrete (72f.). Für mich ist die Durcharbeitung der Revolution bei Scott aber eben kein Rückzug aus Politik und Geschichte. Die Beobachtung einer paradoxen Affirmation legitimer Monarchie in der Form einer Revolution gegen sie hat schon William Hazlitt 1825 gemacht, aller dings kann er diesen Widerspruch nicht auflösen und hält ihn gegen Scott: „Through some odd process of servile logic, it should seem, that in restoring the claims of the Stuarts by the courtesy of romance, the House of Brunswick are more firmly seated in point of fact [...] In any other point of view, we cannot possibly conceive how Sir Walter imagines ‘he has done something to revive the declining spirit of loyalty’ by these novels. His loyalty is founded on would-be treason: he props the actual throne by the shadow of rebellion.“ (zit. nach Robertson 1994: 11) 45 Hamilton (2003: 131f.) und Lincoln (2007: 48–51) stellen die Revolutionsszenen in Waverley in den Kontext der komplexen Semantisierung von Widerstandsszenarien in der britischen Kultur angesichts der Französischen Revolution. Der Widerstand der Schotten gegen die Engländer konnte dabei sogar zum Bild des Widerstands Großbritanniens gegen Frankreich werden – was meiner Lesart der Vorbereitung eines britischen Volkstheaters durch Waverleys (schottisches) Gemeinschaftserlebnis entspricht. Allerdings assoziiert Scott seine Jakobiten auch mit den Jakobinern und das einfache Volk der Lowlands mit einem revolutionären Mob (Lincoln 2007: 50, 60). Scott entwirft, wie bereits betont, mit den Jakobiten-Szenen ein revolutionäres Szenario, das seine eigene Entwicklung zu einem Theater des Volkes ‚mit Monarchen‘ bereits impliziert. Makdisi (1995: v.a. 177) spricht dagegen von einem Verschwinden, einer Tilgung des Schottischen zur Erzielung einer britischen „imagined community“ und sieht Scotts schottisches Theater des Politischen eher als ein Museum des im Sinne einer notwendigen Modernisierung Zurückgelassenen/Abzugrenzenden, wobei die tatsächliche und so schmerzhafte Modernisierung Schottlands perverserweise geleugnet bzw. ignoriert werde (186).
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Ausgangspunkt von Waverley ist die sehr kritische Bestandsaufnahme von Kindheit und Jugend des Helden, vor allem seiner Lektüren und Träumereien in der hauseigenen Bibliothek. Dabei ersteht im romantischen Subjekt ein inneres Theater des Historischen und des Politischen. Waverley erträumt sich ausgehend von seiner Familiengeschichte die Zugehörigkeit zu seinem König und seinem Volk. Bezeichnenderweise durchläuft er dabei aber verschiedene Tragödien (s)einer exemplarischen Familie: From [hearing the family] legends our hero would steal away to indulge the fancies they excited. In the corner of the large and sombre library, with no other light than was afforded by the decaying brands on its ponderous and ample hearth, he would exercise for hours that internal sorcery by which past or imaginary events are presented in action, as it were, to the eye of the muser. Then arose in long and fair array the splendour of the bridal feast at Waverley-Castle; the tall and emaciated form of its real lord, as he stood in his pilgrim weeds, an unnoticed spectator of the festivities of his supposed heir and intended bride […] Then would he change the scene, and fancy would at his wish represent Aunt Rachel’s tragedy. He saw the Lady Waverley seated in her bower, her ear strained to every sound, her heart throbbing with double agony, now listening to the decaying echo of the hoofs of the king’s horse, and when that had died away, hearing in every breeze that shook the trees of the park, the noise of the remote skirmish. A distant sound is heard like the rushing of a swoln stream; it comes nearer, and Edward can plainly distinguish the galloping of horses, the cries and shouts of men, with straggling pistol-shots between, rolling forwards to the Hall. The lady starts up—a terrified menial rushes in—but why pursue such a description? (18; meine Hervorhebung46)
Die Tragödie von Tante Rachel ist der entscheidende Übergang von der Familie zum Volk, aber letztlich auch von der Tragödie des Volkes zum Theater des Volkes und seines Monarchen.47 Die ‚Szene‘ spielt nämlich im englischen Bürgerkrieg, in
46 Zitiert nach der von Peter Garside herausgegebenen Edinburgh Edition des Romans (=Scott 2008). 47 Peacocke (2011: 191f.) liest diese Stelle gar als ein Echo auf eine berühmte Szene in Burkes Reflections on the Revolution in France, die das Eindringen des Volkes in Marie Antoinettes Schlafzimmer beschreibt (Burke 2001: 232) und zugleich ein Beispiel für Burkes Tragödie der Monarchie ist. Von einer derartigen Repräsentationslogik setzt sich Scott laut Peacocke aber dezidiert ab und strebt einer differenzierten, historisch kontextualisierenden und v.a. demokratischeren, das einzelne Individuum berücksichtigtenden Darstellungsweise zu, wie sie die neuen Gemäldegalerien in Edinburgh zu Scotts Lebzeiten umsetzten. Peacocke analysiert die Romanästhetik Scotts demnach im Kontext zeitgenössischer Malereikontexte, während die vorliegende Studie dasselbe mit Theaterdiskursen unternimmt. Die Ergebnisse sind vergleichbar: Scott initiiert an dieser Stelle die Überwindung einer obsoleten Ästhetik der Repräsentation des Menschen und des ‚Volkes‘, die er dann im Verlauf des Romans sowie in späteren Romanen weiter ausführt. Vgl. zu einer weiteren Parallelstelle von Scotts Romanwerk (dort: Woodstock) und Burkes Drama
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dessen Verlauf der legitime Thronfolger und spätere König Charles II sich im loyalen Hause Waverley versteckt. Um seine Flucht vor den Puritanern zu ermöglichen, schickt Rachel einen ihrer Söhne in ein tödliches Ablenkungsscharmützel, trägt damit aber auch zur triumphale Restauration des Königs vor seinem Volk in London bei. Zu diesem Moment werden wir am Ende unserer Scott-Lektüre zurückkehren und in ihm die Überwindung des Tragischen und den Beginn der Erfüllung des Theaters des Volkes und seines Monarchen am Ende des Romans Woodstock erblicken. Der junge Edward Waverley ist also durchaus auf dem Weg zum richtigen Theater des Volkes. Falsch nur ist die Form dieses Theaters, die sogar die Familienversammlung hinter sich lässt, um sich vollends isolierten Lektüren und Träumereien hinzugeben. Gerade deswegen verbleibt das Theater des Volkes hier auch im Tragisch-Sentimentalen und wird erst viele Romane später in einer posttragisch-offenen gegenseitigen Erfahrung von König und Volk aufgehen. Wichtig aber ist es, richtig einzuschätzen, worauf Scotts Kritik an seinem Zögling hier überhaupt abzielt. Es geht nicht darum, den Inhalt seiner Träumereien oder ihre Theatralität zu kritisieren und ihm einen Eintritt in die politische Realität anzuempfehlen. Angesichts der Tatsache, dass die Träumerei auf den volkstheatralen Höhepunkt von Scotts Romanschaffen vorausweist, ist das Erträumte gerade nicht apolitisch. Falsch ist demnach nicht, dass Waverley sich seine politische Zugehörigkeit in Theaterszenen entwirft, falsch ist nur die Verfasstheit dieses Theaters, seine Isolation und Passivität, seine ‚Ich-Theaterhaftigkeit‘, die damit dem pathologischen Theater des selbstbezüglichen Staatssubjekts in Wordsworths Prelude ähnelt.48 Das Subjekt darf sein Volk in Theaterszenen erleben, aber es muss dabei mit vielen anderen und seinem König zusammen sein und sich mit diesen und mit ihm intersubjektiv, die Position von Akteur und Zuschauer wechselnd, austauschen.49 Pointiert gesagt kritisiert Scott, dass das Theater nur imaginär und nicht imaginativ (und dabei als Theater real) ist.
der Bedrohung Marie Antoinettes 5.3.3.1, wobei Burkes ‚königstragische‘ Darstellungslogik dort ebenfalls zur Überarbeitung angemahnt wird. 48 Vgl. 4.2.3. 49 Diese Interpretation steht im Gegensatz zu den zahlreichen Lektüren des Romans als der Geschichte einer Desillusionierung, eines Austritts aus dem Romanzenhaften/Imaginären/Theatralen in eine (mehr oder weniger) un-vermittelte Realität bzw. deren ‚Realismus‘, etwa Brown 1979: 6–30, Shaw 1983: 178–189, der sogar eine Bewegung vom Tragischen zum Komischen ansetzt (188), Kerr 1989: 18–39 oder Ferris 1991: 101–103, die Waverley mit Northanger Abbey und Waverley mit Catherine Morland vergleicht, die ja auch vom literarischen Träumen in die Realität treten muss. Das Romantische wird solchen Interpretationen zufolge von der schottischen Kultur repräsentiert, die dadurch ebenfalls ‚überwunden‘ werden muss (vgl. Makdisi 1995). McCracken-
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Walter Scott und das Roman-Theater: Subjekt, Monarch, Volk
Der Roman macht nichts anderes mit Waverley, als ihn auf die Suche nach einem solchen kollektiven und intersubjektiven Theater des Volkes zu schicken, in dem er seine politischen Szenarien neu erleben soll – als echte Theaterszenen, die zudem in ihrer Austauschdichte und ihrem Erlebniswert das bestehende Theater weit überschreiten und die Scheidung von Ästhetik und Politik hinter sich lassen. Der frühe Waverley ist gerade keine intradiegetische Figuration des Lesers im Roman, sondern wird dies erst, nachdem er als (‚Nur‘-)Leser ins romantisch-intersubjektive Theater des Politischen geschickt worden ist. Von dort mag er dann auf den Leser zurückwirken, der sich selbst auf den Weg in dieses Theater machen soll. Ob ihm dies gelingt, werden wir noch sehen.50 Vorher müssen
Flesher komplementiert solche Lesarten mit einer Deutung der Rolle von Waverley als Zielpunkt und Projektionsfläche schottischer Wünsche nach Wertschöpfung (McCracken-Flesher 2005: 20f.). Zusammen mit den Waverley unterstellten Projektionen ergebe sich damit eine zutiefst negative Intersubjektivität gegenseitiger Wunscherfüllung, die ich so nicht ansetze. Die Intersubjektivität in Waverley ist unvollständig oder einseitig, aber durchaus realitäts- und nicht fantasiebezogen. Im Abgleich mit den imaginationskritischen Lesarten lässt sich aber vielleicht sagen, dass Scott einen Übertritt von einer passiven Zuschauerrolle in eine authentischere und aktivere Intersubjektivität propagiert. Neuere Interpretationen (aber bereits Iser 1964), etwa Wilt 1985: 26–37, Hamilton 2003, Lincoln 2007: 47–63 oder Block 2008 erkennen aber, dass dieser Übertritt nicht eindeutig ist und (damit) auch keine De-Fiktionalisierung o.ä. mit sich bringen kann. Allerdings sehen solche, v. a. dekonstruktiv orientierte Interpreten in der Fiktionalität beider Bereiche eher eine Aporie des Textes bzw. der hinter ihm stehenden Gesellschaft und kein zeitgenössisches Bewusstsein für eine imaginative (und eben nicht bloß imaginäre) Arbeit am Politischen. Lincoln geht in Richtung einer Politik des Imaginativen, allerdingt mit einer fragwürdigen Dichotomie von Politik und ‚Kultur‘ (55–66), die die Thematik und Kraft des „social change“ (59) in die weiblich-häusliche Sphäre von „sociability, art and domesticity“ verlagere. Damit sieht Lincoln am Ende bei Scott so etwas wie die Propagierung eines ästhetischen Staats, der sich in Tully-Veolan, in Floras Liedern und im Abschlussgemälde artikuliere (61f.). Diese Lesart muss mit einem breiteren Politikverständnis radikalisiert werden: Scott verfolgt vielleicht wie Wordsworth das Konzept einer ästhetischen Demokratie, aber die Gemeinschaftserlebnisse in Waverley sind äquivalenter Bestandteil dieser Demokratie. Die Verschiebung ist nicht eine in die Kunst/Medialität, sondern eine von einer körperlich-kopräsenten-situationskonkreten zu einer situationsabstrakt-virtualisierenden Medialität. Medial/‚kulturell‘ (und damit ästhetisch) waren diese Erlebnisse immer. Und auch das Verhältnis beider Medialitäten zur Geschichte/Vergangenheit ist nicht per se unterschiedlich, sondern potentiell gleich. 50 Seit Welsh 1963 wird der passive Edward Waverley, wie er etwa hier am Anfang des Romans erscheint, nicht nur als Repräsentant des Lesers, sondern auch als Exempel eines von Scott entwickelten modernen Heldentypus gesehen (vgl. etwa Tippkötter 1974: 185–197). Dabei wird übersehen, dass Scott in seinen Romanen einen ganz anderen Typus politischer, aber gerade auch kultureller Aktivität erarbeitet, nämlich das Subjekt, das seinen König und sein Volk aktiv sucht und in einem intersubjektiven Theater erleben möchte, das nicht nur in seiner Vorstellungswelt existiert. Daher entwickelt er Edward Wavereley auch energisch in Richtung eines derartigen Akteurs und greift etwa in Heart of Mid-Lothian überhaupt nicht mehr auf eine Figur rein passi-
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wir den langen Weg der Erarbeitung eines imaginativen anstelle des imaginären Theaters in Walter Scotts Romanwerk abschreiten.
as Subjekt, das revolutionäre Volk und der illegitime König: 5.2.2.1 D Vom Theater des Volkes zur Tragödie des Volkes Zunächst nimmt der Roman die von The Antiquary thematisierte Theaterform des Naturtheaters auf und entgrenzt sie, wie von Scott gefordert, in ein Theater des Volkes, wobei er das Wordsworthsche Theater der ‚poetischen‘ Kleingemeinschaft aber noch einmal deutlich kritisiert. Als Naturszenen gestaltete Momente sentimentalen Erlebens werden explizit verknüpft mit Ritualen politischer Gemeinschaftserfahrung, welche dadurch aber gerade nicht zu einem echten und (daher) posttragischen Theater des Volkes werden. Einerseits wird nämlich das Kollektiv in diesem Naturtheater explizit außen vor gehalten, während andererseits die von Scott zur Durch- und Abarbeitung anempfohlene Sentimentalität dadurch präsent bleibt und zuletzt wieder zur Tragik der Verkörperung wird. Eine Eingliederung Waverleys in das Volk erfolgt erst, als dieser falsche ‚König‘, nämlich Flora Mac-Ivor, beseitigt und ein echter, der das Volk ‚mitführt‘, nicht aber ersetzt, nämlich Charles Edward51, gefunden ist. Die erste Stufe von Edward Waverleys Konfrontation mit dem ‚Volk‘ der Highlander ist ein festliches Bankett unter dem Vorsitz des späteren Revolutionärs Fergus Mac-Ivor. Zu diesem Volksfest wird Waverley, eigentlich nur ein neutraler Begleiter in einer Vermittlungsmission, gewissermaßen ein Wordsworthscher Ausflügler, dazu geladen – durchaus mit Hintergedanken, wie sich zeigen wird.
ven Erlebens zurück. Erst die dabei entwickelte aktive Art des Zuschauer-Akteurs kann man als neuen Helden Scottscher Prägung beschreiben und in ihm auch eine textuelle Präfigurierung des Lesers erkennen. Allerdings wird sich zeigen, dass Scott größte Schwierigkeiten hat, dessen Eigenschaften und Aktivitäten, gerade auch im kulturell-‚künstlerischen‘ Bereich, auf seine Leser tatsächlich zu übertragen. Dann, aber erst dann (vgl. 5.3.3.4), fällt er wieder auf den passiven Wavereley zurück, mit dem – und mit dessen Überwindung – sein Romanschaffen hier beginnt. Vgl. für Ansätze einer Interpretation von Edward Waverley als (auf dem Weg zu) einem aktiveren Intersubjekt, Millgate (1987: 35–58), die in Waverley (und Waverley) die Beschreibung eines Übergangs von einer falschen individualistischen zu einer richtigen kommunalen Identität ansetzt; sowie Shaw (1983), der bei der Entwicklung Waverleys wie Waverleys aber von einem Zweischritt von „spectatorship to an unsettling engagement with the past“ zurück zu „spectatorship“ (185) spricht. Anders die Lektüre von Brown (1979: 28f.), die die Bedeutung von „encounters“ betont und gerade darin die „dramatic“ Qualität des Romans sieht, also die spezifisch neuartige Theatralität von Scotts Romanen im Ansatz bereits erkennt. 51 Dieser ist zwar illegitim, handelt aber wie ein richtiger König.
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The apparatus for dinner was simple, even to rudeness, and the company numerous, even to crowding. At the head of the table was the Chief himself, with Edward, and two or three Highland visitors of neighbouring clans; the elders of his own tribe, wadsetters and tacksmen, as they were called, who occupied portions of his estate as mortgagers or lessees, sat next in rank; beneath them, their sons and nephews, and foster-brethren; then the officers of the Chief’s household, according to their order; and, lowest of all, the tenants who actually cultivated the ground. Even beyond this long perspective, Edward might see upon the green, to which a huge pair of folding doors opened, a multitude of Highlanders of a yet inferior description, who, nevertheless, were considered as guests, and had their share both of the countenance of the entertainer and of the cheer of the day. In the distance, and fluctuating round this extreme verge of the banquet, was a changeful group of women, ragged boys and girls, beggars, young and old, large greyhounds, and terriers, and pointers, and curs of low degree; all of whom took some interest, more or less immediate, in the main action of the piece. (103)
Die letzten Worte identifizieren die Szenerie als Theater, in dem die Teilnehmer aber allesamt sowohl Zuschauer als auch Akteure sind. Sie beobachten und gestalten das Treiben gleichermaßen, was gerade an der „multitude of Highlanders“ zum Ausdruck gebracht wird. Das Bankett ist verschiedentlich als kritische Inszenierung einer feudalen Gesellschaftsordnung interpretiert worden52, erscheint vor dem Hintergrund zeitgenössischer Theaterkonzepte, etwa dem mehrfach erwähnten alternativen Theater von Rousseau53, aber eher als festlich gestaffeltes Theater des Volkes.54 Rousseau selbst schwebt bei diesem Theatermodell natürlich keine Hierarchie sozialer Gruppen vor, wie es das vorliegende ‚Theater‘ durchaus vornimmt. Allerdings konnte Walter Scott, wie wir noch sehen werden, Volkstheater und Klassengesellschaft durchaus zusammendenken und
52 Zuerst wohl bei Brown 1979: 13f.; vgl. Makdisi 1995: 166. 53 Vgl. 2.2.2.4. 54 Grundlegend dazu Craig 2001: 13f., der die Bankettszene und die folgende Begegnung mit Flora als Theatermomente interpretiert. Aber auch Craig unterstellt Scott hier eher eine Kritik an den Inszenierungsstrategien der Highlander und von Nationen insgesamt und verfolgt die nachfolgende (durchaus problematisierte) Eingliederung Waverleys in dieses Theater bzw. die Entwicklung dieses Theaters durch nachfolgende Romane nicht genügend. Er konzentriert sich bei der Analyse einer konflikthaften Nationalerfahrung auf einige wenige, eher problembewusste Romane Scotts und sieht Scotts Theater des Politischen letztlich nur in den Konflikten innerhalb der Romane, nicht aber in ihren Lösungen angelegt. Daher klammert er etwa die Begegnung Jeanie Deans mit Königin Caroline in The Heart of Mid-Lothian oder auch die Schlussszenen aus Woodstock (vgl. 5.3.3.4) völlig aus. Wie oben bereits angedeutet, ist Scotts politisches Theater ‚eindeutiger‘ und weniger auf demokratische Offenheit aus als Craig es sieht. Deutlicher als ge schlossenes gemeinschaftsbildendes Theater wird das Bankett von Ragussis 2010: 176 gedeutet: „The clan community is defined through interactive performance and knows itself by recognizing itself in verses, in the family bard, in the fellow members of the audience.“
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hätte sich dabei sogar auf eine gewisse Hierarchisierung gerade der französischen Revolutionsfeste der 1790er Jahre berufen können.55 Auf Rousseaus Genfer Republikfest beziehbar wird die Highlander-fête nicht nur durch die erschöpfende Zahl der Teilnehmer und deren Verhalten, sondern auch durch eine Verschiebung in einen poetischen Text, die Rousseau ja ebenfalls bereits andeutet. Das Volk ersteht und erfährt sich nämlich ein weiteres Mal im Lied eines Barden. Mac-Murrough, the family bhairdh, an aged man […] began to chaunt, with low and rapid utterance, a profusion of Celtic verses, which were received by the audience with all the applause of enthusiasm. As he advanced in his declamation, his ardour seemed to increase. He had at first spoken with his eyes fixed on the ground; he now cast them around as if beseeching, and anon as if commanding, attention, and his tones rose into wild and impassioned notes, accompanied with appropriate gesture. He seemed to Edward, who attended to him with much interest, to recite many proper names, to lament the dead, to apostrophize the absent, to exhort and entreat and animate those who were present. Waverley thought he even discerned his own name, and was convinced his conjecture was right, from the eyes of the company being at that moment turned towards him simultaneously. The ardour of the poet appeared to communicate itself to the audience. Their wild and sun-burnt countenances assumed a fiercer and more animated expression; all bent forwards towards the reciter, many sprung up and waved their arms in ecstasy, and some laid their hands on their swords. When the song ceased, there was a deep pause, while the aroused feelings of the poet and of the hearers gradually subsided into their usual channel. (105)
Das Lied ist in der vorliegenden von Waverley beobachteten Rezeptionssituation ein Theater des Volkes a fortiori, da es das anwesende Volkstheater durch Einzelaufrufe strukturiert und damit die performance der Teilnehmer, omnes et singulatim56, entscheidend intensiviert. Jeder einzelne wird angesprochen, an seine ‚Rolle‘ erinnert und vor den anderen hervorgehoben, also beobachtbar für diese wie für sich selbst. Zugleich ist der Auftritt des Barden aber auch ein exemplarischer Moment der Intersubjektivität, bei der sich die Begeisterung eines ‚Volksvertreters‘, der den emotionalen Zusammenhang des Volkes exemplifiziert, aber auch befeuert, auf die anderen überträgt. Und das Überraschende ist ja, dass Edward Waverley in diesem verdoppelten Volkstheater bereits einen Ort hat, da das Lied auch ihn erwähnt. Waverley tritt im selben Moment aber an einen Scheideweg, der seine Erfahrung des Theaters des Volkes, und damit die vom Roman inszenierte exemplari-
55 Vgl. das Kapitel zu den Revolutionsfesten in Koschorke et al. 2007: 267–280. 56 So der Titel eines grundlegenden Vortrags von Michel Foucault zu den Erfahrungsformen der Macht (seit) der Romantik, die den je einzelnen miteinbezieht und zugleich alle umfasst (Foucault 2005: 118–219).
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sche Integration eines Subjekts in das Theater, folgenreich vertagt. Anstatt nämlich durch die Interpellation ebenfalls zum Zuschauer seiner selbst und zugleich zum integrierten Zuschauer-Akteur des Volkstheaters zu werden, bleibt Waverley hier ein externer Beobachter, der nicht genau versteht, worum es geht, und die Szene um das Lied nicht viel anders erlebt als das nur nachgeträumte Theater in seiner Bibliothek.57 Diese Aporie im Wortsinne ist schicksalhaft, denn da er nicht alles begreift, zieht Waverley sich vom Volksfest zurück und beginnt eine verfehlte, da isolierte und nicht mehr kollektive Rezeption dieses Lied: Er lässt es sich nämlich von Flora, Fergus’ Schwester, erläutern. Das Problem an einem (Volks-)Lied ist ja, dass man es auch ohne Volk rezipieren kann. Und diese Einzelinterpretation findet auch noch in einem Naturtheater statt... Advancing a few yards, […] the path ascended rapidly from the edge of the brook, and the glen widened into a sylvan amphitheatre […] At a short turning, the path, which had for some furlongs lost sight of the brook, suddenly placed Waverley in front of a romantic water-fall. [...] Here, like one of those lovely forms which decorate the landscapes of Claude, Waverley found Flora gazing on the water-fall. Two paces further back stood Cathleen, holding a small Scottish harp, the use of which had been taught to Flora by Rory Dall, one of the last harpers of the Western Highlands. The sun, now stooping in the west, gave a rich and varied tinge to all the objects which surrounded Waverley, and seemed to add more than human brilliancy to the full expressive darkness of Flora’s eye, exalted the richness and purity of her complexion, and enhanced the dignity and grace of her beautiful form. […] The wild beauty of the retreat, bursting upon him as if by magic, augmented the mingled feeling of delight and awe with which he approached her […] (113f.; meine Hervorhebungen)
Scotts Naturtheater ruft mit seinem Sonnenuntergang wieder eine Wordsworthsche ‚Königsdämmerung‘ auf, wenn auch eine direkte Referenz auf The Excursion im Falle von Waverley sehr unwahrscheinlich ist.58 Wie in Wordsworths Gedicht
57 Das Volkstheater wird dabei ein weiteres Mal verschoben, nämlich vom Volkslied selbst auf die (bloße) Wahrnehmung dieses Lieds durch Edward Waverley, auf den die Szene wie viele andere des Romans fokalisiert ist. Wie Rousseau auch beschäftigt sich Walter Scott demnach mit der Verfügbarkeit des Theaters des Volkes über einen längeren Zeitraum sowie für das einzelne Subjekt, geht in seiner Analyse und warnenden Problematisierung einer Poetisierung des Theaters des Volkes aber weiter als Rousseau (vgl. das Folgende). 58 Die vorliegende Stelle in Waverley war definitiv schon geschrieben, als The Excursion 1814 erschien. Wordsworth und Scott kannten sich zwar seit 1803; von einer Kenntnisnahme des Werkes durch Scott vor dessen Drucklegung ist aber nichts bekannt. Zugleich weitet die Stelle die Kritik an der naiven Politik der Wordsworthschen Kleingemeinschaft aber (potentiell) auf weitere Werke Wordsworths aus. Das ergriffene Paar in einem (politisch aufgefassten) Natur-
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(und in The Antiquary) besteht der Anteil an (menschlichen) Akteuren in diesem Theater wieder nur aus einer Kleingemeinschaft, die zudem auf eine (fixe!) Vortragende und einen (festgesetzten!) Zuhörer des Volks-Lieds begrenzt ist. Das Sentimentale und (später) Tragische der beiden besteht aber nicht in einer konkreten Gefahr, die von der Natur ausginge, sondern vielmehr in den Gefühlsstürmen, in die Flora Waverley stürzen wird. ‚Tragisch‘ folgenreich ist aber vor allem die von Flora vorgenommene und geradezu systematisch naturalisierte Umbettung des Lieds aus dem Volksfest in die romantisch-sentimentale Natur.59 Dabei
theater findet sich auch in den berühmten „Lines Composed a Few Miles Above Tintern Abbey“, wodurch auch die Lyrical Ballads implizit in die Kritik miteinbezogen werden. 59 Pittock (2003: 156–166) arbeitet die kulturellen Kontexte heraus, die Scott in diese Naturszenerie einarbeitet, u.a. die Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts, die Theorie des Malerischen, Reiseliteratur, aber auch Wordsworths Poetik. Die Artifizialität dieses Theaters in der Inszenierung durch Flora diene Scott der Vertuschung seines eigenen Theaters (159). Ich sehe hier eher eine deutliche Kritik Scotts an Floras falscher Isolierung und Poetisierung des Volkstheaters. Ganz ähnlich wie Makdisi 1995 setzt Pittock zuletzt den ‚Tod‘ (166) Schottlands als Voraussetzung für diese Medialisierung an. Für Duncan (1992: 81f.) ist der politisch-revolutionäre Aspekt des Gesangs eher eine schmutzige Realität, die verborgen hinter der romanzenhaften Ästhetik aufscheint – ähnlich der Verwandlung des Heeres in einen revolutionären Mob und des Prinzen in einen Pretender. Laut Kerr (1989: 29–31) schafft die doppelte Theatralität (des Textes und im Text) Distanz zwischen Erzähler- und Charakterstimme und legt dem Leser hier schon eine realistische Zugangsweiser nahe. Insgesamt konkurriere eine ästhetische mit einer epistemologischen Perspektive. Ich sehe Ästhetik und Epistemologie bei Scott allerdings als geradezu systematisch vereint. Nicht etwa die Tatsache des Ästhetischen an sich (sondern einer falschen Ästhetik) ist das Problem, das Scott mit Floras ‚Wordsworthscher‘ Dichtung hat. Ernst zu nehmen ist allerdings Humphreys Hinweis (1993: 88), dass die Balladenkunst bereits abgesunkenes Kulturgut sei, in dem ausgehaltene Balladensänger vergangene (!) Größen besängen und Flora eine akademische Musealisierung vornähme. In diesem Sinne reflektiert der Balladenkomplex dann doch bereits seine finale Virtualisierung im situationabstrakten Medium des Romans – allerdings als lebendig wirkende und vor allem britische, d.h. englisch-schottische Gemeinschaftserfahrung im Roman. Anders als Makdisi das sieht, geht es nicht um eine ausmerzende Historisierung Schottlands, sondern um eine Virtualisierung des gesamtbritischen Volks(erlebnis). Block 2008 sieht in dem Balladenkomplex einen hochkomplizierten Moment der metafiktionalen Selbstreflexion, bei der der historische Roman seine unleugbare Entgrenzung in dieses Lyrische austrägt. Das Verhältnis der beiden zueinander sei ein gebrochenes, ‚unmögliches‘, zugleich im Schlegelschen Sinne romantisch – ebenso wie die Balladen und ihr Vortrag selbst (47). Beide Pole der ‚Dichotomie‘ sind instabil bzw. finden nur im jeweils anderen zu sich selbst. Ich würde Blocks (nicht so bezeichnetes) Intermedialitätsverständnis natürlich noch um das Dramatische bzw. das Theater ergänzen wollen: Letztlich entgrenzen sich in Waverley im (zum) Medium des Romans eine (allerdings auf falsche Weise) ‚dramatische‘ poetry und das Szenario eines alternativen Theaters. Lincoln (2007) setzt interessanterweise einen Unterschied der politischen Wirkung des Gesangs auf das/dem Bankett von einer ‚kultivierten‘ Entpolitisierung am Wasserfall an (57–59). Ich sehe Scotts Kritik etwas anders gelagert, nämlich als Kritik
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werden das Volkstheater bewusst ab- und das Naturtheater als Rezeptionskontext aufgewertet. “I have given you the trouble of walking to this spot, Captain Waverley, both because I thought the scenery would interest you, and because a Highland song would suffer still more from my imperfect translation, were I to produce it without its own wild and appropriate accompaniments. To speak in the poetical language of my country, the seat of the Celtic Muse is in the mist of the secret and solitary hill, and her voice in the murmur of the mountain stream. He who woos her must love the barren rock more than the fertile valley, and the solitude of the desert better than the festivity of the hall.” (114; meine Hervorhebungen)
Diese Umbettung integriert zwar auch politische, volkstheatralische Elemente in ein Wordsworthsches Naturtheater und geht damit zumindest in die Richtung der von Scott angemahnten Reformation poetischer Naturtheater-Naivität. Allerdings zeigt Scott deutlich, dass auch diese Art des Naturtheaters das Subjekt höchstens politisch ein wenig ‚einstimmt‘, ansonsten aber vom Volk weg und emotional völlig in die Irre schickt. Ironischerweise ist Waverleys Liebesverwirrung letztlich Teil einer Strategie von Fergus und Flora, ihn als Teilnehmer ihres Volkes zu gewinnen und dabei zum Revolutionär zu politisieren. Diese Strategie schlägt aber völlig fehl, solange Waverley dem Vortrag Floras lauscht. Dann nämlich fällt er zurück auf seine isolierten Träumereien: He would not for worlds have quitted his place by her side; yet he almost longed for solitude, that he might decypher and examine at leisure the complication of emotions which now agitated his bosom. (115)
Flora erkennt ihren Fehler und versucht, ihn durch Liebesentzug doch noch zur Loyalität mit ihrem Volk und dessen Monarchen zu bewegen. Grausam rät sie ihm von einer Ehe mit ihr ab. Dabei setzt sie absurderweise von ihrem eigenen politischen Engagement genau die Sentimentalität ab, die sie und ihr Bruder in ihm verstärkt haben, um ihn zu politisieren:
an einer falschen und fatalen (und nicht einer entzogenen) Politik von Floras Gesang, folge aber Lincolns Fazit, dass Waverley nur und erst vom Pretender (vollends bzw. richtig) politisiert wird. Am deutlichsten widergespiegelt ist meine Position in der Analyse durch Ragussis (2010: 175–181), der in der Bankettszene und dem nachfolgenden Natur-Spiel den Übergang von einer intakten theatralen Volksgemeinschaft, die das erlebende Subjekt aber ausschließt, über eine problematische Einzeldarstellung dieses Volkes durch Flora bis hin zu einem isolierten ‚Liebestheater‘ des Helden, das an seine ziellosen Lektüreerfahrungen in der väterlichen Bibliothek erinnert, analysiert. Anders als bei Fergus (s.u.) analysiert Ragussis aber nicht Floras Status als tragische Einzelverkörperung des schottischen Volkes, genausowenig wie er die Entwicklung des Theaters des Volkes in den Romanen Scotts über Waverley hinausgehend interpretiert.
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“[Y]ou, Mr Waverley, would for ever refer to the idea of domestic happiness which your imagination is capable of painting, and whatever fell short of that ideal representation would be construed into coolness and indifference, while you might consider the enthusiasm with which I regarded the success of the royal family, as defrauding your affection of its due return.” (143)
Waverley über die Liebe zu einer Frau zur Liebe zu einem Volk zu verleiten, ist natürlich nicht der richtige Weg. Letztlich kann Flora sich anstrengen, wie sie mag.60 Sie kann Edward Waverley zu nicht mehr bewegen als einer „pantomime of affectionate enthusiasm“ (157): Mit dieser wunderbar ambivalenten Formulierung beschreibt Scott Waverleys schauspielerische Umsetzung seines emotionales Chaos, die er bezeichnenderweise nach der Lektüre von Floras Briefen vor sich alleine vollführt, und die zwischen ‚gespieltem‘ politischem Engagement und ‚echter‘ Verliebtheit schwankt. Floras fatale Emotionalisierung des Theaters des Volkes führt Waverley, ‚Wordsworth‘ in den Revolutionsbüchern des Prelude vergleichbar, aus dem Volkstheater weg hin zu einem schmerzvollen Ich-Theater, in dem Zuschauen und Handeln sowie Vorstellung und Realität ununterscheidbar kollabieren. Verbunden mit diesem Irrweg ist für Scott eine obsolete absolutistische Verkörperungslogik, die schon Wordsworth in The Excursion überwinden wollte. Vor den Augen Edwards wird Flora von der Vermittlerin des Kollektivs nämlich zum Ersatz für das Kollektiv, etwa in der Beschwörung der „richness and purity of her complexion, and [...] dignity and grace of her beautiful form“ (114), durch die sie – in unmittelbarem Anschluss an den Sonnenuntergang – gewissermaßen ein Teil des politischen Naturtheaters wird. Sie verdrängt das Volk durch ihre Sentimentalitäten, aber sie wird auch zu seiner weiblichen Verkörperung, der (zunehmend) ein tragisches Pathos eingeschrieben ist.61 Die Verbindung von Politik, Verkörperung des Volkes durch einzelne und Tragödie, die Scott in Antiquary zur Durcharbeitung angemahnt hat, wird hier wieder greifbar. Zudem suggeriert Scott ein weiteres Mal, dass Wordsworths poetische Kleingruppensentimentalität genau in die Richtung dieser Verbindung führt, anstatt sie zu überwinden. Obwohl die schottische Revolution am Ende des Romans, wie wir sehen werden, genau dieser Tragik anheimfallen wird, überwindet sie deren drohendes
60 Interessanterweise kommt sie während ihres Vortrags der Volks-Ballade im Naturtheater nicht dazu, die an Waverley appellierende Stelle überhaupt vorzutragen (116). Als Ersatz gibt sie ihm sodann eine von ihr verfasste Ballade als Lesetext (!) mit, der seine Plazierung im Volk zwar mit allen Mitteln konzentriert (156f.), aufgrund einer Rezeptionsweise aber, die vom Volkstheater noch weiter wegführt als die Rezitation zu zweit, geradewegs ins Selbsttheater führt. 61 Vgl. ihre Rolle bei der Volkstragödie der Revolutionäre im Folgenden.
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Pathos an dieser Stelle – und zwar, indem sie Flora absetzt und den richtigen König präsentiert. Der Prätendent Bonnie Prince Charlie, den Waverley im 40. Kapitel endlich trifft, ist nämlich ein Monarch, der immer an der Seite seines Volkes ist und dennoch nie an dessen Stelle tritt. Zusätzlich ist er nicht einfach nur ein eingeordneter Monarch, wie er Wordsworth vorschwebt, sondern eine herausragende Persönlichkeit, die Edward endlich in einer intensiven intersubjektiven Begegnung in das (zugleich präsente!) Volk aufnimmt. Dabei ist der Pretender gerade deswegen so effektiv, da er zwar eine überragende Erscheinung, zugleich aber auch selbst ein fühlendes Subjekt ist, mit dem man sich emotional austauschen kann: [H]is words and his kindness penetrated the heart of our hero, and easily outweighed all prudential motives [...] Waverley, kneeling to Charles Edward, devoted his heart and sword to the vindication of his rights. The Prince [...] raised Waverley from the ground, and embraced him with an expression of thanks too warm not to be genuine. (206)
Indem der Monarch sich gegenüber den Mitgliedern seines Volkes ‚öffnet‘, kann er sie von seiner Größe überzeugen. Zudem steht diese Öffnung für jene Transparenz der Monarchie, die Paine ihr vehement abspricht und die The House of Aspen als Desiderat ausweist. Der Pretender bekräftigt seinen Anspruch auf ein open theatre of monarchy in der Folge denn auch dadurch, dass er unabsichtlich durch ihn ausgelöste Liebeshändel zwischen Waverley und Fergus durch klare und ehrliche Worte aus der Welt schafft.62 Damit arbeitet er nicht nur das Painesche Klischee vom intriganten Hof63 durch; er macht auch die intrigante Sentimentalisierung des Politischen, für die Flora steht, aktiv rückgängig, da die Klärung durch den Monarchen Waverley langfristig die Ehe mit einer anderen Frau und damit die endgültige Abwendung von Flora ermöglicht. Mit Flora war ein solcher Gefühlsaustausch bezeichnenderweise nicht möglich, nicht zuletzt deswegen, da sie im Gegensatz zum Pretender ein gemeinschaftsfernes ‚Emblem‘ der Revolution ist, aber eben kein, wenn auch herausgehobener, menschlich-lebendiger Teilnehmer. Aus diesem Grund wird Flora gerade dann verstoßen, als die klimaktische Verschmelzung von Subjekt, König und Volk erfolgt. Der Pretender veranstaltet in Holyrood Castle, wo er residiert, einen Ball. Als Flora ihn auch bei dieser Gelegenheit schneidet, beschließt Waverley sie hinter sich zu lassen und wird gerade
62 Kapitel 53–58, Scott 2008: 266–291. 63 Vgl. 2.2.2.4.
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dadurch zu einem voll integrierten Bestandteil dieses Theaters des Volkes, wobei er gar Charakterzüge eines Barden in der Mitte seines Volkes annimmt: Should he appear to be the only one sad and disheartened on the eve of battle, how greedily would the tale be commented upon by the slander which had been already but too busy with his fame? Never, never, he internally resolved, shall my unprovoked enemies possess such an advantage over my reputation. Under the influence of these mixed sensations, and cheered at times by a smile of intelligence and approbation from the Prince as he passed the group, Waverley exerted his powers of fancy, intelligence, and eloquence, and attracted the general admiration of the company. […] The gaiety of the evening was exalted in character, rather than checked, by the approaching dangers of to-morrow. All nerves were strung for the future, and prepared to enjoy the present. This mood of mind is highly favourable for the exercise of the powers of imagination, for poetry, and for that eloquence which is allied to poetry. Waverley […] possessed at times a wonderful flow of rhetoric; and on the present occasion, he touched more than once the higher notes of feeling, and then again ran off in a wild voluntary of fanciful mirth. He was supported and excited by kindred spirits, who felt the same impulse of mood and time; and even those of more cold and calculating habits were hurried along by the torrent. (222, meine Hervorhebung)
Waverley ist hier geradezu der Gegenentwurf zu Flora: In enger Verbindung mit dem König und seinem Volk wird er der Gemeinschaft zu einem Dichter inmitten des Volkes, der nicht nur den Zusammenhalt stärkt, sondern letztlich die anderen auch zum ‚Dichten‘ – und damit zu einer exponentiellen Verstärkung dieses Integrationseffekts – anregt. Das exemplarische Subjekt ist bei seinem König und in der Mitte seines Volkes angelangt; diese drei für Scott zentralen Elemente eines Theaters des Volkes konstituieren, verstärken und erfahren einander in diesem Moment, denn auch das Kollektiv insgesamt findet gerade durch Anwesenheit und Austausch von Waverley und dem ‚König‘ zu sich selbst. Flora dagegen tritt in den Hintergrund und wird bald der Volkstragödie, die sie verkörpert, überantwortet. In der zweiten Hälfte des Romans, nach dem triumphalen Sieg bei Preston, kippt dieses Volkstheater – und mit ihm die gesamte Revolution – nämlich in die Tragödie. Tragischerweise muss dadurch aber auch der politische Integrationsprozess, den Waverley durchlaufen hat, in die Latenz zurückversetzt werden. Volk, König und exemplarisches Subjekt verlieren einander, sobald sie sich nicht mehr nach innen konstituieren und stabilisieren, sondern nach außen wenden – und zwar gegen eine legitime Monarchie. Bezeichnenderweise jubelt deren Volk dem Pretender nämlich nicht zu, als er, wie ‚einst‘64 Charles II, versucht, ihm die Monarchie ‚zurückzubringen‘.
64 D.h. wie am Anfang von Waverley angedeutet und am Ende von Woodstock (vgl. 5.3.3.4) ausgeführt, wo Charles ja ein funktionierendes Volkstheater ermöglicht.
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[Waverley] could not but observe, that in those towns in which they proclaimed James the Third, “no man cried, God bless him.”65 The mob stared and listened, heartless, stupefied, and dull, but gave few signs even of that boisterous spirit, which induces them to shout upon all occasions for the mere exercise of their most sweet voices. (281)
Nach einem Scharmützel verliert Waverley den Anschluss an die Truppe und wird damit von seinem Volk getrennt. Von der finalen Niederlage der Schotten sowie der Flucht des Pretender nach Frankreich, also der Trennung des Volkes von seinem König, erfährt er nur noch vom Hörensagen. Mit dieser Separation von Subjekt, Volk und König zerfällt auch das Theater des Volkes und fällt, fast logischerweise, in die Tragödie (der Verkörperung) des leidenden Volkes zurück. Auslöser für diese Volkstragödie ist ausgerechnet – aber doch erwartbarerweise – die strafend ‚zurückkehrende‘ legitime Monarchie. Diese macht Fergus und seinen engsten Gefolgsmann nämlich, stellvertretend für die Revolution bzw. das revolutionäre Volk, den Hochverratsprozess. “Fergus Mac-Ivor of Glennaquoich, otherwise called Vich Ian Vohr, and Evan Mac-Ivor […], you, and each of you, stand attainted of high treason. What have you to say for yourselves why the Court should not pronounce judgment against you, that you die according to law?” Fergus, as the presiding Judge was putting on the fatal cap of judgment, placed his own bonnet upon his head, regarded him with a steadfast and stern look, and replied, in a firm voice, “I cannot let this numerous audience suppose that to such an appeal I have no answer to make. But what I have to say, you would not bear to hear, for my defence would be your condemnation. Proceed, then, in the name of God, to do what is permitted to you. Yesterday, and the day before, you have condemned loyal and honourable blood to be poured out like water—spare not mine—were that of all my ancestors in my veins, I would have peril’d it in this quarrel.” He resumed his seat and refused again to rise. (341, meine Hervorhebung)
Fergus wird von der Monarchie angesichts seiner Namensvielfalt gewissermaßen als revolutionäres Kollektiv interpelliert und nimmt diese Interpellation mit dem Hinweis auf das Blut seiner Vorfahren in seinem Körper auch an: Er wird zur Verkörperung der revolutionären Volkes durch einen Einzelnen. Durch seine Hinrichtung geht demnach die Tragödie des Volkes konsequent in ihre Katastrophe, erhält damit aber auch das für sie typische revolutionäre Potential, dessen Pro-
65 Ein leicht abgewandeltes Zitat aus Shakespeares Richard II (V, 2, 28, wo „save“ statt „bless“ steht, zit. nach hg. Forker 2002: 431), wobei dort interessanterweise auch ein ‚Prätendent‘, nämlich Bolingbroke, nicht bejubelt wird. Vgl. zur Rezeption – und Überwindung – von Richard II in Scotts Werk die Analyse zu Woodstock, speziell 5.3.3.5.
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blematik Fergus in einem Moment komplexer Selbstreflexion der Volkstragödie auch anerkennt. An officer now appeared, and intimated that the High Sheriff and his attendants waited before the gate of the castle, to claim the bodies of Fergus Mac-Ivor and Evan Maccombich: “I come,” said Fergus. Accordingly, supporting Edward by the arm, and followed by Evan Dhu and the priest, he moved down the stairs of the tower, the soldiers bringing up the rear. The court was occupied by a squadron of dragoons and a battalion of infantry, drawn up in hollow square. Within their ranks was the sledge, or hurdle, on which the prisoners were to be drawn to the place of execution, about a mile distant from Carlisle. It was painted black, and drawn by a white horse. At one end of the vehicle sat the executioner, a horrid looking fellow, as beseemed his trade, with the broad axe in his hand; at the other end, next the horse, was an empty seat for two persons. Through the deep and dark Gothic arch-way that opened on the drawbridge, were seen on horseback the High Sheriff and his attendants, whom the etiquette betwixt the civil and military powers did not permit to come farther. “This is well got up for a closing scene,” said Fergus, smiling disdainfully as he gazed around upon this apparatus of terror. (349f.)
Fergus lobt hier die Situation, in der er sich befindet, als perfekte Erfüllung einer Volkstragödie66 – nicht zuletzt, da, denkt man an die Rolle dieses Musters während der Französischen Revolution67, die dadurch ausgelösten Emotionen die Revolution fortsetzen könnten. Zugleich muss er aber auch anerkennen, dass die Monarchie diese Schlussszene so inszeniert („got up“) hat, dass sie dieses revolutionäre Potential kleinhalten kann. Die Hinrichtung findet nämlich abseits der Stadt („a mile distant from Carlisle“) fast im Verborgenen statt, und mildert damit die Tragik dieses Endes, das zwar in fast archaischer Fundamentalität aus der rituellen Zerstückelung des renegaten (Volks-)Körpers besteht68, welche aber nicht ‚gezeigt‘ wird. Der Roman schließt sich der verborgenen Hinrichtung an und überschreibt (bzw. unterrepräsentiert) damit das volkstragische Ende, das er heraufbeschworen hat, sogleich wieder.69
66 Von diesem tragischen Ende ist, wie bereits angedeutet, auch seine Schwester Flora betroffen, nicht zuletzt, da sie ja auch eine (tragische) Verkörperung des Volkes ist. Kurz vor der Hinrichtung, an der sie sich – nicht ganz zu Unrecht, vor allem auf repräsentationslogischer Ebene des Textes – die Schuld gibt, bricht sie zusammen (345f.) und geht schließlich ins Kloster. Ragussis 2010: 184 sieht in der vorliegenden Szene um Fergus ebenfalls ein „spectacle of the tragic end of the Highlanders“ (184). 67 Vgl. 2.2.2.2. 68 In dieser Zerstückelung (sparagmos) eines ‚heiligen‘ Körpers kann man ein Urelement des Tragischen ansetzen, vgl. Merten 2004. 69 Sogar eine ‚realistische‘ Lesart wie Brown 1979: 24 sieht hier deutlich Grenzen der englischen Justiz und deren Rechtsphilosophie in der Bewertung dieser ganz anderen, revolutionären, Kul-
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Scott möchte den Geist – und das Ende – von The House of Aspen durch seine Romane ja letztlich aus der Welt schreiben; daher verknappt er, so gut es geht, die Elemente einer blutigen Justiz, gegenüber der sich trotzige Subjekte behaupten, und einer rächenden Monarchie, die diese Gewalt nicht überwindet, sondern selbst anwendet. Dennoch kann er, wie wir gesehen haben, auf diese Atmosphäre doch nicht ganz verzichten. An der Rückkehr der Verkörperungstragik und Verkörperungslogik und der damit verbundenen Verdrängung der Repräsentation der Vielheit ist ihm in gewisser Weise gelegen – nämlich aus didaktischen Gründen: Waverley stellt das Theater des Volkes in all seiner Bindungskraft für ein erlebendes Subjekt vor, mahnt aber zugleich die dafür notwendige Überwindung der verkörpernden Volkstragödie in aller Deutlichkeit an. Scott kann und will deren Szenarien nicht einfach so zurücklassen, sondern stellt sie als eine Erfahrungsform des Politischen vor, die ein ausgeglichenes Volk in seinen Repräsentationen hinter sich lassen muss. Letztlich erzeugt, so Scott warnend, die Revolution dieselbe Darstellungslogik wie die Regierungsform, die sie überwinden möchte,
tur, die dadurch (volks-)tragische Würde erhalte. Damit werde die Gerichtsszene sogar zum dramatischen Höhepunkt des Romans (29). Gerade diese Niedergangs-Tragik möchte Scott aber, wie Wordsworth, überwinden hin zu einem positiven Theater des Volkes (s. das Folgende). Beiderwell (1992: 11–27) thematisiert vor allem die Ungerechtigkeit/Ungleichbehandlung von Waverley und Fergus und die darauf aufbauende Problematik der Hinrichtung in Waverley. In einem Problem, das Justiz und Roman teilen, werde Fergus durch die Grausamkeit der Hinrichtung letztendlich legitimiert. Damit eröffne der Roman einen Diskurs über die unkontrollierbare, zutiefst ambivalente Theatralität von Strafen, die sich in Heart of Mid-Lothian fortsetze (s.u.): In ihrer abschreckenden Wirkung können Strafen geradezu in ihr Gegenteil umschlagen. Insgesamt fehlt Beiderwells grundlegender Interpretation allerdings ein (eingehendes) Bewusstsein für die Implikationen dieser ‚Gerichtstragödie‘: Sie muss nämlich überstiegen werden, nicht nur, um eine Legitimierung des Revolutionärs zu verhindern, sondern auch, um die Tragödie des Volkes hin zum Theater des Volkes zu entwickeln. Eine Gesellschaft darf sich darüber hinaus laut Beiderwell ihrer eigenen Justiz nicht unterwerfen (25–27), wie das ja in The House of Aspen (ein Werk, das Beiderwell allerdings nicht berücksichtigt) so eklatant vorgeführt wird. Duncan (1992: 89 u. 96f.) sieht bei Waverleys Rolle während der Hinrichtung schon diejenige des Smithschen „impartial spectator“, der distanziert-liberal sieht und leidt, sich dann aber entfernt und nicht etwa eine tragisch-revolutionäre „bondage of representation“ eingeht. Insgesamt präsentiert der Roman laut Duncan eher eine distanziert-problematische Version von sympathy ganz im Gegensatz zum Antiquary (97), wo ein traditionell-feudalistischer Patriarch in die sentimentale Gemeinschaft aufgenommen werde (s.o.). Diese Erlösung werde den modernen Charakteren, z.B. Waverley, der sich deutlich zurückzieht, nicht zuteil. Im Gegensatz dazu sieht Hamilton (2003) den Prozess und die Hinrichtung gerade als Verstrickung von Staat und Zuschauern in die revolutionäre Theatralität – eine Art gewalttätiger sympathy (135f.). Ich sehe die Frage, ob und welche Art der sympathy zwischen Fergus und Waverley bzw. anderen Zuschauern seines Prozesses bzw. seiner Hinrichtung ausgetauscht wird, als zweitrangig an. Der Austausch zwischen Waverley und den Königen ist sehr viel wichtiger.
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und führt daher für das Volk zu denselben Szenarien einseitiger Verkörperung und tragischen Zerfalls und eben zu keiner adäquaten Erfahrung des Kollektivs in seiner Größe und Verschiedenheit. Um letztere zu erreichen, müsste sich das Volk Scott zufolge friedlich (und imaginativ) von innen heraus und nicht durch gewaltsame Abgrenzung nach außen konstituieren.
5.2.2.2 W averley und das Theater des monarchischen Volkes: Bedingte Lösungen, offene Enden Im Sinne dieser komplexen Doppelfunktion des Endes lässt Scott auch die Wiedereingliederung Waverleys in den legitimen Bereich ablaufen. Einerseits darf Waverley als das repräsentative Subjekt natürlich nicht einfach mit in den Untergang getrieben werden; andererseits kann er nach dem Ende der Revolution nicht problemlos den richtigen König treffen und sich in das ‚wahre‘ Volk eingliedern. Vielmehr ist die ‚richtige‘ Repräsentation des Volkes in einer fatalen Volkstragik aufgegangen und muss erst mühsam wieder erarbeitet werden. Vor diesem Hintergrund wählt Scott eine subtile Doppelkodierung, derzufolge eine Art Versöhnung Waverleys mit dem legitimen Monarchen zwar stattfindet, aber (so gut wie) nicht repräsentiert wird, während alle abschließenden Versöhnungsszenarien (zwischen diesem Monarch, dem revolutionärem und dem legitimen Volk) bewusst in einer verengenden Verkörperungslogik verbleiben und damit ihren Status als lediglich provisorische Repräsentationen des Volks deutlich ausstellen. So ist Waverleys Treffen mit George II ganz deutlich mehrfach entrückt und hat mit seinem Austausch mit Bonnie Prince Charlie nichts gemein: Es findet nicht einmal durch ihn persönlich statt, sondern durch einen Freund, der sich für ihn einsetzt; es wird Waverley von diesem nicht einmal persönlich geschildert, sondern brieflich mitgeteilt. Nachdem damit der Gefühlsaustausch zwischen dem Monarchen und ‚seinem‘ Subjekt doppelt entrückt ist, nimmt es auch nicht mehr wunder, dass zwischen George und Talbot denn auch keine (guten) Emotionen ausgetauscht werden. Im Brief des letzteren heißt es: I waited upon his Royal Highness immediately on my arrival, and found him in no very good humour for my purpose. [...] This was no favourable moment for opening my business; however, I said I was rejoiced to learn that his Royal Highness was in the course of granting […] requests, as it emboldened me to present one of the like nature in my own name. He was very angry, but I persisted; I mentioned the uniform support of our three votes, my brothers’ and my own, in the House, touched modestly on services abroad, though valuable only in his Royal Highness having been pleased kindly to accept them, and founded pretty strongly on his own expressions of friendship and good-will. He was embarrassed, but obstinate. [...] I perceived that he still meditated a refusal, and taking my commission from my pocket, I
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said, as a last resource, that, as his Royal Highness did not, under these pressing circumstances, think me worthy of a favour which he had not scrupled to grant to other gentlemen whose services I could hardly judge more important than my own, I must beg leave to deposit, with all humility, my commission in his Royal Highness’s hands, and to retire from the service. He was not prepared for this; he told me to take up my commission, said some very handsome things of my services, and granted my request. You are therefore once more a free man, and I have promised for you that you will be a good boy in future, and remember what you owe to the lenity of government. [...] Therefore make good use of your time, for when your week is expired, it will be necessary that you go to London to plead your pardon or something or other in the law court. (333f.; meine Hervorhebungen)
Die ‚Versöhnung‘ Waverleys mit seinem König beruht auf Erpressung, und die Reise nach London wird im Roman gar nicht mehr erwähnt. Scott hat sie wohl im Rahmen der Problemlage in Waverley als nicht mehr darstellbar erachtet und stellt sie daher bewusst in den Mittelpunkt eines weiteren Romans, nämlich The Heart of Mid-Lothian. Dort setzt sich, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, ein Subjekt vor der Monarchie für einen body politic des revolutionären Volkes ein und erlangt jene Begnadigung, die Fergus – und letztlich auch Waverley – hier noch versagt bleibt.70 Folgerichtig bleibt auch das (revolutionäre) Kollektiv in Waverley nicht bzw. bewusst falsch repräsentiert. Mit Fergus hat es eine absolutistische Verkörperung erhalten und ist daher hingerichtet worden. Alle weiteren Versuche der Repräsentation des Volkes am Ende von Waverley bleiben dieser falschen Repräsentationslogik absichtlich verhaftet. Die Versöhnung zwischen Waverley und dem König enthält bereits Züge dieser Logik, da Waverley auch für die zu begnadigenden schottischen Revolutionäre steht. Damit repräsentiert wieder einmal ein Einzelner das Kollektiv; das Entrückte, Inauthentische dieser Repräsentation wird schon dadurch deutlich, dass dieser Vertreter nicht nur Engländer ist, sondern auch noch durch einen weiteren Engländer vertreten wird. Von einer (Selbst-) Erfahrung des Kollektivs gegenüber dem König, wie sie etwa in der Ballszene aufschien, sind wir hier bewusst weit entfernt. Dieselbe (problematisierte) Verkörperungslogik finden wir in einem Gemälde, das für den Gutshof eines schottischen Adeligen ausgeführt wird, den
70 Ward 1998: 195f. gibt der ‚Begegnungs‘-Stelle in Waverley allerdings zentrale Bedeutung in der politischen Struktur des Romans und vergleicht sie implizit auch mit der Königsbegegnung in The Heart of Mid-Lothian, wobei er die eklatanten Unterschiede in der Darstellungsweise allerdings nicht beachtet. Die Fügung unter den hannoveranischen Monarchen sei als unvermeidlich dargestellt; zugleich kritisiere Scott die Anfechtungen dieser legitimen Verfassung auf beiden Seiten, also sowohl beim Pretender bzw. bei Fergus als auch bei Waverleys Vater (der sich als vom König trotz seiner Loyalität übergangen fühlt).
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Edward Waverley durch Heirat von dessen Tochter zuletzt ‚erbt‘. Auch hier ist das Eigentliche mehrfach entrückt, und – was noch verwirrender ist – Waverley steht mit einem Mal für das englische Volk (und dessen König): There was one addition to this fine old apartment, however, which drew tears into the Baron’s eyes. It was a large and animated painting, representing Fergus Mac-Ivor and Waverley in their Highland dress, the scene a wild, rocky, and mountainous pass, down which the clan were descending in the back-ground. It was taken from a spirited sketch, drawn while they were in Edinburgh by a young man of high genius, and had been painted on a fulllength scale by an eminent London artist. Raeburn himself (whose Highland chiefs do all but walk out of the canvas) could not have done more justice to the subject; and the ardent, fiery, and impetuous character of the unfortunate Chief of Glennaquoich was finely contrasted with the contemplative, fanciful, and enthusiastic expression of his happier friend. Beside this painting hung the arms which Waverley had borne in the unfortunate civil war. The whole piece was generally admired. (361; meine Hervorhebungen)
Ein Londoner Gemälde nach einer Edinburgher Skizze, das Waverley mit einem Mal als (eher) zurückhaltende, ‚glücklichere‘ Verkörperung des englischen Volkes zeigt, während Fergus der body politic des ungezähmteren und (damit auch zu Recht) tragischen schottischen Volks ist: Die Verkörperungslogik erscheint hier durch die Bedeutungsverschiebung in der Figur ‚Waverleys‘ vom schottischen zum englischen Volk allmählich überdeterminiert, scheint aber dennoch – oder gerade deswegen – eine typische sentimentale Volkstragik, die den Baron zu Tränen rührt, zu erzeugen. Zugleich tritt aber die Uneigentlichkeit dieser Repräsentation, die von den Highlands nach Edinburgh, von dort nach London und zurück reisen musste, wieder deutlich hervor.71
71 Kerr 1989: 19 arbeitet den ‚picture of a picture‘-Aspekt des Gemäldes ebenfalls heraus, sieht in ihm dann aber vor allem ein „metafictional moment“, der die „domesticating force“ des Romans selbst betone. Das Bild ist m.E. allerdings eher eine metafiktionale Warnung vor den (noch) herrschenden Defizite bei der Repräsentation des Politischen als ein zufriedener Hinweis auf die Medialität des Romans selbst. Eher ermahnt Scott sich und seine Kultur, erst ein funktionierendes Theater des Volkes zu entwerfen und dieses sodann kompensatorisch zu virtualisieren. Block (2008: 55f.) folgt eher konservativen Lesarten, die ein containment der Scottishness (und eben keine Reflexion auf eine britische politische Romantik) in diesem Bild sehen, wodurch dieses aber „against the grain“ des Romans insgesamt schneide. Ähnlich argumentiert Makdisi (1995: 173f.), nämlich dass das Bild seine Artifizialität zwar ausstelle, aber gerade dadurch für die Erfindung eines Raums der Vergangenheits stehe, der sofort eingenommen werde, gerade da er nur erfunden sei. Ich sehe die politische Problematik des Bildes (wie des Romans insgesamt) eher in einer verkörpernden Ästhetisierung des Politischen allgemein als in der ästhetischen Unterstützung einer speziellen Kolonialpolitik. Duncan (1992: 97f.) betont, Waverley werde in diesem Gemälde vom Zuschauer zum künstlichen, von anderen betrachteten Spektakel (m.E eben zur
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Zugleich insistiert der Roman, dass auch die Betrachter dieses Gemäldes, die Bewohner dieses Gutes, über die Kleinstgemeinschaft nicht hinauskommen und gerade nicht zu Volksstärke zurückfinden. Die auf diesem Gut stattfindende Hochzeit zwischen Waverley und seiner Hochland-Braut wird denn auch keine festlich-symbolische Volksversöhnung, sondern bewusst so klein gehalten – und ebenso ‚klein erzählt‘ –, dass der Brautvater sich an dieser ausgestellten NichtSymbolik geradezu reibt: The day of [Waverley’s] marriage was fixed for the sixth after his arrival. The Baron of Bradwardine, with whom bridals, christenings, and funerals were festivals of high and solemn import, felt a little hurt that, including the family of the Duchran, and all the immediate vicinity who had title to be present on such an occasion, there would not be above thirty persons collected. “When he was married,” he observed, “three hundred horse of gentlemen born, besides servants, and some score or two of Highland lairds, who never got on horse-back, were present on the occasion.” (354)
Es ist noch nicht die Zeit für ein solches Volkstheater, wie der Baron anschließend selbst scharfsinnig bemerkt.72 Damit geht die Wiedereingliederung Waverleys ins richtige Volk bzw. dessen Versöhnung mit dem revolutionären Volk am Ende des Romans über ‚tragische‘ Verkörperungen deutlich nicht hinaus. Ebenso kann sie die Kleingemeinschaft nicht hinter sich lassen, deren ästhetische Überwindung ja auch ein offenes Desiderat von The Antiquary war, da diese Gemeinschaft, wie The Antiquary deutlich macht, potentiell ebenso tragisch (und) verkörpend ist. Waverley entpuppt sich aus dieser Perspektive als ein grandioser Problemroman, der das Theater des Volkes in all seinen Elementen verlockend erarbeitet, dann aber wieder zurücknimmt, um auf das hinzuweisen, was es ästhetisch (und) politisch noch zu leisten gilt, bevor dieses Theater erhältlich wird. Für Scotts nächs-
Verkörperung des Kollektivs) – allerdings auch im Sinne seiner Isolation und seines Rückzugs. Problematisch an diesem Bild ist nach meinem Dafürhalten aber nicht sein Sujet (Waverley sollte ja vom Zuschauer zum Akteur werden) als vielmehr seine ambivalente Ästhetik. Peacocke (2011) sieht in diesem Gemälde gar die Inszenierung einer differenzierten, historisch kontextualisierenden und individualisierenden Repräsentationsweise, wie sie die neuen Gemäldegalerien in Edinburgh zu Scotts Lebzeiten umsetzten. Eine Burkesche Ästhetik dynastischer Darstellung der Geschichte werde bewußt überwunden (197–206). M.E. findet sich in diesem Gemälde durch die Konzentration auf Einzelfiguren aber schon noch eine absolutistische Verkörperungslogik – gewendet zur Tragödie des Volkes. 72 „But his pride found some consolation in reflecting, that, he and his son-in-law having been so lately in arms against government, it ‘might give matter of reasonable fear and offence to the ruling powers if they were to collect together the kith, kin, and allies of their houses, arrayed in effeir of war, as was the ancient custom of Scotland on these occasions [...]’“ (354).
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ten großen Roman, The Heart of Mid-Lothian, steht jetzt erst einmal an, den Prozess gegen Fergus wieder aufzurollen, seine Begnadigung zu erwirken und von dort aus, zumindest teilweise, die Tragik der Verkörperung überwinden.
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5.2.3 The Heart of Mid-Lothian: Volk, Subjekt und (Theater der) Monarchie 5.2.3.1 Volkstragödie als tragische Selbstbestrafung Scotts siebter Roman The Heart of Mid-Lothian von 1818 knüpft an Waverley an, geht von dort aber auch stark zu den Problemen von The House of Aspen zurück.73 Überdeterminierte Verkörperungslogik ist auch ein Problem in The Heart of MidLothian, wird aber stärker mit dem aus The House of Aspen vertrauten Thema eines durch Königslosigkeit nicht repräsentierten und damit nach innen gewalttätigen Kollektivs verknüpft. Das nach außen revolutionäre, nach innen aber vorbildlich repräsentierte ‚Königs-Volk‘ aus Waverley wird in The Heart of Mid-Lothian modifiziert zu dem revolutionären und (unter einem gewalttätigen Anführer) zur Selbstjustiz neigenden Volk, das aus The House of Aspen bekannt ist. Zusätzlich wird diesem Volk aber nicht etwa eine rächende Monarchie gegenübergestellt, sondern eine Justiz, die selbst eher königsfern74 ist und damit letztlich ein Teil dieses Volkes. In der Bekämpfung der Revolution klagt ausgerechnet diese Justiz den body politic des revolutionären Volkes an, droht dadurch aber zugleich, die Revolution zu perpetuieren und das Volk – gewissermaßen in einem Akt der Selbstzerstörung – wiederum in die Tragödie zu treiben. Dadurch wird der in House of Aspen eklatante Aspekt einer Selbstbedrohung des Volkes aufgrund seiner Königslosigkeit, der in Waverley nur in Spuren vorhanden war, in The Heart of Mid-Lothian sogar noch verstärkt. Es zeigt sich, dass das königslose Volk zwar die Führung durch eine externe Größe benötigt, um nicht in die (zirkuläre) Selbstzerstörung zu verfallen, dass dieser König aber nicht wieder das Darstellungsprinzip der Vielheit durch absolutistische Verkörperungslogik aufheben darf. Das revolutionäre Volk in The Heart of Mid-Lothian ist die Volksmenge in Edinburgh.75 Von Anfang an ist dieses Volk durchsetzt von einer Justiz, die es durch Rechtssprechung regulieren und durch öffentliche Hinrichtungen einschüchtern will, es letztlich aber dazu treibt, sich diese Justiz anzueignen, was wiederum Gegengewalt hervorruft – ähnlich der gegenseitigen juristischen Bedrohung in
73 Robertson 1994 ist der einzige Text, der sowohl The House of Aspen als auch The Heart of Mid-Lothian in einiger Ausführlichkeit behandelt – Verbindungslinien werden allerdings keine gesehen, die Lösung von Problemen des Gerichtsdramas in Scotts großen Justizroman nicht bemerkt. 74 Auch Duncan (1992: 157) bemerkt die Königslosigkeit der schottischen Justiz, sieht in diesem aber eher einen Verlust politischer Souveränität, der sich (ähnlich der vorliegenden Interpretation) in Effies Schicksal verkörpere: Sie kann weder Vater noch Sohn vorzeigen. 75 Historischer Hintergrund sind die sog. Porteous Riots von 1736. Scott bleibt seiner Darstellungsstrategie, sein Labor für Volksbildungsprozesse in möglichst geringer zeitlicher und räumlicher Nähe zu seiner ‚Realität‘ aufzubauen, demnach auch in The Heart of Mid-Lothian treu.
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The House of Aspen.76 Unter der Anleitung des besonders rigorosen Justizbeamten John Porteous wird ein Schmuggler hingerichtet. Aus dem ‚Exempel‘ wird aber der Anlass zu einem Volksaufstand, der seinerseits zu einer blutigen Niederschlagung führt. Letztlich sind beide Fälle Akte der Selbstjustiz: He had been suspended on the gibbet so long as to be totally deprived of life, when at once, as if occasioned by some newly-received impulse, there arose a tumult among the multitude. Many stones were thrown at Porteous and his guards; some mischief was done; and the mob continuing to press forward with whoops, shrieks, howls, and exclamations, a young fellow, with a sailor’s cap slouched over his face, sprung on the scaffold, and cut the rope by which the criminal was suspended. Others approached to carry off the body, either to secure for it a decent grave, or to try, perhaps, some means of resuscitation. Captain Porteous was wrought by this appearance of insurrection against his authority into a rage so headlong as made him forget, that, the sentence having been fully executed, it was his duty not to engage in hostilities with the misguided multitude, but to draw off his men as fast as possible. He sprung from the scaffold, snatched a musket from one of his soldiers, commanded the party to give fire, and, as several eye-witnesses concurred in swearing, set them the example, by discharging his piece, and shooting a man dead on the spot. Several soldiers obeyed his command or followed his example; six or seven persons were slain, and a great many were hurt and wounded. (30f.)77
In dieser „multitude“ zirkuliert demnach die Gewalt, wobei sie außer den Hinrichtungen, für die sie zusammenkommen darf, keine Repräsentation ihrer selbst
76 Wie an Waverley untersucht Beiderwell 1992 auch an The Heart of Mid-Lothian die Folgen der nicht kontrollierbaren emotionalen, die Intention der Abschreckung weit überschreitenden Kraft von Bestrafungen/Hinrichtungen (62–80). Dabei zeichnet er den Gewaltenzirkel inhaltlich präzise nach, ohne allerdings auf Fragen der mit dieser Gewalt verknüpften Repräsentation des Volkes einzugehen. Farrell 1980 spricht vom „fierce and blind groping of revolutionary process“ (102), bemerkt also ebenfalls die Gewalt, die in diesem Volk herrscht, nicht zuletzt, da The House of Aspen ja der Ausgangspunkt seiner Interpretationen von Scotts Romanen ist. Gottlieb 2013 untersucht an Heart of Mid-Lothian wie ich die Durchdringung von Volk und Justiz. Er stützt sich dabei auf Michel Foucaults Konzeption einer polizeilichen (Selbst-)Überwachung der modernen Gesellschaft, wobei im Roman die Figur des James Ratcliffe, der vom Häftling zum Gefängniswärter wird, exemplifiziert, dass in dieser Art der Gesellschaft „law-breaking and law-enforcing [...] complementary activities“ (83) seien. Vgl. zu einer Analyse einer (i.S. von Foucault) modernen selbstüberwachten Gesellschaft auch meine Interpretation von The House of Aspen (3.2.2). Im Gegensatz zu Gottlieb sehe ich in Scotts Romanen aber eine sukzessive Überwindung dieser von Scott als gewalttätig angesehenen (Selbst-)Regulierung der Gesellschaft durch eine ‚progressive Rückkeht‘ zur Figur eines modernen, postabsolutistischen Monarchen. 77 Zitiert wird The Heart of Mid-Lothian nach der von David Hewitt und Alison Lumsden im Jahre 2004 herausgegebenen Fassung der Edinburgh Edition.
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besitzt bzw. nur durch das Chaos selbst repräsentiert wird.78 Vom König erfahren sie und ihre Regulationsjustiz nur ex negativo. Als letztere nämlich den Zirkel der Gewalt dadurch durchbrechen will, dass sie nun ausgerechnet Porteous wegen Mordes öffentlich hinrichten lässt, erreicht sie eine königliche Begnadigung gerade für diesen ambivalenten Gewalt(en)träger. Die rigorose Intervention gegen die Selbstjustiz des Amtsträgers, die wir vom Ende von The House of Aspen kennen, wird hier also von dieser Justiz selbst vorgenommen, woran sie vom König aber gehindert wird. Im letzten Moment muss diese Hinrichtung nämlich unterbrochen werden. The crowded populace, as if their motions had corresponded with the unsettled state of their minds, fluctuated to and fro without any visible cause of impulse, like the agitation of the waters, called by sailors the ground-swell. The news, which the magistrates had almost hesitated to communicate to them, were at length announced, and spread among the spectators with a rapidity like lightning. A reprieve from the Secretary of State’s office, under the hand of his Grace the Duke of Newcastle, had arrived, intimating the pleasure of Queen Caroline (regent of the kingdom during the absence of George II. on the Continent,) that the execution of the sentence of death pronounced against John Porteous, late Captain-Lieutenant of the City Guard of Edinburgh, present prisoner in the Tolbooth of that city, be respited for six weeks from the time appointed for his execution. (35)
Diese Intervention führt aber nicht etwa zum Ende der juristischen Gewalt, sondern lässt sie im Gegenteil nun vollends in die Menge diffundieren. The assembled spectators, of almost all degrees, whose minds had been wound up to the pitch which we have described, uttered a groan, or rather a roar of indignation and disappointed revenge, similar to that of a tyger from whom his meal has been rent by his keeper
78 Vgl. dazu vor allem Wilt 1985: 129f.: Die Menge stehe für Schottland, dessen nationaler Status innerhalb Großbritanniens der eines ‚Verbrechers‘ sei. Porteous bekämpfe diese „outlaw nation“, da er dem Gegenmythos des „lawful empire“ anhängt. Sussman 2002 rekonstruiert den diskursiven Kontext der Zeit: Die ‚Menge‘ wurde von Theoretikern wie Malthus eher als Überschuß bzw. Abfall der Nation(engemeinschaft) gesehen und (gedanklicher) Kontrolle unterworfen, etwa durch gezielten Einsatz des reproduktiven weiblichen Körpers (106–108). Diese Konzeption eines sich wandelnden social body erinnert an The Excursion – nur dass Scott eben auch dezidiert die Abwesenheit einer derartigen Repräsentation der Nation thematisiert. Zur fundierten, aber auch einseitigen Bewertung der Volksmenge durch Scott in Heart of Mid-Lothian vgl. Hewitt 2002. Er arbeitet heraus, dass Scott durch diese nüchterne Analyse zur Bewertung des „Porteous riot“ als eines „act of rebellion“ (304) gelangt – ihn dadurch aber letztlich nobilitiert (305). Dadurch setze er diesen Mob von demjenigen, der Madge ermordet (306), ab, eine Auffassung, die ich nicht teile (s.u.). Im Zuge des 18. Jahrhunderts sei der „Porteous riot“ dann sogar zu einem Mythos der politischen Selbstartikulation und -repräsentation des Volkes geworden (308). Diese Art der Repräsentation möchte Scott mit seinen Romanen und deren (gefordertem) Theater des Volkes aber eindeutig überschreiben/ersetzen!
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when he was just about to devour it. This fierce exclamation seemed to forbode some immediate explosion of popular resentment, and, in fact, such had been expected by the magistrates, and the necessary measures had been taken to repress it. But the shout was not repeated; nor did any sudden tumult ensue, such as it seemed to announce. The populace appeared to be ashamed of having expressed their disappointment in a vain clamour, and the sound changed, not into the silence which had preceded the arrival of these stunning news, but into stifled mutterings, which each groupe maintained among themselves, and which were blended into one deep and hoarse murmur which floated above the assembly. (35)
An diesem Abend passiert nichts mehr – oder eben das Entscheidende: Die Menge lässt das unorganisierte Brüllen sowie den offenen Aufstand, der nur wieder Gegengewalt auslösen würde, und ordnet sich in Grüppchen an – eine (gegenseitige) Wahrnehmung und Etablierung als ‚Volk‘ bahnt sich an. Diese Gruppen beschließen, nun ihrerseits die Justiz in die Hand zu nehmen, Porteous aus dem Gefängnis zu holen und auf dem selben Platz nach strengen Regeln, die sie sich angeeignet haben, selbst an den Galgen zu bringen.79 Über The House of Aspen hinausgehend sind die Menge und die gegen die Selbstjustiz gerichtete Gegengewalt eins geworden – gewissermaßen eine Selbstjustiz zweiter Ordnung. Trotz der scheinbaren Selbstorganisation hat gerade diese besonders extreme Revolutionsgemeinschaft einen Anführer. Dieser jedoch agitiert im Verborgenen, heimlich anstiftend, und präsentiert sich seinem Volk nicht offen als dessen Repräsentation. Im Laufe des Romans wird allmählich klar, dass der Sprung auf den Galgen bei der Hinrichtung des Schmugglers sowie die Anstiftung zur Selbstjustiz gegenüber Porteous auf das Konto eines jungen englischen Adeligen gehen. Dieser ist interessanterweise der Sohn eines Pfarrers und Gemeindevorstehers, der in vielen Zügen an den Pastor und Volks-König aus the Excursion erinnert.80 Scott macht aber wiederum deutlich, dass von diesem Herrschaftsmodell im wahrsten Sinne des Wortes nichts Gutes kommt81 und lässt den Sohn, George Staunton, sich von seiner Familie lossagen, sich in der Edinburgher Unterschicht herumtreiben und dabei zwei junge Frauen aus dem Volk, Magdalen Murdockson und Effie Deans, schwängern. Diese ‚sentimentalen Liebeshändel‘, die, wie sich zeigen wird, durchaus das Potential zur Volkstragödie haben, stehen im Zentrum
79 Scott 2004: Kap. 6 u. 7, 47–64. 80 Er betreut seine Gemeinde ähnlich fürsorglich wie der Pastor und verfügt über einen kulturell ebenso ‚verbindlichen‘ Friedhof wie dieser; vgl. Scott 2004: 281–287 sowie das Ende von 4.3.4. 81 Scott überführt Wordsworths Herrschaftsmodell der Laxheit, indem er zeigt, dass es einen revolutionären und manipulativen Volkstribun regelrecht ‚erzeugt‘.
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seiner revolutionären Machenschaften. Letztlich zettelt er die Selbstjustiz gegen Porteous nämlich nur an, um (vergeblich) zu versuchen, in der entstehenden Unruhe Effie Deans, der vorgeworfen wird, ihr uneheliches Kind ermordet zu haben, aus dem Gefängnis zu befreien. Und während des Lynchens von Porteous trägt er Frauenkleidung, die Magdalen, die zu diesem Zeitpunkt den Spitznamen Madge Wildfire trägt, ihm geliehen hat. Das revolutionäre schottische Volk wird also heimlich regiert von einem englischen (Anti-)König, der es aber nicht anleitet, sondern verführt und missbraucht.82 Die beiden Frauen, um die sich alles dreht, sind daher nicht nur Auslöser für die Revolution des Volkes, sondern auch, wie wir noch vertiefen werden, seine volkstragische Verkörperung. Die Manipulationen dieses Engländers, einer Art dämonischen Version – und Verschmelzung – von Edward Waverley und Bonnie Prince Charlie, an seinem Volk führen also nicht zu dessen positiver und stabiler Repräsentation in
82 Laut Sussman (2002: 115) wird er dabei zu einem Symbol des überlebten und in Charles I hingerichteten Absolutismus. Der Absolutismus ist ja genau jenes (tragisch!) Monarchische, dessen Niedergang von Burke bedauert, das von der romantischen Kultur insgesamt aber, und dabei auch von Wordsworth und Scott, wenn auch in je unterschiedlicher Weise, überschrieben wird (vgl. zu Scott vor allem die Konfrontation von Charles II und Cromwell, der zuletzt – wie Staunton – ebenfalls für Absolutismus und Revolution zugleich steht, in Woodstock; 5.3.3.3). Insgesamt sieht die Forschung (Farrell 1980: 69–129; Shaw 1983, Robertson 1994: 207–209; Henderson 1996: 130–162) Staunton als Rezeption Byronesker Romantik, die durch ein anderes (individuelles wie kollektives) Subjektmodell überwunden werden müsse. Kerr (1989: 71–73) sieht seine Sprache als überwundene, ‚barocke‘ Theatralität, die von Jeanies einfacher Herzensrhetorik abgelöst werde. Er wird zum Romantischen, das vom Text gebannt werden muss (79) – Henderson (1996: 147) stimmt dem zu. Sie sieht Staunton zunächst in der von Joseph Agnew (1986) erforschten Tradition ständig changierender, zirkulierender theatraler sozialer Identität (142f.), betont dann aber, dass Scott gerade (geheimnisvolle, verderbliche) romantische Innerlichkeit mit diesem (gierigen, kapitalistischen) Zirkulationsprinzip assoziiere (144; 146f.), so das Tiefensubjekt attackiere, in Jeanies finalem Eingang in die Gemeinschaft (s.u.) verabschiede und die Zirkulation stillstelle. Kerr sieht in Staunton daneben die Verkörperung eines tiefgreifenden Reformbedarfs von Unterund Oberschicht gleichermaßen sowie eine herbe Bloßstellung ihrer sexuellen Aktivität (83f.). Robertson 1994 bezieht Staunton nicht nur auf Byron, sondern auch auf Karl Moor aus Schillers Die Räuber. Damit propagiere der Roman einen volksnahen Antijakobinismus (kombiniert mit der Kritik an aristokratischer Willkür), könne sich aber Stautons Faszination selbst nicht ganz entziehen (207–213). Scott sei nämlich nicht nur skeptisch gegenüber dem Revolutionären, sondern letztlich auch gegenüber dem Gesetz, das es eindämmen soll (214). Farrell 1980 sieht Staunton am extremsten als „monstrous self-idolator“, der die Welt nach seinem Gutdünken gestalten will (104), und rückt ihn damit (unbewusst) in die Nähe von Rivers aus Wordsworths The Borderers. Da Staunton am Ende des Romans durch die Hand seines eigenen Kindes, des unehelichen Sohnes von Effie, fällt (Scott 2004: 465), hätte Scott demnach mit The Heart of Mid-Lothian nicht nur (in Ansätzen) The House of Aspen, sondern auch The Borderers überwunden.
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einem Theater des Volkes, sondern wieder einmal zu seiner Tragödie. Die Justiz führt nämlich Stauntons Missbrauch an Effie Deans und ihre Viktimisierung zum tragischen Volks-Opfer weiter und stellt sie vor Gericht. Scott verschiebt damit die revolutionäre ‚Nation‘ auf ein weibliches Opfer83 und agiert an ihr die (drohende) Rache der Justiz aus. Damit vollendet sich aber zugleich die von Staunton durch Missbrauch begonnene ‚Tragisierung‘ des Volkes in der Person/im Körper von Effie. Der Prozess gegen das Revolutionssymbol Fergus Mac-Ivor aus Waverley wird gewissermaßen noch einmal aufgerollt, zugleich aber auch auf einen weiblichen politischen Körper übertragen. Nach der Logik der vorliegenden Interpretation ist damit aber auch impliziert, dass das Revolutionsvolk sich selbst zum/ als tragischen/r body politic abstraft. Das (schottische) Volk droht, das in House of Aspen (und in Zügen auch in Waverley) vom zurückkehrenden Monarchen ausgeübte Prinzip der Gegengewalt zu internalisieren und zugleich selbst das absolutistische Prinzip des body politic zu perpetuieren. Effie Deans ist aber nicht nur eine körperliche Repräsentantin eines Volkes im drohenden Niedergang, sondern, da sie unter Todesdrohung vor Gericht auftritt, auch das konstitutiv verfolgte Subjekt, mithin eine Reprise der Isabella aus The House of Aspen.84 Effie Deans’ berühmte ‚Szenen‘ im Gerichtstheater, zu dessen Zuschauerschaft explizit der Edinburgher Mob gehört85, sind also wieder mehrfach kodiert. Im Vordergrund des Interesses steht aber, nicht nur ihre Hinrichtung, sondern auch die Volkstragik, zu der sie mitverurteilt ist, zu verhindern – und zwar letztlich mit den Mitteln dieser Tragik selbst. Vor dem Hintergrund dieses Pathos entsteht zwischen den Angeklagten und ihren Zuschauern zunächst ein intensives Theater gegenseitiger Beobachtung und Anmutung:
83 McCracken-Flesher (2002: 296) analysiert Scotts Nationalismus-Projekt in The Heart of MidLothian als eines der Verschiebung umkämpfter, männlicher, ‚öffentlicher‘ Belange in den Bereich der (mit der Vergangenheit assoziierten) Privatheit eines weiblichen Körpers: Effie als performer der Nation ist der Ersatz für den Staatsverbrecher Staunton. M.E. aber betont McCracken-Flesher in der Folge in Referenz auf Homi Bhahbha die performativen, destabilisierenden Aspekte dieses Nationenkonzepts über und hebt zu sehr auf Versuche des Textes ab, es einzudämmen. Problem dieser Verkörperung ist nicht seine weibliche Dynamik, sondern sein in einigen Vertreterinnen immer noch volkstragisches Ende. 84 Wordsworth hat das Doppel aus revolutionär verfolgtem Subjekt und (tragischer) Verkörperung des Volkes im Prelude an seiner eigenen persona ja ebenfalls untersucht. Im Gegensatz zu den Revolutionsbüchern des Prelude handelt es sich in The Heart of Mid-Lothian aber um eine reale, externe Bedrohung und keine schmerzliche Selbsttheatralisierung eines Isolierten (vgl. 4.2.3). 85 Scott bezeichnet das Gerichtsgebäude aufgrund seiner Atmosphäre als „pit of the theatre“ (194f.) und beschreibt ausführlich die Anwesenheit des „mob“ (193, 218) darin.
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“Euphemia Deans,” said the presiding Judge, in an accent in which pity was blended with dignity, “stand up and listen to the criminal indictment now to be preferred against you.” The unhappy girl, who had been stupified by the confusion through which the guards had forced a passage, cast a bewildered look on the multitude of faces around her, which seemed to tapestry, as it were, the walls, in one broad slope from the ceiling to the floor, with human countenances, and instinctively obeyed a command, which rung in her ears like the trumpet of the judgment-day. “Put back your hair, Effie,” said one of the macers. [...] On receiving this hint from the attendant, the unfortunate young woman, with a hasty, trembling, and apparently mechanical compliance, shaded back from her face her luxuriant locks, and showed to the whole court […] a countenance, which, though pale and emaciated, was so lovely amid its agony, that it called forth a universal murmur of compassion and sympathy. (197, meine Hervorhebungen) And when, slowly following the officer, the witness advanced to the foot of the table, Effie, with the whole expression of her countenance altered, from that of confused shame and dismay, to an eager, imploring, and almost ecstatic earnestness of entreaty, with outstretched hands, hair streaming back, eyes raised eagerly to her sister’s face, and glistening through tears, exclaimed, in a tone which went through the heart of all who heard her,—“O Jeanie, Jeanie, save me, save me!” (208; meine Hervorhebungen)
Eine winzige, völlig folgenlose Falschaussage ihrer Schwester Jeanie Deans könnte sie nämlich retten. Diese aber kann sich aus moralischen Gründen – äußerst folgenreich – nicht dazu durchringen, so dass Effie weiterhin in den Fängen der (Volks-)Tragik bleibt; umgekehrt aber auch auf deren emotionalisierendes Potential angewiesen ist. Scott lässt sich allerdings – trotz flehender Zeugen und gar einem Richter in Tränen (212) – selbst nicht erweichen und gesteht der Volkstragödie nicht den Erfolg ihrer Selbstaufhebung durch ihr eigenes Pathos zu. Obwohl die sympathy der Zuschauer für Effie gewissermaßen explodiert, löst Scott die Szene nicht in ein emotional verbundenes Volk(stheater) auf.86 Vielmehr
86 James Chandler (1998) sieht in Heart of Mid-Lothian insgesamt eine Erkundung des Verhältnisses von Justiz und Moral/Ethik im Zuge einer dramatischen ‚Fallanalyse‘ höherer Ordnung (der Fälle von Porteous/Effie bzw. von Jeanie) auf den Spuren von Adam Smiths Unterscheidung von Gerechtigkeit und Moral (309–322). Sowohl Smith als auch Scott wiesen auf die Historizität beider Bereiche hin, betonten allerdings auch, dass ‚Moral‘ einem sympathetischen Gefühlsaustausch (und einem ‚kritischen‘ Diskurs, der ihn untersucht) und nicht etwa einer juristischen Kasuisitik aufruhe. Allerdings kritisiert Scott laut Chandler eine Medienignoranz Smiths bezüglich seiner sympathy: Letztlich kann nicht das Herz zum Herzen sprechen bzw. gestehen, sondern muss immer ein Medium (etwa der Roman) bei der Vermittlung helfen (320). Diese Problematik ist gerade auch in den Prozessszenen um Effie Deans anzusetzen, auf die Chandler aber nicht näher eingeht. Allerdings spricht er mit Bezug auf Kenneth Burkes Grammar of Motives von Gerichtsszenen als einem kulturellen Urtheater, das Scotts Roman einen besonderen „drama-
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bleiben alle perorationes des Anwalts und das Plädoyer ihres eigenen sentimentalen Körpers folgenlos87: Scott lässt Effie verurteilen, gewissermaßen, um das Volk ein für alle Mal zur Überwindung der Volkstragödie zu bewegen – gerade auch aus Mitleid für eines ihrer Opfer. Effie muss verurteilt werden, um dann – in mehrfacher Hinsicht – begnadigt werden zu können.88
5.2.3.2 J eanie Deans: Die Verkörperung der Nation und die Begegnung mit dem Monarchen Ausgangspunkt dieses detail- und folgenreiche Vorgangs ist die Übertragung seiner Verkörperungslogik auf eine andere Frau: Jeanie Deans, die vor Gericht ja die Falschaussage zugunsten ihrer Schwester ‚verweigert‘ hat, bricht nämlich auf, um vom englischen König die Begnadigung von Effie zu erwirken. Dabei wird sie ihrerseits zu einer singulären Vertreterin ihres Volkes. Allerdings wird
tism“ (307) verleihe. Regina Hewitt (2006: 68–76) schließlich untersucht Heart of Mid-Lothian als Plädoyer für eine ‚interaktive‘ Justiz, die die einzelnen Fälle situativ ‚beurteilt‘ (im doppelten Sinne) – ausgehend von der sympathy, die bei Verhandlungen, aber auch bei Hinrichtungen zwischen „sufferer“ und Zuschauern entstehe. Allerdings lässt sie den zentralen intersympathetischen Austausch zwischen Jeanie und Königin (s. weiter unten) unerwähnt. Eine Interpretation von Heart of Mid-Lothian insgesamt als Roman über sympathetische Gemeinschaftsbildung ist der Aufsatz von Gottlieb 2004: Gottlieb arbeitet dieselben Stellen heraus, die auch ich analysiere (s. dort), sieht das Projekt aber mehrfach gebrochen und problematisiert – allerdings nicht, wie ich, durch eine Konfrontation des posttragischen Gemeinschaftstheaters mit Elementen des Tragischen. 87 „‘My Lords,’ said he [der Verteidiger], ‘in that piteous cry you heard the eloquence of maternal affection, far surpassing the force of my poor words—Rachel weeping for her children! Nature herself bears testimony in favour of the tenderness and acuteness of the prisoner’s parental feelings. I will not dishonour her plea by adding a word more.’” (203). Secor (1995: 259) sieht das Plädoyer des Anwalts als künstliche Rhetorik und damit als eindeutig negativ charakterisiert, muss daher aber seine Selbstrelativierung durch die Referenz auf Jeanies körperliche „eloquence of maternal affection“ ununtersucht lassen, obwohl ihr Aufsatz diese natürliche Rhetorik zum Thema hat. 88 Ward (1998: 202) sieht bei Scott eine besonders harsche Kritik an den „inadequacies of law and the legal process“ an dieser Stelle. Das Gericht verkomme in Scotts Darstellung zu einem „theatre“, in dem Effie nichts zu sagen hat, nichts versteht und auch die Urteilsbegründung politischen und nicht juristischen Gesichtspunkten folgt: Die spätere Aufhebung des Gesetzes durch Caroline sei dringend nötig. Gordon (1969: 93) sieht die Intervention des Monarchen als metaphysischen Eingriff in eine Welt irdisch-menschlicher Schwächen in der Erstellung und Anwendung des Gesetzes. Gordon spricht dabei von einer „appearance in the Waverley Novels of a deeply felt, almost desperate, royalism“, verkörpert v.a. durch The Heart of Mid-Lothian (97). Dieser Royalismus wird durch die vorliegende Studie in seinen Konstituenten näher bestimmt und eingeschränkt.
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Jeanies ‚Körperschaft‘ von Scott zum einen dezidiert von Tragik freigeschrieben; zum anderen ist sie – ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester – auch jenes exemplarische Subjekt auf der Suche nach Volk und König, das Waverley darstellte. Zusätzlich zu Waverley ist Jeanie eine Rekapitulation des selbstüberwachten Subjekts aus The House of Aspen, da sie aus Gewissensgründen die Volkstragik ihrer Schwester nicht aufheben kann: An Jeanie wird also in einer komplexen DoppelDeterminierung sowohl die Enttragisierung der Verkörperung des Kollektivs als auch die Reintegration des (zu) gewissen-haften und daher isolierten Subjekts in das Kollektiv durchgespielt. Dabei kehrt Jeanie die Richtung von Waverleys Reise um, vervollständigt aber auch einen von Waverley offengelassenen Zirkel und versöhnt sich von Schottland kommend als Vertreterin eines revolutionären Volks mit der legitimen Monarchie – was Waverley ja nicht mehr unternommen hat.89 Die Forschung streitet vor allem darüber, ob sie eine transgressive oder contained Frau – und mithin eine ‚Heldin‘ oder nicht – sei und blendet dabei bis auf wenige Ausnahmen90 ihre Funktion als body politic aus.91 Jeanie als passiv zu
89 Laut Kerr (1989) dreht Jeanie Waverleys Reise um, lässt sie damit aber gerade im Herzen Großbritanniens enden. Kerr sieht Jeanie dabei – ganz im Gegensatz zu vielen anderen Interpreten (vgl. die übernächste Anm.) – als Grenzüberschreiterin und gesellschaftliche Bindungskraft zur Herausbildung einer einheitlichen Nation (69). 90 Stärkster Interpret in diese Richtung ist Farrell (1980), der in Jeanie von Anfang das Konzept der organisch-volksnahen und situativ-moralischen community verkörpert sieht (114). Insgesamt erkennt er in The Heart of Mid-Lothian durchaus schon das Nebeneinander von Volksgemeinschaft und Volkstragödie, bewertet aber das Erreichen dieser Gemeinschaft durch die Begegnung mit der Königin (111) insgesamt über. McCracken-Flesher (2002: 305) sieht Jeanie als desexualisierten, letztlich körperlosen body politic (vgl. die folgende Anm.). 91 Dabei hat schon Edward Bulwer-Lytton Jeanie als Heldin einer Volkstragödie bezeichnet (Bulwer-Lytton 1833: Bd. 2, 145)! Sussman (2002) und Wilt (1985: 129–142) betonen, dass der Roman einen gewissen-haften, sympathetischen, selbst-überwachten weiblichen Körper als Alternative zum gewalttätig handelnden bzw. überwachten Körper entwirft (etwa Sussman 2002: 111 – allerdings ohne Bezug zu The House of Aspen), erkunden aber die Bedeutung dieses Körpers als body politic nicht weiter. Austin (2000) sieht in Jeanie einen komplexen Charakter, dessen Reise eben keine ‚heldenhafte‘ Verbindung konträrer Prinzipien hervorbringe, da Jeanie in ihrer prekären Identität als Frau und Bäuerin befangen sei, sich verstecken müsse und letztlich keine Informationen über das ‚Volk‘ sammeln könne. Erst die finale Ansiedelung in der community in Roseneath gebe ihr die Möglichkeit, dort einen Raum der Durchdringung und der nichtpatriarchalischen und störungsoffenen „inclusive politics“ zu installieren (633; vgl. auch weiter unten). Als typische Waverley-Heldin erscheint Jeanie allerdings bei Shaw 1983: Sie vollbringe eine historisch signifikante Leistung, bleibe aber (wie Waverley) relativ unbekannt sowie während ihrer Reise bei allen Begegnungen/Versuchungen dieselbe. Aber weder Austin noch Shaw interessieren sich für Jeanies Verkörperungsstatus. Bei Duncan 1992 geht Jeanie zwar in Richtung der Verkörperung eines Kollektivs, allerdings ganz im Sinne passiver (und narrativer) Manipulation: Gerade in ihrer Besitzlosigkeit sei sie die ideale Romanzen-Wandererin, das Gefäß, in
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sehen, ist zudem sowohl auf der Handlungsebene als auch auf der Symbolebene des Romans falsch, da sie sich in Bewegung setzt92 und dadurch gewährleistet, dass die (Volks-)Geschichte überhaupt weitergeht und gegen die Tragik arbeitet. Es ist wichtig zu vermerken, dass Jeanie auch eine Fortsetzung von Waverleys Suche des Einzelnen nach seinem Volk ist. An ihrer Figur wird nämlich das Verhältnis von Individuum und Kollektiv explizit reflektiert, wobei sogar eine notwendige Aufladung des (aufklärerischen) Konzepts der menschlichen Gefühlsgemeinschaft zum romantischen ‚Volk‘ angesprochen wird. Die Smithsche Lehre des sympathetischen Gesellschaftszusammenhalt wird zugleich explizit auf ihren Bedarf einer national(istisch)en Dimension hingewiesen.93 Auf ihrem Fußmarsch nach London trifft Jeanie nämlich auf eine mitfühlende Wirtin: The hostess […] was her country-woman, and the eagerness with which Scottish people meet, communicate, and, to the extent of their power, assist each other, although it is often objected to us, as a prejudice and narrowness of sentiment, seems, on the contrary, to arise from a most justifiable and honourable feeling of patriotism, combined with a conviction, which, if undeserved, would long since have been confuted by experience, that the habits and principles of the nation are a sort of guarantee for the character of the individual. At any rate, if the extensive influence of this national partiality be considered as an additional tie, binding man to man, and calling forth the good offices of such as can render them to the countryman who happens to need them, we think it must be found to exceed, as an active and efficient motive to generosity, that more impartial and wider principle of general benevolence, which we have sometimes seen pleaded as an excuse for assisting no individual whatever. (253; meine Hervorhebungen)
Die nationalen Bindungskräfte werden hier – wie in Waverley – auf das schottische Volk hin spezifiziert; der vorliegenden Interpretation entsprechend steht es aber für das britische Volk(stheater) insgesamt, was sich daran zeigt, dass parallele, Jeanie miteinbeziehende Bindungskräfte auch bei den Engländern
dem sich die entmachteten, kursierenden patriarchalischen Energien wieder sammeln, dem sich aber auch die ‚dunklen Mütter‘ (Madge Wildfire und ihre Mutter) der Romanze zeigen und ihre Geheimnisse offenbaren könnten. Jeanie sei aber daher auch das Gefäß für jene Souveränität, die es wiedereinzusetzen gelte (165). 92 McCracken-Flesher (2005) bezeichnet Jeanie als „the principle of mobility that underpins the construction of Scotland as future potential“ (51). Allerdings betont sie diese Mobilitätsfunktion auch über und behauptet, Jeanie mache sich auf ihrer Reise gegenüber allen stabilen Repräsentanzen unsichtbar (52). Zur Dynamisierung der Körper, allerdings im Sinne ihrer konkreten ökonomischen Nutzung, in Heart of Mid-Lothian auch Sussman 2002, etwa 124. 93 An der hiesigen Stelle betont Gottlieb (2004: 191) das Zusammenwirken aufklärerischer sympathy-Lehre mit Nationenkonzepten – ich würde eher eine Absetzung/Überbietung durch letztere sehen.
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nicht fehlen.94 Interessanterweise ist an dieser Stelle nicht nur Jeanies Status als Verkörperung ihres Volkes aufgehoben, da sie explizit als eines seiner Individuen erscheint, sondern auch dessen selbstzerstörerischer Mangel an Zusammenhalt, wie er in seiner (Selbst-)Justiz zum Ausdruck kam. Zudem impliziert die Passage, dass Jeanie durch diese Volks-Erfahrung von der Gefangenschaft in der Selbstüberwachung distanziert wird, die sich in The House of Aspen als einziger Ausweg aus dem gewalttätigen Kollektiv ergeben hat. Allerdings steht für beide, Jeanie und das Volk, die Begegnung und intersubjektive Versöhnung mit dem legitimen Monarchen noch aus. Auf dem Weg zu diesem Treffen muss die repräsentative Funktion von Jeanie allerdings zunächst wiederhergestellt bzw. noch einmal affirmiert werden. Der Roman unternimmt das, indem er Jeanies Status vom Teil des Volks zu seiner Verkörperung (zurück)verschiebt – und zwar in einem zweiten Treffen zweier Scottish people. Die (Re-)Modulation Jeanies vom bindungssuchenden Individuum zur Volksverkörperung wird dadurch, dass sie in einer Parallel-Begegnung geschieht, besonders deutlich. Im Unterschied zur ersten Begegnung allerdings ist das Gegenüber keine Wirtin, sondern der Duke of Argyle, an den Jeanie, in London angekommen, sich wendet, damit er ihr die Audienz beim König ermöglicht. Dabei kommt es durchaus wieder zum Austausch von Empfindungen, nur dass der Duke in Jeanie die Verkörperung der Nation sieht, während sie in ihm schon eine Art König erblickt. Die Begegnung wird aus der Perspektive des Duke geschildert: A young woman of rather low stature, and whose countenance might be termed very modest and pleasing in expression […] was ushered into the splendid library. She wore the tartan plaid of her country, adjusted so as partly to cover her head, and partly to fall back over her shoulders. A quantity of fair hair, disposed with great simplicity and neatness, appeared in front of her round and good-humoured face, to which the solemnity of her errand, and her sense of the duke’s rank and importance, gave an appearance of deep awe, but not of slavish fear, or fluttered bashfulness. […] She stopped near the entrance of the room, made her deepest reverence, and crossed her hands upon her bosom, without uttering a syllable. The Duke of Argyle advanced towards her; and, if she admired his graceful deportment and rich dress, decorated with the orders which had been deservedly bestowed on him, his courteous manner, and quick and intelligent cast of countenance, he on his part was not less, or less deservedly, struck with the quiet simplicity and modesty expressed in the dress, manners, and countenance of his humble countrywoman. “Did you wish to speak with me, my bonny lass?” said the Duke, using the encouraging epithet which at once acknowledged the connection betwixt them as country-folk […] “And
94 Jeanie wird vom (englischen) Volk zwar z.T. drangsaliert (249), z.T. aber auch herzlich aufgenommen (250f. u. 258).
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now sit down, my good lass,” said the Duke; “take your breath—take your time, and tell me what you have got to say. I guess by your dress, you are just come up from poor Scotland—Did you come through the streets in your tartan plaid?” […] The Duke, who saw her embarrassment, said, with his usual affability, “Never mind my grace, lassie; just speak out a plain tale, and show you have a Scots tongue in your head.” (319f.; meine Hervorhebungen)
Weil Jeanie für den gerührten schottischen Adeligen im fernen London zum Symbol seiner Heimat wird, ersteht zwischen den beiden ein schottisches ‚Volk-mitKönig‘ in Miniaturausgabe, bei dem das Volk aber wie der König nur aus einer Person besteht. Jeanie ist nun gewissermaßen doppelt bereit, den wahren Vertreter der (legitimen) Monarchie zu treffen – als Individuum aus dem Volk wie als Verkörperung des Volkes. Der Duke of Argyle arrangiert ein Treffen im Richmond Park zwischen Jeanie und Königin Caroline95, welches verständlicherweise als Höhepunkt des Romans konzipiert ist.96 Es ist von zentraler Bedeutung, dass Argyle aus strategischen Gründen Jeanies Status als Verkörperung ihres Volkes reduziert und sie der Königin nur als „obscure individual“ (335) mit einem privaten Anliegen vorstellt, eine einzelne aus dem Volk, die ihre(n) Monarch(in) treffen will. An diesem Punkt wird also von der Verkörperung wieder auf das Individuum zurückgestellt – es bleiben aber beide Positionen präsent. In gewisser Weise teilt Jeanie diesen Doppelstatus nämlich mit Caroline selbst. Auch diese ist ja nur die Gemahlin des Königs und nicht der König selbst; dies aber gibt ihr eine Zwischenposition zwischen Monarchie und Volk, die der Roman auch reflektiert. Der König nutzt sie nämlich als Vermittlerin zwischen ihm und seinen Untertanen, was ihr eine im Vergleich zu ihm eingeschränkte, aber besondere Form von Macht verleiht: [The king] entrusted to her the delicate office of determining the various degrees of favour necessary to attach the wavering, or to confirm such as were already friendly, or to regain those whose good-will had been lost. [...] She loved the real possession of power, rather than the shew of it, and whatever she did herself that was either wise or popular, she always desired that the king should have the full credit as well as the advantage of the measure,
95 Caroline ist nur Gemahlin von George II (vgl. Waverley) und nicht Regentin (außer er hält sich im Ausland auf, vgl. ihre obige Begnadigung von Porteous), darf sich aber dennoch ‚Queen‘ nennen; zur Bedeutung dieses Zwischenstatus vgl. das Folgende. 96 Hyde 1973 liefert eine Detailanalyse des Treffens: Sie stand im Zentrum des Interesses am Roman von Anfang an, wurde etwa vom Verleger bei einer ‚Werbeveranstaltung‘ vorgetragen (87). Hyde hebt darauf ab, dass die Königin die Begnadigung halb vorweggenommen hat und durch Jeanies Rhetorik von einem momentanen Zweifel abgebracht wird. Die Begegnung ist also halb Zeremoniell (einstudiertes Schauspiel der Königin), halb offenes Theater der Intersubjektivität.
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conscious that, by adding to his respectability, she was most likely to maintain her own. (331f.)
Der König verkörpert alle Macht und alle Maßnahmen der Königin, die diese – als diskretes ‚Nur‘-Individuum – aber umso effektiver umsetzen kann. In Caroline und Jeanie treffen demnach zwei Zwischengängerinnen zwischen Teilnahme am Volk und Verkörperung des Volkes aufeinander, was ihrem Austausch seine Grenzen, aber auch sein besonderes Potential gibt. Durch Jeanie kann nicht nur ein (verkörpertes) Volk, sondern auch ein Subjekt aus diesem Volk seine legitime Monarchie treffen und sich mit ihr verbinden. Diese wiederum ist zu dieser Verbindung überhaupt bereit bzw. befähigt, da sie in Form einer Frau präsent ist, die ihrerseits nicht einfach nur den britischen Staat verkörpert, sondern auch eine aus diesem Staat ist und sich daher mit anderen intersubjektiv-emotional austauschen kann. Caroline ist gewissermaßen, gerade da sie nicht der König ist, die ideale Monarchin im Sinne Scotts, nämlich die Schnittstelle zwischen ‚Einziger‘ und ‚Einzelner‘ des britischen Volkes.97 Nach einigem Hin und Her gewährt Caroline die Begnadigung bzw. – ihrem Status entsprechend – das Versprechen, diese bei ihrem Ehemann zu erwirken. Diese Zusage ersteht aus einem Austausch der Herzen, der mit der Begegnung zwischen Waverley und dem Prätendenten vergleichbar ist. Jeanie geht vor (und nach) dem Treffen von der Möglichkeit eines direkten Plädoyers ‚von Mensch zu Mensch‘ zwischen Untertanen und König aus.98 Letztlich wird dies aber nur möglich, da die Königin die eben beschriebene ‚Reformmonarchin‘ ist. Im Moment des Plädoyer taucht die Volkstragik wieder auf, wird diesmal aber in mehrfacher Hinsicht gelöst. “If it like you, madam,” said Jeanie, “I would hae gaen to the end of the earth to save the life of John Porteous, or any other unhappy man in his condition; but I might lawfully doubt how far I am called upon to be the avenger of his blood, though it may become the civil magistrate to do so. He is dead and gane to his place, and they that have slain him must answer for their ain act. But my sister—my puir sister, Effie, still lives, though her days and hours are numbered! —She still lives, and a word of the King’s mouth might restore her to a brokenhearted auld man, that never in his daily and nightly exercise, forgot to pray that his Majesty might be blessed with a long and a prosperous reign, and that his throne, and the
97 Bezeichnenderweise weiß Jeanie während des Treffens gar nicht, dass sie der Königin gegenübersteht. Sie geht davon aus, einer hohen Persönlichkeit zu begegnen, mit der man aber reden kann, konzipiert mithin unbewusst auch den Scottschen Idealmonarchen. Vgl. zur weiteren Erkundung des idealen Monarchen als einer ‚Schnittstelle‘ von Einzigem und Einzelnem die Analyse von Woodstock in 5.3.3.2. 98 Vgl. Scott 2004: 324 und 351.
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throne of his posterity, might be established in righteousness. O, madam, if ever ye kenn’d what it was to sorrow for and with a sinning and a suffering creature, whose mind is sae tossed that she can be neither ca’d fit to live or die, have some compassion on our misery! […] Alas! it is not when we sleep soft and wake merrily ourselves that we think on other folk’s sufferings. Our hearts are waxed high within us then, and we are for righting our ain wrangs and fighting our ain battles. But when the hour of trouble comes to the mind or to the body— and seldom may it visit your Leddyship—and when the hour of death comes, that comes to high and low—lang and late may it be yours— Oh, my Leddy, then it isna what we hae dune for oursells, but what we hae dune for others, that we think on maist pleasantly. And the thoughts that ye hae intervened to spare the puir thing’s life will be sweeter in that hour, come when it may, than if a word of your mouth could hang the haill Porteous mob at the tail of ae tow.” Tear followed tear down Jeanie’s cheeks, as, her features glowing and quivering with emotion, she pleaded her sister’s cause with a pathos which was at once simple and solemn. “This is eloquence,” said her Majesty to the Duke of Argyle. “Young woman,” she continued, addressing herself to Jeanie, “I [sic] cannot grant a pardon to your sister—but you shall not want my warm intercession with his Majesty. (340f.; meine Hervorhebungen)
Jeanie dimensioniert das Tragische ihrer Situation ganz bewusst als das Leiden eines Mitmenschen, mithin als ein Leiden, das nicht sie selbst verkörpert und das seinerseits nicht eine ganze Nation verkörpert. Die Tragödie wird hier entpolitisiert und ent-körpert, indem die Vortragende nicht (mehr) selbst die Leidende, diese aber auch (zunächst) kein Symbol für das geknechtete (bzw. sich selbst knechtende) Schottland ist. Die Tragik, die daraus entsteht, ist keine nationale, sondern eine allgemein-menschliche99 sowie eine, die von Mensch zu Mensch kommuniziert werden kann. Aufgrund dieser doppelten Humanisierung – und da sie selbst ‚Mensch‘ sein kann –, kann Caroline auf das Plädoyer auch eingehen und diesen anderen Menschen, nämlich Effie, erlösen (lassen). Allerdings wird das politische – und gerade auch das ‚gemeinschaftsbildende‘ – Moment dieser Begegnung damit nicht aufgehoben. Vielmehr geht es in eine Konzeption des Volkes über, die den Menschen dieses Kollektivs einen Status zwischen Verkörperung und Teilnahme, zwischen body politic und (‚menschlichem‘) Individuum anbieten soll. Mit dieser Lösung, die ja auch einen starken Monarchen im Volk ermöglicht, soll die gewalttätige Selbstbezüglichkeit des Kollektivs – gewissermaßen durch eine von innen heraus ordnende Hand – überwunden werden, wie schon der kontrastierende Bezug zu John Porteous und die aufständische Edinburgher Menge am Anfang des Zitats sowie am Ende des Plädoyers klar macht.
99 In The Antiquary beschwört Edie Ochiltree eine ähnlich scheinende Gleichheit aller (Schichten) vor dem Tod (vgl. 5.2.1), dort aber vor dem Hintergrund einer ‚revolutionären Flut‘, so dass daraus eine politsche Tragödie wird. Jeanie enwirft Effie im Gegensatz dazu gerade als Gegensatz und Alternative zur Revolution.
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Walter Scott und das Roman-Theater: Subjekt, Monarch, Volk
Die Aufhebung eines ungerechten Urteils durch die Intervention des Monarchen greift dabei deutlich das Ende von The House of Aspen auf.100 Diesmal aber übt die Monarchie gerade keine Gegengewalt aus, sondern überwindet das revolutionäre Ineinander von Gewalt und Gegengewalt und bietet dem Individuum zugleich eine (auch) kollektive Identität jenseits der Selbstüberwachung. Von daher kann Jeanies Plädoyer an die Stelle der missglückten, da volkstragischen peroratio von Effies Anwalt vor dem Edinburgher Gericht treten101 und zugleich auch als ideale (Volks-)Predigt dimensioniert werden.102 Damit ist die Volkstragödie aus Waverley, deren Drohung im Prozess gegen Effie noch einmal aufgegriffen und intensiviert wurde, auf dieser Ebene überwunden. Der Forschungsstreit, ob die Begegnung zwischen Jeanie und Caroline patriarchalisch-eindämmend oder emanzipatorisch sei und ob sie überhaupt politischen Charakter habe103, erweist
100 Allerdings hatte die Königin ja schon Porteous begnadigt, weshalb sie zunächst eine ähnlich(e) antimonarchische Ausschreitung in Edinburgh auch für den Fall einer Begnadigung Effies fürchtet (339). 101 Kerr (1989) betont, dass Jeanies Rhetorik die Königin ‚normalisiere‘ und das Hof-Theater durchbreche (73). Letztlich träfen zwei Sprachkonzepte, einfache referentielle und komplexe perlokutionäre Sprache, aufeinander, wobei zunächst alles von der höfischen ‚Leser‘-Rezeption abhänge, sich zuletzt die ‚Ehrlichkeit‘ aber durchsetze (74). Secor (1995) weist auf interessante Bezüge von Scotts (und Carolines) Konzept von „eloquence“ zur Rhetorik in der schottischen Aufklärung hin, unter ihnen Hume und Blair. Diese entwickele in der Zeit die Konzeption einer natürlichen, emotional-körperlichen Rhetorik, die auch Wordsworths „Preface“ beeinflusst habe (256; vgl. 2.2.1.3 und 4.1.1.). Secor kommt dabei auch auf die ästhetischen Implikationen dieses Konzepts zu sprechen; die Priorisierung des Theaters (hin zum oben untersuchten Theater des Subjekts) in diesem Zusammenhang wird ihr aber nicht bewusst (251–255). Rhetorisch ist Jeanie Deans Rede aber auch, da sie strukturell und stilistisch stark rhetorisiert ist (257f.). Allerdings ist Jeanie idealerweise selbst sehr bewegt und hat keinerlei rhetorisch-manipulativen Absichten, wodurch sie die Königin am meisten bewegt (258 und 262). Allerdings weist Secor zurecht darauf hin (262), dass in diesem Fall das Medium dieser natürlichen Rhetorik ein literarsicher Text ist (dazu auch Gottlieb 2004: 197f.), der so zum (paradoxen) Ort natürlicher Rhetorik bzw., in der Terminologie der vorliegenden Studie, des Theaters des Subjekts wird. 102 Als Jeanie den Duke of Argyle vor dem Treffen mit der Königin bittet, dieses mit ihr zu proben, zieht dieser den Vergleich zur frei gehaltenen Predigt: „‘No, Jeanie, that would not have the same effect―that would be like reading a sermon you know, which we good presbyterians think has less unction when spoken without book’“ (329). Gerade eine Predigt „with every word written down“ (284) hält Stauntons Vater, die Referenz auf den Wordsworthschen Priester-König (vgl. 2.2.2.5). Dieser wird hier also von Jeanie abgelöst! Mit subtiler Intertextualität versucht Scott demnach, die Wordsworthsche Volkspredigt als lediglich textuelle, unnatürliche – und daher nicht volksbildende – Rhetorik ‚abzuschreiben‘, muss dabei aber darauf vertrauen, dass die Textualität gerade auch von Jeanies natürlicher Gegen-Predigt übersehen wird! 103 Laut Wilt (1985) sind Jeanie und Caroline nur Handlanger eines Patriarchats (123–126), das es zu erhalten gilt, weshalb der Roman die Verhinderung von Knaben- und Mannestötung fe-
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sich vor diesem Hintergrund als unterkomplex: Wieder einmal muss das Verhältnis von Personen- und Symbolwert der Beteiligten abgewogen werden, zumal gerade diese Relation in der erarbeiteten Konzeption des Politischen thematisch wird. Was allerdings in dieser Lösung nicht übersehen werden darf, ist, dass der verbindliche Austausch – abgesehen vielleicht von den Lesern104 – (bewusst) nur zwischen Einzel-Personen stattfindet, so dass die darin erstehende Volkspredigt nur ganz wenige Zuschauer, nämlich die beiden, eine begleitende Hofdame sowie den Duke of Argyle, hat. Vom Kollektiv als Kollektiv ist in diesem Theater der Einzelsubjekte, der lokalen Intersubjektivität, noch immer kaum eine Spur. Scott überwindet durch die Mitführung der Kategorie des Individuums zwar weitgehend das Pathos der Verkörperung des Volkes. Das Volk als multitude und rabble allerdings, das dieser Roman so eingehend beschwört, ist aus diesem Theater ausgeschlossen. Letztlich müsste auch dieses seinen König (versöhnend) treffen und sich sodann mit dem anderen, dem englischen Kollektiv versöhnen. Wie in
tischisiere und die Frau als Bewahrerin des Mannes stilisiere (126). Ähnlich Henderson (1996: 156f.), die in der Begegnung die Rückkehr von der Zirkulation zu einer stabilen Repräsentanz, wie sie die Königin verkörpert, sieht. McCracken-Flesher (2002: 305) konzediert für die Szene zwar die Repräsentation der Gemeinschaft in einem body politic; dieser beruhe aber auf der Desexualisierung des weiblichen Körpers. Schon bezüglich Jeanies Konstituierung vor den Augen Argyles ist das aber nicht ganz nachzuvollziehen. Austin (2000) sieht hier gerade keine Nationenbildung, da Jeanie die Miteinbeziehung der Porteous rioters letztlich verweigere; die Nationenbildung scheitere an Jeanies „domestic femininity“ (629). Kipp (2003: 150–152) interpretiert die Gemeinschaftsbildung diametral zu Austin: Eine Nationenbildung – und explizit auch eine Miteinbeziehung der rioters – ist aufgrund des Ausgleichs von Körper und Geist bei beiden Frauen möglich. Murphy (1994: 197) behauptet im Rahmen seiner Analyse der Waverley-Romane als ereignistilgend, dass sich bei diesem Treffen die „questions about sovereignty and the moral content (and responsibility) of public policies“ eben nicht entschieden. Ward (1998: 201) bekräftigt ganz im Gegensatz dazu, dass Caroline in der Begegnung zum Souverän des vereinigten Großbritannien wird, der dem „mob“ die Lösung konstitutioneller Probleme aus der Hand nimmt. Insgesamt gehe es dem Text um die Einbeziehung der niedrigen Schichten in die Volksgemeinschaft (203f.). Der Text propagiere eine Berücksichtigung der „moral constitution“ jedes einzelnen sowie der „social constitution“ der Gemeinschaft (211). Für Kerr (1989) ist Caroline aber nicht der überragende Monarch, sondern Symbol einer gemäßigten Regierung, eben nicht „corrupt and oppressive“ (77). 104 Wie die Interpretation von Woodstock aber zeigt (vgl. 5.3.3.4), genügt Scott eine ‚Virtualisierung‘ des Volkstheaters als einer (möglichen) Intersubjektivität zwischen Volks-Einzelner bzw. -Einziger und den (potentiell ‚vielen‘) Lesern deutlich nicht; auch auf der Inhaltsebene muss ein Theater der Vielen repräsentiert werden. Allerdings führt, wie wir sehen werden, auch vom erfolgreich repräsentierten Kollektiv kein rechter Weg zur intersubjektiven Einbindung der Leser in dieses Volk.
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Waverley aber kann Scott auch in The Heart of Mid-Lothian die Ebene des Kollektiven nur im Motiv einer finalen Kleingesellschaft mit einer gewissen Verkörperungsdimension auffangen: Jeanie Deans heiratet am Ende des Romans nämlich ihren schottischen Liebsten (und da er wie sie Schotte ist, in doppelter Hinsicht ohne versöhnenden Volksfestcharakter) und gründet mit ihm eine landwirtschaftliche Idealkommune in Roseneath unter der diskreten Leitung des Duke of Argyle.105 Jeanie steht eben, wie wir herausgearbeitet haben, nach ihrer Begegnung mit der Monarchin noch immer zwischen Verkörperung und Individualität. Scott benötigt noch einen weiteren Roman, um seine Heldin am Ende als zufriedenes Mitglied eines Volks mit König und ohne irgendwelche Verkörperungslast zurückzulassen.106 Mit dem hiesigen Finale aber verfällt Scott wieder einmal auf das Modell der Kleingemeinschaft und fügt ihr sogar die Figur eines wohlwollenden ‚Königs‘ hinzu. Zwar karikiert er die Repräsentationslogik dieser Gemeinschaft explizit in der Figur eines ‚schottisch-englischen‘ Aufsehers, perpetuiert sie damit aber auch, ähnlich wie am Ende von Waverley, in problematisierender Weise.107 Die beiden
105 Diese Kommune hat enormes Forschungsinteresse auf sich gezogen, dabei aber zu geradezu konträren Ergebnissen geführt: Kerr (1989) betont wie viele andere auch die ‚konstitutionelle‘ Bedeutung von Argyle in diesem Zusammenhang: Argyle verkörpere die „paternal authority“ (65), die den schottischen Bauern gerade gefehlt habe. Scott propagiere eine „agrarian order“ mit familiärer Basis sowohl der Beherrschten als auch der Herrscher (67). Für Kipp (2003: 152f.) ist Roseneath im Gegensatz dazu ein Ort notwendiger Verdrängung zum Erzielen einer gangbaren Gemeinschaft. Ganz ähnlich Gottlieb (2004: 198–204): Roseneath problematisiere das Projekt nationaler sympathy, da dort Verstellung und Geld gegen den emotionalen Austausch gestellt würden. Letztlich reflektiere hier der Roman, dass Gesellschaft jeder Gemeinschaft notwendigerweise und letztere kompromittierend vorausgehe. Dem widerspricht aber implizit Farrell (1980: 129), der Gemeinschaft gegen Gesellschaft in Roseneath realisiert sieht. Henderson (1996: 160–162) interpretiert im Gegensatz zu Gottlieb Zirkulation und Geld in Roseneath als gerade eingedämmt – auch durch eine stabile Repräsentanz, wie sie die Königin verkörpere (156f.). Regina Hewitt (2006: 118–124) sieht Roseneath als Utopie einer interaktiven Idealgemeinschaft unter der Führung von Argyle, aber auch mit Jeanie als „mediating spirit“ (120, zit. aus dem Roman), der die zentrale Fähigkeit zur Selbstkritik hat (122). Obwohl ich mit Hewitts Konzept romantischer Interaktion grundsätzlich übereinstimme, ist mir ist diese Deutung des Endes zu optimistisch; es bleibt deutlich ein tragischer Rest (s.u.). Ian Duncan (1992) setzt für das Endidyll seiner Lektüre gemäß gerade ein Verschwinden des (absolutistischen) Königs sowie des anderen Extrems, einer Herrschaft des Gesetzes, an. Königliche Souveränität wird in ein allgemeines Besitzrecht umgewandelt, das der Roman in einem nationenfernen Privatgrund feiert (152). Allerdings setzt auch er Argyle als Ersatz-König an (164). Hier kehre dann alles Tragische als Komödie wieder (170) – allerdings, wie wir sehen werden, gerade nicht alles! 106 Vgl. die Figur der Alice Lee in Woodstock, vor allem 5.3.3.2. 107 Ein Aufseher auf dem Gut, Duncan Knockdunder, vereinigt in seiner Kleidung in grotesker Weise Highland und Lowland style, was der Erzähler recht höhnisch mit dem missglückten Versuch der Ergänzung eines verstümmelten jakobitischen Aufrührer-Körpers (vergleichbar
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Völker und ihre Versöhnung kann er wiederum in auffälliger Weise nicht erfahrbar machen. Und das (Volk) rächt sich...
ie Grenzen des Herzens von Mid-Lothian: Das (volks)tragische Ende 5.2.3.3 D von Madge Das Volk wird damit zum Verdrängten des Romans, welches wiederkehrt, um sich zu rächen – durch eine tragische Volksverkörperung, aber auch an dieser. Magdalen Murdockson, die durch den Verlust ihres von George Staunton gezeugten Kindes den Verstand verliert und fortan als Madge Wildfire durchs Land geistert, ist das Volkstragische, das der Roman nicht bewältigen kann. Eine ihrer verrückten Tiraden enthält in der Form der vorgetragenen Ballade noch Spuren eines früheren intakten Volkstheaters, dessen ‚Königin‘ sie einmal war. I am Queen of the Wake, and I’m Lady of May, And I lead the blithe ring round the May-pole to-day: The wild-fire that flashes so fair and so free, Was never so bright, or so bonnie, as me. (278)
Die Parallele zu Ellen in Wordsworths Excursion108 ist eklatant – und der Forschung bisher nicht aufgefallen, obwohl Scott auf eine Wordsworthsche Mad Mother als Prätext zu Madge explizit verweist.109 Wie Ellen verliert Madge nicht nur ihr Kind, sondern auch ihren Status als letztlich ideale Figur des Theaters des Volkes (Teilnehmerin und Königin), den sie beim Maibaumtanz innehatte, und geht in die Volkstragödie. Ähnlich wie Ellen110 wird sie dabei auch zur Verkörperung des (hier durch sich selbst!) geknechteten Volks. Das fröhliche Volk um den Maibaum gehört in The Heart of Mid-Lothian fast vollständig zu einer nicht näher bestimmten Vorgeschichte. Auf der Ebene der Handlung aber nimmt Madge bereits an jener unheimlichen formlosen und autoaggressiven Volksmenge teil,
demjenigen von Fergus Mac-Ivor am Ende von Waverley!) mit einem englischen Kopf vergleicht. Knockdunder wurde daher von der Forschung, etwa Wallace (1993: 44f.) und Duncan (1992: 172), als grotesker englisch-schottischer body politic gedeutet. Aus der Sicht der vorliegenden Deutung wird er damit zu einer – dem finalen Gemälde in Waverley direkt vergleichbaren – Problematisierung des Projekts, eine Volksversöhnung durch Einzelfiguren erfahrbar zu machen. Diese Ausstellung von Roseneath als offenes, lösungsbedürftiges Ende ist der Forschung bisher entgangen. 108 Vgl. 4.3.4. 109 In einer Beschreibung im Roman (Scott 2004: 272f.) bezieht Scott Madge direkt auf eine Mad-Mother-Figur aus Wordsworths Lyrical Ballad „The Thorn“. 110 Ellen wird allerdings nicht wahnsinnig, sondern geht reuevoll in den Schoß der Kirche, wodurch Wordsworth an ihr das volktragische Pathos der Mad Mother letztlich auch überwindet (vgl. 4.3.4).
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mit der der Roman anhebt.111 Dabei leiht sie, wie oben erwähnt, George Staunton ihre Kleidung, damit er Porteous inkognito lynchen kann. Nimmt man den hochsymbolisch gemeinten Missbrauch durch Staunton hinzu, wird sie also von der Volkskönigin zu einer doppelten Verkörperung dieses ‚Anti-Volkes‘. Dieses Volk geistert durch Edinburgh und folgt Jeanie auf ihre Reise nach London, um sie auf die Probe zu stellen – natürlich in der Person von Madge. Eine Diebesbande entführt Jeanie nämlich und konfrontiert sie dadurch mit dem (Anti-) Volk und seiner selbstzerstörerischen Logik. Jeanie wird in einer Scheune gefangen gehalten und beobachtet beklommen ein Theater gegenseitiger Überwachung und Gewaltausübung, dessen Protagonisten (sowie ihre eigene Rolle darin) sie nicht entschlüsseln kann – Scott rekapituliert hier deutlich das verrätselte, unheimliche Schauertheater aus The House of Aspen als Verhinderung von (Inter-)Subjektivität.112 Madge entreißt sie sodann zwar der unmittelbaren Bedrohung und nimmt sie mit auf Wanderschaft, nimmt die Atmosphäre dieses Theaters aber auch mit, etwa in der unheimlichen Wiederkehr des Volkstanzes als Totentanz. I have danced to [the Moon] my lane [=way] sometimes for very joy—and whiles dead folk came and danced wi’ me—the like o’ Jock Porteous, or ony body I had kenn’d when I was living—for ye maun ken I was ance dead mysell.” [...] “But after a’, Jeanie, my woman, naebody kens weel wha’s living and wha’s dead. Or wha’s gone to Fairyland—there’s another question. Whiles I think my puir bairn’s [=child] dead—ye ken very weel it’s buried—but that signifies naething. I have had it on my knee a hundred times, and a hundred till that, since it was buried—and how could that be were it dead, ye ken—it’s mere impossible.” (265f.)
Das Ziel ihrer Wanderung ist denn auch das Grab dieses Kindes. Jeanie muss diesen Gang mitmachen, muss das falsche Volk und dessen Überwachung durchlaufen, sich dann aber auch von diesem lossagen und zu seinem Gegenteil, dem legitimen Monarchen, weiterziehen. Signifikanterweise kommt sie frei, als Madge sie in eine Kirche schleppt: Dort predigt ausgerechnet der Vater George Stauntons, der oben bereits erwähnte Wordsworthsche Priester-König, und trennt die Spreu vom Weizen.113 Jeanie geht weiter zur Königin, während Madge (und mit ihr
111 Wie The Excursion beschwört The Heart of Mid-Lothian demnach ein vorgängiges und vergangenes Ideal-Theater des ‚Volkes und Monarchen‘. Im Gegensatz zur Excursion wird dieses Theater in diesem Roman aber nicht mehr erreicht, sondern erst in einem späteren Text. Woodstock, der Ort seiner Erfüllung, nimmt dazu das Thema das Volks-Baumes explizit auf, belässt diesen aber in seiner pastness und erarbeitet das Theater des monarchischen Volks für die moderne Großstadt (vgl. 5.3.3.4). 112 Scott 2004: 258–271. 113 Scott 2004: 281–287. Jeanie tritt durch ihre Volkspredigt gegenüber der Königin aber auch an seine Stelle.
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das Volkstheater) weiter den Weg in die Volkstragödie nimmt – da das Volk als Kollektiv sich eben nicht mit dem Monarchen versöhnt. Madges Ende ist überdeterminiert und selbstreflexiv – aber gerade damit besonders erhellend bezüglich der offenen Enden in Scotts politischer Theatralität. Madge ist die nicht erlöste Parallelfigur zu Effie Deans: Wie diese wurde sie vom Revolutionsführer ja – stellvertretend für die „multitude“ – verführt und verdorben. Im Gegensatz zu Effie aber, die sich dem tragischen Ende entzieht und, verschoben auf Jeanie, zuletzt zur legitimen Monarchie zurückfindet, geht Madge vollends in den Untergang. Sie wird von einem Mob gelyncht.114 Scott besteht demnach darauf, zu der von ihm aufgebotenen Lösung warnend eine dunkle, negative Alternativversion aufzufahren, die zugleich die nicht bewältigten Reste dieser Lösung austrägt. Madge fällt nämlich durch das, was Jeanie und Königin Caroline außen vor lassen: das nicht repräsentierte Volk. Der offenen Enden sind damit aber zwei, und gewissermaßen bekämpfen sie einander: Einerseits spielt Scott in der Figur der Madge nämlich dieselbe Tragödie der Volksverkörperung bis zu ihrem Ende durch, die er in der Übertragung von Effie auf Jeanie versöhnend und (teil)gemeinschaftlich enden lässt. Andererseits kommt in diesem Ende auch der Zorn des noch immer nicht repräsentierten Volkes gegen seine schlechte Alternative zum Ausbruch. Über The House of Aspen hinausgehend zerstören einander hier nicht die Subjekte, sondern die Repräsentationsarten des Volkes: Die Volkstragödie und ihre noch immer nicht überwundene Verkörperungslogik verhindern wieder einmal das Theater des Volkes, wofür sie von der Volksmenge nun ihrerseits attackiert und ‚gelyncht‘ werden – was die Selbstviktimisierung des Volkes und damit die Volktragik aber auch auf die Spitze treibt. Trotz beträchtlicher Bemühungen um die Figur der Madge, auch und gerade hinsichtlich der Komplexität von Scotts Gattungsreflexionen, hat die Forschung diese komplizierte Dialektik von Volkstragödie und Volkstheater in The Heart of Mid-Lothian bisher noch nicht entschlüsselt: Diese bietet neben einer Entwicklung von der Tragödie zum Theater des Volkes (Jeanie) eben auch eine Umkehrung dieser Entwicklung (Madge) auf, die sodann in einer Konfrontation der beiden Prinzipien mündet. Letztlich steht die Figur der Madge daher für eine tragische Selbstzerstörung des Volkes und für seinen Protest gegen die Logik gerade dieser Repräsentation, was die entsprechende Forschungsdebatte, ob Madge für ein Gelingen oder ein Scheitern der Nation stehe, relativ müßig macht. Sie steht letzt-
114 Scott 2004: 363f. Die Parallele zur Hinrichtung Porteous’ sieht auch Beiderwell (1992: 73 u. 76f.).
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lich sowohl für ihr Scheitern hier als auch für ihre dringlich anstehende Erfüllung – in späteren Romanen.115 Scott arbeitet nämlich neben seiner Lösung, der Versöhnung von Volk und König auf der Ebene des/der ‚Einen‘ als Schaltstelle von Einzelner und Einziger, unerbittlich die Folgen des offen, nicht repräsentiert Gelassenen, des Kollektivs in seiner ‚Vielheit‘, heraus. Über Waverley hinausgehend hat das exemplarische Subjekt nun seinen legitimen Monarchen endlich gefunden, der legitim auch darin ist, dass er Scotts Idealvorstellung eines herausgehobenen, aber partizipierenden Königs sehr nahekommt. Das Volk, noch immer verkörpert von diesem Subjekt, durfte das aber in seiner Vielheit noch nicht bezeugen. Für das Volk ‚an sich‘ ist die Monarchie kein ‚offenes Theater‘, sondern noch immer hinter dem Vorhang, von dem Paine spricht.116 Mithin konnte es sich auch nicht aus der Illegitimität, der Nicht-Repräsentation befreien. Scott lässt hier Stoff für weitere Romane. In diesen aber wird sich der König selbst in Bewegung setzen und auf den Weg zu seinem Volk machen müssen. Auf diesem Weg wird er zwar ebenfalls erst einmal in die Krise geraten; gebannt werden muss – und kann – dabei aber auch endlich die Tragödie des Königs.
115 Wilt (1985) und Austin (2000) sehen Jeanie als vom Roman aufgebotenes Gegenkonzept zu Madge, wobei Wilt Jeanie als ideologische Gewinnerin ansieht (137–140). Für Wilt ergibt sich dabei aber durchaus eine Annäherung an die ‚dunkle Schwester‘, während Austin eine subtile auktoriale Kritik an Jeanies Distanz und eine Erarbeitung einer notwendigen Öffnung gegenüber dem/den anderen (v.a. Zigeunerinnnen und schottische Aufrührer) bei ihr sieht. Sie hätte auf Madges Bindungsangebot eingehen sollen (627). Daher scheitere auch eine gemeinsame nationale Gemeinschaftsbildung der beiden Frauen (628). Kipp (2003: 144–148) sieht das Verhältnis von Madge zu Jeanie diametral zu Austin: Jeanie müsse sich von Madges Bindungsangeboten und -konzepten lossagen, um eine Nationenbildung zu ermöglichen (149f.). In diesem Sinne auch Gottlieb (2004), der Madges Nationalismus als einen der präbritischen Scottishness ansieht und sie von daher als Vertreterin einer übertriebenen, destruktiven bzw. nur eingebildeten sympathy ansetzt – einer sympathy ohne [Smithsche] Kontrolle (195–197). Eine positivere Interpretation von Madge als Kollektivsymbol findet sich bei Lincoln (2007: 178–181), der sie als (selbst teilweise unterdrücktes) Symbol einer unterdrückten schottischen Geschichte und Identität ansetzt, das vom gentilen Diskurs (letztlich des Romans selbst) zum Schweigen gebracht wird und daher – innerhalb des Romangeschehens – selbst als Verdrängtes wiederkehre. 116 Die relative Abschirmung der Monarchie in Heart of Mid-Lothian zeigt sich ja auch darin, dass die Königin das Mädchen aus dem Volk nur nach erheblichen zeremoniellen Vorarbeiten und auch nur in einem abgeschlossenen Park trifft. Aus dem abgeschlossenen Park (Woodstocks) wird der Monarch in Woodstock gerade aufbrechen und sich seinem Volk offen zeigen!
Die Erfüllung des Theaters des Volkes in den englischen Romanen
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5.3 D ie Erfüllung des Theaters des Volkes durch Einschluss des Königs in den englischen Romanen Die wichtigsten Neuerungen der sogenannten ‚englischen‘ Romane Walter Scotts sind zwei: In ihnen wird das englische Volk und dessen Geschichte thematisiert; in ihnen werden Könige zu zentralen Charakteren und ihre Bemühungen um dieses Volk zu einem wichtigen Plot-Element. Das bedeutet nicht, dass die Trias aus Subjekt, Volk und König komplett ausgesetzt wäre: Es gibt auch weiterhin exemplarische ‚Einzelne‘, die ihren Monarchen und durch ihn ihre Gemeinschaft suchen. Allerdings treten zu diesen Themen in den englischen Romanen die Nöte, Projekte und Questen dieser Monarchen selbst. Könige werden in den englischen Romanen problematisch, aber dadurch auch Handlungsträger. Mit der englischen Geschichte kommt Scott zugleich dem ‚legitimen‘ Volk näher, zumindest im Vergleich zu den ‚Schotten‘ in Waverley und The Heart of Mid-Lothian, die ja exemplarisch für ein Legitimität und/oder Repräsentation suchendes Volk stehen. Das könnte auch einer der Gründe sein, dass er zugleich viel weiter in der Geschichte zurückgeht, seinen ersten englischen Roman etwa im 12. Jahrhundert spielen lässt und damit die Laborsituation durch historische und nicht mehr durch geographische Distanz erzeugt. Allerdings ist auch dieses englische Volk ein revolutionäres, solange es seinen legitimen Monarchen noch nicht gefunden hat. Mit der Königsthematik der englischen Romane greift Scott einen berühmten Vorläufer auf, nämlich Shakespeares Historien, auch ‚Königsdramen‘ genannt. Diese umspannen die Zeit des immer wieder aufflackernden Bürgerkriegs zwischen den Regentschaften von Richard II und Richard III und profilieren die englische Geschichte nach weitverbreiteter, wenn auch eher konservativer Auffassung auf eine Erlösung durch die Tudor-Monarchin Elizabeth hin.117 Scotts Geschichtsbild ist, wie schon die schottischen Romane gezeigt haben, weniger teleologisch. Aber auch er interpretiert die Historie im Verhältnis zu seiner Gegenwart, die er einerseits als glückliche postrevolutionäre Zeit interpretiert, andererseits aber auch warnend an ihren Bedarf eines starken Königs und einer kollektiven Erfahrung dieses Königs – und durch diesen König – erinnert. Zugleich lässt er den Vergleich mit Shakespeare durchaus zu: indirekt, indem seine englischen Romane geradezu systematisch die Reihe der Monarchen abarbeiten, die Shakespeare nicht behandeln konnte oder durfte – eine Reihung, die er ebenfalls durch einen
117 Vgl. für eine derartige Deutung von Shakespeares History Plays Tillyard 1959 (s.a. 5.3.3.5).
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englischen Bürgerkrieg hindurch verfolgt118; und direkt, indem er im Vorwort zu einem dieser Romane einen (zwar abgelehnten, aber gerade dadurch aktiv artikulierten) Vergleich mit Shakespeare arrangiert.119 Scott hat nichts dagegen, als der Shakespeare der Romantik zu gelten. Wie wir sehen werden, reflektiert er zudem – nicht zuletzt im Roman Woodstock – den damit verbundenen Medienwechsel vom Historiendrama zum historischen Roman als notwendige Verschiebung des Theaters in den Text. In der vorliegenden Untersuchung wird, in Analogie zur Analyse der schottischen Romane, wieder exemplarisch vorgegangen. Wie wir gesehen haben, variiert Scott in den schottischen Romanen seine Themen und Konstellationen gründlich, bis er nach einigem Bemühen dasjenige Theater des Politischen – bzw. dessen Zwischenstufe – erreicht, die ihm vorschwebt. Dies ist auch in den englischen Romanen der Fall, wo im ersten Roman eine Struktur in die Welt gesetzt wird, die sich erst nach langer Arbeit an/in einer Reihe von Romanen dann im letzten erfüllt. Daher soll hier, parallel zu Waverley bzw. The Antiquary, Ivanhoe von 1820 als Exposition des Königs auf der Suche nach dem Volk vorgestellt werden, während, vergleichbar mit The Heart of Mid-Lothian, dem drittletzten schottischen Roman, diese Suche ihr Ende erst in Woodstock von 1826, dem finalen englischen Roman, findet – einem Text, der alle Aspekte dieser (im doppelten Sinne) Königs-Suche noch einmal durcharbeitet und daher hier ebenso gründlich durchgearbeitet werden soll. Zwischen diesen beiden Romane steht die Analyse eines nichtliterarischen und zunächst auch nichttextuellen Ereignisses, nämlich des Besuchs des britischen Monarchen George IV in Edinburgh 1822, den Walter Scott federführend organisierte und inszenierte. Dieses Ereignis schafft mit einem Mal die Verheißung, das Theater des Volkes und des Königs in historischer
118 Scotts englische Romane erkunden neben dem mittelalterlichen Monarchen Richard I (Ivanhoe) die Reihung von Elizabeth I (Kenilworth), eine Monarchin, die Shakespeare aus zensorischen Gründen nicht – zumindest nicht als Monarchin – behandeln durfte, über James I (Fortunes of Nigel) bis hin zu Charles I und Charles II (Woodstock und Peveril of the Peak). Interessanterweise hat Scott keinen Roman über die Glorious Revolution, also den Wechsel von James II zu William II (of Orange) geschrieben, die gerade im 19. Jahrhundert als das traditionelle Ende aller Revolutionen für Engländer (und Briten) gedeutet wurde. Wie die abschließende Interpretation von Woodstock aber zeigen wird, macht er die Restoration zu diesem Wendepunkt (vgl. 5.3.3). Dies mag auch daran liegen, dass Charles II ein Stuart und damit ein König schottischer Herkunft ist. Damit stammen bei Scott interessanterweise sowohl der revolutionär-illegitime Monarch (Bonnie Prince Charlie) als auch der die Revolution überwindende und seine Legitimität zurückerobernde Monarch derselben Dynastie! 119 Walter Scott, Peveril of the Peak, hg. Alison Lumsden, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007: 11. Vgl. auch Watson 1991: 83–86 zur Untersuchung der Selbststilisierung Scotts als (neuer) Shakespeare.
Die Erfüllung des Theaters des Volkes in den englischen Romanen
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Gegenwart und echter, körperlicher Theatralität zu erlangen. Wie wir sehen werden, entrückt Walter Scott dieses Theater aber sehr energisch, indem er es auf seine Romane bezieht, dadurch ästhetisch überformt und zuletzt selbst stark textualisiert. Seine Erfüllung findet das Theater des Politischen denn auch, wie sich zeigen wird, nur in – und mit – einem Text-Theater, das erst vier Jahre später entstehen sollte.
5.3.1 Ivanhoe als Präambel Ivanhoe von 1820 ist neben den hier analysierten schottischen Romanen einer der berühmtesten Texte von Walter Scott, wovon auch einige Verfilmungen120 sowie etliche Vertonungen, darunter die bedeutenden Opern Der Templer und die Jüdin von Heinrich Marschner (1829) und Ivanhoe von Arthur Sullivan (1891) künden. Die Veränderungen dieses ersten englischen Romans gegenüber seinem unmittelbaren Vorgänger A Legend of the War of Montrose sind eklatant. Mit einem Mal liegt das Geschehen im England des Mittelalters, und die Charaktere sprechen nicht mehr ein authentisch scheinendes Scots bzw. ein geläufiges Englisch, sondern verständigen sich in einer künstlichen, archaisierenden Sprache. Wie an anderer Stelle bereits bemerkt, ist dieses Idiom Teil der Ästhetik des von Scott angepeilten Theaters des Politischen.121 Inhaltlich neu an den englischen Romanen ist die stark gestiegene Bedeutung authentischer historischer Persönlichkeiten, vor allem Monarchen: Richard I, genannt Lionheart bzw. Cœur de Lion, ist der erste ausführlich auftretende König in Scotts Werk. Neben ihm sind King John sowie Robin Hood geschichtlich verbürgt.122 Da auch letzterer sich selbst als König bezeichnet und noch ein weiterer, allerdings fiktiver, Thronanwärter auftritt, kann man Ivanhoe getrost als veritablen Königsroman bezeichnen. Scotts historischer Roman ist historistisch und auch in inhaltlicher Hinsicht monarchisch geworden. Trotz all dieser Neuerungen kommt Ivanhoe in vielen Belangen aber über die Ergebnisse der vorausliegenden schottischen Romane nicht hinaus. So greift Ivanhoe etwa die Thematik des ungeeinten, königslosen Volk aus The Heart of
120 Z.B. der berühmte sog. Ritterfilm Ivanhoe von Richard Thorpe (1952). 121 Die künstliche Sprache ist Teil der Ästhetisierung des Politischen, die Scott in den englischen Romanen erarbeitet (vgl. Merten 2006a: 292f.), und die, wie das Folgende zeigt, ihrerseits ein wichtiger Aspekt seines politischen Theaters ist. 122 Vgl. „Principal Historical Characters“ (404–406) in der von Graham Tulloch herausgegebenen Edinburgh Edition des Romans, hier zitiert in der weitverbreiteten Taschenbuch-Ausgabe von Penguin von 2000. Tulloch widerlegt Zweifel an der Historizität von Robin Hood (406).
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Walter Scott und das Roman-Theater: Subjekt, Monarch, Volk
Mid-Lothian auf, nur dass es sich in dem späteren Roman um das englische handelt, das in herrschende Normannen einerseits sowie unterdrückte und (mehr oder weniger) revolutionäre Angelsachsen andererseits aufgespalten ist. Mehr als in den schottischen Romane, wo ein illegitimes schottisches einem legitimen englischen Volk gegenübersteht, ist diese Gemeinschaft in sich gespalten, nicht zuletzt, da Angelsachsen und Normannen sozial, aber eben nicht geographisch voneinander getrennt sind.123 Analog werden daher die Angelsachsen zu jener entfremdeten, in die Latenz abgedrängten Gemeinschaft, die ihren König sucht, um eine Fremdherrschaft zu überwinden, wobei der Roman dieses Ansinnen diesmal als legitim einstuft und sie dann auch den legitimen Herrscher finden lässt.124 Auf diese Weiterentwicklung wird noch einzugehen sein. Ihr steht allerdings ein großer Teil von bereits bekannten und von Scott selbst bereits problematisierten Themen und Darstellungsweisen gegenüber, auf die nicht näher eingegangen werden muss. Hier ist, so könnte man pointieren, Scott einfach noch nicht weitergekommen: Er greift nämlich auf das beliebte Muster einer weiblichen Verkörperung des Volkes zurück, die durch die Umtriebe einer heil- und königslosen Justiz tragisch bedroht wird.125 Erlöst wird diese Verkörperung durch einen tapferen Ritter, der damit ebenfalls zum Status eines ‚Volkskörpers‘, nämlich der Verkörperung der (guten) Normannen avanciert. Und am Ende wird wieder geheiratet, nur dass Scott diese Hochzeit als Symbol einer harmonischen angelsächsischnormannischen Gemeinschaft diesmal weitaus unbekümmerter einsetzt als in den schottischen Romanen.126
123 Signifikanterweise steht daher am Anfang von Ivanhoe ein symbolisches normannischangelsächsisches Bankett (Kapitel 2 bis 6), welches aber – im Gegensatz zum schottischen Bankett in Waverley – nicht zu einem funktionierenden Theater des Volkes wird, sondern die unvereinbaren sozialen Gegensätze zum Ausdruck bringt. 124 Komplexerweise impliziert aber gerade die Abschüttelung des normannischen Jochs die Verschmelzung der beiden Volksgruppen. Richard I ist nämlich ein normannischer König und seine ‚englische‘ Volkstümlichkeit eine historisch kontrafaktische, aber selbst volkstümliche Idee, die Scott aufgreift und ausbaut. 125 Vgl. zur Thematik – und Symbolik – der Gefährdung Rebeccas durch die Templer-Anklage und ihre Rettung durch Ivanhoe Merten 2006a: 291. Dort wird die Verdrängung Rebeccas durch den zurückkehrenden König betont, während hier dessen finale Verdrängung durch die Hochzeit von Ivanhoe im Vordergrund steht (vgl. die folgenden beiden Anm.). 126 Ivanhoe heiratet nicht Rebecca, die als Jüdin ihren Verkörperungsstatus zuletzt verliert, sondern die Angelsächsin Rowena, was Scott mit den Worten „these distinguished nuptials were celebrated by the attendance of the high-born Normans, as well as Saxons, joined with the universal jubilee of the lower orders, that marked the marriage of two individuals as a type of the future peace and harmony betwixt two races“ (398; meine Hervorhebungen) kommentiert.
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Vor dem Hintergrund dieser umfassenden Verkörperungen verblassen denn auch der König und das (multiple) Volk am Ende des Romans – gerade als der König dieses Volk endlich gefunden und ihm eine (legitime) Erfahrung seiner selbst ermöglicht hat. Nur in seinem Verlauf wird das ‚Theater des Königs-mitVolk‘ verfügbar, um am Ende letztlich wieder kassiert zu werden, so dass das Volk – und letztlich auch der König – wieder in die Latenz abgleiten, aus der sie sich zu befreien trachteten.127 Scott braucht weitere Romane, um den König und das Volk offen und stabil zu vereinen. Der König Richard in Ivanhoe ist ein prekärer, ein Monarch, der sich inkognito durch sein Reich bewegt128, während mit John ein illegitimer König herrscht129; Richards Volk ist ebenso ruhelos und verstohlen. Dabei kommt es zu zwei Treffen zwischen beiden, die modellbildend für Scotts weitere Bemühungen um die Repräsentation des Politischen werden sollten. Beide Szenarien sind aber selbst nur bedingte Erfüllungen: Beim ersten Mal bleibt der König verkleidet und unerkannt; das Volksfest des zweiten Treffens wird nach kurzer Zeit unterbrochen.
127 Richard I handelt am Ende des Romans zwar als legitimer Herrscher; thematisiert oder intensiv inszeniert wird eine Reinthronisierung aber nicht – genausowenig wie eine Befreiung und Verschmelzung des (vielzähligen) Volkes. All dies wird, wie gesagt, der Verkörperungssymbolik der Hochzeit von Rowena und Ivanhoe überantwortet. 128 Vgl. zur Prekarisierung der Monarchie in Ivanhoe vor allem Wilt 1985: Ivanhoe untersuche exemplarisch die „political fiction“ (24) der Monarchie sowie deren Aufruhen auf dem letztlich illegitimen Bereich von „thievery and outlawry“, dessen sie sich gerade in den liminalen ‚Untergrund‘-Phasen wieder versichere. Derartige, auf den politiktheoretischen Schriften Foucaults und Derridas aufruhende Untersuchungen zur Wurzel der Monarchie in Gewalt und Außenseitertum sind interessant, lassen sich aber nicht einfach so auf die Romane Scotts übertragen. Vielmehr unterscheidet dieser ja sorgfältig zwischen illegitim-revolutionärer und legitimer Monarchie und sieht letztere zwar in Gefahr, sich an erstere anzugleichen (vgl. die hiesige Analyse von Woodstock), beharrt aber doch gerade auf einer Unterscheidbarkeit der beiden Herrschaftsbzw. Verkörperungsformen des Volks. Letztlich gesteht Wilt in ihrer Analyse von Monarchie in Ivanhoe eine solche Differenz auch zu: Zwar übernehme Robin Hood zeitweise die Korrektur und Überwachung eines gerade in seiner Latenz übermütig werdenden Königs, so dass die beiden gewissermaßen ihre Rollen tauschen. Allerdings wird Robin Hood am Ende des Romans auch zu einer Figur des sich selbst repräsentierenden Volks, das vor dem in die Legitimität zurückkehrenden Monarchen zurücktreten muss (41–44). Eine derartige Verdrängung Robin Hoods verzeichnet auch die vorliegende Analyse, allerdings ausgehend von seiner Rolle als Gegen-König, nicht als Verkörperung des Volkes. 129 Scott hat sich diese Konstellation ausgedacht. Der historische King John war Nachfolger, nicht unmittelbarer Konkurrent von Richard.
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Eingeleitet werden beide Volkstreffen interessanterweise durch Balladenrezitationen des Königs zusammen mit einem ‚Volksvertreter‘.130 Scott greift hier den Gedanken des Balladengesangs als Volksausdruck, wie er ihn in Waverley eingeführt und an Madge Wildfire in The Heart of Mid-Lothian (weiter) problematisiert hat, auf und erweitert ihn um den König selbst. Dies ist eine interessante Neuerung, zumal die Balladen jedes Mal eine ausgesprochen komische, satirische und offene Atmosphäre erzeugen, die den Charakter des nachfolgenden Theaters des Volkes entscheidend prägt und das Tragische fernhält. Aber über den Status eines Teilaspekts des echten Theaters kommen sie auch diesmal nicht hinaus, denn die ihnen inhärente Verkörperungslogik muss um eine Repräsentation echter Vielheit ergänzt werden. Beim ersten Treffen mit den ‚Vielen‘ ist der als der ‚Schwarze Ritter‘ verkleidete König nicht allein. Neben Cedric, einem angelsächsischen Adeligen, gibt es sogar noch einen zweiten König – Robin Hood, hier verborgen unter der Identität des Locksley: The place of rendezvous was an aged oak […] one which was the centre of a sylvan amphitheatre […] Here Locksley assumed his seat—a throne of turf erected under the twisted branches of the huge oak, and his sylvan followers were gathered around him. He assigned to the Black Knight a seat at his right hand, and to Cedric a place upon his left. “Pardon my freedom, noble sirs,” he said, “but in these glades I am monarch—they are my kingdom; and these my wild subjects would reck but little of my power, were I, within my own dominions, to yield place to mortal man.[”] (271f.; meine Hervorhebungen)
Neben diesen Komplikationen gibt es allerdings zunächst einmal auch einige positive Neuerungen, die das Zwei-Personen-Naturtheater aus Waverley131 explizit überschreiben: Die Gefolgsleute Robin Hoods sind ein Volk in weitaus größerer Zahl, zumal ihr Status als Bauern ihnen den sozialen Rang derer gibt, die von politischer Repräsentation traditionell ausgeschlossen sind, obwohl sie – zumindest in den Augen der Romantik132 – gerade ihrerseits Anspruch darauf erheben
130 Scott 2000: 149–151 und 352–354: Beim ersten Mal leitet der Gesang nicht unmittelbar zum Treffen über, endet aber an demjenigen Ort, an dem es später stattfinden wird. Gesangspartner ist beim ersten Mal Friar Tuck, ein zurückgezogener (aber kämpferischer) ‚englischer‘ Mönch, beim zweiten Mal Wamba, eine volksnahe, ebenfalls angelsächsische Narrenfigur. Tauschen die beiden Gesangspartner beim ersten Mal noch recht aggressive satirische Charakterisierungen aus, herrscht beim zweiten Wechselgesang, der aus folkloristischen Liebesliedern besteht, größere Übereinstimmung. 131 Ein „sylvan amphitheatre“ ist auch die Umgebung, in der Flora Mac-Ivor Waverley die Volksballade vorträgt (vgl. 5.2.2.1). 132 Vgl. etwa Wordsworths Zelebrierung der Landbevölkerung als echtes Volk im „Preface“ zu den Lyrical Ballads (vgl. 4.1.1).
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können, das echte (englische) Volk zu sein. Allerdings haben sie mit Robin Hood ihren eigenen König, den der echte König dulden muss, da er sich selbst nicht offenbaren kann. Zumindest aber kann er Teil dieser Gemeinschaftserfahrung werden, die auch politische Entscheidungen und ökonomische Handlungen umfasst133, und lernt den gerechten und geordneten Charakter, den sein Volk und dessen (Interims-)Anführer sogar im Untergrund zeigen, kennen und schätzen.134 Selbst in der Latenz und in Ermangelung ihres legitimen Königs formieren sie sich, gewissermaßen automatisch, zu einer (urenglischen) Gemeinschaft aus Volk und König. Theater wird diese Gemeinschaft, als die beiden (auf je eigene Weise) latenten Monarchen sich verbrüdern, mithin eine Szene intersubjektiver Begegnung entfalten, die den anwesenden Bauern ermöglichen, sich selbst in ihnen als Gemeinschaft zu erfahren. [I]t may be we shall meet hereafter with less of concealment on either side.—Meanwhile we part friends, do we not?” “There is my hand upon it,” said Locksley; “and I will call it the hand of a true Englishman, though an outlaw for the present.” “And there is mine in return,” said the knight, “and I hold it honoured by being clasped with your’s. For he that does good, having the unlimited power to do evil, deserves praise not only for the good which he performs, but for the evil which he forbears. —Fare thee well, gallant Outlaw!” Thus parted that fair fellowship […] (293)
Vergleicht man diese Szene mit der Ball-Szene aus Waverley, so wird deutlich, dass beide Akteure hier zugleich den Part des königssuchenden Subjekts und des Königs ausüben. Diese Überdetermination weicht einem stringenteren Theater des Volkes, als Richard und die „outlaws“ ein zweites Mal aufeinandertreffen und klar wird, wer der echte König ist. Wieder findet das Treffen unter einem Gemeinschaftsbaum statt, wie wir ihn schon in The Excursion und The Heart of Mid-Lothian als Zentrum und Ausgangspunkt eines Theaters des Volkes kennengelernt haben. Diesmal sind die Rollen klar verteilt – zumindest am Anfang: Beneath a huge oak-tree the sylvan repast was hastily prepared for the King of England, surrounded by men late outlaws to his government, but who now formed his court and his
133 Es werden Gefangene taxiert und Beute geteilt. 134 Die Beute, so Scott, „was divided amongst the outlaws, according to their rank and merit, and the judgment of the Chief, on all such doubtful questions as occurred, was delivered with great shrewdness, and received with absolute submission. The Black Knight was not a little surprised to find that men, in a state so lawless, were nevertheless among themselves so regularly and equitably governed, and all that he observed added to his opinion of the justice and judgment of their leader.“ (278)
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guard. As the flagon passed round, the rough foresters soon lost their awe for the presence of majesty. The song and the jest were exchanged—the stories of former deeds were told with advantage; and at length, while boasting of their successful infraction of the laws, no one recollected they were speaking in presence of their natural guardian. The merry King, nothing heeding his dignity any more than his company, laughed, quaffed, and jested among the jolly band. The natural and rough sense of Robin Hood led him to be desirous that the scene should be closed ere any thing should occur to disturb its harmony, the more especially that he observed Ivanhoe’s brow clouded with anxiety. (365)
An sich ist das Austauschen von Liedern, Späßen und Geschichten zwischen Volk und König ja die Erfüllung aller romantischen Träume vom Theater des Volkes, und als solches ist die Szene auch von der Forschung erkannt worden135 sowie Sujet eines bekannten Gemäldes von Daniel Maclise geworden, welches selbst ein romantisches Volkstheater ist.136 Allerdings ist die Szene flüchtig, in mehrfacher
135 Vgl. als detaillierteste Interpretation dieser Szene – wenn auch mit übertriebener Einschätzung der Bedeutung von Locksley, Simeone 1961: Simeone sieht Robin Hood als Vertreter des niederen Volkes, zugleich aber auch als Ein-Mann-Rettung des Volkes insgesamt, wobei er die Implikationen, die eine solche, gewissermaßen ‚napoleonische‘ Konzeption der Figur hat, allerdings nicht weiter verfolgt. Die Szene des (zweiten) Treffens von Robin Hood, seinen Leuten und König Richard sieht er als „nearest thing to an Eden that Scott could commit himself to“ (232). Bei dieser Szene muss Simeone allerdings konzedieren, dass Robin Hoods Macht auch auf dem Volk beruht, das ihm folgt, und nicht nur auf seiner wundersamen alleinigen Stärke. Dabei komme zum Ausdruck, dass das Volk „no longer a mob to be shunned or swayed“ sei und die Geschichte nicht nur von und für Aristokraten sei – allerdings macht gerade Simeones ursprüngliche Konzeption Locksley/Robin Hood zu einer Art Aristokraten. Simeone müsste stärker zwischen Verkörperung des Volkes und Teilnahme am Volk unterscheiden sowie erkennen, dass Locksley vom Gegenkönig beim ersten zu einem Modell-Untertanen beim zweiten Treffen wird. Allerdings sieht Simeone ganz zuletzt selbst eine Ambivalenz in ‚seinem‘ Robin Hood: „From and of the people, he still finds it difficult to be democratic in practice.“ (233) Eine wichtige Deutung dieser Szene nimmt auch Graham Tulloch vor (Einleitung zu Scott 2000): Scotts Richard sei ein König, dessen Auftreten an mittelalterliche Balladen und Romanzen anknüpfe (und historisch kontrafaktisch sei), und genau deswegen als ästhetische politische Erfahrungsform für Scotts Zeitgenossen zu gelten habe: „In a year of social turmoil like 1819 the political symbolism of an English king and his subjects united in harmony cannot be ignored.“ (xvi) Allerdings erfüllt sich dieses Szenario erst in Woodstock ganz. Lincoln 2007 interpretiert das Fest im Rahmen einer Analyse von Ivanhoe, die den Roman in den Kontext einer Wiederbelebung royalistischer „State Theatricals“ (74) im Gefolge von Edmund Burke stellt. Das Treffen von Robin und Richard vor dem Volk wird von Lincoln scharfsinnig als (Ritual des) Übergang(s) von einer Monarchie des Verdiensts bzw. der Wahl, für die Robin Hood stehe, (zurück) zur Erbmonarchie Richards I interpretiert. Letztlich, so Lincoln in weitgehender Übereinstimmung mit der vorliegenden Interpretation, könne der Roman damit innovative politische Ideen in eine konservative Restauration einschließen und propagiere insgesamt einen König, der sich zu seinem Volk begibt (75f.). 136 Es handelt sich um Robin Hood and his Merry Men Entertaining Richard the Lionheart in Sherwood Forest von 1839, heute im Nottingham Castle Museum and Gallery.
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Hinsicht: Sie ist nicht nur ein Zwischenspiel, das am Ende des Romans der oben beschriebenen simplistischeren Verkörperungslogik weichen muss. Zusätzlich wird sie bereits hier von Robin Hood unterbrochen137, nicht etwa aus Eifersucht gegen den echte(re)n König, sondern vielmehr in Sorge um ihn und sein Volk. Letzteres droht nämlich über die Stränge zu schlagen, nicht nur weil es sich (nun doch) in Illegitimitäten ergeht, sondern vor allem, weil es den König sich zu sehr gleichzumachen, zu sehr einzuordnen droht. Scott besteht hier zum wiederholten Mal darauf, dass das Theater von Volk und Monarch die herausgehobene Position von letzterem wahren muss, gerade um im Sinne gegenseitiger Repräsentation und Anerkennung zu funktionieren und nicht im heillosen und erfahrungsarmen Chaos unterzugehen. Interessanterweise weiß hier aber auch der Monarch selbst diesen Abstand nicht zu wahren – er betont nämlich seinen Status als Einzelner (body natural) gegenüber dem des Einzigen (body politic) über – ein Problem, das Scott in Woodstock noch ausgiebig beschäftigen wird. So jedenfalls ist es mit dem Volkstheater erst einmal vorbei. Obwohl es in Ivanhoe so etwas wie seine Exposition erfahren hat, sind doch viele Fragen offen geblieben. Die Distanzlosigkeit beider Seiten ist gerade auch der beiderseitigen Latenz geschuldet – Richard hat sich den Gesetzlosen zwar offenbart, harrt aber noch wie diese selbst seiner Rehabilitierung. Scott hat die Illegitimität aus Waverley und The Heart of Mid-Lothian also nur teilweise überwunden – Volk und König sind zwar legitim138, aber noch immer latent, da sie nicht wiedereingesetzt wurden. Diesen Status gilt es endlich zu überwinden, um das Theater des Volkes-mit-König voll medialisier- und erfahrbar zu machen. Scott sollte seine Chance bekommen, bereits zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Ivanhoe, und zwar (zunächst) nicht im Medium des Textes, sondern im flüchtigen Moment des Zeremoniells.
137 Er lässt heimlich ein Hornsignal der Normannen imitiereren, suggeriert also eine Bedrohung von außen. 138 Obwohl die angelsächsischen Bauern „outlaws“ sind, erscheinen und benehmen sie sich wie ein legitimes Volk – ganz im Gegensatz zur Selbstjustiz in The Heart of Mid-Lothian und zum revolutionären ‚Limbus‘ in Waverley. Zudem sind die Könige dieser Völker in den früheren Romanen – im Gegensatz zu Richard I – gänzlich ‚illegal‘ (Staunton in Heart of Mid-Lothian ) bzw. ‚verbindlich‘, aber illegitim (Charles Edward in Waverley).
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5.3.2 Der Besuch von George IV: Echtes Theater des Volkes-mit-König Im August 1822 besuchte der regierende Monarch George IV die schottische Hauptstadt Edinburgh – es ist die erste offizielle Königsvisite nach der Union von 1707. Scott wurde bei diesem feierlichen Ereignis in den Worten seines Biographen John Lockhart zum „stage-manager“, also zum leitenden Organisator des Zeremoniells.139 Von einer offiziellen Berufung ist bei Lockhart nicht die Rede140; es scheint vielmehr, als sei der Besuch als ein (ästhetisches) Theater des Politischen aufgefasst worden und die Kulturgröße Walter Scott daraufhin ganz ‚natürlich‘ zu ihrer Funktion gekommen. Die dreiwöchige Visite umfasste eine Reihe von zeremoniellen – und sicherlich auch von politischen – Handlungen; herausragend aber waren der Einzug des Monarchen vom Edinburgher Hafen Leith, zwei Umzüge auf der Royal Mile zwischen Edinburgh Castle und dem Königspalast Holyrood sowie eine Reihe von gesellschaftlichen Zusammenkünften unter Vorsitz des Königs in diesem Königspalast. Aus der Sicht des Königshauses dient der Besuch vor allem dazu, die Integration Schottlands im Vereinigten Königreich symbolisch-zeremoniell zu bestätigen und damit zu vertiefen; die Jakobitischen Aufstände des 18. Jahrhunderts lösten demnach – zusammen mit der ‚Jakobinischen‘ Französischen Revolution – nicht nur Scotts Projekt eines Theaters des Politischen, sondern auch offizielle Bemühungen um eine Kultur der Gemeinschaftsstiftung aus.141 Signifikanterweise wurde für dieses Zeremoniell ein Regisseur berufen, der dieses Theater in seinen Texten schon vorgearbeitet hatte und, wie wir sehen werden, auch textuell nachbearbeiten und sichern würde. Allerdings verknüpfte Scott mit diesem Theater weiterreichende Pläne als die Regierung. Dieser ging es vor allem um eine symbolische Aufnahme des ‚Sorgenkinds‘ Schottland, während Scott die Reise wie eine lange fällige Umkehrung der Reise von Jeanie Deans erschienen sein muss und damit als Vervollständigung eines Projekts, das sich als Gemeinschaftserfahrung und letztlich ‚Repräsentation‘ nicht nur Schottlands, sondern ganz Großbritanniens verstand. Schottland und die Schottin Jeanie waren für Scott ja Symbole eines Volkes bzw. eines Subjekts auf der Suche nach seinem König, in denen sich jeder Brite wiedererkennen und letztlich seine Gemeinschaft erfahren können sollte. Vor diesem Hintergrund
139 Lockhart 1839: Bd. 7, 50. 140 Vgl. als Quelle neben Lockart auch das Verlaufs-Manual von Scott selbst (s.u.). Für eine aktuelle Darstellung und Deutung des Besuchs, die die meisten zeitgenössischen Quellen erwähnt, vgl. auch McCracken-Flesher 2005: 73–93. 141 Vgl. 2.2.2.5.
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musste Scott den Besuch von seinem Lokalkolorit befreien und vor allem für ganz Großbritannien erfahrbar machen. Er musste ‚gesichert‘ werden – in mehrfacher Hinsicht: erstens durch den ästhetischen Anschluss an die landesweit verbreiteten Romane Scotts, zweitens durch die (textuelle) Aussteuerung seines performativen Überschusses durch eine Art ‚Libretto‘ und drittens durch Aufzeichnung und landesweite Verbreitung der Gemeinschaftserfahrung selbst, sowohl durch dieses Libretto als auch durch Scotts Romane. Der Einfluss Waverleys auf Aufbau und Ablauf des Besuchsprogramms ist vielfach bemerkt worden; bereits Scotts Biograph Lockhart spricht von einer „terryfication of the Holyrood chapters in Waverley“ als ästhetisches Grundprinzip des Zeremoniells.142 Damit ist konkret eine Bearbeitung und Umsetzung des Romans für die Theaterbühne gemeint, denn Daniel Terry war ein Schauspieler, Dramatiker und Regisseur, der verantwortlich zeichnete für wichtige Bühnenbearbeitungen von Scotts Romanen. Auf die durch ihn ermöglichte Rückkehr des romantischen Text-Theaters zur Bühne wird einzugehen sein143; an dieser Stelle aber ist entscheidend, dass Scott die Gemeinschaftserlebnisse aus Waverley durch den Königsbesuch auf die ‚Bühne‘ bringen und zugleich im legitimen Bereich der Begegnung mit dem offziellen britischen Monarchen rekapitulieren wollte. Dass für ihn durch den Besuch auch der Marsch von Jeanie Deans nach London durch einen ‚Marsch‘ des Monarchen nach Edinburgh vervollständigt wurde, ist in diesem Zusammenhang allerdings noch nicht bemerkt worden. Vor diesen Hintergrund muss auch die vielbemerkte und bereits von den Zeitgenossen kritisierte Dominanz der Highland-Kultur gestellt werden. Wiederum ist es Lockhart, der, obwohl seine Biographie Scott gegenüber – immerhin seinem Schwiegervater! – meistenteils sehr loyal verfährt, die gedankliche und sprachliche Schärfe der Analyse vorgibt. Für die Highlander verzeichnet er bezüglich Walter Scotts Inszenierung nämlich eine unglückliche Dialektik zwischen kultureller Dominanz während der Visite und politischer Bekämpfung dieser Volksgruppe in der Realität: It appeared to be very generally thought, when the first programmes were issued, that the Highlanders, their kilts, and their bagpipes, were to occupy a great deal too much space in every scence of public ceremony connected with the King’s reception. […] [I]t was difficult to forget that they had always constituted a small, and almost always an unimportant part of the Scottish population; and when one reflected how miserably their numbers had of late years been reduced in consequence of the selfish and hart-hearted policy of their landlords,
142 Lockhart 1839: Bd. 7, 50. 143 Vgl. 5.4.
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it almost seemed as if there was a cruel mockery in giving so much prominence to their pretensions. (49)
Schärfer könnte die Kritik an der Tartanisierung des königlichen Besuchs kaum ausfallen, und in der Folge hat die Forschung an Scotts Inszenierungsabsichten auch kein gutes Haar gelassen.144 Auf ein übergeordnetes Theater-Projekt, zu dem vor allem seine Romane zählen, bezogen worden sind sie allerdings noch nicht: Mit der These einer Verengung auf und durch die Hochländer liegt die Analyse nämlich falsch. Vielmehr möchte Scott die ästhetische Wirkkraft des Schottlandbesuchs gerade erweitern, indem er es an das politische Theaterlabor aus Waverley anbindet, in dem die Highlanders ja beispielhaft für ein königssuchendes Volk an sich stehen. Vor lauter Empörung über die Kontrafaktizität der Inszenierung hat man die exemplifizierende Funktion des Fiktiven vergessen; Scotts Theater des Politischen – und mit ihm die Ästhetik(auffassung) der Romantik allgemein – ist imaginativ in einem komplexeren Sinne als sich das seine Kritiker träumen lassen. Scott selbst war es nämlich vor allem wichtig, dass ein in Holyrood durchgeführter Ball sich auf die Kultur des Hochlands beziehe. „[N]o Gentleman is to be allowed to appear in any thing but the ancient Highland costume“ schreibt er in seinem Zeremonien-Manual, auf das noch zurückzukommen ist, bezüglich des sogenannten „Highland Ball“.145 Das Beharren auf einer Tartanisierung gerade dieses Festes ist klar: Es handelt sich um eine Reprise der Volkstheater-Klimax aus Waverley, die als solche auch deutlich gekennzeichnet ist; nur dass diesmal signifikanterweise nicht ein Prätendent, der sich bald von seinem Volk abwendet, sondern der legitime Monarch anwesend ist.146 Scott wollte es sich nicht entgehen lassen, allen klar zu machen, dass die große Volkserfahrung aus Waverley hier und jetzt glücklich im Bereich des Legitimen wiederholt wird. Damit wird das an dieser Reprise ebenfalls beteiligte schottische Volk natürlich auch triumphal legitimiert; allerdings darf man nicht vergessen, dass Scott es verkleidete – ästhetisierte –, um zu zeigen, dass es sich um ein exemplarisches Volk handelte, mit dem jeder, und vor allem jeder Brite, sich identifizieren sollte. Das bedeutet aber auch, dass Scott mit dem Zeremoniell nicht zufrieden sein konnte, solange es nicht möglichst viele Briten bezeugen würden. Es musste möglichst weit und möglichst lange kommunizierbar sein. Die Anbindung an Waverley und The Heart of Mid-Lothian macht bereits deutlich, dass Scott es mit dem Medium des Textes in Verbindung bringen wollte, da er sich von ihm diese Siche-
144 etwa Trevor-Ropers berühmter Aufsatz von 1983. 145 Scott 1822: 26. 146 Vgl. 5.2.2.1.
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rung des Zeremoniells versprach. Texte spielen eine immense Rolle vor, während und nach dem Besuch des Königs. Von einem „programme“, das die Kritik an der Tartanisierung erst auslöste, war in Lockharts Biographie – selbst eine Vertextung des Ereignisses – bereits die Rede. Scott veröffentlichte darüber hinaus (anonym) noch ein weiteres Handbuch, nämlich ein Pamphlet, „Addressed“; so der Untertitel, „to the Inhabitants of Edinburgh, and Others, in Prospect of his Majesty’s Visit“.147 Angesichts der Beteiligung sämtlicher namhafter Verlage der Stadt an dieser Publikation muss die Auflage enorm gewesen sein. Diese Hints sind ein Text, der sein Publikum auf die korrekte Beteiligung beim Zeremoniell, namentlich beim Umzug des Königs von Holyrood zur Burg die Royal Mile entlang, einschwört, diesen Umzug aber selbst auch schon textuell umsetzt und insgesamt Kunde abgibt von Scotts Präferenz für ein textuelles gegenüber einem körperlichen Theater des Politischen: His Majesty will pass up the Canongate, High Street, and Lawnmarket, betwixt two lines of his subjects, disposed, under certain arrangements and classifications, on each side of the streets leading to the Castle, and who are to remain firm on their post [Es folgt eine ausführliche Beschreibung der geplanten Anordnung nach Zünften, Ämtern, Geschlecht, Alter und sozialem Status.] If these arrangements are carried into complete effect […] by the good sense and orderliness of the people, we think it impossible to conceive a more magnificent and exhilarating effect than must arise from them. They have been so contrived that his Majesty will, on this occcsion [sic], have a full view of all the various classes of his subjects , while, at the same moment, they will have the most full and gratifying sight of their Prince. […] If the crowd becomes for a moment unsteady and tumultous – if once they break their front rank, that is, the line of the constituted bodies – if ever they begin to shoulder, and press, and squeeze, and riot – the whole goodly display will sink at once into disorganisation and confusion […] The very character of the nation is concerned here. […] For let it be observed, this is not an ordinary show – it is not all on one side. It is not enough that we should see the King; but the King must also see US. (18–22)
Scotts Vision eines Theaters von Volk und König kommt hier zu sich selbst: König und Volk sehen einander, vertrauen einander, konstituieren einander. Sie können ihre Positionen von Zuschauer und Akteur beständig wechseln, nicht aber, weil König und Volk hier gleich wären oder zu werden drohten wie noch beim Gelage unterm Baum in Ivanhoe, sondern gerade weil die Unterschiede, die Hierarchien gewahrt sind – zwischen den einzelnen Teilen des Volkes einerseits, aber vor allem zwischen Volk und König.148 Scotts warnende Beschwörungen des
147 Scott 1822. 148 V.a. durch die räumliche Trennung der beiden Seiten, aber auch durch Privilegien des Königs wie das Fahren in der einzigen mitgeführten Kutsche (Scott 1822: 18), wodurch er innerhalb der ‚Bewegten‘ des Umzugs, die sich selbst schon vom statischen Volk unterscheiden, noch
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Zusammenbruchs dieses Theaters bei der geringsten Unordnung innerhalb der „constituted bodies“ lassen aber bereits ahnen, wie schwierig es bei tatsächlicher Präsenz der Akteure geworden sein dürfte, diese gegenseitige Erfahrung herzustellen149, bzw. wie wenig Scott selbst daran glaubte, sie außerhalb dieses Textes, auf der Straße überhaupt herstellen zu können. Wenn von diesem Ereignis zudem der „character of the nation“ abhängt, wie Scott vieldeutig warnt, liegt es nahe, es nicht von einer Form abhängig zu machen, die gewissermaßen selbst organisatorisch und zeitlich instabil ist. Das Theater des Volkes und des Königs ist zu wichtig, um es einem einmaligen und lokal begrenzten Zeremoniell zu überantworten. Es muss vielmehr (auch) im Text stattfinden. Scotts Text beschwört das Theater des Politischen, wie es sein soll, aber er ist in seinen sorgfältigen Beschreibungen der Arrangements bereits selbst ein derartiges Theater, wenn auch in einer anderen Medialität. Scotts Pamphlet sichert demnach den Umzug in mehrfacher Hinsicht: Es ordnet ihn (vor) und es hält ihn für zeitlich und räumlich entfernte Leser fest. Die Hints liefern also einen weiteren – und weithin unbekannten – Höhepunkt des romantischen Text-Theaters des Volkes und seines Königs. Im Gegensatz zur weitaus bekannteren Szene aus Ivanhoe ist zudem die Verzahnung des inneren Geschehens mit den Lesern draußen – näherhin die für das romantische Text-Theater so entscheidende Anbindung der Intersubjektivitätsprozesse im Text an die Leser-Text- bzw. Leser-Leser-Bindung – sehr viel expliziter als in den Romanen. Scott beschwört in intensiven Worten ein Theater des emotionalen Austausches zwischen König und Volk in Reinkultur („[...] we should see the King; but the King must also see US“) , und er gibt sich alle Mühe, seine Leser in dieses Theater einzubinden („US“). Im Gegenzug sollen sie selbst sich bemühen, an diesem Theater teilzunehmen, sowohl beim Lesen als auch (unter Umständen) auf der Straße.
einmal deutlich abgesetzt wird. Auch McCracken-Flesher 2005 analysiert bezüglich des Königsbesuchs eine „mutual recognition“ (73, 83) von König und Volk. Da sie bei ihren Analysen von Scotts Werk aber auf Instabilitäten und paradoxen gegenseitigen Abhängigkeiten beharrt, bekommt sie die spezifische Hierarchisierung mit der Scott diese Intersubjektität versieht, nicht in den Blick. Sie betont stattdessen, dass sich – vergleichbar ihrer Analyse von Waverley und den Schotten (s.o.) – König und Volk gegenseitig würdigen und über den jeweils anderen stellen müssen, was natürlich logisch nicht möglich sei und zu Endlos-Schleifen führe. Allerdings sieht McCracken-Flesher gerade in einer derartigen permanenten Bewegung eine Öffnung Schottlands auf die Zukunft (73). 149 Eine von McCracken-Flesher genannte Quelle spricht von einem ordentlichen Ablauf dieses Umzugs (81), könnte aber auch selbst bereits ein beschwörender textueller ‚Exorzismus‘ seiner tatsächlichen Unordnung sein.
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Sowohl die vor- als auch die ‚nach‘-schreibende Qualität des Textes ist aber von einer starken medialen Verbreitung abhängig, etwa wie sie Scotts Romane kennen. Aus diesem Grund nutzt Scott (unter anderem) auch seinen eigenen Verlag zur Verbreitung dieses Pamphlets, wodurch er einerseits sicherstellen kann, möglichst viele potentielle Zuschauer des Umzugs zu erreichen, andererseits aber auch gewährleisten möchte, dass dieses Volkserlebnis außerhalb der unmittelbar Beteiligten Verbreitung findet. Sowohl das schottische als auch das englische ‚Volk‘ sind in Scotts Leserschaft breiter repräsentiert als in der (sonstigen) politischen Symbolkultur, aber natürlich auch im Wahlrecht der Zeit.150 Scotts Romane konstituieren, pointiert gesagt, durch ihre Verbreitung erst dieses Volk.151 Wenn zudem, wie in 2.2.2.5 herausgearbeitet, königliche Umzüge von den Teilnehmern dazu genutzt werden konnten, ein Verhalten einzuüben, mit dem sie später – überspitzt formuliert – die Abschaffung der Monarchie fordern konnten, wird weiterhin klar, warum Scott dieses Theater in Pamphleten und historischen Romanen barg: Als echter Volks-Umzug war es zu unkontrollierbar, um das gewünschte royalistische Gemeinschaftsgefühl zu garantieren. Zwar konnte man bei Lesern auch nie so genau wissen, welche Gefühle noch die patriotischste Schilderung in ihnen auflöste, aber wenigstens konnten sie einander beim Lesen nicht (direkt) negativ, revolutionär beeinflussen. In einer Wiederholung der zeitgenössischen Theaterzensur kontrollierte Scott demnach die konkrete (politische) Aufführung der anderen durch regulierende Texte und betrachtete zudem (deren) zurückgezogene Lektüre als in mehrfacher Hinsicht ‚sicherere‘ Erfahrungsform des Politischen. Und schließlich, so könnte man boshaft hinzufügen, zensierte er sich in seinen Texten, nämlichen in seinen Romanen, auch selbst, indem er jede Thematisierung zeitgenössischer Politik unterließ und seine Romane in der Vergangenheit spielen ließ.152
150 Bis 1832 durften nur (männliche) Landbesitzer ab einem gewissen Einkommen wählen. Unternehmer und Kaufleute ohne Grundbesitz waren vom Wahlrecht ausgeschlossen, ebenso wie Handwerker und Arbeiter. In den Städten versagte eine Vielzahl verwirrender Bestimmungen der Mehrheit das Wahlrecht. In Bath etwa hatten von etwa 35000 Einwohnern nur 35 das Wahlrecht (vgl. Friebel/Händel 1985: 170). 151 Vgl. Buchanan 2011: 745: „The Waverley Novels were massive best-sellers in Britain throughout the nineteenth century and contributed significantly to the development of the reading nation.“ William St Clair (2004: 221) schätzt, dass die britische Gesamtauflage der Romane Scotts bis 1829 500.000 und bis zu den 1860er Jahren gar 2 bis 3 Millionen Exemplare umfasste. 152 Im – im Verhältnis zum Theater – freieren Textmedium hätte Scott ja sogar Gegenwartspolitik verhandeln können, unterließ dies aber ‚freiwillig‘. Genau diese Selbstbeschränkung ermöglichte den Bühnenfassungen seiner Romane dann aber eine Verbreitung als National Drama sowohl an den legitimate als auch den illegitimate theatres in Großbritannien (vgl. 5.4).
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Zu seiner Verteidigung muss allerdings festgehalten werden, dass ihm diese mediale und historische Distanz – auch als eine Art Spiegelung der notwendigen Distanz zwischen König und Volk – nötig schien, um ein innen und außen kohärentes und homogenes Theater des Politischen überhaupt zu gewährleisten. Daher reichte das Pamphlet auch nicht aus. Zwar enthielt es das ersehnte Theater des Politischen in Idealform und mit direkter Ansprache seiner Leser, blieb aber zugleich gewissermaßen zu ‚speziell‘ (zu knapp und zu ‚gegenwärtig‘), um bei allen (Briten), die es in die Hände bekamen, ein dauerhaftes Gemeinschaftsgefühl auszulösen. In Scotts Augen brauchten die Briten ausführlichere Schilderungen von weiter zurückliegenden Ereignissen, die gewissermaßen durch ihre ‚Gesetztheit‘ eine Distanz, Würde und Allgemeingültigkeit ausstrahlten und es den Rezipienten dadurch ermöglichten, sich als Teil eines monarchischen Volks zu erfahren. In den folgenden Jahren arbeitet Scott daher an der Umsetzung dieses Theaters in seinen Romanen. The Fortunes of Nigel und Peveril of the Peak, beide von 1822, sind Texte, die interessanterweise wieder ein – im doppelten Sinne – subject aus Schottland nach London reisen lassen, um dort seinen Monarchen zu treffen. In beiden Romanen aber ist der König durch seinen Hof zu sehr abgeschirmt, um dieses Subjekt und mit ihm sein Volk nachhaltig zu treffen. Es scheint, als wollte Scott noch einmal klarstellen, welch zentrales kulturelles Desiderat ein ‚open theatre of monarchy‘ darstellt, das radikale Forderungen an das Theater des Königs beherzigt, gerade dadurch aber dessen Erhabenheit und Würde gewährleistet. Mit Woodstock von 1826 realisiert Scott dieses Theater dann endgültig, wodurch auch seine (Roman-) Ästhetik einsichtig wird. Scott setzt, wie wir sehen werden, die Erkenntnisse des Königsbesuchs teilweise um und richtet sein Volkstheater bewusst für den isolierten Einzelleser zu. Allerdings hat er in seinen Romanen das Mittel der direkten Leseransprache bzw. -einbeziehung in das Theater des Volkes-mit-König gerade nicht zur Verfügung. Daher wird in Woodstock eine Lücke zwischen dem Zuschauer und dem Leser des Volkstheaters aufklaffen, die letztlich in den Tod des Zuschauers und seine ‚Verklärung‘ zum Status des zurückgezogenen Lesers führen wird. Bestandteil dieses Theaters in Woodstock ist aber zunächst auch die Beschwörung seiner Gefährdung bzw. im Burkeschen Sinne die Inszenierung der Monarchie als (drohender) Tragödie. Scott greift demnach doch auf das konservative Pathos zu, um den Leser an den König zu binden. Allerdings arbeitet er dabei auch heraus, dass der (wiederum latente, gefährdete) König am tragischen Verlust seines politischen Körpers selbst beteiligt ist, nicht zuletzt weil er sich in Latenz und Liminalität bewegen muss. Das enthebt die Königsdarstellung der reaktionär-entrüsteten Beschwörung ihrer fremdverschuldeten, tragischen Erniedrigung auch wieder und rückt sie eher in Richtung eines komödienhaften Aufrufs an den Monarchen, sich selbst zu reformieren. Anhand des Verhältnisses der beiden Körper des Königs wird zudem
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das Verhältnis von Einzelnem und Einzigem, von Teilnahme und Verkörperung für den Monarchen noch einmal grundlegend reflektiert und endgültig gelöst. Jedoch muss der König im Zuge dieses Prozesses neben der Burkeschen Tragik nicht weniger als drei weitere Tragödien(formen) überwinden. Walter Scott legt ein Theater der Königserfahrung in schwierigen Zeiten vor, das sich, wie wir zuletzt sehen werden, auch auf seine Gegenwart beziehen lässt.
5.3.3 Woodstock 5.3.3.1 Monarchie in der Revolution Ähnlich wie in Ivanhoe bewegt sich der König in Woodstock im Untergrund, da sein Volk von seinen Gegnern beherrscht wird. Darüber hinaus ist aber auch die Monarchie selbst in Gefahr und muss im Verborgenen agieren: Der Roman spielt während der Zeit des Cromwellschen Protektorats, das sich bekanntlich als Republik verstand. Nach der Hinrichtung von Charles I 1649 war der Bürgerkrieg zwischen Royalisten und Parlamentariern, der seit 1642 geherrscht hatte, im großen und ganzen vorbei, und die etwa zehnjährige Herrschaft Cromwells, mal mit mal ohne Parlament, begann. Der Sohn des hingerichteten Königs aber setzte den Regierungstruppen weiter zu, bis er 1651 bei Worcester endgültig besiegt wurde und fliehen musste. Bevor er sich in die Niederlande absetzte, versteckte er sich in loyalen Anwesen, was der Ausgangspunkt von Woodstock ist. Das titelgebende Schloss ist nämlich einer dieser Fluchtorte, die Flucht des Thronfolgers dorthin allerdings fiktiv.153 Die Handlung setzt wenige Tage nach der Niederlage von Worcester ein, findet seinen Klimax im hochsensiblen Aufenthalt des verkleideten Thronfolgers im Anwesen von Woodstock und endet mit dessen erfolgreicher Flucht vor Cromwell und seinen Truppen. In einer Art Coda, die zu den Höhepunkten von Scotts Werk gehört, wird Charles’ triumphaler restaurativer Einzug in London 1660 geschildert.154
153 Vgl. für die tatsächlich von Charles Stuart aufgesuchten Orte die „Historical Note“ der hier zitierten Ausgabe von Woodstock in der Edinburgh Edition (Scott 2009: 532–550, hier 537). Das reale Anwesen Woodstock wurde während des Protektorats allerdings durch den dortigen Spuk, der die puritanischen Besatzer in die Flucht schlug, legendär (s.u.). 154 Die Forschung zu Woodstock ist um ein Vielfaches weniger umfangreich als zu den anderen hier analysierten Romanen. Dabei wird der Roman interessanterweise entweder als ausnehmend stark oder ausnehmend schwach innerhalb von Scotts Werk charakterisiert. Nach meinem Dafürhalten kommt eine kontextorientierte Forschung an Woodstock nicht vorbei: Die Themen Revolution, (theatrale) Medialität und (politische) Repräsentation sind in ihm nämlich zentral und explizit durchgearbeitet. Zu den frühen Befürwortern des Romans zählt Hart (1966), der
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Die im Roman dargestellte Zeit ist für die Briten erwartungsgemäß hoch besetzt, dabei allerdings auch so heikel, dass der Skandal der ersten Königshinrichtung in Europa traditionell eher verdrängt wurde. Das hat zur Folge, dass die enorme Bedeutung dieser Ereignisse als Vorläufer, ja als Vorwegnahme der Französischen Revolution vor allem auf symbolischer Ebene erst allmählich ins kulturelle Bewusstsein nicht nur der Briten, sondern Europas insgesamt gerückt ist. Zu sehr wurde bisher die Französische Revolution als erstes und einzigartiges antiroyalistisches Ereignis begriffen und zugleich vergessen, dass sie, überspitzt gesagt, bereits 150 Jahre früher stattgefunden hat. Interessanterweise begreift aber gerade die in letzter Zeit entstandene Forschung zur Geschichte des politi-
ihn „among [Scott’s] most mature and effective novels“ (86) zählt. Für Hart ist der Roman auf die Restauration legitimer Herrschaft konzentriert, einerseits auf diejenige des Eigentümers von Woodstock und andererseits des gesetzmäßigen Thronfolgers (etwa 94). Zudem beschäftigt Hart sich recht ausführlich mit der Problematik des verkleideten Königs (99–101), sieht dessen Krise aber vor allem im Moment der Verstellung und nicht, wie das die vorliegende Studie tut, in der Reduktion auf einen natürlichen Körper (s.u.). Für Hart steht das Doppel aus natürlichem und politischem Körper vor allem beim Anwesen selbst zur Disposition, weshalb es für ihn auch zu einem einzigartigen Verdichtungspunkt des Romans wird, der zentral für dessen Komplexität ist (104). Von den bedeutenderen neueren Monographien interessieren sich nur Wilt 1985, McCracken-Flesher 2005 und Robertson 1994 für Woodstock – allerdings mit recht unterschiedlichen Ergebnissen: Wilt untersucht im Roman die Frage von Legititmität, Latenz und Liminalität der Monarchie (s.u.) ganz im Einklang mit der vorliegenden Studie. McCracken-Flesher (2005: 127– 138) dagegen sieht ihn als gewissermaßen absichtlich mangelhaft, da er ihrer Ansicht nach die Probleme kultureller performance insgesamt ausstelle: Der Roman problematisiere die Flüchtigkeit und Konstruiertheit jedweder ‚Erzählung‘ und exerziere diese Problematik auch und gerade an der Figur des Königs (sowie Shakespeares) durch. McCracken-Flesher kommt aufgrund dieses entgrenzten und gerade deswegen reduktiven Konzepts von kultureller Aufführung leider über solche pauschalen Bewertungen des Romans nicht hinaus und kann daher auch nicht zwischen politischer und ästhetischer Repräsentation unterscheiden, was ja wichtig ist, um die folgenreiche Engführung der beiden in Woodstock sowie in Scotts Werk allgemein verständlich zu machen. Scott entlarvt Politik bzw. die Nation nicht etwa als ‚bloße‘ Fiktion oder Performanz; vielmehr ergründet er in einem viel differenzierteren Bewusstsein der anthropologischen Notwendigkeit politischer Fiktionen den für seine Zeit passendsten Modus eines Theaters des Politischen. Fiona Robertson (1994: 265–273) schließlich setzt die Interpretation von Woodstock als abschließende Musteranalyse ihrer Monographie insgesamt an: Der Roman ist für sie – ähnlich wie für Wilt – ein Paradebeispiel einer ästhetischen Durcharbeitung politischer Legimität, die – so Robertson über Wilt hinausgehend – mit den im Text etablierten Herrschern zugleich den Autor des Textes legitimieren möchte. Robertson zufolge unterminieren und problematisieren die Schauer-Elemente, die sie in Scotts Romanen untersucht, derartige Legimationsfantasien, obwohl Gothic novels oftmals selbst die Restauration der Entmachteten affirmieren. Diese Doppelung exempliziert sich für Robertson im Woodstock-Anwesen, das zugleich Ort und Ausdruck legitimer Restauration als auch unheimliche Stätte ihrer Aushöhlung sei (s.u.).
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schen Imaginären die Bedeutung der Ereignisse im England des 17. Jahrhunderts und gibt ihnen den Raum, den sie verdienen. So behandelt die bereits mehrfach zitierte Geschichte des fiktiven Staates ausführlich die Englische Revolution und sieht in ihr zumindest den Ausgangspunkt einer Zerstörung des politischen Körpers des Königs, die dann die Französische Revolution vollenden sollte.155 Wie wir sehen werden, versucht Walter Scott mit allen Mitteln, gerade diese Auffassung der Ereignisse zu revidieren und eine Deutung zu etablieren, derzufolge der englische Monarch sich – und seinen politischen Körper – gerade in der Latenz des Protektorats so weit reformieren kann, dass er nach seinem Ende Zentrum eines Theaters des Politischen wird, mit dem nicht nur die Englische, sondern letztlich auch die Französische Revolution überwunden werden können. Umso schmerzhafter und unheimlicher ist aber die vorgängige Phase monarchischer Latenz. Vor dem geheimen Aufenthalt von Charles Stuart in Woodstock widmet sich der Roman nämlich einem Geschehen, das durch die populäre Geschichte des Anwesens geistert: Die Schergen Cromwells, die es besetzt hielten, seien nämlich, so heißt es, durch spukhafte Erscheinungen aus dem Schloß vertrieben worden.156 Scott greift diese Legenden auf und macht aus ihnen eine gegenrevolutionäre Kampagne der Royalisten. Der Spuk wird von Königstreuen inszeniert, um die Besatzer zu vertreiben und den wahren Besitzer Henry Lee, der in einer Hütte nebenan hausen muss, wiedereinzusetzen. Das intradiegetische Schauertheater, das sich daraus ergibt, macht aus den Royalisten souveräne Strippenzieher, aber es rückt das Geschehen auch in die Nähe von Scotts programmatischem Schauerdrama The House of Aspen: Dort schlägt die zurückkehrende Monarchie einen Geheimbund, der die Gemeinschaft durch schaurig inszenierte Tribunalverhandlungen unterdrückt, letztlich mit den eigenen Waffen – auch wenn sie die Schauerästhetik dieses Bundes noch zu überwinden trachtet. In Woodstock wird diese Konstellation aufgegriffen und die zugrundeliegende These weitergetrieben: Die Monarchie, die durch eine revolutionäre Verschwörung in den Untergrund gedrängt wurde, muss sich ihrer nun ausgerechnet mit Hilfe einer revolutionären Gothic machinery erwehren, die den Möglichkeiten und Ansprüchen der Monarchie diametral widerspricht. Einer der Besatzer schildert verängstigt einen der Geister: [“]When I undid the door, one man stood there, and he, to seeming, a man of no extraordinary appearance. He was wrapped in a taffeta cloak of a scarlet colour, and with a red lining. He seemed as if he might have been in his time a very handsome man, but there was something of paleness and sorrow in his face—a long love-lock and long hair he wore even
155 Koschorke et al. 2007: 103–141, inbes. 131; vgl. auch Smith 1994: 95–129 sowie Butler 2008. 156 vgl. „Historical Note“ in Scott 2009: 532–550, hier 538–540.
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after the abomination of the cavaliers […] a jewel in his ear—a blue scarf over his shoulder, like a military commander for the King, and a hat with a white plume, bearing a peculiar hatband.” (148)
Die Monarchie ist hier zum Schauerdrama degradiert, das ihre Gegner mit einer Überzeichnung des monarchischen Leids erschreckt. „What, or who are you, Markham Everard, who wander by moonlight through these deserted halls of royalty, where none should be but those who mourn their downfall, or are sworn to avenge it?“ (128) herrschen die ‚Geister‘ einen anderen Besucher des Hauses an, der sich später allerdings zum enthusiastischen Loyalismus bekehren lässt, als sich der König ihm gegenüber offenbart. Darin genau liegt der Unterschied: In dieser Situation ist die Monarchie unterdrückt und latent und kann daher kein anderes Theater bieten als ein dekadentes Schauerdrama, das auf morbide Weise ihren eigenen Untergang beschwören muss, um seine Gegner zu erschrecken. Diese Strategie krankt also nicht nur daran, dass sie die Methoden ihrer Gegner verwendet, sie ist auch in klassischer Weise self-defeating, da sie im Versuch, diese Gegner zu vertreiben, das eigene Leid letztlich vertiefen muss. Burkes Theater der leidenden Monarchie157 wird hier von Scott einer ähnlichen Kritik unterzogen wie Wordsworths Theater des königlichen Volkes: Sie schädigen die Monarchie durch die Art ihrer Darstellung. Auf die implizite und ingesamt sehr komplizierte Kritik an Edmund Burkes Tragödie der Monarchie, die der Roman Woodstock (nicht nur) hier übt, wird zurückzukommen sein. An dieser Stelle bezieht Scott den Spuk allerdings sehr präzise auf das Konterrevolutionäre, denn im Zentrum der Umtriebe, in einer geheimen Schaltzentrale mitten im Schloss, sitzt der Strippenzieher nicht nur dieser Erscheinungen, sondern der monarchischen Gegenrevolution insgesamt. Dieser belehrt den jungen Lee, als gebe er immer noch den rächenden Geist des Royalismus.158
157 Vgl. etwa die stilistischen, bildlichen und ideellen Parallelen zwischen „those who mourn [the] downfall [of royalty], or are sworn to avenge it” und Burkes “I thought ten thousand swords must have leaped from their scabards to avenge even a look that threatened [Marie Antoinette] with insult.–But the age of chivalry is gone.“ (Burke 2001: 238). Interessanterweise entgrenzt sich Burkes ‚legitime‘ Tragödie in Scotts Darstellung dadurch in die illegitimate theatre culture, was ersterem sicherlich suspekt gewesen wäre (vgl. 2.2.2.4). 158 Vgl. zu einer Identifikation Scotts mit Dr. Rochecliffe Robertson 1994: 267f. Damit wird der Autor selbst für sie aber zu einer unheimlichen Figur zwischen Legitimität und Illegitimität. Diese Deutung ist interessant; das Schwanken zwischen den beiden Polen trifft aber eher auf den Charakter von Charles Stuart zu.
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[R]ecollect that while you have been fighting in the field, I have been plotting in the study— that I know all the combinations of the King’s friends, ay, and all the motions of his enemies, as well as a spider knows every mesh of his web. Think of my experience, man. Not a cavalier in the land but has heard of Rochecliffe the Plotter. I have been a main limb in every thing that has been attempted since forty-two—penned declarations, conducted correspondence, communicated with chiefs, recruited followers, commissioned arms, levied money, appointed rendezvous. (237)
Die Gegenrevolution159 ist genauso dunkel und gewalttätig wie die Revolution, und beide sind sie nichts als Schauertheater. Wichtig ist aber bereits an dieser Stelle, dass Scott diese Parallele nicht etwa nur beklagt, beispielsweise mit der Behauptung, die Revolution habe die Monarchie zu ihrer Schauertheatralität hinabgezerrt. Vielmehr macht er von Anfang an klar, dass der schaurige Untergrund Aspekte innerhalb der Monarchie verstärkt, die in ihr angelegt sind bzw. zu denen sie sich aus sich selbst heraus herabgelassen hat, und die sie überwinden muss, bevor sie den Gegner schlagen kann. Durch Woodstock (und Woodstock) spukt nämlich auch der Wiedergänger eines Königs, der sich hier einst eine Geliebte hielt.160 Um sie zu verstecken, hat er das ominöse Labyrinth, in dem sich die Monarchie nun gewissermaßen selbst verstrickt, überhaupt erst bauen lassen. Verbunden mit dem (drohenden) Niedergang der (absolutistischen) Monarchie ist also eine Geheimhaltungspolitik, um verbotenen Leidenschaften nachzugehen und, wie Staunton in The Heart of Mid-Lothian, dabei das Volk letztlich auszubeuten. Aus dieser Geheimnistuerei und dem mit ihr verbundenen illegitimen Begehren muss sich die Monarchie befreien, will sie sich retten, und dabei aus sich selbst heraus transparent und anständig werden. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, betrifft genau das den ‚König in Verkleidung‘ Charles Stuart.
159 Vgl. Worth 1993 zur Erkundung einer „inverted rebellion“ (382) in Woodstock, die aber, wie er zu Recht verzeichnet, eher karnevalesk-optimistisch aufgelöst wird. Auch die vorliegende Interpretation verzeichnet ja den Übergang einer potentiell tragischen Gegenrevolution hin zu einem heiter-offenen Theater des Volkes. Auch Robertson (1994: 267) sieht Woodstock als Text einer unheimlichen Gegenrevolution, die sich darin ausdrücke, dass das Legitime „both ludicrous and threatening“ geworden sei – für Robertson vor allem in Gestalt des als Frau verkleideten Charles Stuart, der damit gar zu einer der französischen revolutionären ‚Weiber‘ geworden sei, die Scott in seiner gleichzeitig verfassten Napoleon-Biographie beschwöre (vgl. Anm. 163). 160 Etwa Scott 2009: 163.
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5.3.3.2 Der König in der revolutionären Krise Charles Stuart ist verkleidet und entkleidet zugleich. Seine Flucht nach Woodstock erfolgt in der besonders sicheren, aber auch – aus seiner Perspektive – erniedrigenden Verkleidung als Zigeunerin. Daher hat sein erstes Auftreten als Wahrsagerin gegenüber der Tochter des Hauses – eine Szene, die Charlotte Brontë später in Jane Eyre aufgegriffen hat – neben den unvermeidlichen komischen (bzw. ‚queeren‘) Aspekten, die durchaus wichtig sind, auch einen eher bedenklichen Charakter. Der verkleidete König wird zum Vertreter eines wandernden Volkes, wie es Wordsworth in verschiedenen seiner Gedichte gefeiert und, etwa in The Excursion, durchaus auch mit Königtum in Verbindung gebracht hat.161 Derart abgesunkene Monarchen lehnt Scott, wie wir gesehen haben, grundweg ab162, und so nimmt es nicht wunder, dass die Wahrnehmung von Charles Stuart als eines „sturdy beggar[...]“ (201) ganz deutlich nicht etwa die Erfüllung einer volksnahen Monarchie, sondern einen geradezu absurden Moment der Distanz zu ihr markieren soll. Als Bettlerin hat sich der (zukünftige) Monarch nur verkleiden müssen, solange er sich unter freiem Himmel bewegt hat. Aber auch als er endlich in Woodstock Unterschlupf gefunden hat, ist es mit seiner Verkleidung längst nicht vorbei. Vielmehr muss er auch dort seine Identität zunächst vor allen Bewohnern bis auf den jungen Lee, seinen Fluchthelfer, geheim halten und als schäbiger schottischer Page auftreten. Und in dieser Rolle wird er geradezu zu einem Wiedergänger der von Edmund Burke in einer berühmten Szene seiner Reflections on the Revolution in France bedauerten Marie Antoinette. Bei Burke heißt es: From this sleep the queen was first startled by the sentinel at her door, who cried out to her, to save herself by flight—that this was the last proof of fidelity he could give—that they were upon him, and he was dead. Instantly he was cut down. A band of cruel ruffians and assassins, reeking with his blood, rushed into the chamber of the queen and pierced with an hundred strokes of bayonets and poniards the bed, from whence this persecuted woman had but just time to fly almost naked, and through ways unknown to the murderers had escaped to seek refuge at the feet of a king and husband, not secure of his own life for a moment.163
161 So wird etwa der Wanderer einer der königsartigen Anführer der Ausflugsgruppe, vgl. 4.3.5. 162 Vgl. etwa die als tragisch gekennzeichnete Annäherung des Königs an den Bettler in der Flutszene in The Antiquary (5.2.1). 163 Burke 2001: 232. Scott war die Szene wohlbekannt. So nutzte er sie als Grundlage seiner eigenen Darstellung der Ereignisse in seinem Life of Napoleon, das er zur selben Zeit wie Woodstock verfasste (Scott 1858: 43). Interessanterweise ist Scotts Darstellung der ‚Flucht‘ aus dem Bett bei Charles Stuart aber dramatischer als im Falle von Marie Antoinette. Sie ist bei Scott letztlich schon weg, als die Revolutionäre den Raum stürmen.
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Im Gegensatz dazu wird der englische Thronfolger zwar nicht von Feinden bedroht, aber doch recht unsanft aus dem Bett gejagt. Er hat die Nacht aus Sicherheitsgründen im selben Raum wie Albert Lee verbracht, der aus Besorgnis in aller Frühe aufsteht und versucht, das Zimmer zu verlassen: He arose early after day-break; but although he moved with as little noise as was possible, the slumbers of the hunted Prince were easily disturbed. He started up in his bed, and asked if there was any alarm. [...] “None, please your Majesty,” replied Lee; “only […] I fear I must request of your Majesty, for your own gracious security, that you have the goodness to condescend to secure the door with your own hand after I go out.” “Oh, talk not to Majesty, for Heaven’s sake, dear Albert!” answered the poor King, endeavouring in vain to put on a part of his clothes in order to traverse the room. […] [T]he King […] hustled along the floor […] with his dress woefully ill arranged, to make [the door] fast again behind him […] (234f.)
Scott stützt sich demnach auf eine der zentralen Stellen symbolischer Devestitur des Königs während der Französischen Revolution, um die Gefährdung des Thronfolgers zu beschwören. Die Botschaft ist klar: Der ‚arme König‘ Charles II ist in akuter Gefahr ein zweiter Louis XVI (bzw. Charles I) zu werden; darüber hinaus kommt seine Situation einer Erniedrigung nicht nur zum Normalsterblichen, sondern gar zur verletztlichen damsel in distress gleich.164 Den Entkleidungen von Charles I und Louis XVI freilich folgte deren Hinrichtung und die Aussetzung der Monarchie; mithin wurde mit ihrem natürlichen Körper auch der sogenannte politische Körper, die Königswürde und das Königsamt, geschädigt. Zwar droht Charles Stuart dasselbe Schicksal, sollte er in die Hände der Republikaner fallen. Zugleich bewegt er sich aber in einem Umfeld, das die Monarchie mit allen Mitteln wahren und verteidigen möchte. Seine Tragik besteht also nicht so sehr in einer akuten Konfrontation mit Königsmördern und Zerstörern des Königsamts als vielmehr darin, dass er durch seine Verkleidung von seinem Amt entfernt ist und an der loyalistischen Würdigung der Monarchie in Woodstock nicht teilhaben kann. In diesem Sinne modifiziert Scott Burkes pathetische Auffassung von der Tragik des Monarchen – sie ist ihm einerseits, wie oben erwähnt, zu ‚schauerlich‘-defätistisch und andererseits, wie sich hier
164 Burke schreibt zur Erniedrigung der Monarchie durch die Französische Revolution: „On this scheme of things, a king is but a man; a queen is but a woman; a woman is but an animal; and an animal not of the highest order.“ (Burke 2001: 240) Der Erniedrigung des Königs zum Mann (und Menschen) wird eine stärkere Erniedrigung der Königin über die Frau zum Tier gegenübergestellt. Scott wählt also die extremere Form der Devestitur. Vgl. die Darstellung der Devestitur von Louis XVI im Zuge der Französischen Revolution bei Koschorke et al. 2007: 219–226 sowie bei Matala de Mazza 2006.
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nun zeigt, zu einseitig: Sie basiert auf dem Pathos der Passivität des Monarchen, die sie aus diesem Grund aber auch selbst perpetuiert und nicht etwa tragisch problematisiert. Genau das aber macht Scott, indem er Charles Stuart an seiner erzwungenen Passivität leiden lässt. Wie Louis XVI bei Burke ist er zwar auch auf seinen body natural reduziert, hat den body politic aber unmittelbar, positiv und gewissermaßen aktiv vor Augen: Alle um ihn herum außer ihm selbst kämpfen nämlich für eine Königswürde, die er selbst am besten verteidigen könnte. Aus dieser Situation heraus wird die Tragik der Bedrohung der Monarchie denn auch von einer ‚Verwechslungs‘-Komik gemildert, die sich eher mit der Frage der verdienten ‚Rückkehr‘ von Charles in dieses Amt beschäftigt. Zugleich suggeriert Scott, dass es der Humor des Thronfolgers selbst ist, der diesen Übergang erleichtern und den Geist der Restauration (mit)prägen könnte.165 So kann Charles vor den Loyalisten seine Fürsprache für die Monarchie nur in tragikomischer Doppeldeutigkeit formulieren – denn es (er)kennt ihn ja niemand. „[N]o one can be more devotedly attached to the King than I myself, […] I am very partial to his merits and blind to his defects“ (249). In dieser kecken Anspielung kommt zum – durchaus positiv gemeinten – heiteren Selbstverständnis allerdings auch ein gefährlicher Leichtsinn, der deutlich macht, dass Scotts Theater von Charles II das Tragische noch längst nicht überwunden hat: Zwar bewältigt er seinen Amtsverlust und sein Inkognito mit bewundernswertem Vertrauen in seine Wiedereinsetzung, benimmt sich dabei aber so fahrlässig, dass er nicht nur seine Rückkehr, sondern zuletzt auch das Amt selbst gefährdet. Er stellt
165 So scherzt Charles an anderer Stelle gegenüber Albert: „[…] the sovereign and the palace are not ill matched;—these tattered hangings and my ragged jerkin suit each other admirably” (227). In Charles’ humorvollem Umgang mit der eigenen Latenz steckt dabei, wie wir sehen werden, bereits der Versuch, die Tragik der Monarchie in, durch und zur Komödie bzw. dem heiteren Theater des Volkes zu überwinden. Letztlich assoziiert Scott diesen Humor mit der Restoration (bzw. der sentimental) comedy und lässt dementsprechend den Aufenthalt Charles’ in Woodstock in Zügen auch zu einer derartigen Komödie werden, welche sich aber in den Liebeshändeln immer auch in eine (drohende) politische Tragödie entgrenzt (s.u.). Zudem impliziert die Annäherung von Charles an die Komödie durchaus eine gewisse Erniedrigung des Monarchen hin zum traditionell ‚niedereren‘ Personal der Komödie, welche allerdings durch die Tatsache gemildert wird, dass sowohl die Restaurations- als auch die sentimentale Komödie vielfach Charaktere aus dem (Hoch-)Adel aufwies. Worth (1993: 381) weist in seiner Bachtinschen Lektüre von Woodstock zudem darauf hin, dass der (vorübergehend!) entwürdigte König ein Karnevalsmotiv ist. Aus dieser Perspektive wäre die Scottsche Tragikomik aber geradezu auf den Kopf gestellt: Demnach wäre Charles’ Latenz nämlich soz. ‚ursprünglich‘ komisch und würde dann von Scott mit der Tragik einer drohenden Permanenz der Entmachtung konfrontiert. Beide Perspektiven aber sehen das Wichtigste: die Entgrenzung des Tragischen und des Komischen.
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nämlich der Tochter des Hauses nach – und redet sich selbst ein, er sei der König und nicht etwa in einer hochprekären, liminalen Situation der Distanz zum Amt: Notwithstanding the acuteness of his apprehension, he was not sufficiently aware that the Royal Road to female favour is only open to monarchs when they travel in grand costume, and that when they woo incognito, their path of courtship is liable to the same windings and obstacles which obstruct the course of private individuals. (259)
Diese Stelle rekapituliert noch einmal jenes tragische Zurückgeworfensein auf den natürlichen Körper, das der Monarch inkognito erleidet, konfrontiert es aber mit einem alles andere als tragischen Konflikt und einem eher komödiantischen Tonfall, der diese Latenz schon wieder ein Stück weit hinter sich zu lassen scheint. Die Lage für den latenten Monarchen ist hoffnungslos, aber nicht ernst, so könnte man pointieren. Trotz – oder eben gerade wegen – aller Heiterkeit ist und bleibt die Monarchie in dieser Situation aber durch sich selbst gefährdet. Scotts Theater der Monarchie in Woodstock ist demnach über weite Strecken eine Form der Tragikomödie, die im Gegensatz zu Burke die Notwendigkeit einer aktiven Rückkehr zur Monarchie letztlich auch für den König – und nicht nur für den Untertanen – betont und es durchaus ernst damit meint. Die loyalen Bewohner von Woodstock bringen ihre Sorge um das Königsamt zum Ausdruck, indem sie den Monarchen in langen Beschreibungen seines Ist- und seines Soll-Zustands erstehen lassen – ohne zu ahnen, dass er zugleich ver- bzw. entkleidet zugegen ist. Zunächst steht sein body politic im Vordergrund. Nach einem kurzen Andenken an die kluge Politik des Königs durch Albert Lee, das vom alten Lee und seiner Tochter Alice als zu wenig emphatisch gescholten wird, ist letztere nun an der Reihe, ein ‚Bild‘ von ihm zu malen: “Well, then,” she said, “though I am no Apelles, I will try to paint an Alexander, such as I hope, and am determined to believe, exists in the person of our exiled sovereign, soon I trust to be restored. And I will not go farther than his own family. He shall have all the chivalrous courage, all the warlike skill, of Henry of France, his grandfather, in order to place him on the throne;—all his benevolence, love of his people, patience even of unpleasing advice, sacrifice of his own wishes and pleasures to the commonweal, that, seated there, he may be blest while living, and so long remembered when dead, that for ages after it shall be thought sacrilege to breathe an aspersion against the throne which he had occupied! Long after he is dead, while there remains an old man who has seen him, were the condition of that survivor no higher than a groom or a menial, his age shall be provided for at the public charge, and his grey hairs regarded with more distinction than an earl’s coronet, because he remembers the Second Charles, the monarch of every heart in England!” (246)
Alices Lobgesang ist ein Theater der Monarchie, das – ähnlich der Strategien des romantischen Text-Theaters – den (scheinbar) körperlich abwesenden Monarchen im verbalen Medium erstehen lässt. Seine intradiegetische Funktion besteht
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darin, die Loyalisten in ihrem Glauben an und im Kampf für den König zu bestärken, indem er sprachlich gewissermaßen bereits wieder restauriert wird. Vor diesem Hintergrund sind die Vehemenz der Eulogie und die Beschwörungen, ihm auch nach seinem Tod loyal zu sein, verständlich: Sie geben Kunde von seiner Abwesenheit und leisten für die Royalisten im Untergrund zugleich text-theatralische166 Hilfestellung, diese zu überwinden. Inhaltlich läuft der Hymnos auf ein Beharren darauf hinaus, dass body politic und body natural bei diesem König eine besonders enge, eine ideale Einheit eingegangen seien. Schon die zitierte Äußerung bringt, obwohl sie auf den politischen Körper konzentriert ist, auch den natürlichen Körper des Königs ein – etwa, indem dessen genetische Eignung für das Amt beschworen wird. Explizit gemacht wird die Einheit der beiden Körper dann durch Alices Vater: “So much for the King , Alice,” he said, “and now for the Man.” “For the man,” replied Alice, in the same tone, “need I wish him more than the paternal virtues of his unhappy father, of whom his worst enemies have recorded, that if moral virtues and religious faith were to be selected as the qualities which merited a crown, no man could plead the possession of them in a higher or more indisputable degree. Temperate, wise, and frugal, yet munificent in rewarding merit—a friend to letters and the muses, but a severe discourager of the misuse of such gifts—a worthy gentleman—a kind master—the best friend, the best father, the best Christian―” Her voice began to falter, and her father’s handkerchief was already at his eyes. (246)
Alice vollendet ihr Theater des Monarchen mit einer Aufzählung seiner persönlichen Tugenden, seinen ‚natürlichen‘ – im Gegensatz zu den politischen – Eigenschaften. An seinem Höhepunkt am Ende des Zitats bezieht dieses Theater dann einen Teil seiner Wirksamkeit doch wieder aus der (Burkeschen) Tragik der Abwesenheit des Königs, hier gewissermaßen als ein intendiertes und ausgestelltes Scheitern eines Theaters seiner Anwesenheit: Die beiden Loyalisten werden von Gefühlen überwältigt, da der König eben doch nicht da ist und keine Rezitation seiner Größe letztlich darüber hinweghelfen kann. Signifikanterweise geht für Scott aber die Tragik – oder vielmehr: die dramatische Ironie – hier noch weiter. Denn der König ist ja anwesend, aber eben nicht in Amt und Würden, sondern nur in einer Verkleidung, die einer Reduzierung auf den body natural gleichkommt. Hier wird Scotts komplexer Umgang mit Burkescher Königstragik noch einmal deutlich: In der schmerzvollen Beschwörung
166 Etwa, indem – typisch für das romantische Text-Theater bei Scott – die sympathy für den König vorgeführt wird, auf dass sie auf die Zuhörer/Leser übergehe. Vgl. zu den Grenzen dieser Übertragung aber 5.3.3.4.
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der Abwesenheit des Königs wird sie präsent, zugleich aber immer auch überschrieben von einer Tragi(komi)k, die darauf beruht, dass der König eben doch schon (wieder) da ist, aber in deutlicher Distanz zu seinem Amt. Dies wiederum treibt ihn zu einer Königstragik zweiter Ordnung, nämlich seiner eigenen, aktiven Gefährdung des Königsamts. Denn zunächst setzt der Lobgesang Charles enorm zu, hat der doch im Moment nichts (am Körper), was ihn mit dem König(samt) verbindet. Verzweifelt bezieht er sich auf des Königs Schönheit, von der er sich als einem traditionellen Element des Königskörpers, das über den body natural auf den body politic verweist, einen ‚natürlichen‘ Bezugspunkt zum ersehnten Königsamt erhofft – ein äußerst riskantes Unterfangen. Er fragt Alice: When she made [the King], in right of his grandfather and father, a muster of royal and individual excellencies, why could she not have endowed him at the same time with his mother’s personal charms?—Why should not the son of Henrietta Maria, the finest woman of her day, add the recommendations of a handsome face and figure to his internal qualities? […] “I understand you, Master Kerneguy,” said Alice; “but I am no fairy, to bestow, as those do in the nursery tales, gifts which Providence has denied. I am woman enough to have made inquiries on the subject, and I know the general report is, that the King, to have been the son of such handsome parents, is unusually hard-favoured.” (247)
Natürlich hat diese unabsichtliche Beleidigung des Anwesenden auch ihre komischen Züge – vor allem angesichts der vorgängigen Überhöhung –, ihre Folgen aber sind, potentiell zumindest, wiederum äußerst tragisch. Die Relativierung durch Alice läuft nämlich auf eine Weigerung hinaus, Charles, alias Master Kerneguy, in seinem momentanen Zustand einen ‚natürlichen‘ Bezug zur Würde des Monarchen zu erlauben, und wirft ihn damit komplett auf seinen natürlichen Körper zurück. Und wenn Alice dann auch noch unfreiwillig hochnäsig hinzusetzt: „ I do but attempt to paint our King such as I hope he is—such as I am sure he may be, should he himself desire to be so.“ (248) und ihm damit vor Augen führt, wie lang der Weg zurück zum body politic noch ist, ist das Maß voll: Der gewaltsam auf seinen natürlichen Körper beschränkte Monarch wird zum ‚Tier‘, das Alice vergewaltigen möchte: „I should now [...] be tempted to try to reconcile her to the indifferent visage of this same hard-favoured Prince.“ (251) In diesem Moment wird das volle Ausmaß von Scotts komplexer monarchischer Tragikomik deutlich: Der König ist in seiner schwierigen revolutionären Latenz dabei, seine Distanz zum politischen Körper noch zu vergrößern und damit das Königsamt von sich aus zu gefährden.167
167 Vgl. Watson 1991: 80 zum Projekt einer konservativen Reinigung der Monarchie von ihren ‚revolutionären‘ Freizügigkeiten in Woodstock, allerdings ohne Thematisierung der äußeren Ge-
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Interessanterweise drückt sich diese Gefährdung wieder einmal als eine Sympathiekrise aus. Diese führt letztlich zu den Anfängen des romantischen (Text-) Theaters in Wordsworths The Borderers zurück und greift die intersubjektive Bösartigkeit des dortigen Charakters Rivers auf. Solange Alice noch uneingeschränkt vom Königsamt und dessen ‚momentanem‘ Inhaber schwärmt, ersteht in ihrem Zuschauer Charles eine emotionale Verbindung mit ihr. Diese ist an sich schon nicht ungefährlich, wird aber vollends zum Desaster, als sie ihn unabsichtlich ‚zurückweist‘. Aus der positiven wird eine negative sympathy: While Alice spoke, she was hardly conscious of the presence of any one save her father and brother; for the page withdrew himself somewhat from the circle, and there was nothing to remind her of him. She gave the reins, therefore, to her enthusiasms, and as the tears glittered in her eye, and her beautiful features became animated, she seemed like a descended cherub proclaiming the virtues of a patriot monarch. The person chiefly interested in her
fahren und ihres tragischen Potentials. Insgesamt ist Watsons recht grimmiger Abkanzelung von Scotts Konservatismus zuzustimmen, aber doch auch zu verzeichnen, dass Scott den englischen König in Woodstock stark prekarisiert und keine bloße ‚Betonierung‘, sondern eine Flexibilisierung der Monarchie sowie eine Öffnung des Königs gegenüber dem Volk betont. Dass genau dies dann aber auf ästhetischer Ebene eine ‚echte‘ körperliche Beteiligung (sogar nur) an symbolischer Politik ersetzen soll (s.u.), ist doch wieder ein deutlicher, sogar von Watson letztlich unterschätzter Konservatismus. Vgl. zur liminalen Monarchie in den englischen Romanen Scotts allgemein Wilt 1985: 24, 49–79, allerdings dort nicht mit direktem Bezug zu Woodstock. Dieser Roman wird von ihr eher im Rahmen einer verstörenden, materiellen Wiederkehr der (verdrängten) Geschichte untersucht – allerdings kommt sie dabei auf Monarchie insofern zu sprechen, als sie in der Figur Cromwells (s. Anm. 181) ein illegitimes Begehren nach Souveränität untersucht, durch das die Problematik von Monarchie in Woodstock dann doch thematisch wird. Dabei untersucht sie auch das Verhältnis von privatem und öffentlichen Belangen, mithin von body natural und body politic, möchte dieses aber letztlich dekonstruieren (173f.): Öffentliches und privates Anliegen erscheinen im Rahmen des von Scott thematisierten anthropologisch-essentiellen Legitimationsdrangs ununterscheidbar. Daher wird Charles II bei Wilt auch zu einer Figur des wandernden, Verortung suchenden Subjekts an sich, von dem monarchische Souveränität nur eine exemplarische Version ist (174f.). So sehr ich derartigen kulturanthropologischen Entgrenzungen zustimme, muss doch verzeichnet werden, dass Scott von Anfang, nämlich von Waverley an zwischen dem König und dem Subjekt auch der Suche (auch) nach ihm unterscheidet, und diese Differenz an den Figuren Everard und Charles Stuart auch für Woodstock aufrechterhält (s.u.). Von ihren Vorgaben ausgehend erkennt auch Wilt die wichtigsten Elemente der Erkundung des (Theaters des) Monarchen in Woodstock (175f.), nämlich Verkleidung und die Begegnungen mit Alice und Everard, ohne sie allerdings in ein von Scott über mehrere Romane hinweg entfaltetes Problemfeld eines Theaters des Politischen wirklich einordnen zu können. Und Napton (2011) betont zwar, dass es bei Charles Stuart um „the need for the public body of the monarch to subdue the private one” (119) gehe, sieht ihn gleichzeitig aber auch als „embodiment of natural justice“ (129). Problematisch an dieser Deutung ist, dass Charles‘ ‚Natürlichkeit‘ eben auch seine sexuelle Bestialität umfasst, die Alice gefährdet.
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description held himself back, as we have said, and concealed his own features, yet so as to preserve a full view of the beautiful speaker. (246) He saw himself, with the highest claims to sympathy and assistance, coldly treated by the Courts which he visited, rather as a permitted suppliant, than an exiled Monarch. He beheld his own rights and claims treated with scorn and indifference; and, in the same proportion, he was reconciled to the hard-hearted and selfish course of dissipation, which promised him immediate indulgence. If this was obtained at the expense of the happiness of others, should he of all men be scrupulous upon the subject, since he treated others only as the world treated him? (252; meine Hervorhebung)
Aus dem mitfühlenden Monarchen, der im engelhaften Enthusiasmus der schönen Frau sich selbst erkennen zu dürfen glaubt, ist nach dieser und anderen Zurückweisungen eine zweiter Wordsworthscher Rivers geworden, der andere Menschen nach dem Ebenbild seines eigenen Leids – seiner eigenen Reduzierung auf einen rein sinnlich-materiellen Körper – erschaffen möchte. Dieses negativ gewendete Begehren lässt ihn nicht mehr los und führt von seinem body natural nun doch zu seinem body politic zurück – allerdings in ebenso krisenhafter, negativer Weise. Charles offenbart sich Alice gegenüber als der König, was ihn trotz aller Loyalität der Lees in Gefahr bringt, seinen überall lauernden Feinden in die Hände zu fallen. Um Alice zu besitzen, setzt der latente König sein Königsamt ein, gefährdet es damit aber aktiv und freiwillig in einer Weise, die (es) der Zerstörungswut seiner Gegner in die Hände spielt. [“]It is your King—it is Charles Stuart who speaks to you!—he can confer duchies, and if beauty can merit them, it is that of Alice Lee. Nay, nay—rise—do not kneel—it is for your sovereign to kneel to thee, Alice, to whom he is a thousand times more devoted, than the wanderer, Louis, dared venture to profess himself. My Alice has, I know, been trained up in those principles of love and obedience to her sovereign, that she cannot, in conscience or in mercy, inflict on him such a wound as would be implied in the rejection of his suit. […] [T]he lover entreats—the King commands you.” (285f.)
Charles setzt auf die doppelte Überzeugungskraft von natürlichem („lover“) und politischen („King“) Körper, perpetuiert damit aber zugleich ihre Diskrepanz und gefährdet genau deswegen nicht nur seine Amtsübernahme, sondern auch das Amt selbst.168 Hier noch der romantisch Verliebte, bietet er Alice in der Folge eher die Position einer Nebenfrau an – was dem Status der Geliebten gleichkommt,
168 Später argumentiert er auch, dass königliche Ehen eigentlich nur zwischen politischen Körpern geschlossen würden. „formal weddings are guided upon principles of political expedience only“ (286), so dass er mit Alice gut eine ‚natürliche‘ (aber natürlich illegitime) Ehe eingehen könne.
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für den Turm und Labyrinth von Woodstock einst gebaut worden. Charles ist zum Wiedergänger der dekadenten, ausbeuterischen Monarchie geworden, die die royalistischen Geisterbeschwörer durch das Anwesen spuken ließen. Während einer Revolution ist der erpresserische Missbrauch des Königsamts aber gefährlich: Das Amt selbst wird beschädigt, einmal durch die Gefahr, in die Charles sich hier begibt, aber auch durch die aktive Beschmutzung und Invertierung von dessen Würde durch Charles’ Verhalten. Wenn der König sich auf das ‚Niveau‘ eines revolutionären Anti-Königs wie George Staunton in The Heart of Mid-Lo thian169 herablässt, wird er so vogelfrei wie die Revolutionäre selbst.170 Die Nähe von Revolution und Gegenrevolution ist auf dem Höhepunkt und drückt sich nun auch darin aus, dass der König selbst zum ausbeuterischen, revolutionären Gegen- bzw. Anti-König zu werden droht. Alices Reaktion ist so eindeutig wie vorbildlich. Vor dem politischen Körper, der vor ihr ersteht, wird auch sie gewissermaßen zu einem body politic, nämlich dem des „subject“. Und diese beiden können sich nicht lieben oder begehren: “I fear nothing, my lord,” answered Alice. […] [“] I remember the distance betwixt us; and though I might trifle and jest with mine equal, to my King I must only appear in the dutiful posture of a subject […] [”] (286; meine Hervorhebung)
Die Begegnung erfolgt nur zwischen (politischem) König und (politischem) subject; die natürlichen Körper und mit ihnen die Sexualität werden von Alice künstlich ausgeklammert. Die momentane Lösung besteht also darin, die Trennung des sie begehrenden Mannes von seinem Staatsamt durch- und damit die Idealität der Monarchie aufrechtzuerhalten. Damit verhindert sie, dass Charles, George Staunton gleich, zu einem dämonischen, absolutistischen (Anti-)König und sie, wie Madge Wildfire, zu einem tragischen body politic des Volkes wird. Denn da der König sie ja nicht zur Königin machen kann/will, ist die einzige politische Rolle, die sich aus ihrer körperlichen Verbindung ergäbe, die einer Verkörperung der monarchischen Ausbeutung des Volkes. Schneidend weist sie darauf hin, dass ihr Missbrauch gerade nicht der Weg sei, „to recover the affections of the people of England“ (288). Schon hier wird deutlich, dass der König politisches und körperliches Begehren anders wird zusammenführen müssen, will er sein Ziel erreichen, dem ganzen Volk in ‚Liebe‘ zu begegnen und eben nicht nur eine tragische Verkörperung des Volkes sexuell auszubeuten.
169 Vgl. 5.2.3.1 170 Damit wird er zu einem Anti-König wie der Revolutionär Oliver Cromwell selbst! Vgl. dazu und zur Überwindung des negativen Königtums gerade an der Figur Cromwells 5.3.3.3.
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Der Preis, den Alice für diese Lösung allerdings bezahlt, ist hoch – zunächst zumindest. Denn mit der Abtrennung ihres natürlichen Körpers steht mit einem Mal ihr Privatleben auf dem Spiel. Charles Stuart nämlich gerät mit ihrem Geliebten, dem zwischen Republikanismus und Loyalismus schwankenden Everard, aneinander und verabredet sich mit ihm zum Duell – und das, obwohl Everard zum Zeitpunkt dieser Verabredung noch gar nichts vom Ausmaß der Avancen des ‚Pagen‘ seiner Verlobten gegenüber weiß. Dieses Duell – und damit die größte Gefährdung von König und Monarchie –, so scheint es, kann sie nur verhindern, wenn sie ihr privates Glück mit Everard aufgibt. Ihre verzweifelten Versuche, das Duell zu unterbrechen, missversteht dieser nämlich als Eingeständnis ihrer Liebe zum mysteriösen Pagen, den Everard für einen verkleideten Adeligen, der ihr den Kopf verdreht hat, hält. Alice kann aber nicht sagen, wer er wirklich ist. Zunächst entrüstet sie sich über Everards Mangel an Vertrauen, bleibt aber doch konsequent: “If I am thus misinterpreted,” she said—“if I am not judged worthy of the least confidence or candid construction, hear my declaration, and my assurance, that, strange as the words may seem, they are, when truly interpreted, such as do you no wrong.—I tell you—I tell all present—and I tell this gentleman himself, who well knows the sense in which I speak, that his life and safety are, or ought to be, of more value to me than those of any other man in the kingdom—nay, in the world, be that other who he will.” (311)
Das Ende ihrer Tirade zeigt deutlich, dass sie bereit ist, ihren body natural für den body politic des Königs zu opfern. In ihrer unermüdlichen und unerschrockenen Rhetorik gegenüber dem Monarchen gemahnt sie an Jeanie Deans aus The Heart of Mid-Lothian, nur dass ihr Anliegen diesem gegenüber – und damit auch ihre Emphase – viel weiter geht.171 Den Umschwung in Charles erreicht sie aber erst, als sie, darin eher Effie Deans ähnlich, zum pathetischen Körper wird. Als sich Everard, der immer noch alles missversteht, pathetisch von ihr verabschiedet, bricht sie zusammen.172 Damit erhält sie nun doch Züge pathetischer Verkörperung, wird allerdings, und das ist entscheidend, in signifikanter Umdeutung auch zu einer potentiel-
171 Charles bezeichnet sie vor seinem Umschwenken daher abschätzig als „female parliament“ (308). 172 „The poor young lady, whose adventitious spirit had almost deserted her, attempted to repeat the word farewell, but failing in the attempt, only accomplished a broken and imperfect sound, and would have sunk to the ground, but for Dr. Rochecliffe, who caught her as she fell.“ (311)
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len königlichen Tragödie – genau genommen der dritten Art.173 Im Gegensatz zu Charles’ Verhalten, das ja darauf hinausläuft, den politischen Körper dem natürlichen zu opfern, opfert sie umgekehrt ihren natürlichen Körper dem body politic der Monarchie; aus dem ‚niedrigen‘ Pathos der absichtlichen Beschmutzung des Ideals wird das gegenteilige ‚hohe‘ Pathos der freiwilligen Selbstopferung für das Ideal. Dies läuft auf eine Übertragung der Verkörperungsproblematik des Königs, aber damit auch der Königswürde auf Alice hinaus, was ihre Rolle als (ausgebeutete) Volksvertreterin in der vorherigen Szene deutlich übersteigt. Damit wird sie gewissermaßen zu einem Modell-Monarchen, zum „angel of truth and beauty“ (314), zur idealen Verbindung eines natürlichen Körpers und (dessen Pflege) eines politischen Körpers. Ihr Zusammenbruch bekehrt denn auch endlich den Monarchen, überträgt die Sorge um sein Amt zurück auf ihn und vermeidet im letzten Moment die Tragödie. Charles offenbart sich ein weiteres Mal als König, ist diesmal aber bereit, sich an Alices hoher Moral ein Beispiel zu nehmen und damit das Amt mit seinem body natural in Einklang zu bringen. Nun ist (auch) er ein Monarch nach dem Modell politischer und persönlicher Integrität, nach dem Modell der (positiven) Verbindung der beiden Körper. Diese ‚Gegenübertragung‘ erlöst Alice endlich von ihrem Verkörperungsstatus und gibt ihr ihre Position als Individuum zurück. Alle Verkörperung(stragik) wird endlich überwunden; aus der ‚Einzigen‘ wird wieder eine ‚Einzelne‘.174 Deren Nöten kann sich der Monarch nun annehmen und ihren Liebhaber Everard umstimmen. “I need not bid you no longer be jealous of me,” said the King; “for I presume you will scarce think of a match betwixt Alice and me, which would be too losing a one on her side. For other thoughts, the wildest libertine could not entertain them towards so high-minded a creature; and believe me, that my sense of her merit did not need this last distinguished proof of her truth and loyalty. I saw enough of her from her answers to some idle sallies of gallantry, to know with what a lofty character she is endowed. Mr. Everard, her happiness
173 Neben (1) der Burkeschen Tragödie der Herabwürdigung des Königs zum passiven body natural und (2) der Scottschen Tragik(omödie) der (aktiven) Gefährdung des königlichen body politic durch seinen body natural . 174 Insgesamt ist Alice damit eine deutliche Weiterentwicklung der Figur der Jeanie: In The Heart of Mid-Lothian ist die Begegnung eher ein Changieren beider Teilnehmerinnen zwischen Einzelner und Einziger, wobei die Königin durch eine Stimme aus dem Volk an ihren natürlichen Körper erinnert wird. Hier wird die Stimme aus dem Volk letztlich selbst zum königlichen Ideal (zur Erinnerung an den politischen Körper). Zugleich wird das vom Untertanen eingeforderte und vorgelebte ideale Königtum sodann auf den männlichen Monarchen übertragen, so dass Alice wieder ‚Einzelne‘ werden und bleiben kann, während der Monarch eine Idealverbindung von Einzigem und Einzelnem wird (s.u.).
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I see depends on you, and I trust you will be the careful guardian of it. If we can take any obstacle out of the way of your joint happiness, be assured we will use our influence.— Farewell, sir; if we cannot be better friends, do not at least let us entertain harder or worse thoughts of each other than we have now.” (314f.)
Mit diesem Zugeständnis beweist er sogleich, dass er sich an Alices Integrität ein Beispiel nimmt und damit direkt und indirekt ein König nach ihren Vorgaben wird. Zugleich überträgt sich auf einen solchermaßen bekehrten Monarchen allerdings auch Alices Pathos. Er wird zu einem enorm einnehmenden König, der die Begegnung für den hin- und hergerissenen Everard zum exemplarischen, Waverleyesken175 Erlebnis, seinen Monarchen gefunden zu haben, macht. Dabei erfährt das Treffen im Verhältnis zu Waverleys Austausch mit dem Pretender eine doppelte Legitimierung: Der Monarch ist zwar latent, aber legitim, und das integrierte Subjekt selbst wird durch dieses Erlebnis von der Illegitimität zur Loyalität zurückgeholt.176 There was something in the manner of Charles that was extremely affecting; something too, in his condition as a fugitive in the kingdom which was his own by inheritance, that made a direct appeal to Everard’s bosom—though in contradiction to the dictates of that policy which he judged it his duty to pursue in the distracted circumstances of the country. He remained, as we have said, uncovered; and in his manner testified the highest expression of reverence, up to the point when such might seem a symbol of allegiance. […] “I would rescue your person, sir,” he said, “with the purchase of my own life.[”] (315)
Allerdings bedeutet der ‚Austausch‘ mit Alice, der diesen Umschwung ermöglicht hat, auch, dass ihre Königstragik nun auf Charles (zurück)fällt. Er steht nun – in mehrfacher Hinsicht – zu seinem Königsamt, was aber auch bedeutet, dass er sich wieder ‚draußen‘ jenseits des schützenden Hafens des loyalen Haushalts befindet. Unter den Augen eines Charakters außerhalb dieser Familie verliert sich daher jede (Tragi-)Komik des Auseinanderklaffens von Anspruch und Realität, nicht zuletzt da Charles diesem Anspruch jetzt ganz einfach genügt, und macht
175 Hart sieht Everard ebenfalls als Version des Waverley-Helden (also als Subjekt auf der Suche nach politischer Verortung), allerdings in einer Weiterentwicklung zu einem „active hero“, der Waverley noch nicht sein konnte (Hart 1966: 92). 176 Interessanterweise ist Charles II als der Bruder von James II der Großonkel des in Waverley thematisierten sog. ‚jüngeren‘ Pretender Charles Edward (dessen Vater ebenfalls nur noch Prätendent war) – und beide sind sie natürlich Stuarts. In dieser Hinsicht dreht Scott die Geschichte um und lässt den Ahnen die für den Nachfahren noch nicht/nicht mehr erreichbare Legitimität erlangen.
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der Tragik des vom eigenen Volk verfolgten Königs Platz.177 Allerdings kehrt Scott mit der Heraufbeschwörung des (für Everard) bemitleidenswerten Monarchen auch nicht einfach zum armen, entrechteten König Burkescher Prägung zurück. Vielmehr ist dieses Pathos nun angereichert mit der Chance für Charles, sein (symbolisch) wiedererrungenes Amt aktiv zu verteidigen. Er wird zum tragischen Handlungsträger, zum Protagonisten. Letztendlich muss aber auch diese, die vierte Tragödie(nart) überwunden werden und an ihre Stelle endlich das Theater der Vereinigung des rehabilitierten Monarchen und seines bekehrten Volkes treten. Zunächst aber wird sie vertieft, da sich Charles, obwohl er selbst den ausbeuterischen (Anti-)König in sich gerade besiegt hat, nun einem tatsächlichen Gegen-König und (tragischen) Antagonisten gegenübersieht.
5.3.3.3 C romwell als Gegenkönig: Paradoxe Theatralität und die Lösung der monarchischen Krise Dieser Gegen-König ist Oliver Cromwell.178 Scott gestaltet die Figur dieses berühmten Revolutionärs von Anfang an als einen Kontrahenten der Erbmonarchie, von der Cromwell sich diametral, aber letztlich nur mit mäßigem Erfolg absetzen will. In einer berühmt gewordenen Szene betrachtet er ein Porträt von Charles I, für dessen Hinrichtung er mitverantwortlich ist:
177 Das Kapitel endet mit den Worten: „But, odd’s fish! let them laugh as they will, there is something at my heart which tells me, that for once in my life I have acted well.“ (318) Dies sind die Schlussworte eines bekehrten rake am Ende einer Restoration comedy, welche zudem durch Alices emotionale und beispielhafte Bekehrung des Lüstlings gerade in ihrer Lösung deutliche Züge der sentimental comedy hat. Mit dem nächsten Kapitel von Woodstock beginnt dann aber eine (angedrohte) politische Tragödie. 178 Die ausführlichste Analyse der Cromwell-Figur in Woodstock findet sich bei Trela 1998. Der Aufsatz konzentriert sich allerdings auf andere Darstellungen und Bewertungen dieser Figur aus der Zeit Scotts und kontextualisiert sie zu wenig im Werk Scotts, etwa in ihrem Verhältnis zu anderen Figuren illegitimer Herrscher in seinen Romanen. Natürlich erscheint Scotts literarische Behandlung Cromwells als komplexer und von daher ausgeglichener als die Abrechnung mit ihm in politischen Pamphleten. Allerdings übersieht Trela, dass eine solche Komplexität eher der Belebung der Figur als literarischen Charakters geschuldet ist und weniger ein gemäßigtes Urteil über Cromwell bedeutet: In der Plot-Entwicklung und Plot-Logik drängt Scott Cromwell dann nämlich doch recht eindeutig in die Richtung eines illegitimen, diabolischen Herrschers. Ihn als Repräsentation der Demokratie zu bezeichnen, ist eben nicht, wie Trela etwas verunsichert schreibt, ein „backhanded compliment at best“ (212), sondern schlicht Cromwells Verdammnis durch Scott, der Demokratie in (fast) jeder Hinsicht ablehnte (s.u.). Vgl. zur (europäischen) Ikonographie Cromwells als (napoleonischen) Erz-Revolutionärs auch Meisel 1983: 229–246.
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“That Flemish painter,” he said—“that Antonio Vandyck—what a power was his! Steel may mutilate, worms may waste and destroy—still the King stands uninjured by time; and our grandchildren, while they read his history, may look on his image, and compare the melancholy features with the woful tale.—It was a stern necessity—it was an awful deed! The calm pride of that eye might have ruled worlds of courtlike Frenchmen, or supple Italians, or formal Spaniards; but its glances only roused the native courage of the stern Englishman.—Lay not on poor sinful man, whose breath is in his nostrils, the blame that he falls, when Heaven never gave him strength of nerves to stand! The weak rider is thrown by his unruly horse, and trampled to death—the strongest man, the best cavalier, springs to the empty saddle, and uses bit and spur till the fiery steed knows its master—Who blames him, who, mounted aloft, rides triumphantly amongst the people, for having succeeded, where the unskilful and feeble fell and died?—Verily he hath his reward—Then, what is that piece of painted canvass to me more than others?—No—let him show to others the reproaches of that cold, calm face, that proud yet complaining eye—Those who have acted on higher respects have no cause to start at painted shadows—Not wealth nor power brought me from my obscurity—The oppressed consciences, the injured liberties of England, were the banner that I followed.” (94)
Cromwells Bild vom schwachen Reiter, der seinem Pferd zum Opfer fällt, ist auf Charles gemünzt und wohl als Versagen eines schwachen body natural vor den Ansprüchen und Gefahren des Königsamtes zu deuten. Der im Gegensatz dazu entworfene „best cavalier“, der triumphierend durch sein Volk reitet, müsste dann aber Cromwell sein, der sich – wie es ganz am Ende des Zitats heißt – die Freiheiten Englands auf die Fahnen schreibt. Cromwell will hier gewissermaßen königlicher als die Königlichen (cavaliers) sein. In der königlichen Tragödie, die Scott in Woodstock entwirft, wird Cromwell damit zum Antagonisten von Charles I und in logischer Fortspinnung auch von dessen Sohn Charles Stuart. Cromwells Verhältnis zum Theaters der Monarchie aber ist komplex: Einerseits greift er es an, wenn er am Ende des Zitats die „painted shadows“, die an die von Burke verfochtene Ästhetisierung monarchischer Macht – hier durch Malerei – gemahnen, deutlich relativiert.179 Andererseits nimmt die blumige Rhetorik dieser Stelle, die Bilder von königlichen Reitern entwirft und diese sodann auf Cromwell selbst anwendet, an einem Theater der Monarchie auch wiederum teil – gerade in der von Burke selbst verfolgten rhetorischen Variante. Die Distanzierung von der Monarchie und ihrer Repräsentationslogik, die Cromwell hier vornimmt, erweist sich als ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln.180 Daher ist auch Cromwells Argumentation hier doppelbödig, seine Rhetorik selbst blendend und theatral. Scott
179 Vgl. die „pleasing illusions“ und die „decent drapery“ in den Reflections (2.2.2.2). 180 Kurz zuvor geht Cromwell in seiner Kritik an die Wurzeln der Ästhetik des Politischen, wenn er die Würde und die Folgen der Bezeichnung ‚König‘ herausarbeitet (bzw. dekonstruiert), dabei aber in seiner Rhetorik wiederum ebenso ‚ästhetisch‘ und ehrfurchtsgebietend ist: „Why, the
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macht diese ‚Theatralität wider Willen‘ explizit, wenn er einen weiteren Ausbruch Cromwells trocken mit den Worten kommentiert, „[Cromwell’s] deep policy, and ardent enthusiasm, were intermingled with a strain of hypochondriac passion, which often led him to exhibit scenes[“] (373). Cromwell ist genauso theatral wie der Monarch, da er denselben Machtanspruch hat.181 In der zweiten dieser ‚Szenen‘ beklagt Cromwell sein Schicksal, als „Kingkiller“ (372) zwar „lifted above the multitude“ zu sein, aber – aufgrund der noch immer wirksamen Aura der Monarchie – letztlich doch als Verräter und Sündenbock zu gelten und daher zunehmend isoliert dazustehen. Mit diesen Überlegungen lässt Scott Cromwell ins Zentrum der (Repräsentations-)Logik seines Gegen-Königtums vorstoßen. Wie George Staunton hat er sich an die Spitze eines revolutionären Volkes gestellt, dabei sogar den legitimen Herrscher beseitigt und sich an seine Stelle gesetzt. Anders als der König hat er aber keine metaphysische Legitimation in Gestalt des Gottesgnadentums; vielmehr herrscht er nach dem Recht des Stärkeren und ist damit trotz oder gerade wegen der Rigorosität seiner Macht dem Volk gegenüber potentiell durch dessen Gegen-Gewalt gefährdet. Sehnt es sich etwa zur Legitimität zurück, so wird Cromwell klar, ist es um seine ‚(Anti-)Monarchie‘ geschehen. Anders als beim legitimen Monarch ist seine Herrschaft untrennbar mit seiner Person und der historischen Situation, die ihn emporgeworfen hat, verknüpft: Er muss sich aus sich selbst heraus legitimieren; sein body politic ist gewissermaßen eine Kreation seines body natural. Damit in Zusammenhang steht Cromwells Eintreten gegen das monarchische Theater bzw. die Theatralität des Politischen im Allgemeinen. Er bekämpft die traditionelle Amtswürde und den damit zusammenhängenden althergebrachte Repräsentationsanspruch, da er einen solchen schlicht nicht hat. Cromwells ‚Prärogativ‘ erwuchs letztlich aus sich selbst heraus, ist zutiefst ungerecht (und unlogisch) und muss daher geleugnet werden. Cromwells Monarchie und ihr Zeremoniell, so Scott, sind geleugnete, die nichtsdestotrotz vorhanden sind. Anders als die legitime Monarchie reflektiert und legitimiert Cromwell seinen eigenen Repräsentationsanspruch nicht, sondern setzt ihn einfach, da es ihn offiziell nicht geben darf. Das bedeutet aber auch, dass er ihn nicht modifizieren
word King is like a lighted lamp, that throws the same bright gilding upon any combination of the alphabet, and yet you must shed your blood for a name!“ (96) 181 Vgl. Wilt 1985: 170: „In Oliver Cromwell Scott shows a man [...] haunted not only by the picture of the dead Charles I but, more terribly, by the desire which he must not desire–for Kingship“. Wilt arbeitet wie ich die paradoxe Legitimation von Cromwells Machtanspruch heraus (s.u.), assoziiert diesen aber entsprechend der übergreifenden Dekonstruktion von ‚Legitimität‘, die sie Scott unterstellt, mit Monarchie im allgemeinen. Scott charakterisiert jedoch Cromwells Begehren eben nicht als Grundlage jeglicher, sondern nur revolutionär-illegitimer Monarchie.
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oder reformieren kann; Cromwell steht und fällt mit seinem Amt – und sein Amt mit ihm. Scotts Dekonstruktion des Diktatorischen ist Ausdruck eines tiefen Royalismus, dessen Anachronismus aus heutiger Sicht sich auch darin zeigt, das er unmittelbar antidemokratisch ist. Scott sieht das Paradoxe und Wilkürliche von Cromwells Herrschaft(sanspruch) nämlich der Tatsache geschuldet, dass er ein „representative of the democracy of England“ (82) sei. Für Scott bringt die Demokratie, so scheint es, genau jenes Repräsentations- und Legitimationsparadox hervor, dem Cromwell anheimgefallen ist; seine Diktatur ist direkte Folge einer Demokratie in diesem Verständnis: Als reine Herrschaft des Volkes hat sie keinen Herrscher und damit auch keine Repräsentation, was aber dazu führt, dass sie Herrschaft und Legitimation willkürlich aus sich selbst heraus generiert.182 In der ‚Demokratie‘ wird zwangläufig der Stärkste, der Rücksichtslose oder auch derjenige, der den Mut hat, die Monarchie vor den Augen des tatenlosen Volkes zu stürzen und damit erst die Demokratie zu erzeugen, der ‚König‘ aus dem Augenblick heraus. Aufgrund seiner Selbstlegitimation wird ein solcher paradoxer Herrscher zu einem Diktator, der das Volk umso rigoroser regiert, als er ihm ursprünglich entstammt.183 Für Scott hat das Volk also nur zwei Alternativen: den guten, gerechten, flexiblen, weil legitimen König oder den schlechten, gewalttätigen, willkürlichen, weil illegitimen König, welcher im Gegenzug dem Volk ausgeliefert ist.
182 Daher ist der body politic der Demokratie ein paradoxer, da er aus den unvereinbaren Stimmen der Vielen zusammengesetzt ist, während die Monarchie einen homogenen Körper mit (klugem) Kopf darstellt. Über einen anderen Revolutionär schreibt Scott nämlich: „In short, to use an extravagant comparison, the members of Colonel Desborough seemed rather to resemble the disputatious representatives of a federative congress, than the well-ordered union of the orders of the state, in a firm and well-compacted monarchy, where each holds his own place, and all obey the dictates of a common head.“ (114) Vgl. diesen grotesken body politic der Demokratie mit demjenigen von Duncan Knockdunder in The Heart of Mid-Lothian (vgl. 5.2.3.2, Anm. 107), der ja auch für das unvereinigte Volk aus Schotten und Engländern steht. Letztlich parodiert Scott an beiden Körpern aber auch die Verkörperungslogik schlechthin: Kein Körper darf die Gemeinschaft ersetzen; auch der body politic des Königs tritt der Gemeinschaft in ihrer Vielheit gegenüber, wobei der König durch seinen body natural immer auch ein Teil dieser Gemeinschaft ist (s.u.). 183 Vgl. Wordsworth in den Revolutionsbüchern des Prelude (4.2.3), wo diese Konstellation des Einzelnen aus dem Volk, der zu seinem einzigen Repräsentanten wird, zu einem paradoxen Theater des Selbst weitergetrieben wird. An Cromwell wird der Wordsworthsche Ein-Mann-Staat mit dem totalitären Revolutionskönig verknüpft: Die romantische Literatur hat die Pathologie einer postrevolutionären Verköperungslogik in all ihren Dimensionen aufgearbeitet.
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Dabei erzeugt der externe, ‚apriorische‘ König der legitimen Monarchie jene gute sympathy, um die es Scott geht, während der schlechte, situative, selbsternannte König der Demokratie eine destruktive Intersubjektivität mit dem Volk aufbaut, in der sich beide gegenseitig bedrohen. Vor diesem Hintergrund wird das ausführlich geschilderte Treffen Cromwells mit Colonel Everard zu einem Gegenmodell von dessen Treffen mit Charles Stuart.184 Cromwells Rhetorik wird zu einer Inversion der Herzensrhetorik, mit der der König Everard einnimmt. “The State is sound and healthy, Colonel Everard,” said the General; “and yet the less so, that many of its members, who have been hitherto workers together, and propounders of good counsel, and advancers of the public weal, have now waxed cold in their love and in their affection for the Good Cause, for which we should be ready, in our various degrees, to act and do, so soon as we are called to act that whereunto we are appointed, neither rashly, nor over-slothfully, neither lukewarmly nor over-violently, but with such a frame and disposition, in which zeal and charity may, as it were, meet and kiss each other in our streets. Howbeit, because we look back after we have put our hand to the plough, therefore is our force waxed dim.” (333)
Cromwells politische Logik duldet offiziell nur den „Good Cause“, einen leeren, zirkulären Legitimationsgrund, von dem keine Gefühle ausgehen, die mit „love and affection“ entgegnet werden könnten, wie er das hier verlangt. Vor diesem Hintergrund fordert er denn auch nur noch einen gemäßigten Enthusiasmus, der paradoxerweise in der Bildsprache („meet and kiss each other“) aber eine exzessive Emotionalität zum Ausdruck bringt. Zugleich ist diese Äußerung selbst gegenüber Everard alles andere als gefühlvoll-verbindlich; sie ist eine verhohlene Verratsbezichtigung und eine Drohung, ihn dafür grausam zu bestrafen. Zwischen dem Subjekt aus dem Volk und Gegen-König herrscht demnach eine inverse sympathy der Gewalt, die ihre leidenschaftlichen Energien aus negativen Gefühlen wie Furcht und Wut bezieht. Im Gegensatz zu (den beiden) Charles, aber auch Königin Caroline, ist Cromwell zu true sympathy for his people und zu einer Rhetorik des Herzens auch gar nicht in der Lage, da er es als Diktator auf gewalttätige, bedrohliche Weise befehligt und ersetzt, obwohl er einst aus ihm hervorgegangen ist.185 Wie beim Wordsworthsches Ich in der Revolutionskrise ist
184 Vgl. Trela 1998: 215, der das Treffen Everards mit Cromwell mit demjenigen von Alice und Charles Stuart vergleicht. Beide Mächtige können, so Trela, die höheren Werte der Menschen aus dem Volk letztlich nicht ermessen und sollten sich ein Beispiel an ihnen nehmen. Allerdings wird Charles von Alice zur legitimen Monarchie zurückgebracht, was für Cromwell, der sich von Everard auch nicht nachhaltig beeindrucken lässt, ja nicht möglich ist. 185 Daher besteht Scott auch darauf, dass er ein schlechter Redner ist, dessen Rhetorik signifikanterweise zwischen direkten Befehlen (als Ausdruck un-vermittelter, nicht reflektierter Legi-
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der Einzelne unumkehrbar zum Einzigen geworden und hat damit anders als die ‚guten‘ Monarchen keinen Einzel-Platz im Volk mehr, der ihn in dieses einbindete. Diese Bindungsunfähigkeit überträgt sich auch auf das Volk, das, wie wir sehen werden, entweder in führungslose Amorphität zerfällt, oder aber, wo es seinem Befehl unterstellt ist, zu einer gefühllosen, vereinheitlichten Version des social body wird.186 Zugleich ist diese Isolation vom Volk, wie eben bemerkt, aber auch der Ausgangspunkt für die Prekarität von Cromwells Macht, die sich genau dann einstellt, wenn das Volk sich in Sehnsucht nach legitimer Herrschaft jenseits seines Diktators wieder (emotional) ‚vereint‘. Als selbsternannter, paradoxer König sehnt Cromwell sich jedoch nach äußerer, nach transzendentaler wie transzendenter Legitimation. Schon sein Ringen mit der Monarchie von Gottes Gnaden und ihrer Repräsentationslogik macht deutlich, dass er bekämpft, zugleich aber auch begehrt, was er vom Volk nicht haben kann. Gegen Ende des Romans kippt diese Hassliebe in ein offeneres Eingeständnis seines Begehrens, was ihn zu einem fatalen Fehler treibt. Zuletzt doch auf die richtige Fährte gestoßen, hat er mit seinen Mannen das Anwesen Woodstock gestürmt und sucht mit allen Mitteln den dort versteckten König. Als ihn ein Offizier dreimal mit „Highness“ anspricht, beschwert er sich darüber so geschmeichelt-ironisch, dass es zur Koketterie wird, und kommt dann ins Grübeln über sein tatsächliches Verhältnis zur Monarchie. In der Erotik des (erwarteten) Aufstöberns des Monarchen, das für ihn den endgültigen Sieg über die Monarchie bedeuten würde, wird er weich und gesteht sein Begehren für das, was er zerstören zu müssen vorgibt: “[T]here was no offence. I do indeed stand high, and I may perchance stand higher—though, alas, it were fitter for a simple soul like me to return to my plough and my husbandry. Nev-
timation) und einer unverständlichen Weitschweifigkeit (gewissermaßen als Rückkehr der verdrängten Repräsentationslogik) schwankt: „His manner of speaking, when he had the purpose to make himself distinctly understood, was homely and forcible, though neither graceful nor eloquent. No man could on such occasion put his meaning into fewer and more decisive words. But when, as it often happened, he had a mind to play the orator […] Cromwell was wont to invest his meaning, or that which seemed to be his meaning, in such a mist of words, surround it with so many exclusions and exceptions, and fortify it with such a labyrinth of parentheses, that though one of the most shrewd men in England, he was, perhaps, the most unintelligible speaker that ever perplexed an audience.“ (81) 186 Über seine Elitetruppen heißt es: „They were all armed with petronels, short guns similar to the modern carabine, and like them used by horsemen. They marched in the most profound silence and with the utmost regularity, the whole body moving like one man.“ (365) Das Volk, das dem Diktator untersteht, ist zu seinem Ebenbild geworden.
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ertheless, I will not wrestle against the Supreme will, should I be called on to do yet more in that worthy cause.[”] (385)
Cromwell würde sich gegen die Machtübertragung durch den „Supreme will“, also einer Art neuem Bund, der ihn zum König macht, nicht sträuben – er wäre gerne legitimer König, in vollem Ornat. Als ihm im nächsten Moment Kunde vom Auffinden eines verdächtigen Kavalier gebracht wird, obliegt ihm die Identifikation des Mannes. Offenbar noch verstrickt in seine royalistischen Träumereien macht er einen entscheidenden Fehler: “He has come to the battlement,” said Pearson to his General. “In what dress or appearance?” answered Cromwell, from within the chamber. “A grey riding-suit, passmented with silver, russet walking-boots, a cut band, a grey hat and plume, black hair.” “It is he, it is he!” said Cromwell; “and another crowning mercy is vouchsafed!” (386)
Im schönen Versprecher von der ‚krönenden Gnade‘, die seine eigene Krönung schon erblickt, wird deutlich, wovon Cromwell träumt anstatt die Finte zu durchschauen. Der König ist längst über alle Berge, der Aufgegriffene lediglich der verkleidete Albert Lee. Als dieser ihm vorgeführt wird, macht er ihm in beißender Ironie deutlich, welcher Fehler ihm hier unterlaufen ist. Cromwell hat ihn noch nicht erkannt, sondern wähnt noch immer den König vor sich: [“]Ha, youth, I have hunted thee from Stirling to Worcester, from Worcester to Woodstock, and we have met at last!” “I would,” replied Albert, speaking in the character which he had assumed, “that we had met where I could have shown thee the difference betwixt a rightful King and an ambitious Usurper!” (392)
Er ist zwar selbst auch kein legitimer Monarch, kann aber den Unterschied zum Usurpator durch seine (durchschaute) Verkleidung klar machen: Der legitime König ist auf dem Weg zu seinem Volk, und Cromwell kann im falschen König vor sich nur noch sich selbst in seinem Begehren nach „rightful King[ship]“ erblicken.187 Falsch ist dieser Monarch aber nicht nur, da er für den „Usurper“ Cromwell steht, sondern auch, da er mit einem Ornat angetan ist, das Charles selbst abgelegt hat. Mit der Flucht aus Woodstock bleiben auch die Kleider einer veralteten, absolutistisch-ausbeuterischen Form der Monarchie zurück.
187 Vgl. Robertson 1994: 272, die in dieser doppelten Verkleidung auch eine unheimliche Entleerung der Legitimität, die in Charles Stuart und dem Anwesen zum Ausdruck kommt, sieht. Allerdings geht es, wie die vorliegende Interpretation zeigt, auch darum, Cromwells Begehren nach einer letztlich veralteten Form von Monarchie aufzudecken.
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In diesem Moment wird aber auch deutlich, dass der König hat fliehen können, da er beide Körper des Königs in einem offenen Reifungsprozess zusammenführen konnte und sie nicht wie Cromwell krampfhaft engführen muss. Das Ideal der reformierten Monarchie wird Charles Stuart, so suggeriert Scott in einer Passage, die die Flucht des Königs kurz vor dem Eindringen Cromwells schildert, lebenslanger Ansporn sein, was aber auch bedeutet, dass er nie mit ihm identisch werden kann/muss, sondern immer auch ein Mensch aus dem Volk bleiben wird. In dieser Eigenschaft, in Zivil gewissermaßen, hat er sich nun Alice angeschlossen, die alle Scheu vor ihm verloren hat, und sich abgesetzt. Zwischen beiden liegt ein emotionales Band, das bereits als Ausgangspunkt der Versöhnung des Königs mit dem Volk gelten kann: [“]Let me be one of the first to show that zeal and that confidence, which I trust all England will one day emulously display in behalf of your Majesty.” (360) so Alices emphatische Ansprache an ihn, bei der sympathy für seinen politischen („zeal“) und seinen privaten („confidence“) Körper zusammenkommen. Für ihn wird die Flucht daher zur Überwindung allen Tragischen: Alice ist ihm Beweis der bereits begonnenen Restauration ‚draußen‘, genauso wie er weiß, dass Cromwell in sein eigenes Ringen um eine absolutistische Monarchie, die Charles selbst längst hinter sich gelassen hat, verstrickt beiben wird. Wie schon George Staunton in Heart of Mid-Lothian ist der illegitimte, der Anti-König ein Absolutist sowohl im Sinne prärevolutionärer, nicht reformierter Monarchie als auch revolutionärer Selbstermächtigung. Die beiden sind sich in Scotts Auffassung auch deshalb ähnlich, da ihnen jeweils eine Verkörperung des Volkes in einem Mann („l’état, c’est moi.“) zugrundeliegt. Daher muss Cromwell am Ende auch alle monarchische Tragik zurückbehalten, welche Charles in seinem Reformprozess abgestreift hat: Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu seinem Begehren zu stehen und (zusammen mit den anderen Aufgegriffenen) den verkleideten König, der für ihn selbst steht, zu begnadigen.188 Im Sinne ihrer Anmaßung endet seine Königswürde auch im Niedergang: Er selbst wird kein König mehr und kann daher auch, wie Scott am Ende des Romans in Übereinstimmung mit der historischen Überlieferung berichtet, keine monarchische Autorität an seinen Sohn weitergeben, da dieser als Herrscher versagt: Diese Art von Königsamt wird nicht erblich, sondern stirbt mit ihrem Amtsinhaber Oliver Cromwell.189
188 In der Begnadigung von Albert Lee, der den König spielte, während dieser floh, wird auch die am Anfang von Waverley angedeutete Familientragödie überwunden (vgl. 5.2.2). Der dortige loyale Königsdarsteller musste ja noch sehenden Auges geopfert werden, während hier Alberts Verkleidung gerade zum Ausgangspunkt einer Überwindung der Königstragödie hin zu einem Theater des Volkes durch eine flexiblere Monarchie wird. 189 Die vier Tragiken des Monarchischen in Woodstock, die wir an Charles herausgearbeitet haben, werden hier gewissermaßen von einer fünften ergänzt/ersetzt, bei der eine autokratische
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Walter Scott und das Roman-Theater: Subjekt, Monarch, Volk
5.3.3.4 D as postrevolutionäre Theater von legitimem Monarch, Volk und Subjekt Mit der Flucht von Charles aus Woodstock beginnt die Rückkehr zu seinem Volk. Dieses untersteht den Roman hindurch zwar einem revolutionärem Gegen- bzw. Anti-Monarchen, wird aber – und das ist entscheidend – außerhalb der Cromwell direkt unterstellten Truppen selbst nicht zu einem revolutionärem Volk. Es begibt sich nicht wie/mit Cromwell in die Illegitimität, sondern verbleibt letztlich in einem Zustand der königslosen Ungeordnetheit. Scott macht das deutlich, wenn er ganz am Anfang des Romans ein Volk in der Latenz schildert, dem ohne seinen König Repräsentation und Ordnung fehlen. Das Volk wird hier repräsentiert von der Woodstocker Kirchengemeinde, der König durch den lokalen ‚Gutsherren‘ Henry Lee. Zu Beginn des Zitats wird der Niedergang des Theaters der Monarchie mit dem Bildersturm in der Kirche verglichen, in der sich die Gemeinde trifft: The audience, like the building, was abated in splendour. None of the ancient and habitual worshippers during peaceful times, were now to be seen in their carved galleries, with hands shadowing their brows, while composing their minds to pray where their fathers had prayed, and after the same mode of worship. The eye of the yeoman and peasant sought in vain the tall form of old Sir Henry Lee, of Ditchley, as, wrapped in his lace cloak, and with beard and whiskers duly composed, he moved slowly through the aisles, followed by the faithful mastiff, or bloodhound, which in old time had saved his master by his fidelity, and which regularly followed him to church. (8)
Die Darstellung des Volkes als Kirchengemeinde ist uns aus dem Werk Wordsworths wohlvertraut. Scott übernimmt dieses Bild, bricht aber entsprechend seiner Skepsis Wordsworths rein positive Perspektive auf diese Gemeinden-Seligkeit, indem er die Defizite dieser Gruppe sowie ihre religiöse Uneinigkeit explizit thematisiert. Die Gemeinde – und mit ihr die Gemeinschaft – ist geschrumpft, da sich die Adeligen entmachtet und verängstigt in ihre Privatsphäre und in die Individualität zurückgezogen und damit aufgehört haben, sich am Volk konstitutiv zu beteiligen. Das Volk ist, obwohl es hier umfangreicher vertreten ist als in früheren Romanen Scotts, ordnungslos, da ihm eine Führung fehlt, nach der es sich ausrichten könnte, und es von den religiösen Streitigkeiten seiner Zeit verwirrt wird. Obwohl sich die Menschen der Unterschicht gewissen ‚Sekten‘ zuordnen, haben sie bezeichnenderweise ihre Ehrfurcht vor religiösen Insignien verloren: [T]here were in the church a numerous collection of the lower orders, some brought thither by curiosity, but many of them “unwashed artificers,” bewildered in the theological discus-
Selbstlegitimation, eine Verschweißung der beiden Körper des Königs, zur Folge hat, dass der Herrschaftsanspruch mit dem Herrscher selbst dahinscheidet.
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sions of the time, and of as many various sects as there are colours in the rainbow. […] Their behaviour in the church was any thing but reverential or edifying. Most of them affected a cynical contempt for all that was only held sacred by human sanction—the church was to these men but a steeple-house, the clergyman, an ordinary person […] The elder amongst them sate or lay on the benches, with their high steeple-crowned hats pulled over their severe and knitted brows, waiting for the Presbyterian parson […]. The younger mixed, some of them, a bolder license of manners with their heresies; they gazed round on the women, yawned, coughed, and whispered, eat apples, and cracked nuts, as if in the gallery of a theatre ere the piece commences. (9f.; meine Hervorhebungen)
In der Desakralisierung der Religion, die in ihrer Schilderung wiederum Burkes „the king is but a man“ im Zentrum seiner Tragödie der Monarchie aufruft, kommt schon eine gewisse Abwendung von der Legitimität zum Ausdruck. Allerdings ist das Volk viel zu gespalten und zersplittert, als dass es sich unter einen illegitimen Führer scharte.190 Es ist eine Gemeinschaft ohne Kopf, ohne Ordnung (und daher letztlich auch ohne Volk), die ihren König braucht.191 Scott macht die Notwendigkeit einer intersubjektiven Begegnung von König und Volk hier also auch aus der Perspektive des ‚Volkes‘ deutlich. Beide Seiten brauchen und ersehnen einander den Roman hindurch; sogar in Latenz, ante factum, sind die Bindungskräfte also bereits vorhanden. Als Symbol dieses Begehrens fungiert in Woodstock interessanterweise jener Gemeinschaftsbaum, der uns mittlerweile als ein Zentralsymbol der politischen Romantik (bzw. der romantischen Politik) vertraut ist. In Woodstock heißt dieser Baum „King’s Oak“, steht bzw. stand aber in signifikanter Nähe zum Maibaum des Volkes und damit im Zentrum eines Traums vom monarchischen Volkstheater. “That is called the King’s Oak, […] the oldest men of Woodstock know not how old it is—they say Henry used to sit under it with fair Rosamond, and see the lasses dance, and the lads of the village run races, and wrestle for belts or bonnets.” […] [“]There stands the Maypole, as thou seest, half a flight-shot from the King’s Oak, in the midst of the meadow. The King gave ten shillings from the customs of Woodstock to make a new one yearly, besides a tree felled for the purpose out of the forest—but yonder one hath stood till it is warped and withered,
190 In der Schilderung als konfuses Theater(publikum) gemahnt die Gemeinde an den Edinburgher Mob in The Heart of Mid-Lothian (vgl. 5.2.3.1), nur dass es weder juristische Gewalt internalisiert hat noch diese unter Anstiftung eines Revolutionsführers umsetzte. 191 Worth (1993: 386–389) sieht in dieser Stelle den Ausgangspunkt einer demokratischen Dialogizität des Volkes, die sich im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Meinungen äußere. Man muss allerdings zu bedenken geben, dass diese im Verlaufe des Romans nicht mehr aufgegriffen und am Ende eindeutig von einer anderen Repräsentation des Volkes überschrieben wird.
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and twisted like a wasted brier-rod. The green, too, used to be close-shaved, and rolled till it was smooth as a velvet mantle—now it is rough and overgrown.” (33)
In der Trauer über den Verfall des Maibaums am Ende des Zitats wird das Volksbegehren nach seinem König und diesem Theater wiederum konkret fühlbar. Allerdings wird der Volksbaum in Woodstock als politisch-theatralisches Zentralsymbol abgebaut – wofür dessen pastness hier auch steht. Scott sah das Naturtheater des Volkes ja von Anfang an skeptisch und verabschiedet es in Woodstock nun endgültig. Dabei wird es geradezu abgearbeitet, denn – als Fetisch des Nichterhältlichen – wird dieser Baum immer wieder erwähnt, zunehmend mit problematischer Semantik aufgeladen und schließlich zum Ort der (drohenden) Tragödie der Monarchie. Denn an diesem Baum treffen Charles und Everard erstmals aufeinander, geraten sogleich in Streit und verabreden sich zum Duell am selben Ort. Damit wird dieser Baum zuletzt zwar auch zum Schauplatz der folgenreichen Versöhnung zwischen Everard, Alice und dem König und damit zum Ausgangspunkt der finalen Verbindung mit dem Volk – als Ort dieser Verbindung aber hat er ausgedient. Cromwell lässt die Eiche fällen, so dass das ultimative Theater des Volkes-und-des-Königs in der Großstadt London stattfinden muss (und kann). In Anlehnung an den Edinburgh-Besuch von George IV – und natürlich an die geschichtliche Überlieferung – verlegt Scott also den Schauplatz seiner ultimativen Theater-Vision aus der Natur zurück in die Kultur der Stadt. Auch dies ist eine Revision des Wordsworthschen Theatermodells, vielleicht die ultimative, die Scotts (Stadt-)Roman endgültig über Wordsworths (Natur-)Dichtung siegen lassen soll. Das London der Restoration von 1660 wird also zur Szenerie des volkstheatralen Höhepunkts von Scotts Werk. Die Passagen greifen das Szenario des Edinburgher Königsbesuchs von 1824 und seiner Textualisierungen auf, ergänzen es aber um eine Klärung und Erarbeitung sämtlicher Voraussetzungen. Der König hat sich zu einer idealen Verbindung von Einzigem (body politic) und Einzelnem (body natural) reformiert und in dieser Einheit bereits exemplarisch zwei seiner Untertanen getroffen, wobei er eine von ihnen sogar von ihrem Verkörperungsstatus erlöst hat und ihr (dennoch) von gleich zu gleich begegnet ist. Das Volk seinerseits konnnte sich zwar nicht dergestalt reformieren, litt es in der königslosen Zeit doch vor allem an Gestaltlosigkeit; es reifte aber, so könnte man sagen, vor allem in seinem Begehren. Am 29. Mai treffen die beiden dann in Vollendung aufeinander:
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Shortly afterwards, all England was engaged in chorusing his favourite ditty— Oh, the twenty-ninth of May, It was a glorious day, When the King shall enjoy his own again. On that memorable day, the King prepared to make his progress from Rochester to London, with a reception on the part of his subjects so unanimously cordial, as made him say gaily, it must have been his own fault to stay so long away from a country where his arrival gave so much joy. On horseback, betwixt his brothers, the Dukes of York and Gloucester, the Restored Monarch trode slowly over roads strewn with flowers—by conduits running wine, under triumphal arches, and through streets hung with tapestry. There were citizens in various bands, some arrayed in coats of black velvet, with gold chains; some in military suits of cloth of gold, or cloth of silver, followed by all those craftsmen who, having hooted the father from Whitehall, had now come to shout the son into possession of his ancestral palace. On his progress through Blackheath, he passed that army which, so long formidable to England herself, as well as to Europe, had been the means of restoring the Monarchy which their own hands had destroyed. As the King passed the last files of this formidable host, he came to an open part of the heath, where many persons of quality, with others of inferior rank, had stationed themselves to gratulate him as he passed towards the capital. (413f.)
Vor dem zurückkehrenden Monarchen findet das Volk zu seiner ‚natürlichen‘ Ordnung und Hierarchisierung zurück und erscheint dem Vorbeireitenden gewissermaßen in absteigendem Rang, von den „citizens“ über die „craftsmen“ und die Soldaten bis hin zu „persons of inferior rank“ (wenn auch unter Höhergestellte gemischt). Mit dieser stark an den Besuch George IV bzw. dessen texttheatraler Beschwörung gemahnenden Aufstellung192 bringt Scott nun endlich das revolutionäre Volk bzw. dessen unbewältigten Rest in sein Theater ein. In einer schönen historischen Dialektik macht er zudem gerade die Cromwellsche Armee zu einem zentralen Handlungsträger der Restauration, was unterstreicht, dass sogar der revolutionärste, Cromwell direkt unterstellte Teil des Volkes in die Legitimität zurückgekehrt ist.193 Nach all diesen Klärungen ruht nun das Augenmerk auf dem Austausch zwischen Volk und König: Kann auch dieser vertieft werden? Und was ist mit dem exemplarischen Subjekt, dessen Darstellung als ‚Einer aus dem Volk‘, aber gerade inmitten des Volkes, Scott ja schon seit Waverley für sein Volkstheater wichtig war? Um es kurz zu machen: Scott hebt all diese Ebenen im Modell der Familie auf, lässt die Familie dann aber über die (problematischen) Modellgemeinschaften am Ende der schottischen Romane hinausgehen und vor das Volk treten:
192 Vgl. 5.3.2 193 Scott unterstreicht diese Dialektik, indem sie auch den Handwerkern eine Beteiligung an der Entmachtung Charles I unterstellt („hooted the father from Whitehall“), die nun von der Begeisterung für seinen Sohn aufgehoben wird.
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There was one group, however, which attracted peculiar attention from those around, on account of the respect shown to the party by the soldiers who kept the ground, and who, whether Cavaliers or Roundheads, seemed to contest emulously which should contribute most to their accommodation; for both the elder and younger gentlemen of the party had been distinguished in the Civil War. It was a family group, of which the principal figure was an old man seated in a chair, having a complacent smile on his face, and a tear swelling to his eye, as he saw the banners wave on in interminable succession, and heard the multitude shouting the long silenced acclamation, “God save King Charles.” […] The Monarch sprung from his horse, and walked instantly up to the old knight, amid thundering acclamations which rose from the multitudes around, when they saw Charles with his own hand oppose the feeble attempts of the old man to rise to do his homage. […] “May God bless—and preserve—” uttered the old man, overcome by his feelings; and the King, to give him a few moments’ repose, turned to Alice— “And you,” he said, “my fair guide, how have you been employed since our perilous nightwalk? But I need not ask,” glancing round—“in the service of King and Kingdom, bringing up subjects, as loyal as their ancestors.—A fair lineage, by my faith, and a beautiful sight, to the eye of an English King![”] (414–416)
In dieser Verdichtung kommt alles zusammen, woran Scott für sein Theater gearbeitet hat. Die Familie Lee erscheint als Gruppe, in der sich das Volk in seinen (ehemaligen) Parteien und Generationen repräsentiert findet; alle, die sie sehen, empfinden sympathy für sie.194 Obwohl sie damit zur Modellgemeinschaft wird, umschifft Scott hier die Klippen der Verkörperungslogik, indem er die Familie in direkter Auseinandersetzung mit dem Volk und Einbettung in das Volk in seiner Vielheit zeigt. Das Volk kann sich in dieser Familie wiederfinden; die Familie aber auch im Volk. Zugleich verdichtet sich in dieser Gruppe natürlich auch das Personal – und damit das Geschehen – des Romans. Das Schlusstableau ist damit auch ein Moment, in dem das Syntagma des Romans – vor den Augen der Leser gewissermaßen – zum Paradigma wird, und der Text sein eigenes Aufgehen in einem idealen Theater(moment) des Politischen vollzieht und reflektiert.195
194 Scott betont neben dem einigenden auch den mäßigenden Charakter dieser Familie: Ihm gegenüber beherrscht sich auch das ‚niedrigste‘ Volk und hört auf zu drängeln: „Three or four livery-servants attended to protect this group from the thronging multitude, but it needed not. The high respectability and unpretending simplicity of their appearance gave them, even in the eyes of the coarsest of the people, an air of patriarchal dignity, which commanded general regard; and they sat upon the bank which they had chosen for their station by the way-side, as undisturbed as if they had been in their own park.“ (415) In dieser Hinsicht wüde die Modellfamilie das Organisations- und Kontrollproblem, das der Edinburgher Besuch noch hatte, sogar auf der Ebene des real-körperlichen Theaters lösen. 195 Wilt 1985 spricht sehr schön von der Familie als einer „sculpture group in a wayside bank to welcome the king in his own again“ (176).
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Die Intersubjektivität zwischen Volk und Familie ist natürlich nicht genug, sondern muss um eine ebenso ideale Begegnung mit dem Monarchen ergänzt werden. Dieser ist, wie sich deutlich zeigt, als Verbindung von body politic und body natural präsent: Im triumphalen Einzug feiert das Theater der Monarchie seine Rückkehr. Zugleich geht es in ein übergeordnetes Theater des ‚Volkes-mitKönig‘ ein, in dem der König sich auch als natürlicher Körper, als Einer aus dem Volk, erweist, der sich mit seinen Untertanen emotional zu verbinden weiß und dabei eine Huldigung für seinen politischen Körper explizit zurückweist. Auch hier nimmt die Familie die entscheidende Position des Dritten ein, da nicht nur der Monarch in dieser Familie eine Modellbegegnung mit dem Volk vollziehen kann, sondern umgekehrt das Volk in dieser Huldigung seine Begegnung mit dem Monarchen (nach)vollziehen und (nach)erleben kann – daher der donnernde Applaus. Die potentielle Verkörperungsstatik der Situation wird dabei vom König selbst limitiert, indem er – in den Schlussworten des Zitats – die Familie Lee als Keimzelle, mithin als förderndes Mitglied, aber eben nicht als ersetzende Repräsentation des Volkes preist. Damit wird zugleich die stagnative Konzentration auf eine finale Symbolhochzeit, der Ivanhoe ja noch deutlich erlegen war, vermieden: Die Hauptfunktion der Verbindung zwischen Everard und Alice ist die Vergrößerung der Vielzahl des loyalen Volkes und nicht der Ersatz für diese Vielzahl. In dieser Konstellation wird der alte Lee zum Zentrum: Einerseits steht er, wiederum in idealer Weise, für das Changieren, für die Aufhebung der Grenze zwischen Spektakel und Zuschauer, da er mit seinen heißen Tränen zum einen ein bewegter (Ideal-)Zuschauer des restaurierten Volkes, zum anderen – in seiner vorbildlichen Loyalität wie auch durch die ausgestellte Emotionalität seines Zuschauens selbst – sein bewegender Hauptakteur ist. Waverleys Subjekt-Begegnung mit Bonnie Prince Charlie wird hier nicht nur in der Legitimität, sondern in emotionaler Steigerung revidiert.196 Andererseits geht Lees Funktion über dieses Theater in all seiner Komplexität noch hinaus – er wird zur Transzendenz des Textes in doppelter Hinsicht: „The old man leaned back on his seat, and muttered the Nunc dimittis.“ (416), dann stirbt er vor den Augen aller. Mit den Worten des alten Simeon aus dem Lukas-Evangelium, die den ankommenden Messias erkennen und ihm zugleich für das dadurch ermöglichte friedvolle Scheiden aus dem Leben danken, wird zum einen die metaphysische, volksäußere Verankerung des Monarchen im Gottesgnadentum noch einmal betont.197 Zum anderen deutet diese Stelle aber auch an, worauf Scotts intersubjektives Theaterprojekt
196 Vgl. 5.2.2.1 197 Zugleich ist das Zitat dieser Bibelstelle eine Gegenaneignung zu derjenigen durch Richard Price, der – zum hellen Entsetzen von Edmund Burke (vgl. 2.2.2.5, Anm. 168) – diese Stelle ja in
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im Moment seiner Erfüllung zusteuert, nämlich auf das Verlöschen des Subjekts, das seine Idealbegegnung mit dem Monarchen vor dem Volk vollzogen hat und nun gewissermaßen auch als Kategorie vergehen kann. Fortan, so suggeriert es diese Stelle, besteht das Theater des Politischen nur noch aus König und Volk. Ein (jedes) Subjekt ist in ihm gewissermaßen a priori angelegt; das Einzelsubjekt ist im Volkssubjekt – genauer gesagt: in der Intersubjektivität zwischen König und Volk – von Anfang an aufgehoben. Einerseits ist das ein hochproblematischer Gipfel- und Selbstüberwindungspunkt der Romantik, andererseits aber auch eine recht verschämte Referenz auf ein Charakteristikum der Romantik, das längst schon da war: Der ‚verschwindende‘ Zuschauer Henry Lee ist nämlich auch eine Figur des Lesers und dessen – in dieser Studie mittlerweile notorischer – Ausgeschlossenheit aus dem romantischen (Text-)Theater. Der isolierte Leser ist der Problempunkt des romantischen Theaterprojekts: In der Textualisierung des Theaters wird auf der Inhaltsebene natürlich vieles möglich, was die Bühne (der Zeit) niemals leisten könnte. Andererseits ist diese Potenzierung des Theaters nur um den Preis zu haben, dass sie mit dem Leser als letztendlichem ‚Zuschauer‘ vorlieb nehmen muss. Dieser ist und bleibt eine stille Größe, von deren Beteiligungsgrad am Text-Theater auch deswegen nichts ausgesagt werden kann, da er schlichtweg nicht (wirklich) mitmachen kann. Vertiefen lässt sich die Deutung der Zuschauer- als einer Leserfigur, wenn man sie auf die Analyse der theaterhaften Wirkung von Walter Scotts Romanen durch Horst Tippkötter bezieht. Wie ist der Leser in das theatrale Geschehen miteinbezogen? Die Darstellung des restaurativen Theaters des Volkes-mit-König zeigt einen Übergang zwischen zwei ‚Erzähleinheiten‘, wie Tippkötter ihn als typisch für die Scottsche ‚Dramatik‘ ansetzt198: Die Schilderung des königlichen Einzugs in London ist eine ‚bildhaft-bewegte Erzähleinheit‘199, die diesen Vorgang anschaulich-dynamisch, etwa durch Reihungen knapp geschilderter Details200 oder durch Fokalisationswechsel von der Perspektive der Zuschauer201
seiner Predigt aufgegriffen hatte, um ausgerechnet die Ankunft der Französischen Revolution zu feiern. 198 Vgl. Tippkötter 1971: 205. 199 Vgl. Tippkötter 1971: 200–204 sowie insbes. 5.1 der vorliegenden Studie. 200 Etwa „by conduits running wine, under triumphal arches, and through streets hung with tapestry“. 201 Vgl. „On horseback, betwixt his brothers, the Dukes of York and Gloucester, the Restored Monarch trode slowly over roads strewn with flowers“.
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(auf den König) zur Perspektive des Königs202 (auf das Volk), darstellt. Mit der Ankunft bei der ‚Statuengruppe‘ der Lees beginnt eine ‚szenisch-dramatische Erzähleinheit‘203, nämlich der Dialog zwischen dem König und den Lees, der in den Tod des alten Lee übergeht. Allerdings stehen diese ‚dramatischen‘ Vermittlungsaspekte von Scotts Theater in einigem Abstand zu den Idealen eines Theaters der Intersubjektivität. So haben die von Tippkötter angesetzten dramatischen Elemente wenig mit der emotionalen Beteiligung des Lesers gemein, die William Wordsworth als Einbindung seiner Rezipienten in das von ihm entworfene intersubjektive Theater unternimmt. Vielmehr zielen die rezeptionslenkenden Merkmale in Scotts Romanen eher darauf ab, dem Leser die Virtualisierung bzw. Synthetisierung dieses Theaters in seiner Vorstellungswelt zu ermöglichen und ihn damit letztlich zum betrachtenden ‚Regisseur‘ in einiger Distanz zur ‚Bühne‘ und nicht zum (Zuschauer-)Akteur im Geschehen selbst zu machen.204 Diese Welt ist zwar inhaltlich dynamisiert und variabel fokalisiert, zugleich aber in einem abgetrennten Vergangenheitsraum situiert. Dieser Raum bildet ein Äquivalent zur hermetischen Vorstellungssphäre des Lesers, in der diese Welt allererst erstehen soll. Er ist ein vergangenes und imaginäres Theater. Letztlich geht es Scott bei der Vermittlung seines Theatermodells an den Leser also eigentlich gar nicht um dessen Einbindung in die dort gezeigten intersubjektiven Austauschprozesse. So lassen sich an dieser Stelle zwar eindeutig Darstellungsverfahren nachweisen, die auf die Dynamisierung deskriptiver Verfahren und ihre Einbettung in ausführliche Dialog-Passagen hinweisen, mithin theatralisch im Sinne Tippkötters sind. Allerdings finden diese Prozesse in der Vorstellungswelt des Lesers statt, haben also gerade jenen imaginären Charakter einer individuellen Vorstellung, den Scott in seinem Theaterkonzept ja hin zum
202 So heißt es über das Herannahen des Königs an die Lees: „But when [Charles] had gazed an instant on the party which we have described, it was impossible, if even Alice had been too much changed to be recognized, not instantly to know Bevis and his venerable master.“ (415) 203 Vgl. Tippkötter 1971: 204–211 und insbes. 5.1 der vorliegenden Studie. 204 Die meisten Romane Scotts arbeiten mit einem auktorialen Erzähler, der sich, wie z.B. in Waverley, bisweilen im Handlungsverlauf auch an den Leser wendet. The Heart of Midlothian und Woodstock weisen zusätzlich Herausgeberfiktionen auf. Diese extradiegetischen Elemente können zwar dahingehend intepretiert werden, dass sie auf den Konstruktionscharakter des dargestellten Geschehens hinweisen (vgl. mit Bezug auf Waverley Lumsden 2010: 81–85). Allerdings stört die Einsicht in die Gemachtheit der Geschichte bekanntlich im Sinne der „willing suspension of disbelief“ ja nicht deren illusorische Kraft. M.E. trägt die auktoriale Erzählweise in Woodstock zu einem Illusionspakt zwischen Erzähler und Leser und damit zum Aufbau eines distanzierten historischen ‚Theaters‘ in den Romanen Scotts bei.
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imaginativen Theater einer kollektiven Vorstellung205 im Angesicht einer zwar symbolischen, aber realen Szenerie überwinden wollte. Diese Diskrepanz, zwischen inhaltlich erarbeitetem imaginativem und ästhetisch-kommunikativ möglichem imaginärem Theater, sieht Tippkötter nicht. Das liegt auch daran, dass sein Konzept der Theatralität eher abstrakt ist. Es lässt sich gerade nicht mit zeitgenössischen Theatermodellen in Übereinklang bringen und beschreibt letztlich als ‚theatralisch‘ etwas, das zu den allgemeinen Charakteristika narrativer Texte gehört, nämlich die Erzeugung und Dynamisierung vorgestellter Welten. Wie schon in 1.2 an Gerhard Neumanns Theatralitätsbegriff kritisiert, erweist sich ein historisch unspezifischer Begriff literarischer Theatralität als wenig trennscharf und beschreibt eher Eigenschaften, die zu Literatur, und in diesem Fall zu erzählender Literatur, im allgemeinen gehören. Aus der Not der Nicht-Einbeziehbarkeit des Lesers macht Scotts politisches (Theater-)Modell aber, so scheint es, eine Art Tugend, denn der Tod des Zuschauers überträgt diese zurück auf die Inhaltsebene: Der auf sich selbst zurückgeworfene Leser wird zum Äquivalent eines ausgesteuerten, selbstvergessenen und daher ‚toten‘ Zuschauers, obwohl der Leser hier gerade nicht ausgesteuert, sondern in gewisser Distanz zum Geschehen gehalten werden soll. Walter Scott führt hier zwei Ausprägungen des romantischen Subjekts eng, den überwältigten Zuschauer und den selbstbezogenen Leser, die letztlich an den beiden Enden der Skala von Subjektivität liegen, und die vor allem eines eint: Sie sind keine selbstund fremdwahrnehmbaren Intersubjekte, sondern abgetrennte Orte fern jeden aktiven Austauschs mit anderen Subjekten. Der eine ist dem Geschehen bis zur Selbstaufgabe hingegeben, der andere zur Verfertigung dieses Geschehens in seiner eigenen Vorstellung gezwungen – aber eines verbindet sie: Sie haben beide die aktive Intersubjektivität aufgegeben. Die Diskrepanzen zwischen dem inhaltlich entwickelten und dem romanästhetisch möglichen Theater lassen sich aber durch den Tod des Zuschauers ‚zum Leser‘ nicht so leicht aus der Welt schaffen – im Gegenteil: Sie werden dadurch, eher unbewusst als bewusst, auch ausgestellt. Es zeigt sich ja, dass Scott den kollektiv bewegten Zuschauer hin zum individualisierten Leser dramatisch sterben lassen muss, um die beiden Theater, das imaginative des Zuschauers und das imaginäre des Lesers, zusammenzubringen zu können. Der Übergang vom Zuschauer zum Leser kann also nur ganz ‚tragisch‘ über den Tod des Zuschauers erfolgen. An die Stelle des politisch-imaginativen Gruppentheaters, das Scott in
205 ‚Vorstellung‘ erscheint hier – bei der zweiten Nennung – im Doppelsinn von gedanklichem Vollzug und realer Aufführung wie Christoph Reinfandt ihn als konstitutiv für das Text-Theater der Romantik ansetzt (Reifandt 2008: 169f.).
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seiner Romansequenz entfaltet hat, tritt am Ende nun doch jenes imaginäre, im Einzelnen nur ‚erträumte‘ Theater, von dessen Kritik bei Edward Waverley diese Sequenz letztlich ihren Ausgang genommen hat. Damit ist die Figur des in reiner Beobachtung sterbenden Lee zwar eine Rückkehr des vielbeschworenen passiven Helden der Romane Walter Scotts206, aber nicht im Sinne einer triumphalen ‚Erfüllung‘ eines von Anfang an thematisierten Heldentyps nun auch als Lesertyp. Scott hat diese Helden (und unter ihnen Edward Waverley), wie wir gesehen haben, inhaltlich energisch weiterentwickelt – und zwar genau zu jenen Intersubjekten, die zunächst auch im finalen Volkstheater in Woodstock zu finden sind. An seinem Ende verfällt dieses Theater aber wieder auf die Figur passiven Erlebens, mit der am Anfang von Waverley alles begann, und treibt dafür das Inter-Subjekt gewissermaßen in den Tod. Wenn es also – erst ganz am Ende, im Moment der (inhaltlichen) Erfüllung von Scotts Theaterkonzept – nun endlich um den Leser und die Frage nach dessen Miteinbeziehung in dieses Theater geht, so impliziert Scott hier ein negatives Leserkonzept, eines, das auf dem Tod des mühsam entwickelten Intersubjekts aufruht, und auf den Ausgangspunkt seines Romanprojekts zurückverweist, den passiven Träumer in seiner Bibliothek, der in diesem Projekt eigentlich überwunden werden sollte. Scott tarnt hier als krönende Erhöhung des von ihm erarbeiteten Subjektmodells letztlich die Unmöglichkeit, es auch auf den äußeren Ebenen seines Text-Theaters zu verwirklichen. Allerdings führt Scott für diese ‚Tötung‘, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, durchaus gewichtige Gründe an, die er wieder aus Woodstock selbst heraus entwickelt.
5.3.3.5 Die Aufhebung dieser Lösung in Scotts Text-Theater Wie bereits angedeutet, ist Woodstock derjenige Roman Scotts, der die Textualisierung des Theaters am stärksten reflektiert und gewissermaßen aus sich selbst heraus vornimmt und legitimiert. Dabei verteidigt, wie wir sehen werden, Scott auch die Notwendigkeit des passiven Einzellesers. Verknüpft ist diese Auto-Reflexion der Textpoetik mit einer intradiegetischen Debatte um die Werke William Shakespeares und John Miltons sowie deren ‚legitimste‘ Rezeptions- bzw. Erfahrungsform. Das am Ende in Volk und König aufgehende Subjekt Henry Lee ist den Roman hindurch vor allem dadurch charakterisiert, dass es die Werke Shakespeares liebt und im Munde führt. Zugleich assoziiert er den Dichter und seine
206 den etwa auch Tippkötter als zentralen Beobachtungsträger und damit als zentrales Subjekt des Scottschen Text-Theaters ansetzt, vgl. Tippkötter 1971: 185–197 sowie 5.2.2.
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Dramen mit der Monarchie, hat ihm doch einst sein geliebter Dienstherr Charles I eine Folio-Ausgabe der Dramen überlassen, die er über alles schätzt. Im Umkehrschluss betrifft auch der vorübergehende Niedergang der Monarchie das Werk des Barden, etwa in dem von Lee heftig und zynisch ironisierten Theaterverbot durch die Republikaner.207 Er belehrt Everard: That undoubtedly the Presbyterian gentry had given, through the whole of these unhappy times, such proofs of an humble, unaspiring, and unambitious desire of the public good, as entitled them to general credit for the sincerity of those very strong scruples which they entertained against works, in which the noblest sentiments of religion and virtue—sentiments which might convert hardened sinners, and be placed with propriety in the mouths of dying saints and martyrs,—happened, from the rudeness and coarse taste of the times, to be mixed with some broad jests, and similar matter, which lay not much in the way, excepting of those who painfully sought such stuff out, that they might use it in vilifying what was in itself deserving of the highest applause. (276)
Shakespeare ist eine moralische, religiöse und auch politische Instanz; seine Dramen haben eine bekehrende und reformierende Wirkung, die die Presbyterianer (und Puritaner) aus purer Ignoranz und ästhetischem Banausentum heraus nicht erfahren, da sie sich von jeder anzüglichen Nebenbemerkung ablenken lassen. Leider haben sie und ihre Antitheatralität derzeit das Sagen, und so wird Lee zum trotzigen Rezitator von Shakespeares Dramen im ‚inneren Exil‘, der vor allem politische Vorkommnisse und Hemmnisse mit Shakespeare-Stellen kommentiert. Faszinierenderweise zitiert er dabei vor allem Richard II, jene (Königs-)Tragödie, die vom Amtsverlust und der Ermordung eines legitimen, aber schwachen Königs, der Usurpation des Amtes durch einen ehrgeizigen Konkurrenten und der Ermordung des abgesetzen Königs handelt. Er möchte diesen Text sogar dem mysteriösen, auf seinem Anwesen versteckten schottischen Pagen vorlesen, ohne zu ahnen, dass er einen König in einer ganz ähnlichen Entscheidungs- und Konkurrenzsituation vor sich hat. Lee liebt Richard II, da es der konservativen Interpretation von Shakespeares Königsdramen zufolge die Usurpation ausführlichst desavouiert und in all ihren Folgen darstellt.208 Charles Stuart macht instinktiv einen großen Bogen um die drohende Rezitation dieses Dramas, obwohl – oder gerade weil – es, so könnte man das Drama auch deuten, seine eigenen Probleme
207 Vgl. zu den historischen Hintergründen des puritanischen Theaterverbots etwa Barish 1981: v.a. 155–190. 208 Diese Deutung des Shakespearschen Königszyklus (vgl. Tillyard 1959) geht davon aus, dass die Historien die historische Vergeltung für diesen Königsmord ausspinnen, die sich über vier (illegitime) Könige und deren (Bürger-)Kriege erstreckt und erst wieder aufgehoben wird, als mit Edward IV ein Nachkomme des legitimen König – und Vorfahre von Elisabeth I – die Macht erhält.
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verhandelt209: Richard II ist unfähig, da er seine Amtswürde und seine privaten Fähigkeiten, body politic und body natural, nicht in Einklang bringen kann, daher sein Amt verliert und die Monarchie für Usurpation anfällig macht. Die beiden Interpretationen (Warnung an den Usurpator, Ermahnung an den König) ergänzen sich aber, so dass durch Charles’ Ablehnung nicht etwa Shakespeares Drama relativiert, sondern vielmehr warnend – und mit Shakespeare unterfüttert – darauf hingewiesen wird, in welcher Gefahr er sich befindet, gerade da er sie ignoriert und der Tochter des Hauses nachstellt. An sich wäre das Drama, so suggeriert der Roman, eine ideale Form, diese Gefahren zu erkennen und vielleicht sogar zu überwinden. Dass Charles die Bedeutung der Tragedy of Richard II aber nicht erkennt bzw. absichtlich ignoriert, lässt ihn letztlich Gefahr laufen, diese Tragödie zu wiederholen.210 Interessanterweise wird die Vereinigung der beiden Körper des Königs anhand der Shakespeare-Debatte nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetischmedial zum Thema. Am Ende der oben zitierten Äußerung stellt Henry Lee nämlich in Abrede, dass ein Republikaner an Shakespeare heranreichen könne. Als Entgegnung zitiert Everard ein paar Verse aus dem Maskenspiel Comus ausgerechnet jenes John Milton, von dem die wichtigsten prorepublikanischen bzw. antiroyalistischen Pamphlete der Commonwealth-Zeit stammen. Pikanterweise ist diese Masque aber ein eher royalistischer Text und thematisiert noch dazu höfische Keuschheit.211 Lee ist begeistert und lässt sich die Stelle sogar zweimal vortragen, um Ästhetik und Inhalt gleichermaßen zu erfahren. Dann aber bricht genau über diese beiden Dinge ein ernster Streit aus: Als Lee erfährt, wessen Verse er da vernommen und gepriesen hat, ist er über alle Maßen empört. Den beschwichtigenden Einwand von Everard, man müsse doch zwischen den poe-
209 So sind seine Einwände eher ästhetischer Art, erhalten aber eine unbewusste und unheimliche Klarsicht in seiner empörten Überlegung, Henry wolle ihn wohl „read [..] to death with five acts of a historical play, or chronicle, ‘being the piteous Life and Death of Richard the Second’“ (251). Der ihm drohende Tod ist eben keiner durch Langeweile, sondern ein Widerhall desjenigen von Richard II. 210 Vgl. zur Shakespeare-Rezeption in Woodstock Watson 1991: 78–80, die aber vor allem die Rolle der First Folio, die sich im Woodstock-Anwesen befindet, betont. In diesem Text und seiner ‚Reinheit‘ sieht sie eine Parallele zur ‚Bekehrung‘ von Charles Stuart. Allderdings wird weniger dieser Text, der in Woodstock nur zweimal kurz erwähnt wird, zu einer Art konservativ-monarchistischer Verfassung Großbritanniens, wie sie suggeriert, als vielmehr der Text des Scottschen Romans selbst (s.u.). Und im Roman wird Shakespeare ja eben noch nicht gelesen, sondern mündlich und intersubjektiv rezitiert. Allerdings vermerkt Watson zu Recht, dass Scott insgesamt einen recht königstreuen und antirevolutionären Shakespeare präsentiert. 211 Der eigentliche (Haupt-)Titel des Werkes von 1634 ist A Mask Presented at Ludlow Castle, 1634.
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tischen und den politischen Werken Miltons differenzieren, lässt er nicht gelten. Im Gegenteil: Er steigert seine Verbitterung sogar noch, entstammt er doch seiner Ansicht nach selbst einer antiroyalistischen Denkungsart: „‘Oh yes, sir,’ replied Sir Henry, ‘we well know your power of making distinctions; you could make war against the King’s prerogative, without having the least design against his person […][’]“ (280) Die Einheit der beiden Körper des Königs findet sich demnach in der Einheit der politischen und der poetischen Schriften eines Autors wieder. Wer die beiden voneinander trennt, ist ein Bilderstürmer und Republikaner, der sich an der Monarchie genauso wie an der Kunst vergeht.212 Im Umkehrschluss können Republikaner keine Kunstwerke schaffen, genauso wie sie keinen legitimen Herrschaftsanspruch haben; sie können nicht repräsentieren, weder politisch noch ästhetisch – Kunst und Politik bilden ja eine Einheit. Im Klartext: Kunst muss immer monarchistisch sein, Monarchie aber immer auch ästhetisch. Milton ist daher als ganzes abzulehnen; seine royalistischen Gedichte sind Absurditäten oder – schlimmer noch – Fallen, die den uninformierten Zuhörer zu ‚falschem‘ Enthusiasmus hinreißen.213 Welcher Art diese (Text-)Kunst zu sein hat, lehrt diese Krise ebenfalls. Einerseits ist Lee ein Verfechter des Shakespearschen Theaters in all seiner Körperlichkeit und Materialität, assoziiert er diese Repräsentationsart doch mit der Monarchie, wie sie etwa im glorreichen Restaurationstheater am Ende von Woodstock zum Ausdruck kommt. Theaterfeindlichkeit ist – zusammen mit der Ablehnung monarchischer Repräsentationskultur – ein Markenzeichen der Puritaner und ihres paradoxen Verhältnisses zur Repräsentation. Andererseits besteht die Krise gerade darin, dass Lee sich vom mündlichen Vortrag des Comus zum Genuss gefälschter Kunst und zur Befürwortung falscher Politik verleiten ließ. Diese Erfahrung lehrt, dass die beste Erfahrungsform für Kunst-Politik (Politik-Kunst) daher die Einzel-Lektüre ist, da so jeder falsche Enthusiasmus verhindert wird – durch die ruhige Zurückgezogenheit einerseits sowie durch den höheren Grad an Informiertheit über die Kontexte des Werkes andererseits.
212 Interessanterweise griff Milton in seiner Schrift Eikonoklastes auch die Ästhetik und Repräsentationslogik der Monarchie sowie der berühmten (Selbst-)Verteidigungsschrift Eikon Basilike von Charles I seinerseits an. Er attackiert vor allem deren Bildlichkeit als täuschende Simulation monarchischer Repräsentanz. Damit schließt schon Milton politische und ästhetische Repräsentation kurz und beweist zudem, dass es bereits im 17. Jahrhundert eine Debatte um ein Text-Theater des Politischen gab (vgl. dazu Smith 1994: 70–92), auf die Scott sich zur Erarbeitung in seinem eigenen Projekt bezieht! 213 Vgl. auch Watson 1991: 90, dort Anm. 32, die ebenfalls Miltons Werk in Woodstock aufgrund von dessen revolutionärem Charakter als gegenüber Shakespeare abgewertet ansetzt.
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Damit ergibt sich aus dem Vorfall für Lee paradoxerweise die Konsequenz, dass es für ihn selbst vielleicht besser wäre, dem Theater gegenüber skeptisch zu sein. Ebenso konsequent stirbt er am Ende gerade als Theaterzuschauer. Es gibt eben nicht nur eine republikanische, sondern auch eine royalistische Theaterskepsis. Letztere allerdings ist dahingehend differenziert, dass sie das Theater des Politischen auf der inhaltlichen Ebene befürwortet; auf der Kommunikationsebene aber die individuelle Rezeption dem kollektiven Erlebnis vorzieht. In Walter Scotts Kompromiss soll das Gruppenerlebnis nur im Text, aber nicht durch den Text stattfinden, denn bereits die Kleingruppen-Rezitation kann – wie hier – ungeahnte Verirrungen zeitigen. Das ist die ultimative Spitze gegen Wordsworth, baut Scott doch, von ähnlichen Voraussetzungen und ästhetisch-politischen Überzeugungen wie Wordsworth ausgehend, dessen kumulatives Modell ästhetisch-politischen Gruppenerlebens geradezu systematisch ab – hin zu einem Theater, in das der Monarch in seiner notwendigen Stärke eingeht und in dem er gerade deshalb (zusammen mit dem Volk) nicht selbst erscheint, sondern vielmehr in textueller und historischer Distanz vor den einzelnen Leser tritt. Damit halst Scott sich aber auch, wie wir gesehen haben, das alte Problem auf, dass auf der Ebene der Kommunikation seinem Text-Theater jede Körperlichkeit und vor allem jede (nachweisbare) Intersubjektivität verloren geht. Insgesamt kann man feststellen, dass Scott die Vermeidung des falschen politischen Enthusiasmus seiner Leser wichtiger ist als die Ermöglichung politisch-ästhetischer Intersubjektivität bei ihnen und er deswegen zu ihnen auf die Distanz einer anschaulichen, aber relativ neutralen Erzählweise geht. In dieser Hinsicht fällt er aber hinter Wordsworth zurück, der dieses Problem grundsätzlich ja auch hatte und mühevoll zum Modell der Lesegruppe hin überwand. Aufgrund der Erweiterung und Verstärkung des von ihm theatralisierten Volkes auf der Inhaltsebene muss sich Scott aber auch nach ästhetischen Alternativen bei der ‚Umlegung‘ seines Text-Theaters auf den Leser umsehen. Bei Wordsworth besteht zwischen der inhaltlichen Kleingruppe und den Lesern in der für sie anvisierten Rezeptionsgruppe eine bewundernswerte Homogeneität. Das große Königs-Volk Scotts dagegen kann auf eine derartige Parallelität nicht bauen, da ein Lesevolk als Kollektiv aus körperlich kopräsenten Individuen nicht denkbar ist. Zwar kann Scott, und insofern besteht eine gewisse Parallele zwischen Inhalts- und Rezeptionsebene, von einer viel größeren Leserschaft ausgehen als Wordsworth. Diese ist aber – konzeptuell und realiter – in zurückgezogen isolierte (und gerade deswegen königstreue) Einzelrezepienten aufgesplittet. Die Unterschiede der Text-Theater-Projekte der beiden Autoren werden demnach in ihrem Leserbild am deutlichsten: Wordsworth hat den konkreten, seiner eigenen (literarisch erarbeiteten wie echten) Bezugsgruppe ähnlichen Lesezirkel vor Augen, der das im Text gezeigte intersubjektive Theater in die realweltliche
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Rezeptionssituation kleiner Bezugsgruppen übertragen soll.214 Im Unterschied dazu geht Scott von massenhaften und gerade deswegen unüberschaubaren Leserschaften aus, die den Text vor allem isoliert und einzeln rezipieren werden, also ‚anonym‘ in doppelter Hinsicht sind. Zu diesen Lesern und ihrem möglichen Leseverhalten und -empfinden kann man gar nicht anders als auf Distanz gehen und ihnen ein politisch eindeutiges, ästhetisch aber eher neutrales und gut zugängliches ‚Theaterbild‘ bieten. Scott wählt diese Distanz also auch, da er sie nicht überwinden kann: Seine Leser sind (weitgehend) anonym und gerade deshalb ästhetisch-politisch niemals vollends auszusteuern. Angesichts ihrer schieren Masse werden aber, so hofft Scott, genügend brauchbare Rezeptionen darunter sein und sich damit genügend rechte ‚Gemeinschaftsgefühle‘ einstellen bzw. Gemeinschaftssubjekte herstellen lassen. Die Implikationen für Scotts Text-Theater werden noch deutlicher, wenn man es aus dieser Perspektive noch einmal auf Shakespeares Dramen bezieht. Die Aufhebung des Shakespeareschen Theaters im Scottschen Roman erweist sich nämlich als mehrdimensional: Zum einen befürwortet Scott neben einem ‚royalistischen‘ Shakespeare eine Sicherung (Kontrolle und Verbreitung) des Theaters des Politischen im literarischen Text und dessen Rezeptionskultur, was auf Shakespeare bezogen bedeutet, dass Scott die Lektüre – und nicht die Aufführung – seiner Dramen empfiehlt. Zum anderen möchte er Shakespeares Theater aber auch inhaltlich weiterentwickeln, indem er in Woodstock die nicht nur mit Burke, sondern auch mit Shakespeare assoziierte Tragödie(nkultur) des Monarchischen zu einem heiter-offenen Theater des Königs und seines Volkes weitertreibt. Scott ist der neue Shakespeare in ästhetischer und inhaltlicher Hinsicht. Gerade die aufwendige Überwindung des tragischen Monarchen hin zu einem liebevollen und beliebten König macht aus Woodstock ein Theater der Bekehrung zur Königsliebe. Scott lehnt nicht nur Wordsworths politisch-ästhetischen Naivismus, sondern auch Burkes (und Shakespeares?) blinden Rigorismus, der den Rezipienten letztlich durch eine Art schuldhafte Verstrickung in das dargestellte Königsleid zur Loyalität (zurück)zwingen will, ab: Sein Königstheater zeigt die Bekehrung vielmehr am Monarchen selbst – was ihn zu einer komplexen Identifikationsfigur macht. König und Untertan kehren gewissermaßen gemeinsam zur Monarchie zurück. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Entrüstung über die moralischen Verfehlungen des regierenden Monarchen George IV wird diese Strategie
214 Wordsworth geht zugleich davon aus, dass er nicht alle soziale Schichten erreichen kann. Als Ausgleich setzt er deswegen ja auch das Wirken anderer Institutionen, etwa des Bildungssystems, zur (symbolisch) politischen Beteiligung der Unterschichten an (vgl. 4.3.6).
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nur zu verständlich.215 Der König ist eben auch nur ein Mensch, auch wenn Burke genau das nicht versteht, sondern nur perhorresziert. Dabei wird die Königsliebe in ihrer intersubjektiven Entfaltung aber primär vorgeführt und weniger auf den Leser übertragen216 – die Frage nach einer kontrollierbaren Einbeziehung der Leserschaft in den Monarchismus lässt Scott aufgrund der unkontrollierbaren Vielfalt seiner Leser bewusst offen. In dieser Offenheit hat die distanziert-narrative Vermittlung des Theaters des Volkes daneben auch den Vorzug, dass sie viele Anknüpfungspunkte bietet, emotional nicht überfordert und daher potentiell viele verschiedene Rezipienten anspricht. Scott mag hier seine männlichen Leser im Blick gehabt haben, denen er im Rahmen einer von ihm unternommenen vieldiskutierten ‚Maskulinisierung des Romans‘217 die intersubjektive Einbindung letztlich ersparen bzw. vollkommen ihrem eigenen Gutdünken anheimstellen wollte. Scott vermutete wohl – aus welchen Gründen auch immer –, dass Männer eine eher ‚objektive‘ Repräsentationsform vor sich haben wollten, die ihnen die Wahl überließ, ob und wo sie sich engagierten und wo nicht. Scotts intersubjektives Theater des Politischen führt von daher letztlich seine eigene Vermeidung mit und möchte den Leser gerade dadurch ansprechen, ihn also auf einer recht abstrakten Ebene und ex negativo für dieses Theater gewinnen. Woodstock machte schließlich auch außerhalb Großbritanniens Karriere – und zwar als Initialzündung eines berühmten Modells romantischer Theatralität (und theatraler Romantik) in Frankreich, welches ebenfalls zwischen Text und
215 Trotz seines erfolgreichen Schottlandbesuchs 1822 wurde George als ein problematischer Monarch gesehen. Schon als Prinzeregent wurde er zum Inbegriff des dekadenten Regency style. Zudem führten jahrelange Streitigkeiten mit seiner Ehefrau Caroline, im Zuge derer der König die Scheidung erzwingen wollte und sie von seiner Krönung ausschloss, zu öffentlicher Unterstützung für Caroline (und Proteste gegen den König) und fanden letztlich nur durch ihren Tod 1821 ein Ende. Zum Ruch der Untreue und Maßlosigkeit, der dem König anhaftete, kamen gerade in den späteren Jahren seiner Regentschaft in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre außerordentliche Fettleibigkeit, die vielfach karikiert wurde. Scott schrieb mit Woodstock also gegen einen echten Konflikt zwischen den zwei Körpern des Königs an und hatte gerade aus dieser Perspektive guten Grund, ein real-körperliches Theater der Monarchie zu problematisieren. Vgl. zur Parallelisierung von Charles II mit George IV im Rahmen des Projekts einer konservativen Reinigung der Monarchie in Woodstock auch Watson 1991: 91, dort Anm. 40. 216 So ist die Offenbarung des Thronfolgers gegenüber Everard nach dem verhinderten Duell für diesen eine Überwältigung, nicht aber – bzw. nicht in derselben Weise – für den Leser, der ja schon weiß, dass es sich um Charles Stuart handelt. 217 Vgl. Ferris 1991.
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Theater zu vermitteln suchte.218 Die vorliegende Lektüre hat aber gezeigt, dass Scott mit diesem Roman sein Theater des Politischen endgültig in den Text transponiert und diese Transposition in Woodstock so sorgfältig wie nirgends praktiziert und theoretisiert. In Woodstock hat das romantische Text-Theater seinen Höhepunkt – an Durcharbeitung, an Theoretisierung, aber auch an Problematik – erreicht. An diesem Punkt geht es letztlich nicht weiter: Die Entfesselung und Zelebrierung vollendeten Theaters auf der Inhaltsebene impliziert zugleich ein feinsäuberliches Abgetrenntsein von der Vermittlungsebene – und damit zugleich eine Distanz zu theatraler Körperlichkeit, zu ‚echten‘ Akteuren und ‚echten‘ Zuschauern, die die romantische Intermedialität von Text und Theater in ihr Gegenteil, eine geradezu fetischisierte Medientrennung umschlagen lässt. Diese bedeutet zugleich eine Einverleibung des Theaters in seiner neuartigen, eigentlich medial entgrenzten Form unter die (Medien-)Gesetze des Romans. Die These der Fortsetzung des Theaters im literarischen Text ist hiermit an ihrer Kehrseite, der Antithese, angelangt. Damit hätte sich das romantische Text-Theater selbst aufgehoben – wäre da nicht am Horizont das Licht einer ganz erstaunlichen Synthese, nämlich der Rückkehr des Theaters vom Scottschen Roman auf die echte Bühne.
218 Meisel (1983: 234–236) zeigt, dass Woodstock zu einem wichtigen Prätext für Victor Hugos Drama Cromwell wurde, dessen berühmtes „Preface“ ja die Romantik insgesamt als eine „dramatische“ Epoche postuliert. Wie Wren (1986) beschreibt, steht Hugos Cromwell-Bild zwar bereits in seiner (äußerst negativen) Tendenz fest, als er Woodstock liest. Allerdings übernehme Hugo zentrale Szenen sowie die Verkleidungsthematik aus Scotts Roman. Dem ist hinzuzufügen, dass Hugo von Scott das zentrale Anliegen einer Überwindung von Königstragik rezipiert und diese auf die Figur Cromwells übertragen hat: Bei Hugo deckt Cromwell selbst – in Verkleidung – ein Komplott gegen seine geplante Krönung (!) auf, begnadigt dann aber die Revolutionäre und verzichtet auf den Krönungsakt. Scotts Charles II verschmilzt hier mit Cromwell, wobei das finale Königstheater bei Hugo aber entfällt. Das zentrale Beispiel eines Scottschen (Text-)Theaters wird so zur Initialzündung einer französischen Theatral-Romantik, die selbst weitgehend textuell ist. Hugos Drama blieb unaufgeführt, während vor allem das Vorwort zum berühmten Manifest romantischer (Text-)Theatralität wurde. Hugo selbst entwickelte diese in Romanen weiter, etwa in Notre-Dame de Paris und Les Misérables, wobei es ihm, wie er 1823 in einer Rezension zu Quentin Durward schrieb, darum ging, in diesen Texten ‚Walter Scott mit Homer‘ und damit (ebenfalls aus seiner Sicht) Drama mit Epos zu versöhnen (vgl. Hugo 1985: 149).
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5.4 Die Rückkehr des Scottschen Text-Theaters auf die Bühne Wie bereits bei der Erörterung der Intermedialität von Text und Theater angedeutet219, ist diese Medientrennung nämlich durchaus in der Lage, das Theater herauszufordern: Das Theater wird in diesem Fall im Text gerade deswegen provoziert und weiterentwickelt, da das literarische Nehmermedium den Gesetzen des theatralen Gebermediums nicht unterworfen ist und (relativ) nach Gutdünken mit ihm verfahren kann. Daher ist das Volkstheater in Scotts Romanen kulturell nicht weniger präsent, nur weil es vor allem auf der Inhaltsebene der Texte vorhanden ist. Es ist es keineswegs undenkbar, dieses Theater irgendwann auch auf die Bühne zu bringen, wenn es die äußeren, d.h. theaterpolitischen, und inneren, medialen Möglichkeiten des Theaters zulassen. An sich müssten die Schwierigkeiten, in die innerhalb dieses Theaters anvisierte Intersubjektivität auch die Rezipienten einzubeziehen, auf der Bühne kleiner sein als im literarischen Medium. Die Frage, was Scotts Romane mit dem Theater machten, wenn sie auf die Bühne kamen, ist also gerade vor dem Hintergrund der verzeichneten Medientrennung bzw. der Aufhebung des Volkstheaters in der Passivität des Lesers interessant. Tatsächlich wurde Scotts Romane bereits ab 1816 für das Theater bearbeitet. Der herausragende Erfolg der Dramatisierung von Scotts zweitem Roman Guy Mannering durch den bereits erwähten Daniel Terry220 führte zu einer „flood of dramas, melodramas, operas and horse-operas (dramatic entertainments performed on horseback) which saw Scott’s major works reincarnated on every stage in Britain“.221 Die genannten Genres zeigen bereits, dass Scott vor allem für das illegitimate theatre sowie dem vom illegitimen Theater beeinflussten legitimate theatre bearbeitet wurde. Das bedeutet zwar, dass derartige Dramenfassungen gelinde gesagt anders sein mussten als die Romane, da sie ja von Liedern durchsetzt sein mussten, wenn sie für das nicht lizensierte Theater bestimmt waren bzw. dort auch spielbar sein sollten. Insgesamt führte dies aber nicht dazu, dass diese Dramen in der Flut des Unterhaltungstheaters untergingen und keinerlei eigenständige Bedeutung erhielten – im Gegenteil: Für Schottland bzw. von schottischen Bühnen ausgehend avancierten sie geradezu zu einem „National Drama“, wie Barbara Bell ausführlich beschreibt – und das ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Die Bezeichnung impliziert einen (wieder) steigenden Einfluss des Dramas auf das Theater insgesamt und lässt sowohl literarischen
219 Vgl. 1.3.2 220 Vgl. 5.3.2 221 Bell 1998: 142.
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Anspruch (Drama) als auch politische Verbindlichkeit (National) anklingen. Kehrte mit Scotts Romanen das alternative Text-Theater nun doch auf den Bühnen ein? Bells Aufarbeitung des nationalen Dramas bejaht und verneint diese Frage zugleich. Einerseits war die Bedeutung der neuen Dramenform so groß, dass sie von schottischen Bühnen ausgehend auf die Theaterszene ganz Großbritanniens und dabei auch die lizensierten Häuser in London Einfluss nahm.222 Andererseits war und blieb das „National Drama“ seinem „semi-legitimate“223 Anspruch treu, ernste Themen im Gewand des illegitimate theatre zu behandeln. Es musste ja den juristischen Anforderungen an burlettas bzw. melodramas genügen, um so breit aufführbar zu sein. Aus dieser Sicht blieb die Distanz zum Sprechdrama also erhalten, welche analog aber auch eine Distanz zur Zensur bedeutete.224 Die Bühnenbearbeitungen Scottscher Dramen initiierten also kein neues literarisches Theater, aber sie führten zu einem starken Anstieg der Bedeutung historischer und politischer Themen in der britischen Theaterkultur insgesamt. In dieser Hinsicht modernisierten und öffneten die Scottschen nationalen Dramen durchaus das britische Theater – zumindest in inhaltlicher Hinsicht –, gerade da sie eine Zwischenstellung zwischen Sprech- und Unterhaltungsdrama einnahmen. Greifbar wird an dieser Stelle auch, wie aus dem romantischen Text-Theater heraus das Verhältnis von Literatur und Theater modifiziert wurde: Zeitgenössische literarische Themen wurden in Ansätzen auf der Bühne wieder verhandelbar; zugleich wurde nun eine Reihe von Theaterkonzepten verfügbar, die das Medium – zumindest potentiell – verändern konnten. Damit stellt sich nun die Frage, ob die Dramatisierungen von Scotts Romanen vielleicht tatsächlich zu jener Volks(theater)erfahrung führten, wie Scott sie in seinen Romanen entwarf, dort aber von der Wirkungsebene weitgehend fernhielt. Auch hier ist die Antwort zweischneidig. Zunächst einmal ist es in der Forschung umstritten, ob die in den Dramatisierungen Scottscher Romane thematisierte schottische Geschichte tatsächlich zum Erfahrungsraum für eine gesamtbritische
222 Das Theatre Royal in Edinburgh inszenierte sich unter Murray als Heimstatt des „National Drama“, aber eigentlich wurde es landesweit aufgeführt. So wurden die meisten dieser ‚Dramen‘ auch in Covent Garden gegeben. Laut White (1927: 208) gab es dort sogar die meisten Inszenierungen Scottscher Dramatisierungen in Großbritannien. 223 Bell 1998: 142 224 Die Spielvorlagen des illegitimate drama entgingen an den illegitimate theatres weitgehend der Zensur (vgl. 2.1). Aber auch an den Patent Theatres, die ja alle ihre Texte dem Zensor vorlegen mussten, durften die Bühnenbearbeitungen Scottscher Dramen gegeben werden (vgl. Bell 1998: 143), wohl v.a. deshalb, da sie vergangene und nicht gegenwärtige Geschichte und Politik thematisierten.
Die Rückkehr des Scottschen Text-Theaters auf die Bühne
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Nation wurde, ob also das „National“ in „National Drama“ eher ‚schottisch‘ oder ‚britisch‘ bedeutete.225 Wenn man es auch aufgrund inhaltlicher Kriterien, wie sie nicht zuletzt die vorliegende Studie liefert, für wahrscheinlich erachtet, dass das schottische Volk, seine Anführer und die es beobachtenden Subjekte in den Scott-Dramen zu Paradigmen eines britischen Theaters des Politischen wurden, bedeutet das allerdings nicht, dass damit das Volkstheater aus den Romanen mit einem Mal vollständig auf der Bühne umgesetzt wurde. Betrachtet man etwa die Bühnenbearbeitung von Woodstock von Isaac Pocock, die am 20. Mai 1826, also weniger als einen Monat nach der Veröffentlichung des Romans226, in Covent Garden uraufgeführt wurde, so fällt auf, dass sie im entscheidenden volkstheatralischen Moment vom Roman abweicht. Als ein „drama more of character than of action“227 berücksichtigt sie zwar die Begegnungsszenen um die Hauptcharaktere228, die ja auch im Roman die Keimzelle(n) für das finale Theater des Volkes bilden, lässt dann aber dieses Theater selbst aus: Auf die Umsetzung der Restaurationsszene wird nämlich verzichtet.229 Der Grund dafür mag sein, dass angesichts der vorgestellten Volksgröße das im Theater anwesende Publikum das Volk hätte (mit)verkörpern müssen und eine derartige kollektive Erfahrung des Politischen auf dem Theater doch noch
225 Ausgehend von Bells detaillierter Erkundung eines Scottschen Nationaltheaters in Schottland kommt Buchanan (2011: 758f.) in seiner Aufarbeitung der Dramatisierungen von The Heart of Mid-Lothian zu dem Schluss, dass diese Dramen zusammen mit anderen Scott-Bearbeitungen genau jenes nationale und näherhin: britische Theater umsetzten, das für die legitimen Theater in London ab Mitte der 1810er Jahre in Reaktion auf die zunehmend als ‚ausländisch‘ empfundenen Melodramen gefordert wurde. Andererseits postuliert Rigney (2012: 71–73) auf der Grundlage ihrer Analyse von Theaterversionen von Rob Roy, dass die Wahrnehmung als Nationaldrama sich „almost exclusively“ (72) auf Schottland bezog und dem dortigen Publikum zur Selbsterfahrung als schottische Gemeinschaft diente. Beide Positionen stützen sich auf Angaben zum Genre auf den Titelseiten der gespielten Dramen oder auch auf den Playbills. Nimmt man allerdings inhaltliche Argumente hinzu, wie Buchanan (759) das schließlich tut, so muss man verzeichnen, dass nicht nur The Heart of Mid-Lothian (Buchanans Beispiel), sondern auch Woodstock durch die hinzukommende Thematisierung Englands britische Nationalvisionen erarbeiten. 226 Der Roman wurde am 28. April 1826 veröffentlicht (Scott 2009: 444). 227 White 1927: 187. 228 Dabei modifiziert sie die Vorlage bisweilen, aber ganz im Sinne von Scotts politischen Theaterkonzepten. So lässt Pocock in einer genialen Idee Cromwell auf der Rückseite des Porträts von Charles I sein eigenes Porträt finden (White 1927: 187) – was der Interpretation dieses Moments in der vorliegenden Studie voll entspricht (vgl. 5.3.3.3). 229 Vgl. Ford 1979: 49. Dieser Verzicht betrifft auch alle weiteren nachweisbaren britischen Dramatisierungen von Scotts Roman im 19. Jahrhundert sowohl an legitimate als auch an illegitimate theatres (Bolton 1992: 473–477).
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nicht möglich war.230 Auch im Roman beschränkte Scott dieses Theater ja auf die Inhaltsebene und gestaltete den intradiegetischen Rezipienten dieses Theater als Ort passiver Überwältigung und Selbstaufgabe sowie den extradiegetischen Leser des Textes als isolierten Verfertiger eines imaginären Theaters. Ein aktives (Inter-) Subjekt ist in diesem Theater also nicht durchführbar, weder in seiner Text- (bzw. Roman-) noch in seiner Bühnenversion. In diesem Sinne machen die Bühnenbearbeitungen den Zuschauer im Theater dem Leser von Scotts Romanen ähnlich: Wie dieser blieb der Zuschauer des „drama of character“ scheinbar ebenfalls relativ uneingebunden, verfolgte hochemotionale, intersubjektive Begegnungsszenen in faszininierender Landschaft mit größerer Informiertheit als deren Beteiligte231 und hatte daher die Wahlfreiheit, ob er sich beteiligen wollte oder nicht. Somit ist Scotts Impuls für das (Bühnen-)Theater seiner Zeit unleugbar, aber ambivalent: Er gab den Anstoß für die Annäherung des romantischen Text-Theaters an das Bühnentheater; letztlich griff die Bühne das angebotene Theatermodell aber nicht als mediale Provokation auf, sondern rezipierte im Gegenteil die Enttheatralisierung bzw. ‚Entemotionalisierung‘, die dieses Theatermodell in der Scottschen Einverleibung in den Roman erlitt, in Ansätzen gleich mit. Obwohl das Text-Theater der Romantik den Weg zurück zur Bühne gefunden hat, bleiben wichtige Aspekte seiner Theaterkonzepte dem Text vorbehalten und sind auch dort nur auf der Inhaltsebene ausgearbeitet. Die Integration des Publikums in eine kollektive Erfahrung des Politischen, die von der Bühne ausgehend die Zuschauer(räume) konstitutiv miteinschließt und gerade dadurch – im Sinne Rousseaus – die Unterscheidung zwischen den beiden Orten aufhebt, ist aus dieser Perspektive noch nicht denkbar. Nach der nun folgenden Zusammenfassung der Ergebnisse der Textlektüren dieser Studie soll abschließend der Frage nachgegangen werden, ob eine solche Entgrenzung vielleicht in einer Rezeption des Wordsworthschen Text-Theaters durch die Theaterkultur stattfand.
230 Im Gegensatz dazu finden sich in den zahlreichen Ivanhoe-Bearbeitungen offensichtlich viele Szenen mit Robin Hood, Richard I und ‚ihrem‘ Volk (vgl. White 192: 214f.); dieses ist aber bezeichnenderweise ein latentes, historisches entfernte(re)s und viel kleineres Volk als das am Ende von Woodstock, so dass das Publikum bei Ivanhoe-Dramen wohl auch nicht ‚mitspielen‘ musste. 231 Die Begegnungsszene zwischen Everard und Charles lief kommunikativ nach ähnlichem Muster ab wie im Roman – Everard weiß erst jetzt, dass dies sein König ist; das Publikum weiß das schon längst.
6 Zusammenfassung der Textlektüren Obwohl sich die beiden Text-Theater von William Wordsworth und Walter Scott jeweils unterschiedlich entwickelten, hatten sie doch einen ähnlichen Ausgangspunkt: das Scheitern eines ambitionierten, neue Theaterkonzepte aufgreifenden Dramas auf der Bühne ihrer Zeit. Wordsworths Tragödie The Borderers, geschrieben vor allem 1797, rezipiert in geradezu mustergültiger Weise sowohl die epistemischen als auch die politischen Theaterkonzepte um 1800. Entscheidend an dieser Rezeption ist einerseits die eindeutige Bewertung dieser Konzepte sowie andererseits die Problematisierung von körperlich-materiellem Bühnentheater überhaupt. So erscheint insbesondere die Tragödie des Volkes als eine Strategie zur Erzeugung revolutionärer Emotionen und verbrecherischer Taten beim Zuschauer. Diese richten sich gegen einen ‚Monarchen‘, dessen Rettung gerade daran scheitert, dass seine Tragödie zur Aufwiegelung missbraucht wird bzw. ungesehen bleibt und ungehört verhallt. Eingebunden in die manipulative, die Königstragödie missbrauchende Volkstragödie ist ein wissenschaftliches Theatermodell: Der zentrale Manipulator des Dramas nämlich führt die Tragödie des Volkes nur auf, um gleichzeitig einen – persönlichen und wissenschaftlichen – Einblick in das Arbeiten und Wirken von (seiner) Subjektivität und davon ausgehend von der menschlichen Natur an sich zu erhalten. Zu diesem Zwecke richtet er sich einen anderen Charakter des Dramas so zu, dass er ihm gleicht, so dass er sich in ihm selbst erblicken kann. Zugleich ist diese gewaltsame Manipulation eines anderen nach den Gesetzen des Eigenen auch eine Frage der Macht. Aufgebaut wird hier also ein perverses Theater der Selbstwahrnehmung im anderen, das die epistemisch-wissenschaftliche Funktion der Selbsterkenntnis mit dem politischen Zweck der Selbstermächtigung verbindet. Zur Überwindung dieser Intrige ist letztlich die Abwendung vom körperlich-materiellen Theater insgesamt sowie die Hinwendung an ein authentisches und für die Subjektivität des anderen wirklich offenes Theater der Intersubjektivität vonnöten, aus dem sich in einem weiteren Schritt eine unverfälschte und nicht manipulative Gemeinschaftserfahrung, ein Theater des Volkes, ergeben kann. Die Erarbeitung dieses Theaters wird zum zentralen Anliegen für Wordsworths Poetik. Eine ähnlich prägende und ähnlich negative Schlüsselerfahrung mit dem Bühnentheater machte Walter Scott. Seine Tragödie The House of Aspen, geschrieben zwischen 1799 und 1800, wurde wie Wordsworths The Borderers für unaufführbar erklärt – allerdings nicht, wie The Borderers, aufgrund einer dem Drama inhärenten Abwendung vom Theater, sondern aus handfesten aufführungstechnischen und zensorischen Gründen: The House of Aspen verlangt an seinem Ende die spektakuläre Darstellung eines gewalttätigen Geheimtribunals sowie die noch spektakulärere – und ebenfalls gewaltsame – Überwindung dieses
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Tribunals durch einen triumphal einziehenden Monarchen. Sowohl die (mehrdimensionale) ‚Dunkelheit‘ des Tribunals als auch der darauf folgende Einbruch einer strahlenden Monarchie in das Dunkel des Verlieses waren theatertechnisch schwer zu visualisieren. Daneben blieb The House of Aspen den Bühnen aber auch fern, da die in diesem Drama vorgenommene Reflexion, aber auch Repräsentation, revolutionärer Politik trotz der schauerdramatischen Verlagerung in ein mittelalterliches Deutschland allzu offensichtlich war. Scott erweiterte in The House of Aspen nämlich die von Wordsworth an einer Zweierkonstellation thematisierte Frage gegenseitiger Überwachung und Machtausübung auf ein ganzes Kollektiv: Das Geheimtribunal in dieser Tragödie ist ein Theater latenter gegenseitiger und vor allem führungsloser Kontrolle und Bedrohung, das Scott eindeutig auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im Frankreich nach der Revolution bezieht. Ein Theater des Volkes, wie es Scott vorschwebt, braucht im Gegensatz dazu warmherzige Intersubjektivität unter der Anleitung eines gütigen, aber starken Monarchen. Dieses Theater kann – und will – Scott allerdings nur in seinen Romanen verwirklichen. Einerseits will er die in seinem Schauerdrama unüberwunden bleibende politische Gewalt durch eine viel offenere und ausführlichere Darstellung von Monarchie abarbeiten, die so nur der Roman vornehmen kann. Andererseits soll durch die Textualisierung des Theaters des Politischen das auch von Wordsworth beargwöhnte Potential der Aufwiegelung eines Publikumskollektivs von vorneherein unterbunden werden. Wordsworth konzipiert zur Bannung der Theatergewalt eine Poetik der Intersubjektivität, die von ihrer Anlage her dramatisch ist und aufgrund des Gedankens der Aufführung durch den romantischen Text zum Text-Theater wird. Zudem soll dieses Text-Theater authentisches (aber eben nicht gewalttätiges) Wissen vom Menschen einerseits sowie ein politisch integrierendes Gruppengefühl andererseits zur Verfügung stellen. In den Lyrical Ballads (1798, 1800), deren „Preface“ auch konzeptuell der Ausgangspunkt dieses Theaters ist, unternimmt Wordsworth in verschiedenen Gedichten und mit unterschiedlichen Gedichtformen den Versuch, Intersubjektivität sowohl auf der Inhalts- als auch der Vermittlungsebene texttheatral umzusetzen. Dazu muss auch der Leser intersubjektiv miteinbezogen werden – und gerade in dieser doppelten Intersubjektivität, die gleichwohl zwischen Autor, Text (mit Charakteren) und Leser eine gemeinsame Ebene des emotionalen, persönlichen wie persönlichkeitsbildenden Austauschs zu finden versucht, liegt das Theater von Wordsworths Poetik. Die in den Lyrical Ballads entworfenen Formen Begegnungsgedicht („Simon Lee“), erzähltes Drama („The Brothers“) sowie Ritualgedicht („The Old Cumberland Beggar“) gestalten diese Intersubjektivität in unterschiedlicher Weise. In „Simon Lee“ und „The Brothers“ steht die Überwindung der Volkstragödie thematisch im Vordergrund, was hierbei wie in The Borderers bedeutet, dass sie an Ort und Stelle noch nicht mög-
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lich ist. In „The Old Cumberland Beggar“ scheint diese Überwindung geglückt, und an die Stelle der Tragödie des Volkes tritt ein funktionierendes kollektives Ritual epistemischer und politischer Repräsentation des Menschen. Allerdings wird deutlich, dass die Leser in dieses Ritual noch nicht recht einbezogen werden können und ihm ausgerechnet in seinem Zentrum echte Intersubjektivität fehlt. In den Lyrical Ballads lässt Wordsworth demnach geradezu programmatisch Fragen unbeantwortet und damit offene Enden, die weitere Texte aufgreifen können. Im nächsten großen Projekt, The Prelude (1805), greift Wordsworth die Problematik des Theaters seines poetisch gesehen eigenen Ichs auf. The Prelude beschreibt bestehende Theaterformen, sei es auf der Bühne, sei es im gesellschaftlich-politischen Leben, als Krise für dieses Subjekt und entwickelt zugleich in Ansätzen eine alternative Theaterpoetik zu seiner Repräsentation. Der Eintritt des Subjekts in das vorhandene Theater, vor allem das Theater des Politischen, erweist sich nämlich als unmöglich. Einerseits pflegt die britische Gesellschaft einen selbstbezogenen Individualismus, auch im Sinne einer epistemisch-politischen Selbstrepräsentation jedes einzelnen, welcher erst durch die kollektive Reaktion auf die Französische Revolution überwunden und sich sodann zu Ansätzen eines Theaters des Volkes entwickeln kann. Andererseits muss das exemplarische Ich des Prelude den Weg in eine intersubjektive Idealgruppe findet, die ihn von seiner eigenen Theaterkrise erlöst und ihm dadurch den Weg zu einer – individuellen wie kollektiven – Selbsterfahrung wenigstens der Mitglieder dieses Zirkels ermöglicht. Der Dichter ist nun gewissermaßen im Theaterritual aus „The Old Cumberland Beggar“ angekommen; was noch aussteht, ist die Gestaltung des Textes als Gruppenritual und davon ausgehend die Integration des Lesers. Zu diesem Zweck führt Wordsworth auf der Erzählebene Adressaten ein, die identisch mit den Mitgliedern der intradiegetisch beschworenen Kleingemeinschaft sind. Diese sind für die Struktur des Textes zwar ungemein wichtig, können aber als stumme Zuhörer des einen Sprechers dessen Rede nicht zu einem Dialog, der auch die Leser konkret miteinbezöge, ausweiten. Bezeichnenderweise unternimmt Wordsworth im letzten Buch des Prelude den angestrengten Versuch, das Theater einer intersubjektiven Selbstbegegnung zu gestalten, die das eigene Subjekt als externes Gegenüber entwirft. Diese Strategie führt letztlich zu den Ausgangspunkten des Textes zurück und macht deutlich, dass The Prelude auf der Kommunikationsebene noch kein funktionierendes intersubjektives Gruppentheater ist. Ein solches Theater wird erst The Excursion (1814). In diesem Text stellt Wordsworth zunächst auf der Inhaltsebene schrittweise ein (moderiertes) Theater des Austauschs gleichberechtigt Sprechender und vor allem Fühlender her. Ausgehend von dieser Errungenschaft kann dann auch das noch immer virulente Modell der Volkstragödie überwunden und durch ein sorgfältig konzipiertes und
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aus-/aufgeführtes Theater des Volkes ersetzt werden. Zudem integriert Wordsworth in dieses Theater eine Anthropologie in romantischer Hinsicht, nämlich ein Beispiel für die Erarbeitung von Wissen über den Menschen, welches sich seinerseits nur auf Einzelbeispiele, lebende Beweise des Menschlichen gewissermaßen, stützt und nur für den dieses Wissen rituell erarbeitenden Zirkel erhältlich ist. Aufführbar wird dieses politisch-epistemische Theater vor allem aus dem Grunde, dass Wordsworth das Problem der Lesereinbindung ein für alle Mal löst: Er konzipiert The Excursion als einen Text, der in Lesegruppen, die den inhaltlich beschriebenen Zirkel auf der Kommunikationsebene spiegeln, rezipiert werden soll. Im Idealfall können sich diese Lesegruppen dann zu jenem Volk zusammenfinden, dessen Bedeutung auf der Inhaltsebene der Excursion beschworen wird – wobei der Text insgesamt aber auch ein Ritual erarbeitet, mit dem das Gefühl, einem Volk anzugehören, schon für einen ganz kleinen Kreis Gleichgesinnter möglich wird. An diesem Punkt gestaltet die Literatur der Romantik von sich aus eine auf körperliche Kopräsenz der Beteiligten beruhende Kultur des Zusammenspiels und entwirft damit aus sich selbst heraus ein alternatives (Aufführungs-) Theater. Walter Scott lehnt nicht das Konzept eines intersubjektiven Volkstheaters an sich, wohl aber die Wordsworthsche Aus-/Aufführung dieses Theaters ab. Daher kann er in seinen Romanen auch nicht auf das von Wordsworth erarbeitete Modell einer Gruppenrezeption zugreifen. Vielmehr geht es ihm darum, ein viel größeres und damit mächtigeres intersubjektives Theater des Volkes für eine viel größere und damit unberechenbarere Leserschaft herzustellen. Zunächst muss er allerdings die konzeptuellen und letztlich historischen Voraussetzungen für ein solches Theater erarbeiten und zeigen, warum das britische Volk die Wordsworthsche Kleingruppenmentalität hinter sich lassen und zu einem anderen, viel gewichtigeren Gruppentheater zusammenfinden muss, welches zudem einem viel stärkeren Monarchen zu unterstehen hat, als ihn Wordsworth mit dem Moderatorenprinzip in The Excursion überhaupt noch zulässt. In einem ebenso langwierigen wie faszinierenden Prozess, der sich letztlich über einen Gutteil seiner Romane erstreckt, zeigt Scott, wie sich ein solches Theater entwickeln kann – wie also ein aus einem künstlich entworfenen nichtpolitischen Bereich stammendes exemplarisches Subjekt sein Volk und zusammen mit diesem seinen König finden kann. Das Problem, dem Scott bei der Durcharbeitung dieses Prozesses begegnet, ist das der Revolution. Dieser Komplex illegitimer Politik dient ihm einerseits zur Vorstellung eines Bereichs des Vorpolitischen im Angesicht real existierender und für Scott unhintergehbarer legitimer, nämlich monarchischer Machtverhältnisse. Andererseits ist die Revolution aber auch eine Bedrohung, die Scott aus dem Frankreich der Wende zum 19. Jahrhundert kennt und in Wordsworths Konzept politischen Theaters nach seinem Dafürhalten nicht
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genügend berücksichtigt und damit in Schach gehalten findet. Die Revolution, als Ermöglichung wie als Problem, arbeitet Scott in zwei großen Romangruppen, den ‚schottischen‘ und den ‚englischen‘, durch, um am Ende zu einem durchschlagenden Theater des-britischen-Monarchen-und-seines-Volks zu gelangen. In den schottischen Romanen erweist sich die Problematik der Illegitimität, obwohl sie die Darstellung der Suche des Subjekts nach dem (Theater des) Politischen auch wiederum ermöglicht, als letztlich unüberwindlich. In diesen Romanen, vertreten hier durch Waverley (1814) und The Heart of Mid-Lothian (1818), können Subjekt, Volk und König nur im Moment der Revolution zu einem intersubjektiven Ritual ihrer gegenseitigen Erfahrung finden. Der Übertritt in den Bereich legitimer Macht ist zwar möglich – und aus romanlogischen Gründen sowie aus Scotts politischer Überzeugung heraus auch nötig –, aber er erfolgt in den schottischen Romanen immer nur für das einzelne Subjekt, das dadurch vielleicht zur Verkörperung des sehnsüchtigen Volkes wird, dieses Volk und dessen vielgestaltige Repräsentation aber als unbewältigten Rest lässt. Erst in den englischen Romanen und mit der Hinwendung zur Figur des Königs gelingt es Scott sodann, das königslose Volk mit einem Monarchen zu verbinden, der selbst auf der Suche nach seinem Volk war. Möglich wird dies vor allem dadurch, dass der ‚Charakter‘ des Königs – und zusammen mit ihm die Frage nach der richtigen Form der Monarchie – noch einmal grundlegend durchgearbeitet wird. Volk und König finden also von sich aus jeweils zu den idealen Voraussetzungen, miteinander zu verschmelzen, bevor sodann in der Schlussszene von Woodstock (1826) ein gewaltiges intersubjektives Theater von Volk, Monarch und Subjekt möglich wird, mit dem auch Scott zufrieden sein kann. Das Subjekt steht hier allerdings nicht umsonst an letzter Stelle. Scott lässt es in der volkstheatralen Apotheose nämlich sterben, was einerseits bedeutet, dass es in vollkommener Aussteuerung im Volk aufgeht. Zum anderen dimensioniert der Roman damit zugleich den Ausschluss des Lesers aus diesem intersubjektiven Geschehen. Der Leser nämlich soll nach Scotts Dafürhalten das Volksritual gewissermaßen nur von Ferne beobachten und so zu einem Gemeinschaftsgefühl, einer politischen Repräsentation, gelangen, die einerseits in einer symbolischen Praxis besteht und andererseits bewusst nur ‚vorgestellt‘ ist – ein imaginäres imaginatives Theater des Politischen. Scott drängt Text und Leser also gerade im Angesicht der Einlösung seines Theaterideals wieder auseinander. Wie wir am Ende des vorletzten Kapitels erarbeitet haben, bedeutet das aber, dass er die Intersubjektivität, die Wordsworth so verzweifelt auf alle Abschnitte literarischer Kommunikation ausgeweitet hat, geradezu programmatisch und politisch ganz bewusst auf die Inhaltsebene beschränkt. Dieses Verhältnis zur Intersubjektivität schlägt sich auch auf die von Scott erreichte Form der Text-Theater-Intermedialität nieder. Intersubjektivität
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ist in Scotts Texten ganz bewusst nur als vorgestellte möglich. Einerseits kann aus dieser Vorstellung natürlich wiederum ein Theatertraum – und damit der Wunsch, diesen Traum zu realisieren – werden. Andererseits führt Scotts TextTheater auf seiner Medienseite eine konstitutiv (und politisch gesehen: konstitutionell) nötige Begrenzung dieses Traums auf die Ebene des Imaginären – und damit den medialen Verzicht auf dieses neue Theater – immer mit. Von daher ist, wie wir ganz zuletzt gesehen haben, der eigentlich ungemein interessante Einfluss von Scotts Romanen auf das britische Bühnentheater des 19. Jahrhunderts ambivalent: Die Dramatisierungen von Scotts Romanen – allesamt den Anforderungen an illegitimate theatre angepasst – rezipieren zwar in Ansätzen Scotts Erkundungen politischer Gemeinschaftsbildung von Subjekt, Volk und Monarch, aber auch sie belassen die entwickelten Modelle im Bereich distanzierter Betrachtung und vermeiden Szenarien, die die Zuschauer tatsächlich intersubjektiv (und damit politisch) beteiligen würden. Wie der Ausblick zeigen wird, hatte eine im medialen Sinne modernisierende Wirkung auf die Bühnenkultur daher eher das Wordsworthsche Text-Theater. Wordsworths mühsam erarbeiteter und schon als Inhaltselement vielbelächelter ritueller Lese- und Erfahrungszirkel ist aus intermedialitätsgeschichtlicher Perspektive nämlich weitaus kreativer als Scotts Befriedung romantischer Theatervisionen durch den Verschluss in narrativen Texten. Wordsworths Konzeption der intersubjektiven Kleingruppe ist eben, so klein sie in mehrfacher Hinsicht auch sein mag, ein ganz eigenständiges und von der Theaterkultur seiner Zeit erzwungenermaßen vollkommen unabhängiges Modell theatraler Praxis. Von daher wirkte es, als es im 20. Jahrhundert endlich doch auf die Theaterkultur Einfluss nahm, ungemein modernisierend. Im nun folgenden abschließenden Ausblick soll zunächst diese Wirkung umrissen werden, sodann aber auch Scotts ganz anders gearteter Einfluss auf die visuellen Medien nach seiner Zeit erwähnt werden. Zuletzt wird sich aber auch zeigen, dass Wordsworths und Scotts TextTheaterprojekte im Angesicht einer noch heute offenen Repräsentationskrise doch wieder zusammenkommen können.
7 Ausblick Im 19. Jahrhundert war das Einwirken des romantischen Text-Theaters auf das Bühnentheater zunächst, wie wir gesehen haben, eher graduell; das gilt auch für die Zeit nach 1843, als wieder alle Theaterhäuser (allerdings weiterhin zensierte!) Sprechdramen aufführen durften. Als Textmedium bestand es daher auch in viktorianischer Zeit weiter, etwa im dramatic monologue.1 Letztlich drängte das alternative Text-Theater erst mit der Wende zum 20. Jahrhundert energisch ins Theater – um dann aber Intersubjektivität einerseits und entgrenztes Gemeinschaftstheater andererseits auf der Bühne tatsächlich umzusetzen. Zunächst zu Wordsworths umfassendem, die Kommunikation der Beteiligten miteinbeziehenden (Inter-)Subjektivitätstheater: Wie ich an anderer Stelle dargelegt habe, gibt es in der modernistischen literarischen und für die Bühne konzipierten Dramatik deutliche Anzeichen einer Umsetzung dieses Theatermodells – allerdings eher in seiner krisenhaften Form, in der Wordsworth es in The Borderers und The Prelude entwickelt und in The Excursion letztlich hinter sich lässt. In Samuel Becketts Waiting for Godot etwa, das sich in seiner Konzeption explizit auf die Malerei des Romantikers Caspar David Friedrich beruft, die Versdichtung Percy Bysshe Shelleys rezipiert2, aber auch Berührungspunkte mit The Borderers aufweist3, kann man in der sujet-bildenden Konstellation gegenseitiger Abhängigkeit und wechselseitiger Belauerung der beiden Hauptfiguren Vladimir und Estragon die Rezeption eines Modells theatraler (Inter-)Subjektivität4 beobachten, das hier, im absurden Theater, in eine eher problematische Ritualität überführt wird. Diese Ritualität ist in der immensen Rezeptionsgeschichte des Dramas abwechselnd als nihilistisch-existentialistische Körperfeindlichkeit und als eher heiteres, aber ernstgemeintes kulturanthropologisches Spiel interpretiert worden.5 Becketts Theater lässt letztlich offen, ob in ihm eine irgendwie geartete epistemisch-politische Bindung von Menschen noch möglich ist, oder ob nur noch Bruchstücke dieser ‚Verbindlichkeit‘ kreisen. Ebenso beeindruckend ist in diesem Zusammenhang, dass ein neben dem absurden Theater Samuel Becketts
1 Vgl. für eine Rückführung des dramatischen Monologs der Viktorianik auf eine grundsätzlich theatralische Subjektivität der Romantik Langbaum 1985, wobei Langbaum allerdings das Konzept der Intersubjektivität unterbelichtet lässt (vgl. 4.1.3.1). 2 Vgl. Merten 2009a: 122–124. 3 Vgl. Merten 2009a: 129. Daneben ist die theatrale Subjektivität, die Friedrich entwickelt, derjenigen Wordsworths ganz ähnlich, vgl. Koerner 1990: 183–185 und 223–226. 4 Das Verhältnis von Vladimir und Estragon in Waiting for Godot könnte in diesem Sinne mit demjenigen von Rivers und Mortimer in The Borderers verglichen werden. 5 Vgl. zur Interpretationsgeschichte von Waiting for Godot Pattie 2000.
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weiteres zentrales Theatermodell der Moderne, nämlich Antonin Artauds ‚Theater der Grausamkeit‘ ebenfalls einen eindeutigen Referenzpunkt zur krisenhaften Subjekttheatralität der Romantik unterhält: Das einzige Drama, das Artaud für dieses Theater jemals schrieb, ist eine Bearbeitung von Percy B. Shelleys The Cenci, ein romantisches Drama, das in seiner Konzeption der gewaltsamen Projektion der eigenen Imagination auf ein anderes Ich starke Parallelen mit The Borderers aufweist.6 Im Theater der Grausamkeit wird die Überwindung der Grenze zwischen Akteur und Zuschauer, die die Romantik in mehrfacher Hinsicht konzipiert hat, für den ‚echten‘ Theaterraum umgesetzt, allerdings wiederum eher im Sinne einer problematischen, zwischen Idealismus und Nihilismus schwankenden Ritualität.7 Ein Grund für diesen Pessimismus, bei Artaud wie bei Beckett, könnte allerdings auch in einer latenten Reflexion auf die Mediengrenzen liegen, die die beiden Theaterformen in ihrer Rezeption romantischer Intersubjektivität erfahren: Vielleicht wird im sinnlosen Kreisen der Charaktere in Waiting for Godot um sich selbst bzw. umeinander jene traurige Tatsache reflektiert, dass dieses Theater noch immer nicht den Zuschauer wirklich intersubjektiv miteinbeziehen kann und sich doch wieder nur – und ‚jeden Tag‘, das bedeutet auch: bei jeder Aufführung aufs Neue – die Akteure gegenseitig beobachten und beeinflussen. Weitergehend aufgegriffen wurde die Intersubjektivität der Romantik dagegen in postmodernen Theaterformen, allen voran in der vor allem im angloamerikanischen Raum gepflegten Kultur des community theatre. Diese Kultur lässt sich eher auf den ‚Überwindungs-Text‘ The Excursion beziehen als auf Wordsworths Krisentexte. Das community theatre übernimmt jene idealistische Doppelung aus anthropologisch-menschlicher und politischer Selbsterfahrung, die die Wordsworthsche Gemeinde in The Excursion exemplarisch erarbeitet hat. In diesem Sinne ist das ‚Gemeinschaftstheater‘ vor allem ein Gemeinden-Theater, das durch seine Aktivitäten das Wordsworthsche Modell, wie in diesem Modell selbst gefordert, lokal vollzieht und damit weiterverbreitet. Zudem stützt es sich auf einen moderierenden Text bzw., wie wir gleich sehen werden, auf einen moderierenden Regisseur. Im Gegensatz zum Wordsworthschen Gruppentheater, das ja als ein ganz offen-authentischer Vollzug von gleichberechtigten Zuschauer-Akteuren
6 Merten 2009a: 129. Vgl. zum faszinierenden inter-epochalen und inter-nationalen Rezeptionszusammenhang von Artauds Les Cenci und Shelleys The Cenci Labelle 1972, Goodall 1987, Bruhn 2001 und Vork 2013. Vgl. zur Verbindung zwischen den Subjektmodellen in romantischen Theaterkonzepten und dem modernistischem Theater auch Kubiak 1991: v.a. 120–150, allerdings ohne Verweis auf Artauds Cenci-Bearbeitung. 7 Vgl. Labelle 1972: 130f und 134.
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angesetzt ist, ist das community theatre allerdings noch immer (auch) Theater im herkömmlichen Sinne. In den Aufführungen dieser Theaterform ist die ‚Vierte Wand‘ meist noch vorhanden, so dass die Gemeinschaftsbildung sich nicht in einem eigentlichen Rousseausch-Wordsworthschen Theaterritual vollzieht. Aufgefangen wird dieses Manko durch eine Verlagerung des Gemeinschafts- und damit Austauschsgedankens in das Konzept der Identität der Produktions- und der Rezeptionsgruppe: Dieselben Leute planen und erarbeiten die Aufführungen von der Bühnengestaltung bis hin zum kollektiven Verfassen der aufgeführten Theater-Texte und wohnen ihnen bei. Die unbestreitbare Nicht-Identität von Zuschauern und Akteuren in der jeweiligen Aufführung kann dadurch ausgeglichen werden, dass die Darsteller von Aufführung zu Aufführung wechseln und deshalb der für das Gemeinschaftstheater so wichtige Positionstausch von spectator und actor stattfindet.8 Letztlich wurde die von Rousseau schon 1759 geforderte Überwindung der Grenze zwischen Zuschauer und Akteur zum Fetisch der Theaterkultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Weiter brüchig gemacht etwa wurde diese Grenze in der Happening- und Performance-Kultur ab den 1960er Jahren; gefallen ist sie allerdings noch nicht, da es noch immer kein Theater gibt, in dem alle, wie Rousseau sagt, nichts spielen außer sich selbst. Insgesamt ist aber zu verzeichnen, dass das intersubjektive Gemeinschaftstheater(konzept) der Romantik, das eine seiner Hauptausprägungen in der Versdichtung von William Wordsworth hat, in den letzten fünfzig Jahren eine materiell-körperliche Form sowie einen realen Theaterraum gefunden und damit jene Weitentwicklung des Bühnentheaters bewirkt hat, die von Anfang an in ihm angelegt war. Schwieriger ist die Bestimmung der von Walter Scotts Text-Theater weitergegebenen Traditionslinien bzw. von deren visuell-körperlicher Umsetzung. Was in den Romanen inhaltlich erarbeitet worden ist – mithin eine Monarchisierung des
8 Die Forschung zum community theatre ist stark vom kulturmaterialistischen Paradigma der Untersuchung volks- bzw. populärkultureller Phänomene geprägt (etwa Bradby/McCormick 1978 und Gooch 1984); eine Analyse des Bezugs zu literarischen oder philosophischen Konzepten des 18. und 19. Jahrhunderts blieb dagegen aus. Erst neuerdings rücken diese Zusammenhänge in das Blickfeld, interessanterweise in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft mit ihrem starken Bezug zur europäischen Theateravantgarde einerseits sowie zur Germanistik andererseits. So erkundet etwa Hölscher/Siegmund 2013 das Verhältnis des community dance, einer dem community theatre eng verwandten kulturellen Praxis, zum Politischen und wendet sich dabei auch dem romantischen Gemeinschaftsbegriff von Ferdinand Tönnies zu. Eine parallele Erforschung des Verhältnisses des angloamerikanischen community theatre/dance zum romantischen Gemeinschaftsmodell in der Nachfolge der schottischen Moralphilosophie steht dagegen noch vollkommen aus.
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Wordsworthschen Gemeindetheaters und seine Ausdehnung aufs Kollektiv – hat sich, wie bereits herausgearbeitet, in der britischen Ausprägung eines Nationaltheaters niedergeschlagen, nämlich dem sogenannten ‚National Drama‘ Scottscher Bühnenbearbeitungen. Allerdings hat gerade diese britische Ausprägung im Gegensatz zu anderen europäischen Versionen dieser Bewegung, etwa im deutschsprachigen Raum, das Charakteristikum, über die Dramatisierungen von Scotts Romanen und deren Nachfolger hinausgehend keine Realisierung, etwa in der architektonisch konkreten Form eines Nationaltheaters gefunden zu haben.9 Daneben wurde, wie bereits bemerkt, in Großbritannien mit dem Scottschen Nationaltheater gleich das caveat gegen dessen mediale Realisierung mitrezipiert und es somit vor allen in denjenigen Texten – und in derjenigen Textform – belassen, in der es die größte Verbreitung fand, nämlich den historischen Romanen von Scott selbst. Das britische Nationaltheater hat gewissermaßen eine Form, die sich auf ihrer Medienseite selbst einschränkt und gerade dadurch erfolgreich ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Scottsche Theater im 20. Jahrhundert überhaupt keinen Einfluss auf die visuell-korporeale Medienmodernisierung gehabt hätte. Schon Horst Tippkötter bezieht die ‚bildhaft-bewegten Erzähleinheiten‘ auf den von Scotts Zeitgenossen William Hazlitt geprägten Begriff des ‚moving picture‘ und deutet von dort ausgehend den – das imaginäre Theater ergänzenden – Gedanken des ‚Zusammenschnitts eines historischen Films‘ in der Vorstellungkraft des Lesers an.10 Erweitert man die ‚bewegten Bilder‘ um die bei der hiesigen Analyse der Schlussszene von Woodstock beobachteten wechselnde Fokalisation, so könnte man bei Scott tatsächlich die (Prä-)Figuration eines Darstellungsverfahrens konstatieren, das den Übergang von bewegten Massenszenen zu emphatischen Dialogszenen zelebriert und zugleich mit wechselnden point of views kombiniert, die sich in den emotionalsten Dialogszenen gewissermaßen zu reverse-angle shots gegenseitiger Betrachtung verdichten.11
9 Das bekannte Royal National Theatre an der Waterloo Bridge in London wurde erst 1976 erbaut und hat sehr wenig mit der ursprünglichen Nationaltheaterbewegung gemein. Vgl. zu den unterschiedlichen Ausprägungen der Nationaltheaterbewegung in Großbritannien im Verhältnis zu Europa und Amerika auch Kruger 1992. 10 Tippkötter 1972: 211. 11 Tippkötters Hinweis auf die (zeitgenössische!) Verwendung des Begriffs des „moving picture“ für – und gegen – Scotts Romanszenarien ist ein guter Einwand gegen Anne Hollanders Ausschluss von Scott aus dem von ihr ebenfalls untersuchten Phänomen des „moving picture“ in ihrer gleichnamigen Monographie, dort im Doppelsinn von ‚sich bewegendem‘ und ‚emotional bewegendem Bild‘. Hollander erkennt sehr schön die „tableaux and theatrical arrangements“ in Scotts Romanen und deren Umsetzung für die Bühne sowie in der Historienmalerei (Hollander 1991: 29). Da sie diese „staged“ (ibd.) Distanzierung des theatralen Geschehens, die Tippköt-
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Scotts Romanen sollten also viel stärker auf eine Vorwegnahme des Mediums ‚Film‘ untersucht werden, als das in der sogenannten précinema-Forschung, die sich in der britischen Literatur vor allem auf Charles Dickens konzentriert, bisher geschieht.12 In der am Ende von Woodstock erarbeiteten distanzierten Rezipientenposition könnte man zudem die Zuschauerposition von Fernsehen und Kino antizipiert sehen. Gerade im Kino und davon ausgehend bei der Betrachtung des Fernsehens kann die von Scott ängstlich verfolgte Abtrennung des Zuschauers von aller theatralen Interaktion fortgesetzt werden. Kino und Fernsehen bieten dem Zuschauer auf ihren ‚Projektionsflächen‘ schier unerschöpfliche Formen der Interaktion zwischen Menschen und begeistern und integrieren ihn, wie auch schon von Scott angesetzt, vor allem, indem sie ihn konstitutiv ausschließen und medienspezifisch auf Distanz halten.13 Auf die Frage der politischen Beteiligung solcher Zuschauer bezogen ergibt sich eine interessante Verbindungslinie von Scotts romanästhetischer Demokratie zum heutigen Problembegriff der ‚Mediendemokratie‘. Walter Scotts Romane sind demokratisch nur im Sinne ihrer (erwiesenermaßen) guten Zugänglichkeit. Allerdings wollen sie ihre Leser durch ihre spezifische politische Repräsentation gewissermaßen in doppelter Hinsicht von politischer Beteiligung, etwa der Forderung nach dem Wahlrecht, abhalten, indem sie ihnen nur eine symbolische Form der Beteiligung am politischen Prozess bieten und auch diese, da sie theoretisch zu echten politischen Demonstrationen führen könnte, nur virtualisieren. In ähnlicher Weise ist auch die Zunahme von politischen Talkshows im Fernsehen als ein Ersatz von aktiver Politik durch den passiven Konsum der politischen Interaktion anderer Individuen gedeutet worden, welche ihrerseits nur ‚symbolisch‘ Politik betreiben.14
ter sehr schön im Begriff der ‚bildhaft-statischen Erzähleinheit‘ auffängt, aber nicht um dessen ‚bildhaft-bewegte‘ sowie ‚szenisch-dramatische Erzähleinheiten‘ erweitert, übersieht sie den potentiell filmischen Charakter von Scotts Kombination aus Massenszenen, Bewegungsbildern und wechselnd fokalisierten Dialogen. 12 Vgl. etwa Smith 2003, sowie zur Filmhaftigkeit der romantischen Literatur allgemein – als Erarbeitung einer audio-visuellen Halluzination – Kittler 1985. Dickens’ zentraler Status in der précinema-Forschung beruht auf Sergeij Eisensteins Beschäftigung mit Dickens und dem Stummfilmregisseur D.W. Griffiths in seinem berühmten filmtheoretischen Aufsatz „Dickens, Griffith and the Film today“ von 1944. Wie Rigney (2012: 124f.) allerdings herausarbeitet (ohne das filmtheoretisch weiter zu vertiefen), ist Griffith in Birth of the Nation deutlich auch von Scotts Werken beeinflusst. 13 So können Kino- und Fernsehbilder z.B. mit der Unterschreitung eines gewissen Abstands nicht mehr ‚richtig‘ betrachtet werden. 14 Vgl. dazu Massing 2004 und Marcinkowski 2009.
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Die politische Praxis, mit der das post-Wordsworthsche community theatre als deren ästhetische Vor-Form in Verbindung gebracht werden könnte, wäre im Gegensatz dazu eher die Entwicklung kommunaler Selbstvertretung im Zuge der Bürgerrechtsbewegung, die sich in letzter Zeit durch Bürgerbegehren zum Ausdruck bringt. Aber auch im Bezug auf das Gemeinschaftsideal von community theatre und community dance hat Till Briegleb in einem Zeitungsartikel die provokative Frage nach der Bedeutung des Regisseurs für diese kulturellen Praktiken gestellt und dem berühmten Choreographen Royston Maldoom angesichts eines Gastspiels in Hamburg unterstellt, er würde die in seinem Tanzprojekt entstehende community nicht zur Selbstartikulation führen, sondern lediglich nach seinem Konzept vorführen. Dabei werde „Persönlichkeit nur als Bestandteil von Masse [gezeigt], und [...] Individualität damit formal“15. Maldooms community dance tendiert also eher in die Richtung eines Individualität unterordnenden bzw. auflösenden Spektakels, wie es Walter Scott am Ende von Woodstock ja ebenfalls andeutet. Aus dieser Perspektive hätte auch das community theatre in seinem unüberwundenen Bedarf an Regisseuren den romantischen König nicht hinter sich gelassen und würde den Mangel an echter Demokratie aus der Romantik in die Gegenwart verschleppen. Die in diesem Schlusswort skizzierte Interaktion von Romantik und Moderne bezüglich ihrer Theaterträume zeigt beides: Wie modern die Romantik schon ist und wie romantisch die Moderne sein kann. Die großen Paradoxien des romantischen Text-Theaters, allen voran seine Abhängigkeit von einem übergeordneten Autor bzw. Text sowie sein Ausschluss des Rezipienten von der gezeigten Intersubjektivität, leben in der Gegenwart und in der Realisierung als echtes Theater bzw. in den visuellen Massenmedien demnach fort. Die epistemische wie politische Selbstrepräsentation des Menschen ist ein nicht gelöstes Problem; die Repräsentationskrise der Romantik ist noch längst nicht vorbei. Das romantische Text-Theater von William Wordsworth und Walter Scott hat sich aber gerade darin bewährt, dass es dieses Repräsentationsproblem bereits um 1800 in aller Breite und Tiefe erkundet und zugleich mediale Lösungen konzipiert und durchgearbeitet hat, die auch das 21. Jahrhundert noch nicht hinter sich gelassen hat. Dabei hat die Romantik das Repräsentationsproblem zwar nicht gelöst, aber das Niveau – und die Vermittlungsformen – seiner zukünftig vielleicht möglichen Lösung vorgegeben: Die Bücher, die wir lesen, und die Filme und Sendungen, die wir sehen, um uns Wissen über den Menschen anzueignen oder politische Prozesse mitzuverfolgen, sind keine neutralen Informationstafeln, sondern bereits ‚Mittel‘, um unsere eigene ‚Menschlichkeit‘ zu definieren und uns gesellschaftlich sowie
15 Briegleb 2007.
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politisch zu plazieren. Wir sollten Wege finden, mit diesen Medien so zu arbeiten, dass das Wissen und die Politik in ihnen in ihre notwendigen Grenzen verwiesen werden und sie zugleich zu Ausgangspunkten echter Gemeinschaften, in denen wir leben können, bzw. zu ‚Fördermaßnahmen‘ derjenigen communities werden, in denen wir im Austausch mit anderen, ‚echten‘ Menschen bereits leben. Die Repräsentation des Menschen kann nur zwischen den Subjekten, zwischen den Medien und zwischen Wissenschaft, Politik und Ästhetik erfolgen.
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