Interessenpolitik und Korruption: Personale Netzwerke und Korruptionsdebatten am Beispiel der Eisenbahnbranche in Großbritannien und Frankreich (1830-1870). Dissertationsschrift 9783847104254, 9783847004257, 9783737004251, 384710425X

Christian Ebhardt untersucht zwei Themenkomplexe, die in der öffentlichen Wahrnehmung häufig eng miteinander in Verbindu

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German Pages 365 Year 2015

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Interessenpolitik und Korruption: Personale Netzwerke und Korruptionsdebatten am Beispiel der Eisenbahnbranche in Großbritannien und Frankreich (1830-1870). Dissertationsschrift
 9783847104254, 9783847004257, 9783737004251, 384710425X

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Christian Ebhardt

Interessenpolitik und Korruption Personale Netzwerke und Korruptionsdebatten am Beispiel der Eisenbahnbranche in Großbritannien und Frankreich (1830–1870)

V& R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0425-4 ISBN 978-3-8470-0425-7 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0425-1 (V& R eLibary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2015, V& R unipress GmbH in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Nouvelle carte des chemins de fer de l’Europe. Publi¦e par MM A. Chaix. BibliothÀque nationale de France. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1: Legislative 1. Die Pionierphase des Eisenbahnbaus – Aufstrebende und etablierte Eliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Pioniere, Opposition und die Rolle der Legislative in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Verhandlungen über Landverkäufe als Form der Interessenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder des House of Lords . . . 1.4. Korruptionsbekämpfung durch Reformen des parlamentarischen Bewilligungsverfahrens . . . . . . . . . . . . 1.5. Pioniere, Opposition und die Rolle der Legislative in Frankreich. 1.6. Interessenpolitik im Parlament der Julimonarchie . . . . . . . . 1.7. Korruptionsdebatten und die Krise der Julimonarchie . . . . . . 1.8. Unvereinbarkeiten als politische Reformbestrebungen . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitalismus und Korruption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Railway Mania in Großbritannien – Aufstieg und Krise des Aktienkapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Bestechung durch die Vergabe von Aktienpaketen . . . . . . . . 2.3. Spekulation, Korruption und Wirtschaftskriminalität – Zum »Niedergang« der Wirtschaftsethik während der Railway Mania. 2.4. Strategien zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität . . . . . 2.5. Der Staat als Kontrollinstanz des Aktienhandels . . . . . . . . .

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Inhalt

2.6. Korruptionsdebatten und Reformpläne . . . . . . . . . . . 2.7. Die Finanzierung des Eisenbahnbaus und der Aufstieg des Aktienkapitalismus in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . 2.8. Frühsozialistische Korruptionsvorwürfe als Vehikel von Kapitalismuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Konkurrenz und Monopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Zur Entwicklung der britischen Eisenbahnbranche in den 1850er und 1860er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Monopol und Diversifikation – Kritik an neuen Unternehmensstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Frühformen der Verbandsbildung – Der Railway Interest als eine »Macht« im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Professionalisierungstendenzen der Interessenpolitik in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Unvollständige Differenzierung? – Praktiken der Interessenpolitik am Beispiel des Canvassing . . . . . . . . . . . 3.6. Zur Entwicklung der französischen Eisenbahnbranche in den 1850er und 1860er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Der Zugang zur politischen Macht – Vernetzungspraktiken während des Zweiten Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8. Die Chemins de Fer d’Int¦rÞt Local und der Kampf gegen die Monopole der »großen Sechs« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9. Politische Korruptionskritik im »Empire autoritaire« . . . . . . 3.10. Zum Aufschwung politischer Korruptionskritik in den 1860er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.11. Beschränkungen personalisierter Korruptionsvorwürfe während des Zweiten Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Wirtschaft und Wahlen – Eine Bedrohung für das repräsentative System? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Wahlkorruption im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . 4.2. Praktiken der Wahlmanipulation in Großbritannien . . . . 4.3. Indirekte Formen der Wahlmanipulation . . . . . . . . . . 4.4. Debatten über Wahlmanipulation in Großbritannien . . . . 4.5. Praktiken der Wahlmanipulation in Frankreich . . . . . . . 4.6. Debatten über Wahlmanipulation in Frankreich . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Teil 2: Exekutive 5. Regulierung und Verstaatlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Reformen des Board of Trade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Gladstones Railway Regulation Act von 1844 . . . . . . . . . . . 5.3. Das Railway Department und die Railway Commissioners in den 1840er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Das Railway Department nach 1851 . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Debatten über Erweiterungen der Befugnisse des Board of Trade 5.6. Verstaatlichungsdebatten in Großbritannien . . . . . . . . . . . 5.7. Befugnisse des Ministeriums für öffentliche Arbeiten und der Ponts et Chauss¦es . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8. Verstaatlichungsdebatten in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zum Verhältnis von Wirtschaft und Ministerien . . . . . . . . . . . . 6.1. Personale Verflechtung auf Leitungsebene in Großbritannien . . 6.2. Vergebliches Bemühen um vollständige Neutralität? – Private wirtschaftliche Interessen von Ministern . . . . . . . . . . . . . 6.3. Die Ministerialbürokratie und ihr Verhältnis zur Eisenbahnbranche in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Familiäre Verflechtung und Insiderhandel im Board of Trade . . 6.5. Die Bestechungsaffäre Hignett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6. Verhandlungen über Konzessionen während der Julimonarchie . 6.7. Korruptionsdebatten um Minister während der Julimonarchie . 6.8. Das Ministerium für öffentliche Arbeiten während des Zweiten Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.9. Die Affäre MirÀs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.10. Die Ingenieure der Ponts et Chauss¦es und ihr Verhältnis zu den privaten Eisenbahngesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Dieses Buch ist eine geringfügig überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Februar 2014 an der Technischen Universität Darmstadt zur Promotion angenommen wurde. Die Arbeit entstand im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungsprojektes »Korruption in der Moderne«, das im Herbst 2008 an der Universität seine Arbeit aufgenommen hat und mittlerweile in mehreren Folgeprojekten weitergeführt wird. Mein erster und sehr herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Jens Ivo Engels, der dieses Forschungsprojekt ins Leben gerufen hat. Herr Engels stand mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite, hat mich aber auch ermuntert, fortlaufend eigene Ideen und Ansätze zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. Bei meinem Zweitgutachter Professor Dr. Dieter Schott bedanke ich mich ebenfalls herzlich für seinen Rat und die Anmerkungen zu meiner Arbeit, die bei der Überarbeitung des Manuskripts für die Publikation äußerst hilfreich waren. Mit dem Forschungsprojekt ist an der TU Darmstadt eine Plattform für einen regen wissenschaftlichen Austausch, gerade unter den jüngeren Kollegen, entstanden. Obwohl ich mittlerweile Darmstadt verlassen habe, hoffe ich, dass die dort geknüpften kollegialen Verbindungen und Freundschaften auch in den kommenden Jahren noch weiter Bestand haben werden. Meinen Eltern, Inge und Götz Ebhardt, schulde ich für ihre tatkräftige und moralische Unterstützung Dank. Nicht vergessen möchte ich meine Geschwister und meine Freunde, die immer ansprechbar waren und für den notwendigen Ausgleich gesorgt haben. Mein letzter und innigster Dank gilt Stefanie Jagotzky, die es mit bemerkenswertem Langmut hingenommen hat, wenn ich mal wieder hinter meinen Bücherstapeln verschwunden war. Bremerhaven im April 2015

Christian Ebhardt

Einleitung »…With such immense funds at their disposal, and consequently such immense power at their command, these railway potentates are truly omnipotent, and this will continue to be the case as long as Parliament shall be suffered to be merely an instrument in their hands.«1

Mit diesen Worten beschrieb ein anonymer Autor im Herbst 1846 den Einfluss, den Eisenbahnunternehmer auf das britische Parlament ausüben konnten. Der Autor verleiht einer Wahrnehmung Ausdruck, die uns mehr als 150 Jahre später nur allzu bekannt vorkommt. Die Ansicht, dass industrielle Großunternehmen einen zu großen Einfluss auf die Politik nähmen, erscheint heute aktueller denn je und ist nicht nur bei Globalisierungsgegnern des 21. Jahrhunderts weit verbreitet. Genau dieser Themenkomplex bildet den Kern des vorliegenden Buches: Das Verhältnis zwischen der privaten Eisenbahnindustrie und dem Staat im 19. Jahrhundert. Die Eisenbahn war ein Leitsektor der zweiten, schwerindustriellen Phase der Industrialisierung. Der Aufbau nationaler Schienennetze und die damit einhergehenden Modernisierungsschübe waren sowohl politische wie auch ökonomische Prozesse.2 Als Infrastrukturen waren Eisenbahnen von hohem machtpolitischem Interesse für die sich entwickelnden Nationalstaaten. Der immense Kapitalbedarf der Eisenbahngesellschaften wiederum veränderte die Wirtschaftswelt und begünstigte die Entwicklung des modernen Finanzkapitalismus.3 Diese grundlegende Neuordnung der Wirtschaftswelt hatte auch weitreichende Auswirkungen auf das politische Leben. Mit dem modernen Finanzkapitalismus ging eine zunehmende Differenzierung von politischer und wirtschaftlicher Macht einher. Neue Akteure aus dem Wirtschaftsbürgertum drängten darauf, politischen Einfluss zu erlangen und im vorangestellten Zitat klingt bereits deutlich an, dass ihre Integration nicht ohne Konflikte ablief. 1 The Times (6. 10. 1846), S. 5. 2 Smith, Michael Stephen: The Emergence of Modern Business Enterprise in France, 1800–1930. Cambridge, Mass. 2006 (=Harvard Studies in Business History 49), S. 66; Zu Modernisierungsimpulsen für die wirtschaftliche Entwicklung durch den Eisenbahnbau vgl. Ziegler, Dieter : Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Die Eisenbahnpolitik der deutschen Staaten im Vergleich. Stuttgart 1996 (=Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte : Beihefte 127), S. 12–19. 3 Then, Volker : Eisenbahnen und Eisenbahnunternehmer in der Industriellen Revolution. Ein preußisch-deutsch-englischer Vergleich. Göttingen 1997 (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 120), S. 13.

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Einleitung

Daher bietet sich die Eisenbahnbranche als Untersuchungsgegenstand für eine Studie über das Verhältnis von Interessengruppen und Vertretern des Staates unter besonderer Berücksichtigung als illegitim angesehener Praktiken sehr gut an. Die Arbeit verfolgt – soviel vorweg – einen komparativen Ansatz, der Großbritannien und Frankreich zum Gegenstand hat. Der Untersuchungszeitraum umfasst grob die Jahre zwischen 1830 und 1870, ohne sich dabei allzu starr an spezifischen Jahreszahlen zu orientieren. Der Startzeitpunkt in den 1830er Jahren ist durch den Beginn des Eisenbahnbaus in Großbritannien und mit einer leichten Verzögerung auch in Frankreich festgesetzt und bedarf keiner zusätzlichen Begründung. Der Abschluss um 1870 wurde anhand von politischen und wirtschaftlichen Zäsuren gewählt. In Großbritannien markierten die 1870er Jahre die teilweise Abkehr von der Laissez-faire Politik in Wirtschaftsfragen und dadurch ein gewandeltes Verhältnis zwischen der privaten Eisenbahnindustrie und dem Staat.4 Auf der weiteren politischen Ebene bewirkte die Ausweitung des Wahlrechts durch den zweiten Reform Act von 1867 tiefgreifende Veränderungen des Parteiensystems und der politischen Landschaft allgemein.5 In Frankreich waren es vor allem die Umbrüche in der Folge des Deutsch-Französischen Krieges, die das Ende des Zweiten Kaiserreiches bedeuteten und die Rückkehr zum republikanischen System bewirkten.6 Sie stellen eine klare Zäsur dar und deckt sich zeitlich mit den Entwicklungen in Großbritannien. In Bezug auf seine wirtschaftliche Entwicklung wird das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts häufig als der Beginn einer neuen Phase in Westeuropa angesehen, die durch zunehmende Globalisierung und neue Leitsektoren, insbesondere der Chemie und Elektrotechnik, gekennzeichnet ist.7 Diese Einteilung korrespondiert auch mit der Periodisierung vieler Zeithistoriker, die den Beginn der Hochmoderne um 1880/1890 ansetzen.8 Der gewählte Zeitraum schlägt somit eine Brücke zwischen der Sattelzeit und der Hochmoderne, eine Phase, in der sich Entwicklungen verfestigten, die Zäsur der Sattelzeit klar ersichtlich und besonders stark reflektiert wurde.9 4 Gourvish, Terence R.: Railways and the British Economy, 1830–1914. Basingstoke 1989 (=Studies in Economic and Social History), S. 53. 5 Smith, Francis Barrymore: The Making of the Second Reform Bill. Cambridge 1966. 6 Bury, J. P. T.: France, 1814–1940. London 2003, S. 96–109. 7 Broadberry, Stephen N. u. Kevin H. O’Rourke: The Cambridge Economic History of Modern Europe. 1870 to the Present. New York 2010 (Bd. 2), S. 1–2; vgl. auch: Hahn, HansWerner : Die Industrielle Revolution in Deutschland. München 2005 (=Enzyklopädie deutscher Geschichte, 49), S. 42. 8 Doering-Manteuffel, Anselm: Einleitung. In: Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Anselm Doering-Manteuffel. München 2006. S. 1–17, S. 9. 9 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts.

Einleitung

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Interessenpolitik kann auf verschiedenen Ebenen ausgeübt werden, die sich nach den repräsentierten Gruppen unterscheiden lassen.10 Im Falle der Eisenbahnbranche kann sie die Interessen der gesamten Industrie, einzelner Unternehmen oder auch einzelner Personen, die an der Spitze von Eisenbahngesellschaften standen, zum Ausdruck bringen. Interessenpolitik war stets eng mit dem Thema Korruption verknüpft, da sie zumeist in einem informellen Rahmen ablief und ihr häufig der Anschein anhaftete, partikulare Interessen zum Schaden der Allgemeinheit zu propagieren.11 Korruption als Forschungsobjekt bietet für den Historiker verschiedene interessante Aspekte, stellt ihn aber auch vor einige spezifische Probleme. Zunächst wäre die begriffliche Komponente zu nennen. Korruption ist ein historisch variabler Begriff, der im Laufe der Zeit, aber auch in verschiedenen Gesellschaften, unterschiedliche Zustände und Praktiken bezeichnet.12 Er ist also nicht statisch und spiegelt immer ein spezifisches Verständnis der Zeitgenossen wider. Für den Historiker ist es daher notwendig, sich zunächst von der eigenen zeitgenössischen Auffassung von korruptem Verhalten zu lösen und sich der Wandelbarkeit seines Untersuchungsgegenstandes bewusst zu werden.13 Um der Zielsetzung, politische Korruption zu untersuchen, gerecht zu werden, ist dennoch eine Einengung des Untersuchungsgegenstandes notwendig, die sich nicht strikt an dem Begriff »Korruption« orientiert. Im Folgenden soll die von Michael Johnston vorge-

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München 2009 (=Historische Bibliothek der Gerda-Henkel-Stiftung), S. 218–226. Bezeichnenderweise trägt die Ausgabe des C.H. Beck Verlages ein Gemälde des britischen Malers Joseph Turner, auf dem die Great Western Railway dargestellt ist, auf dem Cover. Unter Interessenpolitik sollen sämtliche sozialen Praktiken, mit denen Personen, Gruppen, Unternehmen, Parteien und sonstige Akteure versuchen, politische Entscheidungen und Prozesse zu beeinflussen, verstanden werden. Der häufig synonym verwendete Begriff Lobbyismus wird aufgrund seiner normativ abwertenden Konnotation nicht verwendet. Vgl. Alderman, Geoffrey : Pressure Groups and Government in Great Britain. Burnt Mill 1985, S. 1. Paul Noack ging sogar so weit, Interessenpolitik und politische Korruption gleich zu setzen. Noack, Paul: Korruption – die andere Seite der Macht. München 1987 (=Knaur 3840), S. 18. In diesem Punkt besteht in der neueren Historiographie weitestgehende Einigkeit. Vgl. Asch, Ronald G., Birgit Emich u. Jens Ivo Engels: Einleitung. In: Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne. Hrsg. von Ronald G. Asch, Birgit Emich u. Jens Ivo Engels. Frankfurt am Main 2011. S. 7–30, S. 19. Der Wirtschaftshistoriker Jakob van Klaveren legte in seinem 1957 veröffentlichten Habilitationsvortrag das westeuropäische moderne Korruptionsverständnis seinen Überlegungen zugrunde und wendete es auch auf Phänomene der Frühen Neuzeit an. Dabei übertrug er Vorstellungskonzepte, die nicht auf die jeweilige Epoche anwendbar waren. Klaveren, Jakob van: Die Historische Erscheinung der Korruption, in ihrem Zusammenhang mit der Staats- und Gesellschaftsstruktur betrachtet. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 44 (1957). S. 289–324, S. 292. Einige Jahre später plädierte der Althistoriker Wolfgang Schuller erstmals dafür, Korruption immer anhand eines spezifischen Zeithorizonts zu untersuchen. Schuller, Wolfgang: Probleme historischer Korruptionsforschung. In: Der Staat 16 (1977). S. 372–392, S. 376.

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Einleitung

schlagene Definition verwendet werden, wonach Korruption »der Missbrauch einer öffentlichen Position oder Ressource zum privaten Nutzen, gemäß juristischer oder sozialer Standards, die das System öffentlicher Ordnung einer Gesellschaft bestimmen,« ist.14 Diese »neo-klassische« oder »sozialkonstruktivistische« Definition weicht in einigen Punkten von der klassischen Definition ab, nach der Korruption der »Missbrauch eines öffentlichen Amtes zum privaten Vorteil ist«.15 Die Definition nach Johnston bietet gegenüber der »klassischen« Begriffsbestimmung den Vorteil, sich von der Beschränkung auf politische Ämter zu lösen und ermöglicht es, auch politische Mandatsträger, insbesondere Abgeordnete der Parlamente einzubeziehen. Darüber hinaus trägt diese Definition der Wandelbarkeit des Korruptionsbegriffs Rechnung und öffnet den Blick auf zeitgenössische Ideen und Vorstellungen korrupten Verhaltens.16 Korruption kann im hier relevanten Zusammenhang als ein soziales Phänomen mit zwei Ebenen verstanden werden: zum einen soziale Praktiken der Interessendurchsetzung im politischen System und zum anderen Debatten, in denen die Legitimität dieser Praktiken diskutiert wurde.17

Korruption zwischen Früher Neuzeit und Moderne Die Forschung zur Korruption in der Moderne hat enge Beziehungen zur Patronageforschung der Frühen Neuzeit. Sie unterscheidet sich jedoch in einigen Rahmenbedingungen und Grundvoraussetzungen wesentlich von ihr. Patronage bezeichnet in der Historiographie zur Frühen Neuzeit eine persönliche, hierarchisch klar strukturierte und horizontal stratifizierte Beziehung zwischen einem Patron und seinem Klienten und erfüllte mehrere gesellschaftliche Funktionen.18 14 »… corruption is the abuse, according to the legal or social standards constituting a society’s system of public order, of a public role or resource for private benefit.« In: Johnston, Michael: The Definitions Debate. Old Conflicts in New Guises. In: The Political Economy of Corruption. Hrsg. von Arvind K. JAIN. London 2001. S. 11–33, S. 20. 15 Engels, Jens Ivo, Andreas Fahrmeir u. Alexander Nützenadel: Einleitung. In: Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. Hrsg. von Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir u. Alexander Nützenadel. München 2009. S. 1–15, S. 11. 16 Vgl. Kerkhoff, Toon, Ronald Kroeze u. Pieter Waagenaar: Corruption and the Rise of Modern Politics in Europe in the Eighteenth and Nineteenth Centuries. A Comparison between France, the Netherlands, Germany and England. In: Corruption and the Rise of Modern Politics. Hrsg. von Ronald Kroeze, Toon Kerkhoff u. Gustavo Corni. München 2013. S. 19–30, S. 25. 17 Engels, Jens Ivo: Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 282 (2006). S. 313–350, S. 320. 18 »These relationships were personal and emotional, and they were voluntary vertical alliances

Korruption zwischen Früher Neuzeit und Moderne

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Sie war ein Mittel sozialer und politischer Integration in Gesellschaften mit ausgeprägten Standesschranken und begleitete Staatsbildungsprozesse.19 Sie war jedoch stets auch ein System, das die Vergabe knapper Ressourcen in einer Gesellschaft regelte, und daher anfällig für Missbrauchsanklagen.20 In Großbritannien thematisierten Korruptionsdebatten während der Frühen Neuzeit vornehmlich Versuche der Regierung und der Krone, Machtmittel zu akkumulieren und durch Patronagepraktiken und die Vergabe von Privilegien abzusichern.21 Im 18. Jahrhundert wurde Patronage hier zunehmend auch eingesetzt, um parlamentarische Mehrheiten zu sichern. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts geriet dieses System jedoch immer stärker unter Druck. Unter dem Begriff Old Corruption griffen sogenannte Radicals und andere reformorientierte Gruppen einen ihrer Meinung nach durch Patronage und Sinekuren aufgeblähten Staatsapparat und überholte Wahlprivilegien an.22 Diese verloren im 19. Jahrhundert nach mehreren Reformen an Bedeutung. In anderen Bereichen der Gesellschaft wurden Patronagepraktiken aber weiterhin ausgeübt.23 In Frankreich spielte Korruptionskritik in der Frühen Neuzeit als Teil politischer Reformdebatten zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Die Debatten klammerten den Monarchen meist aus. Die Verwaltung und die Justiz konnten korrupt sein, der König hingegen nicht.24 Zum Ende des 18. Jahrhunderts vollzog sich in Frankreich jedoch eine radikale Wende. Der Begriff der Korruption wurde im Vorfeld der großen Revolution von 1789 mit einer zivilisationskritischen Komponente verbunden, die wesentlich durch Rousseau geprägt war und eng mit anderen persönlichen Devianzen verknüpft wurde. Dadurch fungierte der Korruptionsvorwurf als Generalverdikt des Ancien R¦gime und trug zur Legitimation der Revolution bei.25

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between two persons who were unequal in status: …« In: Kettering, Sharon: Patronage in Sixteenth- and Seventeenth-Century France. Aldershot 2002 (=Variorum Collected Studies Series 738), S. 223. Ma˛czak, Antoni: Diskussionsbericht. In: Klientelsysteme im Europa der frühen Neuzeit. Hrsg. von Antoni Ma˛czak u. Elisabeth Müller-Luckner. München 1988. S. 343–364, S. 356. Asch, Emich u. Engels: Einleitung, S. 7. Peck, Linda Levy : Court Patronage and Corruption in Early Stuart England. London 1993. Harling, Philip: The Waning of »Old Corruption«. The Politics of Economical Reform in Britain, 1779–1846. Oxford 1996. Bourne, John M.: Patronage and Society in Nineteenth-Century England. London 1986, S. 187–188. Engels, Jens Ivo: Revolution und Panama. Korruptionsdebatten als Systemkritik in Frankreich vom 18. Jahrhundert bis zur Dritten Republik. In: Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. Hrsg. von Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir u. Alexander Nützenadel. München 2009, S. 143–174, S. 144–145. Gembicki, Dieter: Corruption, D¦cadence. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich. 1680–1820. Hrsg. von Rolf Reichardt. 14/15. München 1993. S. 7–54, S. 45;

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Einleitung

Es ist also festzuhalten, dass auch schon während der Frühen Neuzeit bestimmte Patronagepraktiken, wie etwa die Vergabe von Pfründen und Sinekuren, aber auch andere Formen der privaten Selbstbereicherung im Amt, als Missbrauch und Korruption kritisiert werden konnten.26 Diesem diskreditierenden Diskurs stand aber ein Rechtfertigungsdiskurs gegenüber, wonach Geldgaben und Formen der Begünstigung durch persönliche Verbundenheit, Freundschaft und Patronagebeziehungen begründet wurden.27 Diesen Diskursen lagen co-existierende Normensysteme zugrunde, die einerseits auf ein formelles gemeinwohlorientiertes Bild der Gesellschaft rekurrierten und andererseits ein informelles, durch persönliche soziale Verbindungen dominiertes Gesellschaftsverständnis vertraten, das in der Forschung häufig als »Ethos der Patronage« bezeichnet wird. In diesem Sinne kann für die Frühe Neuzeit von einer offenen Konkurrenz verschiedener Normensysteme ausgegangen werden.28 Diese Rechtfertigungsmuster verloren jedoch während des Übergangs von der Vormoderne zur Moderne zunehmend an Wirkung, was sich als Wandel von offener zu verdeckter Normenkonkurrenz beschreiben lässt und sich in einer zunehmenden Unbedingtheit des Korruptionsverbots ausdrückte. In WesteuVgl. auch: Darnton, Robert: The Literary Underground of the Old Regime. Cambridge [u. a.] 1982, S. 32. 26 Ältere Forschungsmeinungen, wie etwa die von James Scott formulierte These, nach der es Korruption während der Frühen Neuzeit wegen eines fehlenden Bewusstseins für die Trennung von Privat und Öffentlichkeit nicht geben konnte, werden in der neueren Forschung zumeist als überholt betrachtet. Scott, James C.: Comparative Political Corruption. Englewood Cliffs, N. J 1972 (=Prentice-Hall Contemporary Comparative Politics Series), S. 8; Vgl. dem widersprechend: Grüne, Niels: »Gabenschlucker« und »verfreundte rät«. Zur patronagekritischen Dimension frühneuzeitlicher Korruptionskommunikation. In: Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne. Hrsg. von Ronald G. Asch, Birgit Emich u. Jens Ivo Engels. Frankfurt am Main 2011. S. 215–232, S. 217–218. 27 Kirscher, Andr¦: Korruption vor Gericht. Die Fälle Francis Bacon (1621), Warren Hastings (1788–1795) und der Strukturwandel bei der Bewertung politischer Delinquenz in England. In: Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Hrsg. von Niels Grüne u. Simona Slanica. Göttingen 2010. S. 307–326, S. 322; Suter, Andreas: Korruption oder Patronage? Außenbeziehungen zwischen Frankreich und der Alten Eidgenossenschaft als Beispiel (16. – 18. Jahrhundert). In: Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Hrsg. von Niels Grüne u. Simona Slanica. Göttingen 2010. S. 167–204, S. 201. 28 Thiessen, Hillard von: Korrupte Gesandte? Konkurrierende Normen in der Diplomatie der Frühen Neuzeit. In: Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Hrsg. von Niels Grüne u. Simona Slanica. Göttingen 2010. S. 205–220, S. 205; Thiessen, Hillard von: Korruption und Normenkonkurrenz. Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die Günstling-Minister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrhundert. In: Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. Hrsg. von Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir u. Alexander Nützenadel. München 2009. S. 91–120, S. 94.

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ropa erlangte ein spezifisches Amtsverständnis die Deutungshoheit, wonach öffentliche Ämter nicht zum privaten Vorteil genutzt werden durften. Die traditionellen Geschenke und Gebühren, die Amtsträger während des Ancien R¦gime als Gegenleistung für ihre Amtshandlungen von der Bevölkerung empfingen, wurden durch ein festes Gehalt ersetzt und immer häufiger als Versuch illegitimer Einflussnahme gesehen.29 Die zunehmende Absolutheit des Korruptionsverbots korrespondiert mit einer fortschreitenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die zeitgleich mit den Staatsbildungsprozessen der ausgehenden Frühen Neuzeit ablief. Viele Modernisierungstheoretiker sehen die gesellschaftliche Differenzierung als ein Hauptmerkmal des Modernisierungsprozesses, der im langen 19. Jahrhundert in den meisten Ländern des europäischen Kulturkreises zu beobachten ist. Max Weber sprach bevorzugt von der Trennung öffentlicher und privater Sphären.30 Pierre Bourdieu beschreibt sie im Zusammenhang mit politischen und sozialen Feldern und bei Niklas Luhmann findet sie sich in der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Systeme.31 Differenzierung spiegelt sich in der Forderung an Staatsbedienstete, zwischen öffentlichem Amt und privater Person strikt zu trennen, besonders anschaulich. Ausdifferenzierung ist zwar in der Modernisierungstheorie absolut, wurde in der Praxis jedoch nie stringent umgesetzt. In Korruptionsdebatten findet sich daher häufig Kritik an unvollkommener Trennung der gesellschaftlichen Felder. Mit der einsetzenden Industrialisierung rückten zunehmend Wirtschaft und Handel, insbesondere Infrastrukturprojekte wie der Kanal-, Straßen- und Eisenbahnbau, aber auch der Abbau von Rohstoffen in den Fokus staatlicher Aktivität und Kontrolle. Im Kontext des Eisenbahnbaus wurde daher zumeist ein Verstoß gegen die Forderung nach einer Trennung des politischen und des ökonomischen Feldes verhandelt. Das Verhältnis der verschiedenen partizipierenden Gruppen einer Gesellschaft wird durch gesellschaftliche Werte und Normen reglementiert, die kontinuierlich neu ausgehandelt werden müssen. Teile dieser Aushandlungsprozesse finden in Korruptionsdebatten statt, in denen gruppenspezifische Normensysteme formuliert und abgeglichen werden. Der Begriff Normen werden häufig in Zusammenhang oder gar synonym mit Werten gebraucht, woraus sich freilich die Gefahr begrifflicher Unschärfe ergibt. Im Folgenden sollen Normen und Werte insofern differenziert werden, dass Werte grundsätzlich 29 Jankowski, Paul: Shades of Indignation. Political Scandals in France, Past and Present. New York 2008, S. 72. 30 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 1980, S. 427. 31 Bourdieu, Pierre: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz 2001 (=Êdition discours 29) S. 51; Morel, Julius: Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. München 2001, S. 232–238.

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offen sind und einen positiven Verhaltensanreiz geben, während Normen einen restriktiven Charakter haben. Sie »schließen bestimmte Mittel des Handelns als moralisch oder rechtlich unzulässig aus«.32 Beispielhaft sei an dieser Stelle die Amtstreue als verhaltensregulierende Norm für Beamte erwähnt und ihre Verankerung in Sachgebundenheit als übergeordnetem positiven Wert.33 Die von Hans Joas und Klaus Wiegandt zitierte Textpassage betont noch einmal die Gebundenheit von Normen an moralische oder rechtliche Standards, die in einem gesellschaftlichen Diskurs transformiert werden. Normen sind an einen Status quo gebunden und werden durch geänderte gesellschaftliche Verhältnisse beeinflusst, in diesem Falle war es in erster Linie, aber natürlich nicht ausschließlich, die Industrialisierung und alle mit ihr einhergehenden Umwälzungen. Ethisch und rechtlich fundierte Normen werden durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst und drücken sich in unterschiedlichen Formen aus. Religion als klassische Ausdrucksform von Werte- und Normensystemen trat seit der Aufklärung in den Hintergrund. In Debatten über Interessenpolitik rückten klar säkulare politische Ideologien in den Vordergrund, die einen Alleingeltungsanspruch erhoben.34 Aufbauend auf den Staatstheoretikern der Aufklärung war das 19. Jahrhundert zugleich eine Entwicklungs- und Transformationszeit vieler politischer »Ismen«: des Sozialismus, des Liberalismus und des Konservatismus, die auch eine wesentliche Rolle in Korruptionsdebatten spielten.35 Es sollen hier jedoch nicht die Ansichten politischer Theoretiker zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft am Beispiel der Korruption neu behandelt werden, sondern die Ausprägung ihrer Gesellschaftsentwürfe im politischen Alltag: ihr zu Tage treten und ihre Nutzbarmachung in Argumenten sowie ihre Ambivalenzen. Staatstheorien und politische Ideologien waren genauso wenig in Stein gemeißelt, wie es religiöse Werte und Normen waren, und traten in politischen Debatten selten in »Reinform«, sondern zumeist nur in den Versatzstücken auf, die dem Kontext und der Intention des Akteurs, der sie artikulierte, angepasst wurden. Korruption ist in diesem Fall die Negativreferenz für gesellschaftliche Idealbilder, wie sie die verschiedenen Ideologien propagierten. Die historiographische Korruptionsforschung zur Moderne hat in den letzten 32 Joas, Hans u. Klaus Wiegandt: Einleitung. In: Die kulturellen Werte Europas. Hrsg. von Hans Joas u. Klaus Wiegandt. Frankfurt am Main 2005. S. 11–39, S. 14. 33 »Für den spezifischen Charakter der modernen Amtstreue ist entscheidend, daß sie, beim reinen Typus, nicht – wie z. B. im feudalen oder patrimonialen Herrschaftsverhältnis – eine Beziehung zu einer Person nach Art der Vasallen- oder Jüngertreue herstellt, sondern, daß sie einem unpersönlichen sachlichen Zweck gilt.« Weber : Wirtschaft, S. 553. 34 Kerkhoff, Toon; Ronald Kroeze u. Pieter Waagenaar : Corruption, S. 21. 35 Bayly, Christopher A.: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914. Frankfurt 2006, S. 306; Vgl. Engels, Jens Ivo: Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2014. S. 172–179.

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Jahren einen deutlichen Zuwachs zu verzeichnen. Für das lange 19. Jahrhundert lag das Hauptaugenmerk bisher auf der Sattelzeit und den revolutionären Umwälzungen nach 1789 sowie dem Übergang zum 20. Jahrhundert. Insbesondere zu Frankreich wurde die Mitte des 19. Jahrhunderts bisher nur recht selten und zumeist von englischsprachigen Historikern untersucht.36 Viele Arbeiten zu Frankreich basieren auf einzelnen Skandalen und deren faktengeschichtlicher Aufarbeitung.37 Eine weitergehende Analyse dieser Fallbeispiele im Hinblick auf ihre soziale und politische Funktion sowie Signifikanz fand in den meisten älteren Untersuchungen nicht statt. Ein prominentes Thema in den Korruptionsdebatten des Untersuchungszeitraums, nicht nur in Bezug auf Eisenbahnunternehmer, sondern allgemein, sind Praktiken der korrumpierenden Einflussnahme auf Wahlen. Wahlen erhielten in den repräsentativen Systemen des 19. Jahrhunderts eine neue Bedeutung, in deren Verlauf sie sich von einem Privileg zum staatsbürgerlichen Recht wandelten, das allerdings in den meisten Fällen noch an Einkommensqualifikationen gebunden war. Sie dienten zunehmend zur Legitimation staatlicher Macht. Für Großbritannien liegen bereits grundlegende Studien zum Thema vor.38 In Frankreich wurde Wahlkorruption bisher meist unter dem Gesichtspunkt staatlicher Wahlpatronage untersucht. Darüber hinaus liegen mehrere Studien vor, die auch andere Formen der Wahlbeeinflussung thematisieren und die Entwicklung des repräsentativen Systems sowie die symbolische Bedeutung von Wahlen in den Mittelpunkt stellen.39 36 Vgl. dazu: Engels: Revolution und Panama, S. 143; zur Julimonarchie mit sehr unterschiedlichen Forschungsansätzen: Fortescue, William: Morality and Monarchy. Corruption and the Fall of the Regime of Louis-Philippe in 1848. In: French History 16 (2002). S. 83–100; Margadant, Jo Burr : Gender, Vice, and the Political Imaginary in Postrevolutionary France. Reinterpreting the Failure of the July-Monarchy, 1830–1840. In: The American Historical Review 104 (1999) H. 5. S. 1461–1496; Higonnet, Patrick u. Trevor Higonnet: Class, Corruption, and Politics in the French Chamber of Deputies. 1846–1848. In: French Historical Studies 5 (1967) H. 2. S. 204–224 37 Bouvier, Jean: Les deux scandales de Panama. Paris 1964 (=Collection Archives 3); Mollier, Jean-Yves: Le scandale de Panama. Paris 1991. 38 Hanham, Harold J.: Elections and Party Management. Politics in the Time of Disraeli and Gladstone. Hassocks 1978, S. 87; Hoppen, K. Theodore: Roads to Democracy. Electioneering and Corruption in Nineteenth-Century England and Ireland. In: History 81 (1996) 264. S. 553–571, S. 555–556; O’Leary, Cornelius: The Elimination of Corrupt Practices in British Elections. 1868–1911. Oxford 1962, S. 233; Seymour, Charles: How the World Votes. The Story of Democratic Development in Elections. Springfield, Mass. 1918. 39 Charnay, Jean-Paul: Les Scrutins politiques en France de 1815 — 1962. Contestations et invalidations. Paris 1965 (=Cahiers de la Fondation Nationale des Sciences Politiques 132); Garrigou, Alain: Le vote et la vertu. Comment les FranÅais sont devenues ¦lecteurs. Paris 1992, S. 131; Garrigou, Alain: Histoire sociale du suffrage universel en France. 1848–2000. Paris 2002 (=Points / Histoire 303); Voilliot, Christophe: La candidature officielle. Une pratique d’Êtat de la Restauration — la TroisiÀme R¦publique. Rennes 2005 (=Collection Carnot).

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Die Bedeutung ökonomischer Interessengruppen für die politischen Prozesse des 19. Jahrhunderts wurde in der Korruptionsforschung zu beiden Ländern bisher nicht explizit analysiert. Jedoch existiert sowohl für Frankreich wie auch für Großbritannien eine umfangreiche Forschungsliteratur über die Entwicklung des Eisenbahnwesens, auf die zur Klärung von historischen Abläufen zurückgegriffen werden kann. Für Frankreich sind vor allem die Arbeiten von FranÅois Caron und Louis Girard zu nennen.40 Des Weiteren sind die älteren Arbeiten von Alfred Picard und Richard von Kauffmann nützlich, die zwar aktuellen wissenschaftlichen Standards in Bezug auf Quellennachweise nicht immer gerecht werden, aber aufgrund ihrer Detailfülle und mit der gebotenen kritischen Einordnung wertvolle Referenzkompendien darstellen.41 Fragen zur Einflussnahme von Eisenbahnunternehmern auf Regierungsentscheidungen wurden jedoch, wenn überhaupt, nur im Kontext anderer Forschungsziele behandelt. In diesem Bereich herrscht noch ein klares Forschungsdefizit. Die britische Literatur zur Eisenbahngeschichte ist sehr umfangreich. Eine Auflistung, die Anspruch auf Vollständigkeit einfordern dürfte, würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen.42 Daher sei an dieser Stelle nur auf einige Standard- und Überblicksdarstellungen verwiesen, aus denen sich problemlos Literaturhinweise zu den verschiedenen Facetten der Eisenbahngeschichte erschließen lassen. Allen voran sind die Arbeiten von Jack Simmons zu nennen, der das Forschungsfeld als Gründer und langjähriger Herausgeber des Journal of Transport History sowie als Autor zahlreicher weiterer Publikationen zur Eisenbahngeschichte über Jahre hinweg prägte.43 Wichtige Monographien zur wirtschaftlichen Bedeutung und Entwicklung der Eisenbahn im viktorianischen Zeitalter stammen von Terence Gourvish und Mark Casson.44 40 Caron, FranÅois: Histoire des chemins de fer en France. 1740–1883. Paris 1997; Caron, FranÅois: Les grandes compagnies de chemin de fer en France. 1823–1937. GenÀve 2005, S. 22.; Girard, Louis: La politique des Travaux publics du Second Empire. Paris 1952. 41 Picard, Alfred: Les chemins de fer franÅais. Êtude historique sur la constitution et le r¦gime du r¦seau. Paris 1884, S. 322; Kaufmann, Richard von: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs. Stuttgart 1896. 42 Im Unterschied zu Frankreich und auch Deutschland hat die außeruniversitäre Geschichtsschreibung im angelsächsischen Raum einen höheren Stellenwert. Insbesondere die Eisenbahngeschichtsforschung wird häufig von ambitionierten Amateuren betrieben, was mitunter, aber keinesfalls immer, dazu führt, dass gängige Forschungsstandards nicht beachtet werden. 43 Simmons, Jack: The Victorian Railway. London 1991; Simmons, Jack u. Gordon Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion to British Railway History from 1603 to the 1990s. Oxford 1997. 44 Gourvish: Railways and the; Gourvish, Terence R.: Railways 1830–1870. The Formative Years. In: Transport in Victorian Britain. Hrsg. von Michael J. Freeman u. Derek H. Aldcroft. Manchester 1988. S. 57-92; Casson, Mark: The World’s First Railway System.

Korruption zwischen Früher Neuzeit und Moderne

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Allgemein lässt sich festhalten, dass Forschung zur politischen Interessenvertretung durch Interessenverbände – auch die deutschsprachige – bisher mehrheitlich aus politikwissenschaftlicher Perspektive betrieben wurde.45 In Großbritannien war Interessenpolitik ein akzeptierter Bestandteil des politischen Systems und daher für die Forschung auch deutlich »sichtbarer«. Im angloamerikanischen Raum hat die Historiographie zu Interessenverbänden daher eine lange Tradition, die bis zur bahnbrechenden Studie über Gruppenverhalten im politischen System von Arthur Bentley zurückreicht.46 Das Standardwerk zum Railway Interest, dem britischen Interessenverband der Eisenbahngesellschaften, stammt von Geoffrey Alderman und ist für diese Arbeit, gerade für die Teilabschnitte zur organisierten Interessenpolitik der gesamten Branche, grundlegend.47 Henry Parris hat sich detailliert mit der Geschichte der Exekutive, insbesondere des Board of Trade und seinem Verhältnis zur Eisenbahnbranche im 19. Jahrhundert beschäftigt.48 In Frankreich wird Interessenpolitik bis heute, mehr noch als in anderen Ländern, mit Vorbehalten gesehen. Geschichtswissenschaftliche Arbeiten über Interessenverbände in Frankreich sind daher deutlich weniger üblich und meist auf exemplarische Gruppen beschränkt.49 In jüngerer Zeit sind jedoch einige Sammelbände und Monographien erschienen, die sich dem Thema annähern. Diese legen ihren Schwerpunkt bis auf wenige Ausnahmen auf den Zeitraum der Dritten Republik und das 20. Jahrhundert.50

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Enterprise, Competition, and Regulation on the Railway Network in Victorian Britain. Oxford 2009. Eine gute Einführung zur historischen Entwicklung der verbandsgebundenen Interessenpolitik bietet: Ullmann, Hans-Peter : Interessenverbände in Deutschland. Frankfurt am Main 1988. Bentley, Arthur : The Process of Government. A Study of Social Pressures. Chicago 1908. Alderman, Geoffrey : The Railway Interest. Aldershot 1973; Allgemein zu interest- und pressure groups Alderman: Pressure Groups. Parris, Henry : Government and the Railways in Nineteenth-Century Britain. London 1965. Barthelemy, Joseph: Essai sur le travail parlementaire et le systÀme des commissions. Paris 1936. Garrigues, Jean (Hrsg.): Les groupes de pression dans la vie politique contemporaine en France et aux Êtats-Unis de 1820 — nos jours. Rennes 2002 (=Collection Carnot); Wilson, Frank Lee: Interest-Group Politics in France. Cambridge [u. a.] 1987; Rust, Michael Jared: Business and Politics in the Third Republic. The Comit¦ des Forges and the French Steel Industry, 1896–1914, Dissertation. Ann Arbor, Mich. 1973; Wilson: Interest-Group.

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Erkenntnisziele Die zunehmende Differenzierung ökonomischer und politischer Macht während des 19. Jahrhunderts muss auch das Verhältnis von Staat und Wirtschaft verändert haben. Die übergeordnete Fragestellung dieser Arbeit beschäftigt sich daher mit den Grenzbereichen zwischen Interessenpolitik und Korruption sowie den gesellschaftlichen Normen, die sie regulierten. Im Mittelpunkt steht der im Zuge der Industrialisierung gewandelte Einfluss, den Privatpersonen oder gesellschaftliche Gruppen auf politische Entscheidungen und Amtsträger ausüben konnten. Doch auch die umgekehrte Richtung der Beziehung soll berücksichtigt werden, um festzustellen, an welchen Punkten Einflussnahme von Vertretern des Staates auf die Privatwirtschaft als kritikwürdig wahrgenommen wurde.51 Besonders häufig finden sich diese Debatten im Zusammenhang mit staatlicher Regulierung. Regulierung ist immer auch ein Ausdruck staatlicher Macht. Da der Staat aber nur durch agierende Personen tätig werden kann, die wiederum eigene Interessen verfolgen, ist Regulierung ebenfalls häufig anfällig für Missbrauchsvorwürfe. Gemäß der zuvor beschriebenen Unterteilung in Praktiken der Interessendurchsetzung und Korruptionsdebatten lassen sich vier übergeordnete Forschungsziele formulieren. 1. Wie funktionierte Interessenpolitik als soziale Praxis und über welche Netzwerke lief sie ab, sowohl hinsichtlich der beteiligten Akteure als auch der strategischen Ausrichtung und der Gewinnerwartungen? 2. Wann wurden diese Praktiken der Interessenpolitik als Korruption angreifbar? Im Hinblick auf Korruptionsdebatten ist daher zu erörtern, welche Praktiken als missbräuchlich kritisiert wurden und weshalb. Dies bedeutet konkret: Gegen welche Werte und Normen verstießen kritisierte Praktiken und gab es möglicherweise konkurrierende Werte- und Normensysteme? Ist es möglich, aus der Gesamtschau verbindliche Vorstellungen von guter Amtsführung und dem richtigen Verhältnis von Staat und Wirtschaft herauszufiltern oder gab es Ambivalenzen und Argumentationsmuster, die relativierend wirken konnten? Es ist des Weiteren zu erwägen, ob Unterschiede der Legitimität verschiedener Ebenen von Interessenvertretung aufzuzeigen sind, zumal die Interessenpolitik der Unternehmen und der gesamten Branche in der Regel von den gleichen Personen und über die gleichen persönlichen Netzwerke betrieben wurde. Welche Ursachen für Korruption wurden diagnostiziert? Wurde Korruption als das Ergebnis eines individuellen Fehlverhaltens, einer immanenten Schwäche des politischen Systems oder als Symptom eines generellen gesellschaftlichen Werteverfalls aufgefasst? Gibt es Konjunkturen von Korruptionsdebatten, 51 Engels, Fahrmeir u. Nützenadel: Einleitung, S. 14.

Erkenntnisziele

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die sich auf bestimmte Ereignisse zurückführen lassen? Welche Stoßrichtung hatte die Kritik? War sie systemkritisch und stellte sie bestimmte staatliche Institutionen in Frage oder nahm sie individuelle Devianzen in den Fokus und griff gezielt politische und ökonomische Gegner an? 3. Welche Funktion erfüllten Korruptionsvorwürfe? Es ist davon auszugehen, dass Korruptionsvorwürfe meist aus einem Kalkül heraus vorgebracht wurden, dem politische oder ökonomische Motive zugrunde lagen. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit Korruptionsvorwürfe gewinnbringend in politischen Debatten eingesetzt werden konnten und möglicherweise selbst als Mittel der Interessendurchsetzung genutzt wurden. Diese eigennützige Motivation für Korruptionskommunikation schmälert ihren Wert für die Untersuchung gesellschaftlicher Normen jedoch keineswegs, denn auch für Korruptionsvorwürfe galt, dass sie mit der Intention vorgebracht wurden, eine bestimmte soziale Gruppe anzusprechen und daher von einer Mehrheit dieser Gruppe akzeptiert werden mussten. Um einen Gegner effektiv zu diskreditieren, musste die Anklage also im Einklang mit den Offizialnormen der gesellschaftlichen Schicht stehen. 4. Welche Wirkung hatten Korruptionsdebatten im Kontext des Eisenbahnbaus in beiden Ländern? Weiterhin stellt sich die Frage, welche Schlüsse aus den Debatten gezogen und welche Reaktionen für sinnvoll erachtet wurden. War Korruptionsbekämpfung eine Aufgabe des Staates, der seine Institutionen durch Reformen und restriktive Maßnahmen gegen illegitime Einflussnahme abschotten musste, und wenn ja, an welchen Punkten setzten diese Maßnahmen an, oder wurde das Problem als eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung angesehen, das durch eine wie auch immer gearteten Reform der »öffentlichen Moral« gelöst werden musste? Auf diese konkreten Fragen aufbauend, kann der Blick auf ihre Aussagekraft für einige Schlüsselcharakteristika der Moderne gerichtet werden. Eisenbahnunternehmer waren Teil des neu entstandenen industriellen Wirtschaftsbürgertums und stellten an und für sich schon die Personifizierung eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert dar. Vor diesem Hintergrund soll daher auch das Verhältnis von aufstrebenden und etablierten politischen Eliten untersucht werden.52 Es kann und soll jedoch nicht das Ziel dieser Arbeit sein, eine Sozialgeschichte von Eisenbahnunternehmern zu verfassen. Vielmehr soll untersucht werden, welche Auswirkungen diese gesellschaftlichen Veränderungen auf Praktiken der Interessendurchsetzung und der 52 Zur politischen Integration der bürgerlichen Mittelschicht in Großbritannien. Hoppen, K. Theodore: The Mid–Victorian Generation. 1846–1886. Oxford 1998. Insbesondere Kapitel 2. Zu Frankreich: Jardin, Andr¦ u. Andr¦-Jean Tudesq: La France des notables. 1815–1848. Paris 1973 (=S¦rie histoire 107).

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Korruptionskommunikation hatten. Gibt es mit den Patronagepraktiken der Frühen Neuzeit vergleichbare Strukturen oder dominierten anders geartete spezifisch moderne Formen der sozialen Vernetzung? Es ist außerdem von Interesse, zu ergründen, ob die Kritik am Verhalten von Eisenbahnunternehmern und Staatsbediensteten explizit einen »modernen« Charakter artikuliert und vergegenwärtigt, oder ob ihre Praktiken eventuell auch mit als »vormodern« empfundenen Handlungen gleichgesetzt wurden.53 Möglicherweise lassen sich tradierte Korruptionsvorwürfe aufzeigen, die aus vorangegangenen Debatten übernommen wurden oder Bezug auf sie nahmen und somit Brücken zwischen der Vormoderne und der westeuropäischen Moderne bilden.

Methodisches Vorgehen Nachdem die Forschungsziele und -fragen formuliert sind, muss nun geklärt werden, wie sie konkret erreicht und beantwortet werden sollen. Dieser Katalog der Forschungsfragen soll im Vergleich der Phänomene in beiden Untersuchungsländern miteinander abgeglichen werden. Auf den ersten Blick erscheint der komparatistische Forschungsansatz relativ klar in seiner Ausrichtung. Sein fundamentales Ziel ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von zwei oder mehr Untersuchungsgegenständen herauszuarbeiten und zu erklären. Das Erkenntnisziel in Bezug auf Gemeinsamkeiten liegt in allgemeingültigen Aussagen, die auf beide Vergleichsgegenstände zutreffen. Unterschiede hingegen vermitteln eine genauere Erkenntnis des Einzelfalls.54 Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Vergleichsgegenstände miteinander zu kombinieren. Daher ist es unabdingbar, zunächst einen Referenzrahmen vorzugeben, der dem Vergleich seine Struktur und einen Fokus gibt. Im vorliegenden Fall bilden die Praktiken der Interessenpolitik und Korruptionsdebatten eben diesen Referenzrahmen.55 Die vorliegende Arbeit bemüht sich um einen analytischen Vergleich, der sich an nationalen Grenzen orientiert, diese aber nicht als undurchlässige Barrieren 53 Engels, Jens Ivo: Politische Korruption und Modernisierungsprozesse. Thesen zur Signifikanz der Korruptionskommunikation in der westlichen Moderne. In: Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Hrsg. von Niels Grüne u. Simona Slanica. Göttingen 2010. S. 35–54, S. 35. 54 Haupt, Heinz-Gerhard u. Jürgen Kocka: Historischer Vergleich. Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung. In: Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Hrsg. von Heinz-Gerhard Haupt u. Jürgen Kocka. Frankfurt, New York 1996. S. 9–45, S. 11. 55 Herbst, Ludolf: Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte. München 2004 (=Beck’sche Reihe 1526), S. 78–79.

Methodisches Vorgehen

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wahrnimmt, sondern stets auch die Möglichkeit des Transfers im Blick behält.56 Dies begründet sich schon aus dem Untersuchungsgegenstand. Der Eisenbahnbau wurde in beiden Ländern als ein »nationales« Anliegen und Projekt gesehen, erhielt durch internationale Finanzierungsstrukturen und den notwendigen Technologietransfer aber auch eine transnationale Komponente. Der historische Vergleich lebt sowohl von den Gemeinsamkeiten als auch von seinen Kontrasten. Frankreich und Großbritannien bieten sich als Vergleichsländer an, da sie zwar beide dem europäischen Kulturkreis angehören und gemeinsame politische Wurzeln haben, andererseits aber unterschiedliche Wege politischer Modernisierung beschritten. Die relative politische Stabilität Großbritanniens, die durch kontinuierliche Reformen gesichert wurde, kontrastiert mit der raschen Abfolge verschiedener Staatsformen und parlamentarischer Systeme als Folge revolutionärer Umbrüche in Frankreich. Die politischen Rahmenbedingungen für den Eisenbahnbau waren in beiden Ländern daher sehr unterschiedlich. Beide Länder verfolgten außerdem einen distinkten Pfad der Industrialisierung, der sich auch in ihrer Eisenbahnpolitik ausdrückte.57 Im Bereich des Eisenbahnbaus besteht dieser vornehmlich in den unterschiedlichen staatlichen Institutionen und ihrer Rolle und Gewichtung beim Ausbau des neuen Transportmittels. Dem britischen System des Government by Parliament steht in Frankreich eine ausgeprägte exekutive Zentralgewalt gegenüber. Der Vergleich kann jedoch auch noch über das an sich schon berechtigte Forschungsziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, hinausgehen und ermöglicht es, Sinnzusammenhänge und Kausalitäten zu hinterfragen, die in einer Einzelstudie mangels alternativer Entwicklungsverläufe möglicherweise nicht erkannt würden. Ein gut angelegter Vergleich öffnet den Blick für neue Interpretationen und Fragestellungen, sollte sich jedoch vor den Fallstricken konterfaktischer Spekulationen nach dem Muster »Was wäre gewesen wenn?« hüten. Aufgrund der Orientierung an gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen ist der Vergleich im konkreten Fall zwangsläufig in einigen Bereichen asynchron. Die zu vergleichenden Entwicklungen, Praktiken und Debatten fanden in beiden Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt. Allein schon der leicht versetzte Beginn des Eisenbahnbaus in Frankreich bewirkte eine zeitliche Verschiebung der Entwicklungsstadien der Eisenbahnbranche, die wiederum andere Themen der Interessendurchsetzung und der Korruptionsdebatten zutage treten ließen. Auch bewirkten gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen, dass Themen in 56 Kaelble, Hartmut: Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt 1999, S. 49. 57 Horn, Jeff: The Path not Taken. French Industrialization in the Age of Revolution, 1750–1830. Cambridge, Mass. 2006 (=Studies in the History of Science and Technology), S. 9.

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einem Untersuchungsland zum Gegenstand intensiver Debatten wurden, während sie in dem anderen keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten. Dies führt unter anderem dazu, dass in der Arbeit nicht alle Themen für beide Vergleichsländer in gleicher Breite behandelt werden müssen, was für sich genommen schon einen ersten Befund des Vergleichs darstellt.58 Als weitere Referenzgegenstände bieten sich die staatlichen Gewalten an. Der Schwerpunkt liegt hier auf den politischen Gewalten der Legislative und Exekutive. Die Judikative als dritte Staatsgewalt wird im Vergleich nicht berücksichtigt, da der Fokus auf politischer Korruption gewahrt bleiben soll und die Judikative sowohl für die Praktiken der Interessendurchsetzung als auch für Korruptionsdebatten nur eine nachrangige Rolle spielte. Die in den Korruptionsdebatten angegriffenen Praktiken waren im 19. Jahrhundert in der Regel keine juristischen Straftatbestände und Gerichte befassten sich mit ihnen zumeist nur im Zusammenhang mit anderen Vergehen oder zivilrechtlichen Verfahren. Gelegentlich spielen sie daher als Forum für Korruptionsdebatten eine Rolle. Um der Dichotomie des Phänomens Korruption gerecht zu werden, sollen Praktiken der Interessendurchsetzung und Korruptionskommunikation getrennt untersucht werden. Vorgeschaltet ist noch ein erster Schritt, in dem zunächst geklärt wird, in welchem Verhältnis der Staat und die privaten Eisenbahngesellschaften zueinander standen, an welchen Punkten es zu Konflikten kam und in welchen Situationen Eisenbahnunternehmer im 19. Jahrhundert es für sinnvoll und notwendig hielten, ihren Einfluss auf staatliche Institutionen geltend zu machen. Gewissermaßen in einem fortwährenden Kreislauf schufen Reformprozesse neue Rahmenbedingungen, die wiederum angepasste Praktiken der Interessenpolitik hervorbrachten und zu neuen Debatten führten. Staatliche Reformprozesse spiegeln aber auch Reaktionen auf Korruptionsdebatten wider und beinhalten häufig Korruptionsbekämpfung in Form kodifizierter Normen. Nachfolgend wird in einem zweiten Schritt untersucht, welche Praktiken von Eisenbahnunternehmern und Vertretern des Staates eingesetzt wurden, um ihre Interessen durchzusetzen und Einfluss auf politische Prozesse zu erlangen. Hier sollen Handlungsspielräume im politischen System aufgezeigt werden. Daran anschließend sollen in einem dritten Schritt die öffentlichen Debatten über die Interessenvertretung von Eisenbahnunternehmern analysiert werden, in denen Missbrauchsanklagen vorgebracht wurden und Grenzziehungen zwischen legitimen und illegitimen Praktiken herausgearbeitet werden. Dabei ist es nicht zwingend erforderlich, dass dieses Fehlverhalten in den Debatten auch explizit als »korrupt« angesprochen wurde. Es sollen also nicht nur Praktiken untersucht werden, die klar unter die Definition von Korruption fallen, sondern 58 Herbst: Komplexität, S. 90.

Methodisches Vorgehen

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die Definition gilt als Referenzpunkt, an dem Praktiken und Debatten abgeglichen werden. Die Praktiken der Interessenvertretung von Eisenbahnunternehmen werden als Beispiele für Methoden der personalen Netzwerkbildung untersucht, die sich unter den Bedingungen der fortschreitenden Industrialisierung wandelten. Die zentralen Akteursgruppen dieser Untersuchung sind Eisenbahnunternehmer in Großbritannien und Frankreich sowie ihre Gegenparts in staatlichen Institutionen. In der Regel waren die dominierenden Persönlichkeiten der Unternehmen die Mitglieder des Board of Directors beziehungsweise des Conseil d’Administration. Eine klare Trennung zwischen der Geschäftsführung und Aufsichtsfunktionen war in beiden Ländern während des 19. Jahrhunderts nicht üblich. Den Mitgliedern der Leitungsgremien oblag darüber hinaus nahezu ausschließlich die politische Interessenvertretung ihrer Unternehmen. Für die Untersuchung wurden Direktoren ausgewählt, deren exponierte Stellung in der Eisenbahnbranche eine gehobene Materialfülle in Aussicht stellte, und von denen aufgrund der Vorrecherchen Verwicklungen in Korruptionsdebatten bekannt waren. Eisenbahnunternehmer bildeten ausgedehnte Netzwerke, um einen möglichst großen Einfluss ihrer Unternehmen sicherzustellen, in die sie nach Möglichkeit auch Vertreter des Staates integrierten. Dies waren in erster Linie Abgeordnete verschiedener politischer Zugehörigkeit, aber auch Minister und Teile der Ministerialbürokratie. Mechanismen und Formen der Netzwerkbildung werden wesentlich durch sozioökonomische Faktoren, wie den sozialen Status, die Konfession, den ausgeübten Beruf und die politische Affiliation der untersuchten Akteure bestimmt.59 Ein sicherlich nicht zu vernachlässigender, aber für den Historiker mangels aussagekräftiger Quellen nur schwer zu erfassender Teil der Interessenvertretung fand im informellen Rahmen im Umfeld des Parlaments und der Ministerien sowie bei gesellschaftlichen Anlässen statt. Der Netzwerkansatz bietet hier die Möglichkeit, Verbindungen und Interde-

59 Wolfgang Reinhard hat alternativ den Begriff der Verflechtung für die Patronageforschung der Frühen Neuzeit eingeführt und später mit dem Konzept der Mikropolitik auch für andere Epochen erweitert. Vgl. Reinhard, Wolfgang: Freunde und Kreaturen. »Verflechtung« als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen Römische Oligarchie um 1600. München 1979 (=Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg Nr. 14); Reinhard, Wolfgang: Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung; ein Versuch. In: Historische Zeitschrift 293 (2011). S. 631–666, S. 632. Mikropolitik hat viele Vorzüge als heuristisches Konzept, wäre im Kontext dieser Arbeit allerdings problematisch zu operationalisieren, da er auch in der Wirtschaftswissenschaft und Unternehmenssoziologie verwendet wird und dort Aushandlungsprozesse innerhalb von Organisationen beschreibt. Vgl. Küpper, Willi u. Günther Ortmann: Vorwort. In: Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen. Hrsg. von Willie Küpper und Günther Ortmann. Opladen 1982. S. 7–13. Jüngst auch: Engels: Geschichte der Korruption, S. 27–32.

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Einleitung

pendenzen der beteiligten Akteure zu beleuchten und Handlungsspielräume aufzuzeigen. Grundlegend ist an dieser Stelle die Annahme, dass sich soziales Handeln in einer Interaktion zwischen Personen ausdrückt und daher in Form von Netzwerken beschreiben lässt, die jedoch als ein unterstützendes Gedankenkonstrukt verstanden werden sollen. Netzwerkanalyse im Sinne soziologisch empirischer Studien ist für die Geschichtswissenschaft in der Regel nicht möglich, da sie aufgrund der lückenhaften Quellenlage zwangsläufig unvollständig bleiben muss.60 Ihre Relevanz erhalten die Interaktionen innerhalb eines Netzwerks in der vorliegenden Arbeit allerdings erst, wenn mit dem Handeln der Akteure auch eine Gewinnerwartung auf knappe Ressourcen, zum Beispiel ökonomischen Gewinn, politischen Einfluss, oder soziales Prestige verbunden ist. Dieser Austausch kann verschiedene Formen annehmen und bewegt sich zwischen direktem Warentausch und implizitem Gabentausch. Der Gabentausch ist dabei im Unterschied zum Warentausch in einen Dreischritt aus Gabe, Annahme der Gabe und einer nicht explizit spezifizierten Gegengabe aufgeteilt.61 In Anlehnung an Pierre Bourdieus Ökonomie der Praxis können die Gewinnerwartungen in der Aussicht auf gesteigertes ökonomisches, kulturelles, soziales, und mittelbar auf symbolisches Kapital kategorisiert werden.62 Ökonomisches Kapital bezeichnet materielle Besitztümer, die relativ problemlos in Geld umgewandelt werden können.63 Kulturelles Kapital wird in erster Linie aus Bildung bezogen, die sich in akademischen Titeln ausdrücken kann und im Zuge der Professionalisierung vieler Erwerbstätigkeiten eine gesteigerte Bedeutung auch für ökonomische Erfolgsaussichten hatte. Soziales Kapital hingegen beschreibt die Ressourcen, die aus sozialen Verbindungen innerhalb eines personalen Netzwerks gezogen werden können. Konkret können dies Freundschaftsleistungen, Informationen, aber auch Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen sein, um nur einige Beispiele zu nennen. Symbolisches Kapital schließlich beschreibt die Möglichkeit, die übrigen Kapitalformen in Ansehen und gesell60 Reitmayer, Martin u. Christian Marx: Netzwerkanalyse in der Geschichtswissenschaft. In: Handbuch Netzwerkforschung. Hrsg. von Christian Stegbauer u. Roger Häußling. Wiesbaden 2010. S. 869–880, S. 869. 61 Vgl. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Mit einem Vorwort von E.E. Evans-Pritchard. Übersetzt von Eva Moldenhauer, (Erstmals erschienen 1924), Frankfurt am Main 1990. Auch: Kirner, Guido O.: Politik, Patronage, Gabentausch. Zur Archäologie vormoderner Sozialbeziehungen in der Politik moderner Gesellschaften. In: Berliner Debatte Initial 14 (2003) H. 4. S. 168–183, S. 171. 62 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Soziale Ungleichheiten. Hrsg. von Reinhard Kreckel. Göttingen 1983. S. 183–198, S. 185. 63 Ebd.

Quellen

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schaftlichen Einfluss zu überführen und nach Außen zu repräsentieren. Die verschiedenen Kapitalbegriffe stehen also in gegenseitiger Beziehung und können durch Transformationsarbeit umgewandelt werden.64 Die Kategorisierung von Ressourcen in verschiedene Kapitalformen kam im Wesentlichen während der Analysephase der Arbeit zum Tragen und diente dazu, die Parameter des Vergleichs zu schärfen. Die Korruptionsdebatten sollen heuristisch kritisch im Hinblick auf ihre Argumentationsstrukturen und die Zielsetzungen der teilnehmenden Akteure untersucht werden. In den historischen Debatten ist der nationale Vergleich häufig schon angelegt, denn Reflexion über gesellschaftliche Verhältnisse im eigenen Land findet häufig in Verbindung mit dem Vergleich mit einem Gegenpart statt. Gerade in Debatten über Korruption wurde regelmäßig der vermeintlich bessere Zustand in einem anderen Land oder politischen System als Referenz angeführt, zumeist in idealisierender Darstellung. Debatten lassen sich grob in generalisierte und spezifische Debatten unterteilen. Beispielsweise unterscheiden sich Debatten über die potentielle Korruptionsanfälligkeit bestimmter staatlicher Institutionen deutlich von Debatten, die konkrete, möglicherweise personenbezogene Praktiken und Ereignisse behandelten. Allerdings ist zu erwarten, dass sich hier auch Mischformen vorfinden, wenn spezifische Ereignisse als Beispiele für generelle Missstände angeführt wurden.65 Im Abgleich mit den Praktiken und der vorangestellten Korruptionsdefinition lässt sich Korruptionskommunikation gewissermaßen als Sonde operationalisieren, um die Entwicklung gesellschaftlicher Normen, die der Bewertung bestimmter sozialer Praktiken zugrunde liegen, zu untersuchen. Anhand von Konjunkturen in den Korruptionsdebatten lässt sich auch die inhaltliche Wandelbarkeit des Korruptionsbegriffs für die Forschung nutzbar machen.

Quellen Grundsätzlich muss sich der Historiker des Problems seiner eingeschränkten Quellenlage bewusst sein und davon ausgehen, dass die Quellenüberlieferung an sich schon einen Filter darstellt, der nur bestimmte Gruppen erfasst und Themen wiedergibt. Minister und andere politische Amtsträger hatten in der Regel wenig Interesse daran, Aufzeichnungen zu hinterlassen, die einen detaillierten Einblick in ihr Handeln ermöglicht hätten.66 Das Gleiche gilt auch für die Leiter 64 Ebd., S. 195. 65 Vgl. dazu Asch, Emich u. Engels: Einleitung, S. 21. 66 »It is … a delusion of archive searchers, … , to suppose that ministers and under-secretaries

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der großen Wirtschaftsunternehmen, die ebenfalls mit gesteigertem öffentlichem Interesse an ihrer Person rechnen mussten. Was für die Geschichtswissenschaft allgemein gilt, trifft insbesondere auch auf die historische Korruptionsforschung zu. Denn in der Regel waren schon die historischen Akteure darum bemüht, möglichst wenige Zeugnisse ihres Handelns zu hinterlassen, die sie potentiell kompromittieren konnten. Dies machte sich insbesondere für die Teilbereiche bemerkbar, die die Praktiken der Interessendurchsetzung behandeln. Die Unternehmensunterlagen, die in beiden Ländern nach den Verstaatlichungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Staatshand übergegangen sind und in Frankreich in der Dependance des Nationalarchivs Monde du Travail in Roubaix (AN Roubaix) und in Großbritannien in den National Archives (NA, Kew) in Kew konsultiert wurden, sind meist für Fragen der Interessendurchsetzung der Unternehmen nicht sehr aussagekräftig. Für die Vernetzungspraktiken der Eisenbahnbranche wurde daher auf eine Mischung aus politischer und wirtschaftlicher Berichterstattung in den großen Tageszeitungen, Firmenunterlagen und Sekundärliteratur zurückgegriffen. Die Korruptionskommunikation lässt sich bedeutend einfacher nachverfolgen. Da es sich bei den untersuchten Debatten in der Regel um öffentliche politische Diskurse handelte, konnte für sie zum größten Teil auf publizierte Quellen zurückgegriffen werden. Dies waren in erster Linie die öffentlichen Parlamentsdebatten, Tageszeitungen, Pamphlete und zeitgenössische Monographien. Den Parlamenten kommt für die Korruptionsforschung eine doppelte Bedeutung zu. Zum einen sind sie im 19. Jahrhundert einer der bedeutendsten Verhandlungsorte politischer und sozialer Normen, die im Zuge des Gesetzgebungsprozesses auch kodifiziert wurden. Zum anderen waren Parlamentarier auch häufig das Ziel von Korruptionsvorwürfen. Die Parlamentsdebatten hatten während des 19. Jahrhunderts eine hohe Bedeutung für die Meinungsbildung der Parlamentarier und wurden auch in der Bevölkerung mit hoher Aufmerksamkeit verfolgt.67 Die überregionalen Tagesszeitungen gaben sie häufig in voller Länge wieder. Für Großbritannien liegen die Parlamentsdebatten in der Hansard Edition geschlossen vor, sind mittlerweile vollständig digitalisiert und online zugänglich. Ähnliches gilt für viele große Tageszeitungen des 19. Jahrhunderts, die über die Onlineportale sowohl der französischen wie auch der britischen are careful to leave behind them all the documents required for a verdict on their actions. They are at least as likely to be careful not to do so.« Kiernan, Victor G.: Marxism and Imperialism. Studies by V. G. Kiernan. London 1974, S. 74. 67 Vgl. hierzu: Rödder, Andreas: Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne (1846–1868). München 2002 (=Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts in London 52), S. 32.

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Nationalbibliothek einsehbar sind. Spätestens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Presse ihren Siegeszug als eigenständige politische Macht angetreten und stellt somit auch einen selbstständigen Akteur im politischen Prozess dar, der eigene politische Ziele verfolgte. Die Times als auflagenstärkste und unbestreitbar einflussreichste Tageszeitung Großbritanniens spielt eine zentrale Rolle, in dem Bemühen, sich der Stimmung in der britischen Öffentlichkeit anzunähern. Weitere einflussreiche Zeitungen, wie etwa der liberal-radikal ausgerichtete Spectator und der Morning Chronicle, wurden ergänzend hinzugezogen. Die französischen Parlamentsdebatten liegen leider bisher nicht als geschlossene Edition vor. Für die Julimonarchie können sie jedoch relativ gut über die Berichterstattung der Tagespresse nachverfolgt werden. Während des Zweiten Kaiserreichs war die Publikation der Debatten zunächst komplett untersagt und in späteren Jahren nur nach Vorzensur möglich. Wichtige Zeitungen in Frankreich waren das Journal des D¦bats, La Presse, sowie die Le Constitutionnel und Le Siecle, die über die Jahre verschiedene politische Ausrichtungen vertraten und mit den Regimewechseln zwischen Opposition und Regierungstreue hin und her schwankten. Am steigenden Einfluss der Presse konnten auch Bemühungen der politischen Eliten in Frankreich, durch Lenkung und Zensur Einfluss zu nehmen, nicht nachhaltig etwas ändern. Dennoch lässt sich gerade für die autoritäre Phase des Zweiten Kaiserreichs ein deutlicher Rückgang kritischer Berichterstattung feststellen. Um diese Lücke zumindest teilweise zu schließen, wurde vermehrt auch auf britische Berichterstattung zurückgegriffen, die wesentlich freier über politische Ereignisse in Frankreich berichten konnte. Ein spezielles Subgenre der Presse stellen die wöchentlich erscheinenden Eisenbahnjournale dar, die in beiden Ländern ab den 1830er Jahren erschienen und im National Archive in Kew sowie der BibliothÀque Nationale in Paris zu ausgewählten Themenbereichen konsultiert wurden. Im Zusammenspiel mit Artikeln in der allgemeinen Presse stellten sie das wichtigste Mittel der Eisenbahnbranche dar, um ihre Interessen zu artikulieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen.68 Als besonders ertragreiche Quellengattung, deren Durchsicht häufig aussagekräftige Erkenntnisse geliefert hat, erwies sich die Pamphlet-Literatur, die sowohl in Großbritannien wie auch in Frankreich im 19. Jahrhundert weit verbreitet war und von politischen Akteuren quasi jeder Couleur genutzt wurde.

68 Martin, Marc: Presse, publicit¦ et grandes affaires sous le Second Empire. In: Revue Historique 256 (1976) 2. S. 343–383, S. 344.

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Einleitung

Aufbau Das Buch orientiert sich hinsichtlich seiner Darstellung an dem methodischen Vorgehen mit seiner Unterteilung in die politischen Rahmenbedingungen, Praktiken der Netzwerkbildung und Korruptionsdebatten. Weitere Struktur erhält es durch die verschiedenen staatlichen Instanzen, mit denen die Eisenbahngesellschaften im Austausch standen. Es unterteilt sich daher in jeweils einen Hauptabschnitt zur Legislative und einen zur Exekutive. Die einzelnen Kapitel der Hauptabschnitte schließen jeweils mit einem kurzen Zwischenfazit, in dem die Ergebnisse im Vergleich abgeglichen werden. Der erste Hauptteil zur Legislative behandelt auch den politischen Hintergrund und bereitet damit zugleich den Rahmen für den zweiten Teil zur Exekutive. Die ersten drei Kapitel zur Legislative sind nach spezifischen Themenbereichen der Interessenpolitik angeordnet und folgen daher einer leicht asynchronen chronologischen Abfolge, um der Entwicklung der Eisenbahnbranche in beiden Ländern Rechnung zu tragen. Das erste Kapitel behandelt Methoden der Interessendurchsetzung im Parlament während der Pionierphase des Eisenbahnbaus in Großbritannien bis 1844 und bis 1848 in Frankreich. In dieser Phase mussten sich die Eisenbahngesellschaften auf dem politischen Parkett etablieren und waren vornehmlich mit branchenfremder Opposition konfrontiert. Das zweite Kapitel nimmt die Auswirkungen und Bewertung des Aktienkapitalismus anhand von Spekulationsphasen in den 1840er Jahren in den Blick. Dabei richtet sich besonderes Augenmerk auf Fragen der Wirtschaftsethik, die Delegitimierung von neuen Wirtschaftspraktiken und die mögliche Rolle der Parlamente als regulierende Instanz des Finanzmarktes. Außerdem wird die Instrumentalisierung von Korruptionsvorwürfen durch antikapitalistische Autoren, insbesondere frühsozialistischer Provenienz untersucht und wirtschaftsliberale Reaktionen auf diese Angriffe dargestellt. Das dritte Kapitel behandelt wirtschaftliche Entwicklungen der 1850er und 1860er Jahre und wie sie zu spezifischen Formen der Interessenpolitik führten. In beiden Ländern wurden regionale Monopole der großen Eisenbahngesellschaften zum Gegenstand ausgedehnter politischer Debatten, in denen Korruptionsvorwürfe eine bedeutende Rolle spielten. Außerdem richtet es den Blick darauf, wie sich Praktiken der Interessenvertretung in unterschiedlichen politischen Systemen ausprägten. Die Gründung des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich bewirkte Verschiebungen der Kompetenzen und politischen Rahmenbedingungen, an die sich die Interessenvertreter der Eisenbahnbranche anpassen mussten. Kapitel vier ist der Wahlpatronage unter besonderer Berücksichtigung spezifischer Praktiken der Wahlbeeinflussung durch Eisenbahnunternehmer ge-

Aufbau

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widmet. Eine Kandidatur für das Parlament bot Vertretern der Industrie die Möglichkeit, auch formell politischen Einfluss zu erlangen. Die Eisenbahn war im 19. Jahrhundert ein ökonomischer Leitsektor und stellte einen wesentlichen Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung ganzer Wahlkreise dar. Sie ermöglichten daher Eisenbahnunternehmern spezifische Formen der Wahlbeeinflussung. Im zweiten Hauptteil zur Exekutive treten zunächst Ideen zur angemessenen Rolle des Staates und seinem Verhältnis zur Privatwirtschaft in den Vordergrund. Das fünfte Kapitel legt die Basis und steckt den politischen Rahmen ab, in dem sich die politischen Akteure bewegten. Die Zuständigkeiten der Ministerien und ihre Befugnisse werden behandelt und die Rolle generalisierter Korruptionsanklagen im Zusammenhang mit Debatten über die Legitimität staatlicher Regulierung beleuchtet. Hier geht es in erster Linie um die potentielle Korruptionsanfälligkeit der verschiedenen Institutionen im Rahmen von Debatten über Befugnisse der Ministerien. Das sechste Kapitel ist konkret den Ministern und der ihnen unterstellten Ministerialbürokratie gewidmet. Zunächst werden die Verbindungen von Ministern zur Privatindustrie aufgezeigt und untersucht, an welchen Punkten diese Netzwerke in die Kritik gerieten. In ähnlicher Art und Weise werden im Anschluss ausgewählte Akteure und Abteilungen der Ministerialbürokratie behandelt.

Teil 1: Legislative

1.

Die Pionierphase des Eisenbahnbaus – Aufstrebende und etablierte Eliten

1.1. Pioniere, Opposition und die Rolle der Legislative in Großbritannien Wenige technische Entwicklungen haben das Leben der Menschen in so tief greifender Weise verändert wie die Eisenbahn. Schienen aus Metall wurden bereits seit dem 18. Jahrhundert zur Beförderung von Rohstoffen auf kurzen Strecken zwischen Lagerstätten und den nächstgelegenen Straßen oder Kanälen eingesetzt. Doch erst im Zusammenspiel mit mobilen Dampfmaschinen entfalteten sie ihr volles Potenzial und entwickelten eine Bedeutung für den Warenund Personentransport, der über die lokale Ebene hinausreichte. Die Einführung der Eisenbahn im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts revolutionierte das Transportwesen Europas und brachte kaum zu überschätzende wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen mit sich.69 Der Erfolg der 1825 eröffneten Stockton and Darlington Railway in Großbritannien markierte den Auftakt des Eisenbahnbaus in einem größeren Maßstab.70 Schon bald entstanden weitere Projekte, die zum Ziel hatten, den Warentransport zwischen aufstrebenden Industrieorten zu verbessern. Die Initiative zum Bau dieser ersten überregionalen Eisenbahnen ging von kaufmännischen Interessengruppen aus, deren wachsendem Handelsvolumen die etablierten Transportmethoden nicht mehr gerecht werden konnten. Der Bau und Unterhalt von Infrastrukturen wurde in Großbritannien traditionell von privaten Unternehmern übernommen. Bereits im 17. Jahrhundert hatte sich hier

69 Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2004 (=Fischer-Taschenbücher 14828), S. 13. 70 Kirby, Maurice W.: The Origins of Railway Enterprise. The Stockton and Darlington Railway 1821–1863. Cambridge [u. a.] 1993, S. 3.

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Die Pionierphase des Eisenbahnbaus

das System so genannter Turnpike Roads, privater Straßen, die über Wegezölle finanziert und durch Geschäftsleute unterhalten wurden, entwickelt.71 Der britische Staat überließ die Planung und Finanzierung neuer Infrastrukturen zwar weitestgehend privater Initiative, war an einigen Punkten aber gezwungen, regulierend einzugreifen und die Rahmenbedingungen für einen Interessenausgleich zwischen privaten Parteien und Rechtssubjekten zu schaffen.72 Eisenbahngesellschaften konnten nur durch eine Private Bill, ein eigenes Gesetz, ins Leben gerufen werden. In der Bill wurde der Streckenverlauf und damit die betroffenen Anrainer detailliert festgelegt und den Unternehmen das Recht zum Aufkauf und nötigenfalls zur Enteignung des benötigten Landes eingeräumt. Des Weiteren schrieb die Private Bill die Kapital- und Organisationsstruktur der Eisenbahnkompanien vor. Um einen Antrag auf Unternehmensgründung zu stellen, mussten sich die Gesellschaften im Private Bills Office des Parlaments registrieren lassen und nachweisen, dass ein bestimmter Anteil ihres benötigten Kapitals bereits über Subskriptionen gezeichnet worden war. Außerdem mussten detaillierte Pläne zum Streckenverlauf sowie eine Kostenkalkulation eingereicht werden.73 Das anschließende Bewilligungsverfahren einer Private Bill war ein mehrstufiger Prozess. Zunächst musste eine Petition durch einen Abgeordneten im Parlament eingebracht werden. Nach deren Annahme wurden in beiden Häusern des Parlaments Untersuchungsausschüsse (Committees) eingerichtet, die das Projekt prüften und Berichte für das Parlament erarbeiteten. Traditionell sollte in den Ausschüssen allen Interessensparteien die Möglichkeit geboten werden, ihren Standpunkt zu vertreten und Zeugen in eigener Sache anzuführen. Anschließend wurde die erarbeitete Private Bill im Parlament zur Abstimmung gebracht und erhielt im Falle der Bewilligung durch den Royal Assent Gesetzeskraft.74 Schon in der Frühphase des Eisenbahnbaus waren neue Projekte häufig hart umkämpft. In den späten 20er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden Verbindungen zwischen Liverpool und Manchester, London und Bristol sowie London und Birmingham geplant, konnten jedoch nur zum Teil umgesetzt werden. Unterstützt wurden die Pioniere des Eisenbahnbaus durch lokale Gebietskörperschaften und Handelskammern, die an der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Regionen interessiert waren.75 Die neu gegründeten Eisenbahngesellschaften sahen sich jedoch auch mit mehreren Oppositionsgruppen unterschiedlichster Motivationslagen konfron71 Pratt, Edwin A.: A History of Inland Transport and Communication in England. London 1912 (=National Industries), S. 32. 72 Then: Eisenbahnen und Eisenbahnunternehmer, S. 89ff. 73 Ebd., S. 90. 74 Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 363. 75 Ebd., S. 158.

Pioniere, Opposition und die Rolle der Legislative in Großbritannien

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tiert. Widerstand leisteten fortschrittsskeptische Personen und Gruppen, die teils mit abenteuerlichen Schreckensszenarien, teils aber auch mit Hinweisen auf sehr reale Gefahren gegen das neue Transportmittel zu Felde zogen.76 Opposition regte sich aber auch bei denjenigen, die aufgrund handfester ökonomischer Interessen gegen Eisenbahnen eingenommen waren. In diese Kategorie fielen vor allem konkurrierende Transportunternehmen – private Turnpike Trusts und Kanalbetreiber -, aber auch Großgrundbesitzer, über deren Ländereien die geplanten Strecken verlaufen sollten. Dabei gingen nahezu alle Oppositionsgruppen nach einem ähnlichen Muster vor. Ich vorrangiges Ziel war es, die Bewilligung neuer Strecken im Parlament gänzlich zu verhindern oder zumindest den Gesetzgebungsprozess zu verzögern und dadurch die Kosten für die Eisenbahngesellschaften in die Höhe zu treiben. Die Passage eines Private Bill durch die parlamentarischen Instanzen sicherzustellen, war daher häufig ein kosten- und zeitaufwändiges Verfahren, das einen bedeutenden Teil des Kapitals der noch jungen Unternehmen aufbrauchte.77 Die konkurrierenden Transportunternehmen nutzten zumeist technische Argumente gegen Eisenbahnen, da der praktische Nutzen der nicht ausgereiften Technik noch Anlass zu berechtigten Zweifeln gab. An diesem Punkt waren die Ingenieure der Eisenbahnunternehmen gefordert, da sie die Mitglieder der Untersuchungsausschüsse von der technischen Machbarkeit der vorgeschlagenen Projekte überzeugen mussten. Die Initiatoren der ersten Projekte arbeiteten daher eng mit Bauingenieuren zusammen, von denen einige es zu beträchtlichem Reichtum und gesellschaftlichem Einfluss brachten. George und Robert Stephenson beispielsweise wurden durch ihre Verdienste um das Eisenbahnwesen zu gefeierten Personen des öffentlichen Lebens.78 Auf lange Sicht konnten die Konkurrenten den Siegeszug der Eisenbahnen aber nicht aufhalten. Zwar gab es auch von Seiten der etablierten Fuhrunternehmen und Kanalbetreiber Bemühungen, durch Verbesserung der eigenen Infrastrukturen und reduzierte Tarife ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, diese blieben jedoch stets halbherzig und unzureichend.79 Während der 1840er Jahre wurden viele Kanalunternehmen entweder von Eisenbahngesellschaften aufgekauft oder wandelten sich selbst in Eisenbahngesellschaften um.80 76 Jackman, W. T.: The Development of Transportation in Modern England. London 1916 (=2), S. 497. 77 Judge, David: Representation. Theory and Practice in Britain. London, New York 1999 (=Theory and Practice in British Politics), S. 102. 78 Bailey, Michael Reeves: Robert Stephenson. The Eminent Engineer. Aldershot 2003, S. 3. 79 Mather, F. C.: After the Canal Duke. A Study of the Industrial Estates Administered by the Trustees of the 3. Duke of Bridgewater in the Age of Railway Building 1825–1872. Oxford 1970, S. 36. 80 Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 69.

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Die Pionierphase des Eisenbahnbaus

An vorderster Front der Opposition gegen Eisenbahnprojekte standen Mitglieder der Hocharistokratie, die über einen Titel und einen erblichen Sitz im House of Lords verfügten. Sie befürchteten eine Zerstückelung ihres Landbesitzes und nutzten ihren Sitz im House of Lords dazu, ihnen nicht genehme Projekte zu blockieren. Der Adel verfügte jedoch nicht nur im House of Lords über einen dominierenden Einfluss, denn die Söhne der Lords saßen häufig im Unterhaus, bis sie die Nachfolge ihrer Väter im Oberhaus antraten. Auch das House of Commons blieb daher bis weit ins 19. Jahrhundert in der Einflusssphäre der großen Adelsfamilien.81 Die Befürworter der Eisenbahnen sahen sich hier mit dem Widerstand von Angehörigen der einflussreichsten sozialen Gruppen des Landes konfrontiert, die eine Führungsposition in der nationalen Politik für sich in Anspruch nahmen.82 Adelige Großgrundbesitzer beriefen sich in erster Linie auf den Schutz ihres Privateigentums als Grund für ihre Opposition. Mit diesem Argument lehnten die Lords Derby und Sefton 1825 ebenso die Bewilligung der Liverpool and Manchester Railway ab, wie die Lords Clarendon und Essex die Bill der London and Birmingham Railway in den frühen dreißiger Jahren.83 Adeligen standen mehrere sowohl formelle als auch informelle Möglichkeiten offen, um den Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen. Sie konnten Juristen und Ingenieure engagieren, die Gutachten vorlegten oder als Experten aussagten und die verhandelten Projekte aus formalen oder technischen Gründen angriffen. Dieses Mittel stand grundsätzlich jeder Person offen, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügte.84 Personale Verflechtungen innerhalb der politischen Elite eröffneten jedoch auch informelle Einflussmöglichkeiten, die nur einem kleinen Kreis der Gesellschaft zugänglich waren. Die engen familiären und freundschaftlichen Verbindungen zwischen den Adelsfamilien sorgten dafür, dass einflussreiche Lords in der Regel auf die Unterstützung weiterer Lords zählen konnten, die in ihrem Sinne abstimmten.85 Zwar wurde erwartet, dass sich Parlamentarier, die ein Votum abgeben wollten, mit den Details der Bill vertraut machten und sie nach ihrem öffentlichen Nutzen bewerteten, dies scheint aber keinesfalls immer geschehen zu sein.86 Um dieser Opposition zu begegnen, legten Eisenbahnunter-

81 Jupp, Peter : The Governing of Britain, 1688–1848. The Executive, Parliament, and the People. London 2006, S. 186. 82 Rödder : Die radikale Herausforderung, S. 214. 83 Carlson, Robert E.: The Liverpool & Manchester Railway Project 1821–1831. Newton Abbot 1969, S. 71; Cannadine, David: Aspects of Aristocracy. Grandeur and Decline in Modern Britain. New Haven 1994, S. 56. 84 Clifford, Frederick: A History of Private Bill Legislation. London 1885 (=2), S. 832. 85 Report from the Select Committee on Private Business. Parliamentary Papers 1837–1838, Bd. 23. S. 7. 86 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 30. Sp. 1012–1026, Sp. 1012–1014.

Verhandlungen über Landverkäufe als Form der Interessenpolitik

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nehmen viel Wert darauf, ein möglichst umfangreiches Netzwerk sympathisierender Abgeordneter und Lords aufzubauen.87

1.2. Verhandlungen über Landverkäufe als Form der Interessenpolitik Die Verhandlungen über Landverkäufe waren eine kritische Phase für das Gelingen eines Eisenbahnprojektes. Die Direktoren der Eisenbahnunternehmen waren stets darum bemüht, zu einer Einigung mit einflussreichen Anliegern zu gelangen und dadurch parlamentarische Opposition zu brechen, auch wenn dies bedeutete, dass sie teils exorbitant überhöhte Landpreise zahlen mussten. Insofern lassen sich die Verhandlungen über Entschädigungszahlungen auch als eine spezifische Form der Interessenvertretung interpretieren. Gelang es nämlich, eine Einigung zwischen Eisenbahnunternehmern und den anliegenden Lords zu erreichen, konnten letztere sich als wertvolle Verbündete für die Unternehmen erweisen.88 Die Grand Junction Railway zwischen Birmingham und Liverpool ist eines der seltenen Beispiele, bei denen es gelang, bereits im Vorfeld des parlamentarischen Stadiums sämtliche Gegner der Linie einzubinden und eine reibungslose Passage der Bill zu erreichen.89 Besonders hartnäckiger Widerstand von Landbesitzern wurde in diesem Fall durch Streckenverlegungen gelöst, denn die ursprünglich geplante Zugangsroute nach Birmingham wurde durch einen verkaufsunwilligen Großgrundbesitzer blockiert. Der alternative Streckenverlauf war zwar um über eine Meile länger als das Original, dafür aber erheblich günstiger. Die übrigen Opponenten konnten in privaten Verhandlungen bereits vor dem parlamentarischen Stadium zufrieden gestellt werden und die Bill konnte ohne weitere Zwischenfälle in Kraft gesetzt werden.90 Entgegen der landläufigen zeitgenössischen Darstellung standen sich der Adel und die Vertreter der Eisenbahnindustrie nicht grundsätzlich ablehnend 87 »The Chairman stated he considered it of great importance to the interests of the Company that in increasing the number of Directors a proposed provision should be made that not fewer than three of the Board be members of Parliament.« London and Birmingham Railway, Protokolle der Direktoriumssitzungen, 11. 7. 1845. NA, Kew. PRO RAIL 384/6. 88 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 34. Sp. 540–558, Sp. 556–557. 89 »The directors aided Mr. Swift [parliamentary agent der Grand Junction Railway] in the removal of difficulties, by personal application to all parties who felt themselves injured, or likely to be so; and thus by tact, prudence, and perseverance, brought the projected bill through Parliament.« Freeling, Arthur : Companion to the Grand Junction Railway. London 1838, S. 13. 90 Trust, Graham: John Moss of Otterspool (1782–1858). Railway Pioneer, Slave Owner, Banker. Keynes 2010, S. 163.

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Die Pionierphase des Eisenbahnbaus

gegenüber.91 Das Verhalten vieler adeliger Landbesitzer war durchaus von pragmatischen Motiven geleitet und auf ökonomischen Gewinn ausgerichtet. Quasi für jeden Lord, der gegen eine geplante Strecke protestierte, ließe sich einer anführen, der ein Projekt unterstützte. Neben den landwirtschaftlichen Erträgen bezog der Adel in Großbritannien einen beträchtlichen Teil seines Vermögens aus der Ausbeutung von Bodenschätzen, die sich auf ihren Ländereien befanden. Eine Verbesserung der Transportwege und eine damit verbundene Kostenreduktion beim Transport der Bodenschätze und landwirtschaftlichen Produkte war also durchaus in ihrem Interesse.92 Der Earl of Fitzwilliam unterstützte 1848 die South Yorkshire Railway, weil sie den Transport der Kohle aus seinen Kohlelagerstätten beschleunigte.93 Die Earls of Dudley unterstützten den Bau von Linien zum Transport von Rohstoffen in den West Midlands und der Marquess of Bute war in die Gründung der Rhymney Railway involviert, um Kohle von seinen Lagerstätten in Glamorgan nach Cardiff zu transportieren. Der Duke of Northumberland investierte in die Border Counties Linie, um seine Erzlagerstätten und Kohlevorkommen in Plashets zu erschließen.94 Der Antagonismus zwischen dem vermeintlich »konservativen« Adel und den »progressiven« Eisenbahnunternehmern war in der Realität daher keineswegs so ausgeprägt, wie es zeitgenössische Darstellungen vermuten lassen.95 Opposition durch Vertreter der Aristokratie entstand in der Regel situationsgebunden und nur in Ausnahmefällen aus einer ideell geprägten Fortschrittsfeindlichkeit heraus motiviert. Die Angehörigen des Adels, die Eisenbahnen als Investitionsmöglichkeit und weniger als Angriff auf ihre Rechte ansahen, waren spätestens ab der zweiten Hälfte der 1840er Jahre in der Überzahl. Durch den Verkauf von Ländereien mussten Landbesitzer zwar befürchten, tendenziell an gesellschaftlichem Einfluss zu verlieren, in der Regel handelte es sich jedoch nur um einen kleinen Teil ihrer Ländereien, deren Verlust ihren gesellschaftlichen Status nicht ernsthaft bedrohte. Allerdings ließen sich viele Adelige gebührend für ihre Kooperation entlohnen. Ein gutes Beispiel für den Ablauf von Verhandlungen zwischen Eisenbahnunternehmen und adeligen Anliegern bietet die Gründungsphase der Liverpool and Manchester Railway zwischen 1824 und 1826. Die Verbindung zwischen der 91 Freeman, Michael J.: Railways and the Victorian Imagination. New Haven [u. a.] 1999, S. 29. 92 Jupp: The Governing, S. 187. 93 Palmer, Marilyn u. Peter Neaverson: Industry in the Landscape, 1700–1900. London 1994, S. 8. 94 Cannadine: Aspects of Aristocracy, S. 57. 95 Smiles, Samuel: Brief Biographies. Boston 1860, S. 83; Bagehot, Walter : The English Constitution. Cambridge 2001, S. 123; Geoffrey Alderman hat die politische Ausrichtung von Eisenbahndirektoren untersucht und kommt zu dem Schluss, dass liberale Ansichten zwar überwogen, aber keineswegs dominierten. Alderman: The Railway Interest, S. 11.

Verhandlungen über Landverkäufe als Form der Interessenpolitik

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aufstrebenden Industriemetropole und dem bedeutenden Seehafen war die erste Eisenbahnstrecke Großbritanniens, die potenziell einen überregionalen Einfluss ausüben konnte und wurde konzipiert, um Engpässe im Warentransport im Nordwesten Englands zu beseitigen. Als Pionierunternehmen musste sie eine Reihe von Widerständen überwinden, mit denen sich spätere Unternehmen nicht mehr oder nur in geringerem Umfang konfrontiert sahen. Die Opposition gegen das Projekt organisierte sich vornehmlich um Lord Stafford, einen der bedeutendsten Landbesitzer Großbritanniens, dessen Ländereien direkt vom geplanten Streckenverlauf betroffen waren. Lord Stafford war darüber hinaus der Besitzer des Bridgewater Canal Trust, der bisher den Warentransport zwischen den Flüssen Irwell und Mersey kontrolliert hatte. Er hatte daher in mehrfacher Hinsicht Grund, die geplante Eisenbahnstrecke abzulehnen und seinen Einfluss im House of Lords gegen das Projekt zur Geltung zu bringen.96 Lord Stafford wurde in seiner Opposition durch zwei weitere adelige Landbesitzer in Lancashire, Lord Derby und Lord Sefton unterstützt. Die Direktoren der Liverpool and Manchester Railway versuchten, eine außerparlamentarische Einigung mit den beiden Lords zu erzielen und nahmen Änderungen am geplanten Streckenverlauf vor, um Beeinträchtigungen ihrer Ländereien zu minimieren.97 Die Verhandlungen mit den Lords wurden im Frühjahr 1825 auf informellem Wege durch drei Direktoren aus Liverpool, John Moss, Joseph Sandars und Charles Lawrence, geführt. Ihnen wurden Aktien zugeteilt, mit dem Auftrag, sie »most beneficial to the undertaking« zu verwenden.98 Zunächst konnte jedoch keine Einigung erzielt werden und der erste Antrag der Organisatoren der Liverpool and Manchester Railway für eine Private Bill 1825 kam nicht über die Anhörung im Ausschuss hinaus und musste zurückgezogen werden.99 Schon wenige Wochen später wurde erneut eine informelle Verhandlungsgruppe bestimmt, diesmal bestehend aus Moss, Lawrence, Sandars sowie Henry Booth und Robert Gladstone, dem Bruder des späteren Premierministers William Gladstone. Auch diesmal wurde den Verhandlungsführern – ähnlich vage wie beim ersten Mal – »full power to obtain the act« gegeben.100 Der Schlüssel zum Verhandlungserfolg für die Direktoren der Linie bestand darin, dass sie Lord Stafford zur Übernahme von 1.000 Aktien im Wert von über 100.000 Pfund bewegen konnten. Welchen Preis Stafford für die Aktien bezahlte, blieb jedoch unklar. Gerüchten zufolge zahlte er nur den Ausgabepreis, der ungefähr die Hälfte des aktuellen Wertes der Aktien betragen hätte, was ihm

96 97 98 99 100

Mather : After the Canal, S. 36. Trust: John Moss, S. 129. Brief von John Moss an John Gladstone 4. 12. 1824. Zitiert nach: ebd., S. 122. The Leeds Mercury (11. 6. 1825), S. 3. Brief von John Moss an John Gladstone 2. 7. 1825 . Zitiert nach: Trust: John Moss, S. 128.

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einen Gewinn von rund 50.000 Pfund eingebracht hätte.101 Ursprünglich sahen die Regularien des Unternehmens eine Begrenzung auf zehn Anteile pro Person vor. Um die Unterstützung von Lord Stafford im Parlament zu sichern, wurde diese Begrenzung jedoch aufgehoben.102 Die Einigung wurde schließlich durch den liberalen Abgeordneten von Liverpool, William Huskisson, angebahnt, der in seiner Jugend der Privatsekretär von Lord Stafford gewesen war und nun seine persönlichen Verbindungen zugunsten des Unternehmens einsetzte.103 Huskisson war auch der vehementeste Fürsprecher der Liverpool and Manchester Railway im House of Commons. Er hatte sich mit Nachdruck für die Begrenzung der Anteile auf 10 Aktien pro Person ausgesprochen, um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass das Projekt nicht allein aus dem Profitstreben einzelner Unternehmer heraus, sondern zum Nutzen der Allgemeinheit ins Leben gerufen worden war. Dem von den Grundbesitzern eingeforderten Recht auf die Unversehrtheit ihres Privatbesitzes versuchte er einen Anspruch des Eisenbahnbaus auf Gemeinnützigkeit entgegenzusetzen. Dass Huskisson die von ihm selbst propagierte Klausel aufgeben musste, um den Widerstand von Lord Stafford zu brechen, verdeutlicht, unter welchem Druck die Liverpool and Manchester Railway durch die Opposition der Landbesitzer stand. Erst durch das Einlenken Lord Staffords war der Widerstand der Opponenten so geschwächt, dass die Passage der Bill möglich wurde.104 Auch geistliche Würdenträger scheuten sich nicht davor, ihren Sitz im Oberhaus als Druckmittel zu nutzen und mit Landverkäufen an Eisenbahnunternehmen Gewinne zu erzielen. George Henry Gibbs, einer der Initiatoren der Great Western Railway, vermerkte 1836, dass der Bischof von London, Charles James Bloomfield, eine horrende Summe für die Ländereien, auf denen der Londoner Bahnhof Paddington geplant war, verlangte.105 In einem besonders extremen Fall kaufte die Great North of England Railway 50 Morgen des Bistums Durham für 9.000 Pfund, benötigte das Land jedoch wegen einer geänderten Streckenführung im Endeffekt nicht und sah sich gezwungen, es für gerade einmal 1.300 Pfund an das Bistum zurück zu verkaufen. Wenig später wollte die Newcastle and Darlington Railway das Land kaufen, woraufhin das Bistum 12.000 Pfund forderte.106 101 Mather : After the Canal, S. 41. 102 Richards, E. S.: The Finances of the Liverpool and Manchester Railway again. In: Economic History Review 25 (1972) 2. S. 284–292, S. 286. 103 Ebd. 104 Ebd. 105 Gibbs, George Henry : The Birth of the Great Western Railway. Extracts from the Diary and Correspondence of George Henry Gibbs. Hrsg. von Jack Simmons. Bath 1971, S. 20. 106 Robb, George: White-Collar Crime in Modern England. Financial Fraud and Business Morality, 1845–1929. Cambridge 1992, S. 35.

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Der genaue Ablauf von Verhandlungen über Landverkäufe lässt sich in der Regel nur schwer nachvollziehen, da sie von externen Anwälten und mit äußerster Vertraulichkeit geführt wurden. In den Unternehmensunterlagen finden sich daher meist nur vage Informationen.107 Einen seltenen Einblick bieten die Verhandlungen zwischen der Great Western Railway und dem Pionier der Fotografie Henry Fox Talbot, der zwar nicht adelig war, als ehemaliges Mitglied des Unterhauses aber über vergleichbare Verbindungen verfügte.108 Talbot war in den 1830er Jahren Abgeordneter für Chippenham und hatte zwischen 1834 und 1835 die ersten Anträge der Great Western Railway für eine Private Bill unterstützt, da er sie als vorteilhaft für die Entwicklung seines Wahlkreises betrachtete.109 Einige Jahre später kam es jedoch wegen einer Seitenstrecke der Great Western Railway, die über Talbots Ländereien in der Nähe von Bath im Südwesten Englands verlaufen sollte, zu einem Konflikt zwischen Vertretern des Unternehmens und Talbot. Talbot verfügte zwar nicht selbst über einen Sitz im House of Lords, auch seinen Sitz im House of Commons hatte er 1835 aufgegeben, er war aber weiterhin außerordentlich gut vernetzt und nutzte seine persönlichen Beziehungen, um gegen das Projekt im Parlament vorzugehen. Er wandte sich an Lord Brougham und bat ihn um seine Unterstützung im House of Lords.110 Wegen seiner früheren Verbindung mit der Great Western Railway setzten sich der berühmte Ingenieur des Unternehmens Isambard Kingdom Brunel und der Sekretär Charles Saunders direkt mit Talbot in Verbindung, um ihn umzustimmen.111 Nach zähen Verhandlungen willigte die Great Western Railway ein, Talbot 4500 Pfund für seine Ländereien zu zahlen, jedoch nicht ohne den Hinweis, dass dies den eigentlichen Wert um das doppelte überstieg.112 Wie das Beispiel Talbots zeigt, konnten auch gut vernetzte Abgeordnete des House of Commons auf überdurchschnittliche Entschädigungen für ihren Grundbesitz bestehen. Gerade in ländlichen Gebieten, wo der Adel in der ersten Hälfte des 19 Jahrhunderts immer noch die überwältigende Mehrheit der Ländereien besaß, waren diese Fälle jedoch eher die Ausnahme.113

107 Vgl. NA, Kew. PRO RAIL 1008/56 und PRO RAIL 384/1 108 Die Korrespondenz von William Henry Fox Talbot wurde von einem Forschungsprojekt der Leicester University und der University of Glasgow transkribiert und digitalisiert. Online verfügbar unter : http://foxtalbot.dmu.ac.uk. Zuletzt geprüft am 10. 04. 2015. 109 Brief von Christian Saunders an William Henry Fox Talbot, 24. 7. 1834. 110 Brief von William Henry Fox Talbot an Lord Brougham, 13. 5. 1845. 111 Brief von Charles Alexander Saunders an William Henry Fox Talbot, 6. 3. 1845. 112 Brief von Isambard Kingdom Brunel an William Henry Fox Talbot, 10. 6. 1845; Brief von Coutts & Co an William Henry Fox Talbot, 18. 9. 1846. 113 Jupp: The Governing, S. 187.

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1.3. Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder des House of Lords Landbesitzer hatten guten Grund, Stillschweigen über ihre Verhandlungen mit den Eisenbahngesellschaften zu bewahren, denn wenn Details ihrer Vereinbarungen an die Öffentlichkeit gelangt waren, lösten sie bisweilen unangenehme Debatten aus. In regelmäßigen Abständen sahen sich adelige Großgrundbesitzer mit dem Vorwurf konfrontiert, sie hätten sich die Aufgabe ihrer Opposition im Parlament durch überhöhte Landpreise vergüten lassen.114 Daraus folgte, dass die Entschädigungszahlungen nicht den realen Wert der Ländereien repräsentierten, sondern den parlamentarischen Einfluss des jeweiligen Peers. Genau dies geschah 1837 in der Folge eines Rechtsstreits zwischen der York and North Midland Railway und John Cradock, 1st Baron Howden, wegen einer geheimen Absprache, wonach Lord Howden 5.000 Pfund als Gegenleistung für seine Unterstützung im House of Lords erhalten sollte.115 Die Zahlungen wurden als Entschädigung für ein kleines Grundstück im Besitz des Lords getarnt. Anschließend weigerte sich George Hudson, der Leiter der York and North Midland Railway jedoch, die vereinbarte Summe zu zahlen, und führte an, die Vereinbarung sei nur unter Zwang zustande gekommen. Daraufhin zog Lord Howden vor Gericht, um seine Ansprüche geltend zu machen. Der Richter der Queens Bench, dem obersten britischen Gerichtshof, gab der York and North Midland Railway recht und merkte an, dass Lord Howden als Peer eine solche Vereinbarung nicht hätte eingehen dürfen. Insbesondere durch die Geheimhaltung der Verhandlungen habe er dem Ansehen des Parlaments geschadet.116 Es lag in der Natur des Private Bill-Verfahrens, dass private Interessen als Motivation für Opposition gegen ein Projekt noch keinen Missbrauch darstellten, sich aber in einer Grauzone bewegten. Der Schutz von Privateigentum war ein hohes Gut und konnte durchaus erfolgreich als Argument gegen ein Projekt geltend gemacht werden. 1836 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Charles Vane, 3rd Marquess of Londonderry, und den Initiatoren der South Durham Railway, als sie das Recht beantragten, Teile der Ländereien des Marquess zu enteignen. Lord Londonderry ging es jedoch nicht allein um seine Ländereien und eine angemessene finanzielle Entschädigung, sondern um die Sicherung seiner wirtschaftlichen Vormachtstellung in der Region. Seine Familie hatte seit langem die Ausbeutung der bedeutenden Kohlevorkommen im County Durham unter ihrer Kontrolle und die Initiatoren der Linie wollten eben diese brechen.117 114 115 116 117

Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 25. Sp. 334–339, Sp. 337. The Times (4. 3. 1837), S. 7. Railway Times (9. 2. 1839), S. 124, 127. Arnold, A. J. u. Sean McCartney : George Hudson. The Rise and Fall of the Railway King. A Study in Victorian Entrepreneurship. London 2004, S. 75.

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Der Morning Chronicle warf Lord Londonderry daher vor, seinen Sitz im House of Lords zum privaten wirtschaftlichen Vorteil zu missbrauchen.118 Lord Londonderry rechtfertigte sich erfolgreich sowohl mit dem Verweis auf die Wahrung seines Privateigentums als auch auf den in seinen Augen nicht nachgewiesenen Nutzen des Projektes für die Öffentlichkeit.119 Gemeinsam mit John Stuart-Wortley, 2nd Baron Wharncliffe, gelang es Lord Londonderry, genug Opposition im House of Lords aufzubauen, um eine Vertagung der zweiten Lesung auf die folgende Sitzungsperiode zu erreichen und dadurch die Bill noch vor dem Ausschuss zum Scheitern zu bringen.120 Der Verweis auf den öffentlichen Nutzen ließ sich jedoch nur dann erfolgreich anbringen, wenn glaubhaft eine grundsätzliche Trennung zwischen der Privatperson und der offiziellen Stellung eines Lords dargestellt werden konnte. Als George Cadogan, 3rd Earl Cadogan, 1834 wegen seiner Opposition gegen die Great Western Railway und seiner Weigerung, Ländereien in Chelsea an das Unternehmen zu verkaufen, im House of Lords angegriffen wurde, verteidigte er sich mit der Begründung, seine Weigerung, die Ländereien zu verkaufen sei eine Entscheidung gewesen die er als Privatmann getroffen habe, und die durch seine Verbundenheit mit dem Land motiviert gewesen sei. Seine generelle Opposition gegen die Great Western Railway hingegen sei aus grundsätzlichen Erwägungen über den öffentlichen Nutzen der geplanten Linie heraus entstanden.121 Politische Unterstützung oder Opposition wurde erst in dem Moment als ein klarer Missbrauch wahrgenommen, in dem sie als käuflich erkennbar wurde und eine politische Machtposition, die noch dazu erblich und nicht durch Wahlen legitimiert war, gezielt dazu genutzt wurde, um sich persönlich zu bereichern. Die Railway Times beschwerte sich 1839, dass die Opposition vieler Lords aus Gründen des öffentlichen Interesses nur vorgeschoben sei, um ihre eigenen partikularen Interessen zu verfolgen.122 Die Times berichtete 1844, dass die Eastern Counties Railway für ihre Erweiterung von Brandon nach Petersborough gezwungen gewesen sei, dem Anlieger Lord Petre mehr als 120.000 Pfund als Entschädigung für Ländereien im Umfang von 59 Acres zu bezahlen. Der Preis stand in keinem Verhältnis zum wirtschaftlichen Wert der Ländereien. Dieser Vorgang konnte nach Ansicht der Times nicht mehr als ein »bargain«, sondern nur noch als »bribe« bezeichnet werden, die dazu gedacht war, um die 118 119 120 121

The Morning Chronicle (18. 7. 1836), S. 3. The Times (20. 4. 1836), S. 3. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 35. Sp.60, Sp. 60. Earl of Cadogan: »He had, like other men, resisted a proceeding of one of the details of the Bill, that would materially injure his property ; but he denied, that his opposition to the Bill itself arose out of any but public grounds.« In: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 25. Sp. 460–464, auch Sp. 462. 122 Railway Times (2. 3. 1839), S. 203.

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Opposition des Lords im Parlament zu beenden. Der Kommentator sah den Missbrauch nicht darin, dass Lord Petre eine Entschädigung für den Verlust seiner Ländereien erhalten hatte, oder dass er die Bill der Eastern Counties Railway blockiert hatte, um seinen Privatbesitz zu schützen, sondern einzig in der Höhe der Entschädigung, die eine ungerechtfertigte Bereicherung darstellte.123 Um Missbräuche zu definieren, mussten daher zunächst als angemessen geltende Landpreise festgelegt werden. Vertreter der Eisenbahnunternehmen bestimmten den Preis von Land nach seinem rein wirtschaftlichen Wert. Der Adel bezog im Gegenzug den Standpunkt, dass ihr Landbesitz mehr als nur ein reiner Wirtschaftsfaktor sei und nahm daher auch höhere Entschädigungszahlungen für sich in Anspruch. Ländereien, die über Generationen hinweg im Besitz einer Familie waren, spielten eine besondere Rolle im Selbstverständnis dieser Familien und bildeten die Grundlagen eines distinkten Lebensstils.124 Diese Argumentation wurde von Kritikern jedoch in Frage gestellt. 1839 veröffentlichte der Ingenieur der London and Birmingham Railway Peter Lecount einen Bericht über die Frühphase des Unternehmens, in dem er behauptete, dass Korruption und Eigeninteressen der Lords zum Scheitern der Bill im Ausschuss des Oberhauses geführt habe.125 Der einflussreiche Großgrundbesitzer Lord Howe hatte beispielsweise 1834 18.000 Pfund als Entschädigung für ein »unproduktives« Gartengrundstück erhalten.126 Die Railway Times berichtete in einer Besprechung von Lecounts Buch, dass einige nicht namentlich genannte begüterte Gegner der London and Birmingham Railway noch einen Schritt weiter gegangen waren und der Unternehmensleitung angeboten hatten, ihre Opposition gegen die Zahlung von 10.000 Pfund einzustellen. An diesem Punkt hatten sie offensichtlich eine Grenze überschritten, denn ihre aggressive Verhandlungsstrategie ließ klar erkennen, dass ihre Opposition nicht aus legitimen Gründen heraus entstanden war, sondern einzig dem Profitstreben geschuldet war. Die Direktoren der London and Birmingham Railway weigerten

123 The Times (18. 4. 1844), S. 7. 124 Gash, Norman: Aristocracy and People. Britain, 1815–1865. London 1981, S. 17. 125 »It is all very well to laugh at these things now, when the fight is over and the battle won, but when we remember the obstacles thrown, and thrown successfully, in the way of these great improvements,– the falsehoods, the ribaldry, the corruption and bribery, together with other foul manoeuvres which were set to work, only seven years ago, in the case of the London and Birmingham Railway, and by which, after all the evidence which could by any possibility be required, the bill, for enabling this great work to be constructed, was thrown out by a committee of our hereditary legislators;« In: Lecount, Peter : The History of the Railway Connecting London and Birmingham. Containing its Progress from the Commencement. London 1839, S. 101. 126 Kostal, Rande W.: Law and English Railway Capitalism. 1825–1875. Oxford 1994, S. 150.

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sich dementsprechend zu zahlen und verloren die erste Abstimmung im House of Lords.127 Der liberale Morning Chronicle vermerkte noch 1845, dass weniger bedeutende Landbesitzer hingegen häufig gezwungen gewesen seien, die Preise zu akzeptieren, die ihnen angeboten wurden, da sie weder über den politischen Einfluss, noch über die finanziellen Möglichkeiten verfügten, eine parlamentarische Opposition zu organisieren.128 Bradshaw’s Railway Gazette, eines der ersten reinen Eisenbahnjournale in Großbritannien, argumentierte ebenfalls mit einem egalitären Ansatz und forderte vergleichbare Entschädigungszahlungen für alle betroffenen Landbesitzer, ungeachtet ihres politischen und sozialen Einflusses.129 Die unterschiedliche Bewertung von Landbesitz ist ein anschauliches Bespiel für den gesellschaftlichen Wandel, der mit der Industrialisierung einherging. Die Reduktion von Landbesitz auf seinen ökonomischen Nutzen stellt einen Rationalisierungsprozess dar, der auf erheblichen Widerstand von Großgrundbesitzern traf, die teils seit Generationen bestehende Nutzungstraditionen und familiäre Verbundenheit mit dem Land als ideelle Werte anführten, die sich nicht im reinen Marktwert widerspiegelten. Ein weiterer häufig vorgebrachter Kritikpunkt war die Intransparenz des Verfahrens, denn gerade die Geheimhaltung der Verhandlungen war schwierig zu rechtfertigen und machte das gesamte Entschädigungsverfahren angreifbar. Dieser Missstand wurde auch im House of Lords wahrgenommen. Der Duke of Richmond forderte 1836, dass Antragsteller für Private Bills zu Eisenbahnlinien ihre Abmachungen mit Landbesitzern noch vor der zweiten Lesung der betreffenden Bill offen legen sollten.130 Seine Forderung fand jedoch kein Gehör und das Verfahren bot weiterhin Anlass für Gerüchte und Kritik. Spätestens ab den 1880er Jahren wurden Meinungsverschiedenheiten über Landpreise entweder durch eine unabhängige Sheriff ’s Jury oder durch Mediatoren verhandelt und nötigenfalls Preise festgelegt.131 Missbrauchsvorwürfe gegen Adelige konnten auch als taktisches Mittel verwendet werden. Herapath’s Railway Journal berichtete 1846, dass einige Eisenbahndirektoren bewusst Forderungen von Landbesitzern publik gemacht 127 Railway Times (2. 3. 1839.) S. 203. 128 The Morning Chronicle (31. 10. 1845), S. 4. 129 »… the cottage, …, of the lowly should be equally sacred with the park or mansion of the great; nor should the wealthy capitalists of England … have so compromised the high position given to them by the law, so soon as their project was declared publicly useful, as to chaffer and bargain with influence and title.« In: Bradshaw’s Railway Gazette (12. 7. 1845), S. 17. 130 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 34. Sp. 540–558, Sp. 556–557. 131 Findlay, George: The Working and Management of an English Railway. London 1889, S. 222.

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hätten, und dass schon mehrere Regierungsmitglieder über diese Skandale zum Rückzug gezwungen worden seien. Teilweise seien Berichte über überhöhte Entschädigungszahlungen aber auch gezielt lanciert worden, um diesen Eindruck noch zu verstärken.132 Fälle, in denen Vertreter der Eisenbahnindustrie aus taktischen Gründen Missbrauchsvorwürfe gegen einzelne adelige Landbesitzer erhoben, die dazu gedacht waren, den politischen Opponenten im Parlament zu diskreditieren, lassen sich aus den Quellen jedoch nur vereinzelt nachweisen. Eisenbahndirektoren griffen höchstwahrscheinlich selten zu solchen Mitteln, da sie das Wohlwollen der Anlieger nicht riskieren wollten, auf deren Kooperation in anderen Bereichen sie in der Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach noch angewiesen sein würden. In extremen Konkurrenzsituationen konnte es dennoch vorkommen, dass Gerüchte gezielt gestreut wurden, um gegnerische Projekte in Misskredit zu bringen. Bereits seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelten verschiedene Unternehmergruppen Pläne für den Bau einer Eisenbahnverbindung zwischen London und dem beliebten Seebad Brighton. Mehrere durch den bedeutenden Ingenieur John Rennie 1829 erstellte Pläne wurden jedoch wegen mangelnder parlamentarischer Unterstützung verworfen.133 1836 wurden die Planungen wiederbelebt, als in einer Sitzungsperiode sechs verschiedene Investorengruppen Anträge für eine Bill stellten. Der zeitgenössische Eisenbahnautor Francis Whishaw sah in den Beratungen über die konkurrierenden Projekte ein Paradebeispiel für die Ineffektivität des bestehenden parlamentarischen Prozedere. Seinen Berechungen zufolge hatten die beteiligten Gruppen insgesamt mehr als 190.000 Pfund allein für parlamentarische Zwecke ausgegeben.134 Im Zuge der erbittert geführten Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Antragstellern warf Nicholas Cundy, der Ingenieur einer der Investorengruppen, dem Abgeordneten von Shoreham, Sir Charles Burrell, vor, er habe seine Unterstützung für eine konkurrierende Unternehmergruppe unter der Leitung von Robert Stephenson für 15.000 Pfund verkauft. Cundy äußerte den Verdacht, die Zahlungen seien als Entschädigung für das für den Streckenbau benötigte Land von Burrell getarnt worden, das höchstens 2.000 Pfund wert sei.135 Shoreham liegt rund zehn Kilometer westlich von Brighton und Burrell besaß ausgedehnte Ländereien in der Gegend. Cundy wurde durch den Sprecher des House of Commons vernommen, allerdings nicht im Hinblick auf ein Fehlverhalten Burrells, sondern auf eine mögliche Verleumdung desselben. Die Frage nach Burrells Verhalten wurde nur nachrangig behandelt. Cundy 132 Herapath’s Journal (19. 12. 1846), S. 1602. 133 Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 51. 134 Whishaw, Francis: The Railways of Great Britain and Ireland, Practically Described and Illustrated. Second Edition, with some Additional Useful Plates. London 1842, S. 269. 135 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 35. Sp. 255–265, Sp. 256.

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rechtfertigte seine Anschuldigungen mit dem Verweis, er habe die Äußerungen in einem privaten Gespräch und im Zusammenhang mit hohen Entschädigungen, die Landbesitzer an der von Stephenson geplanten Linie erwarteten, getätigt. Er bestritt des Weiteren, jemals Andeutungen gemacht zu haben, dass die hohen Entschädigungszahlungen einen unzulässigen Einfluss auf Burrells Verhalten im Ausschuss gehabt hätten. Offensichtlich konnte er seine Anschuldigungen nicht ausreichend belegen und war nun um Schadensbegrenzung bemüht. Im Laufe der Vernehmung stellte sich heraus, dass Cundy lediglich Berichte aus den großen Tageszeitungen wiedergegeben hatte.136 Im Rückblick präsentierte die Eisenbahnindustrie ihre Frühzeit gerne als eine Periode, in der sie der Macht der Adels schutzlos ausgeliefert war und gegen die Vorurteile der Bevölkerung ankämpfen musste. In seiner Biographie über Robert Stephenson vermerkte John Jeaffreson, die Unwissenheit der Bevölkerung habe zu irrationalen Ängsten und einem negativen Ruf der Eisenbahn geführt, was wiederum dazu führte, dass die Öffentlichkeit die unredliche Opposition der adeligen Landbesitzer billigte.137 Die überhöhten Entschädigungszahlungen seien als Garant dafür gesehen worden, dass die Vertreter der industriellen Mittelschicht die politische Vorrangstellung des Adels akzeptierten und der gesellschaftliche Status Quo erhalten bliebe.138 Die Publizisten der Eisenbahnbranche präsentierten den Adel als ein korrumpierendes Element, der seine politische und soziale Vorrangstellung ausnutzte, um sich einen unzulässigen wirtschaftlichen Vorteil zu sichern. Außerdem verfügten die Eisenbahnunternehmer diesem Narrativ zur Folge noch nicht über das nötige ökonomische und politische Kapital, um mit den adeligen Landbesitzern auf Augenhöhe zu verhandeln. Sie ließen sich nicht willentlich »korrumpieren« und zogen auch keinen persönlichen Nutzen aus den Ver136 Ebd. 137 »Until the public awoke to a full sense of the benefits of the railway system, they were slow to discern the injustice and evil consequences of allowing members of the legislature to sit in judgement on cases affecting their private fortunes. Indeed, far from dreading, they found pleasure in calculating, that the decisions of committees would be given in accordance with the selfish instincts of the individuals composing those committees. … At first, therefore, as applications to Parliament for public railways increased in number, the public felt that the general interests of property were secured by the conclusions of railway committees composed of the persons through whose estates the projectors wished to carry lines.« In: Jeaffreson, John Cordy : The Life of Robert Stephenson. Late President of the Institution of Civil Engineers. London 1866 (Bd. 1), S. 268. 138 »The enormous sums that railway companies had to pay in complying with the required forms of parliamentary application, and the yet more exorbitant sums that had to be expended in buying off (under title of ›compensation‹) the opposition of influential proprietors, appeared to the general public in the light of guarantees that old interests would meet with extreme consideration from the new innovators.« ebd., S. 269.

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handlungen. Im Gegenteil seien die Direktoren stets darum bemüht gewesen, zum Wohle ihrer Unternehmen und damit auch der Anleger zu handeln. Ihnen konnte daher auch kein normwidriges Verhalten vorgeworfen werden.139 Spätestens mit der Railway Mania während der 1840er Jahre wandelte sich dieses Bild jedoch, als die Vertreter der Eisenbahnindustrie sich zu einer der mächtigsten Interessengruppierungen im Parlament entwickelten und in der Öffentlichkeit zunehmend auch so wahrgenommen wurden.140

1.4. Korruptionsbekämpfung durch Reformen des parlamentarischen Bewilligungsverfahrens Da Großbritannien als erstes Land den Eisenbahnbau in größerem Ausmaß forcierte, konnte in vielen Bereichen nur in beschränktem Umfang auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden. Angefangen bei technischen Entwicklungen, über den praktischen Ablauf des Streckenverkehrs auf komplexen Schienennetzen bis hin zur betriebswirtschaftlichen Organisation großer Aktienunternehmen musste auf vielen Ebenen Pionierarbeit geleistet werden. Auch die Gesetzgebung zum Eisenbahnbau wurde zu einem Experimentierfeld, in dem das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat immer wieder neu ausgehandelt und durch vielfältige Reformen angepasst werden musste. Als Vorlage der ersten Private Bills für Eisenbahngesellschaften wurden die Private Bills von Kanalgesellschaften herangezogen. Bei Eisenbahnprojekten waren jedoch wesentlich mehr Interessensparteien und Anrainer betroffen, als bei entsprechenden Kanalprojekten. Mit der Ausweitung des Schienennetzes traten daher die Unzulänglichkeiten des bisherigen Verfahrens stärker zu Tage. Es bestand die offensichtliche Notwendigkeit, das bisherige Prozedere zu verschlanken und ausufernde Kosten für parlamentarische Auseinandersetzungen zu reduzieren. Welches Ausmaß die Verhandlungen in den Ausschüssen annehmen konnten, verdeutlicht das Bewilligungsverfahren der Great Western Railway. Die erste Anhörung im Ausschuss des House of Commons von 1834 erstreckte sich über 57 Sitzungstage. Im House of Lords wurde die Bill jedoch auf das Betreiben adeliger Landbesitzer hin abgelehnt. Für eine erneute Verhandlung musste die nächste 139 »They were the agents of the shareholders; and were bound to forward their interests. The principle case to them was nothing. They were bound to get the Act at the cheapest possible rate, and if law gave the rich opponents the power of practically stopping the progress of the line, and those opponents chose to avail themselves of the law, the shame rests with the proprietor of the soil, and not with the promoter of the rail.« In: Francis, John: A History of the English Railway. Its social Relations & Revelations. 1820–1845. London 1968 repr. von 1851 (Bd.1), S. 216. 140 The Times (17. 11. 1845), S. 1.

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Sitzungsperiode des Parlaments abgewartet werden. Im darauf folgenden Jahr wurde ein weiterer Ausschuss gebildet, der nochmals 40 Tage lang tagte. Die parlamentarischen Kosten der Great Western Railway beliefen sich allein für das Jahr 1835 auf über 88.000 Pfund.141 Das Ansinnen, vermeintliche Missbräuche einzudämmen und als illegitim angesehene Einflussnahme auf den parlamentarischen Prozess zu minimieren, spielte jedoch eine mindestens ebenso bedeutende Rolle in den Reformdebatten der Pionierzeit des Eisenbahnbaus. Die Eingriffe des Eisenbahnbaus in das öffentliche Leben waren zu gravierend, als dass die Vergabe von Private Bills noch als rein private Angelegenheit gelten konnte. Vielmehr musste auch der öffentliche Nutzen in Betracht gezogen werden, der scheinbar zugunsten privater Interessen vernachlässigt worden war.142 Im Parlament galt das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten mit persönlichem Interesse an einer verhandelten Private Bill von jeher als angreifbar und konnte nach Beschluss für ungültig erklärt werden. Ein festes Regularium, etwa in Form einer Standing Order, in welchen Fällen Parlamentsmitglieder von der Abstimmung ausgeschlossen werden konnten, bestand jedoch nicht. Ende des 19. Jahrhunderts stellte ein Ausschuss fest, dass von dieser informellen Regelung nur äußerst selten Gebrauch gemacht wurde.143 1844 versuchte der Abgeordnete Robert Wallace während der Abstimmung über den Gesetzesantrag von William Gladstone die Stimme von Charles Russell, dem Vorsitzenden der Great Western Railway wegen persönlicher Interessen für ungültig erklären zu lassen. Sein Antrag wurde jedoch mit einer überdeutlichen Mehrheit von 186 zu 98 Stimmen abgelehnt.144 Hier zeigt sich der schmale legitimatorische Grat, auf dem sich die Praxis der Vertretung von partikularen Interessen im Parlament bewegte, sehr deutlich. 141 Then: Eisenbahnen und Eisenbahnunternehmer, S. 102. 142 Pierce Mahoney : »The mode in which the Committees for Private Bills are selected constitutes the greatest evil. I can not figure myself a more objectionable tribunal than a Committee on a Private Bill. The result depends solely on the canvass of the Members; and as to merits, they weigh little upon a division;« Report from the Select Committee on Private Bill Fees, with Minutes of Evidence. Parliamentary Papers. 1834, Bd. 11. S. 96. 143 »It appears from the evidence thus obtained, that the vote of a Member, either in the House or in a Committee, upon any question in which he has a direct personal or pecuniary interest of a private and particular, and not of a public or general nature, has always been liable to be disallowed. But the general feeling of the House, guided by Members of such authority as Sir Robert Peel and Mr. Canning, has been opposed to any precise definition of this principle, by a Standing Order or otherwise, on the rare occasion when any suggestions of the kind have been made; and the principle has been left to be interpreted from time to time, with more or less precision by Speakers and Chairmen of Committee, and applied by the House itself at its discretion, in any particular case that might arise.« Report from the Select Committee on Members of Parliament (Personal Interest). Parliamentary Papers. 1896, Bd. 11. S. 3. 144 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 76. Sp. 626–684, Sp. 682.

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Für Abgeordnete war es selbstverständlich, Projekte zu unterstützen, von deren allgemeinem Nutzen sie überzeugt waren, denn nur so konnte das Private BillVerfahren funktionieren. Lord Grenville Somerset bekannte 1836 ganz offen, er sei von der Great Western Railway um Unterstützung gebeten worden. Als Grund für seine Bereitschaft, diese auch zu gewähren, gab er an, er sei überzeugt, es handele sich bei dem Projekt um eine Strecke von großer nationaler Bedeutung.145 Problematisch wurde die Rechtfertigung des eigenen Handelns allerdings, wenn die Motive unklar waren. Es war häufig eine Frage der Interpretation, wo legitime Interessenvertretung, zum Beispiel im Dienste des eigenen Wahlkreises, aufhörte und wo die Verfolgung eigennütziger Ziele begann. Diese Problematik blieb das gesamte 19. Jahrhundert hindurch bestehen und sorgte für regelmäßig wiederkehrende Debatten. Der Schwerpunkt des Private Bill-Verfahrens lag seit Beginn des Eisenbahnbaus in parlamentarischen Ausschüssen, da die Fülle der eingereichten Anträge eine detaillierte Diskussion in zweiter Lesung unpraktikabel werden ließ. Die meisten Abgeordneten mussten für ihre Meinungsbildung auf die Empfehlungen der Ausschüsse zurückgreifen, da die Zeit fehlte, sich in jedem einzelnen Fall selbstständig mit den nötigen Fakten vertraut zu machen, um eine qualifizierte Entscheidung fällen zu können.146 Insbesondere die Zusammensetzung dieser Gremien wurde zum Gegenstand von Kritik.147 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren sogenannte Open Committees üblich gewesen, deren Mitgliederzahl nicht limitiert war. Es stand jedem Abgeordneten und Lord zu, nach eigenem Ermessen an den Sitzungen und Diskussionen teilzunehmen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde dieses Verfahren reformiert und die Teilnahme an Ausschüssen über Listen geregelt. Dennoch änderte sich an der grundsätzlichen Problematik nicht viel, da die Anzahl der Mitglieder weiterhin unbeschränkt blieb.148 Auch war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Neutralität noch kein zwingendes Kriterium für einen Sitz in einem Ausschuss. In den Anwesenheitslisten finden sich auffällig häufig die Namen von Abgeordneten wieder, die entweder aus Regionen stammten, die direkten Bezug zu der verhandelten Private Bill oder ein finanzielles Interesse an dem Projekt hatten.149 Die Einflussnahme geographisch-partikularer Interessengruppen auf die britische Politik war weitestgehend akzeptiert und wurde häufig als notwendig 145 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 21. Sp. 1352–1362, Sp. 1352. 146 Rydz, D. L.: The Parliamentary Agents. A History. London 1979 (=Studies in History / Royal Historical Society No. 17), S. 87. 147 Report from the Select Committee on Private Bill Fees, with Minutes of Evidence. Parliamentary Papers. 1834, Bd. 11. S.1049. 148 Clifford: A History, S. 828. 149 Parris: Government, S. 21.

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erachtet.150 Dies bedeutet jedoch nicht, dass keine Kritik an diesem Verfahren geübt wurde. Die entscheidende und schwierig zu lösende Frage im Zusammenhang mit parlamentarischen Ausschüssen war und blieb, wo legitime regionale Interessenvertretung aufhörte und unzulässige private Interessen begannen. Bereits während des 18. Jahrhunderts gab es Bestrebungen von Seiten politischer Reformer, die Einflussnahme durch Parlamentarier mit privaten Interessen in den Untersuchungsausschüssen zu unterbinden. Spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatte sich die Ansicht durchgesetzt, dass parlamentarische Gremien ein Höchstmaß an Neutralität aufweisen sollten. Private Bills machten im 18. Jahrhundert jedoch nur einen vergleichsweise kleinen Teil der parlamentarischen Arbeit aus und Reformen wurden nicht mit Nachdruck verfolgt.151 Dies änderte sich mit dem zunehmenden Arbeitsumfang durch Verhandlungen über neue Eisenbahnprojekte. Hinzu kam die allgemeine Reformstimmung der 1830er Jahre in Großbritannien. Der Reform Act von 1832 war ein Meilenstein auf dem Weg der Modernisierung des britischen Parlamentarismus und das Produkt eines politischen Aushandlungsprozesses, der stark durch die Old Corruption-Debatten geprägt worden war.152 Radicals griffen nun auch das Thema der Zusammensetzung parlamentarischer Ausschüsse auf und arbeiteten es in ihren Kanon von Reformforderungen mit ein. Bereits 1824 brachte Joseph Hume, der sich als energischer Kritiker von Staatsausgaben einen Namen gemacht hatte, das Thema im Unterhaus zur Sprache und forderte, Abgeordnete mit privaten Interessen von der Mitarbeit in Ausschüssen auszuschließen, um eine gerechtere Entscheidungsfindung zu ermöglichen und das Ansehen des Parlaments zu bewahren.153 Die Grundidee seines Antrags fand im Parlament allgemeine Zustimmung, jedoch wurde die praktische Umsetzbarkeit einer solchen Regelung in Zweifel gezogen. Es war keineswegs klar, wie genau private Interessen zu definieren seien und welche Kontrollmechanismen notwendig wären, um eine solche Re150 Eastwood, David: Parliament and Locality. Representation and Responsibility in LateHanoverian England. In: Parliamentary History 17 (1998) H. 1. S. 68–82, S. 1. 151 McGill, Barry : Conflict of Interest. English Experience 1782–1914. In: The Western Poltitical Quarterly 12 (1959) 3. S. 808–827, S. 810. 152 Zur Bedeutung der Old Corruption Debatten für die Reformen von 1832 siehe: Harling, Philip: The Waning of »Old Corruption«. The Politics of Economical Reform in Britain, 1779–1846. Oxford 1996. 153 Joseph Hume: »That it be a standing order of the House, that no member shall vote in any committee above stairs on any question where his pecuniary interest is directly concerned, as in bills for establishing Dock Companies, Canal Companies, Joint-stock Companies, of which he shall be a member, or for enclosures of commons, making of roads, when the measure is expected to confer pecuniary advantage, or to diminish pecuniary loss to him.« In: Parliamentary Debates (Hansard). 2nd Series. Bd. 11. Sp. 910–918, Sp. 913; Zu Humes Partizipation an der »Old Corruption«-Debatte siehe: Harling: The Waning, S. 173.

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gelung durchzusetzen. Befürworter des etablierten Verfahrens verwiesen zusätzlich auf den Nutzen genauer Kenntnisse der lokalen Verhältnisse, die Abgeordnete aus den betroffenen Counties und Boroughs mitbrachten.154 1825 wurde ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, um sich mit der Problematik zu befassen. Er kam zu dem Schluss, dass der Einfluss persönlicher Interessen auf die Entscheidungen der Ausschüsse zu Private Bills unterbunden werden sollte. Die Umsetzung dieser Erkenntnis gestaltete sich aber erneut schwierig, da Abgeordnete nicht zu einer Mitarbeit verpflichtet werden konnten, an denen sie kein Interesse hatten.155 Da die meisten Parlamentarier der viktorianischen Ära keine Berufspolitiker waren, sondern ihren Lebensunterhalt aus anderen Quellen bezogen, war die Zeit, die sie parlamentarischen Aufgaben widmen konnten, limitiert. Daraus ergab sich ein weiteres Problem des Private Bill-Verfahrens zu dieser Zeit. Es war gängige Praxis, dass Parlamentarier nur zu den Abstimmungsterminen in Ausschüssen erschienen und ihre Stimme abgaben, ohne die Beweisaufnahme verfolgt zu haben.156 Dadurch wurde die Objektivität der Entscheidungen weiter beeinträchtigt und Verbindungen sowie persönlicher Einfluss zu entscheidenden Kriterien, die über Erfolg oder Misserfolg eines Antrages entschieden. 1834 forderte George Sinclair, ein reformorientierter Tory und enger Vertrauter Humes, die Offenlegung aller Kosten und Anwesenheitslisten für parlamentarische Ausschüsse, da er Verschwendung staatlicher Gelder vermutete.157 Der liberale Abgeordnete Sir Harry Verney ging zwei Jahre später noch einen Schritt weiter und forderte eine komplette Reorganisation des Private BillVerfahrens.158 Allerdings erfuhr sein Vorschlag nicht die nötige Unterstützung und musste zurückgezogen werden. Bis zur Mitte der 30er Jahre wurden weitere Anträge gestellt, die den Einfluss der ad-hoc gebildeten Ausschüsse reduzieren und der Regierung weitreichendere Befugnisse verleihen sollten. Sie beruhten allerdings auch weiterhin auf der Initiative von Einzelpersonen und es fehlte ihnen der Rückhalt einer breiten Mehrheit im Parlament.159 Das House of Lords wurde schließlich zum Vorreiter in Bezug auf die Reformen des Private Bill-Verfahrens. 1837 wurde die Anzahl der Mitglieder in 154 Parliamentary Debates (Hansard). 2nd Series. Bd. 11. Sp. 914. 155 »Abstractedly considered, that mode would undoubtedly be most desirable which should assimilate committees, by a limitation of numbers and an exclusion of all bias from interest, to the form and character of juries.« Report from the Select Committee on the Constitution of Committees on Private Bills. Parliamentary Papers. 1825, Bd. 2. S. 2. 156 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 30. Sp. 1012–1026. Sp. 1012–1014. 157 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 25. Sp. 1028–1132. Sp. 1128. 158 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 36. Sp.1161–1162. Sp. 1161. 159 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 34. Sp.549–558. Sp. 549–541; vgl. auch: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 33. Sp. 977–994. Sp. 977–988.

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Ausschüssen des House of Lords auf sieben Mitglieder beschränkt und Peers mit lokalen Interessen ausgeschlossen.160 Im House of Commons war der Reformprozess deutlich langwieriger. Der Einfluss des Adels war hier nicht so deutlich zu spüren und insbesondere der Ausschluss lokaler Interessen gestaltete sich schwierig, da Abgeordnete als gewählte Vertreter ihrer Wahlkreise einen legitimen Anspruch auf Partizipation anmelden konnten. Zeitgleich mit dem House of Lords wurde 1838 auch im Unterhaus ein entsprechendes Gremium eingerichtet, das jedoch über zwei Jahre lang tagte und im Endeffekt zu keinem Konsens kam, da sich die Mitglieder nicht auf eine gemeinsame Erklärung einigen konnten. Poulette Thompson, der Leiter des Board of Trade und Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, stellte die allgemeinen Ergebnisse vor, während Joseph Hume einen eigenen Vorschlag unterbreitete. Lokale Interessen sollten nach dem Entwurf von Thompson nicht vollständig ausgeschlossen werden. Um die Neutralität der Ausschüsse dennoch sicher zu stellen, sollte jedoch ein ständiges Gremium eingerichtet werden, das die Teilnahme an einem Select Committee prüfen sollte. Parlamentarier sollten darüber hinaus zur Mitarbeit verpflichtet werden können.161 Diese Aufgabe wurde in späteren Jahren dem Board of Trade und somit der Exekutive übertragen. Hauptargument für die Reformen war, dass der Erfolg einer Bill nach dem bisherigen Verfahren nicht von ihrem allgemeinen Nutzen und Wert abhing, sondern von dem Grad an Verflechtung, den ihre Initiatoren zu ihrer Unterstützung aktivieren konnten.162 Joseph Hume hingegen forderte den kompletten Ausschluss von Parlamentariern mit lokalem oder persönlichem Interesse sowie eine Beschränkung der Ausschussgröße. Er verwies explizit auf die Reformen im House of Lords, die sich in den vergangenen zwei Jahren bewährt hätten. Robert Peel argumentierte gegen solch tiefgreifende Maßnahmen und stellte die Frage, ob solche Abgeordneten dann auch nicht mehr im Parlament abstimmen dürften. Den MPs müsse es auch weiterhin gestattet sein, sich für die Belange ihrer Wahlkreise einzusetzen.163 Im Endeffekt entschied sich die Mehrheit der Abgeordneten für Thompsons gemäßigteren Reformvorschlag. Die Times bedauerte in einem Kommentar, dass das House of Commons den Vorschlag von Joseph Hume abgelehnt hatte und dem »jobbing« in den Ausschüssen somit kein Ende bereitet würde.164 Erst in den 1840er Jahren wurde der Reformdruck hoch genug, um grundlegende Änderungen zu erzwingen. Dies lag wohl an dem wachsenden Einfluss 160 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 38. Sp. 1808. Sp. 1808. 161 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 45. Sp. 965–985, Sp. 965. 162 Report from the Select Committee on Private Business. Parliamentary Papers. 1837–1838, Bd. 23. S. 7. 163 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 45. Sp. 965–985, Sp. 976. 164 The Times (1. 3. 1839), S. 5.

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der Eisenbahnunternehmen im House of Commons. Mit dem ersten Boom des Eisenbahnbaus stieg auch die Zahl der Anträge für Private Bills stark an und durch die zunehmende Verbreitung von Aktiengesellschaften entwickelten auch breitere Bevölkerungsschichten ein (finanzielles) Interesse an den Verfahren im Parlament. In den 1840er Jahren vollzog sich auch ein Wandel der öffentlichen Wahrnehmung der Eisenbahnbranche im politischen Feld. Während die Eisenbahnindustrie in den 1820er und 1830er Jahren nur einer von vielen Industriezweigen war, entwickelte er sich innerhalb weniger Jahre zu einer einflussreichen politischen Kraft. Verkörpert wurde dieser Einfluss durch so genannte Director MPs, parlamentarische Abgeordnete, die gleichzeitig eine aktive Rolle in der Leitung eines Unternehmens spielten. Director MPs sind für die Verflechtungs- und Korruptionsforschung der Moderne ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Sie vereinten mit ihrer Doppelfunktion zwei unterschiedliche öffentliche Positionen, deren Anforderungen sich scheinbar nur schwer in Einklang bringen ließen. Zum einen waren sie als gewählte Abgeordnete Teil einer politischen Elite, die gegenüber der Wählerschaft und der Öffentlichkeit Verantwortung trug und ihnen Rechenschaft schuldig war. Zum anderen gehörten sie aber auch der sich rasant entwickelnden Gruppe industrieller Unternehmer an, die vorwiegend wirtschaftliche Interessen verfolgte. Die britischen Eisenbahnunternehmer der 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts gehörten zum überwiegenden Teil jener kleinen Elite der oberen Bürgerschicht an, die in dem relativ kurzen Zeitraum nach der Wahlrechtsreform von 1832 politische Teilhabe erlangt hatte.165 Die Doppelfunktion der Director MPs machte sie besonders anfällig für Missbrauchsvorwürfe, sie wurden aber nicht grundsätzlich als korrupt angesehen. Bezüglich der Vertretung wirtschaftlicher Interessen im Parlament selbst wurden jedoch trotz häufiger Beschwerden über illegitime Motive einzelner Abgeordneter keine Restriktionen erlassen. Eine Beschreibung des parlamentarischen Railway Interest in absoluten Zahlen ist wegen der lückenhaften Quellenlage problematisch.166 Geoffrey Alderman hat dennoch den Versuch unternommen und kommt zu dem Ergebnis, dass 1847, auf dem Höhepunkt der Railway Mania, rund 80 Director MPs über einen Sitz im Parlament verfügten.167 Die Zahl der MPs, die als Aktionäre an einem Unternehmen beteiligt waren und daher über ein persönliches Interesse verfügten, dürfte deutlich höher gewesen sein. Auch wenn die von Alderman genannte Ziffer nur einen Annäherungswert darstellt, so kann sie zumindest die Größenordnung wiedergeben, in der sich der 165 Guttsman, William L.: The British Political Elite and the Class Structure. In: Elites and Power in British Society. Hrsg. v. Philip Stanworth u. Anthony Giddens (Cambridge Studies in Sociology, 8). London 1974, S. 22–44. 166 Alderman: The Railway Interest, S. 4. 167 Ebd., S. 25.

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Interest bewegte. Der Begriff Railway Interest als abstrakte Umschreibung jener Akteure, die im Sinne der Eisenbahnunternehmen tätig waren, etablierte sich quasi mit Entstehung der Eisenbahnindustrie als eigenständige Branche und in Anlehnung an ältere Gruppierungen, beispielsweise des Shipping, Canal und Agricultural Interest.168 Als Interest Groups wurden und werden im englischen Sprachgebrauch wirtschaftliche, industrielle und religiöse Gruppierungen bezeichnet, die auf unterschiedlichen Wegen Einfluss auf politische Entscheidungen ausüben konnten. Grundsätzlich umschreibt der Begriff des Railway Interest die Interessenvertretung der Branche in ihrer Gesamtheit. Im gängigen Sprachgebrauch fiel die Differenzierung zwischen allgemeinen Brancheninteressen und den Interessen einzelner Unternehmen jedoch nicht immer trennscharf aus. Der Railway Interest trat in der Frühzeit des Eisenbahnbaus nur in Ausnahmefällen als geschlossene Gruppe auf, denn die intensive Konkurrenz zwischen den Unternehmen verhinderte zumeist ein koordiniertes Handeln. Aber schon eine ungefähre Annäherung kann den Einfluss verdeutlichen, den Eisenbahnunternehmen auf das parlamentarische System ausüben konnten. Trotz der vielfältigen Einschränkungen, denen der Railway Interest als Interessenverband in seiner Handlungsfähigkeit unterworfen war, kann festgestellt werden, dass er innerhalb von nur zwei Jahrzehnten zur bedeutendsten Interessengruppe im englischen Parlament geworden war. Director MPs waren jedoch nicht nur wegen ihres direkten parlamentarischen Einflusses von großer Bedeutung für den Aufbau eines Eisenbahnunternehmens. In der Regel waren sie hoch angesehene Persönlichkeiten, deren Name als Aushängeschild bei der Finanzierung und Repräsentation des Unternehmens von großem Wert sein konnte. Der Status und die persönlichen Verbindungen, die sie zur Geltung bringen konnten, hatten maßgeblichen Einfluss auf den Erfolg eines Unternehmens, denn ein Großteil der eigentlichen Lobbyarbeit fand nicht unmittelbar im Parlament statt, sondern spielte sich in informellen Zirkeln in seinem Umfeld ab.169 Im Falle von Director MPs wurde die Frage nach der Legitimität von Interessenvertretung besonders kompliziert. Es gelang auch in ihrem Fall nicht, eine scharfe Trennung zwischen privatem Interesse durch eine direkte finanzielle Beteiligung, welche auch Freunde und Verwandte mit einschloss, und der Vertretung der Interessen des Wahlkreises zu ziehen. Zusätzlich konnten sie sich noch auf ihre Pflicht, die Interessen ihrer Unternehmen und der Anleger zu vertreten, berufen. Die starke Zunahme konkurrierender Private Bills in den 1840er Jahren machte jedoch einen dringenden Reformbedarf offensichtlich, denn mit der zunehmenden Popularität der Eisenbahn nahm auch die öffent168 Alderman: Pressure Groups , S. 7. 169 Alderman: The Railway Interest, S. 14.

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liche Wahrnehmung der Missbräuche durch Parlamentarier zu. Dadurch wurden politische Reformen erzwungen.170 1844 wurde William Gladstone in seiner Funktion als Leiter des Board of Trade mit dem Vorsitz eines erneuten Ausschusses betraut, der Verbesserungen des Gesetzgebungsprozesses für neue Eisenbahnprojekte erarbeiten sollte. Doch schon die von Gladstone vorgeschlagene Besetzung des Ausschusses sorgte für Diskussionen. Der Einfluss der Eisenbahnunternehmen im Parlament war in den letzten Jahren stetig angewachsen und wurde zunehmend als ein Problem wahrgenommen. Gladstone wollte fünf der 15 Sitze mit Eisenbahndirektoren, unter ihnen Charles Russell von der Great Western Railway und John Easthope von der London and South Western Railway, besetzen. Dieser Vorschlag stieß im Parlament auf Kritik, weil die Interessen der nominierten Direktoren in erster Linie ihren eigenen Unternehmen gelten würden und ihre Mitgliedschaft es ihnen erlaube, die Bewertung konkurrierender Projekte unzulässig zu beeinflussen. Erneut war es Joseph Hume, der eine besonders aktive Rolle in den Debatten spielte und sich gegen eine Beteilung von Eisenbahndirektoren aussprach. Eine weitere kritische Stimme kam von Robert Wallace, einem schottischen Whig und ausgesprochenem Gegner des Railway Interest, der mehrfach Anträge einbrachte, um den Einfluss der Unternehmen im Parlament zu beschränken und Eisenbahndirektoren aus dem parlamentarischen Ausschuss auszuschließen. Auch Gladstone selbst wurde von ihm wegen seiner finanziellen Beteiligung an Eisenbahnunternehmen angegriffen.171 Gladstone berief sich erfolgreich auf die gängige Praxis in Bezug auf Eisenbahngesetzgebung und verteidigte seine Auswahl mit dem Hinweis, dass die Expertise der Eisenbahndirektoren von großer Bedeutung für die Arbeit des Ausschusses sei.172 Im März 1844 präsentierte Gladstone die Ergebnisse des Ausschusses im Parlament. Unter anderem sollte die Mitgliederzahl der Ausschüsse beschränkt werden und konkurrierende Projekte in einem gemeinsamen Verfahren verhandelt werden. Die Auswahl der Mitglieder sollte durch ein permanentes Gremium erfolgen und jedes Mitglied sollte verpflichtet werden, eine Neutralitätserklärung zu unterzeichnen.173 Die Vorschläge des Ausschusses wurden fast durchweg positiv aufgenommen und mit großer Mehrheit verabschiedet. Die Times lobte die Reformen unter dem Gesichtspunkt, dass nun endlich der Korruption durch geheimes Stimmenwerben ein Ende gesetzt würde.174 Eine der wenigen kritischen Stimmen zu 170 Jeaffreson: The Life. S. 271. 171 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 72. S. 274–275, S. 274–275; Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 77. S. 246–298, S. 246. 172 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 72. S. 286–296, S. 286–287. 173 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 73. S. 516–513, S. 516. 174 The Times (17. 6. 1845), S. 5.

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Gladstones Vorschlag kam von dem für seine exzentrischen Auftritte berüchtigten ultrakonservativen Tory Charles Sibthorp, der jeglicher Innovation und insbesondere Eisenbahnen grundsätzlich ablehnend gegenüber stand und für sich in Anspruch nahm, die Interessen der Landbesitzer zu vertreten.175 Obwohl sich der Gladstone-Ausschuss ausschließlich mit Eisenbahngesetzgebung befasste, wurden die Beschlüsse jedoch in den kommenden Jahren auf alle verhandelten Private Bills angewandt. In den folgenden zwei Jahren stieg die Anzahl zu verhandelnder Private Bills durch den Eisenbahnboom sprunghaft an und die verkleinerten und unparteiisch besetzten Ausschüsse etablierten sich schon aufgrund der zu bewältigenden Antragsfülle.176 Den Reformmaßnahmen Mitte der 1840er Jahre lagen also sowohl praktische Notwendigkeiten als auch normative Erwägungen zugrunde. Das verstärkte Bemühen um eine Rationalisierung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen fügt sich in den Rahmen der Reformpolitik der 1830er und 1840er Jahre. Diese war durch ein stetes Bemühen der etablierten politischen Elite gekennzeichnet, den Forderungen reformorientierter Radicals durch ostentative Zurschaustellung der eigenen Neutralität zu begegnen. »Disinterestedness« wurde zu einem politischen Schlagwort, das sich immer wieder auch in den Debatten über Private Bills findet.177 Trotz der vorgenommenen Reformen verstummte die Kritik an Missbräuchen des Private Bill Verfahrens auch in den Folgejahren nicht vollständig. Der Fokus der Kritiker hatte sich allerdings weg vom Adel und hin zu den Vertretern der Eisenbahnindustrie verschoben.

1.5. Pioniere, Opposition und die Rolle der Legislative in Frankreich In Frankreich fällt die Pionierzeit des Eisenbahnbaus in etwa mit der Julimonarchie zwischen 1830 und 1848 zusammen. Im Vergleich zu Großbritannien wurden die ersten dampfbetriebenen Eisenbahnstrecken mit rund zehn Jahren Verzögerung eröffnet. Auch in den Folgejahren entwickelte sich die Eisenbahnbranche deutlich langsamer als in Großbritannien oder anderen Ländern Kontinentaleuropas. Die Pioniere des Eisenbahnbaus in Frankreich hatten mit 175 Sibthorp war für seine teilweise erratischen und stets streitlustigen Beiträge im Parlament bekannt. Er war davon überzeugt, dass die Eisenbahn nur eine temporäre Erscheinung sei und die Rückkehr zu Pferdekutschen als bevorzugtem Transportmittel unmittelbar bevor stehe. 176 Williams, Orlo Cyprian: The Historical Development of Private Bill Procedure and Standing Orders in the House of Commons. S.l. 1949 (= 1), S. 62. 177 Vgl. hierzu: Harling, Philip: The Modern British State. An Historical Introduction. Cambridge 2001, S. 72.

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ähnlichen Widerständen und Problemen zu kämpfen wie ihre britischen Kollegen, diese prägten sich jedoch unter den unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anders aus. In Frankreich gab es ebenso Stimmen, die dem Eisenbahnbau aus einer modernisierungsskeptischen Überzeugung heraus feindlich gegenüber standen, und natürlich gab es auch hier Gruppen, die sie aus ökonomischen Erwägungen ablehnten.178 Die schwerwiegendsten Gründe für den verzögerten Beginn des Eisenbahnbaus in Frankreich liegen aber in anderen Bereichen. Zum einen war die französische Finanzwelt sehr zurückhaltend in ihrer Haltung gegenüber industriellen Projekten und zum anderen dauerte es lange, bis die politischen Institutionen des Landes einen Konsens über die angemessene Rolle des Staates bei der Einrichtung eines Schienennetzes erzielten.179 Befürworter der ersten Stunde waren Finanziers und Ingenieure aus dem Umfeld der Saint-Simonisten, die sich nach dem Verbot ihrer »Kirche« 1832 dem Kapitalismus verschrieben hatten.180 Sie können als die früheste gesellschaftliche Gruppe angesehen werden, die fast geschlossen Interessenpolitik im Sinne des Eisenbahnbaus betrieb.181 Paulin Talabot, Absolvent der renommierten Ingenieurs-Kaderschmiede Êcole Polytechnique und Anhänger des Saint-Simonismus setzte sich bereits 1832 für den Bau einer Eisenbahnstrecke zwischen den Bergbauzentren Alais und Grand Combe ein.182 In erster Linie intellektuelle und rhetorische Unterstützung kam von einem weiteren einflussreichen Saint-Simonisten, Michel Chevalier. Chevalier hatte ebenfalls an der Êcole Polytechnique studiert und war in den 1820er Jahren als Ingenieur im Staatsdienst mit der Kontrolle von Minen und Bergwerken betraut. 1832 veröffentlichte er sein viel beachtetes Traktat SystÀme de la M¦diterran¦e, in dem er die Utopie eines um das Mittelmeer herum geeinten Großraumes entwickelte, der Europa, die Länder Nordafrikas sowie Kleinasiens umfasste und durch ein dichtes Netzwerk verschiedener Transportmittel zusammengehalten wurde. In dieser bereits von Henri Saint-Simon in Grundzügen entworfenen und nach dessen Tod von Chevalier ausgearbeiteten Utopie, spielten die Eisenbahnen eine zentrale Rolle für den wirtschaftlichen Fortschritt Europas und der an das Mittelmeer angrenzenden Länder. Wirtschaftlicher 178 Caron: Histoire des Chemins, S. 100; Pillet-Will, Michel Fr¦d¦ric: De la d¦pense et du produit des canaux et des chemins de fer. De l’influence des voies de communication sur la prosp¦rit¦ industrielle de la France. Paris 1837, S. 385–410. 179 Affleck, Fred Norman: The Beginnings of Modern Transport in France. The Seine Valley, 1820 to 1860. Dissertation. London 1972, S. 93. 180 Jardin, Andr¦ u. Andr¦-Jean Tudesq: Restoration and Reaction. 1815–1848. Cambridge 1983 (=Cambridge History of Modern France 1), S. 177. 181 Papayanis, Nicholas: Planning Paris before Haussmann. Baltimore 2004, S. 135. 182 Noblemaire, Gustave: Hommes et choses des chemins de fer. Paris 1905, S. 1.

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Fortschritt wiederum wurde als der ultimative Heilsbringer und Garant eines stabilen Friedens in der Region gesehen. Der Eisenbahnbau bekam in diesem Kontext eine fast schon religiöse Bedeutung und wurde mit glühenden Worten gefordert.183 Pragmatischer und mit einem produktiven Unternehmergeist versehen, betrachteten die Brüder Isaac und Emile Pereire die Möglichkeiten des Eisenbahnbaus. Sie hatten bereits seit den frühen 30er Jahren eine Strecke von Paris nach Saint-Germain geplant. Die Strecke war die erste Eisenbahnlinie Frankreichs, die Paris mit dem Umland verbinden sollte und explizit für den Personenverkehr konzipiert war. Mit einer Streckenlänge von nur knapp 19 km hatte sie noch relativ bescheidene Ausmaße, konnte jedoch gut als Nukleus eines erweiterten Schienennetzes fungieren.184 Bei der Umsetzung ihres Projektes stießen die Pereires jedoch auf erhebliche Probleme. Zunächst mussten zwei wichtige Parteien überzeugt werden: Die Geldgeber aus der Hochfinanz, um dem Projekt die nötige finanzielle Sicherheit und Kredibilität zu verleihen, und die zuständigen staatlichen Stellen, ohne deren Zustimmung kein weiteres Vorgehen möglich war. Bis zu diesem Zeitpunkt hielten sich die großen Pariser Bankhäuser bei der Finanzierung von Infrastrukturen und industriellen Projekten jedoch eher zurück und konzentrierten sich auf reine Finanzgeschäfte und die Vergabe von Krediten. Die Haute Banque und insbesondere das Bankhaus Rothschild hatten seit den Napoleonischen Kriegen als Kreditgeber auf das Staatsdefizit ein Vermögen verdient und konnten durch ihre engen Verbindungen mit der politischen Elite des Landes erheblichen Druck auf die Regierung ausüben.185 Auch im Parlament wurden die Interessen der Wirtschaft während der Juli-Monarchie vornehmlich durch die großen Dynastien der Haute Banque, der Foulds, d’Eichthals, Laffittes und Thourneyssens, vertreten.186 Emile und Isaac Pereire konzentrierten sich daher von Beginn an darauf, die Leiter der Pariser Bankhäuser von ihren Plänen zu überzeugen. Dabei kamen ihnen ihre Verbindungen aus den Saint-Simonistischen Kreisen zugute.187 Mitte 183 Dunham, Arthur L.: How the First French Railways Were Planned. In: The Journal of Economic History 1 (1941) H. 1. S. 12–25, S. 12. 184 Ratcliffe, Barrie M.: The Origins of the Paris-Saint Germain Railway. Some Entrepreneurial and Financial Problems in the Launching of Railways in France in the 1830s. In: Journal of Transport History 1 (1972) H. 4. S. 197–219, S. 197. 185 Smith: The Emergence, S. 49–56 186 Jardin u. Tudesq: Restoration and Reaction, S. 141. 187 Isaac und Emile Pereire waren zu Beginn der 1820er Jahre von Bordeaux nach Paris übergesiedelt und hatten eine Anstellung bei ihrem Onkel Issac Rodrigues erhalten, der für das Bankhaus Fould tätig war. Rodrigues Sohn Olinde war der Privatsekretär von Henri Saint-Simon und führte sowohl die Pereires wie auch Gustave d’Eichthal, den Bruder des Bankiers Adolphe d’Eichthal in die Kreise der Saint Simonisten ein. Vgl. Davies, Hellen M.:

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der 1830er Jahre konnten sie mit Adolphe d’Eichthal einen prominenten Vertreter der Haute Banque für ihr Projekt gewinnen, der wiederum James de Rothschild zu Investitionen bewegte. Auguste Thurneyssen gewährte den jungen Unternehmern einen Kredit über 300.000 Franc, um die notwendige Kaution für die Konzession hinterlegen zu können.188 Der Kontakt zwischen den Pereires und d’Eichthal wurde durch ihren Onkel Isaac Rodriguez hergestellt, der im Bankhaus Fould arbeitete und die Pereires in der Pariser Finanzwelt einführte.189 Die Beteiligung Rothschilds an dem Unternehmen war nach dem Bericht von Emile Pereire nicht nur ein entscheidender Schritt für das Gelingen des Projektes, sondern stellte auch die Weichen für zukünftige Investitionsstrukturen in der Industrie allgemein.190 Zeitgleich zu den Verhandlungen mit Geldgebern mussten auch die Vertreter des Staates vom Nutzen des Projektes überzeugt werden. Als zu Beginn der 1830er Jahre in Großbritannien die ersten Eisenbahnlinien erfolgreich für den Personenverkehr geöffnet wurden, maßen ihnen die zuständigen Ministerien und die Leitung des Corps des Ponts et Chauss¦es zunächst nur eine untergeordnete Bedeutung bei.191 Noch 1836 zeigte sich Adolphe Thiers, der zwischen 1834 und 1835 Minister für öffentliche Arbeiten (MinistÀre des Travaux publics) gewesen war, äußerst skeptisch bezüglich der Zukunftsaussichten des neuen Transportmittels in Frankreich. »Eh bien! Il n’y a pas aujourd’hui huit ou dix lieues de chemins de fer

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Socialists, Bankers and Sephardic Jews. The Pereire Brothers and the Cr¦dit Mobilier. In: The Economy in Jewish History. New Perspectives on the Interrelationship between Ethnicity and economic Life. Hrsg. von Gideon Reuveni u. Sarah Wobick-Segev. New York 2011. S. 94–109, S. 99. Cameron, Rondo E.: France and the Economic Development of Europe. 1800–1914. London [u. a.] 1961 (=Evolution of International Business Vol. 4), S. 206. Davies: Socialists, Bankers, S. 98. »L’intervention de la maison Rothschild dans l’entreprise du chemin de fer de Paris — SaintGermain n’est pas seulement d’un grand int¦rÞt pour cette affaire, elle doit n¦cessairement avoir une influence d¦terminante sur la r¦alisation ult¦rieure de toutes les grandes entreprises industrielles que le gouvernement a l’intention de provoquer et d’encourager. Si gr–ce — mon interm¦diaire, cette maison puissante, qui jusqu’— ce jour avait paru vouloir se borner aux affaires purement financiÀres, vient prÞter son appui — l’industrie et aux grands travaux d’utilit¦ publique dont elle apprendra — appr¦cier la port¦e et les avantages, je croirai avoir rendu par l— un v¦ritable service — mon pays.« Brief von Emile Pereire an Alexis Legrand vom 16. 5. 1835. Zitiert nach: Autin, Jean: Les frÀres Pereire. Le bonheur d’entreprendre. Paris 1984, S. 60. Der Leiter der Ponts et Chauss¦es in den 1820er Jahren, Louis Becquey, unterstützte zwar 1826 die Brüder Seguin in ihrem Vorhaben, die erste dampfbetriebene Eisenbahn zwischen Saint-Etienne und Lyon einzurichten. Er tat dies aber vornehmlich aus persönlichen Gründen, denn Becqueys Schwiegersohn war am Unternehmen der Seguins finanziell beteiligt. Die politische Haltung der Ponts et Chauss¦es zum Eisenbahnbau spiegelt dies jedoch nicht wider. Smith Jr., Cecil O.: The Longest Run. Public Engineers and Planning in France. In: The American Historical Review 95 (1990) 3. S. 657–692, S. 666.

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en construction en France; et pour mon compte, si on venait m’assurer qu’on fera cinq par ann¦e, je me tiendrais pour fort heureux.«192 Das Augenmerk des Ministeriums lag auf dem Ausbau des Kanalsystems, in das seit dem Beginn der 1820er Jahre in einem groß angelegten Projekt viele staatliche Gelder geflossen waren.193 Im Unterschied zu Großbritannien verfügte Frankreich über eine lange Tradition öffentlichen Bauwesens, der so genannten Travaux publics, deren Ursprung sich bis weit ins Ancien R¦gime zurückverfolgen lässt. Bereits 1666 hatte Colbert Ludwig XIV. davon überzeugt, den Bau des Canal du Midi zu unterstützen und begründete damit eine Tradition öffentlich geförderter Bauvorhaben. Die staatliche Verdichtung und Zentralisierung während des Absolutismus förderte diese Entwicklung und stellte die Weichen für die wichtige Rolle, die der Staat im Eisenbahnbau spielen sollte.194 Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde das Corps des Ponts et Chauss¦es als zivile Entsprechung des militärischen Corps des Mines gegründet. Die Ingenieure und Techniker des Corps wurden seit 1747 an der Êcole des Ponts et Chauss¦es ausgebildet und waren ein zentraler Baustein der französischen Verkehrspolitik. Sie wurden dazu eingesetzt, ein umfangreiches Netz aus Kanälen und Straßen zu errichten.195 Als die infrastrukturelle und ökonomische Bedeutung der Eisenbahn sich immer klarer abzeichnete, begann man sich auch in den staatlichen Institutionen damit zu befassen, wie ein zukünftiges Bahnnetz aussehen könnte. Am 27 Juni 1832 bewilligte das Parlament 500.000 Franc für das Ministerium für Handel und öffentliche Arbeiten (MinistÀre de Commerce et Travaux publics), um einen umfassenden Plan für die Entwicklung eines kohärenten Schienennetzes zu erarbeiten. Im Unterschied zu Großbritannien, das durch seine Insellage natürliche Grenzen hatte, spielten in Frankreich von Beginn an auch militärische Erwägungen eine Rolle bei der Planung des Eisenbahnnetzes. Das Ergebnis der Untersuchung wurde unter dem Namen des Leiters der Ponts et Chauss¦es Alexis Legrand als Êtoile Legrand bekannt. Der Plan sah sechs zentrale Rumpfstrecken vor, um die Peripherie des Landes mit Paris zu verbinden. Damit war zumindest der Planungsaspekt in den Händen des Staates konzentriert. Die Finanzierung des Eisenbahnbaus hingegen blieb bis auf weiteres umstritten.196 192 Mavidal, J¦rúme u. Emile Laurent (Hrsg.): Archives parlementaires de 1787 — 1860. Recueil complet des d¦bats l¦gislatifs et politiques des Chambres FranÅaises, 14 Avril 1836 au 28 Avril 1836. Paris 1901, S. 381. 193 Geiger, Reed G.: Planning the French Canals. Bureaucracy, Politics, and Enterprise under the Restoration. Newark 1994, S. 15. 194 Dobbin, Frank: Forging Industrial Policy. The United States, Britain, and France in the Railway Age. Cambridge 1994, S. 96. 195 Smith Jr.: The Longest Run, S. 659. 196 Smith: The Emergence, S. 64.

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Die Pionierphase des Eisenbahnbaus

Obwohl schon nach wenigen Jahren klar wurde, dass der Staat allein das zum Bau und Unterhalt der Eisenbahnen benötigte Kapital nicht aufbringen konnte, dauerte die Debatte gut zehn Jahre an. Legrand war ein eiserner Verfechter des staatlichen Eisenbahnbaus und viele seiner Mitarbeiter stimmten ihm zu.197 Nach Ansicht der Ministerialbeamten waren solch elementare Bestandteile des Gemeinwohls, wie der Aufbau eines nationalen Transportwesens, zu wichtig, um sie der Initiative von profitorientierten Privatunterunternehmen zu überlassen. Die ökonomischen Zwänge und der Druck wirtschaftsliberaler Kräfte im Parlament zwangen ihn schlussendlich zum Einlenken. Mit dem Eisenbahngesetz von 1842 wurde ein vorläufiger Konsens gefunden, der einen Mittelweg zwischen dem britischen, allein auf privater Initiative beruhenden System und einem rein staatlichen System, wie es beispielsweise in Belgien praktiziert wurde, vorsah. Nach dem Gesetz von 1842 lag die komplette Planung aller Strecken in den Händen des Corps des Ponts et Chauss¦es. Gelegentlich entwickelten Unternehmer auch eigene Projekte, die dann jedoch durch ein Kontrollgremium innerhalb des Corps des Ponts et Chauss¦es, den Conseil g¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es, überprüft werden mussten. Vorschläge für neue Strecken durch private Investoren wurden nur dann akzeptiert, wenn sie sich in das Gesamtkonzept einfügten.198 Der Staat besorgte die Einrichtung der Infrastrukturen. Er ebnete das Gleisbett und baute Brücken und Tunnel. Private Unternehmen legten die Gleise, bauten die Gebäude und waren für den Betrieb und Unterhalt der Linien verantwortlich. Die Strecken wurden zeitlich begrenzt an private Unternehmen konzessioniert, die für Unterhalt und Betrieb zuständig waren. Dies sollte der Regierung die Option einer späteren Verstaatlichung offen halten.199 Das System eines »gemischten« Eisenbahnbaus hatte in seinen Grundzügen bis zur Gründung der Soci¦t¦ Nationale des Chemins de Fer FranÅais (SNCF) 1938 Bestand.200

197 Leclercq, Yves: Les transferts financiers Êtat-compagnies priv¦es de chemin de fer d’int¦rÞt g¦n¦ral (1833–1908). In: Revue Êconomique 33 (1982) H. 5. S. 896–924, S. 900. 198 Rosanvallon, Pierre: Der Staat in Frankreich von 1789 bis in die Gegenwart. Münster 2000 (=Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft 15), S. 153. 199 »Les grandes lignes de chemins de fer sont les rÞnes du gouvernement; il faudrait que L’Etat p˜t les tenir dans sa main; et si nous avons consenti — confier ces travaux — l’industrie particuliÀre, c’est sous la condition patente, avou¦e, ¦crite dans la loi, qu’un jour le gouvernement pourra tenter la possession pleine et entiÀre de ce grand moyen de communication, si l’int¦rÞt du pays le requiert.« Alexis Legrand zitiert nach: Audiganne, Armand: Les chemins de fer aujourd’hui et dans cent ans chez tous les peuples. Economie financiÀre et industrielle, politique et morale des voies ferr¦es. Paris 1858 (=1), S. 160–161. 200 Dobbin: Forging Industrial Policy, S. 95.

Interessenpolitik im Parlament der Julimonarchie

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1.6. Interessenpolitik im Parlament der Julimonarchie Die Rolle des Staates beim Eisenbahnbau in Großbritannien und Frankreich unterschied sich in einigen Punkten also deutlich. Das parlamentarische Bewilligungsverfahren wies jedoch auch einige Gemeinsamkeiten auf. Entgegen häufiger Beteuerungen zeitgenössischer französischer Politiker hatte der französische Parlamentarismus seit der Revolution von 1789 weitreichende Anleihen am britischen System genommen. Das Parlament hatte zwei Kammern, ein gewähltes Unterhaus und ein Oberhaus, dessen Mitglieder auf Lebenszeit vom König ernannt wurden.201 Die Konzessionen für Eisenbahnstrecken wurden vergleichbar mit den Private Bills in Großbritannien in parlamentarischen Ausschüssen debattiert und mussten anschließend von beiden Kammern des Parlaments in verschiedenen öffentlichen Lesungen debattiert und anschließend ratifiziert werden.202 In Frankreich wurden die Anträge für neue Konzessionen in der Regel vom Leiter des Corps des Ponts et Chauss¦es oder dem Minister für öffentliche Arbeiten im Parlament eingebracht. Interessenten an einer bestimmten Strecke traten direkt mit dem Ministerium in Kontakt, dem das Corps des Ponts et Chauss¦es unterstellt war, und verhandelten über Modalitäten der Konzessionen. Fast noch wichtiger als eine Vertretung im Parlament waren in Frankreich also gute Beziehungen zum Corps des Ponts et Chauss¦es und den Ministerien. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Bewilligung eines Projektes im Parlament problemlos gewesen wäre, wie das Beispiel der Chemin de Fer de Paris — St. Germain zeigt. Zwischen 1832 und 1835 befassten sich 14 verschiedene parlamentarische Ausschüsse mit unterschiedlichen Anträgen für Konzessionen.203 Der erste und wichtigste Schritt, um die nötige Mehrheit im Parlament zu sichern, war getan, als Alexis Legrand nach langwierigen Verhandlungen seine Unterstützung für das Projekt der Brüder Pereire zusagte. Der Leiter der Ponts et Chauss¦es verteidigte die Streckenführung gegen kritische Stimmen persönlich in einer Rede vor der Chambre des D¦put¦s und dürfte damit wesentlichen Einfluss auf die regierungstreuen Abgeordneten ausgeübt haben.204 Rund 45 Prozent der Abgeordneten in den 1830er Jahren waren Staatsbedienstete und

201 Garrigues, Jean u. Êric Anceau: Histoire du Parlement de 1789 — nos Jours. Paris 2007 (=Collection d’Histoire Parlementaire), S. 169. 202 Rousselier, Nicolas: The Political Transfer of English Parliamentary Rules in the French Assemblies. 1789–1848. In: European Review of History 12 (2005) 2. S. 239–248, S. 244. 203 Ratcliffe, Barrie M.: The Origins, S. 205. 204 Discours prononc¦ par M. Legrand; Conseiller d’Êtat, Directeur g¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es et des Mines, Commissaire du Roi dans la discussion du projet de loi relatif au chemin de fer de Paris — Saint-Germain. 1835 AN Paris F 14 11 169.

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ihre Zahl stieg in den 1840er Jahren sogar noch an.205 Die sogenannten D¦put¦s Fonctionnaires stimmten meist im Sinne ihrer Minister und sicherten der Regierung stabile Mehrheiten. Um eine gewisse Unabhängigkeit von der Exekutive zu bewahren, waren die Gründer neuer Unternehmen dennoch stets daran interessiert, so viele einflussreiche Persönlichkeiten für ihre Kompanien zu gewinnen wie nur möglich. D’Eichthal und die Pereires verfügten zwar noch nicht über eigene Sitze im Parlament, konnten aber auf die Unterstützung einiger einflussreicher Abgeordneter zählen.206 Weitere Unterstützung für das Projekt kam von Jacques Lefebvre, ehemals Direktor der Banque de France und seit 1827 Abgeordneter für das D¦partement Seine. Auch familiäre Bande wurden aktiviert, als Victor Lanjuinais, der Schwager von Adolphe d’Eichthal und ebenfalls Abgeordneter, sich hinter den Kulissen für das Projekt einsetzte.207 Im Sommer 1835 wurde die Konzession schließlich Êmile Pereire und seinen Partnern zugeschlagen. Am 4. November des gleichen Jahres wurde die Compagnie de Chemin de Fer de Paris — Saint-Germain per königlichem Dekret ins Leben gerufen und die Strecke im August 1837 erfolgreich in Betrieb genommen.208 Der Erfolg der Chemin de Fer de Paris — Saint-Germain verdeutlichte das wirtschaftliche Potential der Eisenbahn auch in Frankreich und brachte Kommunen und Regionen auf den Plan, die sich ökonomischen Nutzen von einem Anschluss an das geplante Eisenbahnnetz versprachen. Die Abgeordnetenkammer (Chambre des D¦put¦s) war fortan stark durch lokale Rivalitäten geprägt. Die Industrialisierung war in Frankreich zunächst auf wenige bereits infrastrukturell entwickelte Regionen beschränkt. Weite Teile des Landes blieben dem gegenüber in ihrer Entwicklung stark zurück.209 Gemeinden wollten an die Eisenbahn angeschlossen werden und übten Druck durch ihre Repräsentanten im Parlament aus. Präfekten, Handelskammern und Abgeordnete fühlten sich verpflichtet, die Interessen ihrer Regionen auf der politischen Bühne zu artikulieren. Für potentielle Konzessionäre von Eisenbahnstrecken bedeutete dies trotz des ausgeprägten Zentralismus langwierige Verhandlungen mit lokalen Institutionen und Honoratioren. Der Druck, den diese Interessengruppen auf das Parlament ausübten, führte nicht immer zu zweckdienlichen Entschei205 Garrigues u. Anceau: Histoire du Parlement, S. 176. 206 Soci¦t¦ anonyme de chemin de fer de Paris — Saint Germain. Protokolle der Aktionärsversammlungen 1848. S. 1 AN Paris AQ E 565. 207 Ratcliffe: The Origins, S. 215. 208 Soci¦t¦ anonyme de chemin de fer de Paris — Saint Germain: Statuts de la soci¦t¦ anonyme de chemin de fer de Paris — Saint Germain. AN Paris 65 AQ E 565, S. 3. 209 Schieder, Theodor (Hrsg.): Handbuch der europäischen Geschichte. Europa von der Französischen Revolution bis zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1998 (Bd. 5), S. 276.

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dungen. Das zweite Projekt der Brüder Pereire, eine Strecke zwischen Paris und Versailles, wurde wegen lokaler Machtkämpfe zu einem wirtschaftlichen Debakel.210 Es standen zwei mögliche Streckenverläufe mit unterschiedlichen Zielpunkten zur Auswahl, die im Parlament heiß diskutiert und von den Vertretern verschiedener Viertel in Paris und Versailles propagiert wurden.211 Im Endeffekt wurden beide Streckenverläufe an unterschiedliche Betreiber konzessioniert. Schon bald zeigte sich jedoch, dass das Verkehrsaufkommen zwischen Paris und Versailles zu gering war. Beide Unternehmen machten immense Verluste, gingen Bankrott und wurden 1846 zwangsfusioniert.212 Auch beim Erwerb des für den Eisenbahnbau benötigten Landes spielten lokale Interessen eine bedeutende Rolle. Vor den Regelungen von 1842, nach denen der Staat den Aufkauf und die Enteignung des Landes übernahm, hatten auch französische Eisenbahnunternehmen mit erheblichem Widerstand durch Landbesitzer zu kämpfen. Adolphe Thiers, der zu diesem Zeitpunkt das Innenministerium leitete, hatte schon 1836 Landspekulation durch »Kapitalisten« als ein wesentliches Hindernis für den Eisenbahnbau angeprangert.213 Die Chemin de Fer de Paris — Saint Germain musste ihren geplanten Pariser Bahnhof vom zentral gelegen Place de la Madeleine auf Druck der wohlhabenden Anwohner an den weniger günstig positionierten Place d’Europe verlegen.214 Die Compagnie du Chemin de Fer de Mulhouse — Thann brauchte über zwei Jahre, um die Ländereien für die nur 20 Kilometer lange Strecke zu erwerben.215 Nicolas Koechlin, der Leiter des Unternehmens, musste mit über 700 Grundbesitzern verhandeln und forderte 1839 in einem offenen Brief an den Minister für öffentliche Arbeiten deutliche Nachbesserungen an dem Enteignungsgesetz von 1833, welches seiner Meinung nach den Bedürfnissen des Eisenbahnbaus nicht gerecht werden konnte.216 Jedoch wurden erst zwischen 1839 und 1841 die Gesetze überarbeitet, um das Verfahren zur Landenteignung zu vereinfachen. 1841 wurde der neue Entwurf in der Pairskammer zunächst abgelehnt,

210 211 212 213

Cameron: France, S. 207. Dunham: How the First, S. 14. Ratcliffe: The Origins, S. 199–200; Cameron: France, S. 207. »Mais, dans des pays comme les nútres, comme la France, comme l’Angleterre, le terrain est poss¦d¦ par des capitalistes trÀs riches, qui s’inquiÀtent fort peu, comme on l’a dit, du bien public, pourvu qu’ils vendent leur terrain le plus cher possible; nous avons des lois trÀs soucieuses des int¦rÞts de la propri¦t¦« Adolphe Thiers, 21. 4. 1836. Mavidal u. Laurent (Hrsg.): Archives parlementaires, S. 320. 214 Journal des D¦bats (9. 12. 1835), S. 2. 215 Ratcliffe, Barrie M.: Bureaucracy and Early French Railroads. The Myth and the Reality. In: The Journal of European Economic History 18 (1989). S. 331–371, S. 353. 216 Nicolas Koechlin et frÀre: Lettre — M. Dufaure, Ministre des Travaux public, sur l’urgence de quelques modifications — apporter — la Loi du 7 juillet 1833, sur l’expropriation pour cause d’utilit¦ public. 1839. AN Paris C 2786.

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1842 jedoch gemeinsam mit dem Eisenbahngesetz nach einigen Abänderungen angenommen.217 In zwei entscheidenden Punkten unterschied sich die Ausgangssituation der französischen Unternehmen in Bezug auf Landenteignungen jedoch von ihren britischen Gegenparts. Zum einen wurde der Eisenbahnbau in Frankreich von Beginn an nicht als eine Privatangelegenheit angesehen, bei der die Legislative lediglich als Vermittler zwischen den Gruppen und zur Wahrung des öffentlichen Interesses auftrat. Viel mehr wurde er als öffentliche Aufgabe und zentrale Domäne des Staates betrachtet.218 Zum anderen hatten die Umwälzungen der Revolution von 1789 den Adel seiner Prärogative beraubt und eine Aufweichung alter Standesschranken bewirkt. Die Frage, ob das Bürgertum wirklich den überragenden Einfluss auf das orleanistische Regime der Julimonarchie ausübte, der ihm von Zeitgenossen beigemessen wurde, haben Historiker in zahlreichen Arbeiten zu bestimmen versucht.219 Eine Beschreibung der Machtverhältnisse während der Julimonarchie entlang von gesellschaftlichen Schichten bringt in Bezug auf die Eisenbahnpolitik jedoch nur begrenzten Erkenntnisgewinn. Stattdessen ist es sinnvoller, die Konkurrenz zwischen verschiedenen politischen und ökonomischen Gruppierungen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen.220 Die großen Konfliktlinien verliefen innerhalb der politisch einflussreichen Schicht spätestens seit der Revolution von 1830 nicht mehr zwischen adeligem Grundbesitz und bürgerlichem Kapital, sondern entlang politischer Faktionen, die sich entweder mit den neuen politischen Machthabern der Ära arrangierten und sie unterstützten, oder, wie im Falle der Ultra-Royalisten aber auch der Republikaner, aus dem System ausgeschlossen wurden und in eine fundamentale Opposition gingen.221 Diese These wird auch durch einen ausgeprägten Kooperationswillen im Bereich industrieller Investitionen gestützt. Das operative Geschäft der Eisenbahnunternehmen wurde zwar in nahezu allen Fällen von Personen mit bürgerlichem Hintergrund übernommen, in den Verwaltungsratslisten der großen Kompanien finden sich aber neben den bekannten Namen der Pariser Haute Banque auch auffällig viele Vertreter des napoleonischen und auch alten Adels. Großbürgertum und Adel waren zumindest auf der ökono217 Lachèe, Luigi: L’Expropriation pour cause d’utilit¦ publique en France aux XIXe siÀcle. Origines et d¦veloppements d’un modÀle juridique. In: L’ Expropriation. Moyen ffge et temps modernes. Hrsg. von Soci¦t¦ Jean Bodin pour l’histoire comparative des Institutions. Bruxelles 2000. S. 79–104, S. 87. 218 Caron: Histoire des Chemins, S. 100. 219 Für eine detaillierte Literaturdiskussion siehe: Price, Roger : People and Politics in France, 1848–1870. Cambridge 2004, S. 25. 220 Tombs, Robert: France 1814–1914. London 1996, S. 358. 221 Ebd.

Korruptionsdebatten und die Krise der Julimonarchie

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mischen und politischen Ebene zu einer dominierenden Schicht verschmolzen, die häufig als Grands Notables betitelt wird.222 Der Adel bewahrte zwar eine eigenständige kulturelle Identität mit eigenen Einflusssphären und einem Lebensstil, der vom aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum imitiert wurde; sein politischer Einfluss begründete sich aber nicht mehr auf einem erblichen Prärogativ, sondern auf ökonomischem Kapital, das er aus seinen Ländereien und wirtschaftlichen Investitionen bezog.223 In der Folge der 1830 verabschiedeten Verfassung der Juli-Monarchie wurde auch die Zusammensetzung der Pairskammer grundlegenden Veränderungen unterworfen. Der Sitz in der ersten Kammer des Parlaments war nun nicht mehr erblich, sondern wurde vom König auf Lebenszeit verliehen. Louis-Philippe nutzte dieses Recht, um die Kammer mit politisch willfährigen Klienten zu besetzen, die vornehmlich der Beamtenschaft entstammten und einen bürgerlichen Hintergrund hatten. Der alte Adel des Ancien R¦gime und der neue Adel der napoleonischen Zeit stellte in der Pairskammer der Julimonarchie nur noch rund die Hälfte der Sitze, deren Einfluss durch einen deutlichen Bedeutungsverlust der ersten Kammer gegenüber der Abgeordnetenkammer noch geschmälert wurde.224 Der Adel, der zwar auch weiterhin über einen Großteil des Landbesitzes in Frankreich verfügte, besaß nicht mehr das nötige Forum und die Vorrechte, an denen sich die Korruptionsvorwürfe gegen ihre britischen Pendants entzündeten.225 Daher gab es in Frankreich keine mit den britischen Diskursen vergleichbaren Korruptionsdebatten im Zusammenhang mit Entschädigungszahlungen für Ländereien, die in adeligem Besitz waren.

1.7. Korruptionsdebatten und die Krise der Julimonarchie Der republikanische Abgeordnete F¦licit¦ de Lamennais beschrieb 1840 das Parlament als einen Ort, an dem Abgeordnete allein auf den eigenen Profit bedacht waren und ihr Gewissen im Austausch für Titel, Ämter und bare Münze verkauften.226 Korruptionsanklagen gehörten zum Standardrepertoire oppositioneller Politiker sowohl des republikanischen als auch des legitimistischen 222 Tudesq, Andr¦-Jean: Les grands notables en France (1840–49). Etude historique d’une psychologie sociale. Paris 1964 (=2). 223 Higonnet u. Higonnet: Class, Corruption, S. 211. 224 Garrigues u. Anceau: Histoire du Parlement, S. 169 u. 178. 225 Mather: After the Canal, S. 32. 226 »Qu’est-ce que la Chambre, qu’un grand bazar o¾ chacun livre sa conscience, ou ce qu’il donne pour tel, en ¦change d’une place, d’un emploi, d’un avancement pour soi et les siens, de quelqu’une enfin de ces faveurs qui toutes se r¦solvent en argent.« Lamennais, F¦licit¦ de: Le pays et le gouvernement. Paris 1840, S. 53.

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politischen Lagers während der Julimonarchie und die Liste ähnlicher Zitate ließe sich fast beliebig fortsetzen. Inhaltlich kreisten die Debatten um Praktiken, die sich sowohl in ihrer Funktionalität als auch in den Gewinnerwartungen, die mit ihnen verbunden waren, unterscheiden und sich grob in zwei Kategorien einordnen lassen: Praktiken politischer Patronage und Praktiken der Selbstbereicherung. Der Regierung wurde vorgeworfen, dass sie systematisch Patronagenetzwerke aufbaute, um die eigene Mehrheit im Parlament zu sichern. Zu diesem Zweck würden Wahlen manipuliert und gezielt Staatsbedienstete ins Parlament gebracht. Regierungstreues Verhalten würde durch Stellen und Beförderungen für Abgeordnete und ihre Angehörigen belohnt. Dadurch wurde nach Ansicht der Kritiker die Unabhängigkeit des Parlaments untergraben. Regierungspatronage stand im Kontext der Debatten über D¦put¦s Fonctionnaires seit 1830 in regelmäßigen Abständen auf der Tagesordnung.227 Der Themenkomplex privater Selbstbereicherung durch Parlamentarier hatte einen direkten Bezug zum Eisenbahnbau. Abgeordnete nutzten ihre Stellung angeblich dazu, sich persönlich zu bereichern, indem sie sich ihre Unterstützung für Projekte von Eisenbahnunternehmen durch Verwaltungsratspositionen und Aktienbeteiligungen entlohnen ließen, über deren Rahmenbedingungen das Parlament durch die Bewilligung von Konzessionen entscheidenden Einfluss nehmen konnte und die durch staatliche Planung und den Bau der Infrastruktur aktiv gefördert wurden.228 Der aus Lyon stammende Publizist Louis Bonnardet beschrieb das Vorgehen potentieller Konzessionsnehmer von Eisenbahnen, die sich politische Unterstützung sichern wollten, in einem Bericht von 1845 folgendermaßen: »Le moyen est bien simple. Prenez deux ou trois d¦put¦s, deux ou trois pairs de France, chose indispensable, attendu que le meilleur moyen de se rendre — loi propice est bien ¦videmment de s’associer ceux qui la font.«229 Sowohl staatliche Patronage wie auch die Selbstbereicherung von Abgeordneten wurden in Debatten über Unvereinbarkeiten (Incompatibilit¦s) eines Sitzes im Parlament mit anderen bezahlten Posten in Verwaltung und Privatwirtschaft thematisiert und mündeten in mehrere parlamentarische Reformbestrebungen. 227 Morabito. Marcel u. Daniel Bourmaud: Histoire constitutionnelle et politique de la France. 1789–1958. Paris 1991 (=Domat Droit Public), S. 211. 228 Tudesq, Andr¦-Jean: La crise de 1847 vue par les milieux d’affaires parisiens. In: Aspects de la crise et de la d¦pression de l’¦conomie franÅaise au milieu du XIX siÀcle. 1846–1851. Hrsg. von E. Labrousse. Paris 1956. S. 5–36, S. 14. 229 Bonnardet, Louis: Rapport pr¦sent¦ en s¦ance publique de l’acad¦mie des sciences, belles-lettres et arts de Lyon, sur la question suivant mise au concours pour l’ann¦e 1844. Quels sont les avantages et les inconv¦nients que peuvent r¦sulter, pour la ville de Lyon, de l’¦tablissement d’un chemin de fer. Lyon 1845, S. 6.

Korruptionsdebatten und die Krise der Julimonarchie

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Der Verlust moralischer Autorität der politischen Elite war eine wichtige Facette der Krise der 1840er Jahre und hat entscheidend zum Untergang der aufs engste mit ihr verbundenen Monarchie beigetragen.230 Hierin unterschied sich Frankreich von den übrigen europäischen Mächten, die zwar vielfach ebenfalls mit Legitimitätsproblemen und revolutionären Unruhen zu kämpfen hatten, deren Herrscherhäuser jedoch sämtlich ihre Vormachtstellung sichern konnten. Um die Korruptionsdebatten der späten Julimonarchie besser zu kontextualisieren, sind einige Bemerkungen zu den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen notwendig. Die Julimonarchie war in den 1840er Jahren von einer krisenhaften Grundstimmung geprägt, die nicht nur das politische System in Frage stellte, sondern als Anzeichen eines allgemeinen moralischen Verfalls interpretiert wurden. Diese Grundstimmung in den 40er Jahren hatte mehrere Ursachen. Gegen Mitte der 1840er Jahre geriet die Wirtschaft des Landes ins Stocken. Ihren Ursprung hatte die Wirtschaftskrise im Agrarsektor. Schlechte Ernten in den Jahren 1845 und 1846 führten zu einem starken Anstieg der Getreidepreise, der durch Spekulationen von Großhändlern an der Börse noch weiter angetrieben wurde. Die Probleme des Agrarsektors sprangen schon bald auf weitere Wirtschaftszweige über und führten zu einer allgemeinen Rezession und ersten sozialen Unruhen in ländlichen Gebieten.231 Auch der industrielle Sektor blieb nicht verschont. Zwar entwickelte sich zeitgleich mit der Railway Mania in Großbritannien auch in Frankreich in den 1840er Jahren ein erster Boom im Eisenbahnbau, der jedoch durch eine Spekulationsblase jäh gestoppt wurde und mit dem Baustopp von Einzelstrecken und dem Konkurs mehrerer Unternehmen endete. Finanziert wurde der Eisenbahnboom zu einem nicht geringen Teil von Kleinanlegern, die einen Großteil ihrer Ersparnisse in Eisenbahnaktien angelegt hatten und nicht selten komplett ruiniert wurden.232 Die Schuld an beiden Krisen wurde in Ermangelung alternativer Erklärungsmodelle beim Staat und seinen politischen Vertretern gesehen. Der Regierung Guizot/Soult wurde vorgeworfen, die Spekulationen in Eisenbahnaktien aktiv forciert zu haben und nicht angemessen auf die Krise reagiert zu haben.233 Die Entwicklung der Tagespresse hatte einen wesentlichen Anteil an der Wirkung oppositioneller Korruptionskritik. In den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts veränderte sich die französische Presselandschaft. Trotz Zensur und zahlreicher Prozesse gegen Herausgeber ab 1835 etablierten sich mehrere Tageszeitungen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen. Einige 230 Fortescue: Morality and Monarchy, S. 98 u. 100. 231 Jardin u. Tudesq: Restoration and Reaction, S. 192. 232 Das Journal des Chemins de Fer schätzte, dass 1847 in Frankreich rund 200.000 Anleger Eisenbahnaktien hielten. In: Journal des Chemins de Fer (1. 1. 1848), S. 4. 233 Fortescue: France and 1848. The End of Monarchy. London 2005, S. 51.

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von ihnen positionierten sich klar im republikanischen Spektrum und wurden zum Vehikel der oppositionellen Agitation. Le Constitutionnel, Le Siecle und Le National vertraten republikanische Ansichten in unterschiedlicher Ausprägung und erfreuten sich hoher Popularität.234 Legitimistische und ultramontane Gruppierungen hatten mit L’Univers ab 1838 ihre eigene, wenn auch lange nicht so auflagenstarke Tageszeitung. Doch auch die Regierung verstand es, sich die Tagespresse zunutze zu machen. Allen voran das regierungstreue Journal des D¦bats stemmte sich gegen die Anfeindungen der oppositionellen Presse. Es warf den Vertretern der Opposition ihrerseits Machthunger und den Versuch, aus persönlichen Angriffen gegen Regierungsmitglieder politisches Kapital zu schlagen, vor.235 Der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung gaben zumeist republikanisch gesinnte Karikaturisten wie Charles Philipon und Honor¦ Daumier bildhaften Ausdruck, indem sie den Monarchen zum bevorzugten Gegenstand ihrer Kritik machten. Bereits seit Mitte der 1830er Jahre präsentierten sie Louis-Philippe in verschiedenen Inkarnationen als machthungrigen Despoten, der sich und seine Klienten auf Kosten seines Volkes bereicherte.236 In der Literatur wurde das Bild einer korrupten Elite und des von ihr getragenen Regimes ebenfalls wiederholt aufgegriffen. Die Werke von Honor¦ Balzac, Auguste Barbier und Alexandre Dumas spiegeln nicht nur die Einschätzung ihres eigenen sozialen Milieus durch einflussreiche Intellektuelle unterschiedlichster Prägung wider, sondern verankerten dieses Bild durch die umfassende Verbreitung ihrer Schriften auch im Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung.237 1847 erreichte die öffentliche Entrüstung einen Höhepunkt, als mehrere politische Skandale publik wurden. In relativ kurzer Abfolge erregte zunächst der Mord des Pairs Charles de Choiseul-Praslin an seiner Frau sowie ein Korruptionsskandal um den ehemaligen Minister für öffentliche Arbeiten Jean Baptiste Teste und den ehemaligen Kriegsminister Am¦d¦e Despans-CubiÀres erhebliches Aufsehen.238 Noch ehe die Bestechungsaffäre um Teste und CubiÀres aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden war, tauchten in der Presse weitere Anschuldigungen gegen Regierungsmitglieder auf. Emile Girardin, der Herausgeber der populären Tageszeitung La Presse veröffentlichte am 12. Mai 1847 einen Artikel, in dem er Guizot selbst diverser Vergehen beschuldigte. Er 234 Jardin u. Tudesq: Restoration and Reaction, S. 389. 235 Janzé, Charles Alfred de: La corruption, facile moyen de la rendre impossible. Paris 1848, S. 3. 236 Margadant: Gender, Vice, S. 1478. 237 Kiel-Remer, Margarete: Die liberale Epoche Louis-Philippes (1830–1835) im Spiegel kritischer Werke Barbiers, Daumiers, Dumas und Stendhals. Dissertation. Würzburg 1978, S. 329. 238 Zum Skandal Teste CubiÀres siehe Kapitel 6.7.

Unvereinbarkeiten als politische Reformbestrebungen

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warf der Regierung vor, die Zeitung L’Êpoque durch geheime Zahlungen von über einer Million Francs unterstützt zu haben, um gegen La Presse zu agitieren. Des Weiteren habe sie diverse Ehrentitel, Auszeichnungen und Posten zum Verkauf angeboten. Für einen Sitz in der Pairskammer seien beispielsweise 80.000 Francs fällig geworden. Die Affäre hatte eine Vorgeschichte, die über ein Jahr zurück lag. Girardin hatte im Frühjahr 1846 versucht, für seinen Vater die Aufnahme in die Pairskammer zu erwirken. Guizot wollte dies jedoch nur gegen eine regimetreue Berichterstattung von Girardins La Presse gewähren. Girardin startete daraufhin eine Pressekampagne gegen Guizot und nutzte die aufgeheizte öffentliche Stimmung, um seine bis dato heftigste Attacke gegen den unbeliebten Regierungschef zu lancieren.239 Girardin war selbst Abgeordneter und wurde vor ein Tribunal der Pairskammer zitiert, konnte seine Anschuldigungen jedoch nicht erhärten und wurde mit 134 zu 65 Stimmen wegen Verleumdung verurteilt.240 Die mediale Schlammschlacht, die sich abgespielt hatte, veranlasste Victor Hugo zu seinem berühmten Ausspruch über Guizot: »Il est personnellement incorruptible et il gouverne par la corruption. Il me fait l’effet d’une femme honnÞte qui tiendrait un bordel.«241 Hugo schätze Guizot als einen persönlich integren Mann ein, der jedoch bereit war, zu illegitimen Mitteln zu greifen, um seine Macht zu erhalten. Adolphe Cr¦mieux bemerkte angesichts der Kontroverse um Emile Girardin: »Vous n’avez excit¦ qu’un seul app¦tit: l’app¦tit de l’argent … au lieu de se dire que l’honneur est le premier des biens. On commence par acqu¦rir des biens pour voir si l’on pourra ensuite venir — l’honneur!«242 Cr¦mieux spielte hier bewusst doppeldeutig auf die Verbindung von persönlicher Ehre und dem vermeintlichen Erwerb von Ehrentiteln mit pekuniären Mitteln an.

1.8. Unvereinbarkeiten als politische Reformbestrebungen Die Debatten über so genannte D¦put¦s Fonctionnaires ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Julimonarchie. Im Fokus der Kritik stand die überproportionale Repräsentation von Staatsbediensteten in beiden Kammern des Parlaments. Das Wahlgesetz von 1831 sah nur wenige Unvereinbarkeiten (Incompabilit¦es) für Staatsbedienstete vor. Pr¦fets, Sous-pr¦fets, Receveurs des 239 La Presse (29. 6. 1847), S. 1. 240 Fortescue: Morality and Monarchy, S. 90. 241 Zitiert nach: Collins, Irene: The Government and the Newspaper Press in France: 1814–1881. Oxford 1959, S. 97–98. 242 Renauld, Georges: Adolphe Cr¦mieux. Homme d’¦tat franÅais juif et franc-maÅon. Le combat pour la R¦publique. Paris 2002 (=Les Francs MaÅons m¦connus), S. 92.

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Finances und Payeurs war die Kandidatur für das Parlament zwar untersagt, allen übrigen Beamten stand diese Option aber offen.243 Oppositionspolitiker argumentierten, dass Parlamentarier, die gleichzeitig vom Staat Bezüge oder Renten bezögen, zu abhängig von der Regierung seien. Somit sicherten sie der Regierung zwar ihre Mehrheiten, könnten den Anforderungen an einen neutralen Gesetzgeber aber nicht genügen.244 Die Unterstützer der Regierung wiederum argumentierten, dass die Fonctionnaires sich ihre Posten durch Leistung und einen tadellosen Charakter verdient hätten und durch ihre praktische Expertise in Verwaltungsangelegenheiten besonders gut für einen Sitz im Parlament qualifiziert seien. Ihre Unterstützung der Regierung sei nicht durch illegitime Patronagestrukturen, sondern durch ein rationales Streben nach politischer Stabilität begründet.245 Insgesamt 18 Anträge wurden zwischen 1831 und 1847 von verschiedenen Abgeordneten eingebracht, um Staatsbedienstete aus den Kammern des Parlaments auszuschließen. Unter der Regierung Guizot/Soult in den 1840er Jahren wurden die Debatten hitziger und mit Forderungen nach einer grundlegenden Reform des Parlaments und des Wahlrechts verknüpft.246 Ähnliche Reformbestrebungen zielten auf die wirtschaftlichen Aktivitäten von Abgeordneten. 1844 beantragte der Oppositionspolitiker Adolphe Cr¦mieux, eine Klausel in die Konzessionen mehrerer geplanter Eisenbahnlinien einzufügen, die es Angehörigen des Parlaments untersagte, als Konzessionär oder Verwaltungsratsmitglied der jeweiligen Unternehmen zu fungieren.247 Adolphe Cr¦mieux wurde 1842 erstmals in die Abgeordnetenkammer gewählt und ordnete sich zunächst politisch im Lager der liberalen Konstitutionellen ein. Im Laufe der vierziger Jahre vollzog er eine politische Wandlung und wurde einer der führenden Oppositionellen unter der Regierung Guizot/Soult.248 Er war gemeinsam mit Odillon Barrot Initiator der Bankettbewegung von 1847/48 und 243 Morabito. u. Bourmaud: Histoire constitutionnelle, S. 211. 244 Journal des D¦bats (12. 2. 1842), S. 2. 245 »Loin de vouloir exclure ces fonctionnaires publics de la Chambre, nous pensons que leur pr¦sence y est non seulement utile, mais n¦cessaire, n¦cessaire pour qu’ils y apportent leur exp¦rience et leur esprit pratique: et si, en g¦n¦ral, leurs dispositions sont favorables — la stabilit¦ du gouvernement, — l’ordre, aux principes de conservation et de prudence, ce n’est pas un crime dans nos yeux.« In: Journal des D¦bats (3. 8. 1837), S. 2. 246 Morabito u. Bourmaud: Histoire constitutionnelle, S. 211. 247 »M. Cr¦mieux a propos¦ de dire, par un article additionnel qu’aucun membre des deux chambres ne pourra Þtre adjudicataire ni membre du conseil d’administration dans les chemins de fer en vertu de concessions.« In: La Presse (19. 6. 1844), S. 1. 248 Adolphe Cr¦mieux war studierter Jurist und erlangte 1840 internationale Bekanntheit durch seinen Einsatz als Verteidiger der jüdischen Angeklagten während der Damaskusaffäre. Cr¦mieux war selbst jüdischer Abstammung und setzte sich als Anwalt immer wieder für die Rechte von Juden in Frankreich ein. Robert, Adolphe u. Gaston Cougny : Dictionnaire des parlementaires franÅais. Paris 1890 (Bd. 2), S. 215–16.

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eng mit den Republikanern Alexandre Ledru-Rollin und Louis Blanc befreundet. Nach der Revolution wurde er zum Justizminister der provisorischen Regierung ernannt.249 Seinen ersten öffentlichen Auftritt im Parlament hatte Cr¦mieux während der Diskussion über die Konzession der Eisenbahnstrecke von Orleans nach Tours im Juni 1844. Wenige Tage später brachte er dann den ersten Zusatzantrag für die Konzession der Strecke von Orleans nach Bordeaux ein. Zwar wurde sein Antrag in der Abgeordnetenkammer zunächst angenommen, in der Pairskammer jedoch abgelehnt und an die Abgeordnetenkammer zurückverwiesen. Dort wurde die Klausel in einer zweiten Anhörung entfernt und die Konzession beschlossen.250 Im Juli des gleichen Jahres brachte Cr¦mieux, unterstützt von S¦bastien Luneau, einen wortgleichen Zusatz für die Konzession der Strecke von Paris nach Straßburg ein. Luneau gehörte ebenfalls der republikanischen Opposition an und war vehementer Verfechter der Anträge gegen die D¦put¦s Fonctionnaires.251 Die Linie von Paris nach Straßburg hatte eine hohe militärisch strategische Bedeutung und sollte Paris mit den bedeutenden Wirtschaftszentren in ElsassLothringen verbinden. Die Konzession der Linie war daher besonders umkämpft. Die aussichtsreichste Position hatte eine Investorengruppe rund um den ehemaligen Premierminister Louis Mathieu Mol¦ und den Saint-Simonisten Michel Chevalier. In mehreren Beiträgen zur Debatte wurde der Verdacht geäußert, die Prominenz der Konzessionsbewerber habe zu einer Bevorzugung durch den Minister für öffentliche Arbeiten geführt. Sebastien Luneau betonte in seiner Rede vor allem den moralischen Aspekt des Interessenkonflikts und gab an, er mache sich Sorgen um die Würde und die Unabhängigkeit des Parlaments. Um seine Bedenken zu untermauern, verlas er eine Liste mit den Namen der Abgeordneten, die an dem Unternehmen beteiligt waren.252 Mol¦ fühlte sich durch die Angriffe im Parlament derartig unter Druck gesetzt, dass er sich von dem Projekt zurückzog und damit die gesamte Finanzierung zum Scheitern brachte.253 Die Erfolgsaussichten der Initiative Cr¦mieux waren aufgrund der ablehnenden Haltung der Regierung von Beginn an gering und dienten vermutlich primär dazu, die Vergabe neuer Konzessionen zu behindern. Cr¦mieux und Luneau sprachen sich mehrfach für einen staatlichen Eisenbahnbau aus und versuchten auf diesem Weg privaten Investoren entgegen zu arbeiten. Ihr Antrag wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass die Beratungen über die 249 Renauld: Adolphe Cr¦mieux, S. 80. 250 Journal des D¦bats (19. 6. 1844), S. 1; Journal des D¦bats (22. 6. 1844), S. 1. 251 Robert, Adolphe, Edgar Bourloton u. Gaston Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires franÅais. Paris 1891 (Bd. 4), S. 200. 252 Journal des D¦bats (19. 6. 1844), S. 1. 253 Caron: Histoire des Chemins, S. 175.

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Konzession einer einzelnen Linie nicht das richtige Forum seien, ein Thema dieser Tragweite zu diskutieren.254 Es entbrannte zwar eine Debatte darüber, inwieweit leitende Positionen in Eisenbahngesellschaften mit einem Sitz in der Abgeordnetenkammer vereinbar seien, diese sind aber in erster Linie als politische Rhetorik zu verstehen. Grundsätzliche Beschlüsse oder Regelungen wurden aus politischen Gründen nicht gefasst. In den Folgejahren änderte Cr¦mieux seine Taktik und brachte in regelmäßigen Abständen gleichlautende Gesetzesinitiativen im Parlament ein, die grundsätzlich alle Konzessionäre öffentlicher Arbeiten von einem Sitz im Parlament ausschließen sollten. Als Vorbild wurde häufig Großbritannien genannt, wo eine inhaltsgleiche Regelung bereit seit dem späten 18. Jahrhundert in Kraft war. Unter dem Eindruck der Affäre Teste/CubiÀres machte Cr¦mieux im Mai 1847 einen erneuten Vorstoß, der jedoch abermals an der Regierungsmehrheit scheiterte.255 Die Debatten über Abgeordnete mit einem Posten in Eisenbahnunternehmen wiesen starke Parallelen zu den Debatten über D¦put¦s Fonctionnaires auf. In ihnen wurden immanente Schwächen der politischen Verfassung der Juliemonarchie erörtert, die einen systematischen Missbrauch gestatteten und nach Ansicht der Kritiker durch Reformen behoben werden mussten. Sie beabsichtigten damit, eine striktere Trennung zwischen politischen Ämtern und privaten Posten zu erreichen. Im Kontext der Reformbestrebungen stellte die Deklaration von Inkompatibilitäten allerdings nur Minimalziele dar, da grundlegende Änderungen des politischen Systems, etwa eine Ausweitung des Wahlrechtes, von der regierungsnahen Mehrheit im Parlament blockiert wurden. Die Zahl der D¦put¦s Fonctionnaires stieg über die Jahre noch an. Die relativ lange Regierungszeit erlaubte es der Regierung Guizot, vollen Nutzen aus diesem System von Patronage und gezielter Wahlmanipulation zu ziehen und aus den Wahlen von 1846 abermals gestärkt hervorzugehen. Die republikanische Linke spielte mit nur noch 12 Abgeordneten kaum noch eine Rolle bei den Abstimmungen und auch die Faktion der Legitimisten war auf 16 Sitze zusammengeschmolzen. 1847 unterstützten rund 230 der 465 Abgeordneten regelmäßig die Politik der Regierung, wovon rund 160 D¦put¦s Fonctionnaires waren.256 Grundsätzlich sind die 1840er Jahre von einer zunehmenden Zersplitterung der politischen Gruppierungen geprägt. Die Partei der Bewegung (Partie de Mouvement) zerfiel in die dynastische Linke um Odilon Barrot mit etwa 100 Sitzen, in ein geschwächtes linkes Zentrum um Thiers und einige unabhängige gemäßigte 254 La Presse (19. 6. 1844), S. 2. 255 Fleury, T.: Annales du parlement franÅais. Session de 1847. 17 ao˜t 1846–9 ao˜t 1847. Paris 1848 (Bd. 9), S. 475. 256 Reddy, William M.: The Invisible Code. Honor and Sentiment in Postrevolutionary France, 1814–1848. Berkeley, Calif 1997, S. 173; Julien-Laferrière, FranÅois: Les d¦put¦s fonctionnaires sous la Monarchie de Juillet. Paris 1970, S. 42.

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Liberale wie Tocqueville, Lamartine und Dufaure. Mit den progressiven Konservativen (Conservateurs Progressistes) um den Herzog von Morny bildete sich eine weitere Gruppierung heraus, der viele Industrielle und Bankiers angehörten. Sie unterstützten zwar grundsätzlich die Regierung und das Königshaus, forderten aber wirtschaftliche Reformen. Im Zweiten Kaiserreich sollten sie die neue Führungsgruppe stellen.257 Die geschrumpfte republikanische Opposition musste sich zunehmend auf außerparlamentarischem Wege Gehör verschaffen. Prosper Duvergier de Hauranne, ein ehemaliger Anhänger Guizots, der ins oppositionelle Lager gewechselt war, stellte die Forderungen der konstitutionellen Opposition in seiner einflussreichen Monographie De la r¦forme parlementaire et de la r¦forme ¦lectorale von 1847 programmatisch zusammen.258 Im Mittelpunkt seines Werkes standen zwei zentrale Forderungen, die beide zum Ziel hatten, das Parlament von korrumpierenden Einflüssen zu reinigen. Zum einen wollte er ein Verbot der Vermengung von Ämtern der Legislative und der Exekutive erreichen und zum anderen eine deutliche Reduktion des Wahlzensus durchsetzen.259 Das Scheitern auch dieser Minimalziele im parlamentarischen Verfahren bestätigte führende Oppositionelle in ihrer Ansicht, dass die Regierung Guizot nicht zu Zugeständnissen und Reformen bereit sei. Diese Einsicht ebnete den Weg für die »Bankettkampagne«, an der Cr¦mieux maßgeblich beteiligt war. Die Organisatoren verfolgten mit der Kampagne das Ziel, die verschiedenen oppositionellen Gruppen in einer außerparlamentarischen Reformbewegung zusammen zu führen.260 Die zentralen Themen der Reden waren der allgemeine Verfall politischer Sitten und die vermeintliche Korruption der Regierung Guizot. Was zunächst als eine moderate und reformorientierte Bewegung für Parlamentarier begann, radikalisierte sich mit der Ausweitung von Paris auf die übrigen Zentren Frankreichs und heizte die ohnehin schon angespannte Lage zusätzlich an. Die Intensität, mit der während der Julimonarchie Korruptionsanklagen geäußert werden konnten, ist ein Anzeichen der relativen Liberalität des Regimes, die es in dieser Form weder während der Restauration noch in den darauf folgenden Jahren in Frankreich gab.261 Äußerst interessant an den Korruptionsdebatten am Ende der Julimonarchie 257 Schieder, Theodor (Hrsg.): Handbuch, S. 277. 258 »Le gouvernement repr¦sentatif est en p¦ril. Ce n’est point, comme en 1830, la violence qui le menace, c’est la corruption qui le mine. Si le danger est moins apparent, il n’est pas moins redoutable.« Duvergier de Hauranne, Prosper : De la r¦forme parlementaire et de la r¦forme ¦lectorale. Paris 1847, S. 13. 259 Ebd., S. 140–142, 162. 260 Fortescue: France and 1848, S. 57. 261 Tudesq, Andr¦-Jean: Administration et parlement sous la Monarchie de Juillet. In: Administration et parlement depuis 1815. Hrsg. von Michel Bruguière. GenÀve 1982. S. 13–37, S. 35.

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ist ihre Vermengung moderner und »klassischer« Bedeutung des Begriffs Korruption. Zentraler Bestandteil der Korruptionsanklagen war die Geldgier der politischen Elite, die durch die Industrialisierung und den Kapitalismus scheinbar eine neue Dimension erreicht hatte.262 Dieses distinkt moderne Phänomen wurde mit einer antiken corruptio, im Sinne eines allgemeinen Niedergangs der öffentlichen Sitten verknüpft, der zum Untergang des Regimes führe. Hier sahen Zeitgenossen Parallelen zum Niedergang des Römischen Reiches. Sittenverfall war nach dieser Interpretation zugleich ein Vorbote und die Ursache nahender Revolutionen, die eine Reinigung der Gesellschaft und vor allen Dingen der politischen Führung mit sich bringen sollte.263 Die synonyme Verwendung der Begriffe Corruption und D¦cadence findet sich besonders ausgeprägt im Vorfeld der Revolution von 1789, wo sie zur Delegitimation des Ancien R¦gime eingesetzt wurde und erfüllte eine ähnliche Aufgabe auch im Vorfeld der Revolution von 1848.264 Ungeachtet der Frage, ob diese Anschuldigungen den Tatsachen entsprachen oder nicht, trug der Verlust moralischer Autorität der Regierung Soult/Guizot im speziellen und der politischen Elite der Julimonarchie im allgemeinen wesentlich dazu bei, die brisante gesellschaftliche Stimmung zu schaffen, die sich im Frühjahr 1848 in revolutionären Unruhen entlud und zum Sturz der Monarchie führte. Kritik an den politischen Verhältnissen der Julimonarchie wurde nicht mehr nur von radikalen politischen Kräften geäußert, die sich aus dem politischen System ausgeschlossenen fühlten, sondern lässt sich für Intellektuelle quasi jeglicher Couleur belegen und hatte sich tief in die kollektive Wahrnehmung der Julimonarchie eingeprägt. So unterschiedliche Denker wie Alexis de Tocqueville und Alphonse de Lamartin kamen einheitlich zu dem Schluss, dass die orl¦anistische Monarchie sich an ihrem Ende zu einer Oligarchie entwickelt hatte, die durch Machtmissbrauch und Korruption ihren Anspruch auf politische Führung verloren hatte.265 Auch im Ausland wurde diese Einschätzung der Julimonarchie häufig übernommen. Der Kommentator der Times führte den Untergang der Julimonarchie ebenso auf Korruption und Sittenverfall zurück wie der britische Gesandte in Paris Lord Normanby.266 Zusätzlich zu den politischen und wirtschaftlichen Krisen befand sich 262 Brief von Prosper M¦rim¦e an Eug¦nie de Montijo vom 10. 7. 1847: »Quelle augmentation de d¦pravations nous ont apport¦ les chemins de fer et les grandes exploitations industrielles!« Mérimée, Prosper: Correspondance g¦n¦rale 1946 (Bd. 1. 5), S. 119. 263 Fleury, T.: Annales du parlement franÅais. Session de 1848. Du 28 d¦cembre 1847 au 24 f¦vrier 1848. Paris 1849, S. 107. 264 Gembicki: Corruption, D¦cadence, S. 45. 265 Fleury : Annales du parlement. Session de 1848. S. 107; Lamartin, Alphonse de: Histoire de la R¦volution de 1848. Paris 1849, S. 9–10. 266 The Times (5. 7. 1847), S. 5; Normanby, Constantine Henry Phipps of: AYear of Revolution. From a Journal Kept in Paris in 1848. London 1857 (=1), S. 7.

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Frankreich in den 1840er Jahren also auch in einer moralischen Krise, die ihre Ursache nach der Einschätzung der Zeitgenossen in den Umwälzungen der Industrialisierung und dem damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel hatte. Politische Entscheidungen wurden unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise und der vermehrt publik gewordenen Skandale primär nach moralischen Kriterien bewertet. Die Anpassung von handlungsleitenden Werten und Normen vollzog sich jedoch nicht mit der gleichen Geschwindigkeit wie der gesellschaftliche Wandel, der sie notwendig machte, und trug somit zur Krisenstimmung bei. Der häufig verkürzt und ohne Kontext wiedergegebene Ausspruch Guizots »enrichissez-vous« wandelte sich in diesem Zusammenhang von einer Aufforderung an die Bevölkerung zu mehr Unternehmergeist zum Schlagwort eines egoistischen Profitstrebens, welches sich zum Schaden des Gemeinwohls und der Nation auswirkte.267 Zentraler Bestandteil der Korruptionskritik war die vermeintliche Dominanz des Bürgertums im politischen System, das sich auf Kosten der Bevölkerung bereicherte. Karl Marx formulierte diese These in seiner von der Idee des Klassenkampfes geprägten Interpretation der Revolution von 1848 detailliert aus.268 Er bezog einen Teil seiner Ideen von französischen Frühsozialisten, die eigene Ansätze entwickelt hatten, um der Krise der Julimonarchie zu begegnen. Die Entwicklungen in seiner Exilheimat Großbritannien dürften allerdings sicher auch eine Rolle gespielt haben.269

Zwischenfazit Der Zeitraum zwischen 1825 und der ersten Boomphase des Eisenbahnbaus in den 1840er Jahren war eine Periode intensiven gesellschaftlichen und politischen Wandels in den beiden untersuchten Ländern. In Großbritannien bildete der Reform Act von 1832 den Startschuss für weitere Reformbewegungen, die sich in der Chartistenbewegung und der Anti-Corn-Law-League bündelten und ver267 Guizot bezog sich in Wirklichkeit mit seinem Ausspruch auf das Zensuswahlrecht und die Möglichkeit, durch wachsendes Einkommen politische Teilhabe zu erlangen. »Enrichissez vous par le travail, et vous deviendrez ¦lecteur.« Vgl. Tümmers, Hans J.: Das politische System Frankreichs. Eine Einführung. München 2006 (=Beck’sche Reihe 1665), S. 24. 268 »Wie die Staatsverwendungen überhaupt und die Staatsanleihen, so exploitierte die herrschende Klasse die Eisenbahnbauten. Dem Staate wälzten die Kammern die Hauptlasten zu, und der spekulierenden Finanzaristokratie sicherten sie die goldenen Früchte. Man erinnert sich der Skandale in der Deputiertenkammer, wenn es gelegentlich zu Vorschein kam, daß sämtliche Mitglieder der Majorität, ein Teil der Minister eingerechnet, als Aktionäre bei denselben Eisenbahnbauten beteiligt waren, die sie hinterher als Gesetzgeber auf Staatskosten ausführen ließen.« Marx, Karl: Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850. In: Werke. Berlin 1961. S. 12–34, S. 14. 269 Theimer, Walter : Der Marxismus. Lehre – Wirkung – Kritik. Tübingen 1985 (=Politische Wissenschaft, Philosophie 258), S. 85.

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schiedene gesellschaftliche und politische Missstände anprangerten. In Frankreich fiel die Pionierphase des Eisenbahnbaus in den Zeitraum der vergleichsweise kurzlebigen Julimonarchie. 1830 wurde der Bourbone Karl X. während der Juli-Revolution zum Abdanken gezwungen, nur um kurze Zeit später durch den vermeintlich bürgerlich orientierten Louis-Philippe aus dem Haus Orl¦ans ersetzt zu werden.270 Die Julimonarchie war von Beginn an durch den Widerstreit konkurrierender Interessengruppen geprägt. Mit dem Eisenbahnbau betrat auch eine neue Akteursgruppe die politische Bühne. Die zumeist dem bürgerlichen Milieu entstammenden Eisenbahndirektoren mussten sich intensiv mit den nationalen politischen Institutionen auseinandersetzen und personelle Netzwerke aufbauen, um ihre wirtschaftlichen Interessen gegenüber den etablierten Eliten zu wahren. In Großbritannien war das Parlament der zentrale Ort politischer Interessenvertretung. In Frankreich hingegen beansprucht die Exekutive zentrale Planungsfunktionen des gesamten Eisenbahnnetzes für sich. Die Legislative war hier der Ort, an dem vor allem regionale Interessen artikuliert und debattiert wurden.271 Regionale Konflikte waren in Großbritannien weniger ausgeprägt, da Gemeinden aus Eigeninitiative heraus Eisenbahnlinien projektieren konnten und nicht von der zentralen Planung staatlicher Instanzen abhängig waren. In der Regel waren Verbindungen, mit deren Hilfe Eisenbahnunternehmen ihren politischen Einfluss absicherten, in beiden Ländern langfristig ausgerichtet. Einflussreiche Personen, bevorzugt Abgeordnete und Lords, wurden durch Positionen in den Führungsgremien und finanzielle Beteiligungen in die Unternehmen eingebunden und auf Jahre hinweg als Unterstützer gewonnen. Director MPs wurden in Großbritannien zwar gelegentlich kritisiert, aber nicht zum Gegenstand von Korruptionsdebatten. Kurzfristige und rein ökonomisch ausgerichtete Praktiken wurden hingegen als ein wesentliches Problem wahrgenommen. Korruptionsdebatten richteten sich in erster Linie gegen Vertreter der etablierten politischen Schicht des Adels, denen ein Missbrauch der ihnen übertragenen politischen Vorrechte vorgeworfen wurde. Diese Debatten waren in ihrem Grundtenor allerdings gemäßigt und zielten auf die Verfehlungen einzelner Personen ab. Eine Grundsatzdebatte über die politische und gesellschaftliche Vorrangstellung des Adels wurde in diesem Rahmen in der Regel nicht geführt. Forderungen nach einer kompletten Entmachtung des Adels und einer Umformung des House of Lords in eine zweite gewählte Kammer, wie sie in der radikalen Wochenzeitung The Spectator erschienen, blieben politische Randerscheinungen und waren nicht mehrheitsfähig.272 270 Schieder (Hrsg.): Handbuch, S. 277. 271 Tudesq: Administration et parlement, S. 35. 272 »It must not be supposed that it is only recently that the Peers have taken to jobbing,

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Die Debatten waren von politischen Reformern getragen, die aus dem politischen System heraus operierten und für die die Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik nur ein Bereich von vielen war, in dem Anpassungen notwendig erschienen. Man setzte also darauf, die politischen Rahmenbedingungen anzupassen und die verschiedenen Interessengruppen in den parlamentarischen Prozess einzubinden. Den Debatten um aristokratische Privilegien in Bezug auf die Eisenbahnindustrie fehlte im Gegensatz zu den anderen Reformdebatten dieser Zeit, etwa der Chartistenbewegung, der distinkte gesellschaftliche Umverteilungsaspekt.273 Durch konstante Reformen gelang es der konservativen Regierung unter Robert Peel zwischen 1837 und 1844, den politischen Prozess den gewandelten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen und einer Radikalisierung der Korruptionskritik entgegenzuwirken. In Frankreich war der Adel als dominierende politische Gesellschaftsgruppe bereits seit der Revolution von 1789 entmachtet. Die Korruptionsdebatten über den Eisenbahnbau wurden hier Bestandteil allgemeiner, politisch motivierter Debatten, die sich zwischen den verschiedenen politischen Lagern abspielten. Die enge Verflechtung der Eisenbahnindustrie mit der Hochfinanz einerseits und den Vertretern der Exekutive andererseits erweckten den Eindruck eines geschlossenen Systems, in dem sich eine kleine politische Gruppe konstant bereicherte, während politisch abweichende Gruppierungen konsequent ausgeschlossen wurden.274 Die Debatten über Selbstbereicherung von Abgeordneten wurden hier mit den Debatten über ministerielle Patronage der Regierung unter Francois Guizot verbunden und erlangten dadurch eine höhere politische Sprengkraft. Korruptionsvorwürfe kamen in Frankreich von der politischen Opposition, die de facto nur wenige Möglichkeiten hatte, ihre Anliegen auch durchzusetzen. Es ist charakteristisch für Frankreich während der Julimonarchie, dass die Opposition vollständig von der politischen Macht ausgeschlossen wurde und deshalb sehr fundamentale Kritik übte. Dringend notwendige politische Reformen konnten wegen der dominierenden Stellung der Regierung although till lately they have jobbed in comparative privacy. Their course has always been uniform and consistent; and you must alter the nature of man, or the British Constitution as it regards the hereditary Peerage, before you can mitigate the insolence, and put a stop in England to the corruption, which in all times and everywhere has characterized the exercise of irresponsible power. Make the interest of the Peers one with that of society at large, – or, as an alleviation of existing evils, render the House of Peers an elective body, controlled by the People, – and then there will be some prospect of putting an end to the abuse of legislative influence and authority.« In: The Spectator (16. 7. 1836), S. 12; vgl. auch The Spectator (7. 11. 1835), S. 9. 273 Biagini, Eugenio F.: Liberty, Retrenchment and Reform. Popular Liberalism in the Age of Gladstone, 1860–1880. Cambridge 1992, S. 51. 274 Tombs: France 1814–1914, S. 105.

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Die Pionierphase des Eisenbahnbaus

Guizot in den 1840er Jahren nicht durchgesetzt werden und führten in Kombination mit anderen Faktoren, wie der Agrar- und Wirtschaftskrise, zu einer Radikalisierung der Kritik, die schlussendlich zur Delegitimierung des gesamten politischen Systems führte. Politische Machtwechsel zogen daher in Frankreich häufig auch Regimewechsel nach sich.275

275 Fortescue: France and 1848, S. 5.

2.

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2.1. Die Railway Mania in Großbritannien – Aufstieg und Krise des Aktienkapitalismus In den Jahren zwischen 1845 und 1848 erlebte Großbritannien einen Boom im Eisenbahnbau, mit dem eine Phase intensiver Aktienspekulation einherging. Die immensen Kosten des Eisenbahnbaus bewirkten, dass sich Aktiengesellschaften als gängiges Finanzierungsmodell und als Korporationsform von Großunternehmen etablierten. Einzelne Personen, Unternehmergruppen oder selbst Banken waren schlichtweg nicht in der Lage, das erforderliche Kapital aufzubringen. Der Aktienkapitalismus stellte den Wirtschaftsverkehr jedoch vor einige Herausforderungen, die sowohl eine Neuaushandlung und Anpassung wirtschaftsethischer Standards, als auch politischer Regulierungsmaßnahmen erforderlich machten. Zum einen barg die Möglichkeit der scheinbar mühelosen und ohne eigene Leistung erwirtschafteten Gewinne durch Aktienspekulation stets auch die Gefahr von Überspekulation und rasanten Wertverlusten, die auch moderate Aktieninvestoren in Mitleidenschaft zogen.276 Zum anderen machte die Trennung von Kapital und unternehmerischer Verantwortung den Weg frei für neue Betrugs- und Missbrauchsformen, die durch verfeinerte Kontroll- und Regulierungssysteme eingedämmt werden mussten.277 Der Korruptionsvorwurf scheint dabei einen Erklärungsansatz darzustellen, der die bis dato unbekannte Komplexität modernen Wirtschaftens verständlich machen und Verantwortliche in einem ansonsten zunehmend anonymisierten Geschäftsverkehr liefern sollte. Dies erscheint um so schlüssiger, weil schon die Vorläufer der modernen Aktiengesellschaften in enger Verbindung zu Korruptionsfällen standen. 276 The Times (30. 8. 1845), S. 4. 277 Wilson, Sarah: In Defence of Respectability. Financial Crime, the ›High Art‹ Criminal and the Language of the Courtroom 1850–1880. In: The Golden Age. Essays in British Social and Economic History 1850–1870. Hrsg. von Ian Inkster, Colin Griffin, u. a. Aldershot 2000. S. 199–218, S. 214.

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Kapitalismus und Korruption

Aktiengesellschaften waren keine genuin neue Idee des 19. Jahrhunderts. Unternehmen mit einer personellen Trennung von Kapitalgebern und Unternehmensleitung waren in Großbritannien bereits seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Zumeist handelte es sich um Kompanien für den Überseehandel, die vom Monarchen per Charter ins Leben gerufen und mit einem Monopol ausgestattet wurden. 1720 kam es zu einer ersten großen Spekulationsblase mit den Aktien der South Sea Company, die zu einem Einbruch der Börsenwerte führte und nachhaltige Auswirkungen auf die britische Wirtschaft hatte. Die parlamentarischen Untersuchungen zu den Ursachen der South Sea Bubble von 1720 brachten neben betrügerischen Geschäftspraktiken ein weites Netzwerk bestechlicher Parlamentarier zutage, zu dem auch führende Minister der WhigPartei gehörten, die unter Georg I. an die Macht gekommen waren.278 Der Skandal trug zum Sturz der Regierung Sunderland bei und beförderte den Aufstieg seines parteiinternen Konkurrenten Walpole, der als einer der wenigen nicht kompromittiert war. Dennoch folgte auf die Untersuchungen eine Phase mit Korruptionsangriffen auf die Whig-Partei, welche die Ära Walpole prägten.279 Die Ereignisse rund um die South Sea Bubble und die anschließenden Korruptionsdebatten waren den zeitgenössischen Kommentatoren des Eisenbahnbooms der 1840er Jahre wohl bewusst und wurden immer wieder als warnendes Beispiel gegen ausufernde Aktienspekulation angeführt.280 Ebenfalls 1720 wurde der sogenannte Bubble Act verabschiedet, durch den die Gründung von Aktienunternehmen nur noch mittels königlicher Charter möglich war.281 Als Folge dessen wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt Unternehmen gegründet, die zwar nicht als Aktiengesellschaften zugelassen waren, jedoch teilweise mit mehreren hundert Partnern operierten. Dies führte zu einem unhaltbaren Organisationsaufwand für selbst die einfachsten Geschäftsoperationen, da die Unternehmen nicht als Rechtskörper agieren konnten und jeder einzelne Partner individuell seine Zustimmung zu Ge-

278 Paul, Helen J.: The South Sea Bubble. An Economic History of its Origins and Consequences. London 2011 (=Routledge Explorations in Economic History 49), S. 52. 279 Hellmuth, Eckhart: »The Power of Money is real Power.« Zur Debatte über Corruption in Großbritannien in der Ära Walpole. In: Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne. Hrsg. von Ronald G. Asch, Birgit Emich u. Jens Ivo Engels. Frankfurt am Main 2011. S. 247–266, S. 252. 280 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 105. S. 244–250, S. 247; The Times (30. 08. 1845), S. 4. 281 Interessanterweise wurde der Bubble Act verabschiedet, noch bevor die Spekulationsblase platzte und scheint auf Betreiben der Leiter der South Sea Company eingebracht worden zu sein, die auf diesem Weg Konkurrenz verhindern wollten. Siehe: Harris, Ron: The Bubble Act. Its Passage and its Effects on Business Organization. In: Journal of Economic History 54 (1994) H. 3. S. 610–627, S. 612.

Die Railway Mania in Großbritannien

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schäftsentscheidungen erteilen musste.282 Aus diesem Grund wurde 1825 der Bubble Act und die Beschränkungen bei der Gründung von Aktienunternehmen trotz der bereits bekannten Problemfelder teilweise wieder aufgehoben.283 Wichtige Fragen in Bezug auf Struktur und Rechtsform von Aktienunternehmen blieben jedoch auch weiterhin juristisch unzureichend geregelt. Erst der 1844 unter der Leitung von William Gladstone erarbeitete Joint Stock Companies Act schaffte in dieser Hinsicht Klarheit. Er hatte zum Ziel, die Gründung von Aktienunternehmen zu vereinfachen und besser zu regulieren.284 Unter die Bezeichnung Joint Stock Company fielen alle Gesellschaften mit mehr als 25 Teilhabern und frei transferierbaren Anteilen. Ein eigenes Gesetz zur Gründung eines Aktienunternehmens war fortan nicht mehr notwendig. Die meisten Eisenbahnunternehmen erfüllten diese Kriterien zwar, da sie aber zusätzlich spezielle Rechte zur Landenteignung benötigten, waren sie weiterhin von der parlamentarischen Bewilligung abhängig. In den Jahren nach der Verabschiedung des Joint Stock Companies Act stieg die Zahl neuer Eisenbahnkompanien dramatisch an und ihre Aktien wurden in großem Maßstab gehandelt. Die Railway Mania, wie sie schon bald in der Öffentlichkeit genannt wurde, war nicht die erste hochexpansive Periode im Eisenbahnbau, sie stellte ihre Vorläufer der Jahre 1835 und 1836 jedoch bei weitem in den Schatten. Allein im Jahr 1846, auf dem Zenit des Booms, bewilligte das Parlament mehr als 272 Private Bills, die in direkter Verbindung zum Eisenbahnbau standen. Unter dem Eindruck der hohen Dividenden, welche die ersten Eisenbahnlinien auszahlten, wurden die Aktien der neu gegründeten Unternehmen zu beliebten Investitionsobjekten. Die Anlegerstruktur der Aktienunternehmen wandelte sich und schloss erstmals auch die Mittelschicht und sogar Teile der Unterschicht mit ein. Für Abgeordnete, die über privilegierte Informationen zu einzelnen Eisenbahnprojekten verfügten und deren Erfolgsaussichten daher besonders gut einschätzen konnten, muss die Versuchung, in Eisenbahnaktien zu spekulieren, besonders hoch gewesen sein. Nach Schätzungen wurden allein 1847 in Großbritannien rund 44 Millionen Pfund in Eisenbahnaktien investiert. Ein Betrag, der nur knapp unter dem gesamten Staatshaushalt des selben Jahres lag.285 Im gleichen Jahr setzte jedoch ein er282 Meyer, Justus: Haftungsbeschränkung im Recht der Handelsgesellschaften. Berlin 2000, S. 236. 283 Schmoeckel, Mathias: Rechtsgeschichte der Wirtschaft. Seit dem 19. Jahrhundert. Tübingen 2008 (=Mohr Lehrbuch), S. 176. 284 Strätling, Rebecca: Die Aktiengesellschaft in Großbritannien im Wandel der Wirtschaftspolitik. Stuttgart, Marburg 2000, S. 35. 285 Odlyzko, Andrew : Collective Hallucinations and Inefficient Markets. The British Railway Mania of the 1840s. 2010, S. 6. Onlinepublikation unter : www.dtc.umn.edu/~odlyzko/doc/ hallucinations.pdf. Zuletzt geprüft am 10. 04. 2015.

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heblicher Kursverfall der meisten Eisenbahnaktien ein und viele der kleineren Unternehmen, deren Strecken noch im Bau waren, mussten ihre Geschäfte einstellen. Tausende Anleger verloren einen Großteil ihres Vermögens.286 Diese Situation nutzen die bereits etablierten Unternehmen, allen voran die Great Western und die Midland Railway, um kleinere Konkurrenten weit unter Wert aufzukaufen und ihr Streckennetz erheblich zu erweitern. Die Gründe für die Spekulationswelle und den anschließenden Kursverlust waren äußerst komplex. Ein wichtiger Faktor waren die hohen Dividenden, welche die frühen Eisenbahnunternehmen ausgezahlt hatten. Diese waren aufgrund der stärkeren Konkurrenz während der 1840er Jahre nicht mehr zu erreichen. Um dennoch den Forderungen der Aktionäre gerecht zu werden, gingen einige Unternehmen dazu über, ihre Dividenden aus Kapital und nicht aus den Gewinnen zu zahlen und die Finanzierungslücke durch Bilanzfälschungen und nur rudimentär geführte Buchhaltung zu verschleiern.287 Die Aktienkrise wurde durch betrügerische Scheinfirmen noch verstärkt, die durch die immensen Investitionen, die ab 1844 in den Eisenbahnbau flossen, gehäuft auftraten.288 Die Mitglieder der provisorischen Komitees dieser so genannten Bubble Schemes hielten einen Großteil der Aktien zurück und verkauften sie gewinnbringend, nachdem der Preis über den Ausgabewert gestiegen war, ohne jemals die Intention gehabt zu haben, die beworbene Strecke auch wirklich zu bauen. Gerade für Kleinaktionäre, die nur über begrenzte Informationen verfügten und häufig einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens in ein einzelnes Unternehmen investierten, war es schwierig, betrügerische Scheinfirmen von bona fide Unternehmen zu unterscheiden.289 Die Drahtzieher von Bubble Schemes bedienten sich verschiedener Methoden um ihre Unternehmen bekannt zu machen und Investoren anzulocken. Journalisten wurden mit Aktienpaketen bezahlt, um fingierte Werbeaktionen zu starten. Als Beschreibung für diese Praktik setzte sich der Begriff Puffing durch.290 Um Bubble Schemes den Anschein von Seriosität zu geben, wurden nicht selten die Namen bekannter Personen, die als vertrauenswürdig galten, ohne deren Einverständnis und Wissen in die Subskribentenlisten eingetragen oder

286 »When I look at my own case, and compare it with that of thousands besides – I scarcely see room for a murmur. Many – very many – are by the late strange Railway System deprived almost of their daily bread; such then as have only lost provision laid up for the future should take care how they complain.« Brief von Charlotte BrontÚ an George Smith vom 4. 10. 1849. In: Smith, Margaret (Hrsg.): The Letters of Charlotte BrontÚ. With a Selection of Letters by Family and Friends. 1848–1851. Oxford 2000 (Bd. 2), S. 267. 287 Simmons u. Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 214. 288 The Times (31. 12. 1845), S. 4; The Times (24. 7. 1845), S. 5. 289 Odlyzko: Collective Hallucinations, S. 4–5. 290 The Times (18. 11. 1845), S. 5.

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als Mitglieder der provisorischen Direktorien aufgeführt.291 Es kamen aber auch immer wieder Gerüchte auf, wonach bekannte Persönlichkeiten, bevorzugt Parlamentarier, ihren Namen ganz bewusst im Austausch gegen Aktien verkauft hatten und anschließend beteuerten, sie hätten nicht gewusst, dass er für betrügerische Zwecke missbraucht wurde. Diese Gerüchte konnten zwar in der Regel nicht konkretisiert werden, verstärkten aber den Eindruck, dass Abgeordnete sich selbst an Bubble Schemes bereicherten.292 Besonders beliebt waren die Aktien der von George Hudson, dem bedeutendsten Eisenbahnunternehmer seiner Zeit, geleiteten Unternehmen. Seit 1836 hatte Hudson ein Eisenbahnimperium aufgebaut, dessen Ausdehnung in Großbritannien unübertroffen war. Auf dem Höhepunkt der Railway Mania war er Direktor von vier großen Eisenbahnunternehmen, namentlich der York and North Midland Railway, der Midland Railway, der York, Newcastle and Berwick Railway und der Eastern Counties Railway. Des Weiteren leitete er rund ein Dutzend kleinerer Eisenbahnkompanien regionaler Bedeutung und hielt Beteiligungen an mehreren Zulieferunternehmen und Bankhäusern, die im Umfeld der Eisenbahnbranche operierten.293 Hudson schien ein besonderes Gespür für profitable Unternehmen zu haben, warfen doch alle seine Unternehmen außerordentlichen Gewinn ab. Selbst die Eastern Counties Railway, deren Vorsitz er 1845 übernahm und die zu diesem Zeitpunkt dem Bankrott nahe gewesen war, zahlte 1846 wieder eine stattliche Dividende von 9 Schilling pro 10 Pfund Aktie.294 Mit der Ausweitung seiner wirtschaftlichen Aktivitäten wuchsen auch seine politischen Ambitionen. Angesichts steigender Konkurrenz benötigte Hudson direkten Zugang zu nationalen politischen Institutionen, um bestenfalls konkurrierende Projekte bereits im parlamentarischen Stadium zu blockieren. Dies wurde im Frühjahr 1845 besonders evident, als eine Gruppe von Geschäftsleuten unter der Leitung von Edmund Beckett Denison Pläne für eine direkte Eisenbahnstrecke zwischen London und York publik machte. Dieses Projekt stellte eine Bedrohung für die York and North Midland Railway und für Hudsons Ambitionen, den gesamten Eisenbahnverkehr an der Ostküste Englands zu kontrollieren, dar.295 Für Hudson war es daher naheliegend, selbst für das Parlament zu kandidieren und dadurch seinen Einfluss in politischen Kreisen zu erweitern. Noch im gleichen Jahr trat er als konservativer Kandidat für den Wahlkreis Sunderland 291 292 293 294

The Times (10. 10. 1845), S. 8. The Times (16. 12. 1845), S. 3. The Times (24. 7. 1845), S. 5. Lambert, Richard S.: The Railway King. 1800–1871. London 1934, S. 21. Vaughan, Adrian: Railway Blunders. Hersham 2003, S. 10; Robb: White-Collar Crime, S. 45. 295 Hough, Richard: Six Great Railwaymen. London 1955, S. 91.

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im Nordosten Englands an. Er wurde nicht zuletzt wegen seiner wirtschaftlichen Verbindungen mit großer Mehrheit ins Parlament gewählt und begann damit, ein politisches Netzwerk in London aufzubauen.296 Da ein gewichtiger Teil der politischen Interessenvertretung im informalen Rahmen ablief, spielte neben der formalen Einflussnahme durch sein politisches Amt auch seine Integration in die gehobenen sozialen Kreise der Metropole eine wichtige Rolle. Direkt nach seiner Wahl zum Abgeordneten 1846 erwarb Hudson daher eine repräsentative Stadtvilla im Herzen Londons, die er dazu nutzte, zahlreiche Feste und Bälle zu veranstalten, auf denen sich die politische Elite des Landes traf. Er stand in engem Kontakt mit Lord George Bentinck, dem inoffiziellen Anführer der Protektionisten im Parlament und war Mitglied in diversen Gentlemen Clubs. Um seine bisher noch flüchtige Vernetzung in den höchsten politischen Kreisen langfristig zu festigen, arrangierte er für seine Tochter Ann die Heirat mit dem jungen Abgeordneten George Dundas, der aus der einflussreichen und alteingesessenen Zetland-Dynastie stammte.297 Hudsons politische und geschäftliche Netzwerke kamen vor allem in den bereits erwähnten Konfliktsituationen mit konkurrierenden Eisenbahnprojekten zum Tragen. Als die Bill der London and York Railway im Spätsommer 1845 im Parlament verhandelt wurde, setzte Hudson alles daran, ihre Passage zu verhindern.298 In seinem Auftrag überprüften Anwälte die Subskribentenlisten der London and York Railway und stießen dabei auf gefälschte Einträge. Die zusammengetragenen Informationen wurden von Hudsons Mittelsmännern als Petition gegen das Projekt im House of Lords eingebracht und führten zum Scheitern der Bill in der laufenden Sitzungsperiode. Die Art, in der die Untersuchungen abgelaufen waren, bewegten sich jedoch am Rande der Legalität und die zuständigen Untersuchungsausschüsse sahen in der Kampagne einen Missbrauch des Petitionsrechts.299 Im folgenden Jahr taten sich die Gründer der London and York Railway mit dem konkurrierenden Projekt der Direct Northern Railway zusammen und reichten unter dem Namen Great Northern Railway erneut einen Antrag ein. Schlussendlich konnte Hudson die Bewilligung einer direkten Eisenbahnverbindung zwischen London und York zwar verzögern, jedoch nicht verhindern. Ein erneuter Versuch Hudsons, wegen gefälschter Subskribentenlisten gegen die Great Northern Railway vorzugehen, verlief im Sande und die Strecke wurde im Herbst 1846 bewilligt.300 296 Näheres zur Wahl von Hudson siehe Kapitel 4.3. 297 Beaumont, Robert: The Railway King. A Biography of George Hudson. London 2002, S. 107. 298 Herapath’s Journal (21. 4. 1849), S. 394. 299 Arnold, McCartney : George Hudson, S. 101. 300 The Times (27. 4. 1846), S. 4.

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Je komplexer Hudsons Geschäftsverhältnisse wurden, desto schwieriger gestaltete es sich, die teils gegenläufigen Wirtschaftsinteressen seiner Unternehmen in Einklang zu halten. Der Niedergang seines Eisenbahnimperiums begann im Winter 1847, als Hudson versuchte, eine Einigung mit der Great Northern Railway und ihrem Leiter Edmund Denison über die Streckenführung der neuen Linie in das Stadtzentrum von York zu erzielen. Der Kompromiss, den Hudson mit Denison schloss, war zwar vorteilhaft für die York and North Midland Railway, hatte aber Nachteile für die Midland Railway und verdeutlichte, dass die Weitläufigkeit seiner Geschäftsverpflichtungen zwangsläufig zu Interessenkonflikten führen musste und auf Dauer den einzelnen Unternehmen auch wirtschaftlich schadete.301 Im gleichen Jahr erschien ein Pamphlet unter dem Titel »Bubble of the Age«, in dem Arthur Smith, ein bis dato in der Öffentlichkeit gänzlich unbekannter junger Jurist, auf Ungereimtheiten bei der Unternehmensführung von George Hudson aufmerksam machte. Smith zog in seinem Werk Parallelen zwischen den Spekulationswellen der Railway Mania und der South Sea Bubble von 1720 und äußerte die Vermutung, dass einige Unternehmen ihre Dividenden aus Kapital und nicht aus dem erwirtschafteten Gewinn bezahlten. Obendrein warf er Hudson vor, Aktienpakete für sich und befreundete Direktoren unterschlagen zu haben.302 Die Eisenbahnpresse versuchte zunächst, Smith als unterbeschäftigten und nach Aufmerksamkeit heischenden Anwalt zu diskreditieren.303 Als die Krise der Branche im Oktober desselben Jahres nicht mehr zu ignorieren war, wurde auch Smiths Veröffentlichung ernster genommen. Aufgeschreckt durch Smiths Publikation und die fallenden Dividenden in einigen der von George Hudson geleiteten Unternehmen, stellten zwei Aktionäre und Mitglieder der Londoner Börse, Horacio Love und Robert Prance, Nachforschungen an und stießen in den Büchern der York, Newcastle and Berwick Railway auf Unregelmäßigkeiten bei den Abrechnungen.304 Sie präsentierten ihre Ergebnisse während einer Aktionärsversammlung im Frühjahr 1849 und forderten einen Untersuchungsausschuss, der Aufklärung verschaffen sollte.305 Wenige Wochen später präsentierten die beiden Abgeordneten Edward Divett und Francis Charteris Petitionen von Aktionären 301 Herapath’s Journal (21. 4. 1849), S. 394. 302 Smith, Arthur : The Bubble of the Age. Or, the Fallacies of Railway Investments, Railway Accounts and Railway Dividends. London 1848, S. 15, 45. 303 Odlyzko, Andrew : The Collapse of the Railway Mania, the Development of Capital Markets, and Robert Lucas Nash, a Forgotten Pioneer of Accounting and Financial Analysis. Onlinepublikation unter : http://www.dtc.umn.edu/~odlyzko/doc/mania02.pdf, S. 18–19. Zuletzt geprüft am 10. 04. 2015. 304 Beaumont: The Railway King, S. 114. 305 Ebd., S. 110.

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der Eastern Counties Railway im Parlament, die eine offizielle Untersuchung zu Hudsons Geschäftsleitung forderten.306 Damit war eine Lawine losgetreten, die nach und nach sämtliche von Hudson geleiteten Eisenbahnunternehmen erfasste und ein weit verzweigtes System aus Insiderhandel und gefälschten oder nicht korrekt geführten Büchern offenbarte. Der von der Aktionärsversammlung der York and North Midland Railway eingerichtete Untersuchungsausschuss berichtete, dass ungenügend bis gar nicht geführte Bücher es Hudson erlaubt hätten, zwischen 1844 und 1848 nicht erwirtschaftete Dividenden im Wert von 122.000 Pfund an die Aktionäre auszuschütten und so den wahren wirtschaftlichen Zustand des Unternehmens zu verschleiern. Überdies kam er zu dem Schluss, dass Hudson die ihm übertragenen Befugnisse missbraucht hatte, um sich privat zu bereichern. Hudson hatte sich selbst 10.000 Aktien unentgeltlich zugeteilt und mit einem Gewinn von 145.000 Pfund verkauft.307 In den übrigen von Hudson geleiteten Unternehmen wurden in den folgenden Monaten ähnliche Missbräuche aufgedeckt. Daher war er gezwungen, schrittweise von sämtlichen Direktorenposten zurückzutreten.308 Die Ergebnisse der Untersuchungen zogen zahlreiche zivilrechtliche Verfahren nach sich, in denen Hudson von seinen ehemaligen Unternehmen auf die Rückerstattung der veruntreuten Gelder verklagt wurde. Die immense Komplexität der Sachverhalte und die allenfalls rudimentäre Buchführung, die Hudsons Finanztransaktionen ermöglicht hatten, erschwerten auch die Aufarbeitung der Fälle und hatten zur Folge, dass sich die Gerichtsverfahren über Jahre hin zogen.309 Noch 1854 befasste sich ein Gericht mit einer Schadensersatzklage der York and North Midland Railway. Zu diesem Zeitpunkt war Hudson allerdings schon finanziell ruiniert und nur seine Immunität als Parlamentarier bewahrte ihn vor dem Schuldnerhaus. Um sich dem Zugriff seiner Gläubiger zu entziehen, war er gezwungen, die sitzungsfreien Perioden der folgenden Jahre im Ausland zu verbringen.310 Wesentlich schneller als die Abwicklung der juristischen Verfahren und der damit einhergehende finanzielle Ruin vollzog sich Hudsons sozialer und politischer Abstieg. Hudson wurde in der Öffentlichkeit von Beginn an häufig als ungebildeter Neureicher dargestellt, der in den gehobenen Gesellschaftskreisen nur aufgrund seiner Wirtschaftsverbindungen geduldet wurde. Er war in länd306 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 105. Sp. 581–589, Sp. 582. 307 York and North Midland Railway. Second Report of the Committee of Investigation. To be Laid Before the Meeting of Shareholders on the Sixth Day of September 1849. York 1849, S. 23. 308 Herapath’s Journal (21. 4. 1849) S. 394. 309 Bailey, Brian: George Hudson. The Rise and Fall of the Railway King. Phoenix Mill 1995, S. 122–124. 310 Lambert: The Railway King, S. 289.

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lichen Verhältnissen im Norden von Yorkshire aufgewachsen und in seiner frühen Jugend nach York umgesiedelt, um dort eine Ausbildung als Leinenhändler zu absolvieren. Wenige Jahre später heiratete er die Tochter der Eigentümerin des Geschäfts Richardson & Bell und wurde dessen Teilhaber. 1827 wurde er durch eine Erbschaft quasi über Nacht zu einem der reichsten Einwohner Yorks.311 Mit dem Reichtum kam auch der Aufstieg in die gehobenen sozialen Kreise von York und wenig später von London. Es zeigte sich jedoch schnell, dass seine Integration in die gesellschaftliche Elite Londons allenfalls oberflächlich gewesen war und die geknüpften Verbindungen kaum belastbar waren. Bereits wenige Tage nach der Einrichtung des Untersuchungsausschusses der York, Newcastle and Berwick Railway wurde er von einem Treffen der protektionistischen Politiker unter der Führung von Lord Derby ausgeladen.312 Auch die Verlobung seiner Tochter Ann mit George Dundas wurde bereits 1848 wieder gelöst. In York wurde er von der Liste der Aldermen gestrichen und die nach ihm benannte Hudson Street in Railway Street umgetauft. Innerhalb weniger Monate wandelte sich Hudsons soziale Stellung vom gefeierten und gefürchteten Eisenbahnmagnaten zur persona non grata in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens.

2.2. Bestechung durch die Vergabe von Aktienpaketen Es hat den Anschein, dass Hudson sich auch im Bereich der politischen Interessenpolitik intransparenter und illegitimer Praktiken bediente. Der Prozess über Schadenersatzzahlungen zwischen Hudson und der York and North Midland Railway brachte zutage, dass Hudson 900 Aktien des Unternehmens an »various parties to advance the interests of the York and North Midland« abgegeben hatte. Offensichtlich waren Aktienpakete dazu genutzt worden, um parlamentarische Unterstützung zu erkaufen.313 An wen die Aktienpakete gegangen waren, wurde jedoch niemals abschließend geklärt. Einige Jahre später kam das Thema während der Verhandlungen über die Schadensersatzklage der London and North Midland Railway erneut zur Sprache. Auf die Nachfrage des Master of Rolls, des Vorsitzenden des zuständigen obersten Berufungsgerichts, verweigerte Hudson eine Aussage mit der Begründung, er wolle in der Öffentlichkeit niemanden belasten.314 Anscheinend fühlte sich Hudson so sehr an seine 311 Beaumont: The Railway King, S. 18. 312 Arnold, McCartney : George Hudson, S. 176. 313 York and North Midland Railway. Second Report of the Committee of Investigation. To be Laid Before the Meeting of Shareholders on the Sixth Day of September 1849. York 1849, S. 23. 314 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 130. S. 319–340, S. 338.

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geheimen Absprachen gebunden, dass er bereit war, persönliche Nachteile und einen immensen Ansehensverlust in Kauf zu nehmen. Die persönlichen Bindungen innerhalb seines Netzwerkes übertrumpften für ihn die Forderung der Öffentlichkeit nach Transparenz und Sachgerechtigkeit im politischen Prozess. Auch der zuständige Richter sah nach einem persönlichen Gespräch mit Hudson keinen Anlass, die Namen der bestochenen MPs oder weitere Details des Falles zu veröffentlichen.315 Offensichtlich handelte es sich bei der Vergabe von Aktienpaketen an Abgeordnete, wenn schon nicht um eine kriminelle, so doch zumindest um eine moralisch fragwürdige Praktik, die den Ruf der involvierten Personen schädigen und mit direkter Bestechung gleichgesetzt werden konnte. Es bestand jedoch nur ein geringes Interesse bei den mit der Aufklärung beschäftigten Institutionen, sowohl dem Gericht wie auch dem Parlament, die beteiligten Personen durch namentliche Bekanntmachung öffentlich zu diskreditieren. Dieses geringe Interesse erklärt sich auch durch den Umstand, dass eine Skandalisierung des Falls negative Auswirkungen für den Ruf der gesamten politischen Elite gehabt hätte.316 Auch bei der von George Hudson geleiteten Eastern Counties Railway wurden verdächtige Posten in den Büchern entdeckt, die zunächst auf Bestechung von Parlamentariern hinzudeuten schienen. Der schottische Abgeordnete Francis Charteris berichtete während einer Debatte im Parlament über eine Summe von 7.606 Pfund, die als Parliamentary Expenses eingetragen waren, deren Verwendung im parlamentarischen Verfahren aber nicht nachzuvollziehen war. Er äußerte den Verdacht, dass diese Mittel möglicherweise für die Bestechung von Abgeordneten verwendet worden waren und forderte den Ausschluss Hudsons aus dem Parlament, sollten sich die Anschuldigungen gegen ihn bewahrheiten.317 Wegen der möglichen Kompromittierung von Abgeordneten wurde ein eigener parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet. Die Untersuchungen ergaben jedoch, dass die Gelder nicht für Bestechungen von Parlamentariern verwendet, sondern dafür gedacht gewesen waren, die Aktionäre der konkurrierenden London and York Railway während der Auseinandersetzung 1846 zu einem Putsch gegen Denison und das Direktorium der Eisenbahngesellschaft zu bewegen und so eine Fusion mit der Eastern Counties Railway herbeizuführen.318 George Hudson war bei weitem nicht der einzige Eisenbahndirektor des 19. Jahrhunderts, der auf zwielichtige Buchhaltungs- und Geschäftspraktiken zurückgriff. Aktiengesellschaften, in denen eine weitgehende Trennung zwi315 Ebd. 316 Die Times kommentierte, dass hier offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen wurde und der Fall vertuscht werden sollte. The Times (8. 2. 1854), S. 9. 317 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 105. Sp. 581–589. Sp. 581. 318 The Times (16. 6. 1849), S. 8.

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schen Kapital und der persönlichen Verantwortung der Unternehmensleitung bestand, begünstigten anscheinend neue Formen der Wirtschaftskriminalität. Bisher war Kriminalität vor allen Dingen ein Problem der »ungebildeten« Unterschichten gewesen.319 Nun traten vermehrt Fälle von kriminellem Verhalten bei Angehörigen der Mittelklasse und sogar der Oberschicht zutage.

2.3. Spekulation, Korruption und Wirtschaftskriminalität – Zum »Niedergang« der Wirtschaftsethik während der Railway Mania Die Railway Mania von 1845–1848 hinterließ in der britischen Öffentlichkeit eine tiefgreifende Verunsicherung. Der auf den Mittelstand erweiterte Anlegerkreis in Aktien der Eisenbahnunternehmen bewirkte ein breites öffentliches Interesse. Debatten über wirtschaftsethische Standards der Eisenbahnunternehmer fanden nun nicht mehr ausschließlich innerhalb der politischen und ökonomischen Elite statt, sondern wurden auch von populären Journalen und Literaten aufgegriffen. Auch Satiremagazine, allen voran der 1841 gegründete Punch, nahmen sich des Themas an und brachten in regelmäßigen Abständen Cartoons, in denen sie den Ansturm auf Eisenbahnaktien und die Auseinandersetzungen konkurrierender Interessensgruppen im Parlament überspitzt darstellten.320 Ein früher, aber dennoch besonders scharfsinniger Beitrag zur Debatte über die Railway Mania kam von William Aytoun, der bereits im Herbst 1845 einen Kurzgeschichte unter dem Titel The Glenmutchkin Railway verfasste. In seinem Buch stellte er die Methoden von Eisenbahnpromotern in satirischer Weise dar und versuchte dadurch, die Öffentlichkeit auf die drohende Spekulationsblase aufmerksam zu machen.321 In der zeitgenössischen Literatur diente George Hudson häufig als Vorlage für den prototypischen Eisenbahndirektor. Anthony Trollope verwendete seine Person ebenso als Vorbild für den Charakter des Augustus Melmotte in seiner Novelle »The way we live now«, wie Charles Dickens ihn für Mr. Merdle in »Little Dorrit« heranzog.322 319 Robb: White-Collar Crime, S. 3. 320 Taylor, James: Business in Pictures. Representations of Railway Enterprise in the Satirical Press in Britain 1845–1870. In: Past & Present (2005) 189. S. 111–145, S. 118. 321 »Such is an accurate history of the origin, rise, progress and fall of the Direct Glenmutchkin Railway. It contains a deep moral, if anybody has sense enough to see it; if not, I have a new project in my eye for next session, of which timely notice shall be given.« Aytoun, William Edmondstoune: How We Got up the Glenmutchkin Railway and How We Got out of It. In: Blackwood’s Magazine (1845) 58. S. 453–466, S. 466. 322 Maunder, Andrew u. Grace Moore: Einleitung. In: Victorian Crime, Madness and Sensation. Hrsg. von Andrew Maunder u. Grace Moore. Aldershot, 2004, S. 1–14. S. 7.

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Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Railway Mania und ihren Ursachen rückte mehrere problematische Aspekte des modernen Kapitalismus in den Fokus der Aufmerksamkeit, die eng miteinander verknüpft waren. Zum einen stellte sich die Frage, wie es zu der Spekulationsblase kommen konnte und was getan werden konnte, um ähnliche Entwicklungen in Zukunft zu verhindern. Zum anderen erforderte die ansteigende Wirtschaftskriminalität neue Bekämpfungsstrategien. Die Bewertung von Spekulation war problematisch, weil ihr widersprüchliche Dogmen zugrunde lagen, die fest im protestantisch geprägten Kapitalismus verankert waren und die Wirtschaftsmoral des viktorianischen Zeitalters prägten. Einerseits wurde wirtschaftlicher Erfolg als hohes Gut angesehen.323 Andererseits wurde ungezügeltes Gewinnstreben als verwerflich gebrandmarkt.324 Diese Ambivalenz zeigt sich besonders deutlich in der Bewertung spekulativer Anlagen, denn häufig war die Grenze zwischen mutigen Investitionen und leichtsinniger Spekulation verschwommen und nur schwer zu ziehen.325 Die Ursachen von Überspekulation waren ebenfalls schwer exakt zu erfassen. Augenscheinlich war die Spekulationsblase durch Anleger mit verursacht worden, die auf der Suche nach schnellen Gewinnen ihr Urteilsvermögen verloren hatten.326 Heute gehen Wirtschaftswissenschaftler davon aus, dass das Anlageverhalten an Aktienmärkten stark durch emotionale Entscheidungen geprägt wird und häufig einem Mitläufereffekt unterliegt.327 Dies war auch den zeitgenössischen Kommentatoren der Railway Mania deutlich bewusst. Schon der Begriff Mania drückt aus, dass hier nicht der rationale homo oeconomicus am Werke war. Die Times versuchte das Verhalten der Anleger durch ein massenpsychologisches Phänomen zu erklären, wonach alle Bevölkerungsschichten von einem »reckless spirit of adventure« ergriffen worden seien.328 In vielen Zeitungsbeiträgen zur Spekulationswelle finden sich Begriffe aus dem Bereich der Medizin und Psychologie, die den Anlegern ein vermindertes Urteilsvermögen aufgrund von Geisteskrankheiten oder Sucht bescheinigten.329 Das reformorientierte Journal The Spectator berichtete: »It is a moral disease that is beyond the cure of law or legislation. Nor is it easy to see whence reform is to come.«330 Der Nachteil dieses Erklärungsansatzes bestand darin, dass er, wenn 323 Searle, Geoffrey R.: Morality and the Market in Victorian Britain. Oxford 1998, S. 79. 324 Wohlfeil, Harald: »There surely must be a morality for railway people«. Eisenbahnskandale und die Aushandlung wirtschaftsethischer Normen Mitte des 19. Jahrhunderts in England. Magisterarbeit. Freiburg i. Br. 2007, S. 31. 325 Robb: White-Collar Crime, S. 181. 326 Searle: Morality, S. 81. 327 Shiller, Robert J.: Irrational Exuberance. Princeton [u. a.] 2005, S. 2. 328 The Times (30. 8. 1845), S. 4. 329 Wohlfeil, Harald: There surely must, S. 26. 330 The Spectator (19. 7. 1845), S. 686.

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überhaupt, nur kollektive Schuldzuweisungen erlaubte und nur bedingt Lösungs- oder Verbesserungsansätze für die Zukunft bot. Krankheiten können nicht durch Moral oder Disziplin bekämpft werden und implizieren eine Schuldunfähigkeit der Akteure. Samuel Smiles, ein Radical, der in den 1840er Jahren zunächst als Sekretär bei der Leeds and Thirsk Railway und anschließend bei der South Eastern Railway gearbeitet hatte, machte Spekulationen für den Niedergang der Geschäftsmoral verantwortlich.331 Smiles hatte sich in den 1830er Jahren für parlamentarische Reformen eingesetzt, zog sich in den 1840er Jahren aber aus der Reformpolitik zurück und konzentrierte sich stattdessen auf self-improvement als Mittel, um gesellschaftliche Missstände zu beheben.332 Self-improvement, wie ihn Smiles in seinen Werken predigte, konnte allerdings deshalb nur bedingt Abhilfe schaffen, weil viele Anleger ihr Geld in gutem Glauben in Eisenbahnaktien angelegt hatten und nur ein Bruchteil des Kapitals aus kurzfristigen Spekulationen stammte. Die Anleger konnten daher nur partiell für die Folgen der Railway Mania verantwortlich gemacht werden.333 Wesentlich eindeutiger fiel hingegen das Urteil über die ethischen Standards der Vertreter der Eisenbahnbranche aus. Wirtschaftskriminalität war ein Phänomen der Ober- und Mittelschicht und wurde aus zeitgenössischer Sicht als besonders moralisch verwerflich angesehen, weil sie nicht aus einer sozialen Notsituation heraus verübt wurde, oder durch mangelnde Bildung und damit einhergehend einem gering ausgeprägten Urteilsvermögen zu erklären war. Ihre Motivation war nicht die Befriedigung eines elementaren Bedürfnisses, sondern die Multiplikation ohnehin schon vorhandenen Wohlstandes.334 Angesichts der zunehmenden Berichterstattung über Bubbles Schemes und Betrugsfälle verbreitete sich während der Railway Mania der Eindruck, die Eisenbahnbranche sei ein System, dem der moralische Kompass abhanden gekommen sei und dessen Protagonisten ohne Regeln und Ordnung operierten. In einem Leitartikel stellte der Kommentator der Times im Juni 1846 fest: »There 331 »Amongst the many ill effects of the mania, one of the worst was that it introduced a low tone of morality into railway transactions. The bad spirit which had been evoked by it unhappily extended to the commercial classes, and many of the most flagrant swindles of recent times had their origin in the year 1845.« Smiles, Samuel: The Lives of Engineers. George and Robert Stephenson. London 1879 (Bd. 4), S. 294. 332 Zu Smiles Reformzielen zählte die Einführung des allgemeinen und geheimen Wahlrechts. Er propagierte außerdem den Freihandel und die Abschaffung von Vermögensqualifikationen für Abgeordnete sowie die Einführung von Diäten. Vgl. Briggs, Asa: Victorian People. A Reassessment of Persons and Themes. 1851–67. London 1985, S. 116–139. 333 The Times (30. 8. 1845), S. 4; vgl. auch: Taylor, James: Business in Pictures, S. 115. 334 Wilson, Gary u. Sarah Wilson: »Getting away with it« or »Punishment enough«? The Problem of »respectable« Crime from 1830. In: Corruption in Urban Politics and Society, Britain 1780–1950. Hrsg. von James Moore u. John Smith. Aldershot 2007. S. 57–80, S. 64.

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must surely be a morality for railway people as well as for other people.« Der Finanzjournalist der Times David Morier Evans veröffentlichte 1859 eine Zusammenstellung der bedeutendsten Wirtschaftsverbrechen seit den 1830er Jahren, die er mit einer detaillierten Analyse der Finanzpraktiken von George Hudson eröffnete. In seinem Resümee schlussfolgerte Evans, dass die auffällige Häufung von Wirtschaftsdelikten darauf hindeute, dass es sich hier nicht nur um die Verfehlungen einzelner Individuen handele, sondern einen Indikator für verminderte wirtschaftsethische Standards.335 Für den Fall Hudson würde dies bedeuten, dass er ein Produkt seiner Umgebung war, die unehrliche Geschäftspraktiken zwar nach außen hin verdammte, in der Praxis aber sogar noch förderte. Dennoch wurde George Hudson in weiten Teilen der Presse zum Hauptschuldigen der Railway Mania stilisiert, denn er verkörperte im Rückblick alle negativen Attribute, die mit dem Finanzkapitalismus in Verbindung gebracht wurden. Schon früh wurden zahlreiche Diskussionen über die ethischen Standards seines unternehmerischen Handelns geführt, die ihm den ambivalenten Beinamen »Railway King« einbrachten, der sowohl Bewunderung wie auch Missgunst zum Ausdruck brachte.336 Als die Enthüllungen rund um George Hudsons Verfehlungen ihren Höhepunkt erreichten, mehrten sich jedoch auch die Stimmen, die seine öffentliche Aburteilung für unangebracht hielten. Sie prangerten die Doppelmoral vieler Kritiker an, die im öffentlichen Diskurs die Einhaltung hoher ethischer Standards im Geschäftsverkehr forderten, in der Praxis aber selbst ökonomischem Profit den Vorzug einräumten. Der einflussreiche Essayist und Historiker Thomas Carlyle vermerkte, dass die Gesellschaft sich zwar stets über Hudson mokiert habe, aber so lange nichts gegen seine Geschäftsmethoden einzuwenden gehabt habe, wie er wirtschaftlichen Erfolg vorweisen konnte und die Aktionäre seiner Unternehmen hohe Dividenden erhielten.337 George Hudson verteidigte seine Geschäftspraktiken mit ähnlichen Argumenten. Er verwies darauf, dass er immer im Sinne der Aktionäre gehandelt und daher einen wichtigen Beitrag zum Gemeinwohl geleistet habe.338 Seine persönlichen Gewinne stellten nur einen gerechten Lohn für seine Bemühungen dar. 335 »The closeness with which one crime follows upon another, and the similarity of motives that lies at the bottom of them all, will sufficiently show that they do not represent the simple perverseness of individual natures, but are so many indices of a depreciated, and apparently bad, moral atmosphere that has of late pervaded the whole of the commercial world.« Evans, David Morier : Facts, Failures, and Frauds. Revelations Financial, Mercantile, Criminal. London 1859, S. 5. 336 Beaumont: The Railway King, S. 2. 337 Carlyle, Thomas: Collected Works. Latter-Day Pamphlets. London 1850, S. 311. 338 Herapath’s Journal (21. 4. 1849), S. 394.

Strategien zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität

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Dass er auf lange Sicht sicherlich zum Schaden seiner Unternehmen gehandelt hatte, übersah er geflissentlich. Während einer Debatte im Parlament bezog er den Standpunkt, er habe zwar möglicherweise in einigen Fällen rechtswidrig gehandelt, jedoch niemals gegen moralische Grundsätze verstoßen.339

2.4. Strategien zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität Es standen zwei mögliche Strategien zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität zur Verfügung: Selbstregulierung der Geschäftswelt durch verbindliche ethische Standards und externe Regulierung durch Kontrollinstanzen. Die Times betonte in ihrem bereits zitierten programmatischen Leitartikel, dass die Regeln des gesellschaftlichen Lebens auch für die Eisenbahnbranche gelten müssten. Insbesondere »honour«, »honesty« und »good faith« dürften nicht als überholte Werte aus vergangenen Tagen angesehen werden.340 Ehre, Ehrlichkeit und daraus resultierend Vertrauenswürdigkeit waren Werte, die im traditionellen Geschäftsverkehr eine große Rolle spielten und wesentliche Aspekte eines Verhaltenskodex darstellten, der als verbindlich galt.341 Diese Werte waren durch die zunehmende Anonymisierung der Geschäftsbeziehungen in großen Aktienunternehmen jedoch immer schwerer abzusichern. Insbesondere das Verhältnis zwischen der operativen Leitung der Firmen und den Aktionären musste auf anderen Prinzipien als persönlicher Bekanntschaft basieren. Das Vertrauensdefizit, das durch die personelle Trennung von Kapitalgebern und Geschäftsleitung entstand, sollte durch die Integration von Personen des öffentlichen Lebens in die Unternehmen ausgeglichen werden, deren gesellschaftlicher Status auch mit diesem spezifischen Wertekanon assoziiert wurde. Doch auch der gesellschaftliche Status einer Person war als Kontrollmechanismus keineswegs unfehlbar. Die Praktiken der Bubble Schemes mit ihren gefälschten Subskribentenlisten zeigten nur zu deutlich, dass Vertrauen in die Kredibilität bekannter Personen leicht zu missbrauchen war. Die Entwicklung unternehmerischer Moral und die existierenden Praktiken der Vertrauensbildung reichten anscheinend häufig nicht aus, um den komplexen 339 George Hudson: »Therefore, I say my position has been one of misfortune; I have been morally right, but legally wrong. … But until I am convinced that I have done anything not only legally but morally wrong, I shall abide, amidst the vituperations of the press, or of any other individual who may choose to attack my character or position.« In: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 130. S. 342–345, S. 342 340 The Times (25. 6. 1846), S. 4. 341 Die Einhaltung eines bestimmten Verhaltenskodex hatte auch deshalb eine hohe Bedeutung für Unternehmer, da sie dadurch ihre Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite unterstreichen konnten. Vgl. Daunton, Martin J.: State and Market in Victorian Britain. War, Welfare and Capitalism. Woodbridge 2008, S. 153.

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Organisationsstrukturen der modernen Aktienunternehmen gerecht zu werden.342 Weitere Kontrollmechanismen waren daher notwendig. Zeitgenössische Wirtschaftsfachleute gingen davon aus, dass Aktionäre, schon um ihre Investitionen zu sichern, auch als Kontrollinstanz der Direktoren fungieren würden.343 In der Realität traf diese Annahme jedoch häufig nicht zu, da Anleger in der Regel nur dann aktiv wurden, wenn die Dividenden ausblieben.344 1854 veröffentlichte der Soziologe Herbert Spencer einen Aufsatz in der Edinburgh Review unter dem Titel »Railway Morals and Railway Policy«, in welchem er einen systematischen Missbrauch der angelegten Gelder durch Eisenbahndirektoren beschrieb. In seinem furiosen Pamphlet rechnete der englische Philosoph und Wegbereiter der modernen Soziologie mit all jenen Akteuren ab, denen er die Schuld an der Railway Mania gab.345 Herbert Spencer konnte dabei mit Fug und Recht als Experte und intimer Branchenkenner auftreten. In den 1830er Jahren war er zunächst als Ingenieur bei der Birmingham and Gloucester Railway beschäftigt gewesen, kündigte dort aber 1841, nachdem die Rumpfstrecke fertig gestellt worden war. Von 1845 an, als Ingenieure mit Fachkenntnissen wegen des Booms besonders gesucht waren, arbeitete er erneut in der Eisenbahnbranche, nur um ihr wenige Jahre später endgültig den Rücken zu kehren.346 Er beließ es in seinem Aufsatz nicht, wie so häufig geschehen, bei diffusen Schuldzuweisungen, sondern war bemüht, die Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, die zu der Spekulationsblase geführt hatten. Die Interessen der Eisenbahndirektoren deckten sich seiner Ansicht nach nicht zwangsläufig mit den Interessen der Aktionäre.347 Direktoren wurden beispielsweise kaum Grenzen bei 342 Channon, Geoffrey : The Business Morals of British Railway Companies in the Mid-Nineteenth Century. In: Business and Economic History 28 (1999) H. 2. S. 69–79, S. 69. 343 The Times (25. 5. 1848), S. 4. 344 Taylor : Business in Pictures, S. 115. 345 Spencer, Herbert: Railway Morals and Railway Policy. In: Essays. Scientific, Political and Speculative. London 1868 (Erstmals erschienen in: Edinburgh Review, 1854), S. 251–311. 346 Odlyzko: Collective Hallucinations, S. 74. 347 John Stuart Mill betrachtete wegen dieses Interessenkonflikts Aktienunternehmen als eines der wenigen Wirtschaftsfelder, in dem vom Prinzip des Laissez-faire abgewichen werden sollte. »The third exception which I shall notice, to the doctrine that government cannot manage the affairs of individuals as well as the individuals themselves, has reference to the great class of cases in which the individuals can only manage the concern by delegated agency, and in which the so called private management is, in point of fact, hardly better entitled to be called management by the persons interested, than administration by a public officer. Whatever, if left to spontaneous agency, can only be done by joint-stock associations, will often be as well, and sometimes better done, as far as the actual work is concerned, by the state. Government management is, indeed, proverbially jobbing, careless, and ineffective, but so likewise has generally been joint-stock management. The directors of a joint-stock company, it is true, are always shareholders; but also the members of a

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der Auswahl ihrer Nebentätigkeiten gesetzt, was häufig zu divergierenden Interessenlagen führte, wie das Beispiel von George Hudson anschaulich illustriert. Aktionäre hatten wegen der rudimentären Buchhaltung vieler Unternehmen nur eingeschränkte Möglichkeiten, Einblick in die Arbeit der Direktoren zu nehmen, und daher ein Informationsdefizit. Der Untersuchungsausschuss der York and North Midland Railway kam zu dem Schluss, dass die Ursache für die Missbräuche durch Hudson in seiner dominierenden Machtstellung im Unternehmen gelegen hatte, wodurch er sowohl sein Urteilsvermögen wie auch sein ethisches Unrechtsbewusstsein verloren habe.348 Aktionäre konnten daher in der Regel erst dann regulierend eingreifen, wenn der Schaden bereits entstanden war und schieden als Kontrollinstanz deshalb weitgehend aus. Herbert Spencer entwickelte eine strukturalistische These, die besagte, dass Eisenbahngesellschaften aufgrund ihrer Mischung aus vertikal stratifizierten Machtstrukturen in den Direktorien und den horizontal angelegten demokratischen Kontrollinstanzen der Aktionärsversammlungen von Natur aus anfällig für Missbräuche seien.349 Eisenbahndirektoren hatten nach Spencers Einschätzung keinen niedrigeren moralischen Standard als andere Geschäftsleute. Die Umstände und die Struktur der Unternehmen begünstigten und belohnten aber regelwidriges Verhalten. Gerade die Trennung von Kapital und Unternehmensführung führe dazu, dass die Leiter der Unternehmen Geschäftspraktiken anwendeten, von denen sie im persönlichen Geschäftsverkehr Abstand genommen hätten. Durch die Anonymität der Aktienunternehmen ließen sich Missbräuche zudem leichter vor dem eigenen Gewissen rechtfertigen. Spencer merkte an, die »corporate conscience« sei »ever inferior to the individual conscience«.350 Ähnliche Aussagen werden auch Edmund Beckett Denison zugeschrieben: »a man was sometimes forced to do things as a railway chairman which as a private person he would shrink from.«351 Denison spielte wohl auf den immensen Druck, Gewinne zu erwirtschaften an, der auf den Leitern der Unternehmen lastete und seiner Meinung nach so manchen Direktor zu Verzweiflungstaten trieb.

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government are invariably taxpayers; and in the case of directors, no more than in that of governments, is their proportional share of the benefits of good management, equal to the interest they may possibly have in mismanagement, even without reckoning the interest of their case.« Mill, John Stuart: The Principles of Political Economy. With Some of their Applications to Social Philosophy. Boston 1848 (Bd. 2), S. 537. »Mr. Hudson lost his better judgement and his moral rectitude, when left with the entire control of your line.« In: York and North Midland Railway. Second Report of the Committee of Investigation. To be Laid Before the Meeting of Shareholders on the Sixth Day of September 1849. York 1849, S. 3. Spencer: Railway Morals, S. 252. »In the first place, there is the familiar fact, that the corporate conscience is ever inferior to the individual conscience – that a body of men will commit as a joint act, that which every individual would shrink from, did he feel personally responsible.« Ebd., S. 261. Zitiert nach: Hough: Six Great Railwaymen, S. 123.

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2.5. Der Staat als Kontrollinstanz des Aktienhandels Eine weitere potentielle Kontrollinstanz war der Staat. Er überwachte ohnehin bestimmte Bereiche der Eisenbahnindustrie und eine Erweiterung dieser Kontrollfunktionen auf betriebswirtschaftliche Bereiche hätte nahegelegen. Auch die Verbrechensbekämpfung war eine klassische Domäne des Staates, die selbst überzeugte Verfechter eines schlanken Staates nicht infrage stellten. Zu beurteilen, wo kriminelle Motive begannen und wo unternehmerisches Unvermögen aufhörte, war jedoch nicht immer einfach. Viele Praktiken, die heute strafrechtliche Tatbestände darstellen würden, fielen im 19. Jahrhundert in den Bereich von unehrenhaften Geschäftspraktiken und wurden nur bedingt als juristisches Problem gesehen. Im Fall Hudson wäre eine strafrechtliche Verfolgung durch die politische Immunität, die er als Abgeordneter genoss, weiter erschwert worden.352 Verstärkte staatliche Kontrolle durch Regulierung war angesichts der vorherrschenden liberalen Doktrin in den 1840er Jahren nur schwer durchzusetzen. Der Staat konnte und durfte selbst verschuldete und fahrlässige Fehlinvestitionen nicht verhindern. Jedoch musste er Rahmenbedingungen schaffen, die es ermöglichten, Investitionen fundiert zu bewerten, insbesondere wenn, wie im Falle des Eisenbahnbaus, die Vergabe spezieller Rechte und Privilegien durch den Staat erforderlich war. Hierzu musste die Kompetenz und Unabhängigkeit der Kontrollgremien sichergestellt werden.353 In Großbritannien war Regulierung in Bezug auf Private Bills in der Regel gleichbedeutend mit einer Stärkung der Legislative, die als zuständige Instanz angesehen wurde, um entsprechende Schritte gegen Wirtschaftskriminalität und Spekulation gleichermaßen einzuleiten. Die Times gehörte zu den frühen Kritikern der Railway Mania. Bereits im Sommer 1844 warnte sie unter dem Eindruck der parlamentarischen Debatten zum Joint Stock Companies Act vor einer Spekulationsblase.354 Ein Jahr darauf, als die Investitionen in Eisenbahnaktien bisher ungeahnte Ausmaße annahmen, wies sie darauf hin, dass zu viel Kapital in Eisenbahnaktien gebunden sei, das nun anderen Wirtschaftsbereichen nicht mehr zur Verfügung stünde und konstatierte im Anschluss, dass die Legislative jegliche Kontrolle über den Eisenbahnbau verloren habe.355 Anthony Trollope beschrieb in seinem Stück »Three 352 353 354 355

Wilson, Wilson: Getting Away, S. 71. Anonym: Railways and the Board of Trade. London 1845, S. 6. The Times (4. 7. 1844), S. 4. »Whence is to come all the money for the construction of the projected railways? is a question which at the present day we often hear familiarly repeated. … The pace of railway speculation has fairly outrun the power and control of the Legislature.« In: The Times (1. 7. 1845), S. 4.

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Clerks« Eisenbahnspekulation als ein zersetzendes Element, das insbesondere die Unabhängigkeit des Parlaments zu unterwandern drohte.356 Die entscheidende Frage war nun, wie es dazu kommen konnte, dass die Legislative ihrer Aufgabe nicht in entsprechendem Maße gerecht werden konnte. Ein Erklärungsansatz für das Versagen der staatlichen Kontrollinstanzen war die Korruptionsanfälligkeit der politischen Elite durch den steigenden Einfluss der Wirtschaft. Die Geschäftspraktiken der Aktienunternehmen gaben von jeher Anlass zu Korruptionsdebatten. Die Handelskompanien des 17. Jahrhunderts wurden zum Gegenstand von Korruptionsvorwürfen, da der Monarch scheinbar willkürlich seinen Klienten Privilegien erteilte und dadurch dem Gemeinwohl zuwider handelte.357 Nach der Glorious Revolution musste der Monarch das Recht, eigenmächtig Privilegien zu gewähren, abgeben. Um die Vergabe von Monopolen zu beantragen, mussten Kompanien fortan das Parlament um Bewilligung bitten. Die Enthüllungen rund um die South Sea Bubble von 1720 rückten einen neuen Akteurskreis in den Mittelpunkt der Debatten. An die Stelle der Krone traten nun bestechliche Parlamentarier. Aktienunternehmen waren also in mehrfacher Hinsicht Gegenstand von Korruptionsdebatten. Zum einen standen sie im Zusammenhang mit der Vergabe von Privilegien und Monopolen durch die Krone in der Zeit vor der Glorious Revolution und zum anderen für die Bestechung von Parlamentariern und Ministern im frühen 18. Jahrhundert. Während der Railway Mania wurden die Erfahrungen früherer Spekulationsblasen auf die aktuelle Situation übertragen. Darüber hinaus bestand eine enge kausale Verbindung zwischen Wirtschaftskriminalität und Korruption, denn beiden lag illegitime finanzielle Bereicherung als Motivation zugrunde. Korruption diente als Erklärungsmodell, das in der komplexen Welt der Finanzwirtschaft einen klar abgrenzbaren Täterkreis lieferte. Dieser Interpretation folgend hatte das Verhalten der Parlamentarier dem massenpsychologischen Phänomen der Spekulation Vorschub geleistet und die politische Elite war ihrer moralischen Verpflichtung, besonnen zu handeln und sich der Versuchung des schnellen persönlichen Gewinns zu verweigern, nicht gerecht geworden. Von Parlamentariern wurde die Einhaltung eines höheren ethischen Standards bezüglich ihres Geschäftsverhaltens erwartet als von der Allgemeinheit. Sie wurden dieser Erwartungshaltung jedoch häufig nicht gerecht.358 Je klarer sich die katastrophalen Konsequenzen der Spekulationswelle abzeichneten, desto schärfer wurde auch die Kritik an der Verflechtung zwischen Staat und Industrie formuliert. 1846 begann selbst die Eisenbahnpresse kritisch 356 Searle: Morality, S. 85. 357 Taylor, James: Creating Capitalism. Joint-Stock Enterprise in British Politics and Culture 1800–1870. Woodbridge, Suffolk 2006 (=Royal Historical Society Studies in History), S. 3. 358 Railway Times (7. 2. 1857), S. 173.

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über die Gesetzgebung im Parlament zu berichten. Die Railway Times betonte, dass der Ausgang von Abstimmungen im Parlament einzig davon abhing, wie viele Abgeordnete die Befürworter und Gegner eines Projektes für ihr Anliegen gewinnen konnten. Der gesamtwirtschaftliche Nutzen und das öffentliche Interesse traten demgegenüber in den Hintergrund.359 Samuel Smiles wiederum verurteilte die Leichtfertigkeit, mit der das Parlament neue Strecken genehmigte, die aus ökonomischer Sicht keinerlei Sinn machten und immense Kosten für die Öffentlichkeit produzierten.360 Die Arbeit der Ausschüsse stellte trotz der Reformen der 1830er und frühen 1840er Jahre auch weiterhin ein Problem dar. Allerdings waren es nicht mehr adelige Landlords, die wegen ihrer Opposition im Fokus der Kritik standen, sondern die Vertreter der Eisenbahnunternehmen. Im Rahmen von Debatten über einen besseren Schutz der Investitionen von Kleinaktionären 1852 vermerkte der gegenüber den Eisenbahnunternehmen kritisch eingestellte Railway Record, dass der Ursprung der Korruption zumindest zu Teilen auch bei den Landbesitzern zu suchen war.361 Nach Herbert Spencer hatte sich auch die Rolle adeliger Landbesitzer in den 40er Jahren grundlegend gewandelt. Einstmals die erbitterten Gegner der Expansion des Streckennetzes gehörten sie nun zu ihren eifrigsten Förderern, weil sie realisiert hatten, dass sich durch Verkauf ihres Landes mehr Geld verdienen ließ, als durch seine Bewirtschaftung.362 Diese gewandelte Einstellung vieler Landbesitzer gegenüber dem Eisenbahnbau habe auch Konsequenzen hinsichtlich der Gesetzgebung im Parlament gehabt, insbesondere im Oberhaus.363 Die Enthüllungen über die von George Hudson geführten geheimen Aktienfonds legten den Schluss nahe, dass Bestechung eine nicht unerhebliche 359 »It is absurd to suppose that a motion respecting a Railway Bill is considered in the House of Commons with respect to its merits or the interests of the public. A dozen or two of members are interested in the success of a particular Railway Bill, while a similar number are opposed to it, either from being connected with some other line, or from interested motives of some sort. Each party canvasses the House – they obtain promises, and the parties who have the greatest influence in the House carry the day.« In: Railway Times (13. 6. 1846), S. 833–834. 360 »The result of the labours of Parliament was a tissue of legislative bungling, involving enormous loss to the public. Railway Bills were granted in heaps. Two hundred and seventytwo additional Acts were passed in 1846. … . Committees decided without judgement and without discrimination; it was a scramble for Bills, in which the most unscrupulous were the most successful.« In: Smiles: The Lives, S. 294. 361 »Evidence must be sought of the rankest jobbing, bribery and corruption in railway committees – that corrupt bargains were made between parties to pass certain lines and to defeat others – that laws were passed to enable the owners of land to pay off their mortgages and encumbrances by giving them the power to extort almost fabulous prices.« In: Railway Record (3. 4. 1852), S. 219. 362 Spencer: Railway Morals, S. 263. 363 Ebd., S. 265.

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Rolle im »System Hudson« gespielt hatte. Hudson rechtfertigte die unentgeltliche Vergabe von Aktienpaketen an Parlamentarier mit dem Hinweis auf wirtschaftliche Notwendigkeit in einer ausgeprägten Konkurrenzsituation. Es sei für die Prosperität seiner Unternehmen unabdingbar gewesen, zu diesem Mittel zu greifen und implizierte, dass seine Konkurrenten genauso gehandelt hatten.364 Herbert Spencer stellte fest, dass der Egoismus der beteiligten Akteursgruppen die Wurzel des Problems bildete und somit eine moralische Komponente hatte. Die Lösung konnte seiner Meinung nach nur durch eine strikte Einhaltung des Proprietary Contracts, also eine rechtliche Verbindlichkeit und Reduktion auf die in diesem Vertrag vorgesehenen Geschäftsfelder erfolgen. Denn die moralischen Standards von Landbesitzern, Anwälten, Ingenieuren und Abgeordneten wichen seiner Ansicht nach nicht von der gesellschaftlichen Norm ab, die das Recht auf Profit als hohes Gut sanktionierte.365

2.6. Korruptionsdebatten und Reformpläne Aus der Masse an kritischer Berichterstattung der Times sticht eine Serie anonymer Leserbriefe heraus, die im Herbst 1846 unter dem schillernden Namen Cato erschien. Der Autor entwarf ein Bild von Parlamentariern, die dem Reiz und den hohen Gewinnaussichten der Eisenbahnbranche erlagen und ihre Pflicht, unparteiisch zu handeln, verletzten. Dabei handele es sich nicht nur um vereinzelte Bestechungen und Vorteilsnahmen, sondern um ein ausgeklügeltes System aus Aktienzuteilungen und den bereits berüchtigten überhöhten Preisen für Ländereien.366 Mit dem Ziel persönlicher Bereicherung beeinflussten Abgeordnete Entscheidungen des Parlaments in einer unzulässigen Weise und propagierten auch Projekte, deren Umsetzung nicht im öffentlichen Interesse lag.367

364 »I thought these parties were richly entitled to them for their services and friendly disposition to the company at a time when it was sorely assailed … it is no use shutting one’s eyes to the facts. A company at that time could not get on without allotting shares; we found we could not.« York and North Midland Railway. Second Report of the Committee of Investigation. To be Laid Before the Meeting of Shareholders on the Sixth Day of September 1849. York 1849, S. 23. 365 Spencer: Railway Morals, S. 261, 310. 366 »I myself have seen a note so small a sum as 50 L. taken from a deceased mendicant peer, to be returned on his voting for a particular railway ; but that is child’s play compared with the corruption that has been going on. It is not in this plain way that men are purchased nowadays. The foulest work is hidden from the observations under the disguise of sales of land and distributions of new shares.« In: The Times (8. 9. 1846), S. 5. 367 »The time is rapidly approaching which will determine whether railway men are to be masters of the next Parliament as they have been of the present, or whether the public interests in railway matters will be adequately attended to. The scandalous disregard of the

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Das Parlament sei in Wirklichkeit ein »Railway House of Commons« und fest in der Hand des Railway Interest.368 Auch Cato führte immer wieder George Hudson als negatives Beispiel an, dessen Midland Railway sich zu diesem Zeitpunkt in einem ausgedehnten parlamentarischen Wettstreit mit der projektierten Great Northern Railway unter der Leitung von Edmund Beckett Denison befand. Er legte ihm den Ausspruch in den Mund, dass jedes Anliegen im Parlament erreicht werden könne, so lange nur genug Geld aufgewendet werde.369 Die eigentliche Intention der Briefe erschließt sich jedoch erst durch den Autor, der sich hinter dem Pseudonym verbarg. George Hudson ließ sich während einer Aktionärsversammlung York and North Midland Railway im Dezember 1846 zu einigen Mutmaßungen über die Identität des anonymen Kritikers hinreißen.370 The Era, eine liberale britische Tageszeitung, spekulierte in einem Editorial unter dem Titel »Who is Cato?«, es könne sich gar um Eisenbahndirektoren etablierter Unternehmen handeln, die versuchten, neue Projekte oder Konkurrenten zu diskreditieren.371 In Wirklichkeit verbarg sich hinter dem Pseudonym jedoch James Morrison, einer der aktivsten Kritiker der Eisenbahngesetzgebung im Parlament. Morrisons Biograph hat in seinem persönlichen Nachlass Hinweise darauf gefunden, dass die Leserbriefe von Morrison gemeinsam mit John Black, einem ehemaligen Redakteur des Morning Chronicle, verfasst worden waren.372 Morrison war Abgeordneter im House of Commons und einer der reichsten Unternehmer des frühen 19. Jahrhunderts. Nach zwei erfolglosen Versuchen, selbst als Eisenbahnunternehmer aktiv zu werden, brach er mit der Branche und vermied jegliche Investitionen in Eisenbahnprojekte in Großbritannien.373 Dennoch beteiligte er sich aktiv an den politischen Debatten zum Eisenbahnbau und forderte eine stärkere Regulierung durch den Staat und vor allem durch das Board of Trade. Bereits 1836 hatte er vor einem Missbrauch der außerordentlichen Rechte, die Eisenbahnen notwendigerweise zugestanden wurden, durch die Leiter der Unternehmen gewarnt.374

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public manifested by public men in this country on railway matters amounts to a national disgrace!« In: The Times (10. 10. 1846), S. 5. The Times (4. 9. 1846), S. 5. The Times (6. 10. 1846), S. 5. Herapath’s Journal (19. 9. 1846), S. 1193. The Era (22. 11. 1846), S. 9. Gatty, Richard: Portrait of a Merchant Prince. James Morrison, 1789–1857. Northallerton 1977, S. 269. Ebd., S. 258. »When peculiar privileges and a substantial monopoly are conferred on any set of persons, the public interests ought always to be secured against their abuse: if competition afforded this security, it would be unnecessary, and therefore improper for the Legislature to interfere; but in cases of this sort competition can do really nothing, so that security against

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Im gleichen Jahr brachte er einen Gesetzesentwurf ein, der es dem Parlament ermöglichen sollte, die Tarife und Frachtraten der Eisenbahnunternehmen in regelmäßigen Abständen zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Morrison konnte jedoch gegen den geballten Widerstand des Railway Interest im Parlament keine Mehrheit finden und war gezwungen, den Antrag zurückzunehmen.375 1846 warnte er vor den Gefahren einer Monopolstellung der großen Eisenbahnunternehmen und propagierte die Einrichtung eines eigenen Railway Department mit umfangreichen Befugnissen. Auf seinen Antrag hin wurde im Frühjahr 1846 das Committee on Railway Acts Enactments eingerichtet. Nach langwierigen Verhandlungen kam der heterogen besetzte Untersuchungsausschuss lediglich zu einem Minimalkonsens, der als einzige konkrete Maßnahme die Einrichtung einer ständigen Railway Commission empfahl und am 07. August 1846 als First Report dem Parlament vorgelegt wurde.376 Die Vorschläge gingen Morrison jedoch nicht weit genug und er beraumte kurzfristig für den 25. August 1846 ein weiteres Treffen des Ausschusses an, wohl wissend, dass die meisten Mitglieder London bereits für die sitzungsfreie Periode des Parlaments verlassen hatten. Am 29. 8. 1846 erschien in der Times ein Second Report, der in seiner Erscheinungsform wie eine offizielle Veröffentlichung wirkte, in Wirklichkeit aber ausschließlich der Feder des Vorsitzenden entsprungen war.377 Wenige Tage später veröffentlichte er einen Leserbrief, in dem er klarstellte, dass es sich nicht um einen offiziellen Report, sondern lediglich um einen Entwurf handelte, der zur Vorlage für die übrigen Mitglieder des Ausschusses bestimmt gewesen war.378 Morrison verfügte über enge Kontakte zur Times und zum Economist und hatte die zunehmende Bedeutung der Presse für die Herausbildung einer öffentlichen Meinung schon früh erkannt. Er bediente sich seiner Kontakte geschickt, um mehr Druck für seine Reformpläne zu erzeugen. Am Tag nach Morrisons Klarstellung erschien der erste Leserbrief von Cato in der Times. Vor diesem Hintergrund wird die Intention der Leserbriefkampagne und der Kor-

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abuse, must (if sought for at all) be sought for in positive regulations.« In: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 33. S. 977–994, S. 985. »I found that doubts were entertained in high quarters as to the advisability of interfering with new undertakings, by which capitalists might be deterred from embarking on them; and that I could look for no support where support was absolutely necessary to ensure success. It was objected, too, that the principle of interference with private enterprise was new in our legislation.« Morrison, James: The influence of English railway legislation on trade and industry. London 1848, S. 15. Report from the Select Committee on Railway Acts Enactments. In: Parliamentary Papers. 1846, Bd. 14. S. 592. Zu den Befugnissen und der Zusammensetzung der Railway Commission siehe Kapitel 5.3. The Times (29. 8. 1846), S. 7. The Times (31. 8. 1846), S. 6.

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ruptionsvorwürfe klarer ersichtlich. Die Argumentationslinien stimmten in wesentlichen Punkten mit den Empfehlungen von Morrisons zweitem Bericht überein, spitzten diese jedoch in polemischer Form zu. Das Pseudonym ermöglichte es den beiden Autoren, wesentlich schärfer zu argumentieren, als dies unter der Preisgabe ihrer Identitäten möglich gewesen wäre. Sie führten eine eloquente Attacke gegen das Verhalten von Eisenbahnunternehmern und Parlamentariern gleichermaßen. Spekulanten und Betrüger hätten ihr Werk nur verrichten können, weil das Parlament seine Kontrollfunktion nicht angemessen ausgeübt habe.379 Morrison war eindeutig darum bemüht, die Öffentlichkeit für seine Pläne zu gewinnen, die Position der Exekutive durch Reformen zu stärken. Als mögliche Alternative zum britischen System verwies Cato auf den halbstaatlichen Eisenbahnbau in Belgien und Frankreich, wo die umfangreicheren Befugnisse und die höhere technische Expertise der Ministerialbehörden seiner Meinung nach den Einfluss der Interessenvertreter der Eisenbahnindustrie im Parlament zumindest teilweise relativierten.380 Mit der Wahl ihres Pseudonyms stellten sich Morrison und Black in die Tradition der Korruptionsanklagen der Country-Partei gegen die Regierung Walpole während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Schlüsseldokumente der Country-Partei waren ebenfalls unter dem Verweis auf den berühmten römischen Staatsmann unter dem Titel Cato’s Letters erschienen.381 Morrison bezog sich auch inhaltlich auf die Korruptionsbekämpfung während des Ancien R¦gime und forderte von seinen Landsleuten einen ähnlichen Kampf gegen den Machtmissbrauch der Eisenbahner, wie ihn ihre Vorfahren zunächst gegen die Krone und dann gegen den Adel geführt hätten.382 Morrison verglich die »Jobs« im Parlament mit der Vergabe von Patenten und Monopolen unter Karl I. im 17. Jahrhundert. Obwohl es in früheren Jahrhunderten noch keine Öffentlichkeit gegeben habe, die Kontrolle hätte ausüben können, habe die Korruption seitdem sogar noch zugenommen. Bestechungen im House of Commons und in der Lobby seien ein alltägliches Phänomen und würden offen praktiziert. Die Minister wiederum hätten nicht die nötige Macht, um gegen die Missstände vorzugehen.

379 »Far be it from me to wish to insinuate that the neglect of the public interests which has been exhibited in the case of railways is attributable exclusively to corruption. There are in Parliament not a few men superior to its assaults in any shape; Enormous gains have been made by the shareholders of the leading companies; and to the eager desire to participate in such gains, with which members of both houses, were possessed, their duty to their nation was sacrificed.« In: The Times (4. 9. 1846), S. 5. 380 The Times (21. 9. 1846), S. 5. 381 Hellmuth: The Power, S. 250. 382 The Times (26. 9. 1846), S. 5.

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Der Railway Interest sei zu mächtig und habe die cleversten Anwälte. Das Joch der Eisenbahner könne nur mit viel Mühe abgeworfen werden.383 Die Wirkung der Kampagne wurde durch einen ungeschickt gewählten Veröffentlichungszeitraum jedoch stark geschwächt. Die Leserbriefe erschienen während der sitzungsfreien Periode und wurden daher nicht direkt in parlamentarischen Debatten thematisiert. Als im Januar 1847 das Parlament wieder zusammentrat, war das Thema von dringlicher erscheinenden Ereignissen an den Rand gedrängt worden. Das erneute Aufflammen der Hungersnot in Irland und internationale Verwicklungen in Spanien und Portugal bestimmten die Tagespresse.384 Auch weitere Reformvorhaben verliefen ohne nennenswerte Erfolge im Sande. Bereits zu Beginn der Railway Mania forderten Reformer vergebens eine Kappung der Dividenden und strengere Regeln bezüglich der Kapitalisierung der Eisenbahnunternehmen, um der Spekulation Einhalt zu gebieten.385 Die Times formulierte das wirtschaftsliberale Gegenargument, dass der Staat in diesem Fall auch dazu verpflichtet wäre, Garantien auf die Gewinne zu geben, was dem Prinzip der freien Marktwirtschaft widersprochen hätte.386 1848 wurde ein Gesetzesantrag, der es auch Aktionärsminderheiten ermöglichen sollte, eine unabhängige Buchprüfung ihrer Unternehmen zu fordern, im House of Commons mit der Begründung abgelehnt, dass dies einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die Autonomie der Privatwirtschaft darstellte.387 Der Railway Interest wehrte sich auch 1849 erfolgreich gegen eine Gesetzgebung zur Einführung standardisierter Buchhaltung und stärkerer Kontrollen durch staatliche Instanzen.388 Die 1850er Jahre waren von einigen spektakulären Betrugsfällen geprägt. 1855 wurde David Waddington, Hudsons Nachfolger als Direktor der Eastern Counties Railway, zum Rücktritt gezwungen, als bekannt wurde, dass auch er Dividenden aus Kapital gezahlt und illegal Kredite aufgenommen hatte.389 Ein Jahr darauf wurde John Parson des Aktienbetrugs an der Oxford, Worcester and Wolverhampton Railway bezichtigt und trat daraufhin ebenfalls von seinem Posten als Direktoriumsvorsitzender zurück.390 1855 wurde auch die Great Northern Railway von einem Finanzskandal er383 The Times (8. 9. 1846), S. 5; Zur Vergabe von Patenten und Monopolen unter Karl I. im 17. Jahrhundert siehe: Peck, Linda Levy : Court Patronage, S. 138–141. 384 Edwards, Cliff: Railway Record. A Guide to the Sources. Richmond 2001, S. 5. 385 Foster, Christopher D.: Privatization, Public Ownership and the Regulation of Natural Monopoly. Oxford 1993, S. 26. 386 The Times (2. 4. 1844), S. 6. 387 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 98. Sp. 1143–1149, Sp. 1149., The Times (25. 5. 1848), S. 4. 388 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 104. Sp. 973, Sp. 973. 389 Railway Record (2. 8. 1856), S. 484. 390 Barker, Theodore Cardwell u. Michael ROBBINS: A History of London Transport. Passenger Travel and the Development of the Metropolis. London 1975 (=1), S. 112.

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schüttert, der für erhebliches Aufsehen sorgte. Der Sekretär des Unternehmens Leopold Redpath hatte fiktive Aktien im Wert von 240.000 Pfund ausgegeben und das Geld unterschlagen.391 Redpath galt als integre Persönlichkeit und war als Philanthrop in verschiedenen Organisationen tätig gewesen. Daher lösten die Enthüllung seiner Unterschlagungen eine besonders starke Reaktion in der Öffentlichkeit aus.392 Das Ansehen der Eisenbahnunternehmen und ihrer Leiter wurde durch die Häufung von Betrugs- und Unterschlagungsskandalen nachhaltig beschädigt, was in der Politik den Handlungswillen hinsichtlich verstärkter Regulierung beförderte. Die Finanzkrise des Jahres 1866 und einige weitere Betrugsfälle, die durch lückenhaft geführte Unternehmensunterlagen ermöglicht worden waren, ließen die Situation schließlich unhaltbar erscheinen.393 Es dauerte jedoch noch zwei weitere Jahre, bis 1868 der Railways Regulation Act verabschiedet wurde, mit dem strengere Vorschriften und standardisierte Verfahren für die Buchhaltung von Aktienunternehmen eingeführt wurden.

2.7. Die Finanzierung des Eisenbahnbaus und der Aufstieg des Aktienkapitalismus in Frankreich Bis 1835 wurden in Frankreich ausschließlich regionale Kurzstrecken gebaut, die zum Großteil von den Pariser Bankhäusern und lokalen Geldgebern finanziert worden waren. Mit dem Ausbau des Schienennetzes in den späten 1830er Jahren mussten neue Geldquellen erschlossen werden, da die nun bewilligten Fernstrecken, die Paris mit den übrigen Metropolen verbinden sollten, weitaus mehr Kapital erforderten, als die Haute Banque aufbringen konnte. Daher etablierten sich Aktienunternehmen auch in Frankreich als bevorzugte Unternehmensform.394 Ihre Vorläufer hatten die modernen Aktiengesellschaften in Frankreich ebenso wie in Großbritannien in den privilegierten Handelsgesellschaften des 17. u. 18. Jahrhunderts, die zumeist von der Regierung, geleitet von einem merkantilistischen Wirtschaftsverständnis, gefördert wurden. Typischerweise handelte es sich um überseeische Handelskompanien, die über ein regionales Monopol verfügten. Das erste französische Handelsgesetzbuch von 1673 sah als normale Geschäftsformen die Soci¦t¦ G¦n¦ral, eine klassische Partnerschaft mit unbeschränkter persönlicher Haftung, und eine Soci¦t¦ en Commandite mit 391 392 393 394

The Times (6. 3. 1857), S. 10. The Times (14. 11. 1856), S. 9. Robb: White-Collar Crime, S. 54. Cameron: France, S. 113.

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stillen Teilhabern, die nicht in die Unternehmensleitung involviert waren, vor.395 Die Direktoren der 1664 gegründeten Ostindienkompanie (Compagnie franÅaise pour le commerce des Indes orientales) scheinen bereits eine Form der beschränkten Haftung genossen zu haben, obwohl dies nach dem Handelsrecht nicht möglich gewesen wäre.396 Aktienunternehmen fielen daher bis ins 18. Jahrhundert nicht unter die beiden im Handelsgesetz vorgesehenen Organisationsformen, sondern mussten durch ein königliches Privileg bewilligt werden. Im 18. Jahrhundert gerieten privilegierte Aktienunternehmen aufgrund mehrerer Finanz- und Korruptionsskandale in Verruf. Der Versuch des schottischen Bankiers John Law, den tief verschuldeten französischen Staatshaushalt durch die Gründung der Banque Royale zu sanieren, scheiterte, als Überspekulation mit den Anteilen der Mississippi-Kompanie zu einem Ansturm auf die Bank führte.397 Die fatale Verstrickung der Banque Royale mit der Spekulationsblase der Mississippi-Kompanie ereignete sich nahezu zeitgleich mit der South Sea Bubble in Großbritannien und bewirkte ein nachhaltiges Misstrauen gegenüber Aktienunternehmen in Frankreich.398 Als Reaktion wurde 1724 per königlichem Erlass die Pariser Börse gegründet, um dem wilden Straßenhandel ein Ende zu bereiten und eine bessere Regulierung des Aktienhandels zu ermöglichen. Aktienunternehmen waren nicht nur wegen ihrer königlichen Privilegien eng mit dem Ancien R¦gime verbunden.399 Der Adel investierte besonders häufig in die frühen Aktienunternehmen, da ihre Anonymität es ihnen erlaubte, wirtschaftlich aktiv zu werden, ohne selbst mit Handel in Verbindung gebracht zu werden, was als nicht standesgemäß gegolten hätte.400 Im Vorfeld der großen Revolution von 1789 bildete sich eine weitere Spekulationsblase mit den Aktien mehrerer halbstaatlicher Unternehmen, der Caisse d’Escompte und der Compagnie des Indes. Die Caisse d’Escompte war eine auf Aktienbasis konzipierte Handelsbank, die auf die Initiative des französischen Handelsministers Jacques Turgot nach dem Vorbild der Bank of England gegründet wurde. Während der Revolution von 1789 wurde die Börse vorübergehend geschlossen, Aktienunternehmen verboten und Spekulation unter Strafe

395 Freedeman, Charles Eldon: Joint-Stock Enterprise in France. 1807–1867. From Privileged Company to Modern Corporation. Chapel Hill 1979, S. 3. 396 Lévy-Bruhl, Henri: Histoire juridique des soci¦t¦s de commerce en France au XVII et XVIIIe siÀcles. Paris 1938, S. 244–245. 397 Sheeran, Paul u. Amber Spain: The International Political Economy of Investment Bubbles. Aldershot 2004, S. 94. 398 Kwass, Michael: Privilege and the Politics of Taxation in Eighteenth Century France. Libert¦, Êgalit¦, Fiscalit¦. Cambridge 2000, S. 218. 399 Freedeman: Joint-Stock Enterprise, S. 8. 400 Smith: The Emergence, S. 23.

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gestellt.401 Als Begründung diente vor allem ihre Assoziation mit dem Adel und der Monarchie. Während der Liquidation der Compagnie des Indes erlebte die Republik 1794 einen eigenen Korruptions- und Erpressungsskandal, der von Robespierre geschickt dazu eingesetzt wurden, um gegen Danton und führende Köpfe der Bergpartei zu intrigieren.402 Auf Dauer benötigte die Wirtschaft jedoch ein Verfahren, um Kapital für industrielle Großprojekte aufzubringen, weshalb das strikte Verbot von Aktienunternehmen nicht aufrecht erhalten werden konnte. Während des Direktorats wurde der Finanzmarkt wieder liberalisiert und die Gründung von Aktienunternehmen verlief vorübergehend praktisch unreglementiert. 1808 wurde das napoleonische Handelsgesetzbuch verabschiedet. Dieses sah die Soci¦t¦ Anonyme als Geschäftsform für Großunternehmen vor, deren Statuten auf die privilegierten Handelsgesellschaften des 18. Jahrhunderts zurückgingen. Sie konnten nur mit der Zustimmung des Staatsrates und durch die Unterschrift des Kaisers gegründet werden. Im Zuge der einsetzenden Industrialisierung erlangten Aktienunternehmen eine breitere wirtschaftliche Bedeutung. Die Gründung einer ersten Aktienbank speziell für industrielle Projekte durch Jaques Laffitte scheiterte 1825 am Widerstand der Regierung, die eine zu hohe Machtkonzentration in den Händen der liberalen Opposition befürchtete.403 Dennoch war die Entwicklung nicht gänzlich aufzuhalten. Mit dem Beginn des Eisenbahnbaus investierten zunehmend auch nichtprofessionelle Anleger aus der Mittelschicht in Aktienunternehmen und 1838 kam es zu einer Spekulationswelle mit den Aktien der ersten großen Rumpfstrecken Frankreichs, der Chemin de Fer du Paris — Orleans und der Chemin de Fer de Paris — Rouen. Das Thema Spekulation war damit erneut auf der politischen Tagesordnung.404 Die Konzession der Linie von Paris nach Orleans wurde 1837 an eine Investorengruppe aus vornehmlich protestantischen Bankhäusern vergeben und hatte eine Laufzeit von 70 Jahren. An der Spitze des Unternehmens stand der ehemalige Leiter der Messageries Royales Casimir Leconte und sein Stellvertreter, der Bankier FranÅois Bartholony. Die Regierung hatte den neuen Eisenbahnunternehmen Zugeständnisse in Bezug auf ihre Kapitalisierung gemacht, die anderen Aktienunternehmen nicht gewährt wurden. Eisenbahnaktien wurden häufig in Form von Subskriptionen ausgegeben, für die nur ein geringer Teil des Ausgabepreises direkt gezahlt

401 Senft, Gerhard: Schauplätze der Finanzmarktentwicklung. In: Handbuch des Börsenspekulanten. Hrsg. von Gerhard Senft. Wien 2009. S. 189–265, S. 200. 402 Jankowski: Shades, S. 71. 403 Cameron: France, S. 113. 404 Kaufmann, Richard von: La politique franÅaise en matiÀre de chemin de fer. Paris 1900, S. 14.

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werden musste. Dies lockte zahlreiche Kleinanleger an, die Eisenbahnaktien »auf Pump« kauften.405 Während der Debatten über die Konzessionen der Chemin de Fer de Paris — Orl¦ans und der Chemin de Fer de Paris — Rouen 1838 befürwortete der Finanzausschuss des Staatsrates eine Regelung, wonach das volle Startkapital der gezeichneten Aktien eines Unternehmens eingezahlt sein müsste, bevor die Aktien an der Börse gehandelt werden durften. Die Vertreter der Eisenbahnen überzeugten den Minister für Handel und öffentliche Arbeiten Martin du Nord jedoch, dass eine Gründung bereits mit 25 % des eingegangen Kapitals möglich sein sollte. Du Nord konnte sich mit seiner Ansicht bei einer Abstimmung im Staatsrat zwar zunächst nicht durchsetzen, der Ministerrat überstimmte jedoch anschließend den Staatsrat und erhielt die Zustimmung des Königs. Martin du Nord schaffte durch seine bevorzugende Behandlung der Eisenbahnunternehmen einen Präzedenzfall für die Zukunft und die Aktien Chemin de Fer de Paris — Orl¦ans schossen in die Höhe.406 Wenig später geriet das Unternehmen wegen Überspekulation, aber auch wegen Misswirtschaft und einer Explosion der Baukosten aufgrund von Fehlkalkulationen der Ponts et Chauss¦es in finanzielle Schwierigkeiten. Lecomte hatte die anfängliche Finanzierung der Gesellschaft primär über lokale Geldgeber organisiert und vertrat in erster Linie deren Interessen. Als die wirtschaftlichen Probleme jedoch immer drängender wurden, übernahmen James de Rothschild und weitere Pariser Bankiers die Kontrolle über den Verwaltungsrat und zwangen ihn zum Rücktritt. FranÅois Bartholony übernahm seinen Posten und leitete die Verhandlungen mit dem Ministerium zur Rettung des Unternehmens.407 Die Schuld an ihren finanziellen Problemen gab die Unternehmensleitung der Ponts et Chauss¦es und dem Ministerium für öffentliche Arbeiten, weil diese die Baukosten falsch kalkuliert und zu rigide technische Vorgaben gemacht hätten.408 Dementsprechend beantragte Bartholony eine Zinsgarantie über 4 % über eine Laufzeit von 40 Jahren für sein Unternehmen, die nach heftigen Debatten im Parlament am 15. 7. 1840 auch bewilligt wurde. Dies markierte den Beginn staatlicher Hilfsmaßnahmen für die Eisenbahnen, die in den 1850er Jahren zur Regel wurden.409 Das Eisenbahngesetz von 1842 brachte erstmals Planungssicherheit für potentielle Investoren und bewirkte einen deutlichen Anstieg der Aktivitäten im Eisenbahnbau, der im Herbst 1845 in eine Boomphase mündete. Auf einen Senft: Schauplätze, S. 210. Freedeman: Joint-Stock, S. 70. Dunham: How the First, S. 17. Bartholony, FranÅois: R¦sultats ¦conomiques des chemins de fer, ou observations pratiques sur la distributions des richesses cr¦¦es par ces nouvelles voies des communication. Paris 1844, S. 10. 409 Doukas, Kimon Apostolus: The French Railroads and the State. New York 1976, S. 20.

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Schlag erteilte die Regierung nicht weniger als elf Konzessionen an Unternehmen, die ein Gesamtkapital von über 500 Millionen Francs verzeichneten.410 Insbesondere die Vergabe der Konzession für die Chemin de Fer du Nord an ein Konsortium unter der Führung des Bankhauses Rothschild, löste einen Ansturm auf die Aktien des Unternehmens aus.411 Schon im März 1845 wurde auf Ersuchen des Herzogs Napol¦on Daru ein Untersuchungsausschuss eingerichtet, der sich mit dem Problem von Überinvestitionen und Spekulationen befassen sollte.412 Der Bericht des Ausschusses empfahl erneut, Subskribentenlisten vor der Ordonnance der Konzession zu untersagen und dadurch das schwelende Problem nicht eingezahlter Aktiensubskriptionen in den Griff zu bekommen. Der Vorschlag wurde jedoch im Parlament abgelehnt, da er es Unternehmen nahezu unmöglich gemacht hätte, die geforderte Anzahlung für eine Konzession aufzubringen.413 Es folgte eine Phase intensiver Aktienspekulationen, durch die ein beträchtlicher Anteil des an den französischen Finanzmärkten verfügbaren Kapitals in Eisenbahnaktien gebunden wurde. Der Eisenbahnboom war jedoch nur von kurzer Dauer und wurde durch die Agrar- und Wirtschaftskrise des Jahres 1846/47 gestoppt. Viele Aktionäre hatten zwar die Anzahlungen auf ihre Aktien geleistet, konnten aber die folgenden Raten für ihre Anteile nicht mehr aufbringen. Die Unternehmen benötigten dieses Kapital jedoch dringend, um die begonnenen Streckenarbeiten fortzuführen und nötige Investitionen zu tätigen. Es entwickelte sich eine Abwärtsspirale, in deren Verlauf die Aktien der Unternehmen drastisch einbrachen.414 Gegner der Eisenbahnunternehmen, allen voran Vertreter des produzierenden Gewerbes, die befürchteten, ihren Wirtschaftsbereichen würde zu viel Kapital entzogen, machten Spekulationen für den schlechten wirtschaftlichen Zustand der Eisenbahnbranche verantwortlich und forderten regulierende Maßnahmen.415 Die liberalen Ökonomen der Eisenbahnbranche sahen die Finanzprobleme weniger in der Spekulation als in den zu kurzen Laufzeiten der Konzessionen und den unerwartet hohen Baukosten.416 Dabei richtete sich ihr 410 Freedeman: Joint-Stock, S. 69. 411 Le Siecle (14. 9. 1845), S. 1. 412 Robert, Adolphe u. Gaston Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires franÅais. Paris 1890 (Bd. 2), S. 263. 413 Journal des D¦bats (20. 3. 1845), S. 1; Journal des D¦bats (22. 3. 1845), S. 1. 414 Caron: Histoire des chemins, S. 192.; Girard, Louis: La politique, S. 6. 415 Daru entstammte dem napoleonischen Adel und war das Patenkind von Napoleon Bonaparte. Er galt in der Pairskammer als Fachmann für öffentliche Arbeiten. Leclercq, Yves: Le r¦seau impossible. La r¦sistance au systÀme des grandes compagnies ferroviaires et la politique ¦conomique en France, 1820–1852. GenÀve 1987 (=Travaux de droit, d’¦conomie, de sciences politiques, de sociologie et d’anthropologie 154), S. 197. 416 Der Saint Simonist und Ingenieur Henri Fournel äußerte in Bezug auf die ebenfalls dras-

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Interesse primär auf die Bedingungen der Konzessionen. Sie forderten eine Verlängerung der Laufzeiten, um den Kompanien mehr Zeit zu geben, ihre Investitionen zu amortisieren.417 Auch weitere Zinsgarantien durch den Staat für angeschlagene Unternehmen wurden in Erwägung gezogen. Mehrere Journale starteten jedoch Kampagnen gegen eine Verlängerung der Laufzeiten. Staatliche Zinsgarantien, die dazu gedacht waren, die angeschlagenen Firmen zu unterstützen, wurden selbst von ansonsten regimetreuen Journalen als unzulässige Bevorzugung gebrandmarkt.418 Im Unterschied zu 1839 war dieses Mal auch das Parlament tendenziell gegen eine Neuaushandlung der Konzessionen der Eisenbahnunternehmen eingestellt. Die Debatten wurden zusätzlich durch politische Grabenkämpfe aufgeheizt, die das Thema instrumentalisierten.419 Die Regierung befand sich in einer Zwickmühle. Sie konnte es sich einerseits nicht leisten, machtlos zu erscheinen, indem sie nichts gegen die Probleme der Eisenbahnindustrie tat, deren wirtschaftliche Rahmenbedingungen sie in Form der Konzessionen maßgeblich beeinflusst hatte. Andererseits setzte sie sich potenziell dem Vorwurf aus, die Spekulationen am Aktienmarkt indirekt unterstützt zu haben, falls sie die Bedingungen der Konzessionen lockerte. Die Regierung Guizot ergriff im Endeffekt bis auf eine Beschränkung der Ausgabe von Aktienoptionen keine weitergehenden Maßnahmen, um den Aktienhandel zu regulieren.420 Auch die Bedingungen der Konzessionen wurden nur in den dringendsten Fällen neu ausgehandelt. Der Chemin de Fer de Paris — Lyon wurde eine Verlängerung von 44 auf 99 Jahre bewilligt. Der Chemin de Fer Lyon — Avignon und der Chemin de Fer Bordeaux — SÀte wurden ihre Konzessionen entzogen.421

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tisch zu niedrig veranschlagten Kosten des Kanalbaus in den 1830er Jahren den Verdacht, dass die Planer der Ponts et Chauss¦es die Kosten für öffentliche Arbeiten bewusst zu niedrig kalkulierten, um die Zustimmung des Parlaments zu ihren Projekten sicherzustellen. Fournel, Henri: Examen de quelques questions des Travaux public. Paris 1837, S. 18–21; Arthur Dunham hingegen stellt die These auf, dass die Ingenieure der Ponts et Chauss¦es zwar technisch hochwertige Planungen erstellten, wirtschaftliche Aspekte aber vernachlässigten. Dunham: How the First, S. 19. Journal des Chemins de Fer (1. 6. 1842), S. 69. Journal des D¦bats (22. 5. 1845), S. 4; Journal des Chemins de Fer (25. 1. 1845), S. 42; La Presse (2. 9. 1847), S. 3. Audiganne: Les Chemins, S. 414. Kaufmann: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs, S. 61. Leclercq: Le r¦seau impossible, S. 194.

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2.8. Frühsozialistische Korruptionsvorwürfe als Vehikel von Kapitalismuskritik Angesichts der Vorgeschichte von Aktienunternehmen in Frankreich während des 18. Jahrhunderts überrascht es nicht, dass ihre zunehmende Verbreitung während der Julimonarchie ebenfalls kritisch gesehen wurde. Diese Betrachtungsweise ist vornehmlich im linken politischen Spektrum und in kapitalismuskritischen Kreisen anzutreffen, findet sich aber auch bei Gruppen, die ansonsten marktwirtschaftliche Interessen propagierten. Sowohl das produzierende Gewerbe als auch die Interessenvertreter der Landwirtschaft protestierten gegen die enge Verbindung von Aktienhandel, der Haute Banque und der Regierung.422 Im Frühjahr 1845 berichteten mehrere einflussreiche Tageszeitungen kritisch über die Spekulationswelle in Eisenbahnaktien. Sie monierten das Verhalten der Bankiers und der Anleger gleichermaßen. Auch die Regierung wurde angegriffen, da sie nach der Meinung vieler Kommentatoren zu lange untätig geblieben war und die Spekulationswelle nicht aktiv bekämpft hatte. Die Leiter der Unternehmen wurden beschuldigt, ihr Insiderwissen dazu zu missbrauchen, um besonders lukrativ in Aktien zu spekulieren.423 Wirtschaftsliberale Journale verteidigten spekulative Anlagen mit dem Hinweis, dass sie den Bau von Infrastrukturen überhaupt erst ermöglichten, welche wiederum der Allgemeinheit zugute kämen. Spekulanten stellten durch ihre Investitionen dringend benötigtes Kapital bereit und leisteten damit einen produktiven Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Ihre Motivation, möglichst schnell persönliche Gewinne zu erzielen, sei daher nicht problematisch und der gerechte Lohn für ihren Einsatz.424 Die Debatten über den Aktienhandel waren von Beginn an nicht nur auf ökonomische und wirtschaftsethische Fragen beschränkt, sondern hatten stets auch eine politische Dimension. Die Finanzwelt war zu eng mit der Politik verflochten, um von ihr unabhängig zu erscheinen. Die Kontroversen rund um den Aktienhandel und den Eisenbahnbau zwischen 1845 und 1848 nutzten antikapitalistisch eingestellte Autoren, um eine Kampagne gegen das Wirtschaftsund Politiksystem der Julimonarchie zu starten. In den 1840er Jahren wurden die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen der Industrialisierung immer deutlicher spürbar und brachten alternative Wirtschaftsmodelle zum Kapitalismus in Konjunktur, deren Verfechter die Intention hatten, die immer drängender werdenden sozialen Fragen zu lösen. Die Autoren gehörten der zweiten Generation französischer Frühsozialisten an und entstammten zum einen Teil 422 Ebd., S. 197. 423 Journal des Chemins de Fer (25. 1. 1845), S. 42. 424 The Times (24. 3. 1845), S. 3.

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einer Splittergruppe der Schule Saint-Simons, die sich gegen den Kapitalismus als Wirtschaftsform entschieden hatte, zum anderen Teil sahen sie sich in der Tradition des sozialistischen Vordenkers Charles Fourier.425 Gemeinsam war ihnen die Verknüpfung sozialutopischer Konzepte mit Kritik an der modernen Finanzwirtschaft und dem Aktienhandel. Ihre Konzentration auf die Börse kam nicht von ungefähr, denn sie repräsentierte persönliches Profitstreben als oberste Maxime unternehmerischen Handelns wie keine andere Institution und stand damit im Widerspruch zu den kooperativ angelegten frühsozialistischen Gesellschaftskonzepten. Vielen dieser Autoren war außerdem eine vehement antijüdische Einstellung gemeinsam, die ihre Werke durchzog. Alphonse Toussenel startete 1845 die Publikationswelle mit seinem Buch Les Juifs, Rois de L’Epoque, in dem er eine vermeintliche jüdische Dominanz des Finanzwesens anprangerte. Toussenel war ein Schüler Charles Fouriers und veröffentlichte im Verlag der fourieristischen Schriftenreihe La librairie de l’¦cole soci¦taire. Eisenbahnbau und Aktienspekulation nahmen in diesem Werk eine zentrale Rolle ein. Im Fokus standen James de Rothschild und sein Bankhaus, das durch seine exponierte Stellung in der französischen Bankenwelt ein besonders lohnendes Ziel darstellte. Das Haus Rothschild wurde in Frankreich wegen seiner Rolle bei der Finanzierung des britischen Königshauses während der Napoleonischen Kriege immer wieder angegriffen. Auch die Vergabe der Konzession der Chemin de Fer du Nord an ein Unternehmerkonsortium unter der Leitung von James de Rothschild hatte 1845 für einigen Wirbel in der Presselandschaft gesorgt. Es kursierten Gerüchte, Rothschild habe Aktien gezielt an wichtige Personen verteilt, um die Abstimmung im Parlament zu beeinflussen.426 Diese Gerüchte wurden von Alphonse Toussenel aufgegriffen. Er prangerte die Vergabe der Konzession als einen Akt der Korruption an, bei dem kein echter Wettbewerb herrschte und persönliche Beziehungen darüber entschieden, wer den Zuschlag erhielt. Rothschild habe sich aufgrund seines politischen Einflusses Konditionen gesichert, die es ihm erlaubten, nicht nur die Gewinne aus den Aktienemissionen, sondern auch die Profite des laufenden Geschäfts einzustreichen, während der Staat für sämtliche Landkosten und den Bau der Infrastrukturen aufkommen musste.427 425 Im Unterschied zu seinen Schülern sah Henri Saint-Simon Banker und Industrielle als die natürlichen Führer der Gesellschaft an, die den »unproduktiven« Adel ablösen sollten. Vgl. Cameron: France, S. 114. 426 La D¦mocratie Pacifique (13. 9. 1845), S. 5; The Times (17. 9. 1845), S. 5. 427 »Le gouvernement dit — une compagnie Rothschild :« J’ai grand besoin que tous me veniez en aide pour la construction de mon chemin de fer du nord. Le tr¦sor est — sec: ces maudites fortifications me ruinent et m’interdisent de songer — aucune entreprise d’utilit¦ publique. Si vous compatissiez — mes peines, nous partagerions la besogne. Je vous conc¦derais tous les profits et je garderais pour moi, c’est-—-dire pour le contribuable, pour la nation, toutes

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Toussenels Argumentationslinie wurde von zahlreichen weiteren Autoren übernommen. Seit 1845 veröffentlichte der ehemalige Saint Simonist Pierre Leroux regelmäßig kritische Artikel in den von ihm herausgegebenen Journalen Revue Ind¦pendante und Revue Sociale. 1848 und 1849 publizierte er zwei Sammlungen dieser Artikel.428 Leroux hatte sich gegen Ende der 1830er Jahre vom Saint-Simonismus abgewandt und sein eigenes, frühsozialistisch geprägtes Gesellschaftsmodell entwickelt. Auch für Leroux war Aktienhandel in seiner Essenz unproduktiv und diente lediglich der Akkumulation weiteren Reichtums. Und auch für ihn bildete James de Rothschild die Projektionsfläche für alle Missstände des Kapitalismus, der vermeintlich die politischen Institutionen des Landes unterwanderte.429 Lerouxs Sozialutopien waren durch seine tief im Katholizismus verwurzelte Weltsicht geprägt.430 Als gesellschaftlichen Gegenentwurf zum vorherrschenden Individualismus propagierte er Solidarität und Humanität als Eckpfeiler sozialer Beziehungen, wodurch hierarchische Strukturen aufgelöst und die aus ihnen resultierenden Missstände wie Profitstreben und Korruption überwunden werden sollten.431 Ein ähnliches Konzept wie Leroux vertrat Charles Fauvety, der seit 1846 die regimekritische Zeitschrift La V¦rit¦ sur toutes Choses herausgab und sozialreformerisches Gedankengut mit Spiritismus verband.432 Fauvety sympathisierte über die Jahre hinweg mit verschiedenen frühsozialistischen Denkern, angefangen bei Charles Fourier über Vertreter des Saint Simonismus bis hin zu Joseph Proudhon. Im Unterschied zu Toussenel und Leroux verortete er das Zentrum der Macht jedoch in der Politik und nicht in der Wirtschaft. 1846 veröffentlichte er die Schrift Le SystÀme Guizot, in der er die Konzessionierung

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les d¦penses et toutes les charges.« Toussenel, Alphonse: Les Juifs, rois de l’¦poque. Histoire de la f¦odalit¦ financiÀre. Paris 1847, S. 22. Leroux, Pierre: De la Ploutocratie. Ou du gouvernement des riches. Boussac 1848, S. 1; Leroux, Pierre: Malthus et les ¦conomistes ou y aura-t-il toujours des pauvres? Boussac 1849, S. 11; Hahn, Manfred: Archivalienkunde des vormarxistischen Sozialismus. Stuttgart 1995, S. 136. »Qu’est-ce que le Capital? C’est le droit de tirer un profit, ou, pour employer le terme consacr¦, un int¦rÞt du seul fait d’une richesse accumul¦e, sans participer en rien — l’emploi utile de cette richesse.« LEROUX, Pierre: Malthus et les, S. 233. Leroux definierte Kapitalisten als all diejenigen, deren Einkommen, die Kosten ihres Lebensunterhaltes überschritten. Leroux: De la Ploutocratie, S. 18; »Les Triomphateurs de Rome distribuaient des congiaria au peuple et — l’arm¦e; la dynastie des Rothschild en distribue aux pouvoirs de l’Etat, aux d¦put¦s, aux pairs de France, aux journalistes.« Leroux: Malthus et les, S. 11. Jardin, Tudesq: Restoration and Reaction, S. 179. »L’individualisme s’est incarn¦, et a produit une multitude de Messies de Mammon qui nous gouvernent, qui p¦rorent — la Chambre des d¦put¦s et — la Chambre des pairs, dans le conseil d’¦tat, dans les conseils de d¦partements, dans les conseils d’arrondissements, dans les conseils de pr¦fectures, partout o¾ l’on rÀgne, … .« Leroux: Malthus et les, S. 126. Sharp, Lynn L.: Secular Spirituality. Reincarnation and Spiritism in Nineteenth-Century France. Lanham, Md 2006, S. 2.

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von Eisenbahnen als ein System der Patronage zur Bereicherung und Belohnung regimetreuer Aktienspekulanten durch die Regierung und das Parlament darstellte.433 Besonders scharfe Attacken gegen das Bankhaus Rothschild kamen von George Mathieu Dairnvaell, der 1846 mehrere Pamphlete unter dem Pseudonym »Satan« veröffentlichte.434 Bereits 1845 hatte er unter seinem Geburtsnamen ein erstes Pamphlet mit dem Titel Guerre aux fripons, chronique secrÀte de la bourse et des chemins de fer veröffentlicht, in dem er noch recht vage gegen die Übermacht des Bürgertums im politischen System der Julimonarchie und des Aktienwesens als Grundlage ihrer Macht argumentierte.435 Es scheint unzweifelhaft, dass Dairnvaell in seinen Schriften durch Alphonse Toussenel inspiriert wurde, dessen Les Juifs, rois de l’¦poque: histoire de la f¦odalit¦ financiÀre eine fast identische Argumentationslinie vertrat. Dairnvaell formulierte seine Pamphlete jedoch deutlich polemischer. Den konkreten Anlass für Dairnvaells Angriffe auf James de Rothschild lieferte ein verheerendes Eisenbahnunglück vom 8. Juli 1846 auf der Strecke der Chemin de Fer du Nord. Verschiedene Zeitungen berichteten zunächst von bis zu 40 Opfern. Das Unglück ereignete sich nur 24 Tage nach der Eröffnung des Streckenabschnittes und löste einen Sturm öffentlicher Entrüstung aus. Im Gegensatz zu den meisten bisherigen Unfällen auf Eisenbahnstrecken lag die Ursache nicht in menschlichem Versagen, sondern wurde auf technische Mängel zurückgeführt. Der Unternehmensleitung, allen voran James de Rothschild, wurde vorgeworfen, aus Kostengründen minderwertige Materialien für den Bau der Strecke verwendet und die Eröffnung des Teilabschnitts forciert zu haben, bevor die nötigen Sicherheitsüberprüfungen abgeschlossen waren. Die Unternehmensleitung habe die Öffentlichkeit dadurch bewusst einem erhöhten Risiko ausgesetzt.436 James de Rothschild reagierte umgehend mit einer öffentlichen Stellungnahme im regierungstreuen Journal des D¦bats und verwies darauf, dass die Bahn erst nach der ordnungsgemäßen

433 Fauvety, Charles: Le systÀme Guizot, Duchatel et Cie.. La nouvelle Chambre: avec la liste et la classification des d¦put¦s ¦lus aux ¦lections g¦n¦rales de 1846. Paris 1846, S. 29. 434 Dairnvaell, Georges: Histoire ¦difiante et curieuse de Rothschild Ier, roi des Juifs. Paris 1846, S. 31. Auf Deutsch unter dem Titel: Erbauliche und seltsame Historia von Rothschild I. König der Juden. Nach d. 5. Aufl. d. Französ. Berlin 1846; Dairnvaell, Georges: Jugement rendu contre J. Rothschild et contre Georges Dairnvaell, auteur de l’histoire de Rothschild Ier, par le tribunal de la saine raison, accompagn¦ d’un jugement sur l’accident de Fampoux. Paris 1846. 435 Dairnvaell, Georges: Guerre aux fripons. Chronique secrÀte de la bourse et des chemins de fer. Paris 1845, S. 37. Auf Deutsch 1846 unter dem Titel: Dairnvaell, Georges: Krieg den Schelmen und Betrügern. Oder geheime Geschichte der Pariser Börse und der französischen Eisenbahnen. Berlin 1846. 436 Le Constitutionnel (12. 7. 1846), S. 1.

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Abnahme durch die beiden zuständigen Chefingenieure der Ponts et Chauss¦es in Betrieb genommen worden war.437 Dennoch verstummte die Kritik an der Unternehmensleitung der Chemin de Fer du Nord nur langsam. Im Gegensatz zu abstrakten Finanzgeschäften betrafen Unfälle auf Eisenbahnstrecken die Bevölkerung direkt und bildeten so einen Angriffspunkt für Kritik, der ein hohes Maß an Aufmerksamkeit sicherte. George Dairnvaell machte sich das allgemeine Entsetzen über den tödlichen Unfall zunutze und startete seine Pamphlet-Kampagne, in der er seine Kritik gegen James de Rothschild persönlich richtete. Er behauptete, Rothschild habe die Nachricht vom Unfall durch den ihm verbundenen Minister für öffentliche Arbeiten Pierre Dumon zurückhalten lassen, um durch Aktienverkäufe seine Verluste zu minimieren.438 Außerdem griff er Gerüchte des Vorjahres auf, Rothschild habe 1844 in großem Maßstab Parlamentarier, Richter, Journalisten und konkurrierende Mitbewerber mit Aktienpaketen bestochen, um die Konzession der Chemin de Fer du Nord zu erhalten.439 Dairnvaell verzichtete auf den Versuch, seine Anschuldigungen durch Fakten zu belegen und behauptete, Rothschild habe insgesamt 15.000 Aktien an Parlamentarier verschenkt. Auch die Presse sei durch Bestechung zu einer wohlwollenden Berichterstattung bewogen worden. Allein das Oppositionsblatt Le National habe der Versuchung widerstanden und kritisch berichtet.440 Andere Beobachter hingegen sahen die Vergabe von Aktienpaketen durch Rothschild in einem anderen Licht. Prosper Duvergier de Hauranne merkte an, dass James de Rothschild niemanden bestechen musste, da quasi die gesamte Oberschicht Rothschild mit Bitten um Aktienzuteilungen geradezu bedrängte.441 Die immense Nachfrage nach Aktien der Chemin de Fer du Nord habe es James de Rothschild allerdings erlaubt, sehr gezielt auszuwählen, an wen Aktien abgegeben werden sollten, um dadurch seine eigene Machtstellung zu festigen. Tatsächlich scheinen bei der ersten Aktienemission nur wenige Anteile in den freien Handel gelangt zu sein.442 437 438 439 440 441

Journal des D¦bats (23. 7. 1846), S. 3. Dairnvaell, Georges: Histoire ¦difiante, S. 31. Dairnvaell, Georges: Rothschild Ier, ses valets et son peuple. Paris 1846, S. 10. Dairnvaell, Erbauliche und seltsame, S. 16. Prosper Duvergier de Hauranne: »Si M. de Rothschild a gard¦ toutes les lettres qui lui furent adress¦es lors de l’adjudication du chemin de fer du Nord, non seulement par des d¦put¦s et des fonctionnaires publics, mais par des femmes haut plac¦es dans le monde, il doit avoir un recueil d’autographes tout — fait pr¦cieux.« Zitiert nach: Bouvier, Jean: Les Rothschild. Histoire d’un capitalisme familial. Bruxelles 1983 (=Le temps & les hommes 16), S. 135. 442 »MM. de Rothschild n’ont pas l’habitude d’ouvrir de souscriptions publiques. Ils distribuent les actions dont ils peuvent disposer — leurs amis et — quelques maisons privil¦gi¦es, au nombre desquelles nous ne sommes pas. On leur adresse aussi une trÀs grande quantit¦ de demandes, auxquelles ils ne r¦pondent pas, arbitrairement. Mais comprenons qu’il ne

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Neben seinen Schriften über Rothschild werden Dairnvaell zwischen 1842 und 1849 diverse anonyme Pamphlete, unter anderem über Guizot, Thiers, ministeriale Verflechtungen und politische Skandale zugeschrieben.443 Auch hier bildete Korruption das zentrale Thema. Das Titelbild seiner Abhandlung über den Bestechungsskandal um die Minister Despans-CubiÀres und Teste war mit dem Zitat »Rien pour rien« versehen, das er sowohl FranÅois Guizot als auch Robert Walpole zuschrieb. Anscheinend war die in Großbritannien eng mit ministerialer Patronage verbundene Amtszeit von Premierminister Walpole auch in Frankreich hinreichend bekannt, um Assoziationen zu wecken und entsprechende Gegenüberstellungen sinnvoll erscheinen zu lassen.444 Letzten Endes zielten Dairnvaells Schriften darauf ab, einen direkten Bezug zwischen den Repräsentanten des Finanzwesens, ihren Verflechtungen mit der politischen Elite und dem Niedergang moralischer Werte während der Julimonarchie herzustellen. Den Ursprung allen Übels bildete für Dairnvaell das politische System der Julimonarchie, das es dem Finanzbürgertum seiner Darstellung nach ermöglicht hatte, sich ungerechtfertigterweise eine dominierende Stellung in Politik und Gesellschaft zu verschaffen.445 Seine Macht bezöge das Bürgertum ausschließlich aus seinen finanziellen Mitteln. Je nach Umfang des Privatvermögens und ungeachtet der Eignung, stünde es jeder Person offen, Nationalgardist, Wähler, Abgeordneter oder Mitglied der Ehrenlegion zu werden. Nach seiner Interpretation konnte ökonomisches Kapital nahezu unreglementiert in soziales und symbolisches Kapital transferiert werden. Am obersten Ende der gesellschaftlichen Skala stand für ihn James de Rothschild, der trotz seiner »unermesslichen Reichthümer« zwar nur ein Baron sei, es aber leicht auch zum Fürsten hätte bringen können, so er denn gewollt hätte. Diese »Reichthümer« hatte er nach Dairnvaells Darstellung jedoch nicht durch redlichen Handel, sondern durch Bankgeschäfte und Aktienspekulationen erlangt, die erst durch die Hilfestellung der Regierung und des Parlaments möglich geworden waren. Die Regierung und ihre Mehrheit im Parlament spielten in seiner Darstellung die Rolle williger Helfer, die zwar einerseits unerbittlich gegen politische Vereine

s’agissait pas, bien s˜r, de distributions gratuites d’actions. Sinon, le capital initial en e˜t souffert … On se ruait — l’achat des actions car on pensait ce serait une belle affaire.« Zitiert nach: ebd. 443 Dairnvaell, Georges: Biographie satirique des D¦put¦s, par Satan. Suivie de l’Indication de leurs Adresses dans Paris. Paris 1847; Dairnvaell, Georges: Biographies de M. Despans-CubiÀres et de M. Teste. Ancien Ministres mis en jugement par la Cour des Pairs. Paris 1847. 444 Dairnvaell, Georges: Les scandales du jour. R¦v¦lations ¦difiantes et curieuses sur les hommes et les choses. Paris 1847, S. 1. 445 Dairnvaell: Krieg den Schelmen, S. 11.

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und Arbeiterzusammenschlüsse vorgingen, den Spekulanten der Hochfinanz aber freie Hand ließen.446 Dairnvaells Veröffentlichungen fehlt ein ausgearbeiteter theoretischer Unterbau. Er beschränkt sich auf die Darstellung vermeintlicher Fakten in einem polemischen Stil, ohne Vorschläge zur Lösung der von ihm angeprangerten Missstände zu liefern, die über eine Forderung nach der Entmachtung der herrschenden Elite hinausgegangen wären. Zur Person Dairnvaells ist nur wenig bekannt. Friedrich Engels vermerkte in einem Artikel über die Verhältnisse in Frankreich, Dairnvaell sei Angehöriger der Arbeiterklasse und »a man whom nobody knows, and the whole of whose property consists in the suit of clothes he wears.«447 Möglicherweise hat er diese Darstellung jedoch von Dairnvaell selbst übernommen, der sich als einfachen Schreiber (¦crivain), ohne Titel oder Rang stilisierte. In der politischen Landschaft der Julimonarchie war Dairnvaell jedenfalls ein unbeschriebenes Blatt, dessen Pamphlete dennoch oder gerade deswegen einen immensen Erfolg hatten. Als Antwort auf die von Dairnvaell veröffentlichten Pamphlete erschienen mehrere Verteidigungsschriften im Namen Rothschilds.448 Der schlechte Informationsstand der Autoren und die insgesamt sehr strukturlos anmutende Argumentation lassen es jedoch unwahrscheinlich erscheinen, dass die Familie Rothschild direkt an der Abfassung dieser Gegendarstellungen beteiligt war. Der Autor einer Gegendarstellung meinte fälschlicherweise hinter dem Pseudonym »Satan« einen gewissen Beno„t-Louis-FranÅois MacarÞt erkannt zu haben und behauptete, dieser habe versucht, Rothschild mit der Veröffentlichung der Pamphlete zu erpressen, sei aber zurückgewiesen worden.449 Die Vermutung, dass James de Rothschild nichts mit den in seinem Namen veröffentlichten Gegendarstellungen zu tun hatte, wird durch einen Brief von Anselm Rothschild, dem Leiter der Frankfurter Niederlassung und älteren Bruder von James an die preußische Staatskanzlei erhärtet, in dem er um ein Verbot der Schriften ersuchte. Nach der Darstellung Anselms hatte das Bankhaus in Frankreich gar nicht erst den Versuch unternommen, gegen die Angriffe auf »den Charakter und die Moralität unseres geschäftlichen Wirkens« vorzugehen, da die dortige Presselandschaft ohnehin von Verleumdungen und per446 Ebd. 447 Der Northern Star war das Organ der britischen Chartistenbewegung und wurde von dem Radical Feargus O’Connor herausgegeben. The Northern Star (5. 9. 1846) S. 4. 448 Anonym: PremiÀre r¦ponse officielle de M. le Baron James de Rothschild … Brüssel, 1846; Anonym: Nouvelle r¦ponse du prince des isra¦lites, Rothschild Ier, — un pamphl¦taire… Paris 1846. 449 Marle, C.-L: R¦ponse de Rothschild Ier, Roi des Juifs, — Satan dernier, Roi des Imposteurs… Paris 1846, S. 4–5.

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sönlichen Angriffen geprägt sei.450 In Preußen mit seiner strikteren Zensur schätzte man die Aussichten, eine weitere Verbreitung der Schriften zu unterbinden, offensichtlich besser ein. Als Beweggrund für Dairnvaells Kampagne vermutete Anselm persönliche Rachsucht, da der Autor bei dem Bankhaus um einen Kredit gebeten habe, jedoch abgewiesen worden sei. Anselm Rothschild versuchte Dairnvaells Angriffe auf persönliche und in letzter Konsequenz ökonomische Motive zurückzuführen und dadurch ihrer Legitimität zu berauben.451 Ein herausstechendes Merkmal der meisten frühsozialistischen Veröffentlichungen der 1840er Jahre ist ihre ausgeprägte antijüdische Haltung. Dairnvaell war in seinem Sprachgebrauch recht undifferenziert, was sich auch in seiner Behandlung des Judentums widerspiegelt. Eine exakte Analyse von Kausalitäten stand ohnehin nicht hinter seinen auf polemische Agitation ausgerichteten Pamphleten. Er bezeichnete Rothschild als »l’empereur de tous les juifs chr¦tiens et non-chr¦tiens, le roi de tous les parvenues«.452 Eine ähnliche Formulierung findet sich auch schon bei Alphonse Toussenel, für den das Finanzwesen und der Eisenbahnbau von »Juden« kontrolliert wurde. In der Einleitung zu Les Juifs, Rois de l’Êpoque betonte Toussenel denn auch, dass er unter Juden nicht die Religionsgemeinschaft verstand, sondern den Begriff, gemäß der allgemein gebräuchlichen Bedeutung, als Synonym für Bankiers verwendete.453 Toussenels kausale Verbindung von Judentum und den Missständen des kapitalistischen Wirtschaftssystems veranlasste seine fourieristischen Herausgeber zu einer bemerkenswerten Stellungnahme im Vorwort, in der sie zwar Toussenels Ausführungen zu Politik und Wirtschaft lobten, sich aber von seinen Ansichten zum Judentum distanzierten.454 Eben diese Ansichten führten 1846 zum Bruch zwischen Toussenel und den übrigen Fourieristen.455 Im Vorwort der zweiten Auflage von 1847 verschärfte Toussenel seine Darstellung und setzte Juden nun mit Geschäftemachern, Börsenspekulanten und Zinswucherern gleich.456 Eine tatsächliche Religionszugehörigkeit spielt für Toussenel auch weiterhin nur eine untergeordnete Bedeutung. Bei Pierre Leroux, der die 450 Der Brief ist in der Rothschild Biographie von Egon Corti vollständig wiedergegeben. Corti, Egon Caesar : Das Haus Rothschild in der Zeit seiner Blüte, 1830–1871. Mit einem Ausblick in die neueste Zeit. Leipzig 1928, S. 265. 451 Ebd. 452 Dairnvaell: Jugement rendu contre, S. 5. 453 »Je pr¦viens le lecteur que ce mot est g¦n¦ralement pris ici dans son acception populaire: juif, banquier, marchand d’espÀces.« Toussenel: Les Juifs, S. 4. 454 Ebd. S. vii. 455 Silberner, Edmund: The Attitude of the Fourierist School Towards the Jews. In: Jewish Social Studies 9 (1947). S. 339–362, S. 344. 456 »J’appelle, comme le peuple, de ce nom m¦pris¦ de juif, tout trafiquant d’espÀces, tout parasite improductif, vivant de la substance et du travail d’autrui. Juif, usurier, trafiquant, sont pour moi synonymes.« In: Toussenel: Les Juifs, S. I.

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Brüder Pereire während seiner Zugehörigkeit zum Kreis der Saint Simonisten in den frühen 1830er Jahren kennengelernt hatte, findet sich das antijüdische Element in ähnlicher Verwendungsweise.457 Wie die antijüdische Haltung vieler frühsozialistischer Autoren zu bewerten ist, hat zu Debatten innerhalb der historischen Antisemitismusforschung geführt. Diese ging dabei meist der Fragestellung nach, wie sich der moderne Antisemitismus entwickelte und welchen Einfluss die Frühsozialisten auf die späteren Vertreter des modernen Antisemitismus ausübten. Zosa Szajkowski sieht in den Pamphleten der Frühsozialisten die geistigen Vorläufer und Ideengeber des modernen Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts. So stellte er eine direkte Linie zwischen dem Gedankengut Toussenels, aber auch seines Mentors Charles Fourier und den Ideen des Begründers des modernen Antisemitismus in Frankreich Edouard Drumont her.458 Es ist unstrittig, dass die Frühsozialisten einen Beitrag zur Entwicklung des modernen Antisemitismus leisteten, indem sie vormoderne Stereotype und Vorurteile über das Judentum aufgriffen und in die Welt des modernen Kapitalismus überführten. Niall Ferguson sieht in der Kampagne gegen James de Rothschild in seiner monumentalen Geschichte des Hauses Rothschild eine neue Qualität im Vergleich zu früheren Angriffen auf das Bankhaus, weil sich in ihnen »hostility to wealth« mit »hostility to Jews« verband.459 Ob der Antijudaismus jedoch im Zentrum des Interesses der Frühsozialisten stand, bleibt umstritten. Victor Glasberg sieht das Zusammengehen von Antisemitismus und Antikapitalismus als die Kooperation zweier Strömungen, die sich gegenseitig ergänzten und betont vor allem die mehrdeutige Verwendung des Begriffs »Jude«.460 Julie Kalman stimmt in einer neueren Untersuchung dieser Lesart zu. Sie betont außerdem den katholischen Hintergrund der meisten Autoren, der sie in Frontstellung zum protestantisch und jüdisch geprägten Bankenwesen in Frankreich gebracht habe.461 Im Gegensatz zu den Ansichten von Proudhon, Marx und Engels schlossen sich Religion und sozialistische Gesellschaftsent457 »Ainsi on appelle Juif un homme qui prÞte — usure, ou qui vend exorbitamment cher.« Leroux: Malthus, S. 17. 458 Szajkowski, Zosa: The Jewish Saint-Simonians and Socialist Antisemites in France. In: Jewish Social Studies 9 (1947). S. 33–60, S. 33. 459 Ferguson, Niall: The House of Rothschild. The Worlds Banker 1849–1999. New York, NY 1999 (Bd. 2), S. XXIX. 460 Glasberg, Victor M.: Intent and Consequences. The »Jewish Question« in the French Socialist Movement of the Late Nineteenth Century. In: Jewish Social Studies 36 (1974) 1. S. 61–71, S. 62. 461 Kalman, Julie: Rothschildian Greed. This New Variety of Despotism. In: French History and Civilisation. Papers from the George Rude Seminar. Hrsg. von Julie Kalman, Ian Coller u. Helen Davies 2006. S. 215–223, S. 221.

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würfe für die Frühsozialisten nicht kategorisch aus. Toussenel und Dairnvaell waren stark durch den Katholizismus geprägt. Sie konnten daher auf jahrhundertealte antijüdische Stereotype zurückgreifen, die ihnen Raffgier und Unehrlichkeit als prominente Charaktereigenschaften unterstellten. Leroux hingegen entwickelte aufbauend auf seinem katholischen Hintergrund eine eigene Form der Spiritualität, die Anleihen beim Buddhismus und anderen fernöstlichen Religionen nahm. Es scheint so, dass die Argumente der Frühsozialisten gegen kapitalistisches Wirtschaften für sich allein genommen nicht wirkungsmächtig genug waren. Orientiert man sich direkt an den Quellentexten, lassen sich einige weitere bemerkenswerte Feststellungen zu den Zielen machen, die Dairnvaell mit seinen Publikationen verfolgte. Seine Kritik zielte eindeutig auf die wirtschaftliche Potenz Rothschilds und den beträchtlichen politischen Einfluss, den er aus ihr zog, ab. Auffällig ist hierbei die Häufigkeit, mit der er Aktienspekulationen als die Haupteinnahmequelle Rothschilds nennt. Spekulation war nach Ansicht Dairnvaells nicht produktiv und daher generell normwidrig.462 Diese kategorische Ablehnung war jedoch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene nicht konsensfähig und musste durch weitere Elemente unterstützt werden. Antijudaismus fungierte in diesem Zusammenhang ebenso wie die Korruptionsvorwürfe als ein dringend benötigtes Zusatzargument, um den Angriffen der Frühsozialisten auf den Kapitalismus mehr Legitimität zu verleihen. Hierfür eignete sich die jüdische Minderheit in Frankreich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen waren Juden traditionell im Bank- und Kreditwesen stark vertreten, insbesondere in Frankreich, wo das gescheiterte Experiment von John Law das Pariser Bankenwesen quasi zum erliegen gebracht hatte. Die entstandene Lücke wurde hauptsächlich durch aus der Provinz und dem Ausland zugewanderte Bankiers geschlossen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Haute Banque dominierten.463 Zum anderen wurden Juden trotz ihrer wirtschaftlichen Integration weiterhin als Außenseiter in der französischen Gesellschaft wahrgenommen. Die Frühsozialisten verband, trotz ihrer ansonsten sehr divergenten Gesellschaftsentwürfe, die Idee einer übergeordneten Einheit der französischen Nation und die aus der Französischen Revolution geborene Überzeugung, dass alle Franzosen gleich seien.464 Die Wahrnehmung von Juden wurde als negative Fixierebene genutzt, um moderne Ideen und Vorstellungen von Staatsbürgertum und Nation zu beschreiben.465 462 463 464 465

Dairnvaell: Krieg den Schelmen, S. 11. Smith: The Emergence, S. 21ff. Kalman: Rothschildian Greed, S. 217–218. Kalman, Julie: Rethinking Antisemitism in Nineteenth-Century France. New York 2010, S. 1.

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Der häufig geäußerte Vorwurf, dass Juden einen »Fremdkörper« in der Nation bildeten, wurde durch das augenfällige Weltbürgertum der Familie Rothschild scheinbar bestätigt.466 Insbesondere die Gewinne, die das Bankhaus durch die finanzielle Unterstützung Großbritanniens und Preußens während der napoleonischen Kriege erzielt hatte, wurden ihnen zur Last gelegt.467 Die Internationalität der Familie spiegelte sich auch in der dominanten Position der Familie Rothschild im Verwaltungsrat der Chemin de Fer du Nord wider. Neben James de Rothschild gehörten ihm auch sein in London angesiedelter älterer Bruder Lionel und weitere ausländische Investoren an, was zu lautstarker Kritik in der französischen Presse führte.468 Hinzu kam, dass James de Rothschild niemals französischer Staatsbürger wurde und Französisch Zeit seines Lebens mit einem starken deutschen Akzent sprach. Auch die Schlüsselrolle, die Lionel Rothschild bei der Finanzierung der britischen Militäraktionen gegen Napoleon gespielt hatte, blieb unvergessen und leistete einen Beitrag, die Ressentiments gegenüber dem Haus Rothschild am Leben zu erhalten. Die Position der Familie Rothschild als Privatbankiers mehrerer europäischer Königshäuser gab der These zusätzliche Nahrung, dass die französische Regierung nur aus willfährigen Marionetten bestand und durch das Geld der Rothschilds korrumpiert wurde. Viele, aber keinesfalls alle sozialistischen Theoretiker verknüpften daher ihre Kritik mit antijüdischen Argumenten.469 Friedrich Engels lobte zwar Dairnvaells Kritik an der Bankenwelt und der politischen Elite der Julimonarchie und kam in seiner eigenen Analyse der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage zu ähnlichen Ergebnissen. Er machte aber keine religiöse Gruppe, sondern die Haute Banque und die »politische Klasse« in ihrer Gesamtheit verantwortlich.470 Emile Bourdon, wie Toussenel auch ein Anhänger Charles Fouriers, veröffentlichte 1847 ein Pamphlet, in dem er den Betreibern der Chemin de Fer de Lyon — Avignon und der Chemin de Fer de Paris — Lyon vorwarf, der Regierung zu günstige Konditionen für ihre Konzessionen abgetrotzt zu haben. Antijüdische Agitation findet sich in dieser Schrift jedoch nicht.471 Der einflussreichste Kapitalismuskritiker der Julimonarchie war sicherlich Joseph Proudhon, dessen berühmtes Pamphlet Qu’est-ce que la propri¦t¦? ou recherche sur le principe du droit et du gouvernement 1840 erschien.472 Proudhon 466 467 468 469 470 471

Dairnvaell: Erbauliche und seltsame, S. 28. Dairnvaell: Rothschild Ier, S. 20. The Times (22. 9. 1845), S. 5. Kalman: Rothschildian Greed, S. 222–223. The Northern Star (5. 9. 1846), S. 4. Bourdon, Emile: Insurrection des Agioteurs. Paris 1847, S. 4; Cordillot, Michel: Aux origines du socialisme moderne. La premiÀre internationale, la commune de Paris, l’exil. Paris 2010, S. 26. 472 Proudhon, Pierre-Joseph: Qu’est-ce que la propri¦t¦? Ou recherche sur le principe du droit et du gouvernement. Paris 1840.

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kombinierte seine Kritik an kapitalistischem Profitstreben mit Angriffen auf den Staat, dessen zentrale Funktion die Machterhaltung der »besitzenden Klassen« darstellte, und Religion, die die theoretische Grundlage für soziale Ungleichheit lieferte.473 Korruption spielte auch in der Analyse Proudhons eine zentrale Rolle. Sie fungierte als Knotenpunkt, an dem sich Kritik an ökonomischer und politischer Macht gekonnt miteinander in Verbindung setzten ließ. Im Unterschied zu den meisten übrigen Frühsozialisten befasste sich Proudhon auch mit der konkreten Umsetzung seines Gegenkonzeptes zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Auch die Rolle der Juden in den Schriften Proudhons unterscheidet sich erheblich von denen Lerouxs, Toussenels und Dairnvaells. Zwar sind auch von Proudhon verschiedentlich antijüdische Äußerungen überliefert, jedoch finden sich diese primär in seinem privaten Nachlass und weniger in seinen politischen Schriften.474 Die These, dass Antijudaismus für die Frühsozialisten einen Baustein im Argumentationskonstrukt gegen das Wirtschaftsystem darstellte, wird durch die bereits erwähnte Verwendung des Begriffs »Jude« als Synonym für Mitglieder der Finanzwelt, die sich unmoralischer Geschäftspraktiken bedienten, gestützt. Diese Generalisierung erlaubte es, den Antijudaismus universell und gegen jede beliebige Gruppe der Finanzwelt zu instrumentalisieren.475 Eine ganz ähnliche Strategie verfolgten Frühsozialisten auch durch ihre Verwendung der Begriffe Aristocratie FinanciÀre und F¦odalit¦ FinanciÀre. Die Verknüpfung des vormodernen Adels und der modernen Hochfinanz wurde bereits von Charles Fourier und Henris Saint Simon hergestellt und durch ihre Schüler weiter verbreitet.476 Sie stellten den Versuch dar, die neuen gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die durch die Industrialisierung entstanden waren, insbesondere die Dominanz der Finanzwirtschaft, mit den bekannten und weitgehend diskreditierten Strukturen des Ancien R¦gime semantisch in Verbindung zu setzen und dadurch angreifbar zu machen. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, den Antikapitalismus der Frühsozialisten als fortschrittsfeindlich zu bezeichnen. Nichts hätte den Frühsozialisten ferner gelegen, als eine Rückkehr zum Ancien R¦gime und seinen Machtstrukturen zu fordern. Es handelt sich vielmehr um Kritik an einer fehlgeleiteten Modernisierung, deren Entwicklung in eine Richtung verlief, die nicht mit den gesellschaftsreformerischen Ideen der Frühsozialisten zu vereinbaren war. Sie drohte 473 Jardin,Tudesq: Restoration and Reaction, S. 178. 474 Levy, Richard S.: Antisemitism. A Historical Encyclopedia of Prejudice and Prosecution. Santa Barbara, Kalif. 2005, S. 571. 475 »Rothschild, l’empereur de tous les juifs chr¦tiens et non-chr¦tiens, le roi de tous les parvenus.« Dairnvaell: Jugement rendu contre, S. 5. 476 Krier, Fr¦d¦ric: Sozialismus für Kleinbürger. Pierre Joseph Proudhon, Wegbereiter des Dritten Reiches. Köln 2009, S. 221.

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ihrer Ansicht nach lediglich eine privilegierte Gesellschaftsschicht – den Adel des Ancien R¦gime – durch eine neue – die Angehörigen der Hochfinanz – zu ersetzen. Leroux, Toussenel, Dairnvaell und ihre Mitstreiter sahen sich als Anwälte der stummen Mehrheit der Bevölkerung, die durch die Verflechtung zwischen Wirtschaftsmagnaten und Politikern hintergangen wurde. Diese Grundüberzeugung schlug sich in einer polemisierten Kritik an politischem und wirtschaftlichem Normenverfall nieder, dessen vermeintliche Ursache die anonymisierten Geschäftspraktiken des Aktienhandels waren, und dem nun versucht wurde, ein Gesicht zu geben. Aus der Sicht der Frühsozialisten war Korruption ein Symptom immanenter Fehler des Wirtschaftssystems, die aus der ungerechten Verteilung von Ressourcen und Macht resultierten und sich nicht durch Reformen oder verbesserte Regulierungsmaßnahmen beheben ließen. Als Ursache für Korruption machten Frühsozialisten weniger die menschliche Natur verantwortlich, als das politische und wirtschaftliche System, in dem sich die Akteure bewegten. Die Lösung konnte daher auch nicht in einem höheren ethischen Standard, stärkerer Kontrolle oder politischen Reformen liegen, sondern musste durch eine komplette Umgestaltung des wirtschaftlichen und des politischen Systems geschehen. Die Frühsozialisten gingen damit noch einen Schritt weiter als der gemäßigte Flügel der republikanischen Opposition, der versuchte, die Julimonarchie von innen heraus zu reformieren. Mehrheitlich waren die Frühsozialisten daher auch keine aktiven Mitglieder der politischen Landschaft. Die Hochzeit der antikapitalistischen Schriften mit starkem antijüdischem Einschlag liegt in den Jahren 1845–1847, mit wenigen Nachzüglern im Frühjahr 1848, also genau in der Zeitspanne zwischen dem ersten Eisenbahnboom und der einsetzenden Wirtschaftskrise. Während der Zweiten Republik verstummten sie weitestgehend. Im Zweiten Kaiserreich setzte sich die Kritik sozialistischer Autoren am Aktienhandel im Speziellen und dem Wirtschaftsystem im Allgemeinen weiter fort. Allerdings fielen aufgrund der strikten Pressezensur und einem Veröffentlichungsverbot für parlamentarische Debatten zwei wesentliche Foren der Korruptionskritik vorübergehend weg, gänzlich unterdrücken ließen sich kritische Stimmen aber nicht.477 Nach dem Staatsstreich LouisNapol¦ons standen republikanisch oder sozialistisch gesinnte Autoren vor der Entscheidung, entweder ins Exil zu gehen, ihre politische Publikationstätigkeit 477 Kritik in literarischer Form scheint weniger prekär gewesen zu sein und erlebte eine Blütezeit nach der Spekulationswelle von 1856. Francois Ponsard veröffentlichte in eben diesem Jahr die satirische Komödie »La bourse« und wurde dafür sogar von Louis-Napol¦on gelobt. Im Jahr darauf erschienen von Oscar de Vall¦es (Manieur d’argent) und Alexandre Dumas Fils (Question d’argent) weitere satirische Werke zur Thematik. Plessis, Alain: La bourse et la soci¦t¦ franÅaise du Second Empire. In: Romantisme (1983) 40. S. 41–52, S. 43.

Zwischenfazit

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einzustellen, oder anonym und unter der Gefahr staatlicher Verfolgung weiter zu arbeiten. Alphonse Toussenel blieb in Paris, widmete sich fortan aber kulturund naturhistorischen Themen.478 Charles Fauvety entschied sich ebenfalls, in Frankreich zu bleiben und unterhielt einen Salon, der während des zweiten Kaiserreichs zu einem zentralen Treffpunkt der in Frankreich verbliebenen Republikaner und Frühsozialisten wurde.479 Pierre Leroux wählte zwar den Weg ins Exil auf die Insel Jersey, befasste sich dort aber ebenfalls mit anderen Themen.480 Über Dairnvaells weiteren Lebenslauf ist nichts bekannt, seine Veröffentlichungen enden mit dem Jahr 1852. Im Gegensatz zu den meisten Frühsozialisten setzte Proudhon seine Veröffentlichungstätigkeit auch nach 1848 fort und übte harsche Kritik an den Patronagestrukturen des Zweiten Kaiserreiches. 1853 veröffentlichte er die erste Fassung des Manuel du sp¦culateur — la bourse, eine Auftragsarbeit, die er gemeinsam mit seinem Mitstreiter George DuchÞne für das Pariser Verlagshaus Garnier verfasst hatte. Die ersten beiden Auflagen mussten allerdings anonym erscheinen. Unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise von 1856 entschloss er sich, eine erweiterte Fassung zu schreiben, die eine umfassende Analyse über spekulative Aktienanlagen enthielt und unter seinem Namen erschien.481 Während der Dritten Republik erlebten sozialistische Konzepte eine erneute Hochzeit, vorangetrieben durch Autoren vom Schlage eines Auguste Chirac. Bei ihnen findet sich erneut eine starke Tendenz, Antikapitalismus mit Antijudaismus zu verbinden, nun allerdings durch die von Drummond entwickelte pseudowissenschaftliche Rassenlehre erweitert.482

Zwischenfazit Auf den ersten Blick sind die Parallelen zwischen den Untersuchungsländern frappierend. In beiden Ländern gab es nahezu zeitgleich hochspekulative Phasen, zunächst im 18. Jahrhundert mit Aktien der Handelskompanien und später auch in den 1840er Jahren des 19. Jahrhunderts im Handel mit Eisenbahnaktien 478 Toussenel, Alphonse: L’Esprit des bÞtes. Le monde des oiseaux, ornithologie passionnelle. Paris 1853; Toussenel, Alphonse: Tristia, histoire des misÀres et des fl¦aux de la chasse de France. Paris 1863. 479 Combe, Andr¦: Charles Fauvety et la religion Laque. In: Esot¦risme et Socialisme. Hrsg. von Francis Bertin. Paris 1995. S. 73–85, S. 73. 480 Robert, Bourloton u. Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires. S. 117 481 Proudhon, Pierre-Joseph: Manuel du sp¦culateur — la bourse. Paris 1857, S. II. 482 Chirac, Auguste: La Haute Banque et les R¦volutions. Paris 1876., Chirac, Auguste: Les rois de la R¦publique. Histoire des juiveries. Paris 1883; Chirac, Auguste: Les pots-de-vin parlementaires. Paris 1888; Chirac, Auguste: L’agiotage sous la TroisiÀme R¦publique. Paris 1888.

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und einem anschließenden Börsencrash. In beiden Ländern finden sich außerdem Verweise auf vergleichbare frühere Korruptionsfälle, wobei in Frankreich die rhetorische Gleichsetzung zwischen »Finanzaristokratie« und dem Adel des Ancien R¦gime deutlich häufiger nachzuweisen ist, als in Großbritannien. Sowohl in Großbritannien wie auch in Frankreich wurde Korruption als ein Erklärungsmuster verwendet, das die Ursachen der Spekulationsblasen begreifbar machen sollte und ein Anzeichen für den Niedergang wirtschaftsethischer Standards darstellte. Die Konsequenzen, die aus dieser Beobachtung gezogen wurden, könnten jedoch kaum unterschiedlicher sein. In Frankreich genossen frühsozialistische Interpretationen weite Verbreitung, die die Spekulationsblase für eine antikapitalistische Kampagne nutzten und den Staat sowie das politische und wirtschaftliche System in seiner Essenz angriffen. Korruption fungierte dabei ebenso wie Antijudaismus als unterstützendes Argument, wobei Juden als Repräsentanten der gesamten Finanzwelt gesehen wurden, die einen zersetzenden Einfluss auf die Politik ausübten. An diesem Punkt stößt der Vergleich an seine heuristischen Grenzen und es muss die relativ einfache Erkenntnis genügen, dass es schlichtweg keine bedeutenden jüdischen Eisenbahnunternehmer in Großbritannien gab.483 Generell kann jedoch festgestellt werden, dass religiöse Zugehörigkeiten der Akteure in den britischen Debatten nicht thematisiert wurden. In Großbritannien hingegen wurde Spekulation als ein individuelles Fehlverhalten aufgefasst, das sich auch in weiteren illegitimen Geschäftspraktiken wie Scheinfirmen und Betrug manifestierte. Konsequenterweise wurde auch Korruption als Fehlverhalten Einzelner gesehen, was ein wirksames Einschreiten der Legislative gegen die Railway Mania verhindert hatte. Im Unterschied zu Großbritannien wurde die Krise der Eisenbahnbranche in Frankreich in den Jahren vor 1848 nicht mit Wirtschaftkriminalität assoziiert. Dies lag im Wesentlichen daran, dass Eisenbahnunternehmen als stark regulierte Soci¦t¦s Anonymes operieren mussten und ihre Gründer intensiv durch staatliche Instanzen geprüft wurden, bevor die Konzessionen erteilt wurden. Betrügerische Scheinfirmen stellten daher in Frankreich kein substanzielles Problem dar. Korruptionsanklagen im Zusammenhang mit dem Aktienhandel basierten in der Regel auf Gerüchten und wurden nicht konkretisiert. Selbst im Fall Hudson, wo handfeste Hinweise auf Bestechung von Parlamentariern vorhanden waren 483 Nathan Rothschild, der Leiter der englischen Niederlassung das Bankhauses Rothschild entschied sich nach anfänglichen Überlegungen bewusst gegen Investitionen in den britischen Eisenbahnbau. Pollins, Harold: The Jews’ Role in the Early British Railways. In: Jewish Social Studies 15 (1953) 1. S. 53–62, S. 53.

Zwischenfazit

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und zumindest indirekt durch einen Beteiligten zugegeben worden waren, ist kein politischer Wille auszumachen, Akteure zu ermitteln. Korruptionsdebatten entstanden hier nicht aus einer direkten Wettbewerbssituation heraus und waren daher auch nicht dazu gedacht, einzelne Konkurrenten zu diskreditieren. In Frankreich hingegen wiesen die Korruptionsdebatten eine ideologisch begründete und stark systemkritische Komponente auf. Die Angriffe wurden besonders häufig von Personen vorgetragen, die dem Kapitalismus grundsätzlich kritisch gegenüberstanden und unternehmerischen Ehrgeiz mit Raffgier und Egoismus verbanden. Frühsozialistische Theoretiker propagierten ihr Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell weniger unter dem Gesichtpunkt der Effektivität, als aus Gründen sozialer Gerechtigkeit.484 Befürworter des kapitalistischen Wirtschaftsystems entwickelten als Antwort auf diese Vorwürfe eine ausgreifende Theorie. Sie verwiesen auf einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und der öffentlichen Moral. Danach nahmen Unternehmer für sich in Anspruch, dass durch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes auch der Lebensstandard und das Bildungsniveau weiter Teile der Bevölkerung anstieg, was wiederum zu besseren moralischen Standards führen sollte.485 Die Industrialisierung zeigte jedoch auch negative Folgen, die sich nur schwer ignorieren ließen. Insbesondere die Lage der Fabrikarbeiter wurde nicht nur im Kontext ihrer materiellen Armut, sondern häufig auch im Zusammenhang von schlechten Lebensbedingungen und moralischer Verrohung als deren Folge debattiert. Das kapitalistische Wirtschaftssystem blieb in Großbritannien in der Regel unangefochten. Das Streben nach dem schnellen Gewinn stellte für viele jedoch einen moralischen Verstoß dar. Während sich die frühsozialistischen Strömungen in Frankreich stark auf die Rolle der Finanzindustrie in der Gesellschaft konzentrierten, legten zeitgleiche Bewegungen in Großbritannien ihren Fokus in erster Linie auf Reformen der Arbeitsbedingungen und der politischen Partizipation.486 Viele Erklärungsmodelle für den Erfolg des Liberalismus in Großbritannien betonen die Bedeutung von Rechtssicherheit und »Neutralität« der Regierung für seinen Siegeszug im 19. Jahrhundert. Dadurch waren politisch radikale Strömungen besser in den Reformprozess eingebunden, was der Popularisierung des Sozialismus, wie sie auf dem Kontinent geschah, entgegengewirkt hat.487 Auch die Reaktion des Staates auf die Auswirkungen der Spekulationswellen divergiert. Der britische Staat beschränkte sich auf regulierende Maßnahmen 484 485 486 487

Searle: Morality, S. 2. Ebd., S. 3. Rödder : Die radikale Herausforderung, S. 217. Vgl. Biagini: Liberty, S. 8.

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und führte, wenn auch zögerlich, Reformen durch. In Frankreich, wo Unternehmen durch Staatsgarantien gestützt werden mussten, war der Staat zu eng mit dem Eisenbahnbau verknüpft, als dass er von einer direkten Unterstützung der Unternehmen hätte absehen können, denn ein Scheitern der vom Staat geplanten und protegierten Strecken hätte einen immensen Ansehensverlust bedeutet.

3.

Konkurrenz und Monopol

3.1. Zur Entwicklung der britischen Eisenbahnbranche in den 1850er und 1860er Jahren Die Eröffnung der Great Northern Railway im August 1850 – jener Strecke, deren Bau George Hudson als Leiter der Midland Railway so lange zu verhindern versucht hatte – führte erstmals zu direktem Wettbewerb zwischen zwei großen Linien in Großbritannien.488 Der Beginn der 1850er Jahre markierte eine neue Phase im Ausbau des britischen Schienennetzes. Zwar erholte sich die Wirtschaft von der Krise der späten 1840er Jahre, dennoch erzwangen die rückläufigen Investitionen in Eisenbahnaktien nach der Railway Mania ein langsameres Wachstum. Folgerichtig waren viele Unternehmen darum bemüht, ihren Geschäftsbetrieb zu konsolidieren. Darüber hinaus waren die großen Eisenbahnlinien des Landes fertiggestellt und weitere Expansionen fast nur noch durch den Ausbau der in der Regel weniger profitablen Nebenstrecken möglich. Die geringeren Expansionsmöglichkeiten führten zu gesteigerter Konkurrenz zwischen den Unternehmen.489 Dieser Wandel der Branche hatte weitreichende Folgen auch für die Interessenpolitik der Unternehmen und soll daher im Folgenden zunächst überblicksartig dargestellt werden. Anlässlich der Weltausstellung von 1851 traten die Great Northern Railway und die Midland Railway in einen Preiskampf auf der Strecke zwischen York und der Metropole London, der verdeutlichte, wie eng der Markt auf dem Sektor des Personentransports inzwischen geworden war. Erst durch die Vermittlung von William Gladstone konnte ein vorläufiger Kompromiss zwischen den beiden Unternehmen erzielt werden.490 Für die Fahrgäste bedeutete die Konkurrenz 488 Grinling, Charles H.: The History of the Great Northern Railway, 1845–1922. London 1898, S. 92. 489 Cain, P. J.: Railway Combination and Government. 1900–1914. In: Economic History Review 25 (1972) 4. S. 623–641, S. 625. 490 Gourvish, Terence R.: Mark Huish and the London & North Western Railway. A Study of Management. Leicester 1972, S. 202.

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zwischen den Unternehmen niedrigere Preise, die es vielen Leuten erstmals ermöglichte, das neue Transportmittel zu nutzen. Aus der Sicht der Eisenbahngesellschaften hatte die gesteigerte Konkurrenz jedoch vor allem negative wirtschaftliche Auswirkungen. Die Gewinnmargen vieler Unternehmen gingen aufgrund der teilweise bis unter die Betriebskosten gedrückten Fahrpreise deutlich zurück, was wiederum sinkende Dividenden zur Folge hatte. Unzufriedene Aktionäre übten daher zunehmend Druck auf die Unternehmen aus und traten vermehrt als eigenständige Interessengruppe in öffentlichen Debatten auf. Eisenbahnunternehmer hatten mehrere Möglichkeiten, um auf den gesteigerten Wettbewerb zu reagieren. Eine davon war die Bildung von Kartellen durch informelle Koalitionen und Absprachen. Das bekannteste Beispiel war die von der London and North Western Railway dominierte und nach ihrem Hauptbahnhof in London als »Euston Square Confederacy« bekannt gewordene Allianz mehrerer Eisenbahnunternehmen im Nordwesten Englands. Die London and North Western Railway stand zu Beginn der 1850er Jahre unter starkem wirtschaftlichem Druck auf mehreren Abschnitten ihres Schienennetzes. Im Westen versuchte die Great Western Railway nach Norden zu expandieren und einen direkten Zugang nach Manchester zu erhalten. Von Osten her plante die Great Northern Railway eine alternative direkte Verbindung zwischen London und Manchester. Der General Manager der London and North Western Railway, Captain Mark Huish, traf daher 1850 geheime Absprachen mit sechs weiteren Unternehmen, um der drohenden Konkurrenz zu begegnen und die Profite seines Unternehmens zu maximieren. Huish war eine der dominierenden Eisenbahnpersönlichkeiten der 1850er Jahre und berüchtigt dafür, dass sich seine Geschäftspraktiken häufig am Rande der Legalität bewegten. Weitere Mitglieder der »Euston Square Confederacy« waren die Midland Railway und die Manchester, Sheffield and Lincolnshire Railway, die der Great Northern Railway eigentlich schon Durchfahrtsrechte auf einem wichtigen Streckenabschnitt eingeräumt hatte, diese aber nach den Absprachen mit der London and North Western Railway wieder zurückzog.491 Eine längerfristig und strategisch ausgerichtete Antwort auf die Herausforderungen verstärkter Konkurrenz waren Fusionen und feindliche Übernahmen, die darauf abzielten, regionale Monopolstellungen zu erreichen. Dieser Trend hatte bereits Mitte der 1840er Jahre begonnen, als die London and North Western Railway durch die Fusion der London and Birmingham Railway mit der Liver-

491 Greaves, John Neville: Sir Edward Watkin, 1819–1901. The Last of the Railway Kings. Lewes 2005, S. 52.

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pool and Manchester Railway sowie einigen weiteren regionalen Eisenbahnunternehmen entstanden war.492 An der grundsätzlichen Bedeutung des Parlaments für die Interessenvertretung von Eisenbahnunternehmen änderte sich in den 1850er und 1860er Jahren relativ wenig, denn auch für Fusionen und Streckenerweiterungen war eine parlamentarische Bewilligung in Form einer Private Bill erforderlich. Die geänderten Rahmenbedingungen erzwangen jedoch eine Anpassung der Strategien der Interessenvertretung im Parlament. Während der Pionierphase entschied die Stimmung im Parlament über Existenz oder Auflösung eines kompletten Unternehmens. In den 1850er Jahren war das Hauptziel, das eigene Unternehmen durch Erweiterungen des Schienennetzes und Koalitionen mit anderen Unternehmen möglichst gut zu positionieren. Bereits in den 1840er Jahren hatte sich abgezeichnet, dass sich zusätzlich zur bereits bestehenden Konfliktlinie zwischen den Gegnern der Eisenbahnindustrie und den Unternehmen eine weitere auftat, die zwischen konkurrierenden Firmen innerhalb der Branche verlief. In den 1850er Jahren nahmen daher strategische Fusionen deutlich zu. Allein 1852 wurden 20 entsprechende Anträge im Parlament eingereicht und bearbeitet.493 Unter ihnen war auch ein Antrag der London and North Western Railway für eine Fusion mit der Midland Railway. Diese Fusion hätte im Falle ihrer Bewilligung zur Bildung des mit Abstand größten Eisenbahnunternehmens in Großbritannien geführt. Angesichts der rasch wechselnden Regierungsmehrheiten zu Beginn der 1850er Jahre, fiel es der Staatsführung schwer, eine kohärente Strategie zu formulieren, wie mit der Antragsflut umgegangen werden sollte.494 Um des Problems Herr zu werden, wurde 1852 ein Select Committee des House of Commons eingerichtet, das nach ihrem Vorsitzenden, dem Leiter des Board of Trade Edward Cardwell als Cardwell’s Committee bekannt wurde. Das Gremium sollte sich mit Möglichkeiten befassen, wie der Wettbewerb zwischen den Eisenbahnen besser zu regulieren sei.495 Der Ausschuss tagte bis 1853 unter dem Vorsitz von Edward Cardwell und war prominent besetzt. Neben Cardwell gehörten ihm 492 Then: Eisenbahnen und Eisenbahnunternehmer, S. 30ff. 493 Cleveland Stephens, Edward: English Railways. Their Development and Relation to the State. London 1915, S. 180. 494 Ebd. 495 Edward Cardwell war der Sohn eines Liverpooler Händlers und hatte eine juristische Ausbildung genossen. Als Anhänger Peels wurde er 1852 nach dem Wahlsieg der Peelites zum Leiter des Board of Trade ernannt, nachdem er in den 1840er Jahren bereits unter ihm als Financial Secretary to the Treasury fungiert hatte. Besondere Bekanntheit erlangte er während seiner Zeit als Secretary of State for War unter der Regierung Gladstone zwischen 1868 und 1874, während der er Reformen einführte, um die Armee zu modernisieren. Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 72; Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 123. Sp. 1048–1057, Sp. 1057.

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noch vier weitere ehemalige oder zukünftige Präsidenten des Board of Trade an: William Gladstone, sein Nachfolger Henry Labouchere sowie Joseph Henley und der Radical John Bright, der in den späten 1860er Jahren unter der Regierung Gladstone die Leitung des Board of Trade übernehmen sollte. Weitere Mitglieder, die für ihre genaue Kenntnis der Eisenbahnbranche bekannt waren, waren John Wilson-Patten, Edward Strutt, der zwischen 1846 und 1848 als Chief Commissioner on Railways tätig gewesen war und John Evelyn Denison, der langjährige Sprecher des Unterhauses. Offizielle Repräsentanten der Eisenbahnunternehmen waren im Gegensatz zu Gladstones Select Committee von 1844 in Cardwells Ausschuss nicht vertreten, was einen klaren Bruch mit bisherigen Gepflogenheiten darstellte und die ungewöhnlich restriktiven Empfehlungen bezüglich weiterer Fusionen erklären könnte.496 Im Verlauf des Jahres 1853 veröffentlichte der Ausschuss mehrere Zwischenberichte. Der abschließende Report des Cardwell Committee empfahl, dass weitere Fusionen nur in Ausnahmefällen und bei kleineren Unternehmen bewilligt werden sollten. Transparent gestaltete Übereinkünfte zu Frachttarifen und Fahrpreisen, um ruinöse Preiskämpfe zwischen Unternehmen zu vermeiden, die in den selben Regionen operierten, wurden aber ausdrücklich befürwortet.497 Die Empfehlung des Berichts von Cardwell’s Committee gegen weitere Fusionen in der Eisenbahnbranche war jedoch im Parlament nicht mehrheitsfähig. Der endgültige Gesetzesentwurf, den Edward Cardwell vorlegte und der als Railway and Canal Traffic Act verabschiedet wurde, war gegenüber dem Abschlussbericht in wesentlichen Punkten abgeschwächt worden. Offenbar hatte Cardwell seinen eigenen Gesetzesentwurf vorbeugend entschärft und nicht weniger als 10 der vorgesehenen 15 Klauseln entfernt, um die Passage des Gesetzes im Parlament sicherzustellen. Dieser »Selbstzensur« fielen auch diejenigen Bestimmungen zum Opfer, die dem Board of Trade regulierende und vermittelnde Funktionen in Streitfragen eingeräumt hätten. Stattdessen wurde diese Funktion einem zivilrechtlichen Gericht, dem Court of Common Pleas, übertragen.498 Der Act in seiner endgültigen Form behandelte fast ausschließlich Fragen der Regulierung von Durchgangsverkehr zwischen den Streckennetzen verschiedener Eisenbahngesellschaften. Einzig eine Klausel, die Preferential Rates, speziell ausgehandelte Frachttarife für einzelne Unternehmen, untersagte, hatte Auswirkungen auf die Konkurrenz zwischen Unternehmen und ihre regionalen

496 Cleveland Stephens: English Railways, S. 180–181. 497 Ebd., S. 183. 498 The Times (4. 5. 1854), S. 10.

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Monopole. Uniforme Tarife in der Praxis zu gewährleisten, war wegen der komplexen Tarifstrukturen der Firmen weiterhin schwierig. Die Times sah in den Berichten des Ausschusses nicht weniger als den Versuch, die Fehler des reinen Liberalismus der vergangenen 20 Jahre wieder auszugleichen. Der Kommentator der Zeitung vermerkte jedoch auch, dass der vorliegende Gesetzesentwurf dieser Intention nicht gerecht werden konnte, da das einzige vorgesehene Mittel gegen Preisabsprachen und Preferential Rates in einer Klage vor dem Court of Common Pleas bestünde und sich nur wenige Unternehmen einen Rechtsstreit mit den finanzstarken Eisenbahngesellschaften leisten könnten. Er forderte stattdessen, das Board of Trade oder ein neu zu gründendes Ministerium als Instanz zu stärken.499 Es war wohl nicht nur der Druck des Railway Interest, der zur Entschärfung des Gesetzes beigetragen hatte. Cardwell muss sich bewusst gewesen sein, dass er für die Übertragung weiterreichender Befugnisse an das Board of Trade keine Mehrheit im Parlament erhalten hätte, da viele Parlamentarier keine Kompetenzen an die Exekutive abtreten wollten.500 Die Gesetzgebung des Parlaments zu Fusionen blieb vom Einfluss konkurrierender Interessensgruppen dominiert und daher inkonsistent. Eine klare politische Linie konnte trotz der kritischen Haltung vieler Parlamentarier nicht erreicht werden. Zwischen 1850 und 1875 übernahmen allein die London and North Western Railway und die Great Western Railway 52 bis dahin eigenständige Unternehmen. Außerdem wurde 1854, also genau in dem Jahr, in dem auch der Railway and Canal Traffic Act verabschiedet wurde, die bedeutendste Umstrukturierung der Branche der 1850er Jahre bewilligt, als die York and North Midland Railway mit der Leeds Northern Railway und der York, Newcastle and Berwick Railway zur North Eastern Railway fusionieren durfte.501 Die geplante Fusion der London and North Western Railway und der Midland Railway kam jedoch nicht zustande und die Unternehmen reagierten auf diese Niederlage mit weiteren geheimen und illegalen Preisabsprachen, die zum Ziel hatten, die Konkurrenz, vornehmlich die Great Northern Railway auszuschalten.502 1856 kam es nach gescheiterten Verhandlungen zwischen den Kontrahenten zu einem erneuten Preiskampf, der in den Zeitungen als »Battle of the Railways« bekannt wurde. Die Existenz der Euston Square Confederacy wurde publik, als Edmund Denison, der Leiter der Great Northern Railway, mehrere Leserbriefe an die Times verfasste, in denen er Huish unethische Geschäfts-

499 The Times (22. 5. 1854), S. 8. Zu den Debatten über die Befugnisse des Board of Trade siehe Kapitel 5.5. 500 Cleveland Stephens: English Railways, S. 197. 501 Gourvish: Railways, S. 50. 502 Grinling: The History, S. 143.

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praktiken vorwarf.503 Denison kritisierte auch das Parlament für seine Untätigkeit in Bezug auf das Kartell. Die folgenden öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen den Kontrahenten schädigten das nach den Erfahrungen der späten 1840er Jahre ohnehin schon angeschlagene Ansehen der Eisenbahnunternehmen und ihrer Direktoren weiter.504 Erneut bedurfte es der Autorität von William Gladstone, um einen Kompromiss über die Aufteilung des Verkehrs durch festgelegte Kontingente auszuhandeln und die Preiskämpfe zu beenden.505 In einigen Fällen versuchte Westminster in den 1850er und 1860er Jahren, auf die öffentliche Kritik an den Monopolisierungstendenzen der Eisenbahnbranche zu reagieren, indem es die Bewilligung paralleler Linien förderte.506 Hierdurch sollten die Monopole der Unternehmen auf ihren Strecken gebrochen und niedrigere Tarife erzwungen werden. Die Pioniere des frühen Eisenbahnbaus waren noch davon ausgegangen, dass, ähnlich wie bei Straßen und Kanälen, mehrere Unternehmen die gleichen Strecken nutzen und im gegenseitigen Wettbewerb operieren würden. Diese Erwartung stellte sich jedoch schon allein aufgrund technischer und organisatorischer Hürden als unrealistisch heraus.507 Des Weiteren war die rasante wirtschaftliche Entwicklung des Eisenbahnbaus in den 1820er und 1830er Jahren noch nicht abzusehen und traf die Legislative in 503 The Times (12. 2. 1856), S. 9; Leserbrief des Direktors der Great Northern Railway Edmund Denison. In: The Times (15. 2. 1856), S. 10. 504 Denison hatte noch im gleichen Jahr mit einem hauseigenen Skandal bei der Great Northern Railway zu kämpfen, als Veruntreuungen durch den Sekretär des Unternehmens Leopold Redpath publik wurden. The Times (14. 11. 1856), S. 9. 505 Grinling: The History, S. 160. 506 Tatlow, Joseph: Fifty Years of Railway Life in England, Scotland and Ireland. London 1920, S. 11. 507 Bereits 1839 kam das Select Committee on Railways zu dem Schluss, dass die Nutzung eines Streckenabschnitts durch mehrere Unternehmen sowohl technisch wie organisatorisch nur wenig Sinn machte: »It does not appear to have been the intention of Parliament to give to a Railway Company the complete monopoly of the means of communication on the line of road; on the contrary, provision was made in all or most of the Acts of Incorporation to enable other persons to place and run engines and carriages on the roads, upon payment of certain tolls to the company. The intention of Parliament in this respect cannot, however, be carried into effect in the way contemplated by the Legislature: for it is obvious that the payment of legal tolls is only a very small part of the arrangement which is necessary to open Railroads to public competition; any person with the mere authority to place an engine and carriages on a Railway would be practically unable to supply his engines with water, … , and, indeed would be placed in such a disadvantageous situation, that all competition with the Company would be rendered impossible. The safety of the Public also requires that upon every Railway there should be one system of management, under one superintending authority, which should have the power of making and of enforcing all regulations necessary for the protection of passengers, … On this account it is necessary that the Company should possess a complete control over their line of road, although they should thereby acquire an entire monopoly of the means of communication.« In: Second Report from the Select Committee on Railways. Parliamentary Papers. 1839. Bd. 10, S. VI.

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ihren Dimensionen weitestgehend unvorbereitet.508 Die aktive Förderung konkurrierender paralleler Linien durch das Parlament erschien daher vielen Beobachtern wie eine Verlegenheitslösung. In den meisten Fällen machten sie wirtschaftlich ohnehin keinen Sinn und wurden in der Regel schnell durch ihre etablierten Konkurrenten aufgekauft oder verdrängt. Im Endeffekt scheiterte auch dieses Konzept, Konkurrenz zu erzwingen, und führte zur Bildung weiterer Großunternehmen. Eisenbahnunternehmen konnten zusätzlich dadurch expandieren, dass sie ihre Geschäftsbereiche auf Zulieferbetriebe und in andere angrenzende Branchen erweiterten. Kutschen waren in den 1850er Jahren fast vollständig aus dem Fernverkehr über Land verschwunden und die Eisenbahnen kontrollierten den Personentransport nahezu komplett. Konkurrierende Kanäle, Kohle- und Stahlunternehmen wurden aufgekauft und eigene Schifffahrtsgesellschaften und Paketdienste gegründet.509 Die Wirtschaftskrise ab 1857 beendete den Expansionsdrang der Eisenbahnunternehmen vorübergehend, ehe in den frühen 1860er Jahren eine neue kleinere Boomphase im Eisenbahnbau einsetzte, die ihren Antrieb vor allem durch den Ausbau der ersten unterirdischen Bahnlinien in London erhielt.510 Die meisten Eisenbahnunternehmen mit direktem Zugang zu London verfügten über eigene Bahnhöfe, die jedoch wie ein Kreis um das Stadtzentrum herum angeordnet waren und bis dato nur durch Pferdekutschen – seit 1829 kamen die berühmten Pferde-Omnibusse zum Einsatz – miteinander verbunden waren. Der Bau zentraler Bahnhöfe im dicht besiedelten Stadtgebiet war 1846 durch parlamentarischen Beschluss untersagt worden.511 Dies hatte immense Behinderungen des Waren- und Personentransports in der schnell anwachsenden Metropole zur Folge. Bereits seit den späten 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden daher Pläne entwickelt, die verschiedenen Hauptbahnhöfe durch unterirdisch verlaufende Eisenbahnlinien zu verbinden und dadurch dem wachsenden Verkehrschaos in der City und den angrenzenden Vierteln zu begegnen. Der Bau von unterirdischen Eisenbahnstrecken im Londoner Stadtgebiet brachte jedoch sowohl praktische als auch politische Probleme mit sich. In vielen technischen Bereichen musste Neuland betreten werden und die Öffentlichkeit stand den Plänen der Eisenbahnunternehmen zumeist skeptisch gegenüber. Anwohner befürchteten Schäden an ihrem Besitz und Beeinträchtigungen ihrer Lebensqualität.512 Es dauerte daher noch etliche Jahre, bis 1863 die 508 The Times (4. 9. 1846), S. 5. 509 Second Report from the Select Committee on Railway and Canal Bills. Parliamentary Papers. 1852–1853. Bd. 38. S. 13. 510 Gourvish: Railway 1830–1870, S. 58. 511 The Times (1. 7. 1846), S. 6. 512 The Times (30. 11. 1861), S. 5.

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Metropolitan Railway als erste unterirdische Eisenbahnlinie Londons eröffnet werden konnte, die das Finanzzentrum der City mit den Hauptbahnhöfen Paddington, Euston und King’s Cross verband. Im gleichen Jahr stieg die Anzahl neuer Projekte geradezu sprunghaft an, was weitere Proteste hervorrief.513 Viele der geplanten Strecken standen in direkter Konkurrenz zueinander und wurden daher erstmals in einem gemeinsamen Joint Committee beider Kammern des Parlaments geprüft.514 Der Bericht des Untersuchungsausschusses sprach sich für eine Kreislinie (Inner Circle) aus, die alle großen Bahnhöfe miteinander verbinden sollte. Der Ausbau des nördlichen Teils wurde von der Metropolitan Railway übernommen. Für die südliche Hälfte wurde ein eigenes Unternehmen, die Metropolitan District Railway, gegründet, für das mehrere Projekte zusammengelegt wurden. In den frühen 1860er Jahren arbeiteten die Metropolitan Railway und die Metropolitan District Railway noch relativ eng zusammen, um den Inner Circle fertig zu stellen. Schon bald traten jedoch Spannungen zwischen den Unternehmen auf. Der Ausbau des Schienennetzes in London spiegelte die Gesamtsituation des Eisenbahnbaus mit all seinen Problemen geographisch konzentriert wieder. Da die Unternehmen verpflichtet waren sämtliche Grundstücke die sie untertunneln wollten, zu erwerben, wurde auch die Frage nach angemessenen Entschädigungszahlungen an die Besitzer wieder akut. Insbesondere bei der District Line, die durch wohlhabende Gegenden im Südwesten Londons verlief, schnellten die Baukosten in ungeahnte Höhen. Konkurrenzsituationen zwischen den Überlandstrecken in Bezug auf die besten Zugangsrouten nach London führten zu heftigen Konflikten zwischen Unternehmen. Die Great Northern Railway kaufte zum Beispiel 1867 die Edgware Highgate and London Railway, um gegen eine Expansion der Midland Railway durch ihre London Extension vorzugehen.515 Neben dem Ausbau der Londoner U-Bahnen fanden auf nationaler Ebene zu Beginn der 1860er Jahre mehrere wichtige Fusionen in der Eisenbahnbranche statt.516 1862 entstand die Great Eastern Railway aus dem Zusammenschluss der Eastern Counties Railway mit mehreren kleineren Unternehmen. Die Problematik der Monopolbildung und der Tarifgestaltung war auch weiterhin nicht gelöst. Seit Mitte der 1860er Jahre waren Preiskämpfe zwischen den Unterneh513 Für die Sitzungsperiode 1863 lagen dem Parlament Pläne für Projekte mit einer Gesamtlänge von 174 Meilen und einem Kapital von 44 Millionen Pfund vor. Barker, Robbins: A History, S. 148; zur Opposition siehe: The Times (3. 3. 1863), S. 7. 514 Die Initiative zu diesem ungewöhnlichen Verfahren ging von Thomas Milner Gibson, dem Leiter des Board of Trade aus. The Spectator (13. 2. 1864), S. 6. 515 Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 13. 516 Clapham, J.H: An Economic History of Modern Britain. Free Trade and Steel 1850–1886. Cambridge 1952 (Bd. 2), S. 185.

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men seltener geworden und die Tarife stiegen stetig an. Dies löste Widerstand besonders bei Händlern aus, die immer höhere Preise für den Transport ihrer Waren bezahlen mussten und keine Alternativen hatten.517 Auf ihren Druck hin wurde 1865 ein erneuter Untersuchungsausschuss eingerichtet, der jedoch abermals durch den Railway Interest unterlaufen und dominiert wurde.518 1872 folgte eine neue Welle von Fusionsanträgen. Abermals war es die London and North Western Railway, deren Pläne für die meiste Aufregung sorgten. Sie strebte an, mit der Lancashire and Yorkshire Railway zu fusionieren, wodurch sie ein komplettes Monopol in Lancashire erhalten hätte.519 Weitere Fusionsanträge betrafen die South Eastern Railway, die mit der London, Brighton and South Coast Railway zusammengelegt werden sollte, und die North Eastern Railway für einen Zusammenschluss mit der Great Northern Railway. Es wurde ein Joint Committee, ein gemeinsamer Untersuchungsausschuss beider Kammern des Parlaments eingesetzt, welcher sich gegen weitere Fusionen in der Eisenbahnbranche aussprach mit der Begründung, dass ohne staatliche Regulierung auf lange Sicht ein einziger riesiger Monopolist entstehen würde. An diesem Punkt beherzigte das Parlament die Empfehlungen des Ausschusses und lehnte die Anträge ab. Es verfolgte in der Zukunft eine deutlich restriktivere Politik in Bezug auf die Bewilligung weiterer Fusionen. Beispielsweise scheiterten 1875 die Versuche Edward Watkins, die Fusion der Manchester Sheffield und Lincolnshire Railway mit kleineren Nebenbahnen durchzusetzen. 1877 führte er Verhandlungen mit der Midland und der Great Northern Railway, die jedoch ebenfalls ohne Ergebnis blieben.520

3.2. Monopol und Diversifikation – Kritik an neuen Unternehmensstrategien Regionale Monopole der Eisenbahnunternehmen auf ihren eigenen Strecken wurden bereits in den 1830er und 1840er Jahren gelegentlich diskutiert, traten jedoch noch nicht als vordringliches Problem in die öffentliche Aufmerksamkeit. Beispielsweise hatte James Morrison bereits 1839 in einer scharfsichtigen Rede die Implikationen des »natürlichen« Monopols der Eisenbahngesellschaft klar formuliert.521 In den 1840er Jahren führte er die negativen Effekte von Monopolen in seinen anonymen Leserbriefen in der Times als Argumente für 517 Alderman: The Railway Interest, S. 32. 518 Searle, Geoffrey R.: Entrepreneurial Politics in Mid–Victorian Britain. Oxford 1993, S. 182–183. 519 Bagwell, Philip Sidney : The Transport Revolution. London 1988, S. 166. 520 Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 13. 521 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 33. Sp. 977–994. S. 985.

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eine stärkere staatliche Kontrolle an.522 Unter seinem Pseudonym Cato bezog er den Standpunkt, dass es die Regierung und das Parlament nicht nur versäumt hätten, effektive Schutzmechanismen gegen Monopolbildung einzurichten. Im Gegenteil hätten sie das natürliche Monopol der Eisenbahnen durch eine fehlgeleitete Laissez-faire Politik sogar noch gefördert, indem den großen Unternehmen gestattet wurde, die Bewilligung potentiell konkurrierender Unternehmen im Parlament zu blockieren und Übernahmen kleinerer Unternehmen unreguliert voranzutreiben.523 In den 1850er Jahren wurde das Thema wegen der starken Zunahme von Fusionsanträgen deutlich populärer und kontroverser diskutiert. Monopole und Preisabsprachen wurden in der Öffentlichkeit kritisch bewertet, da sie dem wirtschaftsliberalen Ideal der freien Konkurrenz zuwider liefen und als Ursache für überhöhte Fahrpreise und Frachttarife gesehen wurden. Gegen die Monopolisierungstendenzen der Eisenbahnbranche wandten sich daher vor allem diejenigen Interessengruppen, die von fallenden Tarifen infolge von Preiskämpfen profitierten.524 Dies war in erster Linie das produzierende Gewerbe. Insbesondere mittelständische und kleine Unternehmen sahen sich häufig benachteiligt, da sie die von den Eisenbahnen geforderten Frachtvolumen nicht erbringen konnten und daher schlechtere Konditionen erhielten.525 Bereits am 2. Februar 1860, während der ersten Sitzung der Association of Chambers of Commerce, dem neu gegründeten Interessenverband der Handelskammern, wurde eine Resolution gegen Eisenbahnfusionen beratschlagt.526 Die Händler mussten bei ihrer Kritik an der ungenügenden Regulierung der Eisenbahngesellschaften allerdings dem Umstand Rechnung tragen, dass sie für ihre eigenen Geschäfte ebenfalls Handlungsfreiheit sowie Autonomie einforderten und der Politik keine Argumente liefern wollten, die anschließend gegen sie selbst verwendet werden konnten.527 Die Forderung nach verstärkter Regulierung der Eisenbahnbranche stand im steten Widerstreit mit den Idealen des freien Handels. Um diesem Widerspruch zu entgehen, wiesen Kritiker der Eisenbahn eine ökonomische Sonderstellung zu. Befürworter von Regulierung verwiesen daher auf die besondere Pfadabhängigkeit der Eisenbahn, aus der ein »natürliches Monopol« resultierte, das sich nahezu zwangsläufig entwickelte und die Branche von anderen Bereichen der Wirtschaft unterschied. Dieser Sonderstatus der Eisenbahnbranche rechtfertigte daher aus ihrer Sicht ein Ab522 523 524 525 526 527

The Times (1. 9. 1846), S. 5. The Times (16. 9. 1846), S. 5. The Times (5. 3. 1850), S. 8. The Times (27. 8. 1852), S. 3. Searle: Entrepreneurial Politics, S. 182. Barry, E. Eldon: Nationalisation in British Politics. The Historical Background. London 1965, S. 78.

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weichen vom reinen Wirtschaftsliberalismus. Selbst ausgewiesene Verfechter des Laissez-faire, wie etwa John Stuart Mill, sahen aufgrund der natürlichen Monopole der Eisenbahnunternehmen einen berechtigten Grund für Regulierung und ihr Ausbleiben als ein Pflichtversäumnis staatlicher Instanzen.528 Das Thema »Monopol« blieb für die Interessenvertretung der Händler in Großbritannien auch in den folgenden Jahren aktuell. Die Association of Chambers of Commerce beschwerte sich 1865 über die Tarifgestaltung der Eisenbahnunternehmen und machte ihre Monopolstellung für überhöhte Preise verantwortlich. Doch auch im Personenverkehr war die Tarifgestaltung der Unternehmen immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Die Times merkte bereits 1840 an, dass die Reisenden, insbesondere die working classes und damit die breite Masse der Bevölkerung, infolge der regionalen Monopole der Preispolitik der Unternehmen machtlos ausgeliefert seien.529 Die Fahrgäste im Personentransport verfügten über keine organisierte Interessenvertretung. Der Schutz ihrer Anliegen wurde jedoch regelmäßig von Gegnern der Unternehmen in politischen Debatten als Argument vorgebracht. Während in der Pionierzeit vor allem konservative Tories, wie der für seine reaktionären Ansichten geradezu berüchtigte Colonel Sibthorp, Gegner der Eisenbahnen waren, änderte sich dies in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts. Nun positionierten sich vermehrt reformorientierte Radicals gegen die Unternehmen und warfen ihnen unzulässige Machtakkumulation vor.530 Auch andere Vertreter der Presse griffen das Thema auf und präsentierten sich als Anwalt des Gemeinwohls. Das berühmte Satiremagazin Punch nahm für sich in Anspruch, das öffentliche Interesse zu repräsentieren und begann 1852, Fusionen von Eisenbahnunternehmen zu kritisieren.531 Punch brachte den Themenkomplex Monopol und Fusion auch in den folgenden Jahren immer wieder zur Sprache. Dass der Einfluss der Presse zu diesem Zeitpunkt nicht zu unterschätzen war, verdeutlicht eine Kampagne, die Punch 1868 gegen die geplante Fusion der South Eastern Railway mit der London, Brighton and South Coast Railway startete.532 Das Journal veröffentlichte einen Cartoon, der die 528 »… it is the part of the government, either to subject the business to reasonable conditions for the general advantage, or to retain such power over it, that the profits of the monopoly may at least be obtained for the public. This applies in the case of a road, a canal, or a railway. These are always, in a great degree, practical monopolies; and a government which concedes such monopoly unreservedly to a private company, does much the same thing as if it allowed an individual or an association to levy any tax they chose, for their own benefit, on all the malt produced in the country, or on all the cotton imported into it.« In: Mill: The Principles, S. 540. 529 The Times (2. 9. 1840), S. 4. 530 Searle: Entrepreneurial Politics, S. 182. 531 Punch 1852 (Bd. 23), S. 113. 532 Punch 1868 (Bd. 54), S. 280.

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Fusion als eine Taktik, um auf lange Sicht die Fahrpreise erhöhen zu können, darstellte. Der Cartoon hatte wesentlichen Anteil daran, eine negative Stimmung gegenüber dem Projekt zu erzeugen, was letztendlich zu seiner Ablehnung im House of Lords führte.533 In Leserbriefen der Times hingegen finden sich in regelmäßigen Abständen Beschwerden von Fahrgästen über den verwahrlosten Zustand der Waggons und schlechten Service des Bahnpersonals. Die Ursache dieser Missstände wurde zumeist ebenfalls in der Monopolstellung der Unternehmen auf ihren Strecken gesehen. Das gleiche gilt für Nachlässigkeiten der Eisenbahngesellschaften bei Sicherheitsfragen, die immer wieder zu Unfällen führten.534 Auch politisch motivierte Akteure machten sich diese Argumente zu eigen. Der konservative Abgeordnete George Bentinck forderte in den späten 1860er Jahren geradezu ritualisiert einen besseren Schutz der Fahrgäste, um dadurch mittelbar die vermeintliche Untätigkeit der liberalen Regierung unter William Gladstone anzuprangern.535 Befürworter staatlicher Kontrolle rechtfertigten ein Eingreifen der Politik auch dadurch, dass die Eisenbahngesellschaften ihre spezielle Stellung erst durch die Bewilligung von Sonderrechten erhalten hatten. Darüber hinaus riefen unreglementierte Fusionen erneut Betrüger auf den Plan. Immer wieder drangen Fälle an die Öffentlichkeit, in denen Unternehmen nur zu dem Zweck gegründet worden waren, um sich von etablierten Konkurrenten aufkaufen zu lassen.536 Eine weitere Akteursgruppe, deren zumindest partielle Opposition gegen Eisenbahndirektoren zunächst ungewöhnlich erscheint, waren die Aktionäre. Sie kritisierten allerdings weniger die Monopolstellungen der Unternehmen, als vielmehr die Ausweitung der Geschäftsbereiche in andere Transportbereiche und Zulieferbetriebe. Die Railway Times bemängelte 1857, dass das Geld der Unternehmen für andere Zwecke eingesetzt würde, als ursprünglich vorgesehen und in den Statuten festgelegt war.537 Auch Aktionäre beschwerten sich häufig, dass ihr Kapital ohne ihre Zustimmung zweckentfremdet investiert wurde.538 Es stellte sich hierbei die Frage, inwieweit Aktiengesellschaften gegen den Willen einzelner Aktionäre in neue Geschäftsbereiche expandieren dürften und ob das Parlament, das diese Expansionen bewilligen musste, da in der Regel Ände-

533 534 535 536 537 538

Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 13. The Times (6. 8. 1852), S. 4; The Spectator (8. 4. 1854), S. 14. Cleveland: English Railways, S. 190. Vaughan: Railway Blunders, S. 14. Railway Times (7. 2. 1857), S. 173. Daily News (25. 10. 1854), S. 3.

Frühformen der Verbandsbildung

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rungen der Statute und Private Bills notwendig waren, den Willen von Aktionärsgruppen stärker in Betracht ziehen müsse.539 Herbert Spencer befasste sich ebenfalls mit dem Problem der zunehmenden Diversifikation der Geschäftsbereiche der Eisenbahnunternehmen in Zulieferund Nebenbranchen. Seiner Ansicht nach missbrauchten Eisenbahngesellschaften die ihnen in ihren Private Bills eingeräumten Rechte erheblich. Ein Zusammenhang mit Korruption bestand insofern, als dieser Missstand erst durch mangelnde Kontrolle des Parlaments möglich wurde.540 Die Unternehmen reagierten auf die wachsende Kritik mit verstärkter Öffentlichkeitsarbeit. In Pamphleten wiesen sie auf die positiven Effekte von Fusionen hin. Sie erlaubten es ihrer Darstellung nach den großen Unternehmen, auch weniger rentable, aber für die Versorgung von bestimmten Regionen wichtige Linien – insbesondere in strukturschwachen Gegenden – weiter zu betreiben.541 Das Hauptargument blieb aber stets die Wahrung ihres Privatbesitzes. Restriktive Gesetzgebung stellte nach ihrer Ansicht einen unzulässigen Eingriff in das Management von Privatunternehmen dar und sollte besser durch Verträge zwischen den Unternehmen und dem Staat geregelt werden. Den eisenbahnkritischen Parlamentariern warfen sie vor, konkurrierende Linien nur zu bewilligen, um Monopole zu brechen, auch wenn die entsprechenden Strecken wirtschaftlich sinnlos waren.542

3.3. Frühformen der Verbandsbildung – Der Railway Interest als eine »Macht« im Staat Das offensichtliche Scheitern des Parlaments und der Exekutive in ihrem Bestreben, zu einer kohärenten Gesetzgebung in Bezug auf Kartellbildung und regionale Monopole zu gelangen, erweckte bei vielen zeitgenössischen Beobachtern den Eindruck, dass sich der Railway Interest zu einer autonomen Macht entwickelt hatte, die erheblichen Einfluss auf staatliche Instanzen ausüben konnte.543 Anscheinend gab es keine Organisation, die dem Railway Interest mit vergleichbarer Stärke entgegen treten konnte und glaubhaft für sich in Anspruch 539 540 541 542 543

Railway Times (7. 2. 1857), S. 173. Spencer: Railway Morals, S. 259–260. Simmons, Biddle (Hrsg): The Oxford Companion, S. 13. Railway Times (7. 2. 1857), S. 173. »The Railway Interest is decidedly becoming an »order« in the state: it exercises a power of life and death ; it sends several Members into Parliament: it draws its superior officers from the same ranks which supply the Imperial Administration; it can furnish a Colonial Governor, and can receive into its own administration scions of the oldest and most exalted of our noble houses.« The Spectator (17. 9. 1853), S. 12.

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nehmen durfte, das »Gemeinwohl« zu repräsentieren. Der Staat war während der Hochzeit des Liberalismus dieser Aufgabe ebenfalls nicht gewachsen.544 Dies zeigt sich eindrücklich in der Presseberichterstattung über das Scheitern des Cardwell Acts. Für den Spectator stand nicht weniger als die Glaubwürdigkeit und der Ruf des Parlaments auf dem Spiel, sollte es zulassen, dass der Railway Interest die sinnvollen Verbesserungen des Cardwell Bill verhinderte.545 Herbert Spencer reagierte mit seinem Pamphlet Railway Morals and Railway Policy direkt auf den Report von Cardwell’s Committee und den offensichtlich verwässernden Einfluss des Railway Interest auf die Bestimmungen des Railway and Canal Traffic Act.546 Die schiere Anzahl der Director MPs war sicherlich beeindruckend. Für das neue Parlament von 1857 nannte die Railway Times 27 Mitglieder des House of Lords und 93 Abgeordnete des House of Commons, die durch substantielle finanzielle Beteiligungen oder Direktoriumsposten klar der Eisenbahnbranche zuzuordnen waren. Die Anzahl der Abgeordneten und Lords, die kleinere Aktienpakete in Eisenbahnunternehmen hielten oder über Zulieferbetriebe persönliche wirtschaftliche Interessen hatten, lässt sich nicht genau beziffern, dürfte aber noch deutlich höher gelegen haben.547 Der Railway Interest als Branchenvertretung war jedoch häufig nicht so einflussreich, wie seine rein numerische Stärke es vermuten ließe. Er verfügte über keinerlei formale Rechte oder Einflussmöglichkeiten und seine Wirkung hing einzig und allein vom persönlichen Einfluss seiner Vertreter und der ökonomischen Potenz der kooperierenden Firmen ab. Darüber hinaus standen Interessensdifferenzen zwischen Aktionären und Direktoren sowie die Konkurrenz zwischen den Unternehmen einem geschlossenen Vorgehen des Railway Interest häufig im Weg. Auch politisch waren die Eisenbahndirektoren eine heterogene Gruppe, in der viele verschiedene politische Strömungen vertreten waren. Um nur einige Beispiele zu nennen: Edward Watkin war überzeugter Liberaler und ein früher Unterstützer der Freihandels- und Anti-Corn-Law Bewegung. George Hudson, Edmund Denison und Daniel Gooch hingegen waren als konservative Kandidaten ins Parlament gewählt worden.548 Die Bedeutung der Zugehörigkeit zu politischen Gruppierungen für das parlamentarische Tagesgeschäft sollte für die Zeit vor den Massenparteien und dem damit einher544 The Times (9. 12. 1852), S. 4. 545 »Should the Commons permit the measure to be thrown back, the House will prove its subservience to an organized interest, and will confess itself to be subject exactly to the same mercenary influence which Mr. Seymour Tremenheere makes so grave a charge against the Congress of the United States.« In: The Spectator (29. 4. 1854), S. 11. 546 Cleveland: English Railways, S. 185. 547 Railway Times (11. 4. 1857), S. 521. 548 Alderman: The Railway Interest, S. 11.

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gehenden Fraktionszwang nicht überbewertet werden, darf aber auch keinesfalls gänzlich in Abrede gestellt werden. Unterschiedliche Parteizugehörigkeiten dürften sich daher behindernd ausgewirkt haben und zu abweichendem Verhalten von MPs und Lords des Interest geführt haben. Auch die Funktion der Director MPs an sich führte häufig zu Interessenkonflikten, weil sie verschiedene Interessensbereiche berücksichtigen mussten. Die Interessen des Wahlkreises mussten ebenso bedient werden wie diejenigen ihrer Unternehmen, von persönlichen Interessen ganz zu schweigen.549 Dies führte immer wieder auch zu Konflikten mit den Anteilseignern der Unternehmen, die ihre Interessen nicht angemessen repräsentiert sahen. Über die Effektivität des Railway Interest wurden daher häufig Debatten geführt. Die Railway Times artikulierte die Sicht der unzufriedenen Aktionäre, als sie 1856 die Inaktivität der Interessenvertretung in Bezug auf eine geplante Gesetzgebung scharf angriff, welche Entschädigungszahlungen für die Hinterbliebenen von Unfallopfern einführen sollte.550 Im gleichen Jahr schlossen sich daher Aktionäre der Eisenbahnindustrie zu einer übergreifenden Vereinigung zusammen, um ihre Interessen eigenständig zu vertreten. Eine Deputation der Railway Shareholders Association von 1857 an das Board of Trade wandte sich primär gegen die viel diskutierte Förderung von konkurrierenden Nebenstrecken durch das Parlament.551 Was dem Railway Interest fehlte, war eine übergeordnete Organisation, die es ermöglichte, interne Differenzen beizulegen und gleichzeitig die Anliegen der Branche nach außen hin mit einer höheren Legitimität zu vertreten. Diese erhöhte Legitimität ist das Resultat von gebündeltem sozialem Kapital der Mitglieder einer Organisation, das an Vertreter delegiert werden kann, die dann im Namen ihrer Gruppe auftreten können.552 Die Entwicklung des Railway Interest zu einer kohärenten Gruppe begann in den 1830er Jahren, wurde jedoch immer wieder durch innere Zerwürfnisse unterbrochen. Ein erster Versuch 1839, eine ständige Interessenvertretung zu organisieren, war nur kurzlebig, doch auch damals schon wurde die Befürchtung geäußert, dass sich aus einem permanenten Zusammenschluss der Eisenbahngesellschaften eine zu hohe Macht-

549 Im Gegensatz zu Aktionären begrüßten eisenbahnkritische Kommentatoren die Zerstrittenheit der Eisenbahnbranche: »The great railways, like the great families, are happily divided in views, but were they united, the nation might find itself subjected to a tyranny to which that of the great families was a joke. They could at all events be coerced, but a board has not even a throat.« In: The Spectator (1. 7. 1865), S. 7. 550 Railway Times (15. 3. 1856), S. 369; vgl. auch Railway Times (16. 1. 1864), S. 61. 551 Railway Times (6. 6. 1857), S. 785. 552 Vgl. Bourdieu: Kapital, S. 193.

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konzentration ergeben könnte.553 Ihre Wurzeln hatte die gemeinsame Interessenvertretung der späteren Jahre im 1842 gegründeten Railway Clearing House, das mit der Intention konzipiert worden war, den immer komplexer werdenden Durchgangsverkehr zwischen den Unternehmen abzustimmen.554 Das Railway Clearing House förderte die Kooperation und den Austausch zwischen den Unternehmen, war jedoch keine Organisation, deren primäres Ziel die Interessenvertretung war. In den 1840er Jahren schlossen sich die Eisenbahngesellschaften nur ad-hoc zusammen, um gegen Gesetzesinitiativen vorzugehen, die die gesamte Branche betrafen und als eine Bedrohung wahrgenommen wurden. Der Railway and Canal Traffic Act von 1854 bot den Anlass für einen weiteren Versuch, eine dauerhafte Organisation zu schaffen, die als United Railway Companies Committee firmierte. Sie entstand auf Initiative der London and North Western Railway, zerbrach jedoch erneut an inneren Spannungen und mangelndem Kooperationswillen der einzelnen Unternehmen.555 1858, nachdem die »Euston Square Confederacy« aufgelöst und ihr Preiskampf mit der Great Northern Railway durch die Vermittlung von William Gladstone beigelegt worden war, wurde die Railway Companies Association gegründet. Ihr erklärtes Ziel waren höhere Fahrpreise und weniger Konkurrenz innerhalb der Branche. Diese Ziele mussten jedoch gegen den Widerstand der Politik und der Öffentlichkeit durchgesetzt werden und dafür wäre Geschlossenheit der Eisenbahngesellschaften unabdingbar gewesen.556 Die Leitung der Railway Companies Association wurde von den Direktoren einzelner Unternehmen übernommen, was sowohl intern zu Spannungen führte als auch ihre Außendarstellung schwächte, weil die Vermutung nahelag, dass die Vorsitzenden die Interessen ihrer eigenen Unternehmen bevorzugt behandelten. Die Railway Companies Association von 1858 schaffte es daher trotz ihrer einflussreichen Mitglieder nicht, nachhaltigen Einfluss auf die Eisenbahngesetzgebung auszuüben, und löste sich bereits nach drei Jahren wieder auf. Der wirtschaftliche Aufschwung nach der Wirtschaftskrise von 1857 und damit einhergehende steigende Dividenden dürften ebenfalls dazu beigetragen haben, den Kooperationswillen der Unternehmen zu schwächen.557 553 Railway Times (13. 4. 1839), S. 310; Railway Times (20. 4. 1839), S. 330. 554 Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 182. 555 Roberts, Geoffrey Keith: The Development of a Railway Interest and its Relation to Parliament, 1830–1868. Dissertation. London 1965, S. 326. 556 »It will, therefore, become an important function of the association to ascertain the opinions of the Railway Interest generally on all subjects connected with what is usually termed ›railway legislation‹, and to bring such collective opinion under the notice of Parliament, and of the Government of the day, as circumstances may render advisable.« In: Railway Times (6. 11. 1858), S. 1314. 557 Bagwell, Philip Sidney : The Railway Interest. Its Organisation and Influence. 1839–1914. In: The Journal of Transport History 7 (1965) H. 2. S. 65–86, S. 67.

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Erst 1867 wurde die Railway Companies Association wiederbelebt. Anlass war die Pleite des Eisenbahnunternehmers Sir Morton Peto im Jahr zuvor und damit verbunden erneute Forderungen nach Gesetzgebung in Bezug auf die Buchhaltung von Aktiengesellschaften, die sich im Railways and Joint Stock Companies Account Bill von 1867 niederschlugen. Damit war die erste langlebige Institution gegründet, deren explizite Ziele die bessere Kooperation der Unternehmen, eine Reform der Gesetzgebung und Öffentlichkeitsarbeit waren. Die Railway Companies Association bestand bis zur Nationalisierung des britischen Eisenbahnnetzes nach dem Zweiten Weltkrieg.558

3.4. Professionalisierungstendenzen der Interessenpolitik in Großbritannien Nachdem zunächst die Seite der Eisenbahndirektoren und ihre Bedeutung für die politische Interessenvertretung im Parlament untersucht wurde, soll nun der Blick auf eine weitere Akteursgruppe gerichtet werden, deren Entwicklung als eigenständige Berufsgruppe eng mit dem Eisenbahnbau verbunden ist: die sogenannten Parliamentary Agents. Professionalisierung ist ein wesentlicher Aspekt gesellschaftlicher Differenzierung und hatte weitreichende Konsequenzen für den Prozess der politischen Interessenvertretung. In der Eisenbahnindustrie fand sie in fast allen Bereichen statt. Wobei Professionalisierung hier nicht an die klassischen »Professionen« der Medizin, Theologie und Jura gebunden ist, die sich wesentlich über eine akademische Ausbildung und einen distinkten Berufsethos definierten. Sie ist im weiteren Sinne durch eine als Hauptgrundlage des Einkommenserwerbs und in Vollzeit ausgeübte Tätigkeit, für die Expertenwissen notwendig ist, gekennzeichnet. Im englischsprachigen Raum wird in diesem Zusammenhang häufig auch von Occupations als Abgrenzung zu den akademischen Ausbildungen der Professions gesprochen. Professionalisierung ist nach der funktionalen Theorie eine Folge der Arbeitsteilung, die in kapitalistisch organisierten Märkten und modernen Großunternehmen unerlässlich war.559 In den technischen Bereichen des Eisenbahnbaus war Expertenwissen von Beginn an eine essentielle Notwendigkeit. Im Unterschied zu Frankreich verfügten die meisten britischen Ingenieure der Pionierphase des Eisenbahnbaus jedoch nicht über eine akademische Ausbildung, sondern hatten ihr Wissen in der Praxis, zumeist im Bergbau und dem Kanalwesen, erworben oder hatten bei 558 Ebd., S. 70. 559 Heidenreich, Martin: Berufskonstruktion und Professionalisierung. Erträge der soziologischen Forschung. In: Professionalisierung pädagogischer Berufe im historischen Prozeß. Hrsg. von Hans Jürgen Apel. Bad Heilbrunn/Obb 1999. S. 35–58, S. 40.

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bereits etablierten Ingenieuren gelernt.560 Der Erwerb eines standardisierten Berufsabschlusses war zu diesem Zeitpunkt noch keine Voraussetzung für eine entsprechende Tätigkeit. 1838 wurde zwar die erste School of Engineering am Kings College in London eingerichtet, formale Abschlüsse als gängige Qualifizierungsform für Ingenieure setzten sich in Großbritannien jedoch erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch.561 Im Management der Eisenbahngesellschaften war der Professionalisierungsgrad während der Pionierphase noch nicht so ausgeprägt wie in den technischen Abteilungen der Unternehmen.562 Die führenden Eisenbahndirektoren der 1830er und 1840er Jahre kamen entweder aus dem ingenieurstechnischen Bereich oder dem Bankwesen und betrieben häufig diverse Unternehmen nebeneinander. John Moss vermerkte 1838 selbstkritisch, dass das Management von Eisenbahngesellschaften im Vergleich zu anderen Abteilungen der Unternehmen noch unterentwickelt sei..563 George Hudson, George Carr Glyn und John Moss waren neben ihrer Tätigkeit in den Eisenbahnunternehmen auch weiterhin als Bankiers tätig. Erst im Laufe der Zeit kristallisierte sich in den Unternehmen eine striktere Trennung der verschiedenen Geschäftsbereiche heraus. Bei der Great Western Railway war der leitende Sekretär Charles Saunders von der Gründung des Unternehmens bis 1863 gemeinsam mit dem Board of Directors für das gesamte operative Geschäft der Firma verantwortlich. Nach seinem Rücktritt wurden neue Strukturen in der Leitung eingeführt und seine Zuständigkeiten auf einen Secretary, einen General Manager und einen Financial Secretary aufgeteilt. Ab der Jahrhundertmitte lassen sich auch in einigen anderen Unternehmen Bemühungen nachweisen, die Professionalisierung des Managements voranzutreiben. Die zweite Generation der Eisenbahndirektoren hatte ihre Karriere in den meisten Fällen schon bei einem Eisenbahnunternehmen begonnen und das Geschäft von Grund auf gelernt. Ein Vorreiter in diesem Bereich war die London and North Western Railway, die mit Captain Mark Huish schon früh einen General Manager beschäftigte, der mit festen Bezügen angestellt war und gegenüber dem Direktorium verantwortlich zeichnete. Die zweite Generation 560 Cross-Rudkin, P. S. M.: A Biographical Dictionary of Civil Engineers in Great Britain and Ireland. London 2008, S. 33. 561 Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 83; Institution of Civil Engineers (Hrsg.): The Education and Status of Civil Engineers in the United Kingdom and in Foreign Countries. London 1870, S. 210. 562 Gourvish: Railway 1830–1870, S. 83; vgl. auch: Then: Eisenbahnen und Eisenbahnunternehmer, S. 15. 563 »We have not one officer fit for what he is appointed to. We have second class people with small salaries to fill places only suited to first rate abilities … I know of several cases where we act more like licenced oppressors than gentlemen who obtained our act to ›benefit the public‹.« John Moss an James Loch 16. 1. 1838. Zitiert nach: Trust: John Moss, S. 177.

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bedeutender Eisenbahndirektoren, allen voran Edward Watkin, James Allport, James Staat Forbes und Daniel Gooch waren zumeist schon bezahlte Angestellte ihrer Unternehmen. Die Professionalisierungstendenzen in der Eisenbahnbranche hatten zwei wesentliche Triebfedern. Zum einen erforderte die zunehmende Komplexität vieler Tätigkeiten ein ausgeprägtes Expertenwissen, um profitables Wirtschaften zu gewährleisten. Zum anderen mehrten sich Forderungen nach gesteigerter Transparenz und Kontrolle durch klare Kompetenzverteilungen. Eine strikte personale Trennung zwischen Aufsichtsfunktionen und leitenden Funktionen in der Geschäftsführung wurde in der Regel jedoch nicht eingeführt. Diese generelle Tendenz fortschreitender Spezialisierung und Professionalisierung machte auch vor der Interessenpolitik nicht halt. Während der informelle Teil der Interessenpolitik häufig von Direktoren betrieben wurde, oblag der formelle Bereich schon früh den Parliamentary Agents, die von privaten Antragsstellern engagiert wurden, um Private Bills durch den Gesetzgebungsprozess zu begleiten. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren es in der Regel die Clerks des Fees Office und des Committee Office, die als sogenannte Indoor Agents diese Aufgabe als Nebentätigkeit übernahmen.564 Die Zunahme der Gesetzesanträge für Private Bills erzwang jedoch institutionelle Veränderungen. 1810 wurde ein eigenes Private Bills Office eingerichtet, dessen Beamten es von Beginn an untersagt war, als bezahlte Agents tätig zu werden. Für Private Bills mussten Gebühren entrichtet werden, die von den Clerks eingetrieben wurden. Ab 1830 wurden die zu entrichtenden Gebühren in einer offiziellen Liste vereinheitlicht.565 Ab den 1830er Jahren wurden verstärkt Maßnahmen getroffen, die eine Trennung zwischen den privaten Interessen der Abgeordneten und Staatsbediensteten und ihrem öffentlichen Amt gewährleisten sollten. Ein Grund war sicherlich der erneut starke Anstieg an verhandelten Private Bills, zunächst verursacht durch Kanalgesellschaften, Turnpike Trusts und später dann durch die Eisenbahngesellschaften. Infolge der Reformen von 1832 wurden in mehreren Schritten auch die übrigen Officers und Public Servants des Parlaments von der Tätigkeit als Parliamentary Agents ausgeschlossen. Es gestaltete sich jedoch schwierig, den Staatsbediensteten eine Einnahmequelle aus einer Beschäftigung zu entziehen, die sie seit Generationen ganz selbstverständlich wahrgenommen hatten und für die sie daher ein gewisses Gewohnheitsrecht einforderten. Deshalb empfahl der Report des Select Committee on Establishments of the House of Commons von 1833, das Verbot für Bedienstete des Parlaments, sich als Parli-

564 Rydz: The Parliamentary, S. 32. 565 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 22. Sp. 1343–1345, Sp. 1343.

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amentary Agent zu betätigen, nur schrittweise einzuführen.566 Auch war der Reformdruck bisher nicht sehr hoch, weil Missbräuche im größeren Maße nicht publik geworden waren. Der einzige konkrete Fall eines klaren Fehlverhaltens wurde im Zuge der Untersuchungen des Select Committee on Fees 1833 aufgedeckt. Ein unerfahrener Clerk hatte einen Antrag für eine Eisenbahnstrecke im Private Bills Office eingereicht, der nicht den Standing Orders entsprach. Als ihm die Mängel bewusst wurden, tauschte er das fehlerhafte Dokument gegen eine berichtigte Version aus. Der Fall wurde als unbedeutend eingestuft und nicht weiter verfolgt, nachdem der Clerk sein Fehlverhalten eingeräumt hatte.567 Dennoch bleibt es unbestreitbar, dass Indoor Agents einen erheblichen Vorteil gegenüber so genannten Outdoor Agents hatten, den sie zu ihrem privaten Vorteil nutzen konnten. Das Hauptargument für die Reformen bestand allerdings darin, dass die Nebentätigkeit der Angestellten eine zu große Arbeitsbelastung darstellte und somit die Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgaben negativ beeinträchtigte. Ab 1836 war es daher allen Angestellten des Parlaments untersagt, als Parliamentary Agents tätig zu werden. Gleichzeitig wurden Bezüge für Clerks eingeführt, um eine Entschädigung für die entfallenen Einnahmen aus ihrer Nebenbeschäftigung zu gewährleisten.568 Im gleichen Zeitraum wurden auch für Parlamentarier entsprechende Standing Orders erlassen. 1830 verabschiedete das Parlament eine Resolution, die es Abgeordneten untersagte, professionell im Zusammenhang mit Private Bills tätig zu werden.569 Allerdings war dies keine gänzlich neue Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Der Resolution lag eine von Edward Littleton eingebrachte Petition zugrunde, die eine bereits seit dem späten 17. Jahrhundert bestehende Standing Order konkretisierte. Diese Standing Order untersagte es Abgeordneten und Lords, Geld oder Geschenke für ihre Unterstützung von parlamentarischen Angelegenheiten anzunehmen. Littleton entstammte einer reich begüterten Familie und hatte seine politische Karriere 1812 als konservativer Tory begonnen, hatte sich bis in die 1830er Jahre aber zum Whig mit starkem Reformeifer entwickelt. Von der neuen Regelung waren vor allem Abgeordnete betroffen, die in ihrem Hauptberuf als Anwälte tätig waren. In einem konkreten Fall wurde der Abgeordnete Daniel Whittle Harvey attackiert, weil er gemeinsam mit einem Partner als Parliamentary Agent tätig gewesen war. Ähnlich wie im 566 Report from the Select Committee on the Establishment of the House of Commons. Parliamentary Papers. 1833, Bd. 12. S. 10. 567 Ebd., S. 53. 568 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 35. Sp. 1254–1256, Sp. 1254. 569 »Mr. Littleton said, that he rose pursuant to the notice he had given, to move a resolution, declaring it to be contrary to the law and usage of Parliament for any Member to engage, either by himself or partner, in the management of private bills for pecuniary reward.« In: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 22. Sp. 1011–1141. Sp. 1013.

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Falle der Clerks des Parlaments, waren auch hier Chancengleichheit und freier Wettbewerb zentrale Argumente für die Reform. Lord Brougham warf den Anwälten mit Sitz im Parlament einen Missbrauch ihres Mandats vor, da sie ihre Verbindungen im Parlament nutzten, um sich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Outdoor Agents zu verschaffen.570 Harvey rechtfertigte sich zunächst mit dem Verweis, dass es sich nicht um einen Missbrauch seiner Position handeln könne, weil er eine Dienstleistung erbrachte, die folgerichtig auch entlohnt werden sollte. Er musste jedoch nach heftigen Protesten weiterer Abgeordneter seine Ausführungen zurücknehmen und verwies auf das seiner Ansicht nach größere Übel der Besetzung von parlamentarischen Ausschüssen.571 Der persönliche Einfluss, den Abgeordnete ausübten, war schwer ermittelund nachweisbar und daher auch nur schwer durch Verordnungen und Gesetze zu regeln. Littleton hatte ursprünglich die Berufung eines parlamentarischen Ausschusses erwogen, der sich mit dem Problem befassen sollte, war aber nach Rücksprache mit Kollegen zu dem Entschluss gekommen, dass es sich lediglich um eine Frage moralischer Prinzipien handele, die keiner Untersuchung bedürfe.572 In diesem Fall wurde also nicht auf ein offizielles Verbot, sondern auf moralisch motivierte Selbstregulierung und den Druck durch die Gemeinschaft der Abgeordneten gesetzt. Letzten Endes musste sich Harvey der Mehrheit des Parlaments beugen und erklärte, in Zukunft nicht mehr als Parliamentary Agent tätig zu werden. Spätestens ab den 1840er Jahren waren Parliamentary Agents als ein eigenständiges Betätigungsfeld etabliert und von den Clerks und Parlamentariern abgekoppelt. Sie waren in der Regel Juristen, die sich auf die Arbeit im Umfeld des Parlaments spezialisiert hatten. Zu Beginn des Eisenbahnbaus gab es jedoch keine formalen Qualifikationen, abgesehen von einer Akkreditierung im Private Bills Office, die erfüllt werden musste, um als Parliamentary Agent tätig werden zu können.573 Zwischen 1841 und 1851 stieg die Zahl der als Parliamentary Agents akkreditierten Anwaltsfirmen von 29 auf 141 an.574 Dennoch standen häufig zu wenige Agents zur Verfügung, um den sprunghaften Anstieg der beantragten Eisenbahnlinien in den 1840er Jahren angemessen zu bearbeiten. Dies führte dazu, dass sich Parliamentary Agents bisweilen in der absurden Situation wiederfanden, sowohl für die Antragsteller als auch für die Gegner einer Bill tätig zu

570 571 572 573 574

Ebd., Sp. 1025. Ebd., Sp. 1021. Ebd., Sp. 1018. The Times (9. 3. 1837), S. 6. Gourvish: Railway 1830–1870, S. 71.

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sein.575 Dieser eindeutige Interessenkonflikt kombiniert mit der Abhängigkeit der Eisenbahnunternehmen von Anwälten, die auf Standesregeln fundierte Privilegien genossen, führte zu einem gespannten Verhältnis zwischen den Parliamentary Agents und den Eisenbahngesellschaften. In diesem Zusammenhang wurden auch die Kosten des Private Bill-Verfahrens immer wieder zum Gegenstand politischer Debatten. Die Kosten, die im Zusammenhang mit Gesetzgebungsverfahren entstanden, wurden von den Eisenbahnunternehmen zumeist pauschal unter dem Begriff Parliamentary Expenses in ihren Büchern aufgeführt. Was sich genau hinter diesen Posten verbarg, ließ sich für Außenstehende zumeist nicht nachvollziehen und die resultierende Intransparenz gab immer wieder Anlass für Beschwerden und Spekulationen. Die Gebühren des Private Bills Office waren seit 1830 standardisiert worden und bildeten nicht mehr die Grundlage der Besoldung der Angestellten. Korruptionsanklagen wegen Sporteln konnten hier also nicht vorgebracht werden. Dennoch wurden ein ums andere Mal Beschwerden über die horrenden Summen, die das Private BillSystem verschlang, laut. Politische Relevanz erhielten sie dadurch, dass nicht nur ein Schaden für die Unternehmen, sondern auch für die gesamte Wirtschaft postuliert wurde, weil die Unternehmen ihre Kosten in Form von erhöhten Fahrpreisen an die Bevölkerung weitergaben. Robert Stephenson, der gemeinsam mit seinem Vater George Stephenson die Pionierphase des Eisenbahnbaus in Großbritannien als Ingenieur entscheidend prägte, kritisierte, dass die Kosten des parlamentarischen Verfahrens zum größten Teil in die Taschen von Anwälten und den Angestellten des Parlaments flossen, die mit der Bearbeitung von Private Bills befasst waren.576 Die Arbeit von Parliamentary Agents war darüber hinaus aus mehreren Gründen umstritten. Einerseits wurden sie häufig als die treibende Kraft hinter Bubble Schemes angesehen, da sie auch bei einem Scheitern von Projekten finanzielle Gewinne erzielten.577 Andererseits waren sie vermeintlich mitverantwortlich für unnötige Streckenexpansionen, die initiiert wurden, um an der Projektierung neuer Strecken zu verdienen. Ihr Interesse in Bezug auf Eisenbahngesellschaften war primär auf die Phase der anfänglichen Bauarbeiten gerichtet, weil sie an ihnen am besten verdienten.578 Die Profitabi575 Rydz: The Parliamentary, S. 82. 576 Robert Stephenson, Eröffnungsrede der Institution of Civil Engineers 1856: »The policy of Parliament would seem to be to put the public to expense to make costs for lawyers and fees for officers of Parliament. Is it possible to conceive anything more monstrous than to condemn 19 parties to the same contentious litigation? They each and all had to bear the costs of opposing all other Bills for the same railway. The ingenuity of man could scarcely devise a more costly system of obtaining a railway act.« Zitiert nach: Vaughan: Railway Blunders, S. 11. 577 Kostal: Law and English, S. 359. 578 William Gladstone vermutete, dass »parliamentary agents« und »solicitors« die eigentlichen Drahtzieher hinter der Opposition gegen seinen Railway Regulation Act von 1844 waren,

Praktiken der Interessenpolitik am Beispiel des Canvassing

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lität der in Betrieb genommenen Bahnen spielte in ihren Augen – zumindest nach Ansicht von Spencer – nur eine untergeordnete Rolle.579 Als Konsequenz aus diesen teils divergierenden Interessenlagen wurden ab den 1860er Jahren Anwälte zunehmend fest in Unternehmen angestellt und damit stärker in die Hierarchie und Ziele der Unternehmen eingebunden.580

3.5. Unvollständige Differenzierung? – Praktiken der Interessenpolitik am Beispiel des Canvassing Der Aufgabenbereich der Parliamentary Agents war vielgestaltig. In erster Linie oblag es ihnen, sicherzustellen, dass die vorgelegten Anträge den formalen Kriterien des Private Bills Office entsprachen und dass die etablierten parlamentarischen Verfahrensweisen für Gesetzesanträge beachtet wurden. Sie übernahmen aber auch Aufgaben, die eher dem Bereich der Meinungsbildung, also der Interessenpolitik zuzurechnen sind. Parliamentary Agents beobachteten Gesetzesanträge anderer Unternehmen, die potentiell die Interessen ihrer Auftraggeber beeinträchtigen konnten, und berichteten entsprechend. Außerdem betrieben sie das sogenannte Canvassing und riefen die Abgeordneten zur Teilnahme an den Abstimmungen über die von ihnen betreuten Private Bills auf. Der Begriff Canvassing bedeutete im allgemeinen Sprachgebrauch Wahlkampf oder Stimmenwerbung und wurde im parlamentarischen Kontext für lobbyistisches Bemühen um Stimmen von Abgeordneten verwendet. Die »offizielle« Funktion des Canvassing bestand darin, Parlamentarier über den Inhalt eines Gesetzesantrages zu informieren und zu überzeugen, im Sinne der jeweiligen Partei zu stimmen. Canvassing bewegte sich dabei häufig in einem moralischen Graubereich zwischen legitimer Informations- und Beratungstätigkeit und illegitimer Einflussnahme. Die Praktik des Canvassing an sich war nicht normwidrig, sie durfte jedoch nur von Personen betrieben werden, deren Motive nachvollziehbar waren. Unzureichende Transparenz war ein wesentlicher Kritikpunkt, der diesen durchaus notwendigen Informationsdiensten immer wieder entgegengebracht wurde. 1834 wurde im Rahmen der Debatten über die Private Bill der Great Western Railway diskutiert, inwieweit privates Canvassing durch Abgeordnete zulässig sei. Den Anlass dafür gaben Rundschreiben mehrerer prominenter MPs, unter ihnen der Herzog von Buckingham, weil er das parlamentarische Verfahren vereinfacht hätte und für sie Verdiensteinbußen bedeutet hätte. In: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 76. Sp. 465–530, Sp. 502. 579 Spencer: Railway Morals, S. 259–260. 580 Kostal: Law and English, S. 1–2.

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in denen zur Opposition gegen den Gesetzesentwurf aufgerufen worden war.581 In der anschließenden Debatte zeichnete sich ein weitgehender Konsens darüber ab, dass offene Stimmenwerbung durch Parlamentarier für einzelne Private Bills den Gepflogenheiten des Parlaments widersprach und als Missbrauch des politischen Amtes angesehen wurde. Eine mögliche Reaktion hätte in der kompletten Beschränkung des Verfahrens auf die Parliamentary Agents bestanden. Solch restriktive Maßnahmen ließen sich jedoch nur schwer durchsetzen, da der informelle Teil der Interessenvertretung auch weiterhin vornehmlich von den Direktoren der Unternehmen übernommen wurde und Abgeordnete sich auf ihre Pflicht berufen konnten, ihre Kollegen auf Fehler in Private Bills hinzuweisen. Doch auch in Bezug auf formales Canvassing durch Rundschreiben kam es immer wieder zu Verstößen und Debatten. 1857 beschwerten sich die Direktoren der South Eastern Railway ebenso über privates Canvassing gegen ihre geplante Streckenerweiterung wie Lord Redesdale 1868 über Canvassing im House of Lords im Allgemeinen.582 Noch 1876 kam es zu einer hitzigen Konfrontation zwischen Edward Watkin, dem Vorsitzenden der Metropolitan Railway und dem stellvertretenden Vorsitzenden der Great Eastern Railway Lord Claud Hamilton über privates Canvassing durch Abgeordnete im Parlament. Die Kontroverse fand vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen der Metropolitan Railway und der Great Eastern Railway wegen der Circle Line in London statt. Watkin warf Hamilton vor, er habe Rundschreiben an Parlamentarier verschickt, um Gesetzesanträge seines Unternehmens zu blockieren. Der Leiter der Metropolitan Railway berief sich darauf, dass ein solches Vorgehen gegen die Verhaltensregeln des Parlaments verstoße und eben jene Missstände erneut hervorrufe, die durch die Einrichtung von Select Committees in den 1830er und 1840er Jahren behoben worden seien.583 Hier zeigt sich, dass Watkin die Zeit der open committees als eine abgeschlossene Periode wahrnahm, die er im übrigen auch nicht mehr persönlich erlebt hatte. Watkins Eingabe wurde aus formalen Gründen zunächst abgelehnt. In der darauffolgenden Woche brachte Watkin seinen Antrag erneut ein. Hamilton gab zu, ein Rundschreiben an Parteifreunde verfasst zu haben. Er bestand jedoch auf dem Recht, andere MPs auf Missstände in Gesetzesentwürfen hinweisen zu dürfen. Der liberale Abgeordnete Samuel Whitbread sprach sich gegen das persönliche Canvassing von Lord Hamilton aus und sah die Arbeit des Parlaments und das Vertrauen der Öffentlichkeit gefährdet. Dennoch wies er die Resolution von Watkin mit der Begründung zurück, dass sie zu allgemein for581 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 21. Sp. 1362–1363, Sp. 1362. 582 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 146. Sp. 622–630, Sp. 630; Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 193. Sp. 1543–1549, Sp. 1543. 583 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 227. Sp. 1119–1120, Sp. 1119.

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muliert sei und daher den Effekt hätte, dass kein Abgeordneter sich mehr mit seinen Kollegen austauschen dürfe.584 Kurz darauf wurde Watkin selbst zum Ziel von Angriffen. Robert Peel Junior warf ihm Scheinheiligkeit vor, da er selbst von Watkin und seinen Firmen schon häufiger private Rundschreiben erhalten habe, die ihn um seine Stimme im Parlament ersuchten.585 Nur wenige Monate später beschwerte sich Watkin erneut, dass zwei Private Bills der Metropolitan Railway aufgrund von privatem Canvassing im Parlament abgelehnt worden seien und forderte eine parlamentarische Debatte. Der Premierminister Benjamin Disraeli lehnte es ab, das Thema erneut zu diskutieren und verwies auf die Debatten der vergangenen Monate. Er merkte an, dass sich Canvassing stets in einem Graubereich bewege und daher klare Richtlinien nur schwer festzulegen seien. Das System des Canvassing weise ausgeprägte Ambivalenzen auf. Zu intensives Werben um die Stimmen der Abgeordneten sei natürlich ein Ärgernis, es müsse andererseits aber auch weiterhin ermöglicht werden, die Vorzüge und Nachteile eines Antrages zu publizieren, um den politischen Entscheidungsträgern notwendige Informationen zur Verfügung zu stellen. Damit formulierte er eben jene Argumente aus, die auch heute noch in Bezug auf Lobbyarbeit vorgebracht werden.586 Ein fundamentaler Kritikpunkt am System des Canvassing war die mangelnde Chancengleichheit der verschiedenen interessierten Parteien eines Private Bills vor der Legislative. Große Unternehmen konnten aufgrund ihrer besseren finanziellen Ressourcen und ihres höheren Vernetzungsgrades in der Regel deutlich mehr Einfluss zur Geltung bringen, als kleinere Konkurrenten.587 Diesem grundsätzlichen Problem konnte auch eine Beschränkung der Lobbyarbeit auf professionelle Parliamentary Agents keine Abhilfe verschaffen.

3.6. Zur Entwicklung der französischen Eisenbahnbranche in den 1850er und 1860er Jahren Mit dem Staatsstreich vom Dezember 1851 änderten sich die politischen Rahmenbedingungen für die Eisenbahnbranche schlagartig und fundamental. Das Parlament musste einen weitreichenden Bedeutungsverlust hinnehmen und 584 585 586 587

Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 227. Sp. 1491–1495, Sp. 1494. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 230. Sp. 860–867, Sp. 866. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 230. Sp. 1135–1136, Sp. 1135. »This system of Canvassing, which is too often adopted by large and influential Companies to crush opponents whom they cannot defeat by more open and honourable means, is a system of corruption and intrigue in which »might« overcomes.« In: Herapath’s Journal (4. 6. 1846), S. 853; vgl auch: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 77. Sp. 170–185, Sp. 177.

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wurde seiner Funktion als politische Entscheidungsinstanz weitestgehend beraubt. Die Ausarbeitung von Gesetzen und weitere zentrale legislative Befugnisse wurden auf den Staatsrat übertragen. Der wieder eingesetzte Senat wurde systematisch mit treuen Anhängern des Kaiserreichs besetzt und dem Corps L¦gislatif, der gewählten zweiten Kammer des Parlaments, blieb lediglich eine beratende Funktion. Des Weiteren waren die Abgeordneten verpflichtet, einen Eid auf die Verfassung und den Kaiser abzulegen und waren ihm dadurch zur Treue verpflichtet.588 Auch die Minister waren nicht mehr dem Parlament, sondern allein dem Kaiser gegenüber verantwortlich.589 Die autoritäre Verfassung des Kaiserreiches war zwar zweifelsohne ein Rückschlag für den Parlamentarismus und die demokratischen Kräfte des Landes, aus wirtschaftlicher Sicht versprach sie jedoch bessere Planungssicherheit für private Investoren und wurde daher von vielen Unternehmern begrüßt.590 Die gestärkte Position der Exekutive beendete den Machtkampf der verschiedenen ökonomischen und bürokratischen Interessengruppen in der Nationalversammlung, der den weiteren Ausbau des Eisenbahnnetzes während der Zweiten Republik weitestgehend zum Erliegen gebracht hatte.591 Die grundlegend neu verteilten Kompetenzen führten zu stark personalisierten Formen der politischen Machtentfaltung und Interessenvertretung, die von Napoleon III. gezielt gefördert wurden, um seine eigene Position weiter zu stärken.592 Um in den 1850er Jahren wirtschaftliche Interessenpolitik zu betreiben, waren gute Kontakte zum Kaiser und seiner Familie unerlässlich. Jules MirÀs, der zu diesem Zeitpunkt das Journal des Chemins de Fer herausgab und in späteren Jahren selbst einer der aktivsten Eisenbahnunternehmer des Landes wurde, begrüßte den Staatsstreich in einem Leitartikel vom 11. Dezember 1852 vor allem im Hinblick auf das landesweite Investitionsklima. Er berichtete, dass sich bereits einflussreiche Männer trafen, um die Regierung bei ihren Plänen für Infrastrukturprojekte zu unterstützen.593 Louis-Napol¦on konnte sich daher als Fundament seiner Macht auf die Unterstützung weiter Teile des Wirtschaftsbürgertums verlassen, welches seine wirtschaftlichen Interessen durch die Umwälzungen des Jahres 1848 bedroht sah und sein vorrangiges Interesse auf politische Stabilität ausrichtete.594 In Louis588 Plessis, Alain: The Rise and Fall of the Second Empire, 1852–1871. Cambridge 1985 (=The Cambridge History of Modern France 3), S. 16. 589 Tombs: France 1814–1914, S. 104. 590 Price, Roger : The French Second Empire. An Anatomy of Political Power. Cambridge 2001 (=New Studies in European History), S. 217. 591 Smith: The Emergence, S. 67. 592 Maupas, Charlemagne-Êmile de: M¦moires sur le Second Empire. La pr¦sidence de LouisNapol¦on. Paris 1885 (Bd. 2), S. 23. 593 Journal des Chemins de Fer (11. 12. 1852), S. 905. 594 Blanchard, Marcel: The Railway Policy of the Second Empire. In: Essays in European

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Napol¦on meinte man, einen zwar autoritären, aber zumindest berechenbaren Partner gefunden zu haben. Als Preis für die gewonnene Sicherheit und Stabilität war das Wirtschaftsbürgertum auch bereit, auf einen Teil seiner politischen Mitbestimmung zu verzichten.595 Die einflussreichsten Wirtschaftsvertreter konnten den Verlust formeller politischer Rechte ohnehin durch persönliche Kontakte zu den Ministerien und der Entourage des Kaisers kompensieren. Auch in Bezug auf die Eisenbahnpolitik brachte der Staatsstreich einige Neuerungen. Die neue Verfassung vom Dezember 1851 sah vor, dass Travaux publics, so sie den Staatshaushalt nicht direkt belasteten, nicht mehr durch das Parlament bewilligt werden mussten, sondern vom Staatsrat direkt per Dekret genehmigt werden konnten.596 Als Folge wurden nach dem Staatsstreich quasi über Nacht mehrere Konzessionen für neue Strecken vergeben. Entgegen der ursprünglichen Planungen von 1842 waren bis 1852 Konzessionen nur für Teilstrecken erteilt worden, die nicht miteinander in Verbindung standen und daher ihr Potential nicht ausschöpfen konnten. Dies war während der Julimonarchie und der Zweiten Republik politisch gewollt gewesen, da große Unternehmen im Infrastrukturbereich als eine Bedrohung der staatlichen Machtdomänen angesehen wurden.597 Während des Zweiten Kaiserreichs änderte sich die grundsätzliche Einstellung der Regierung gegenüber der Konzentration ökonomischen Kapitals. Die Laufzeit der Konzessionen wurde auf 99 Jahre verlängert, was den Unternehmen mehr Zeit gab, um ihre Investitionen zu amortisieren und langfristigere Kalkulationen erlaubte. Dies ermöglichte größere Planungssicherheit für notwendige Investitionen.598 Um die Unternehmen weiter ökonomisch zu stärken, erarbeitete das Ministerium für öffentliche Arbeiten einen Plan, nach dem die verschiedenen kleinen Eisenbahnkompanien schrittweise zu sechs regionalen Einheiten zusammengefasst werden sollten. Die Chemin de Fer du Nord verfügte von Beginn an über ein ausgeprägtes regionales Monopol und erhielt in den folgenden Jahren mehrere weitere Konzessionen, die ihre Vorrangstellung im Nordosten Frankreichs weiter festigten.599 Die Chemin de Fer Paris-Orl¦ans fusionierte 1852 mit der Chemin de Fer du Centre und den Strecken von Tours nach Nantes sowie von

595 596 597 598 599

Economic History 1789–1914. Hrsg. von FranÅois Crouzet, William H. Chaloner u. Walter M. Stern. London 1969. S. 98–112, S. 103. Birnbaum, Pierre: Les sommets de l’Êtat. Essai sur l’¦lite du pouvoir en France. Paris 1994 (=Points: Essais 277), S. 14. Kaufmann: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs, S. 93. Blanchard: The Railway Policy, S. 104. Picard, Alfred: Les chemins de fer. AperÅu historique. R¦sultats g¦n¦raux de l’ouverture des chemins de fer. Concurrence des voies ferr¦es entre elles et avec la navigation. Paris 1918, S. 11. Kaufmann: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs, S. 95–96.

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Orleans nach Bordeaux zur Chemin de Fer Paris — Orl¦ans. Im folgenden Jahr wurden die Konzessionen für Strecken von Bordeaux nach SÀte, von Narbonne nach Perpignan und von Lamothe nach Bayonne zur Chemin de Fer du Midi zusammengefasst. 1855 entstand die Chemin de Fer de L’Ouest aus dem Zusammenschluss der Chemin de Fer de Paris — Saint Germain mit der Chemin de Fer de Paris — Le Havre und Chemin de Fer de Paris — Rouen sowie der Verbindungen von Paris nach Rennes und Cherbourg. 1857 schließlich entstand mit der Fusion der Compagnie du Chemin de Fer de Lyon — la M¦diterran¦e und der Compagnie du Chemin de Fer de Paris — Lyon zur Compagnie des Chemin de Fer de Paris — Lyon et — la M¦diterran¦e (PLM) das letzte der sechs großen regionalen Monopole, die auch die »großen Sechs« genannt wurden.600 Louis-Napol¦ons Ideen für die Eisenbahnpolitik waren stark durch die SaintSimonisten um Isaac und Emile Pereire sowie Michel Chevalier geprägt. Letzterer gehörte zu den engsten wirtschaftlichen Beratern Louis-Napol¦ons. Neuerungen im Bankenwesen, welche die Kapitalisierung der Eisenbahngesellschaften erleichtern sollten, bewirkten einen weiteren Schub im Eisenbahnbau, denn eines der größten Probleme des Eisenbahnbaus während der Julimonarchie war die Kapitalbeschaffung gewesen. Die ersten Bahnen waren vornehmlich durch die Haute Banque und andere Großinvestoren finanziert worden und die schlechten Erfahrungen mit Aktienspekulationen der Jahre 1845/46 waren den Anlegern noch allzu präsent. Auch hier traten die Brüder Pereire an vorderster Front in Erscheinung. Sie entwickelten ein Konzept für eine Aktienbank, deren explizite Aufgabe es sein sollte, das Kapital von Kleinanlegern zu sammeln und für Investitionen in industrielle Projekte zur Verfügung zu stellen. 1852 gründeten sie gemeinsam mit dem Bankier Benoit Fould zu eben diesem Zweck die Cr¦dit Mobilier.601 Über dessen Bruder Achille Fould, der 1849 von Louis-Napol¦on zum Finanzminister ernannt wurde, verfügten sie über exzellente Verbindungen zum engeren Kreis des Kaisers, welche es ihnen erlaubten, die üblichen Prüfungen und Regularien zu umgehen.602 Das Votum des Staatsrats wurde nicht berücksichtigt. Die Gründung der Cr¦dit Mobilier führte zu tiefgreifenden Veränderungen der Finanzwelt, was sowohl Mechanismen der Kapitalisierung anging wie auch der wirtschaftspolitischen Koalitionen, die die Eisenbahnbranche für die nächsten Jahre prägen sollten. Sie stand von Beginn an in Konkurrenz mit der Banque de France, die von den Mitgliedern der Haute Banque, allen voran James de Rothschild kontrolliert wurde. Kurze Zeit später brach auch die bisher so erfolgreiche Allianz der Pereires mit Rothschild im 600 Caron: Les grandes compagnies, S. 22. 601 Ribeill, Georges: La r¦volution ferroviaire. La formation des compagnies de chemin de fer en France. 1823–1870. Paris 1993 (=Histoire et soci¦t¦: Modernit¦s), S. 117. 602 Freedeman: Joint-Stock, S. 85.

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Eisenbahnbau auseinander. Rothschild kritisierte die Cr¦dit Mobilier aufs Schärfste und bediente sich dabei gängiger Argumente gegen den Aktienhandel, mit dem er selbst so viel Geld verdient hatte. Die Trennung von Kapital und Verantwortung führte seiner Meinung nach zu einem niedrigeren Niveau in der Unternehmensführung, weil die Entscheidungsträger nicht mehr mit ihrem eigenen Kapital hafteten.603 In einem persönlichen Brief an den Kaiser warnte er außerdem vor einer zu großen Machtfülle, die der Cr¦dit Mobilier eingeräumt würde.604 Louis-Napol¦on bewertete die Situation jedoch anders. Die Pereires überzeugten ihn in einem persönlichen Gespräch von dem Projekt, und die anschließenden Verhandlungen über die genauen Statuten der neuen Bank wurden direkt mit dem Innenminister Victor Fialin Persigny geführt.605 Die Proteste der Banque de France und Rothschilds wurden insofern ernst genommen, als Persigny die potentiellen Gefahren dieses in Frankreich neuen Geschäftsmodells ebenfalls erkannte und der Cr¦dit Mobilier strenge Vorschriften in Bezug auf ihre Kapitalisierung auferlegte.606 Trotz der strikten Auflagen entwickelte sich die Cr¦dit Mobilier binnen weniger Jahre zu einem gigantischen Unternehmen, das Eisenbahn- und Industrieprojekte in Frankreich, aber auch in Spanien, der Schweiz, Italien und der Habsburgermonarchie finanzierte.607 Der endgültige Bruch zwischen Rothschild und den Pereires vollzog sich Ende 1852, als James de Rothschild Paulin Talabot bei den diversen Fusionen im Süden Frankreichs unterstütze, die im Endeffekt zur Formierung der PLM führten und dadurch direkt gegen die Pereires und ihre strategischen Interessen handelte.608 Zu Rothschilds Verbündeten gehörte neben Paulin Talabot auch FranÅois Bartholony, der Verwaltungsratsvorsitzende der Chemin de Fer de Paris — Orl¦ans.609 Fortan teilte sich die Eisenbahnbranche grob in zwei Lager. Auf der einen Seite standen die Rothschilds, die gemeinsam mit Paulin Talabot sowie FranÅois Bartholony agierten. Ihnen gegenüber standen die Brüder Pereire und Achille Fould mit der Cr¦dit Mobilier sowie der neu in den Eisenbahnbau eingestiegene Halbbruder Louis-Napol¦ons, Charles de Morny. Gemeinsam kontrollierten sie die Chemin de Fer du Midi, die Chemin de Fer de L’Ouest und die 1852 ge-

603 Ferguson: The House (Bd. 2), S. 61. 604 Girard: La politique, S. 109. 605 »With agreement at the top, the views of ministry officials and the Conseil d’Etat, normally decisive, had little weight.« In: Freedeman: Joint-Stock, S. 85. 606 Ebd., S. 85–92. 607 Smith: The Emergence, S. 73. 608 Ferguson: The House (Bd. 2), S. 60. 609 Caron: Histoire des chemins, S. 203.

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gründete Grand Central, die einen Keil zwischen die PLM und die Chemin de Fer du Midi treiben sollte. Gegen Ende des Jahrzehnts schlug der Wirtschaftsboom der frühen 1850er Jahre erneut in eine Krise um. Der Krimkrieg belastete den Staatshaushalt und der Umbau von Paris unter Georges Haussmann verschlang gigantische Summen. 1857 löste eine Anlegerpanik in den USA die erste Weltwirtschaftskrise aus, von der auch die französischen Eisenbahnunternehmen nicht verschont blieben. Als Folge der Krise forderten die Unternehmen erneut eine Revision ihrer Konzessionen. Mit der Konvention von 1859 wurde das System staatlicher Zinsgarantien, das erstmals 1839 während des Beinahebankrotts der Chemin de Fer de Paris — Orl¦ans eingeführt worden war, schrittweise auf alle großen Eisenbahngesellschaften ausgeweitet.610 Die Staatsgarantien minderten das Risiko von Verlusten und stellten Eisenbahnaktien faktisch mit Staatsanleihen gleich. Diese Maßnahme führte gezwungenermaßen zu einer noch engeren Verbindung zwischen staatlichen Institutionen und den Eisenbahngesellschaften. Als Gegenleistung für die Bewilligung der neu ausgehandelten Konditionen verpflichteten sich die Eisenbahngesellschaften, alle über die garantierten Zinsen hinausgehenden Gewinne in den Ausbau der kleineren Nebenbahnen und Zubringerstrecken zu investieren, die als ein zweites Netzwerk geplant worden waren.611 Den so genannten Chemins de Fer d’Int¦rÞts Local wurde bis in die späten 1850er Jahre nur wenig Beachtung geschenkt, da die überregionalen Strecken noch nicht fertiggestellt worden waren. Die großen Unternehmen zeigten jedoch auch nach dem Ausbau ihrer Rumpfstrecken nur wenig Interesse, in kleinere unprofitable Nebenstrecken zu investieren. Viele Geschäftsleute aus ländlichen Regionen, die noch nicht oder nur schlecht an das Eisenbahnnetz angeschlossen waren, wurden daher zunehmend unzufrieden mit der Situation.612 1858 formulierte der Präfekt des D¦partement Bas-Rhin Jean-Baptiste Migneret erstmals einen Plan, den Ausbau der Nebenstrecken dezentral und auf lokaler Initiative beruhend, voranzutreiben. Er bediente sich dabei einer Lücke im französischen Verwaltungsrecht, das es Präfekten erlaubte, gemeinsam mit den Conseils G¦n¦raux Straßen in die Kategorie »Grand Communication« einzuordnen, nach eigenem Ermessen ausbauen zu lassen und über die Gemeinden zu finanzieren. Migneret verfolgte das Ziel, Eisenbahnen den Straßen gleichstellen zu lassen und selbst finanzieren zu dürfen.613 Sein Plan stieß jedoch auf 610 Kaufmann: La politique franÅaise, S. 716. 611 Habakkuk, Hrothgar John u. Michael M. Postan: The Cambridge Economic History of Europe. Cambridge 1965, S. 239. 612 Johnson, Christopher H.: The Life and Death of Industrial Languedoc. 1700–1920. New York, NY 1995, S. 176. 613 Kaufmann: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs, S. 161.

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den Widerstand der zentralen Planungsstellen in Paris. 1861 wurde eine ministerielle Kommission eingerichtet, die sich mit dem Problem der Nebenstrecken befassen sollte und deren Bericht 1863 vorgelegt wurde. Da sich auch weiterhin keine grundsätzliche Lösung fand, starteten 1864 62 Conseils G¦n¦raux einen Aufruf und forderten mehr Nachdruck beim Ausbau der Nebenbahnen. Am 12. 7. 1865 wurde schließlich ein Gesetz erlassen, das den Ausbau der Nebenstrecken genauer regeln sollte und in wesentlichen Punkten dem Vorschlag Mignerets folgte.614 Den Präfekten wurde die Möglichkeit eingeräumt, auf eigene Initiative die Gründung lokaler Eisenbahnen zu betreiben. Die D¦partements, Kommunen und privaten Unternehmer, die an dem Bau einer Strecke interessiert waren, mussten sich an den Conseil G¦n¦ral de la Pr¦fecture wenden, um Land enteignen zu dürfen. Die Finanzierung der Chemins de Fer d’Int¦rÞt Local sollte vornehmlich aus lokalen Quellen geschehen, wurde aber durch staatliche Zuschüsse unterstützt. Die Ministerien in Paris wollten allerdings die Kontrolle über das Netzwerk der Nebenbahnen nicht vollständig aus der Hand geben. Daher war es notwendig, den öffentlichen Nutzen der Nebenstrecken nachzuweisen, was in Form einer Erklärung der Utilit¦ Publique durch den Staatsrat und das Ministerium für öffentliche Arbeiten erteilt wurde. Dies führte häufiger zu Vorwürfen des Amtsmissbrauchs, da die Vermutung nahe lag, dass die großen Eisenbahngesellschaften Einfluss auf das Ministerium und den Staatsrat ausübten, um konkurrierende Nebenstrecken zu behindern oder gar gänzlich zu blockieren.615 Das Gesetz von 1865 entpuppte sich darüber hinaus als äußerst anfällig für betrügerische Geschäftspraktiken, da weder feste Konditionen für die Rückzahlung der Gelder noch Zwangsmaßnahmen festgelegt wurden, die eine Fertigstellung der Strecken durch die geförderten Unternehmer gewährleisten konnten.616 Einige Unternehmer projektierten Nebenstrecken nur, um sich von den großen Unternehmen aufkaufen zu lassen. Andere wiederum entwarfen Pläne, den großen Monopolisten durch die Fusion mehrerer kleinerer Bahnen Konkurrenz zu machen.617 1870 gab es auf Initiative einiger Abgeordneter erneute Untersuchungen zu den Nebenbahnen. Diese wurden aber durch den Deutsch-Französischen Krieg unterbrochen. Die Folgen des Krieges und die Bestimmungen des Friedensvertrages von Frankfurt 1871 trafen die Eisenbahngesellschaften und das Transportwesen allgemein hart, denn große Teile der Infrastruktur waren zerstört worden und Rohmaterial war rar. Die Chemin de Fer de L’Est war am 614 Malapert, Pierre Antoine Fr¦d¦ric: Histoire de la l¦gislation des Travaux publics. Paris 1880, S. 360–361. 615 Ebd. 616 Dobbin: Forging Industrial Policy, S. 129. 617 Kaufmann: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs, S. 165.

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schwersten betroffen und verlor aufgrund der Gebietsabtretungen im Elsass und in Lothringen rund 840 Kilometer ihres Schienennetzes.618 Während der Dritten Republik gewann das Parlament weiter an Bedeutung. Die Chemins de Fer d’Int¦rÞt Local blieben auch weiterhin ein Problem und wurden 1878 durch den sogenannten Plan Freycinet komplett neu geordnet.619

3.7. Der Zugang zur politischen Macht – Vernetzungspraktiken während des Zweiten Kaiserreichs Im Unterschied zu Großbritannien war die Gruppe der einflussreichen Eisenbahnunternehmer in Frankreich während des Zweiten Kaiserreichs relativ klein und bestand im Wesentlichen aus den beiden konkurrierenden Lagern um die Pereires und Rothschild. Gelegentlich versuchten jedoch auch neue Akteure den Markt zu betreten. Ein bedeutender, bis dahin unbekannter Akteur in der Welt des Eisenbahnbaus war der Halbbruder Louis-Napol¦ons, Charles de Morny. Morny begann seine wirtschaftliche Karriere in den 1830er Jahren, als er in eine Zuckerrübenfabrik in Clermont-Ferrand investierte. Gesellschaftlich profitierte er in dieser Zeit vor allem durch seine familiären Verbindungen. Seine Großmutter, die Gräfin Souzat-Flauhat, war seit ihrer gemeinsamen Zeit im Exil mit Louis-Philippe befreundet und ihre Kontakte sollten sich als äußerst hilfreich für ihren illegitimen Enkel herausstellen. Morny war schon kurz nach der Thronbesteigung Louis-Philippes bestens am Hof der Julimonarchie integriert und genoss die Unterstützung des Königs. Louis-Philippe verlieh ihm einen Grafentitel und schon mit 18 Jahren wurde er, ohne über eine militärische Ausbildung zu verfügen, zum Sekondeleutnant der königlichen Kavallerie ernannt. Zwischen 1834 und 1838 nahm er an der Algerienexpedition teil, trat aber kurz nach seiner Rückkehr aus dem Militär aus und begann eine unternehmerische Laufbahn.620 In Paris gehörte er einem Kreis gut betuchter junger Männer an, die einen eigenen Kleidungsstil prägten und als »Dandies« bekannt wurden. Zu diesem Kreis gehörten neben dem Marquis de Lafayette und dem Vicomte D’Alton Sh¦e auch die beiden Söhne von Louis-Philippe. Entgegen seinem Image als Müßiggänger zeigte Morny schon bald hohes Geschick darin, seine persönlichen Beziehungen gewinnbringend für Geschäfte zu nutzen. 1833 gründete er gemeinsam mit Charles Laffitte den Jockey-Club als Treffpunkt für begeisterte 618 Picard: Les chemins. AperÅu, S. 27. 619 Ebd., S. 35. 620 Grothe, Gerda: Der Herzog von Morny. Der zweite Mann im Reich Napoleons III. Berlin 1966, S. 21.

Vernetzungspraktiken während des Zweiten Kaiserreichs

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Pferdezüchter. 1837 erwarb er eine Fabrik für Rübenzucker in Clermont-Ferrand, die den Grundstock seines Geschäftsimperiums bildete.621 Während der Zweiten Republik näherte sich Morny seinem Halbbruder Louis-Napol¦on an und spielte eine zentrale Rolle bei der Planung des Staatsstreichs vom 2. Dezember 1851. Anschließend war er als Innenminister mit der Organisation der Neuwahlen und der Repressionen gegen politische Opponenten betraut. Aufgrund privater Zerwürfnisse – vordergründig aus Protest gegen die Beschlagnahmung der orleanistischen Güter – trat er jedoch bereits im Januar 1852 von seinem Amt zurück, versöhnte sich aber schon wenige Wochen später wieder mit dem Kaiser. Fortan war er offiziell nur noch Abgeordneter des Corps L¦gislatif, zu dessen Präsident er 1854 ernannt wurde. Charles de Morny maß dem Parlament weniger wegen seiner politischen Funktionen hohe Bedeutung bei, sondern vielmehr sah er es als einen Ort, an dem sich einflussreiche Personen trafen, man Kontakte pflegte und Geschäfte angebahnt wurden.622 Morny machte kaum einen Hehl daraus, dass er sein politisches Insiderwissen nutzte, um äußerst erfolgreich an der Börse zu spekulieren.623 Obwohl er kein entsprechendes offizielles Amt mehr innehatte, nahm er regelmäßig an den Treffen der Minister und des Staatsrates teil und war daher bestens über die Pläne der Regierung informiert. So kaufte er auffällig häufig genau diejenigen Grundstücke in Paris auf, die kurze Zeit später von Georges Haussmann für die Umgestaltung der Metropole benötigt wurden und erzielte dabei beträchtliche Gewinne.624 In der Eisenbahnbranche kooperierte Morny zumeist mit den Pereires und hatte seit 1852 einen Sitz im Verwaltungsrat der Cr¦dit Mobilier.625 Er verfolgte aber auch unabhängig von ihnen eigene Geschäfte. Sein ambitioniertestes Projekt war die Chemin de Fer de Grand Central, die einmal quer durch das Massif Central verlaufen sollte und drei Strecken umfasste: eine Verbindung zwischen Clermont-Ferrand und Montauban, eine von Limoges nach Agen und eine dritte Teilstrecke von Lyon nach Bordeaux. Morny hatte aus mehreren Gründen Interesse an den Strecken. Als Abgeordneter des D¦partements Puy-deDúme war ihm daran gelegen, dass die Schwerindustrie des Zentrums mit seinen großen Kohle- und Erzlagerstätten in Aubin, Decasseville und Brassac gefördert und besser an das Eisenbahnnetzwerk angeschlossen würde. Durch seine Fabrik für Rübenzucker verfügte er außerdem über private wirtschaftliche Interessen an der Region. Bereits während seiner Zeit als Innenminister hatte er daher seine 621 Parturier, Maurice: Morny et son temps. Paris 1969, S. 115. 622 Grothe: Der Herzog, S. 115. 623 Moisan, Michel: Le Duc de Morny. (1811–1865) Le parisien et »l’auvergnat«. Paris 2001, S. 266. 624 Grothe: Der Herzog, S. 128. 625 Ebd., S. 131.

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Stellung genutzt, um sich bei den Planungen für die Chemin de Fer du Grand Central in eine gute Position zu bringen.626 Mornys Absichten wurden von den Ministerien unterstützt, weil sie die Bedeutung der Linien von Paris nach Orl¦ans und von Paris nach Lyon zurückdrängen wollten. Da die Grand Central weder an das Mittelmeer noch an Paris angebunden war und noch dazu durch strukturschwache Gebiete verlief, war klar, dass die Konzession wenige Bieter anziehen würde.627 Morny hatte jedoch auch diesen Nachteil einkalkuliert und verfolgte schon früh den Plan, das Netzwerk der Chemin de Fer de Grand Central von Agen durch die Pyrenäen bis an die spanische Grenze und darüber hinaus zu erweitern. Die wichtige Verbindung nach Paris sollte über eine Kooperation mit der Chemin de Fer du Midi erfolgen.628 Die Grand Central wurde 1853 gegründet und von Beginn an war die Nachfrage nach den Aktien des Unternehmens enorm. Dies lag wohl auch daran, das Morny mit seinen Verbindungen als Garant für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens gesehen wurde. Die Finanzierung der Chemin de Fer de Grand Central wurde über die Cr¦dit Mobilier abgewickelt.629 Morny übernahm den Vorsitz des Verwaltungsrates und bekam von seinen Kollegen stets freie Hand darin, die Interessen der Bahn gegenüber offiziellen Stellen nach eigenem Ermessen zu vertreten.630 Als die Bahn jedoch entgegen der fulminanten ersten Aktienausgabe nicht der erwartete finanzielle Erfolg wurde, verlor Morny anscheinend schon bald wieder das Interesse an dem Unternehmen.631 Das schwierige Gelände im Massif Central ließ die Bau- und Betriebskosten immens ansteigen und der Krimkrieg sowie anschließend die ersten Anzeichen der Weltwirtschaftskrise durchkreuzten alle Pläne, das Schienennetz der Gesellschaft so zu erweitern, dass sie zu einem echten Konkurrenten der etablierten Unternehmen geworden wäre.632 Die Chemin de Fer de Grand Central konnte im Zuge der Wirtschaftskrise von 1857 ihren Betrieb nicht mehr aufrecht erhalten und ihr Streckennetz wurde nach langwierigen Verhandlungen mit dem Ministerium für öffentliche Arbeiten zwischen der Chemin de Fer de Paris — Orl¦ans und der PLM aufgeteilt.633 Zu 626 627 628 629 630 631 632 633

Caron: Histoire des chemins, S. 205. Kaufmann: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs, S. 101. Blanchard: The Railway Policy, S. 106. Chemin de Fer de Grand Central: Protokoll der Verwaltungsratssitzung vom 12. 10. 1853, S. 12. AN Roubaix 60AQ 225. Chemin de Fer de Grand Central: Protokoll der Verwaltungsratssitzung vom 26. 4. 1853. AN Roubaix 60 AQ 221. Ab 1854 nahm Morny nicht mehr an den Sitzungen des Direktoriums teil. Chemin de Fer de Grand Central: Protokolle der Direktoriumssitzungen von 1854. AN Roubaix 60 AQ 226. Carmona, Michel: Morny. Le vice-empereur. Paris 2005, S. 238. Kaufmann: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs, S. 101.

Vernetzungspraktiken während des Zweiten Kaiserreichs

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diesem Zeitpunkt hatte Morny das »sinkende Schiff« bereits verlassen. Schon 1856, nach den für Morny enttäuschenden Erfahrungen, kehrte er der Eisenbahnbranche den Rücken und wurde von Louis-Napol¦on als Sondergesandter zur Krönung des Zaren Alexander II. nach Moskau geschickt. Für die Pereires und ihre Cr¦dit Mobilier bedeutete das Fiasko der Grand Central eine erste herbe Niederlage in der andauernden Konkurrenzsituation mit Rothschild, Talabot und Bartholony. Mornys Einfluss wurde durch seinen wirtschaftlichen Misserfolg hingegen nur kurzzeitig beeinträchtigt, denn er resultierte in erster Linie aus seiner persönlichen Verbindung mit dem Kaiser. Seine politischen Ämter und seine Positionen in Unternehmen wiederum waren die Folge dieser privilegierten Stellung. In gewisser Weise ist seine Position mit der eines Günstlingsministers der Frühen Neuzeit zu vergleichen, allerdings ohne dass er über ein offizielles Amt in der Regierung verfügte. Er war weitestgehend vom Wohlwollen des Kaisers abhängig und gleichzeitig stets darum bemüht, sein eigenes Netzwerk zu erweitern.634 Dieses Netzwerk – hierin besteht ein deutlicher Unterschied zu den Günstlingsministern der Frühen Neuzeit – erstreckte sich nicht ausschließlich auf Verwandte und persönliche Bekannte in patronageartigen Beziehungen, sondern wirkte indirekt auch über die Aktiengesellschaften, in denen er Posten angeboten bekam, fort. Wir haben es hier also mit zwei scheinbar gegenläufigen Entwicklungen der Netzwerkbildung zu tun. Einerseits waren die Zugangswege zu den Schaltzentren der politischen Macht auf einen relativ kleinen Personenkreis beschränkt, andererseits vertraten diese Personen mittelbar durch den Aktienhandel die Interessen eines stetig wachsenen Anlegerkreises. Ein weiterer Knotenpunkt ökonomischer und politischer Netzwerke des Zweiten Kaiserreichs waren die sogenannten Cercles, die mit den britischen Gentleman’s Clubs vergleichbar waren und von Morny in den 1830er Jahren in Paris populär gemacht worden waren.635 Der bereits erwähnte Jockey-Club begründete eine Korporationsform, die sich schon bald in zahlreichen weiteren Neugründungen etablierte. Die bedeutendsten waren der Cercle Imp¦rial, der Cercle Union und der Cercle Agricole, in denen sich viele Abgeordnete des Corps L¦gislatif trafen.636 Der bevorzugte Treffpunkt für Eisenbahnunternehmer und Finanziers war der Cercle des Chemins de Fer, der 1854 unter der Präsidentschaft Mornys gegründet wurde.637 In Frankreich war die Existenz organisierter Interessenvertretung auch weiterhin nicht öffentlich anerkannt. Die französische Staatsauffassung bezog in 634 635 636 637

Vgl. zu Günstlingsministern Thiessen: Korruption und Normenkonkurrenz, S. 99. Moisan: Le Duc, S. 53. Price: People and Politics, S. 27. Yriarte, Charles: Les cercles de Paris. 1828–1864. Paris 1864, S. 279.

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diesem Punkt ihre Inspiration aus dem Rousseauschen Diktum, wonach eine Bündelung von Interessen in einer gemeinsamen Vertretung zwangsläufig zur Einschränkung der Entscheidungsfreiheit des Individuums führe und somit grundsätzlich nicht wünschenswert sei.638 Dies drückte sich auch darin aus, dass Abgeordnete bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht offiziell im Namen einer Interessengemeinschaft, sondern nur für sich selbst und »einige Freunde« sprechen durften.639 Daher konnten dort auch keine Institutionen gegründet werden, deren explizites Ziel ökonomische Interessenvertretung war. Allerdings übernahm der Cercle des Chemins de Fer zumindest einen Teil dieser Funktionen. In den Räumen des Klubs trafen sich die Vertreter der verschiedenen Eisenbahngesellschaften, um im informellen Rahmen anstehende Fragen der Branche zu erörtern, neue Geschäfte anzubahnen und Differenzen beizulegen.640 Als offizieller Verhandlungspartner der Regierung und als organisierter Interessenverband wurde der Cercle des Chemins de Fer im Unterschied zu den verschiedenen Zusammenschlüssen des Railway Interest in Großbritannien jedoch nicht tätig.

3.8. Die Chemins de Fer d’Intérêt Local und der Kampf gegen die Monopole der »großen Sechs« Gut zehn Jahre nach Morny drängte ein weiterer Akteur in die nahezu abgeschottete französische Eisenbahnbranche. Der belgische Unternehmer Simon Philippart entwickelte in den späten 1860er Jahren einen ambitionierten Plan, den »großen Sechs« Konkurrenz zu machen. Philippart war der Erbe eines erfolgreichen Unternehmers aus Tournai, der im Kohlebergbau ein Vermögen erwirtschaftet hatte. Nachdem er 1866 die Nachfolge seines Vaters als Direktor der Soci¦t¦ des bassins houillers du Hainaut angetreten hatte, baute er in den folgenden Jahren durch die Fusion mehrerer regionaler Eisenbahngesellschaften ein eigenes kleines, aber nicht unbedeutendes Eisenbahnimperium in Belgien auf, das sich zum drittgrößten Netzwerk neben dem staatlichen und der belgi638 »Mais quand il se fait des brigues, des associations partielle aux d¦pends de la grande, la volont¦ de chacune de ces associations devient g¦n¦rale par rapport — l’Êtat; on peut dire alors qu’il n’y a plus autant de votants que d’hommes, mais seulement autant que d’associations. Les diff¦rences deviennent moins nombreuses et donnent un r¦sultat moins g¦n¦ral … Il importe donc pour avoir bien l’¦noncer de la volont¦ g¦n¦rale qu’il n’y ait pas de soci¦t¦ partielle dans l’Êtat et que chaque citoyen n’opine que d’aprÀs lui.« Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou principes du droit politique. Paris 1972 (Erstmals veröffentlicht 1762), S. 95. 639 Brown, Bernard: Pressure Politics in France. In: The Journal of Politics 18 (1956) H. 4, S. 702–719. S. 702. 640 Journal des Chemins de Fer (11. 8. 1855), S. 515.

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schen Chemin de Fer de Grand Central entwickelte.641 1870 gerieten seine Unternehmen allerdings in finanzielle Schwierigkeiten und Philippart traf eine Vereinbarung mit der belgischen Regierung, die den Betrieb von Teilstrecken übernahm und den Anlegern der übrigen Unternehmen Zinsgarantien gewährte.642 Im Anschluss verlagerte Philippart den Schwerpunkt seiner Aktivitäten nach Frankreich, um dort ein ähnliches Netzwerk zu etablieren, das der Monopolstellung der großen Eisenbahngesellschaften Konkurrenz machen sollte. Dabei bediente er sich der staatlichen Förderung der Nebenbahnen. Philippart kaufte im ganzen Land kleine und unprofitable Strecken auf und versuchte diese miteinander zu verbinden, um so ein weiteres Netzwerk, sein SeptiÀme R¦seaux, zu schaffen.643 Philippart ging stets nach dem gleichen Muster vor. Er bot den Aktionären der Firmen an, ihre Aktien gegen Aktien aus seinem eigenen Konzern zu tauschen und wurde dadurch Mehrheitseigner der Unternehmen. Die Leiter der Unternehmen gewann er darüber hinaus durch lukrative neue Posten für sich.644 Finanzieren konnte sich Philippart nur mithilfe eines Schneeballsystems, das ihm später jedoch zum Verhängnis werden sollte.645 Um seine Pläne für ein zusammenhängendes Streckensystem in die Tat umzusetzen, benötigte er jedoch die Bewilligung der zuständigen staatlichen Instanzen. Dazu musste er zunächst ein Netzwerk in der Politik und Hochfinanz aufbauen. In die Pariser Gesellschaft wurde Philippart durch den Ministre de Belgique — Paris, Baron Beyens eingeführt und mit dem Leiter der Ponts et Chauss¦es Ernest de Franqueville bekannt gemacht. Außerdem hatte er gute Verbindungen zu dem einflussreichen Journalisten EugÀne Forcade.646 Philippart machte sich außerdem die in Frankreich stets schwelenden Spannungen zwischen den Vertretern der Peripherie und der Zentralgewalt zunutze und präsentierte sich gerne als der Gegenspieler der »großen Sechs«.647 Mit diesem Ansatz gewann er schnell Verbündete unter den lokalen Notablen, die die Infrastrukturen ihrer Regionen verbessern wollten und deren primäres politisches Forum auch weiterhin das Parlament war. Ein Schwerpunkt der von Philippart gegründeten Unternehmensgruppe befand sich nahe der belgischen 641 Kurgan-van Hentenryk, Ginette: The Groupe Philippart. An Experience of Multinational Enterprise in Railway and Banking Business in Western Europe 1865–1880. In: Multinational Enterprise in Historical Perspective. Hrsg. von Alice Teichova u. Maurice Lévy Leboyer. Cambridge 1986. S. 65–73, S. 65. 642 Ebd., S. 67. 643 Picard: Les chemins. AperÅu, S. 315. 644 Kurgan-van Hentenryk: The Groupe Philippart, S. 65. 645 Ebd., S. 67. 646 Kurgan-van Hentenryk, Ginette: Rail, finance et politique. Les entreprises Philippart. 1865–1890. Bruxelles 1982, S. 116. 647 Bouvier: Les Rothschild, S. 252.

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Grenze. 1868 forderten die Bewohner des D¦partement Nord Erweiterungen ihres Schienennetzes von der Compagnie du Chemin de Fer du Nord. Als diese nur sehr zögerlich reagierte, forderte Jules Lebeau, ein Mitglied der Handelskammer von Boulogne, die »Autokratie« der Chemin de Fer du Nord zu beenden.648 Einige Notablen entschlossen sich, selbstständig zu handeln, und wandten sich wegen finanzieller Unterstützung an Philippart. Nach Verhandlungen mit einflussreichen Unternehmern der Region bewarb sich Philippart als Vertreter einer Investorengruppe beim Minister für öffentliche Arbeiten, Ignace Plichon, um eine Konzession für ein eigenes konkurrierendes Reseau im Nordosten unter den Bedingungen der Chemins de Fer d’Int¦rÞt Local zu gründen. Er nutzte dabei seine guten Verbindungen zum Conseil G¦n¦ral du Nord, über den er mit dem Minister für öffentliche Arbeiten in Kontakt trat.649 Das Ministerium in Paris war zwar grundsätzlich gegen die Bildung eines neuen Netzwerks eingestellt, musste aber auch darauf achten, dass die Unzufriedenheit in der Region nicht zu sehr zunahm und bewilligte die Gründung der Chemin de Fer du Nord-Est.650 Auch in anderen Regionen Frankreichs ging Philippart nach einem ähnlichen Muster vor, stieß aber schon bald auf erheblichen Widerstand, da er sich mit seinen Plänen einflussreiche politische Gegner gemacht hatte. Mit der Gründung der Chemin de Fer du Nord-est trat er in direkte Konkurrenz zur Chemin de Fer du Nord und zog sich damit die Gegnerschaft von Alphonse de Rothschild zu, der mittlerweile die Nachfolge seines 1868 verstorbenen Vaters im Verwaltungsrat der Chemin de Fer du Nord angetreten hatte. Alphonse nutzte seine Kontakte in der Politik, um gegen Philippart zu agitieren.651 Auch mit der Chemin de Fer de l’Est geriet Philippart wegen seiner Chemin de Fer du Grand-duch¦ Luxembourg in Konflikt.652 Grundsätzlich wollte die Regierung keine Konkurrenz zu den großen Eisenbahngesellschaften zulassen und verweigerte einigen Gesellschaften Philipparts die dringend benötigte Deklaration der Utilit¦ Publique. 1875 kontrollierte er zwar mehr als 4000 Kilometer geplanter Strecken, von denen jedoch nur 2705 Kilometer die Utilit¦ Publique erhalten hatten und lediglich 980 Kilometer wirklich in Betrieb waren.653 Auf der Linie von Orleans nach Rouen beispielsweise verzögerte sich 1872 die Vergabe des Dekrets. Als Philippart entgegen aller Vorgaben auch weiterhin neue Aktien herausgab, zog er sich den Zorn des 648 Chambre de Commerce Boulange-Sur-Mer: Chemin de Fer Boulange a Saint-Omer, Aire et Lillers. 1860, S. 1. AN Roubaix 48 AQ 3349. 649 Girard: La Politique, S. 384. 650 Journal des Chemins de Fer (27. 3. 1869), S. 194. 651 Bouvier: Les Rothschild, S. 252. 652 Kurgan-van Hentenryk: Rail, finance, S. 126. 653 Kurgan-van Hentenryk: The Groupe Philippart, S. 68.

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Ministeriums zu. Durch die Verzögerungen bei der Eröffnung diverser Strecken geriet Philipparts auf konstante Expansion ausgerichtetes Finanzierungssystem in Bedrängnis. Nachdem er die Finanzen der Banque Franco-Hollande ausgereizt hatte, übernahm er in einem verzweifelten Versuch, dringend benötigte Kredite für seine Unternehmen zu besorgen, die Kontrolle der angeschlagenen Cr¦dit Mobilier, die inzwischen unter der Direktion des ehemaligen Präfekten von Paris, Georges Haussmann stand. Während der Wirtschaftskrise 1866–67 war die Cr¦dit Mobilier in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, weil ihre Anlagen zu langfristig liefen und sie kurzfristige Verpflichtungen nicht mehr leisten konnte. Die Pereires mussten daher notgedrungen einen Kredit bei der Banque de France beantragen. Die Banque de France willigte ein, stellte aber die Bedingung, dass die Pereires die Leitung der Bank abgaben, und wandelten sie in die wesentlich kleinere Soci¦t¦ FranÅaise du Cr¦dit Mobilier um.654 Philippart beabsichtigte, das Kapital der Cr¦dit Mobilier durch Ausgabe neuer Aktien zu erhöhen. Das Tribunal de Commerce de la Seine untersagte dies jedoch auf Betreiben der ehemaligen Geschäftsführung und Philippart konnte sein Schneeballsystem nicht mehr finanzieren.655 Doch auch davon ließ er sich nicht entmutigen und gründete eine neue Gesellschaft mit einem Kapital von 160 Millionen Franc, für das die Cr¦dit Mobilier Garantien mit sechs Prozent Zinsen ausgab. Der Markt reagierte jedoch nicht wie erhofft und er musste am 14. 6. 1875 seinen Rücktritt einreichen. Als Philippart versuchte, ein Einverständnis mit den »großen Sechs« zu erzielen und seine Eisenbahngesellschaften an diese zu verkaufen, wandten sich auch die lokalen Notablen von ihm ab.656 Grund dafür waren unter anderem seine Geschäftsmethoden, die mittlerweile von vielen infrage gestellt wurden. Durch seine Spekulationen brachte er nicht nur die Direktoren der Eisenbahnen, sondern auch die meisten Vertreter der Politik und des Finanzwesens gegen sich auf. 1877, nicht einmal zehn Jahre nachdem er seine ersten Geschäfte in Frankreich getätigt hatte, mussten in rascher Folge die verschiedenen Unternehmen Philipparts Konkurs anmelden. Philippart versuchte weiterhin durch Verhandlungen mit den großen Unternehmen seine eigenen Geschäfte zu retten, die großen Eisenbahngesellschaften waren jedoch keineswegs gewillt, Philippart einen für ihn profitablen Preis zu zahlen. Am 2. Januar 1877 erklärt das Tribunal de Commerce de la Seine die Zahlungsunfähigkeit der Banque Franco-Hollan654 Smith: The Emergence, S. 73. 655 Larousse, Pierre: Grand dictionnaire universel. FranÅais, historique, g¦ographique, biographique, mythologique, bibliographique, litt¦raire, artistique, scientifique, etc. deuxiÀme suppl¦ment. Paris 1878 (Bd. 17), S. 1699. 656 Caron, FranÅois: Kurgan-Van Hentenryk, Ginette. Rail, finance et Politique. Les entreprises Philippart (1865–1890). Rezension. In: Revue belge de philologie et d’histoire 63 (1985) H. 2. S. 402–404, S. 403.

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daise. Wenige Tage später erklärte das Tribunal de Commerce de Bruxelles auch die Compagnie des Bassins de Houillers für insolvent. Am 13. Januar schließlich wurde Philippart persönlich bankrott erklärt. In den kommenden Monaten folgten auch die Chemin de Fer de Lille a Valencienne, die Chemin de Fer Orl¦ans — Rouen und die Chemin de Fer de la Vend¦e. Sie sollten stückweise an andere Eisenbahngesellschaften veräußert werden.657 Nach langwierigen Verhandlungen übernahm schließlich ausgerechnet die Chemin de Fer du Nord einen Großteil des ehemaligen R¦seaux Philippart im Nordosten Frankreichs. Phillippart wurde wegen Abus de Confiance und Escroquerie sowohl in Paris wie auch in Brüssel vor Gericht gestellt. Er wurde jedoch in beiden Anklagepunkten freigesprochen. Zu seiner Verteidigung führte er an, dass er möglicherweise unternehmerisch falsche Entscheidungen getroffen habe, aber nie in betrügerischer Absicht gehandelt habe.658 Philippart kehrte nach Belgien zurück und war dort auch weiterhin im Bankenwesen tätig und gründete die Banque Europ¦enne mit der er jedoch erneut zahlungsunfähig wurde. Welches Ziel Philippart genau mit seinen verschiedenen Unternehmen verfolgte, ist weiterhin nicht vollständig geklärt. Jean Bouvier geht in seiner Chronik des Bankhauses Rothschild davon aus, dass er in Frankreich eine ähnliche Strategie wie in Belgien verfolgte und niemals die Absicht hatte, ein wirkliches Netzwerk zu etablieren, sondern lediglich darauf spekulierte, sich von den großen Unternehmen aufkaufen zu lassen.659 FranÅois Caron bewertete Philipparts Geschäftsmodell eher unter dem Gesichtspunkt unternehmerischen Versagens und sah keine ausreichenden Hinweise, um einen vorsätzlichen Betrug zu vermuten.660 Philipparts Gesellschaften konnten nach der Ansicht von Alfred Picard auf lange Sicht nicht gewinnträchtig arbeiten, weil sie auf zwei falschen Annahmen beruhten. Zum einen ging das Konzept nicht auf, den großen Unternehmen zunächst mit kleinen Linien Konkurrenz zu machen und ihnen diese dann gewinnbringend zu verkaufen. Zum anderen wurde der Missbrauch des Gesetzes von 1865, welches dazu gedacht war, Nebenstrecken zu fördern, und nicht, um konkurrierende Netzwerke aufzubauen, durch die Vertreter des Ministeriums erkannt und entsprechend geahndet.661 Der unternehmerische Misserfolg Philipparts begründete sich also sowohl in der politischen Opposition verschiedener etablierter Gruppen, als auch in der mangelnden ökonomischen Validität des Geschäftsmodells. Philippart war kein Insider der französischen Eisenbahnbranche, sondern ein Neuankömmling und 657 658 659 660

Picard: Les chemins. AperÅu, S. 319. Larousse: Grand dictionnaire universel, S. 1699. Bouvier: Les Rothschild, S. 252. Caron, FranÅois: Histoire de l’exploitation d’un grand r¦seau. La compagnie du chemin de fer du nord 1846–1937. Paris 1973, S. 199. 661 Picard: Les chemins. AperÅu, S. 319.

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musste daher sein eigenes Netzwerk aufbauen. Dieses war aber nicht stabil genug, um gegen seine etablierten Konkurrenten auf Dauer zu bestehen. Des Weiteren hatten die Nebenstrecken, die Philippart zu einem Netzwerk zusammenzufassen versuchte, schlichtweg nicht genug Verkehr, um eigenständig profitabel betrieben werden zu können. Diese negativen Erfahrungen mit Konzessionären, die unseriös wirtschafteten und sich dabei die staatliche Förderung der Chemins de Fer d’Int¦rÞt Local zu Nutze machen wollten, erzwangen eine Überarbeitung des Gesetzes von 1865 und ebneten den Weg zum sogenannten »Plan Freycinet« von 1878.

3.9. Politische Korruptionskritik im »Empire autoritaire« Politisch motivierte Korruptionskritik verschwand in Frankreich während der 1850er Jahre merklich aus dem öffentlichen Diskurs. Dies hatte mehrere Ursachen. Zum einen waren die frühen Jahre des Zweiten Kaiserreiches wie bereits beschrieben durch eine politische und wirtschaftliche Aufbruchstimmung geprägt, die eine positive Einschätzung des Regimes in weiten Teilen der politisch aktiven Gesellschaftsschichten bewirkte.662 Die strikte Pressezensur und die weitgehende Entmachtung des Parlaments taten ihr übriges, um politischen Dissens zu unterdrücken, konnten ihn aber nicht gänzlich ausschalten. Als Folge wurde die öffentliche Debatte über Korruption während der Frühphase des Zweiten Kaiserreiches marginalisiert und in der Mehrheit von Akteuren geführt, die aus dem politischen Prozess ausgeschlossen waren. Bedeutende Kritiker des Regimes, allen voran Victor Hugo, waren gezwungen, zu emigrieren oder ihre Publikationstätigkeit einzustellen.663 Mit dem Krimkrieg und der Wirtschaftskrise von 1857 zeigten sich erste Brüche in der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte des Zweiten Kaiserreiches, was zu einer erneuten Zunahme kritischer Debatten führte. Äußerungen über Korruption im Zusammenhang mit den Eisenbahnunternehmen waren in den 1850er Jahren in erster Linie ökonomisch motiviert. Die personalisierte Art der Politik im Zweiten Kaiserreich brachte geringere Transparenz der Entscheidungsfindungsprozesse mit sich, was wiederum zu Kritik durch vermeintlich benachteiligte Konkurrenten und regionale Interessengruppen führte. Vor allem die zögerliche Bereitschaft der großen Unternehmen, ihre profitablen Hauptlinien durch voraussichtlich weniger rentable Nebenstrecken zu erweitern, beförderte ein negatives Bild der Eisenbahngesellschaften in weiten Teilen der 662 Price: The French Second, S. 215. 663 Vander Wolk, William: Victor Hugo in Exile. From Historical Representations to Utopian Vistas. Lewisburg 2006, S. 111.

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Bevölkerung und führte zu Bestrebungen, die regionalen Monopole der »großen Sechs« zu zerschlagen. Kritiker unterstellten ihnen, zwar die Unterstützung des Staates zu genießen, aber nicht bereit zu sein, die erwartete Gegenleistung, zu erbringen. Besonders scharf wurde die Kritik an den Eisenbahnunternehmen von Akteuren formuliert, die im direkten Wettbewerb um staatliche Ressourcen das Nachsehen hatten. Exemplarisch sei hier auf die Binnenschifffahrt verwiesen. Diese in Frankreich traditionell stark vom Staat geförderte Branche hatte ihre Vorrangstellung in den 1850er Jahren eindeutig an die Eisenbahngesellschaften verloren und sah sich durch die wachsende Konkurrenz in ihrer Existenz bedroht.664 Kanalbetreiber kritisierten insbesondere die regionalen Monopole und staatlichen Zinsgarantien seit ihrer Einführung.665 Weitere Opposition gegen die Monopolstellung der großen Eisenbahnunternehmen bündelte sich in den regionalen Handelskammern, die sich als Repräsentanten des produzierenden Gewerbes verstanden und mit Petitionen und Gesandtschaften versuchten, auf die Regierung Druck auszuüben. Bezeichnenderweise richteten sich Beschwerden der Handelskammern fast ausschließlich an den Senat, in dem besonders viele einflussreiche und regimetreue Klienten des Kaisers saßen. Der gewählte Corps L¦gislatif spielte für die formale Interessenvertretung nahezu keine Rolle, da das Vertrauen in die Wirkungsmacht der repräsentativen Organe durch ihre Entmachtung nachhaltig beschädigt worden war.666 Pläne des Herausgebers des Moniteur Industriel, Pascal Bos Darnis, 1859 eine überregionale Interessenvertretung des produzierenden Gewerbes zu gründen, scheiterten am mangelnden Kooperationswillen der großen Handelskammern. Vordergründig hielt man den Einfluss der vorgeschlagenen Personen um den Senator Charles Dupin für nicht ausreichend, um effektiv auf die Entscheidungen der Ministerien einzuwirken. Tatsächlich dürften aber auch Erwägungen über den eigenen Machtverlust, der mit einer solchen übergeordneten Interessenvertretung zweifelsohne einher gegangen wäre, zu der ablehnenden Haltung der Handelskammern beigetragen haben.667 Baron Charles Dupin gehörte zu den profiliertesten Kritikern des Eisenbahnsystems unter Napoleon III. und griff die Monopolstellung der Gesellschaften bereits seit den späten 1850er Jahren scharf an. Bei genauerer Betrachtung erscheint jedoch auch Dupins Kritik in erster Linie durch eigene 664 Blanchard: The Railway Policy, S. 105. 665 Gaillard, Jeanne: Notes sur l’opposition au monopole des compagnies des chemins de fer entre 1850 et 1860. In: 1848. Revue des r¦volutions contemporaines (1950) 187. S. 233–249, S. 233. 666 Ebd., S. 247. 667 Ebd., S. 243.

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ökonomische Motive geleitet, da er selbst in diesem Zeitraum in Pläne involviert war, die Seine für die Schifffahrt weiter auszubauen und dafür auf staatliche Unterstützung hoffte.668 Nichtsdestotrotz hatte seine Stimme einiges Gewicht im Senat. Er bemängelte, dass die Eisenbahnkompanien bezüglich ihrer Tarifgestaltung vom Staat bevorzugt behandelt würden und das Gleichheitsgebot verletzt sei.669 Die Tarife waren ein wichtiger Teilaspekt der allgemeinen Monopoldebatten, da die staatlich sanktionierte Monopolstellung der Bahnen es den Eisenbahngesellschaften vermeintlich erlaubte, Konkurrenz vom Markt zu verdrängen, um anschließend ihre Tarife zu erhöhen.670 Die Tarife der Unternehmen wurden bei der Konzessionsvergabe in den Cahiers des Charges vorgeschrieben und Änderungen mussten durch die Ministerien bewilligt werden. Anscheinend war es jedoch gängige Praxis, dass die Minister die diesbezüglichen Vorschläge der Unternehmen ohne eingehende Prüfung akzeptierten.671 Die Frage angemessener Tarife wurde dadurch noch verschärft, dass Tarife ad valorem, also nach dem Wert und nicht nach dem Gewicht und Volumen der zu transportierenden Waren bemessen werden sollten. In der Praxis war es jedoch schwer, diesen Wert festzulegen, was wiederum Spielräume für die Begünstigung einzelner Unternehmen eröffnete.672 Daher schwang in all diesen Debatten zumindest unterschwellig auch ein Korruptionsvorwurf mit. Die Forderungen nach einheitlichen Tarifen kamen von regionalen Instanzen und von den abhängigen Produzenten. Besonders gehäuft traten sie 1843–44 nach der Eröffnung der großen Linien von Paris nach Orleans und von Paris nach Rouen auf, sowie 1849–50 nach den gescheiterten Verstaatlichungsplänen während der Zweiten Republik und in den späten 1850er Jahren, als die Zinsgarantien für Eisenbahngesellschaften beschlossen wurden.673 Die Debatten der späten 1850er Jahre fallen somit auch in die Periode, in der das Parlament sich wieder zu einem Forum kritischer Diskurse entwickelte. Seit 1857 war auch wieder eine kleine Gruppe republikanischer Abgeordneter im Parlament vertreten, deren Mitglieder Êmile Olivier, Jules Favre, Jacques-Louis H¦non, Ernest Picard und Louis Darimon als Les Cinq bekannt wurden.674 Ernest 668 669 670 671

Ebd., S. 237. Leclercq: Le r¦seau impossible, S. 124. Gaillard: Notes, S. 236. Campagnac, Elisabeth u. Graham Winch: The Social Regulation of Technical Expertise. The Corps and Profession in France and Great Britain. In: Governance at Work. The Social Regulation of Economic Relations. Hrsg. von Richard Whitley. Oxford 1997. S. 86–104, S. 95. 672 Caron: Histoire de l’exploitation, S. 126. 673 Leclercq, Yves: Le r¦seau impossible, S. 123. 674 Gildea, Robert: Children of the Revolution. The French 1799–1914. London 2009 (=The New Penguin History of France), S. 62.

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Picard galt als gemäßigter Republikaner und Fachmann für Wirtschaftsfragen im Corps L¦gislatif. Er kritisierte die Zinsgarantien für die Unternehmen 1859 mit der Begründung, dass sie ihnen einen Blankoscheck ausstellten und den Druck, wirtschaftlich zu arbeiten, minderten. Die Neuaushandlung der Konditionen der Konzessionen von 1859 wurde von der Öffentlichkeit besonders kritisch gesehen und häufig als Erpressung des Staates durch die privaten Unternehmen wahrgenommen.675 Zwar wurde im Parlament im Zuge des Gesetzes vom 11. 6. 1859 auch über mögliche Druckmittel des Staates gegenüber den großen Unternehmen debattiert, mit denen sicher gestellt werden sollte, dass die Nebenstrecken auch wirklich gebaut würden. Effektive Maßnahmen konnten jedoch aufgrund der Schwäche der Opposition nicht durchgesetzt werden.676 Die treibende Kraft hinter dieser Bevorzugung der Unternehmen vermutete Picard in der Selbstbereicherung einflussreicher Spekulanten, ohne jedoch konkrete Namen zu nennen.677 Er wiederholte seine Kritik auch anlässlich der Debatten von 1868.678

3.10. Zum Aufschwung politischer Korruptionskritik in den 1860er Jahren Ausgehend von der kleinen republikanischen Gruppe im Parlament wurden die in den 1850er Jahren noch weitestgehend auf ökonomische Kreise beschränkten Debatten in den 1860er Jahren verstärkt auch von politisch motivierten Akteuren aufgenommen. Diese Entwicklung war der Ausdruck eines »Neoliberalismus«, der sowohl in der Ökonomie wie auch in der Sozialpolitik in den 1860er Jahren in Frankreich Einzug hielt.679 Mit der Liberalisierung des Kaiserreiches in den 1860er Jahren boten sich folglich auch wieder Möglichkeiten, politisch motivierte Korruptionsvorwürfe öffentlichkeitswirksam zu artikulieren. Diese waren jedoch in ihrer Qualität und Quantität nicht mit den politischen Kampagnen der späten Julimonarchie vergleichbar und spielten allenfalls eine geringe Rolle für den Niedergang des Kaiserreiches, da sie nur selten systemkritischen Charakter entwickelten. Nach 1860 wurde auch die Opposition gegen die Monopole der Eisenbahn-

675 Kaufmann: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs, S. 110. 676 Ebd., S. 117. 677 Picard, Alfred: Les chemins de fer franÅais. Êtude historique sur la constitution et le r¦gime du r¦seau. Paris 1884 (Bd. 2), S. 296. 678 Ebd., S. 434. 679 Caron: Histoire de l’exploitation, S. 197.

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gesellschaften stärker in den generellen politischen Diskurs integriert und deren Zerschlagung gefordert.680 In den Kammern des Parlaments waren republikanische Oppositionelle auch weiterhin eine kleine Minderheit, die jedoch immer wieder das Wort in Debatten ergriff. Die republikanische Opposition der 1860er Jahre verwendete einen »revolutionären« Sprachgebrauch, in dem die staatlich sanktionierte Monopolstellung der Eisenbahngesellschaften als ein Missbrauch angeprangert wurde.681 Auch die frühsozialistisch geprägte Kapitalismuskritik erlebte einen erneuten Aufschwung. Ein Vertrauter Proudhons, Alfred de Janz¦, veröffentlichte 1864 mehrere Artikel in L’Epoque und griff dabei dessen Kritik an der F¦odalit¦ FinanciÀre auf.682 Am anderen Ende des politischen Spektrums war die Kritik an der Eisenbahnbranche vornehmlich aus einer grundsätzlichen Fortschrittsfeindlichkeit motiviert, die insbesondere bei ultrakonservativen Intellektuellen zunehmend verbreitet war. Für sie verkörperte die Eisenbahn sowohl physisch wie auch ideell wie kein anderer Bereich der Wirtschaft negative Entwicklungen der Moderne. Diese Einstellung stand im starken Gegensatz zur Technikbegeisterung weiter Teile der Bevölkerung, die sich in den umjubelten Weltausstellungen manifestierte.683 Die Industrialisierung wurde mit zunehmendem Materialismus in Verbindung gebracht, der einen Werteverfall auslöste und sich in der steigenden Aktienspekulation, politischer Korruption und der Kommerzialisierung von Kunst und Literatur zeigte.684 In Bezug auf Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik standen weiterhin die sechs großen Eisenbahnunternehmen in der Kritik, denen vorgeworfen wurde, ihr Monopol auszunutzen, um kleinere Unternehmen und lokale Interessensgruppen auch auf politischem Wege zu bekämpfen. Während der letzten Jahre des Kaiserreichs erstarkte die Bewegung, die eine Auflösung der Monopole forderte. Die Argumente der Gegner der Eisenbahngesellschaften wurden 1869 von Henri Germain, dem Gründer der Cr¦dit Lyonnais, im Parlament programmatisch präsentiert. Sie konnte sich jedoch politisch noch nicht durchsetzen. Der Minister für öffentliche Arbeiten, Auguste de TalhouÚt-Roy,

680 Gaillard: Notes, S. 244. 681 Girard: La politique, S. 386. 682 »Le r¦seau franÅais n’¦tait pas divis¦ entre six compagnies ind¦pendantes, mais aux mains d’une f¦odalit¦ financiÀre unique que le contrúle, purement formel de l’Êtat n’inqui¦tait guÀre et qui asservissait la presse.« Zitiert nach: Caron: Histoire des chemins, S. 441. 683 Swart, Koenraad: The Idea of Decadence in the Second Empire. In: The Review of Politics 23 (1961) H. 1. S. 77–92, S. 78. 684 Ebd., S. 86.

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weigerte sich ebenso wie sein Nachfolger Ignace Plichon, das Gleichgewicht innerhalb der Branche zu stören.685 Der deutsch-französische Krieg und die folgenden Wirtschaftsprobleme verschärften die Antipathien gegenüber den großen Unternehmen.686 Politische Umbruchsphasen bieten immer die Möglichkeit, mit dem alten System und seinen Profiteuren abzurechnen und so lief es auch in diesem Fall ab. Mit der Gründung der Dritten Republik wurde auch das politische Personal in weiten Teilen ausgetauscht und daher ist es kaum verwunderlich, dass zwischen 1869 und 1871 die Kritik an den Monopolen der Eisenbahnbranche besonders ausgeprägt war. In der Nationalversammlung von 1871 waren Advokaten einer Deregulierung des Eisenbahnmarktes und kleinerer Unternehmen relativ stark vertreten. Auch in den Ministerien hatten sie nun einflussreiche Fürsprecher. Der neue Minister für öffentliche Arbeiten, Roger de Larcy, unterstützte ihre Anliegen ebenso wie der neue Finanzminister, Auguste Pouyer-Quertier.687 Adolphe Thiers, der am 31. 3. 1871 der erste Staatspräsident der Dritten Republik wurde, suchte einen Mittelweg zwischen Etatismus und Liberalismus. Er blieb daher ein wichtiger und einflussreicher Verteidiger der großen Sechs sowie der Vereinbarungen von 1859 und setzte sich vorerst gegen seine Minister durch.688 Bereits wenige Jahre später hatte sich das politische Blatt wieder gewendet, als die desaströse Situation der von Philippart geleiteten Unternehmen verdeutlichte, dass die Nebenstrecken als eigenständige Unternehmen kaum wirtschaftlich betrieben werden konnten.689

3.11. Beschränkungen personalisierter Korruptionsvorwürfe während des Zweiten Kaiserreichs Persönliche Korruptionsvorwürfe konnten in der Frühphase des Zweiten Kaiserreichs nur unter erheblichen Risiken vorgebracht werden. Selbst Charles de Morny – der aus dem Profit, den er aus seinen Kontakten zu den Schaltstellen der politischen Macht zog, nun wahrlich keinen Hehl machte – blieb weitestgehend von Schlagzeilen in den Journalen verschont. Nur wenige politische Zeitungen wagten es, Morny offen zu kritisieren.690 Dabei kam ihm auch zugute, dass nach der Blockade der wirtschaftlichen Aktivitäten durch die Auseinandersetzungen 685 686 687 688 689

Caron: Histoire des chemins, S. 441. Picard: Les chemins. AperÅu, S. 315. Caron: Histoire des chemins, S. 442. Ebd. Mitchell, Allan: The Great Train Race. Railways and the Franco-German Rivalry. 1815–1914. New York [u. a.] 2000, S. 88. 690 Grothe: Der Herzog, S. 129.

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im Parlament während der Zweiten Republik viele Beobachter der Ansicht waren, dass sich durch die Beschränkung politischer Entscheidungsgewalt auf wenige Akteure schneller Entscheidungen treffen ließen und dadurch ein Investitionsklima erzeugt würde, das der Wirtschaft des ganzen Landes zugute kam. Auch Louis-Napol¦on teilte diese Meinung und sah das Parlament als eine Brutstätte für konkurrierende Interessengruppen, die politische Entscheidungen nur erschwerten.691 Vereinzelte Kampagnen oppositioneller Journale, wie die des Le Curieux, der behauptete, Morny habe sich seine Unterstützung der Chemin de Fer du Grand Central mit 30.000 Aktien — 500 Franc vergüten lassen, wurden in der Regel schnell unterdrückt und die betreffenden Kritiker mundtot gemacht.692 Der Polizeiminister Charlemagne-Êmile de Maupas, zu dessen Ressort auch die Pressezensur gehörte, berichtete in seinen Memoiren, wie er von einem Vertrauten Mornys aufgefordert wurde, gegen kritische Berichterstattung über Morny und andere gut vernetzte Spekulanten vorzugehen. Die Machtmittel des Staates wurden also nicht nur dazu eingesetzt, das Regime gegen Kritik zu schützen, sondern auch, um die Selbstbereicherung einzelner Akteure zu vertuschen.693 Konkurrenten im politischen System hielten es daher für erfolgversprechender, sich mit ihren Beschwerden direkt an den Kaiser persönlich zu wenden und auf dessen Intervention zu hoffen. Diese Vorstöße drangen in der Regel jedoch nicht an die Öffentlichkeit. 1855 schrieb der regimetreue Abgeordnete Louis Belmontet einen Brief an Napoleon III., in dem er sich beschwerte, dass er von einem vermeintlichen Mittelsmann Mornys erpresst worden sei. Belmontet hatte sich um eine Konzession für eine Nebenstrecke der Chemin de Fer du Grand Central beworben und der Mittelsmann Mornys drohte ihm nun mit der möglichen Verweigerung eben jener Konzession. Selbst in dem persönlichen Schreiben wagte es Belmontet, der immerhin ein langjähriger Gefolgsmann des Kaisers war, aber nicht, Morny direkt zu attackieren, sondern bezog sich lediglich auf dessen Mittelsmann. Die Anschuldigung richtete sich implizit aber klar gegen den Halbbruder des Kaisers.694 691 692 693 694

Tombs: France 1814–1914, S. 104. Carmona: Morny, S. 234. Maupas: M¦moires, S. 23. Brief von Luois Belmontet an Napoleon III. vom 14. 09. 1855. »Sire, c’est dans l’int¦rÞt mÞme de votre glorieux et pur rÀgne, que je suis oblig¦ de porter — la connaissance de Votre Majest¦ les symptúmes de corruption qui se produisent dans la r¦gion ¦lev¦e du pouvoir. On compromet des noms trÀs-honorables, et cela tous les jours, — propos de concessions que fait le gouvernement. Le projet de chemin de fer de Bourges — MontluÅon a donn¦ lieu — des propositions que j’ai d˜ rejeter ; un entrepreneur de travaux, qui se dit investi de la confiance de M. le comte de Morny et de M. Bartholony, directeur de la compagnie d’Orl¦ans, celui qui veut s’emparer de nos travaux, est venu chez moi, me menacer du rejet

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Konkurrenz und Monopol

Morny wurde auch in zahlreichen Autobiographien und Tagebüchern, die von Zeitzeugen des Zweiten Kaiserreichs erhalten geblieben sind, ausführlich behandelt. Aus vielen Einträgen spricht deutlich, dass seine Geschäftspraktiken allgemein bekannt waren. Alfred Darimon berichtete in seiner Beschreibung der berühmten republikanischen Oppositionsgruppe Les Cinq, der er auch selbst angehörte, über ein höchst kurioses Gespräch mit Morny. Im Vorfeld einer Parlamentsdebatte zum Bankrott der Chemin de Fer du Grand Central habe dieser gedroht, ihn verhaften zu lassen, sollte die Opposition versuchen, die Affäre zu einem Skandal aufzubauschen. Es seien ohnehin zu viele Parlamentarier in das Geschäft involviert gewesen, als dass ihr Ansinnen, den Bankrott zu politisieren, eine Chance hätte. Darimon berichtete weiter, dass Emile Olivier eigentlich die Grand Central mit in eine Debatte über Eisenbahnmonopole einbringen wollte, sich aber dazu entschloss, auf persönliche Angriffe zu verzichten.695 Der Schriftsteller Taxile Delord nannte die Chemin de Fer du Grand Central einen Schwindel (Tripotage) Mornys, der allein seinem Eigennutz gedient hatte und von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen war.696 All diesen Darstellungen und Berichten ist jedoch gemein, dass sie erst nach dem Ende des Zweiten Kaiserreiches publiziert wurden. Ein Indiz dafür, dass Mornys Geschäftspraktiken allgemein bekannt waren, bildet die Verwendung der Redewendung »Morny est dans l’affaire«, die zu einem geflügelten Wort in Paris wurde. Man verwendete es immer dann, wenn ausgedrückt werden sollte, dass ein bestimmtes Unternehmen über gute Beziehungen zu politischen Entscheidungsträgern verfügte und daher nicht mit bürokratischen und politischen Hürden zu rechnen war.697 In späteren Jahren wurde es schwieriger, Korruptionskritik zu unterdrücken. Jules Ferry, ein republikanischer Journalist und späterer Politiker, startete gegen Ende der 1860er Jahre in dem einflussreichen Journal Les Temps eine Kampagne gegen den Präfekten von Paris, Georges-EugÀne Haussmann, wegen vermeintlicher Korruption im Zusammenhang mit der Umgestaltung von Paris. Napoleon III. war schlussendlich aufgrund des öffentlichen Drucks gezwungen, ihm seine Unterstützung zu entziehen und Haussmann musste 1870 zurücktreten.698 Während der Dritten Republik wurde der Ton politischer Berichterstattung noch deutlich rauer. Wichtige literarische Werke, die das Bild des Zweiten

695 696 697 698

prochain de ma demande, et m’offrir de me faire obtenir la concession, que je n’aurais pas, malgr¦ l’Empereur lui-mÞme, qu’— la condition de m’engager — donner un million, valeur en actions, lequel million, a-t-il os¦ dire, est le prix de l’intervention en ma faveur des personnages nomm¦s.« In: Papiers et correspondance de la famille imp¦riale. 1872 (Bd. 2), S. 44. Darimon, Alfred: Histoire d’un parti. Les cinq sous l’Empire. Paris 1885, S. 261. Delord, Taxile: Histoire illustr¦e du Second Empire. Paris 1892–1895 (Bd. 3), S. 22. Moisan: Le Duc, S. 266. Jankowski: Shades of Indignation, S. 79.

Zwischenfazit

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Kaiserreichs sowie der führenden politischen und wirtschaftlichen Akteure für Jahrzehnte prägen sollten, entstanden erst während der Dritten Republik. Emile Zola porträtierte in seinem Romanzyklus über Rougent-Macquant die gehobene Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs in satirischer Weise und kritisierte die persönlichen Netzwerke der politischen Eliten.699 Dies musste auch Simon Philippart leidvoll feststellen. Ab 1875 begann eine Pressekampagne gegen ihn, die vornehmlich von den entmachteten Direktoren der Cr¦dit Mobilier getragen wurde und ihm den Missbrauch der Förderung von Nebenstrecken sowie unethische Geschäftspraktiken unterstellte. 1875 verklagte er den Redakteur des Bulletin Financiers wegen Verleumdung und lieferte sich mit ihm eine öffentliche Schlammschlacht in den Medien.700

Zwischenfazit In Großbritannien und Frankreich herrschten während der 1850er und 1860er Jahre äußerst divergierende politische Rahmenbedingungen. Während das politische System der Julimonarchie noch ausgeprägte Parallelen zum britischen Parlamentarismus aufweist, entfernte sich das Zweite Kaiserreich deutlich von diesem. Die wirtschaftliche Entwicklung der Eisenbahnbranche in beiden Ländern weist hingegen einige höchst interessante Übereinstimmungen auf. Die Fertigstellung der Rumpfstrecken und die folgenden Probleme beim Ausbau der regionalen Nebenstrecken verliefen ebenso nahezu kongruent wie die Monopolisierungstendenzen und damit einhergehenden unternehmerischen Herausforderungen. Dies hatte weitreichende Auswirkungen auf die Formen und Bewertung von Interessenpolitik. In Großbritannien entwickelten sich aus den intensiven Konkurrenzsituationen Monopolisierungstendenzen, die jedoch vom Staat und der Öffentlichkeit kritisch gesehen wurden. Um dieser Frontstellung gegen die Branche effektiver zu begegnen, formierte sich der Railway Interest erstmals in einem dauerhaft angelegten Interessenverband, der jedoch aufgrund der divergierenden Interessenlagen der einzelnen Unternehmen noch recht instabil blieb. Je nach Blickwinkel war der Railway Interest zu mächtig und stellte eine Bedrohung für die Souveränität des Staates dar, oder er war zu ineffektiv und entfaltete sein Potential aufgrund interner Zwiste nicht. Professionalisierung und Verbandsbildung in der Interessenvertretung fand in Frankreich nur eingeschränkt statt, denn dazu wäre es notwendig gewesen, ihre Existenz offiziell anzuerkennen und sie in das politische System zu integrieren. Da dies nicht geschah, fand Interessenvertretung nur im informellen 699 Plessis: The Rise, S. 27. 700 Caron: Histoire de l’exploitation, S. 203.

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Rahmen statt. Eine professionelle Interessenvertretung, wie sie in Großbritannien von Parliamentary Agents im Zusammenhang Private Bills praktiziert wurde, wäre nach dem französischen Politik- und Staatsverständnis unzulässig gewesen. Zwar beschäftigten natürlich auch französische Unternehmen Juristen, diese waren jedoch nicht in den Prozess der politischen Interessenvertretung eingebunden und wurden dementsprechend auch nicht in Korruptionsdebatten thematisiert. Während des Zweiten Kaiserreichs bestand ohnehin keine große Notwendigkeit für einen branchenweiten Interessenverband. Im Unterschied zu Großbritannien war die Zahl der einflussreichen Eisenbahngesellschaften überschaubar und Konflikte wurden im informellen Rahmen ausgetragen. Auch in Fragen nationaler Eisenbahnpolitik stimmten sich die großen Eisenbahnunternehmen hinter verschlossenen Türen ab und übermittelten ihre Ansichten direkt an die politischen Entscheidungsträger. Politischer Einfluss durch persönliche Beziehungen war hier die entscheidende Kapitalform. Der privilegierte Zugang weniger Eisenbahnunternehmer zu staatlichen Institutionen prägte das Verhältnis zu den kleineren Eisenbahngesellschaften, die Nebenstrecken betrieben und sich von der politischen Macht ausgeschlossen sahen. Eine bedeutende Interessengruppe, die sich in beiden Ländern häufig in Opposition zu den Eisenbahnunternehmen befand, waren Vertreter und Organisationen des produzierenden Gewerbes. Ihr Hauptanliegen war die Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen. Monopole führten nach Ansicht der Kritiker fast zwangsläufig zu Missbrauch. Dabei war es nicht grundsätzlich von Bedeutung, ob politische oder ökonomische Macht die Grundlage dieser Monopole bildete. Hier zeigt sich eine interessante Parallele zwischen der Agitation der Radicals gegen Old Corruption, die versuchten, mittels Korruptionskritik eine Öffnung der politischen Machtstrukturen zu erreichen, und den Kritikern der Eisenbahnindustrie, die darum bemüht waren, die ökonomischen Monopole der Unternehmen zu zerschlagen, um ihre Machtmissbräuche, zumeist in Gestalt hoher, dem öffentlichen Interesse zuwider laufender Fahrpreise, zu beenden. In Bezug auf politische Korruptionsdebatten waren die 1850er und 1860er Jahre des 19. Jahrhunderts in beiden Ländern vergleichsweise ruhige Jahrzehnte. Nach den Umwälzungen der späten 1840er Jahre bewegten sich sowohl Frankreich wie auch Großbritannien in politisch ruhigerem Fahrwasser. Dies hatte jedoch unterschiedliche Ursachen und lässt auch nur bedingt Rückschlüsse auf eventuelle Konjunkturen von Missbrauchspraktiken zu. In Großbritannien verloren die Reformbewegungen der 1830er und 1840er an Momentum und der liberale Staat bot nur wenig Angriffsfläche für Miss-

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brauchsvorwürfe.701 Viele ehemalige Radicals, die zwar weiterhin gegen »state parasitism« agitierten, waren zu der Überzeugung gelangt, dass sie ihre Ziele auch aus einer Regierungsbeteiligung heraus erreichen konnten und gaben ihre grundlegende Opposition auf.702 Dieser Eindruck wurde auch durch die Bereitschaft der Regierungen zu Zugeständnissen, insbesondere der liberalen Whigs um Lord John Russell und William Gladstone, gefördert. In Frankreich hingegen wurde politische Opposition zunächst unterdrückt und konnte sich erst ab den 1860er Jahren wieder freier artikulieren. Hinzu kam, dass die Monopole der Eisenbahnbranche durch den Staat gefördert wurden und Kritik daher nur zurückhaltend formuliert werden konnte.

701 Vgl. Matthew, Henry u. Colin Gray : Gladstone. Oxford 1986, S. 112–135. 702 Wirsching, Andreas: Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts. Göttingen [u. a.] 1990 (=Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 26), S. 269.

4.

Wirtschaft und Wahlen – Eine Bedrohung für das repräsentative System?

4.1. Wahlkorruption im 19. Jahrhundert Während des 19. Jahrhunderts war es nicht ungewöhnlich, dass erfolgreiche Geschäftsleute für einen Sitz im Parlament kandidierten. Eisenbahnunternehmer bildeten hier keine Ausnahme. Das 19. Jahrhundert war aber auch eine Hochzeit der Debatten über Wahlmanipulation und -korruption. Im Laufe ihrer politischen Karrieren mussten sich daher einige Eisenbahndirektoren des Vorwurfs erwehren, sie hätten ihre Wahl durch illegitime Praktiken beeinflusst. In Großbritannien sah sich Charles Russell – der Vorsitzende der Great Western Railway – während seiner Wahl 1842 in Reading ebenso mit diesem Vorwurf konfrontiert wie George Hudson 1845 in Sunderland und ein Jahrzehnt später Charles Edward Watkin nach seiner Kandidatur in Great Yarmouth. In Frankreich sorgten die Kandidaturen von Charles Laffitte 1844 sowie Issac Pereire 1863 für erhebliche Kontroversen. Die Wahlrechtsreform und Neustrukturierung der Wahlkreise von 1832 hatte nachhaltige Auswirkungen auf den Ablauf von Wahlen in Großbritannien. Counties und Boroughs wurden den durch die Industrialisierung drastisch veränderten Bevölkerungsstrukturen angepasst und das Wahlrecht signifikant erweitert.703 Einhergehend mit diesen Reformen wandelten sich auch die Praktiken der Wahlbeeinflussung. In den neu eingeteilten Wahlbezirken waren die etablierten Patronagestrukturen der Rotten Boroughs nicht mehr wirkmächtig und die weniger einkommensstarken Wählergruppen der Zeit nach 1832 standen in dem Ruf, besonders empfänglich für Wahlgeschenke zu sein. Wahlkämpfe wurden in diesen Bezirken daher häufig erbittert geführt. Wahlkorruption wurde in den Augen vieler zeitgenössischer Beobachter ein größeres Problem denn je zuvor und löste die »Old Corruption« als dominierenden Korruptions703 Phillips, John u. Charles Wetherell: The Great Reform Act of 1832 and the Political Modernization of England. In: The American Historical Review 100 (1995) H. 2. S. 411–436, S. 414.

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Wirtschaft und Wahlen

diskurs ab.704 Die Wahlkorruptionsdebatten dieser Zeit behandeln ein breites Spektrum verschiedener Praktiken, die nicht den Missbrauch eines öffentlichen Amtes, sondern den Missbrauch eines staatsbürgerlichen Privilegs zum privaten Vorteil sowohl des Wählers wie auch des Kandidaten zur Grundlage haben.705 Die Idee, dass Wähler frei und unabhängig in ihrer Entscheidung sein sollten ist ein fundamentaler Bestandteil der modernen Demokratie. Die Kriterien, die eine freie und unabhängige Wahl konstituierten, waren jedoch ebenso wie andere Normen historisch variabel und mussten im Rahmen gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse immer wieder aufs Neue angepasst werden.706 In Wahlkorruptionsdebatten wurden in erster Linie Fragen nach der Form und Ausgestaltung politischer Mitbestimmung und Repräsentation thematisiert. Ihnen lagen unterschiedliche Auffassungen über das Wesen politischer Partizipation in Großbritannien und Frankreich zugrunde. In Großbritannien nahm die Integration lokaler und partikularer Interessen sowohl für die Anhänger Edmund Burkes als auch der liberalen Doktrin einen zwar durchaus kontrovers diskutierten, aber dennoch unbestreitbar wichtigen Platz im repräsentativen System ein.707 In Frankreich dominierte die Rousseausche Staatstheorie den öffentlichen Diskurs, nach der partikulare Interessen als dem Gemeinwohl diametral entgegengesetzt angesehen wurden, das durch die Nation in ihrer Gesamtheit verkörpert wurde. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass die Summe verschiedener Interessen eben gerade nicht das Ganze verkörpert.708 Es kann und soll nicht Ziel dieser Studie sein, einen Vergleich der Theorien politischer Repräsentation in beiden Ländern zu erarbeiten. Es ist jedoch wichtig, sich dieser grundlegenden Unterschiede bewusst zu sein, um die Debatten über Wahlkorruption richtig einzuordnen und zu bewerten. Die Wahlkorruptionsdebatten im Zusammenhang mit Kandidaturen von Eisenbahndirektoren bilden einen Subdiskurs der allgemeinen Debatten und legten einen starken Fokus auf die Rolle der Wirtschaft in politischen Prozessen. Neben den unspezifischen Formen der Wahlmanipulation durch direkten Stimmenkauf und Einschüchterung ist im Zuge der Industrialisierung eine weitere, indirekte Form der Wahlbeeinflussung zu beobachten, die einen di704 Diese Lesart von besonders korruptionsanfälligen Wählern mit geringem Einkommen hat ihren Weg aus den Quellen bis in die Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts genommen. Burn, W. L.: Electoral Corruption in the Nineteenth Century. In: Parliamentary Affairs 4 (1950) H. 4. S. 437–442. S. 437. 705 Vgl. zur dominierenden Vorstellung des Wahlrechts als einem gesellschaftlichen Privileg im 19. Jahrhundert: Rödder : Die radikale Herausforderung, S. 305. 706 O’Gorman, Frank: Campaign Rituals and Ceremonies. The Social Meaning of Elections in England 1780–1860. In: Past & Present 135 (1992) 2. S. 79–115, S. 82. 707 Pitkin, Hanna Fenichel: The Concept of Representation. Berkeley, Calif 1967, S. 174, 191. 708 Brown: Pressure Politics, S. 702; Romanelli, Raffaele: How Did They Become Voters? The History of Franchise in Modern European Representation. Hague 1998, S. 9–10.

Praktiken der Wahlmanipulation in Großbritannien

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rekten Bezug zur Wirtschaft hatte. Es traten vermehrt industrielle Großunternehmer auf die politische Bühne, die spezifische Netzwerke und das ökonomische Kapital ihrer Unternehmen dazu nutzten, ihre Wahl in politische Ämter sicherzustellen. Auch diese Praktik wurde häufig kritisiert, freilich nicht immer unter der Bezeichnung Korruption.

4.2. Praktiken der Wahlmanipulation in Großbritannien Praktiken der Wahlmanipulation konnten diverse Formen annehmen. Am einen Ende des Spektrums finden sich kurzzeitige Beziehungen, die sich am besten unter dem Begriff »Stimmenkauf« subsumieren lassen. Diese Praktiken bestanden in der Regel aus einem direkten Austausch von Geld oder anderen beweglichen Gütern gegen eine Wählerstimme. Sogenanntes Treating, die kostenlose Verköstigung von Wählern – bevorzugt mit alkoholischen Getränken – gehörten in Großbritannien ebenso fest zum ritualisierten Wahlablauf, wie Scheinbeschäftigungen, zum Beispiel als Boten oder Wahlkampfhelfer. Am anderen Ende des Spektrums fanden sich langlebige Beziehungen mit komplexen Verflechtungen der Akteure. In diesen Fällen war der kausale Zusammenhang zwischen der abgegebenen Stimme und dem erhofften persönlichen Gewinn des Wählers weniger offensichtlich. Die verschiedenen Einflussmöglichkeiten konnten je nach Situation unterschiedlich miteinander kombiniert werden. Direkter Stimmenkauf war in einigen Wahlbezirken kein neues Phänomen der Zeit nach 1832, im Gegenteil. George Hudson war in jungen Jahren, noch bevor er zum Eisenbahnmagnaten aufstieg, in seiner Heimatstadt York in eine Bestechungsaffäre verwickelt, in deren Verlauf sich herausstellte, dass Stimmenkauf in York eine lange Tradition hatte, die bis weit vor die Wahlrechtsreform von 1832 zurückreichte, wobei sich über die Jahre sogar standardisierte Preise für Stimmen etabliert hatten.709 Die Vorgänge in York waren keinesfalls ungewöhnlich im England Mitte des 19. Jahrhunderts. Es handelte sich vielmehr nur um eine von dutzenden von Wahlbeanstandungen, mit denen sich das Parlament in der Zeit nach dem Reform Act von 1832 zu befassen hatte. Die standardisierten Preise für Wählerstimmen, die sich in einigen Wahlbezirken etabliert hatten, deuten auf eine Normenkonkurrenz zwischen den Offizialnormen, die direkten monetären Einfluss auf Wahlen untersagten, und inoffiziellen Normen, die handlungsleitend wirkten und die Annahme von »Polling Money« zumindest für den Empfänger der Bestechungsgelder legitimierten.710 Diese inoffiziellen Normen be709 Report from the Select Committee on the York City Election Bribery Petition. Parliamentary Papers. 1835, Bd. 10. S. 283. 710 O’Gorman: Campaign Rituals, S. 82.

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Wirtschaft und Wahlen

zogen ihre Legitimation zum einen aus einem subjektiven Gewohnheitsrecht der Wähler und zum anderen aus einem Verständnis politischer Repräsentation, welches das Stimmrecht als ein Privileg klassifizierte, das sich auch gegen materielle Güter veräußern ließ.711 Die starke Zunahme von Wahlbeanstandungen und spätestens die Kriminalisierung von Stimmenkauf durch den Corrupt Practices Act von 1854, führte jedoch dazu, dass diese Praktik zunehmend durch Entlohnung für Scheintätigkeiten verschleiert wurde.712 Eine weitere Methode, um Verbindungen zwischen Kandidaten und Stimmenkauf zu verdecken, stellte der Einsatz von unabhängigen Election Agents dar, die zumeist von den lokalen Parteien engagiert wurden und den Kandidaten ermöglichen sollten, im Falle von Wahlbeanstandungen glaubhaft ihre Unwissenheit zu versichern. Eisenbahndirektoren griffen auf direkten Stimmenkauf in der Regel dann zurück, wenn sie bereits über entsprechende Kontakte zu lokalen Agenten und Parteiorganisationen verfügten, oder ihnen keine anderen Möglichkeiten offen standen. Eine eben solche Situation findet sich im Fall von Charles Edward Watkin, der 1857 in Great Yarmouth kandidierte. Watkins wirtschaftlicher Einfluss war 1857 noch relativ überschaubar. Er war 1845 aus dem Baumwollgeschäft seines Vaters ausgestiegen und hatte einen Posten als Sekretär der Trent Valley Railway angenommen.713 Seit 1853 war er als General Manager der Manchester, Sheffield and Lincolnshire Railway beschäftigt und befand sich erst am Beginn seiner Karriere in der Eisenbahnbranche. Dementsprechend verfügte er auch noch nicht über ein ausgeprägtes Netzwerk wirtschaftlich einflussreicher Personen, dessen er sich bei seiner Kandidatur für das Parlament hätte bedienen können. Er hatte sich allerdings schon früh in seiner Jugend in der Anti-Corn-Law League engagiert, was auch zu einer ersten Kandidatur 1846 für das Parlament in Stafford führte, die er jedoch zurück ziehen musste, weil er die geforderten Vermögensqualifikationen nicht erfüllen konnte.714 Auch seine Kandidatur 1857 in Great Yarmouth wurde durch Richard Cobden, den Leiter der Anti-Corn-Law League, angebahnt, mit dem er gut bekannt war. Great Yarmouth war ein Borough mittlerer Größe und seine Wähler standen in dem Ruf, besonders empfänglich für Bestechung zu sein.715 In den 1850er und 711 King, John P.: Socio-Economic Development and the Incidence of English Corrupt Campaign Practices. In: Political Corruption. A Handbook. Hrsg. von Arnold J. Heidenheimer, Michael Johnston u. Victor T. Levine. New Brunswick, London 1989. S. 233–249. 712 Burn: Electoral Corruption, S. 441. 713 Watkin, Absalom: The Diaries of Absalom Watkin. A Manchester Man, 1787–1861. Strout 1993, S. 251. 714 Hodgkins, David: The Second Railway King. The Life and Times of Sir Edward Watkin, 1819–1901. Cardiff 2002, S. 164. 715 Burn: Electoral Corruption, S. 437.

Praktiken der Wahlmanipulation in Großbritannien

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1860er Jahren gab es kaum eine Wahl in Great Yarmouth, die nicht durch den unterlegenen Kandidaten wegen korrupter Praktiken angefochten wurde. Die Wahl von Edward Watkins 1857 bildet hier keine Ausnahme. Great Yarmouth verfügte über zwei Sitze im Parlament, von denen Watkin einen mit 590 Stimmen gewann. Sein liberaler Mitkandidat Torrens M’Cullagh erhielt mit 609 Stimmen den größten Anteil.716 Die Wahl wurde jedoch durch den unterlegen ToryKandidaten Sir Edward Lacon angefochten. Der eingesetzte Ausschuss tagte unter dem Vorsitz des Duke of Richmond im Juli 1857 und in der Folge wurde die Wahl wegen Bestechung durch Agenten für ungültig erklärt. Watkin und seinem Kollegen konnte jedoch keine Mitwisserschaft nachgewiesen werden. Das Ausmaß der Bestechungen bei der Wahl schien relativ gering gewesen zu sein – der Ausschuss konnte nur fünf Personen benennen, die gesichert Bestechungsgelder empfangen hatten – und die Untersuchung weckte zunächst nur geringe öffentliche Aufmerksamkeit. Dennoch sollte die Wahl von 1857 Watkin wiederholt im Verlauf seiner politischen Laufbahn beschäftigen. Die bisher aufgeführten Beispiele für direkten Stimmenkauf sind nicht spezifisch für Eisenbahndirektoren. Direkter Stimmenkauf war eine Praktik, die potentiell jeder Person offenstand. Für die Kandidatur von Charles Russell 1841 in Reading finden sich Berichte über verschiedene Praktiken Wahlbeeinflussung, die miteinander kombiniert wurden. Russell war bereits lange bevor er seinen Posten bei der Great Western Railway angetreten hatte eine prominente Figur in der Lokalpolitik des Ortes und hatte dort schon mehrere Unterhauswahlen gewonnen. Er konnte daher für seine Kandidatur von 1841 auf eine Kombination seiner politischen und ökonomischen Netzwerke setzen. 1842 wurde die Wahl von Russell und seinem konservativen Mitkandidaten Viscount Chelsea – Reading hatte ebenso wie Great Yarmouth zwei Sitze im House of Commons – zunächst wegen direktem Stimmenkauf angefochten. Die Vorwürfe wurden zusätzlich dadurch erschwert, dass Russel für seinen Wahlkampf die Ressourcen seines Eisenbahnunternehmens eingesetzt hatte. Die Bestechungsgelder stammten angeblich nicht aus Russels Privatvermögen, sondern aus den Mitteln der Great Western Railway. Die unterlegenen liberalen Kandidaten warfen Russel außerdem vor, er habe während seines Wahlkampfes Stellen in seinem Unternehmen als Gegenleistung für Stimmen angeboten.717 Charles Russell und der Sekretär der Eisenbahn Charles Saunders wurden von dem einberufenen Untersuchungsausschuss vernommen und bestritten die Vorwürfe, konnten aber keine Auskünfte über den Verbleib von rund 2000 Pfund 716 Daily News (25. 7. 1857), S.3. 717 The Times (30. 4. 1842), S. 6.

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machen, die von der Great Western Railway im Zuge des Wahlkampfes ausgegeben worden waren.718 Die Affäre kam zu einem aus heutiger Sicht ungewöhnlich anmutenden Ende, denn noch bevor die offizielle Untersuchung abgeschlossen war, zogen die liberalen Kandidaten ihre Wahlbeanstandung zurück. Da Fälle von Wahlkorruption nur dann verfolgt wurden, wenn der Gegenkandidat Einspruch einlegte, wurden die beiden konservativen Kandidaten umgehend für rechtmäßig gewählt erklärt.719

4.3. Indirekte Formen der Wahlmanipulation Es war ein offenes Geheimnis, dass Eisenbahnunternehmen ihren ökonomischen Einfluss in bestimmten Regionen dazu nutzten, um Druck auf die Wählerschaft auszuüben und eigenen Kandidaten zum Wahlsieg zu verhelfen. Dieses Phänomen verstärkte sich naturgemäß mit dem wirtschaftlichen Wachstum der Eisenbahnunternehmen. Die Railway Times stellte 1853 ganz unverblümt fest, dass viele Eisenbahndirektoren ihren Sitz im Parlament weniger ihrer persönlichen Vernetzung in ihrem Wahlkreis verdankten, als vielmehr der wirtschaftlichen Bedeutung ihres Unternehmens in der Region.720 Am eindrücklichsten trat der Einfluss der Eisenbahnunternehmen in Städten zutage, die erst mit dem Eisenbahnboom als eigenständige Siedlungen entstanden waren. Zu diesen sogenannten Railway Towns liegen für Großbritannien bereits einige umfangreiche historische Studien vor. Sie richten ihr Hauptinteresse vor allem auf die paternalistisch geprägten sozialen Strukturen der jungen Gemeinden, befassen sich aber auch mit der Frage, wie stark die Leitung der Unternehmen 718 Minutes of Proceedings of all Committees on Election Petitions, not already Presented to the House. Parliamentary Papers. 1842, Bd. 5. S. 121. 719 Der Rückzug der Beanstandung durch die liberalen Kandidaten führte zu einem ausgewachsenen politischen Skandal, der jedoch keinen Bezug zu Russells Position als Eisenbahndirektor hatte. Russell und sein konservativer Mitkandidat Lord Chelsea hatten eine inoffizielle Einigung mit den unterlegenen Kandidaten geschlossen, wonach Lord Chelsea seinen Sitz aufgeben sollte, um einem der liberalen Kandidaten eine Neuwahl zu ermöglichen. Sie taten dies, weil sie befürchteten, beide Sitze wegen Stimmenkaufs zu verlieren. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 63. Sp. 209–234, Sp. 211–212. ; Vgl. auch. Gash, Norman: Politics in the Age of Peel. A Study in the Technique of Parliamentary Representation; 1830–1850. Hassocks, Sussex 1977, S. 296–297. 720 »… it is not the proprietaries that remit candidates to the House of Commons; but there are few of our magnates therein who do not owe their seats more to their railway than their social or political influence. A promise to bring a new line to a borough, or carry a branch out of it, has been with not a few candidates a qualification more potent than any required by law or recognisable by the constitution; and therefore we do not deem ourselves arrogant in reminding directors in Parliament that they should not altogether disdain the ladder by which they climbed to senatorial honours.« In: Railway Times (23. 5. 1853), S. 432.

Indirekte Formen der Wahlmanipulation

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auf die politischen Wahlentscheidungen ihrer Angestellten einwirkten.721 In Crewe, wo sich die zentralen Werke der London and North Western Railway befanden, kontrollierte die Unternehmensleitung über einen Zeitraum von 40 Jahren fast das gesamte politische und gesellschaftliche Leben der Gemeinde.722 Die Patronagestrukturen von Railway Towns weisen in ihrer Funktionalität klare Parallelen zu Rotten Borroughs auf, allerdings mit dem Unterschied, dass die ökonomische Grundlage der Führungsposition von Eisenbahndirektoren nicht im Landbesitz, sondern in der Verfügungsgewalt über industrielle Produktionsmittel lag. Eine weitere Möglichkeit für Eisenbahndirektoren, auf Wahlen Einfluss zu nehmen, ergab sich in Ortschaften, die bislang noch nicht oder nur ungenügend an das Eisenbahnnetz angeschlossen waren. Ein gutes Beispiel für diese Form der Einflussnahme mittels ökonomischer Ressourcen im Wahlkampf ist die Wahl von George Hudson zum Abgeordneten von Sunderland 1845. Zehn Jahre nach seinen Erfahrungen mit dem Thema Wahlkorruption im Rahmen seiner Tätigkeit als Schatzmeister der Tories in York hatte sich Hudsons wirtschaftlicher und politischer Wirkungsbereich immens erweitert und er befand sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. In seiner Heimatstadt war er in die Riege der einflussreichsten Persönlichkeiten aufgestiegen und hatte in den 1830er Jahren zwei Amtsperioden als Bürgermeister absolviert. Sein Textilgeschäft hatte er zu diesem Zeitpunkt schon längst zugunsten anderer Geschäfte aufgegeben. 1833 war er Mitbegründer der York Union Banking Company, seit 1836 Chairman der von ihm angeregten York and North Midland Railway, die den Nukleus eines Eisenbahnimperiums bildete, das er bis 1845 Schritt für Schritt ausbaute und durch Nebenlinien erweiterte.723 Eine Kandidatur für einen Sitz im Parlament war daher ein logischer Schritt, um seinen politischen Einfluss und sein soziales Prestige zu steigern. Am aussichtsreichsten wäre für Hudson sicherlich eine Kandidatur in seiner Heimatstadt York gewesen, wo er seine gute soziale und politische Vernetzung hätte einsetzen können. Auch in Whitby, einem kleinen Küstenort in North Yorkshire, in dem Hudson über ausgedehnte Ländereien verfügte und einige Projekte zum Ausbau des Ortes als Seebad maßgeblich mitfinanziert hatte, hätte seine Kan-

721 Revill, George: Railway Paternalism and Corporate Culture. »Railway Derby« and the Formation of the ASRS. In: Workshops, Identity and Labour. Working Paper 3. Hrsg. vom Institute of Railway Studies. York 1998, S. 45; Hodgkins, David: Railway Influence in Parliamentary Elections at Grimsby. In: Journal of Transport History 22 (2002) H. 2. S. 159–177, S. 161–162. 722 Drummond, Diane K.: Crewe. The Society and Culture of a Railway Town, 1842–1914. Dissertation. London 1986, 287–289. 723 Bailey : George Hudson, S.15.

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didatur gute Erfolgschancen gehabt.724 Ein Untersuchungsausschuss zu Hudsons Geschäftspraktiken als Direktor der York and North Midland Railway kam 1849 zu dem Schluss, dass er unentgeltlich Aktien der Whitby Building Company an Direktoren des Unternehmens vergeben hatte, um seine Chancen für eine mögliche Kandidatur in Whitby zu erhöhen.725 Doch die Parlamentssitze in York und Whitby waren 1845 vergeben und die nächste allgemeine Wahl stand erst 1847 an. Daher war Hudson gezwungen, sich einen anderen Ort für seine Kandidatur zu suchen. Seine Wahl fiel auf Sunderland im Nordosten Englands, wo gerade ein Sitz vakant geworden war. Der scheidende Abgeordnete Lord Howick wurde nach dem Tod seines Vaters – des ehemaligen Premierministers Earl Grey – in das Oberhaus erhoben und eine Nachwahl angesetzt.726 Sunderland war im 18. Jahrhundert ein bedeutender Seehafen gewesen, hatte mit Beginn der Industrialisierung aber den wirtschaftlichen Anschluss verloren. Der Hafen war zu klein für die neuen dampfbetriebenen Schiffe und die Durham and Sunderland Railway, welche die ausgedehnten Kohlevorkommen auf der Südseite des Wear mit der Stadt verband, war auf technisch schlechtem Stand. Bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts hatten sich daher lokale Geschäftsleute darum bemüht, neue und leistungsfähigere Docks zu errichten. Das Projekt scheiterte jedoch aufgrund von Unterfinanzierung und Fehlplanungen. Als Konsequenz drohte der ganzen Region ein empfindlicher wirtschaftlicher Niedergang.727 Wie der Kontakt zwischen Hudson und den Tories von Sunderland zustande kam, lässt sich nur lückenhaft rekonstruieren. Die offizielle Version, die in den lokalen und überregionalen Zeitungen verbreitet wurde, berichtete von einer Gruppe konservativer Händler, die an Hudson herangetreten seien, nachdem klar geworden war, dass kein lokaler Kandidat gefunden werden konnte, der gewillt war, gegen den prominenten liberalen Kandidaten Colonel Perronet Thompson anzutreten. Um die Verhandlungen mit Hudson zu führen, wurde ein Wahlkomitee unter der Leitung von Richard Scrufield, einem bedeutenden Schiffseigner und Direktor der Durham and Sunderland Railway, eingerichtet, das ihm im Namen der Konservativen die Kandidatur antragen sollte.728 Hudson war aus der Sicht vieler lokaler Geschäftsleute ein idealer Kandidat, nicht nur wegen seiner konservativen politischen Einstellung. Man erwartete von ihm

724 Noch wenige Wochen vor seiner Kandidatur in Sunderland berichtete der Examiner, dass seine Kandidatur in Whitby so gut wie fest stünde. The Examiner, (19. 7. 1845), S. 457. 725 The Times, (5. 9. 1849), S. 8; Arnold, McCartney : George Hudson, S. 189. 726 The Times (21. 7. 1845), S. 5. 727 Arnold, McCartney : George Hudson, S. 135. 728 The Times (23. 7. 1845), S. 6.

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auch, dass er durch seine weitreichenden Verbindungen neue Investoren für die anstehenden Infrastrukturprojekte der Gemeinde anzulocken vermochte.729 Hudsons Gegenkandidat Perronet Thompson war ein prominenter Verfechter des Freihandels und eine Gallionsfigur der Chartisten-Bewegung, der im Wahlkampf voll auf die Unterstützung der Anti-Corn-Law League und ihrer berühmten Führungsfiguren John Bright und Richard Cobden setzen konnte.730 In der Frühphase des Wahlkampfes war mit William Bagshaw noch ein weiterer liberaler Kandidat im Rennen, der einen gemäßigten Liberalismus vertrat und von den lokalen Whigs favorisiert wurde, seine Kandidatur jedoch auf Druck der einflussreichen Anti-Corn-Law League zurückziehen musste.731 Wegen des hohen Bekanntheitsgrades der beiden Kandidaten berichteten auch die überregionalen Zeitungen intensiv über den Wahlkampf. Die Times stilisierte die Auseinandersetzung zwischen Hudson und der Anti-Corn-Law League zum exemplarischen Konflikt einer neuen Ära. »There is something of the marvellous about it. It is a fortuitous collision between the two great potentates of this our iron age. The king of railroads has inadvertently come across the League.«732 George Hudson wählte für seinen Wahlkampf eine zweigleisige Strategie. Zum einen sprach er die mehrheitlich konservativen Wähler durch sein entschiedenes Eintreten für den Protektionismus an. Zum anderen präsentierte er sich als überparteilich und ideologiefrei. Während seiner ersten Wahlkampfrede ließ er die Menge wissen: »It is because I have made a fortune, and I am independent, that I come here to ask for your suffrages to send me to Parliament.«733 Er wollte mit dieser Aussage seinen Pragmatismus und seine Unabhängigkeit von politischen Dogmen und Parteien demonstrieren. Bezüglich wirtschaftlicher Projekte in Sunderland hielt sich Hudson zunächst auffallend bedeckt. Die Mitglieder seines Wahlkampfkomitees waren jedoch weniger zurückhaltend in ihren Aussagen. Joseph Wright, Hudsons Wahlkampfleiter, sprach die Themen offen an, zu denen Hudson nur Andeutungen machen wollte.734 Er betonte Hudsons Fähigkeit, konkurrierende 729 The Times (28. 7. 1845), S. 3. 730 Johnson, Leonard George: General T. Perronet Thompson, 1783–1869. His Military, Literary, and Political Campaigns. London 1957, S. 252; Turner, Michael J.: The »Bonaparte of Free Trade« and the Anti-Corn Law League. In: Historical Journal 41 (1998) 4. S. 1011–1034, S. 1032. 731 The Times, (23. 7. 1845), S. 6; The Times (24. 7. 1845), S. 6; The Times (25. 7. 1845), S. 5; The Times (28. 7. 1845), S. 3. 732 The Times (15. 8. 1845), S. 5–6. 733 The Times, (30. 7. 1845), S. 3. 734 »While you have seen every place around you rising in the rapid march of commercial superiority, trading enterprise, and maritime extension, you have seen the port of Sunderland retrograding, her commerce diminished, her property deprecated, her trade taken

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Gruppen auch über Parteigrenzen hinweg unter dem Banner gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen zusammenzubringen. Dieser Ansicht waren auch einige lokale Whigs, die öffentlich ihre Unterstützung für Hudson proklamierten, wohl auch aus dem Gefühl heraus, dass die Anti-Corn-Law League ihnen die Kandidatur von Thompson aufgezwungen hatte.735 Hudsons Kombination aus Verankerung in der lokalen Tory-Partei und impliziten ökonomischen Wahlversprechen war äußerst erfolgreich. Am Wahltag erhielt er 626 Wählerstimmen und gewann mit einem komfortablen Vorsprung von 128 Stimmen. Anschuldigungen wegen versuchten Stimmenkaufs im Zusammenhang mit der Wahl waren rar. Thompson behauptete zwar, einige »railway speculators« hätten versucht, seine Unterstützer durch Geldzahlungen dazu zu bewegen, der Wahl fernzubleiben, konnte seine Vorwürfe jedoch nicht untermauern.736 Dass Hudson bei seiner Kandidatur in Sunderland nicht auch auf direkte Bestechung zurückgriff, verwundert kaum. Direkte Bestechungen waren leichter nachzuweisen, als impliziete Wahlversprechen und seine Erfahrungen während der Wahlen in York hatten ihn möglicherweise für die Gefahren dieses Vorgehens sensibilisiert. Durch die hohe öffentliche Aufmerksamkeit, die die Wahl in Sunderland erfuhr, wären direkte Einflussnahmen nur schwer zu verbergen gewesen. Dass er persönlich die Bestechung von Wählern als kaum moralisch verwerflich und allenfalls als Kavaliersdelikt ansah, ließ er während der Debatte zum Borough Elections Bill im House of Commons 1848 deutlich erkennen.737 Es gab jedoch auch andere Faktoren als die Gefahr der Enthüllung, die direkten Stimmenkauf in Sunderland unattraktiv erscheinen ließen. Zunächst einmal war Sunderland ein relativ großer Wahlbezirk mit mehr als 60.000 Einwohnern und über 1000 registrierten Wählern. Direkter Stimmenkauf wäre daher äußerst kostspielig gewesen. Lord Howick, Hudsons Vorgänger in Sunderland, war sehr überrascht, als er feststellte, dass sein Wahlkomitee mehr als 5000 Pfund während seiner Kampagne von 1841 ausgegeben hatte. Howicks Anwalt Joseph Parkes kam

away to other places, the coals which legitimately belong to her as a port of shipment abstracted (loud cheers), … . Then, if that be the case, and I assert it is, select that person to represent you who is most likely to change this aspect of affairs, and procure for you those local improvements for the want of which you have so long and so grievously suffered. I can, therefore, say that if you look from one end of the kingdom to the other, and act upon that principle, there is no such man that possesses in so eminent a degree the weighty influence and so mighty power requisite to effect those improvements, as the worthy gentleman whom I have now the honour of introducing to your notice.« In: The Times (30. 7. 1845), S. 3. 735 The Examiner (26. 7. 1845), S. 500. 736 The Times (15. 8. 1845), S. 6. 737 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 99. Sp. 691–713, Sp. 706.

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nach eingehender Untersuchung der Unterlagen zu dem Schluss, dass ein Großteil des Geldes ohne Howicks Kenntnis für Stimmenkauf verwendet worden war.738 Am schwerwiegendsten war aber die Tatsache, dass Hudson gar nicht zu diesen illegitimen Methoden greifen musste, um seine Wahl sicherzustellen. Thompson hatte viele Whigs verärgert, die eine Kandidatur von William Bagshaw favorisiert hatten und auf deren Unterstützung er trotz seiner Verbindung mit der Anti-Corn-Law League angewiesen gewesen wäre. Bagshaw war ein bekannter Geschäftsmann mit weitreichenden Verbindungen im Schiffsverkehr und der Eisenbahnindustrie. In gewisser Weise war er das liberale Spiegelbild Hudsons und viele Whigs wandten sich daher nach seinem Rückzug dem konservativen Kandidaten zu. Die Aufhebung der von Hudson so vehement verteidigten Schutzzölle war das erklärte Ziel der Anti-Corn-Law League. Protektionismus wurde durch diese klare Positionierung der beiden Kandidaten zum einzigen im engeren Sinne politischen Thema des Wahlkampfes in Sunderland und wirkte sich günstig für Hudson aus. Die Händler und Geschäftsleute der Region waren abhängig vom Seehandel und fürchteten, der Fall der Schutzzölle für Getreide würde unweigerlich auch zur Abschaffung ihrer handelseigenen Schutzbestimmungen, der Navigation Laws, führen.739 George Hudson hatte im Unterschied zu Sibthorp seinen Wahlkampf auf regionale Interessen abgestellt und sicherte sich damit den Rückhalt vieler Unternehmer, auch über die Parteigrenzen hinweg.740 Es gelang ihm dadurch, die Vertreter der Anti-Corn-Law League als Eindringlinge darzustellen, die keinen direkten Bezug zum Wahlkreis und den Interessen der Wähler hätten. Die Tatsache, dass er selbst nicht aus Sunderland stammte, wurde durch sein Wahlkomitee aufgewogen, das ausschließlich aus lokalen Geschäftsleuten bestand. Er wurde nicht müde, zu betonen, dass er nur dazu bereit gewesen sei, in Sunderland zu kandidieren, weil er von örtlichen Konservativen dazu eingeladen worden sei.741 In Konsequenz erlitt die Anti-Corn-Law League – obwohl sie auf nationaler Ebene eine hohe Popularität erlangt hatte und nur ein Jahr später ihr Ziel, die Getreidezölle abzuschaffen, erreichen sollte – aufgrund der speziellen Bedingungen in Sunderland eine schwere Niederlage. Die Struktur von Hudsons Netzwerk in Sunderland war wirtschaftlich geprägt und daher offen genug, um Personen ungeachtet ihrer politischen Zugehörigkeit einzubinden. Seinen Kern bildeten die persönlichen Verbindungen 738 McCord, N. u. P. A. Wood: The Sunderland Election of 1845. In: Durham University Journal 21 (1959) 1. S. 11–21, S. 13. 739 Lambert: The Railway King. S. 212. 740 The Times (28. 7. 1845), S. 3. 741 The Times (24. 10. 1845), S. 9.

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zwischen Hudson und der konservativen Partei in Sunderland. Dieses Netzwerk erweiterte sich schnell zu einem unpersönlichen Konstrukt, dessen Zugehörigkeit hauptsächlich durch Aktienbesitz und die Aussicht auf Arbeitsplätze bestimmt wurde. Traditionelle Patronagemechanismen wie Freundschaft und Gabentausch wurden durch ein abstraktes Netzwerk abgelöst, das Exklusionseffekte minimierte, um so viele Wähler wie möglich einzubinden. Dies setzt die Wahl von George Hudson 1845 in Sunderland in klaren Kontrast zu Rotten Boroughs und Railway Towns, in denen Patronagemechanismen zum Einsatz kamen, um eine vergleichsweise kleine Wählerschaft durch persönliche Abhängigkeit eines Klienten von seinem Patron zu kontrollieren. Hudsons Netzwerk hing stark von den implizieten wirtschaftlichen Erwartungen der Wähler ab. Um sich die Möglichkeit auf eine Wiederwahl zu sichern, musste Hudson die an ihn gerichteten Erwartungen allerdings auch erfüllen. Schon kurz nach der Wahl ergriff er erste Maßnahmen, um die Wirtschaft seines Wahlkreises anzukurbeln. Noch im gleichen Jahr wurde er zum Vorsitzenden des Direktoriums der chronisch unterfinanzierten Sunderland Dock Company gewählt und kaufte in großem Maßstab Aktienpakete des Unternehmens auf. Hudson bezahlte die Aktienpakete allerdings nicht aus seinem Privatvermögen, sondern verwendete das Geld der ebenfalls von ihm geleiteten York, Newcastle and Berwick Railway. Er tat dies ungeachtet der Tatsache, dass die Docks keine besondere strategische Bedeutung für die Eisenbahngesellschaft besaßen. Wenig später verkaufte er sogar von ihm privat gehaltene Anteile an sein eigenes Unternehmen, ein Vorgang, der nach dem Company Consolidation Act von 1845 verboten war. Er benutzte seine Eisenbahngesellschaften, um in Sunderland zu investieren, ohne dabei ein persönliches finanzielles Risiko einzugehen.742 Im Herbst des gleichen Jahres kamen Gerüchte auf, Hudson habe über seine Unternehmen große Anteile der Durham and Sunderland Railway zu einem Preis gekauft, der weit über dem aktuellen Handelswert lag. Er ermöglichte es damit lokalen Geschäftsleuten, sich mit beachtlichen Gewinnen aus dem Unternehmen zurückzuziehen.743 Die neuen Docks wurden 1850 eröffnet und waren zumindest zu Beginn ein finanzieller Erfolg. Die Gerüchte über Hudsons Geschäftspraktiken sorgten zunächst für kein weiteres Aufsehen. Erst 1849 wurden sie konkretisiert, als in mehreren von ihm geleiteten Unternehmen Untersuchungsverfahren wegen Unregelmäßigkeiten in den Geschäftsbilanzen eingeleitet wurden. Sie brachten ein weit verzweigtes System von Insiderhandel und geschönten Bilanzen zutage, das zum finanziellen Ruin und sozialen Absturz des ehemals gefeierten »Railway King« führte. Sunderland war einer der wenigen Orte, in denen Hudson auch 742 Arnold, McCartney : George Hudson, S. 191. 743 Lambert: George Hudson, S. 157.

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nach den Skandalen noch über öffentliches Ansehen verfügte, und seine anhaltende Popularität sicherte ihm mehrere Wiederwahlen bis 1859.

4.4. Debatten über Wahlmanipulation in Großbritannien Obwohl die Wahlrechtsreform von 1832 viele Missstände behob, beendete sie die Debatten über illegitime Einflussnahme auf Wählerverhalten keineswegs. Sie bewirkte jedoch eine deutliche Verschiebung der Stoßrichtung der Kritik. Alte Patronagesysteme wurden zumindest zum Teil aufgelöst, wodurch neue Konkurrenzsituationen entstanden, was wiederum Anlass für neue Konflikte und Korruptionsdebatten bot. Standen vor dem Reform Act vor allem die auf persönlichen Abhängigkeiten basierenden Patronagepraktiken der so genannten Rotten und Pocket Boroughs im Zentrum der Kritik, rückten nach 1832 zunehmend ökonomische Transaktionen in Form von direktem oder indirektem Stimmenkauf in den Vordergrund.744 Im Unterschied zu den Angriffen gegen Rotten Boroughs, die in der Regel Wahlbeeinflussung durch sozioökonomische Abhängigkeitsverhältnisse ins Visier nahmen, befassten sich diese Kampagnen zumeist mit der Frage, inwieweit ökonomisches Kapital eine Rolle im Prozess politischer Repräsentation spielen durfte. Korruptionsdebatten konnten auf verschiedenen Wegen angestoßen werden. Der übliche Weg, die Wahl eines Kandidaten anzufechten, verlief über formale Wahlbeanstandungen.745 Dieses Mittel stand allerdings nur Wählern des jeweiligen Wahlkreises und den Kandidaten offen. Eine Alternative war der direkte Weg in die Öffentlichkeit, um eine breitere Debatte zu provozieren. Hierfür waren gute Kontakte zur Presse notwendig. Bezüglich der Erfolgsaussichten von Wahlkorruptionskampagnen ergibt sich ein differenziertes Bild. Direkter Stimmenkauf war ein klarer Normverstoß, der sich in der Regel nicht effektiv legitimieren ließ. George Hudson bezog während einer Rede im Parlament zwar den Standpunkt, dass viele Wähler Entlohnungen für ihre Stimmabgabe geradezu als ein Gewohnheitsrecht betrachteten.746 Dieses Argument konnte aber, wenn überhaupt, nur für das Verhalten der bestochenen 744 Engels: Politische Korruption, S. 329. 745 Salmon, Philip: Electoral Reform at Work. Local Politics and National Parties, 1832–1841. Woodbridge, Suffolk 2002 (=Studies in History / Royal Historical Society N.S., 27), S. 30. 746 »The fact was, that an attempt was made to get up a case against the poor freemen. It was true that, for a length of time, these poor people might have been receiving small sums from the Members. Perhaps 200 or 300 persons might be found in a constituency of 4,000 or 5,000, who had received what some people called a »bribe«; but the same thing was done by both parties, and the recipients of these sums did not look upon them as bribes.« In: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 99. Sp. 691–713. Sp. 706.

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Wähler legitimierend wirken, nicht aber für das der korrumpierenden Kandidaten. Diese versuchten ihr Verhalten mit dem Hinweis zu rechtfertigen, dass die Gegenseite zuerst mit dem Stimmenkauf begonnen habe und eine Weigerung, selbst auf diese Methode der Wahlmanipulation zurückzugreifen, eine sichere Niederlage bedeutet hätte.747 Darüber hinaus blieb Kandidaten nur Abstreiten als mögliche Reaktion auf Korruptionsvorwürfe. Gelang es nicht, die Vorwürfe zu entkräften, konnte dies für die Betroffenen einen gravierenden Ansehensverlust bedeuten, der ihre Karrieren nachhaltig beeinflusste. Um dies zu veranschaulichen, bietet sich die Affäre rund um die Wahl von Charles Edward Watkin von Great Yarmouth 1857 an. 1866 führten die 1852 gegründeten Election Commissioners eine groß angelegte Untersuchung über Wahlkorruption während der allgemeinen Wahlen von 1865 durch. Watkin kandidierte zwar selbst nicht mehr für den Wahlkreis von Great Yarmouth, war aber eng in die Auswahl der liberalen Kandidaten Alexander Brogden und Philip Vanderbyl involviert. Für die Konservativen trat erneut Sir Edward Lacon an. Sein Mitkandidat war dieses Mal James Goodson, ein Vorgänger von Watkin als Chairman der Great Eastern Railway.748 Die Commissioners tagten 34 Tage lang und vernahmen über 600 Zeugen. Im Zuge der Untersuchungen geriet auch die Wahl von 1857 wieder in den Fokus. Watkin wurde abermals befragt und gab diesmal bereitwillig Auskunft. Nach eigenen Angaben hatte er vor der Wahl rund 830 Pfund an einen inoffiziellen Schatzmeister gezahlt, ohne sich des Verwendungszwecks dieser Gelder bewusst gewesen zu sein. Erst nachdem er eine detaillierte Rechnung erhalten hatte, war ihm klar geworden, dass ein Großteil der Gelder zur Bestechung von Wählern verwendet worden war.749 Das Ergebnis der Untersuchung wurde auch im Parlament zum Gegenstand hitziger Debatten. Der Abgeordnete für das mit Great Yarmouth benachbarte West Norfolk, Sir William Bagge, stellte den Antrag, Abgeordnete, die in der Vergangenheit der Wahlkorruption für schuldig befunden worden waren, von der Mitarbeit in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auszuschließen. Er nannte unter anderen Edward Watkin und Philip Vanderbyl, der inzwischen als Abgeordneter für Bridgewater im Parlament saß.750 Watkin bezog in einer Rede im Parlament Stellung zu den Vorwürfen und verlas einen Brief, den er am Vortag an den Lordkanzler geschrieben hatte. Darin 747 Rix, Kathryn: »The Elimination of Corrupt Practices in British Elections«? Reassessing the Impact of the 1883 Corrupt Practices Act. In: The English Historical Review 123 (2008) 500. S. 65–97, S. 72. 748 Report of the Commissioners Appointed to Inquire into the Existence of Corrupt Practices at Elections for Members to Serve in Parliament for the Borough of Great Yarmouth. Parliamentary Papers . 1867, Bd. 30. S. 4. 749 Ebd., S. 11. 750 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 186. Sp. 126–128, Sp. 126.

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bestritt er erneut jegliche Mitwisserschaft an den Vorgängen in Great Yarmouth und bot an, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe durch einen weiteren Untersuchungsausschuss klären zu lassen.751 Auch in privaten Korrespondenzen versicherte er standhaft, niemals Stimmenkauf in Auftrag gegeben zu haben.752 Watkin war sichtlich darum bemüht, dieses Stigma aus der Welt zu schaffen, das ihn nun schon seit einigen Jahren begleitete. Die Hintergründe für die Angriffe durch William Bagge vermutete Watkin in dem grundsätzlichen gesellschaftlichen Konflikt zwischen den etablierten politischen Eliten und dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum, das von der politischen Partizipation ferngehalten werden sollte.753 Auch in den Folgejahren holte die Affäre Edward Watkin immer wieder ein. 1873 kandidierte er erneut für einen Sitz im Parlament; diesmal in Exeter im äußersten Südwesten Englands. Die Wahl war hart umkämpft und die Tories von Exeter verwiesen auf die Begleitumstände der Wahl von 1857, um Watkin zu diskreditieren.754 Watkin verlor die Wahl und fand erst im Folgejahr mit Hythe einen Wahlkreis, der im Herzland der South Eastern Railway lag, und dessen Interessen er bis 1895 im Parlament vertrat. In Großbritannien wurde Wahlkorruption durch Stimmenkauf nach 1832 zunehmend als endemisch im politischen System wahrgenommen. Dies löste einen Reformprozess aus, der sich in mehreren Gesetzesnovellen niederschlug. Erste Bemühungen in den 1830er Jahren scheiterten. Sie zeigen jedoch, dass die Wahrnehmung eines Missstandes deutlicher wurde. Dennoch dauerte es noch bis in die 1850er Jahre, ehe konkrete Maßnahmen um Wahlkorruption einzudämmen, eingeleitet wurden. Der Corrupt Practices Act von 1854 erklärte erstmals Stimmenkauf und Treating für illegal. Kandidaten konnten jedoch wegen der eingesetzten Agenten nur selten zur Rechenschaft gezogen werden.755 Mit dem Parliamentary Elections Act von 1868 wurde dem Parlament die Zuständigkeit bei Wahlbeanstandungen entzogen und regulären Gerichten übertragen.756 1867 mit dem zweiten Reform Act wurde die Wählerschaft erneut ausgeweitet. Neben dem Hauptziel einer ausgeglichenen Distribution politischer Partizipation, versprach man sich von der Reformgesetzgebung auch den positiven Effekt, die Wählerschaft vor Einschüchterungsversuchen zu schützen und eine Stimmabgabe ohne Zwänge zu gewährleisten.757 Stimmenkauf und 751 Ebd., S. 127–128. 752 Schreiben von Charles Edward Watkin an William Ewart Gladstone 20. 3. 1867. BL Add. Mss. 44337. 753 Greaves: Sir Edward Watkin, S. 200. 754 Railway Times (22. 11. 1873), S. 1174. 755 Burn: Electoral Corruption, S. 441. 756 Watt, Bob: UK Election Law. A Critical Examination. London 2006, S. 5. 757 Seymour, Charles: Electoral Reform in England and Wales. The Development and Ope-

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Einschüchterung von Wählern war auch eines der Hauptargumente für die geheime Stimmabgabe, die 1872 nach ausgedehnten Debatten eingeführt wurde.758 Der Corrupt Practices Act von 1883 wird in der Forschung als ein entscheidender Meilenstein auf dem Weg zur Demokratisierung des britischen Wahlsystems angesehen.759 Er erhöhte nicht nur die Strafen für Stimmkauf und Treating, sondern setzte enge Grenzen in der Anzahl der erlaubten Beschäftigten während Wahlkampagnen und deckelte die Wahlkampfbudgets.760 Indirekte Formen der Wahlmanipulation waren während der Untersuchungsperiode sicherlich nicht weniger verbreitet als direkter Stimmenkauf, ihre Bewertung fiel aber ambivalenter aus und führte in der Regel nicht zu Wahlbeanstandungen oder gar zur Aberkennung eines Wahlsieges. In den 1860er Jahren kam zunehmend Kritik am Einfluss der Eisenbahnunternehmen auf die Wahlentscheidungen ihrer Angestellten auf. Während der Wahl in Crewe 1868 weigerte sich Richard Moon, der einflussreiche Vorsitzende der London and North Western Railway, seinen Mitarbeitern ihre Wahlfreiheit öffentlich zuzusichern. Er tat dies mit dem Argument, dass sein Unternehmen bislang niemals Einfluss auf das Abstimmungsverhalten seiner Angestellten ausgeübt habe und eine solche Zusicherung daher überhaupt nicht notwendig sei.761 Dennoch wurde diese moderne Form der Patronage lange Zeit nicht grundsätzlich in Frage gestellt und führte erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu offenen Konflikten. Der Niedergang der Railway Towns als weitestgehend in sich geschlossene sozioökonomische und politische Räume setzte erst mit der Einführung der geheimen Stimmabgabe 1872 ein und wurde durch den Aufstieg der Gewerkschaftsbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts besiegelt. In Crewe führten zwischen 1885 und 1890 Einschüchterungsversuche durch die Unternehmensleitung der London and North Western Railway zu einem öffentlichen Skandal und brachen ihre politische Vormachtstellung in der Gemeinde.762 Der Einsatz von Ressourcen der Eisenbahnunternehmen für Wahlkämpfe wurde gelegentlich als zweckentfremdete Verwendung kritisiert. Die Railway

758 759 760 761 762

ration of the Parliamentary Franchise 1832–1885. Newton Abbot 1970. Erstmals 1915. S. 386. Burn: Electoral Corruption, S. 440. Seymour : Electoral Reform, S. 455; O’Leary : The Elimination, S. 233. Rix: The Elimination, S. 65. Report from the Select Committee on Parliamentary and Municipal Elections. Parliamentary Papers. 1868–1869, Bd. 8. S. 367. Drummond, Diane K.: Crewe. The Society and Culture of a Railway Town, 1842–1914. Dissertation. London 1986, S. 288.

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Times bemängelte 1865 den Einsatz von Angestellten der Great Eastern Railway für den Wahlkampf in Harwich.763 In Sunderland wurde die Legitimität der von Hudson gewählten Wahlkampfstrategie bereits während des Wahlkampfes in Frage gestellt. Der Wahlkampf war von Polemik und politischer Rhetorik geprägt. Thompson und seine Anhänger bezichtigten Hudson, ein Eisenbahnspekulant zu sein, der versuche, sich Stimmen durch versprochene Investitionen im Wahlkreis zu erkaufen. Richard Cobden stellte dieses vermeintliche Ansinnen als lächerlich und aussichtslos dar : »There was never such an exhibition in the whole world! The idea of a man coming among a population of nearly 60,000, and offering to bribe the whole borough by pledging himself to make such a dock or such a railway ;- the idea itself was certainly a clumsy one.«764 Private Äußerungen Cobdens belegen jedoch recht eindrücklich, dass auch diese Äußerung im Wesentlichen als Wahlkampfrhetorik zu bewerten ist. In einem Brief an George Wilson, den Geschäftsführer der Anti-Corn-Law League, kam er folglich zu einer gänzlich anderen Einschätzung: »He [Hudson] would go into the contest with an intangible bribe for every class – The capitalists would hope for premiums – The smaller fry would look for situations for their sons in the vast railway undertakings over which he rules absolutely, & the iron, rope, coal and timber merchants will all bid for his patronage. His undetectable powers of corruption at this moment are greater than the prime minister’s. I would rather face any man than Hudson in a contest for Sunderland.«765 Cobden beließ es jedoch nicht bei vagen Korruptionsvorwürfen, sondern hinterfragte Hudsons Motivation und entlarvte wirtschaftliche Eigeninteressen als eigentlichen Antrieb seiner Kandidatur. Er riet ihm, besser in der »Lobby« zu bleiben, um seine Interessen zu vertreten, denn er habe nicht das Format, um im Parlament zu bestehen, und mache sich nur lächerlich, wenn er versuchen würde, Gesetze aus Privatinteresse zu propagieren.766 Der liberale Morning Chronicle stellte die Wahl von Sunderland in einen größeren Zusammenhang und beschwor die Gefahr von neuen Rotten Boroughs unter geänderten Vorzeichen. Diesmal seien es nicht mehr Adelige, sondern Industrielle, die Wahlkreise durch Patronage beherrschten. Die Wählerschaft vernachlässige ihre Pflicht gegenüber dem Staat und dem Gemeinwohl, wenn sie ihren Kandidaten aus rein wirtschaftlichen Erwägungen auswähle. Diesem 763 »It is difficult to estimate in money the loss which must take place when an organisation, planned with a view to commercial results, is applied to political uses.«In: Railway Times (22. 7. 1865), S. 954. 764 The Morning Chronicle (13. 8. 1845), S. 6. 765 Brief von Richard Cobden an George Wilson vom 24. 7. 1845. Zitiert nach: McCord, Wood: The Sunderland Election. S. 14. 766 The Morning Chronicle (13. 8. 1845), S. 6.

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Missbrauch müsse entweder durch das Gesetz oder durch Druck der Öffentlichkeit Einhalt geboten werden.767 Es lassen sich jedoch auch relativierende Deutungen belegen, die zeigen, dass es in diesem Fall auch öffentlich vertretbare Rechtfertigungsmuster gab. Der Kommentator der Times unterstützte Hudson und seine Kandidatur unter Verweis auf seine Verdienste für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Dass er dabei auch seine eigenen Interessen verfolgte, erschien ihm nur legitim: »The railway Lord promises great things he will do, and which he undoubtedly intends to do, for his own sake as well as for Sunderland. Like any other genie, he does but follow his great instinct. It is no bribery, but only a natural exhibition of his mighty and benevolent attributes.«768 George Hudson selbst reagierte gelassen auf die gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen. Er räumte ein, in Eisenbahnen spekuliert zu haben, betonte aber, niemals an einem unseriösen Geschäftsplan beteiligt gewesen zu sein. Dem Vorwurf, er sei ein Protektionist, stimmte er von ganzem Herzen zu. George Hudson war kein Mann mit starren politischen Ansichten, aber er stammte aus einer Farmerfamilie und war von der Notwendigkeit von Schutzzöllen überzeugt. Diese Überzeugung führte ihn 1846, als sich die Konservativen über die Frage der Schutzzölle spalteten, in die Opposition unter der Führung von Lord George Bentinck und Benjamin Disraeli.769 Der Wahlausgang in Sunderland zeigt deutlich, dass die Bemühungen von Thompsons Unterstützern, die Gunst der Wählerschaft dadurch zu erlangen, dass sie Hudsons Einfluss als korrumpierend darstellten, durch die Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität übertrumpft wurde. Trotz der gegen Hudson im Verlauf des Wahlkampfes vorgebrachten Anschuldigungen korrupter Einflussnahme, legte Thompson keine offizielle Beschwerde gegen die Wahl ein. Hudsons Art der Einflussnahme war zwar auf einer moralischen Ebene angreifbar, ein formales Vorgehen hätte für Thompson aber keine Aussicht auf Erfolg gehabt. George Hudson ging auf den Vorwurf des Stimmenkaufs nicht explizit ein. Er war jedoch während des Wahlkampfs darum bemüht, selbst keine expliziten Zusicherungen abzugeben.770 Vielmehr beschränkte er sich auf das Versprechen, sich für die wirtschaftliche Entwicklung und die Interessen der Region einzu767 768 769 770

The Morning Chronicle (14. 8. 1845), S. 3. The Times (15. 8. 1845), S. 4. Parliamentary Debates (Hansard) 3rd Series. Bd. 83. Sp. 1089–1144. Sp. 1144. »The leaders of the Conservative party here freely state that Mr. Hudson will buy the Durham and Sunderland Railway (of course far more than it is worth), and construct docks for the convenience of shipping! These temptations, if offered by Mr. Hudson himself, may have some effect; but at the present they are idle breath. I believe, however, that this species of bribery will not be attempted.« In: The Morning Chronicle (28. 7. 1845), S. 3; vgl. auch: The Times (24. 10. 1845), S. 9.

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setzen, und präsentierte sich als Wohltäter, der durch die von ihm aufgebauten Eisenbahnunternehmen tausende von Arbeitern in Lohn und Brot gebracht hatte.

4.5. Praktiken der Wahlmanipulation in Frankreich In Frankreich kandidierten Eisenbahndirektoren tendenziell seltener für das Parlament als in Großbritannien. In den Anfangsjahren der Julimonarchie steckte die Eisenbahnindustrie noch in ihrer Pionierphase und musste sich für die Vertretung ihrer Interessen auf die Unterstützung weniger Enthusiasten verlassen. Die Interessen der Wirtschaft wurden während der Julimonarchie im Parlament vornehmlich durch die großen Dynastien der Haute Banque vertreten, die jedoch nicht immer zu Gunsten der noch recht unbedeutenden Eisenbahnbranche agierten.771 Erst nach dem kleinen Eisenbahnboom Mitte der 1840er Jahre verfügten die Unternehmen über die nötigen Ressourcen, um eigene Vertreter ins Parlament wählen zu lassen. Darüber hinaus war das Wahlprozedere wegen der häufigen Systemwechsel einem starken Wandel unterworfen. Dennoch lassen sich einige Fallbeispiele aufzeigen, die Schlüsse über spezifische Praktiken und Debatten im Hinblick auf Kandidaten aus der Eisenbahnbranche zulassen. Die Kandidatur von Charles Laffitte, dem Vorsitzenden der Chemin de Fer de Paris — Rouen von 1844 liefert wertvolle Hinweise über das Wahlsystem der Julimonarchie, während die Wahlen von Emile Pereire und Paulin Talabot von 1863 einen guten Einblick in das staatlich gesteuerte Wahlsystem des Zweiten Kaiserreichs und seine internen Spannungen gewähren. In Frankreich finden sich grundsätzlich ähnliche Praktiken der Wahlmanipulation wie in Großbritannien, sie wurden jedoch zusätzlich um den Aspekt staatlicher Wahlpatronage ergänzt, die eine bedeutende Rolle, sowohl im Wahlsystem der Julimonarchie wie auch des Zweiten Kaiserreiches spielte. Angefangen bei der Einflussnahme auf den Zuschnitt der Wahlbezirke, über die Manipulation von Wahllisten und der Stimmenauszählung bis hin zu Stellenangeboten im Staatsdienst, Einschüchterung und direktem Stimmenkauf bedienten sich Vertreter der Regierungen und der öffentlichen Verwaltung während des gesamten 19. Jahrhunderts vielfältiger Praktiken, um den Ausgang von Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen.772 Hinzu kam ein System »offizieller Kandidaten«, die von der Regierung protegiert wurden. Vertreter der Eisenbahnbranche profitierten von diesem System zunächst jedoch nur sporadisch. Ein Pionier des Eisenbahnbaus, der sich schon 771 Jardin, Tudesq: Restoration and Reaction, S. 141. 772 Garrigou: Le vote, S. 131; Tombs: France 1814–1914, S. 106.

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früh erfolgreich um einen Sitz im Parlament bewarb, war Charles Laffitte, der Neffe des prominenten Bankiers und Politikers Jacques Laffitte. Der Schlüssel für seinen Erfolg lag aber weniger in der Unterstützung durch das staatliche Patronagesystem, als vielmehr in Unternehmernetzwerken, die einen besseren Eisenbahnanschluss für ihre Region erreichen wollten und daher ihren lokalen Einfluss auf die Wählerschaft zur Geltung brachten. Seit 1834 betrieb Charles Laffitte gemeinsam mit dem englischen Banker Edward Blount die Bank Laffitte, Blount & . Cie, die eine bedeutende Rolle bei der Finanzierung der ersten französischen Eisenbahnen spielen sollte.773 Unter Mithilfe seines einflussreichen Onkels, der als Premierminister 1830 maßgeblichen Anteil an der Thronbesteigung Louis-Philippes hatte, erhielt die von ihm repräsentierte Investorengruppe 1840 die Konzession für den Betrieb der Strecke von Paris nach Rouen mit einer etwaigen Erweiterung bis nach Le Havre.774 1843 wurde der erste Teil der Strecke für den Verkehr geöffnet.775 Ende des gleichen Jahres trat Laffitte in Louviers nahe Rouen als Kandidat für das Parlament an, nachdem sein Vorgänger Hippolyte Passy in die Pairskammer berufen worden war. Louviers lag relativ nahe an der Hauptstrecke der Chemin de Fer de Paris — Rouen, hatte aber bisher keinen Anschluss an das Schienennetz erhalten. 1842 waren Vertreter der lokalen Wirtschaft mit einem entsprechenden Gesuch an die Unternehmensleitung herangetreten, wurden jedoch unter Verweis auf die anfallenden Kosten abgewiesen. Vertreter von Louviers entwickelten daraufhin einen eigenen Finanzierungsplan und engagierten Joseph Locke, den Ingenieur der Paris-Rouen Linie, um einen Kostenvoranschlag zu erstellen. Das Projekt erwies sich jedoch als zu teuer, um von der kleinen Gemeinde Louviers eigenständig finanziert werden zu können.776 Laffitte stellte dem Wahlkreis in Aussicht, als Gegenleistung für seine Wahl die Teilstrecke auf Kosten der Chemin de Fer de Paris — Rouen zu bauen und wurde mit 286 von 402 Stimmen gewählt. Die Wahl Laffittes wurde im Parlament unter dem Vorwurf unzulässiger Einflussnahme auf den Wahlvorgang angegriffen. Angestoßen wurde das Verfahren durch Victor Grandin, einen Textilfabrikanten aus Elbeuf und Abgeordneten des Arrondissement Seine-Inf¦rieure.777 Grandin warf Laffitte vor, er 773 Robert, Adolphe, Edgar Bourloton u. Gaston Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires franÅais. Paris 1891 (Bd. 3), S. 520. 774 Konzession der Compagnie de Chemin de Fer de Paris — Rouen vom 15. 7. 1840. AN Roubaix 65 AQ E 563. 775 Henderson, William Otto: Britain and Industrial Europe 1750–1870. Studies in British Influence on the Industrial Revolution in Western Europe. Liverpool 1954, S. 66. 776 Protokoll der Aktionärsversammlung der Compagnie de Chemin de Fer de Paris — Rouen. In: Journal des Chemins de Fer (23. 11. 1843). S. 791. 777 Becchia, Alain: La draperie d’Elbeuf. Des origines — 1870. Rouen 2000 (=Publications de l’Universit¦ de Rouen 293), S. 793.

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habe sich seine Wahl mit der Zusicherung an die Wähler, Louviers durch eine Nebenstrecke an die Linie Paris-Rouen anzuschließen, erkauft. Er erklärte, Laffitte habe sich als Gegenleistung für seine Wahl verpflichtet, die Nebenstrecke nach Louviers auf eigene Kosten zu errichten. Laffitte bestritt jedoch, jemals eine solche Vereinbarung getroffen zu haben.778 Um die Faktenlage endgültig zu klären, machte Grandin in einem offenen Brief den Vorschlag, einen paritätisch besetzten Ausschuss aus Abgeordneten zu bilden, der einen Bericht vorlegen sollte.779 Der Ausschuss kam zu dem Ergebnis, dass es keinen schriftlichen Vertrag gegeben habe. Ihm lag aber ein schriftlicher Bericht über eine mündliche Absprache zwischen einem nicht namentlich genannten Wähler und Laffitte vor. Der Wahrheitsgehalt dieses Berichts konnte jedoch nicht sicher festgestellt werden.780 Die Umstände warfen jedoch Zweifel an Laffittes Darstellung der Ereignisse auf. Nur einen Tag nach Bekanntwerden seiner Kandidatur hatte er beim Ministerium für öffentliche Arbeiten einen Antrag für die betreffende Nebenstrecke eingereicht. Nach einer ausgedehnten Debatte wurde die Wahl am 19. 1. 1844 wegen unzulässiger Absprachen zwischen den Wählern und Charles Laffitte durch Abstimmung im Parlament annulliert. Die Begründung lautete, dass die Vorgänge in Louviers gegen die politische Moral, die Würde der Abgeordnetenkammer und das Gebot der Unkorrumpierbarkeit der Wahl verstießen.781 Über einen Zeitraum von sechs Monaten wurden drei weitere Neuwahlen abgehalten und postwendend im Parlament für ungültig erklärt. Dies war ein ungewöhnlicher Vorgang, denn es lag keine offizielle Wahlbeanstandung vor.782 Victor Grandin stammte nicht aus Louviers und konnte daher nicht auf formalem Weg gegen die Wahl Beschwerde einlegen. Auch die Motive Grandins wurden kritisch hinterfragt. Der Kommentator der regierungsnahen Tageszeitung La Presse vermutete wirtschaftliche Interessen als die treibende Kraft hinter den Attacken Grandins. Elbeuf, der Heimatort Grandins, war ebenfalls an einem Anschluss an das Schienennetz der Strecke Paris-Rouen interessiert und stand damit in direkter Konkurrenz zu Louviers. Eine Bewilligung der Strecke nach Louviers hätte das sichere Aus für eine baldige Anbindung Elbeufs an das Netz der Chemin de Fer de Paris — Rouen bedeutet. Grandin hatte daher sowohl in 778 779 780 781

La Presse (20. 1. 1844), S. 3. La Presse (20. 3. 1844), S. 4. Journal des D¦bats (5. 4. 1844), S. 1. Pierre David in der Chambre des D¦put¦s: » … annul¦e … au nom de la moralit¦ politique, de la dignit¦ de la chambre et de la n¦cessit¦ de maintenir l’incorruptibilit¦ de l’¦lection, seul moyen de maintenir, en l’honorant, la v¦rit¦ du gouvernement repr¦sentatif.« In: La Presse (7. 6. 1844), S. 3. 782 Ihl, Olivier : Tours de main et double jeu. Les fraudes ¦lectorales depuis la R¦volution franÅaise. In: Le m¦tier politique en repr¦sentations. Hrsg. von Yves Poirmeur u. Pierre Mazet. Paris 1999. S. 51–88, S. 67.

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seiner Funktion als Abgeordneter von Elbeuf als auch durch seine private Tätigkeit als Textilfabrikant Interesse, die Wahl Laffittes zu verhindern. Die Kontroverse um die Wahl von Louviers kam durch einen Brief Laffittes an den Minister für öffentliche Arbeiten zum Abschluss, in dem er seinen Antrag für den Bau der umstrittenen Nebenstrecke offiziell zurückzog. Nachdem dieser Brief auch im Parlament verlesen worden war, wurde seine Wahl ohne weiteren Widerstand anerkannt.783 Die verschiedenen Konfliktparteien einigten sich auf einen Kompromiss, bei dem alle Seiten den Anschein aufrechterhalten konnten, ihre Interessen und Positionen durchgesetzt zu haben. Die Wähler von Louviers mussten zwar auf die wirtschaftlichen Vorteile einer Eisenbahnstrecke verzichten, konnten aber den von ihnen gewünschten Kandidaten durchsetzen. Die Abgeordneten des Parlaments hingegen, die sich gegen die Wahl ausgesprochen hatten, konnten für sich in Anspruch nehmen, die Unabhängigkeit der Legislative von allzu offensichtlichen wirtschaftlichen Einflüssen sichergestellt zu haben. Auch Charles Laffitte konnte einen Erfolg für sich verbuchen. Er blieb bis zum Ende der JuliMonarchie Abgeordneter im Parlament. Nach der Revolution von 1848 zog er sich von seinen politischen Ämtern zurück. Weniger erfolgreich verlief die Kandidatur von Emile Pereire, der sich 1846 in Nogent-le-Rotrou, einem kleinen Ort direkt an der Linie von Versailles nach Rennes, an deren Konzession Pereire interessiert war, zur Wahl stellte. Er trat ebenso wir Charles Laffitte als regierungstreuer Kandidat an, verlor die Wahl jedoch denkbar knapp gegen den lokal etablierten liberal-oppositionellen Kandidaten Jaques Gervais Subervie.784 Folgerichtig wurde das Wahlsystem während der Zweiten Republik vorübergehend umgestellt. Das bisher übliche Mehrheitswahlrecht mit Abgeordneten für Wahlkreise wurde durch Listenwahl ersetzt, um den Einfluss lokaler Interessen auf die Wahlen zu verringern. Unter der Präsidentschaft von LouisNapol¦on kehrte man jedoch schon wieder zum alten System zurück.785 Während des Zweiten Kaiserreichs lag die Bedeutung des Parlaments hauptsächlich in seiner symbolischen Strahlkraft, denn gerade der Anschein politischer Partizipation war ein wichtiger Bestandteil von Louis-Napol¦ons politischem Kalkül. Er führte das allgemeine Wahlrecht für Männer ein, mittels dessen er sich zunächst zum Präsidenten der zweiten Republik wählen ließ und später durch Plebiszite seinem Staatsstreich und der Ausrufung des Zweiten Kaiserreichs ihre Legitimation verlieh.786 Um den Ausgang der Wahlen steuern zu können, griff Napoleon III. erneut auf ein umfangreiches System politischer Patronage zu783 784 785 786

Journal des D¦bats (19. 7. 1844), S. 3. Autin: Les frÀres Pereire, S. 269. Tombs: France 1814–1914, S. 109. Sellin, Volker : Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen. München 2011, S. 116.

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rück, in dem offizielle Kandidaten für das Parlament ernannt und protegiert wurden. Die offiziellen Kandidaten wurden von den Pr¦fets der D¦partements nominiert und durch die Verwaltung in ihrem Wahlkampf unterstützt.787 Zwar bestand, wie auch während der Julimonarchie, die Möglichkeit, gegen die Wahl eines Kandidaten Beschwerde einzulegen, doch wurde zumindest in den Anfangsjahren des Kaiserreiches nur wenig Gebrauch von dieser Option gemacht. Seit 1857 stieg die Zahl der Beanstandungen stark an und erreichte einen Höhepunkt zwischen 1863 und 1869.788 Diese Entwicklung verlief synchron mit einer zunehmenden Liberalisierung des Regimes in den 1860er Jahren, in deren Verlauf das Parlament wieder an Bedeutung und Einfluss gewann. Damit einher gehend wuchs auch die Bedeutung des Corps L¦gislatif für die Vertretung wirtschaftlicher Interessen. Anlässlich der allgemeinen Wahlen von 1863 kandidierten einige der einflussreichsten Eisenbahndirektoren Frankreichs erstmals für einen Sitz im Corps L¦gislatif, der zweiten Kammer des Parlaments.789 Dabei standen ihnen mehrere Möglichkeiten offen. Paulin Talabot stellte sich für Gard im Kernland der Chemin de Fer de Paris — Lyon et — la M¦diterran¦e zur Wahl. Der Direktor der PLM lebte seit Jahren in der Region und besaß ausgedehnte Ländereien im D¦partement. Bereits in den 1830er Jahren hatte er die Compagnie des houillÀres de la Grand Combe et des chemins de fer du Gard gegründet, um die Kohlevorkommen von Grand-Combe auszubeuten. Talabot war außerdem langjähriges Mitglied des Conseil G¦n¦ral von Gard und konnte für seine Kandidatur auf seinen hohen lokalen Bekanntheitsgrad und Einfluss vertrauen.790 Emile Pereire unternahm knapp 20 Jahre nach seiner gescheiterten Kandidatur in Nogent-le-Rotrou einen erneuten Versuch, einen Sitz im Parlament zu erringen. Sein Bruder Isaac Pereire und dessen Sohn Eugene waren ebenfalls an einer Kandidatur interessiert. Die Pereires wählten jedoch eine andere Strategie als Talabot. Die Pereires stammten ursprünglich aus Bordeaux, hatten ihren Lebensmittelpunkt aber schon früh in ihrer Karriere nach Paris verlagert. Sie verfügten daher nicht über ähnliche Voraussetzungen wie Talabot und mussten ihre Kontakte in höchste Regierungskreise aktivieren, um die Möglichkeiten einer offiziellen Kandidatur zu sondieren. Der Innenminister Victor de Persigny bot den Pereires verschiedene D¦partements an, in denen er ihre Kandidatur unterstützen konnte. Für Isaac Pereire war zunächst Bordeaux und damit das D¦partement Gironde vorgesehen. Sein Sohn Eugene Pereire sollte sich im Be787 Voilliot: La candidature officielle, S. 10. 788 Lagoueyte, Patrick: Candidature officielle et pratiques ¦lectorales sous le Second Empire. Paris 1991, S. 978. 789 Autin: Les frÀres Pereire, S. 270. 790 Ribeyre, F¦lix: Biographie des d¦put¦s. Contenant par ordre alphab¦tique la liste des s¦nateurs et conseillers d’¦tat. Paris 1864, S. 293.

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zirk Tarn zur Wahl stellen. Emile, der bekannteste Vertreter seiner Familie, sollte in einem der prestigeträchtigen Wahlbezirke von Paris kandidieren.791 Im Endeffekt ließ sich eine Kandidatur im umkämpften Paris jedoch nicht erfolgversprechend arrangieren und es bedurfte kurzfristiger Umplanungen. Emile Pereire kandidierte schließlich in der Gironde, Eugene in dem für ihn vorgesehenen D¦partement Tarn. Isaac stellte sich im äußersten Südwesten des Landes im D¦partement Pyr¦n¦es-Orientales zur Wahl. Um die Chancen der Pereires im Wahlkampf zusätzlich zu erhöhen, wurden nur D¦partements ausgewählt, die im Kerngebiet der von ihnen geleiteten Chemin de Fer du Midi lagen. Aufgrund der kurzfristigen Umplanungen im Innenministerium wurde die Kandidatur Isaac Pereires in Pyr¦n¦es-Orientales nur wenige Tage vor der Wahl bekannt gegeben und löste einige Verwirrung aus. Der Präfekt des D¦partement Isodore Salle war in die Absprachen zwischen Pereire und dem Innenminister nicht einbezogen worden und erklärte zunächst den bisherigen Abgeordneten Justin Durand zum offiziellen Kandidaten. Justin Durand wurde in Perpignan, dem Hauptort des D¦partement geboren und vertrat es von 1852 bis 1863 sowie von 1869 bis 1870 im Parlament. Durand war auch in der Lokalpolitik äußerst aktiv und mehrmals Präsident des Conseil G¦n¦ral. 1863 bekleidete er außerdem das Amt des Bürgermeisters von Perpignan.792 Isodore Salle befolgte die Anweisung des Innenministeriums nur widerwillig und unterstützte zunächst weiterhin Durand als tief im Land verwurzelten Kandidaten, der sein Amt seit Jahren erfolgreich ausgefüllt hatte.793 Dies zeigt eindrücklich, dass Loyalität gegenüber der Regierung nicht immer Priorität für das Handeln lokaler Honoratioren besaß. Als das Innenministerium jedoch auf eine Kandidatur Isaac Pereires bestand, blieb dem Präfekten nichts anderes üblich, als seine Neutralität zu erklären, was Durand die benötigte staatliche Unterstützung entzog.794 Dieser sah dadurch keine Möglichkeit, seine Kandidatur erfolgversprechend aufrecht zu erhalten und zog sie zurück, wodurch Pereire nur wenige Tage vor der Wahl als einziger Bewerber auf den Parlamentsitz verblieb und zum offiziellen Kandidaten erklärt wurde.795 Zwei Faktoren waren ausschlaggebend für den Wahlerfolg Pereires in Pyr¦n¦es-Orientales: Zum einen seine hervorragenden Beziehungen in höchste Regierungskreise, zum anderen der starke lokale Einfluss, den er dank der dominierenden wirtschaftlichen Position der Compagnie de 791 Brief von Pierre Renault an den Anwalt Livieux, 14. 5. 1863. AN Paris C 1356. 792 Robert, Adolphe u. Gaston Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires (Bd. 2), S. 520. 793 Journal des Pyr¦n¦es-Orientales (20. 5. 1863), S. 1. 794 Protestation contre l’¦lection des Pyr¦n¦es-Orientales du 1er juin 1863. D¦pos¦ aux Corps L¦gislatif. AN Paris C 1356. 795 Journal des D¦bats (31. 5. 1863), S. 3.

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Chemin de Fer du Midi in der Region ausüben konnte. Persönlich war er jedoch kaum mit der Wählerschaft vernetzt. Im Verhalten Salles während des Wahlkampfes offenbart sich ein schwelender Konflikt zwischen den lokalen Notablen des D¦partement und der Regierung in Paris, der sich in einer heftigen publizistischen Kampagne gegen Isaac Pereire ausdrückte. Im Wahlkampf selbst spielten Korruptionsvorwürfe allerdings noch keine Rolle. Pereire wurde vielmehr als ein Außenseiter präsentiert, der abgesehen von seinen wirtschaftlichen Kontakten keinerlei Verbindung zur Region hatte.796

4.6. Debatten über Wahlmanipulation in Frankreich Debatten über Wahlmanipulation während der Julimonarchie hatten in der Regel staatliche Patronagesysteme zum Gegenstand. Direkter Stimmenkauf wurde in erster Linie als ein »britisches« Phänomen wahrgenommen.797 Die französische Presse berichtete umfangreich über die englischen Parlamentsdebatten und richtete ein besonderes Augenmerk auf die Diskussionen über Wahlkorruption der 1830er Jahre.798 Die Debatten über die Wahl Laffittes hatten ihren Ursprung in der Konkurrenzsituation zwischen den beiden Orten Louviers und Elbeuf. Je länger die Auseinandersetzungen im Parlament jedoch andauerten, desto stärker trat auch eine politische Komponente zu Tage. Victor Grandin war Mitglied der republikanischen Opposition im Parlament und stimmte regelmäßig gegen die von der Regierung eingebrachten Gesetzesvorschläge.799 Die Opposition im Parlament griff das Thema daher bereitwillig auf und nutzte es, um indirekt gegen die Regierung zu agitieren. Laffitte hingegen hatte gute Kontakte zum Minister für öffentliche Arbeiten und wurde von offizieller Seite unterstützt. Diese Unterstützung hatte jedoch 796 Journal des Pyr¦n¦es-Orientales (25. 5. 1863), S. 1. 797 »Parmi les hommes qui ont occup¦ le pouvoir en France depuis quarante ans, plusieurs ont ¦t¦ accus¦s d’avoir fait fortune aux d¦pens de l’Êtat et de ses alli¦s; reproche qui a ¦t¦ rarement adress¦ aux hommes publics de l’ancienne monarchie. Mais en France il est presque sans exemple qu’on achÀte le vote d’un ¦lecteur — prix d’argent, tandis que la chose se fait notoirement et publiquement en Angleterre.« Tocqueville, Alexis de: De la d¦mocratie en Am¦rique. Paris 1836 (Bd. 2). S. 88. 798 Sowohl das Journal des Debats als auch La Presse hatten eine tägliche Kolumne, in der die Debatten auf der britischen Insel zusammengefasst wurden. 799 Grandin setzte sich für einen staatlichen Eisenbahnbau und Protektionismus ein. Er stimmte außerdem für einen Gesetzesentwurf, der es Beamten untersagen sollte, für das Parlament zu kandidieren. Robert, Bourloton u. Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires (Bd. 3), S. 234.

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ihre Grenzen. Die Regierung wollte sich offensichtlich nicht in eine Affäre hineinziehen lassen, mit der sie eigentlich nichts zu tun hatte. Während der Debatte zur dritten Wiederwahl Laffittes schaltete sich der Minister für öffentliche Arbeiten, Pierre Dumon, in die Diskussion ein. Er befürchtete, sein Ministerium könne ebenfalls in die Kritik geraten und war bemüht, klarzustellen, dass Laffitte mitnichten ein förmliches Gesuch um die Konzession der Nebenstrecke gestellt hatte. Er habe lediglich in einem Brief sein Vorhaben angekündigt. Beiträge, die ihm nahelegten, die Affäre durch einen negativen Bescheid des Konzessionsantrages zu einem schnellen Ende zu bringen, wies er mit dem Hinweis zurück, dass sich seine Behörde in politischen Auseinandersetzungen nicht instrumentieren lassen dürfe. Die Trennung zwischen Exekutive und Legislative müsse strikt gewahrt bleiben.800 Nach der dritten Wiederwahl Laffittes verschob sich der Fokus der Debatten von der Person Laffitte auf die Wählerschaft von Louviers. Die »Affaire Louviers« entwickelte sich zu einem Präzedenzfall, anhand dessen grundlegende Fragen des politischen Systems diskutiert wurden. Der Sprecher des Wahlbüros von Louviers bezeichnete in seiner Rede das Verfahren als willkürlich und ehrverletzend für die Wählerschaft von Louviers. Er forderte für den Wahlbezirk das Recht ein, seinen Kandidaten selbstbestimmt auszuwählen. Die örtliche Handelskammer bemängelte in einem offenen Brief, dass es weder eine juristische noch eine parlamentarische Untersuchung gegeben habe, in der es ihnen möglich gewesen wäre, die Anschuldigungen zu entkräften.801 Das Parlament nahm im Gegenzug für sich eine moralische Deutungskompetenz in Anspruch, die keines formalen Verfahrens bedürfe. Ihm blieb es nach der Verfassung vorbehalten, zu entscheiden, welches Verhalten als schädigend für das Ansehen der Kammern zu bewerten sei. Hieran entzündete sich ein Konflikt zwischen den lokalen Honoratioren der politischen Peripherie und dem Zentrum politischer Macht in Paris, der in anderen Formen und Ausprägungen immer wieder im zentralistisch geprägten Frankreich des 19. Jahrhunderts zu Tage trat.802 Die Debatten im Parlament zeigen deutlich, welche verschiedenen Akteursgruppen und komplexen Interessenskonstellationen auf der politischen Ebene um Einfluss rangen, und dass sie nicht auf direkte politische und wirtschaftliche Konkurrenten beschränkt sein mussten. 800 La Presse (30. 4. 1844), S. 3. 801 Journal des Debats (7. 6. 1844), S. 3. 802 »DÀs lors le dissentiment sur le fond est devenu r¦el entre la Chambre et le collÀge ¦lectoral. L’une a continu¦ de regarder comme un acte d’immoralit¦ politique pouvant vicier une ¦lection ce que l’autre a persist¦ — regarder comme un acte licite ou du moins indiff¦rent. L’affaire de Louviers a pris le caractÀre d’un int¦rÞt national bless¦ dans son principe, d’une dissidence presque constitutionnelle sur l’¦l¦ment de la repr¦sentation nationale.« Ebd.

Debatten über Wahlmanipulation in Frankreich

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Ein besonders interessanter Beitrag zu der Debatte stammte von Jules Dufaure, einem Anwalt und Abgeordneten aus dem D¦partement Charente-Inf¦rieure. Dufaure hatte zunächst den klassischen Fächerkanon an der Universität studiert und anschließend in Paris seine Zulassung als Anwalt erworben. Von Mai 1839 bis Februar 1840 war er Minister für öffentliche Arbeiten und eng in die Diskussionen zum staatlichen Eisenbahnbau und das neue Enteignungsgesetz involviert.803 Während der Debatte zur ersten Wahl von Laffitte am 19. 1. 1844 bezeichnete Dufaure die Vorgänge in Louviers als eine »corruption collective«. Darunter verstand er die Bestechung eines gesamten Wahlkreises durch wohlhabende Unternehmer mittels Investitionen und der Finanzierung neuer Infrastrukturen. Er verwendete den Begriff in expliziter Abgrenzung zur »corruption individuelle«, der Einflussnahme auf einzelne Wähler durch direkte Bestechung und Einschüchterung. Diese Typologisierung korrupten Verhaltens wurde in den folgenden Debatten um Louviers immer wieder aufgegriffen. Auch Dufaure bediente sich eines republikanisch/frühsozialistischen Sprachduktus und griff auf den Vergleich mit dem Adel des Ancien R¦gime zurück. Er prophezeite die nahende Dominanz einer »Aristokratie des Reichtums«. Dufaure war jedoch weit davon entfernt frühsozialistische egalitäre politische Ziele zu unterstützen. Vielmehr artikulierte er im Diskurs die Interessen der Professionen, die mit dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum in Konkurrenz um politischen Einfluss standen, jedoch in der Regel über geringeres ökonomisches Kapital verfügten. Gänzlich unbegründet waren seine Bedenken freilich nicht, denn mit der einsetzenden Industrialisierung entwickelte sich die Schicht des Wirtschaftsbürgertums, deren Angehörige die nötigen Einkommensvoraussetzungen des Wahlzensus in der Regel problemlos erfüllen konnten, schnell zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten des älteren Bildungsbürgertums um politischen Einfluss. Die Forderungen des Bildungsbürgertums nach alternativen Kriterien für die Wählbarkeit – zum Beispiel akademische Grade – verhallten dabei weitestgehend ungehört.804 Dufaure kombinierte seine Argumentation mit einem weiteren populären Feindbild und warnte vor einem Transfer der englischen politischen Gepflogenheiten als Folge britischer Investitionen nach Frankreich.805 Als Ur803 Robert, Bourloton u. Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires (Bd. 2), S. 234. 804 Tombs: France 1814–1914, S. 103. 805 »La corruption collective est plus grave que la corruption individuelle. Qu’on dise: donnezmoi vos voix, faites-moi entrer — la chambre des d¦put¦s, je vous ferai un chemin de fer, j’allouerai des avantages — votre ville, cela me parait la pire des corruptions; c’est constituer une aristocratie de fortune, la plus d¦plorable de toutes. J’en appelle aux hommes qui se vouent aux lettres, aux professions lib¦rales, aux militaires: avec de tels pr¦c¦dents, il leur sera impossible de lutter contre les grands capitalistes qui donnent des chemins de fer. … Ce n’est pas contre la fortune que je parle, mais contre ses abus. … . Sacrifierons-nous toutes les hautes facult¦s de l’intelligence aux concessions de chemins de fer? Je b¦nis les capi-

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sprungsort der Dominanz ökonomischen Kapitals in der französischen Politik machte Dufaure Großbritannien, das Mutterland der Industrialisierung, aus. In diesem Punkt spielte er sicherlich auf den häufig kritisierten Einfluss britischer Investoren auf den französischen Eisenbahnbau im Allgemeinen und die Leitung der Linie Paris-Rouen im Besonderen an. Rund ein Drittel des Startkapitals dieser Linie stammte von britischen Anlegern, deren Interessen durch einen eigenen englischen Aufsichtsrat in London vertreten wurde.806 Diejenigen Abgeordneten, die auch im Vorstand der Chemin de Fer de Paris — Rouen saßen, hielten sich mit Beiträgen zurück, wohl wissend, dass ihr Eingreifen ohnehin als befangen diskreditiert worden wäre und mehr geschadet denn genützt hätte.807 Die Wahl Laffitte löste eine Grundsatzdebatte über Wahlkorruption aus und rief politische Reformer auf den Plan. Inspiriert durch die Kontroverse brachte der republikanische Abgeordnete Gustave de Beaumont gemeinsam mit zwei weiteren oppositionellen Abgeordneten einen Gesetzesvorschlag ein, wonach unzulässige Wahlbeeinflussung mit empfindlichen Geldstrafen geahndet werden sollte.808 Das Regierungsorgan Journal des D¦bats begrüßte die Gesetzesinitiative zwar grundsätzlich, hinterfragte aber die Motivation der Antragsteller und vermutete einen getarnten Angriff auf die Regierung.809 Insbesondere der zweite Artikel, der verschärfte Strafen für Amtsträger (Fonctionnaires) vorsah, wurde kontrovers diskutiert und von der Regierung abgelehnt. Die Bearbeitung des Gesetzes wurde durch einen von regierungsnahen Abgeordneten dominierten Ausschuss des Parlaments über mehrere Sitzungsperioden hinweg verschleppt und schließlich ganz eingestellt.810 Anklagen von Wahlkorruption waren in Frankreich in den 1840er Jahren deutlich politisch motiviert und standen in engem Zusammenhang mit Vorwürfen von Bestechlichkeit und Machtmissbrauch gegen Mitglieder der Regierungen Soult und Guizot.811 Für die reformorientierten Oppositionsgruppen war die Korruptionskritik an der Regierung untrennbar mit einer Reform des

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talistes anglais d’Þtre venus nous seconder dans une grande entreprise de chemin de fer ; mais je maudirais leur intervention s’ils devaient importer parmi nous tous les excÀs de leur mœurs politiques.« In: La Presse (20. 1. 1844), S. 3. Compagnie de chemin de fer de Paris — Rouen: Prospectus, Reports, Rules and Regulations of the Paris and Rouen Railway Company. London 1840, S. 5. Leider sind die Unterlagen des Unternehmens bis auf wenige Ausnahmen nicht erhalten geblieben. Lediglich die Berichte der Aktionärsversammlungen finden sich in den Unterlagen der Chemin de Fer de L’Ouest. In ihnen findet sich keine Erwähnung der Wahl Laffitte. AN Roubaix 76 AQ 4. Journal des D¦bats (12. 3. 1844), S. 1. Journal des D¦bats (18. 3. 1844), S. 1. Journal des D¦bats (21. 7. 1844), S. 3; Journal des D¦bats (24. 12. 1844), S. 2. Jankowski: Shades of Indignation, S. 78; Fortescue: Morality and Monarchy, S. 87.

Debatten über Wahlmanipulation in Frankreich

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Wahlrechts verbunden. Duvergier de Hauranne präsentierte gemäßigte Forderungen in seiner 1847 erschienenen Abhandlung zur Wahlrechtreform, in der er vor allem die Dominanz lokaler Interessen gegenüber dem Gemeinwohl bemängelte, die seiner Meinung nach in Wahlkreisen mit beschränktem Wählerkreis besonders drastisch ausfiel.812 Er folgerte, dass nur eine Ausweitung des Wahlrechts das System gegen korrumpierende Einflüsse stärken konnte und brachte im März 1847 einen entsprechenden Antrag im Parlament ein.813 Auch dieser Antrag wurde von Gustave de Beaumont und dem Führer der republikanischen Opposition Odilon Barrot aktiv unterstützt. Die Regierung argumentierte gegen den Entwurf und betonte, dass es in der Bevölkerung keinen Rückhalt für eine derartige Reform gäbe.814 FranÅois Guizot war der festen Überzeugung, dass das Wahlrecht jenen vorbehalten bleiben sollte, die über die nötige Bildung und Umsicht verfügten. Im Endeffekt wurde der Antrag erneut von den Anhängern der Regierung mit deutlicher Mehrheit abgeschmettert.815 In diesem Zusammenhang erscheinen die Debatten um die Wahl Laffittes geradezu exemplarisch für die politische Stimmung während der 1840er Jahre und fand Eingang in französische Rechtstexte als Beispiel für illegitime Wahlmanipulation.816 Mit dem Staatsstreich Louis-Napol¦ons und der Gründung des Zweiten Kaiserreichs verschwand das Thema illegitimer Einflussnahme auf Parlamentswahlen ebenso wie die meisten übrigen regimekritischen Debatten vorübergehend aus der französischen Öffentlichkeit. Das System der Wahlpatronage wurde durch die rigide Pressezensur zwar bestens flankiert und abgesichert, dennoch konnte die Regierung auf eine Legitimation des Systems nicht gänzlich verzichten. Das zentrale Argument für offizielle Kandidaten war die politische Unerfahrenheit der neuen Wählerschichten, denen nach der offiziellen Lesart Hilfen an die Hand gegeben werden sollten, welcher Kandidat die Regierung in ihrer Arbeit am besten unterstützen würde.817 Als mit der Liberalisierung des Regimes in den 1860er Jahren die Pressezensur spürbar nachließ, geriet das System der offiziellen Kandidaten zunehmend unter Druck. Diese Entwicklung bekam auch Isaac Pereire zu spüren, da sie ihn beinahe seinen Wahlsieg kostete. Wenige Tage nach seiner Wahl 1863 812 Hauranne: De la r¦forme, S. 198. 813 Haurannes Vorschlag sah vor, den Wahlzensus auf 100 Franc zu senken und die Grenzen der Wahlkreise neu zu ziehen. Von Adolphe Cr¦mieux übernahm er die Forderung nach Incompatibilit¦s für Staatsbedienstete. Journal des D¦bats (7. 3. 1847), S. 1. 814 Renauld: Adolphe Cr¦mieux, S. 89. 815 Fortescue: France and 1848, S. 56. 816 Dalloz, Alexis D¦sir¦ u. Dalloz, Armand: Jurisprudence g¦n¦rale. R¦pertoire m¦thodique et alphab¦tique de doctrine et de jurisprudence en matiÀre de droit civil, commercial, criminel, administratif, de droit des gens et droit public. Paris 1852 (Bd. 19), S. 187. 817 Plessis: The Rise, S. 24.

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reichte sein Gegenkandidat Justin Durand Wahlbeanstandungen aus vier Kantonen des D¦partements im Corps L¦gislatif ein, die insgesamt von mehr als 1600 Wählern unterzeichnet worden waren. In diesem über 40 Seiten starken ProtestPamphlet wurden Isaac Pereire und seine Wahlkampfhelfer aller nur erdenklichen Formen der unzulässigen Einflussnahme bezichtigt.818 Die Wahlbeanstandungen gliederten sich in drei grundlegende Kategorien: Einschüchterung (Intimidation), Verführung (S¦duction) und Korruption (Corruption). In Zusammenhang mit dem Vorwurf der Einschüchterung gerieten die von Pereire aktivierten Netzwerkstrukturen ins Visier der Kritik. Einer der aktivsten Fürsprecher Pereires im D¦partement war General Pierre Renault.819 R¦nault war Mitglied des Conseil G¦n¦rale von Pyr¦n¦es-Orientales, Senator und General der Division Rouen und versandte mehrere Empfehlungsschreiben für Pereire an einflussreiche Personen der Region. Pereires Gegner warfen ihm daraufhin vor, er habe seine Position in Politik und Militär eingesetzt, um Druck auf die Wählerschaft auszuüben. Des Weiteren seien Angehörige der Verwaltung durch ihre Vorgesetzten gezwungen worden, für Pereire zu stimmen.820 Unter Verführung verstanden die Verfasser der Wahlbeanstandung die umfangreichen Spenden, die Pereire an verschiedene Institutionen im Wahlkreis getätigt hatte. Darüber hinaus wurde über Stellenangebote in den verschiedenen von Pereire geleiteten Unternehmen berichtet.821 Die Händler der Region sollten durch verbesserte Infrastrukturen für Pereire gewonnen werden. Unter dem Titel Candidature de M. Isaac Pereire wurde eine anonyme Flugschrift verteilt und plakatiert, in der angekündigt wurde, Wasserreservoirs zu bauen, die in Trockenperioden zur Bewässerung dienen sollen. Darüber hinaus wurde eine Fährverbindung nach Afrika und der Anschluss der Region an die Eisenbahnstrecke von Prades nach Thuir und Port-Vendres in Aussicht gestellt. Das Gros der Verfehlungen unter dem Punkt Korruption wurde Isaac Pereires Wahlkampfleiter Auguste Lireux zur Last gelegt, der zugleich der Anwalt der Chemin de Fer du Midi war. Ihm und seinen Wahlkampfhelfern, die zum überwiegenden Teil ebenfalls bei der Chemin de Fer du Midi in Lohn standen, wurden sowohl direkte als auch indirekte Praktiken der Wahlbeeinflussung vorgeworfen. Agenten seien durch die Orte gegangen und hätten Geldgeschenke an Musiker, Bedürftige und sogar Kinder verteilt. In vielen Ortschaften hätten Caf¦s und Kneipen auf Kosten Pereires Getränke und Speisen ausgeschenkt. 818 Protestation contre l’¦lection des Pyr¦n¦es-Orientales du 1er Juin 1863. D¦pos¦ aux Corps L¦gislatif. AN Paris C 1356. 819 Brief von Pierre Renault an M. Blanc, Capitaine d’Infanterie — Prats de Mollo. 16. 5. 1863. AN Paris C 1356. 820 Protestation contre l’¦lection des Pyr¦n¦es-Orientales du 1er Juin 1863. D¦pos¦ aux Corps L¦gislatif. S. 11. AN Paris C 1356. 821 Ebd.

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Dieser detaillierte Anklagekatalog erforderte eine ebenso detaillierte Stellungnahme. Als Reaktion auf die Wahlbeanstandungen veröffentlichte Leon Saleta, ein Mitglied des Conseil G¦n¦ral von Pyr¦n¦es-Orientales, eine ebenso umfangreiche Gegenschrift, in der er sehr dezidiert auf die gegen Pereire vorgebrachten Anschuldigungen einging, wobei er der Entgegnung auf den Vorwurf der Korruption besonderen Raum einräumte.822 Er gab zu, dass es kleinere Geldzahlungen an Musiker und Helfer gegeben habe. Darüber hinaus vermerkte er , dass Issac Pereire zwar geringe Summen gespendet hatte, diese seien jedoch ausschließlich an wohltätige Einrichtungen und Bedürftige gegangen und an keinerlei Verpflichtungen geknüpft gewesen.823 Seine Verteidigungsstrategie fußte auf dem Argument, dass kein direkter Zusammenhang zwischen diesen Spenden (Dons) sowie Versprechungen (Promesses) und dem Wählerverhalten nachzuweisen sei und es sich daher auch nicht um Wahlkorruption handeln könne. Im Gegensatz zu seinem Gegner Durand habe Pereire stets transparent gehandelt und den Umfang seiner Spenden publiziert.824 Saleta war bemüht, dem negativen Bild der Bestechung und Einflussnahme, ein positives Bild selbstloser Wohltätigkeit und Philanthropie entgegenzustellen. Die Spenden präsentierte er als eine wohltätige Geste, die nur den Bedürftigsten der Region zugute gekommen seien.825 Wohltätigkeit war ein starker Mechanismus, um hierarchisch angeordnete soziale Beziehungen zu festigen und tief in der christlichen und jüdischen Tradition der Nächstenliebe verankert. Ihre Wirkung wurde durch das allgemeine Wahlrecht, das auch ärmeren Schichten politische Teilhabe ermöglichte, noch verstärkt. Die Zahlung größerer Bestechungssummen bestritt Saleta kategorisch und brachte seinerseits eine Gegenanklage vor: Durand habe in vielfältiger Art und Weise seine Position als Bürgermeister und seinen Kontakt zum Präfekten missbraucht. Des Weiteren hätten seine Anhänger ihre Angestellten unter Druck gesetzt. Den Vorwurf der Einschüchterung gegen General Renault bezeichnete Saleta als abwegig und betonte, es sei Renaults gutes Recht, sich in seiner Funktion als Mitglied des Conseil G¦n¦rale von Pyr¦n¦es-Orientales für das Wohl seines Landes einzusetzen und den Kandidaten zu unterstützen, der ihm am besten geeignet erscheine.826 In Bezug auf die angekündigten Infrastrukturprojekte vermerkte er, dass sie gut konzipiert seien, es aber keine offiziellen Ankündigungen von Pereire selbst gegeben habe, da nicht klar sei, ob sie umgesetzt werden könnten. 822 Saleta, L¦on: Êlection de M. Isaac Pereire dans les Pyr¦n¦es-Orientales. R¦ponse aux protestations. Paris 1863, S. 1. AN Paris C 1356. 823 Ebd., S. 31. 824 Ebd., S. 19. 825 Ebd., S. 31. 826 Ebd., S. 24.

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In den Wochen nach der Wahl erschienen weitere Veröffentlichungen beider Seiten, die jedoch keine wesentlichen neuen Argumente mehr enthielten.827 Aus Saletas Schrift lassen sich mehrere Verteidigungsstrategien herausfiltern, die speziell auf die verschiedenen Anklagepunkte abgestimmt waren. In Bezug auf direkte Bestechungen verfolgte er drei Argumentationslinien: Abstreiten oder Marginalisieren, Verweis auf gleiche Verfehlungen der Gegenseite und Umdeutung von Bestechungen in wohltätige Geschenke. Im November 1863 wurde der Bericht der Wahlkommission zu den Beanstandungen im Parlament diskutiert. Der Berichterstatter Joseph le M¦lorel de la Haichois stellte fest, dass die Wahl regelkonform verlaufen sei und empfahl die Bestätigung durch das Parlament. Jules Favre und Emile Olivier, einflussreiche Vertreter der konstitutionellen Opposition, bezweifelten die Neutralität der Wahlkommission und forderten eine offizielle Untersuchung durch einen parlamentarischen Ausschuss.828 Pereire betonte als Reaktion auf die Angriffe Oliviers, dass Geld bei seiner Wahl nur eine geringe Rolle gespielt habe. Auf die Kritik, Geld dürfe gar keine Rolle bei einer Wahl spielen, korrigierte er sich und berief sich wiederholt auf den Wählerwunsch des D¦partement. Einflussreiche Personen hätten ihm die Kandidatur angetragen und ihm eine überwältigende Unterstützung im D¦partement zugesichert. Die Wahlbeanstandung Durands wertete er als die enttäuschte Reaktion eines unterlegenen Kandidaten, der bei seinen eigenen Wählern in Ungnade gefallen war.829 Die Regierung war sichtlich darum bemüht, die Affäre klein zu halten, um keine weiteren Untersuchungen anstellen zu müssen. Kurzerhand wurden Neuwahlen anberaumt, in denen sich Justin Durand zwar als Gegenkandidat präsentierte, aber deutlich unterlag. Dennoch sorgte die Wahl von Isaac Pereire für einigen Wirbel in der Presselandschaft. Selbst britische Zeitungen berichteten ausführlich über den Verlauf der Debatte. Laut der Times nahm die öffentliche Aufmerksamkeit in Bezug auf Wahlmanipulation auch in Frankreich zu und Pereire stand wegen seiner prominenten Position als Leiter der Cr¦dit Mobilier und verschiedener Eisenbahnunternehmen im Rampenlicht. Die Times berichtete weiterhin über Versuche der Regierung, die Berichterstattung in der französischen Presse zu steuern. Das Ministerium habe eine »freundliche« Warnung an eines der einflussreichsten Journale herausgegeben, keine eigenen Aufzeichnungen der Debatten im Parlament zu veröffentlichen, sondern sich an die offiziellen von Charles de Morny, zu diesem Zeitpunkt Präsident des Parla-

827 Durand, Justin: R¦ponse de M. Justin Durand ancien d¦put¦ — M. Isaac Pereire. Paris 1863. AN Paris C 1356; Pereire, Isaac: R¦ponse de M. Isaac Pereire aux protestations de M. Justin Durand. Paris 1863. AN Paris C 1356. 828 Journal des D¦bats (25. 11. 1863), S. 3. 829 Ebd.

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ments, herausgegebenen Mitschriften zu halten. Außerdem solle man sich mit kritischen Kommentaren zurückhalten.830 Die Wahl von Paulin Talabot in Gard verlief vergleichsweise ruhig. Zwar wurde auch gegen ihn Beschwerde wegen Wahlmanipulation eingelegt. Aus mehreren Wahlbeanstandungen geht hervor, dass in vielen Wahllokalen Angestellte der PLM eingesetzt wurden und Anhänger Talabots mehrfach abstimmten. Allerdings war Talabot im Gegensatz zu Isaac Pereire seit Jahren in seinem Wahlkreis ansässig und hatte ein entsprechendes lokales Netzwerk aufgebaut, das eine weitreichende Opposition verhinderte. Die Debatten blieben daher auf die lokale Presse beschränkt.831 Das System staatlicher Wahlpatronage wurde von den politischen Gegnern Pereires und Talabots nicht kritisiert. Der Briefwechsel zwischen General Renault und Pereires Wahlkampfleiter Lireux wurde sogar zu Wahlkampfzwecken in gedruckter Form veröffentlicht. Der massive Eingriff der Regierung und der Verwaltung in das Wahlverfahren durch die offizielle Kandidatur wurde zumindest in der Öffentlichkeit nicht als Verstoß gegen das Recht auf freie Wahlen angegriffen. Regimekritik hätte den unterlegenen Kandidaten keine Vorteile geboten, da auch sie das System der Regierungspatronage nutzen wollten. Im Fall Pereire wurde lediglich das wankelmütige Verhalten der offiziellen Stellen im Vorfeld der Wahl bemängelt.832 Bei der nächsten allgemeinen Wahl 1869 hatte sich das politische Klima jedoch deutlich gewandelt. Die Praxis offizieller Kandidaten war zunehmend in die Kritik geraten und Ende 1869 durch Êmile Olivier in seiner Funktion als leitender Minister für unzulässig erklärt worden.833 Im März 1869 wurden die Präfekten trotz der zunehmenden Delegitimation des Verfahrens noch dazu eingesetzt, regierungstreue Kandidaten mit allen Mitteln zu unterstützen. Dies wirkte sich für Isaac Pereire nachteilig aus. Da er sich mit dem Conseil G¦n¦rale von Pyr¦n¦es-Orientales überworfen hatte, trat er nun nicht mehr in diesem D¦partement, sondern im benachbarten Aude zur Wahl an. Dort schlug ihm eine Welle der Antipathie entgegen. Selbst gemäßigte Zeitungen wie La Presse bezeichneten seine Kandidatur als »candidature financiÀre« und »candidature officielle honteuse«.834 Auch Paulin Talabot verlor die Wahl von 1869 in Gard, weil

830 The Times (27. 11. 1863), S. 8. 831 Wahlakte Talabot. AN Paris C 1349. 832 Protestation contre l’¦lection des Pyr¦n¦es-Orientales du 1er Juin 1863. D¦pos¦ aux Corps L¦gislatif. S. 12. AN Paris C 1356. 833 Voilliot: La candidature officielle, S. 183. 834 La Presse (16. 5. 1869), S. 3.

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sich Republikaner und Monarchisten gegen ihn, den regierungstreuen Kandidaten, zusammengeschlossen hatten.835 Während der richtungsweisenden Wahl von 1871 wurde das politische Feld erneut neu aufgeteilt. Das Listenwahlrecht wurde wieder eingeführt und es schien noch keineswegs klar, welche Staatsform Frankreich in der Zukunft haben würde. Der Ausgang der Wahlen war wegen des Wegfalls der staatlichen Patronagemechanismen ungewiss, Politiker standen nach der schmachvollen Niederlage gegen Preußen unter Generalverdacht und das Bürgertum war von Politikverdrossenheit ergriffen. Einzig die Kommunisten und Legitimisten witterten eine Chance. Die politischen Journale gaben Listen mit empfohlenen Kandidaten heraus, die nach Möglichkeit nicht politisch vorbelastet sein und ein breites Spektrum verschiedener Interessensgruppen repräsentieren sollten. Der Einfluss lokaler Honoratioren und Netzwerke wurde im politischen System der Dritten Republik zwar in die politische Peripherie verdrängt, konnte trotz ihrer Unvereinbarkeit mit grundlegenden republikanischen Idealen aber nicht zur Gänze ausgeschaltet werden.836 Auch die Rolle der Wirtschaft in der politischen Vertretung wurde neu diskutiert. Es wurde sehr direkt von der Repräsentation bestimmter Interessengruppen gesprochen, was ein ungewöhnlicher Vorgang in Frankreich war. Der liberale Journalist John Lemoinne fasste die weitverbreitete Einstellung zur Wahl in einem Beitrag über die möglichen Pariser Kandidaten prägnant zusammen: »La science, les lettres, le commerce, la grande industrie, les influences municipales, les carriÀres lib¦rales ont tout naturellement droit — Þtre repr¦sent¦es dans une ville comme Paris.«837 Unter den vorgeschlagenen Kandidaten befanden sich auch Direktoren der großen Eisenbahnunternehmen, die explizit wegen ihrer wirtschaftlichen Positionen empfohlen wurden. Unter ihnen fand sich allerdings keiner der bedeutenden Eisenbahndirektoren des Zweiten Kaiserreiches. Mit FranÅois Cl¦ment Sauvage, einem Direktor der Chemin de Fer de l’Est und Leon Say für die Chemin de Fer du Nord, traten nun eine neue Generation der Eisenbahnunternehmer an ihre Stelle.838

835 Lenoble, Jean: Les frÀres Talabot. Une grande famille d’entrepreneurs au XIXe siÀcle. Limoges 1989 (=Collection Figures du Limousin), S. 245. 836 Monier, Fr¦d¦ric: A »Democratic Patronage«. Social Integration and Republican Legitimacy in France (1880s – 1930s). In: Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne. Hrsg. von Ronald G. Asch, Birgit Emich u. Jens Ivo Engels. Frankfurt am Main 2011. S. 97–112, S. 98. 837 The Times (19. 6. 1871), S. 5. 838 Caron: Histoire des chemins, S. 442.

Zwischenfazit

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Zwischenfazit Während der Parlamentsdebatten über die Wahl Issac Pereires 1863 betonte der republikanische Abgeordnete Emile Olivier, dass Geld keinen Einfluss auf den Erfolg oder Misserfolg eines Kandidaten haben sollte.839 In der Praxis ließ sich diese strikte Trennung von Politik und Finanzen jedoch in der Regel nicht verwirklichen. Ökonomische Interessen mussten zu einem gewissen Grad auf den Prozess politischer Repräsentation einwirken. Ihre Priorisierung löste allerdings erhitzte Debatten aus. Wahlmanipulationsdebatten wurden zumeist von unterlegenen Kandidaten angestoßen. Im weiteren Verlauf konnten sie von politischen und wirtschaftlichen Konkurrenten des Angeklagten aufgegriffen und als Werkzeug benutzt werden, um Gegner zu diskreditieren. Das Verbot von Stimmenkauf war verbindlich und Korruptionsanklagen eigneten sich daher besonders gut als Argument in diesen politischen Konfliktsituationen. Eine Anklage wegen Wahlmanipulation enthielt jedoch stets auch eine moralische Komponente. Ankläger sahen die Würde des Parlaments und der politischen Repräsentation im Allgemeinen beeinträchtigt, während beschuldigte Kandidaten sich in ihrer persönlichen Ehre verletzt oder diffamiert gaben. Die Verknüpfung ökonomischer Interessen mit politischen Prozessen war grundsätzlich angreifbar und bedurfte besonderer Legitimationsmuster. Direkte Wahlbeeinflussung in Form von Stimmenkauf war kaum zu legitimieren und durfte daher nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Kurzlebige und direkte Formen der Wählerbeeinflussung mussten geheim gehalten werden, weil der persönliche Gewinn des Wählers klar ersichtlich zu Tage trat, was nicht mit dem Postulat freier und unabhängiger Wahlen vereinbar war. In den meisten Fällen wählten Eisenbahndirektoren daher andere Strategien, um Wahlentscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dies konnte über die Zugehörigkeit zu bestimmten politischen oder religiösen Gruppen erfolgen. In der Regel verließen sie sich jedoch auf diejenige Ressourcen, die ihnen im größten Umfang zur Verfügung standen: ihr ökonomisches Kapital und Netzwerke, die sich primär durch Geschäftskontakte ergaben. Die Auswahl eines geeigneten Wahlkreises war daher essentiell. Eisenbahndirektoren machten sich neben ihren persönlichen Kontakten und Netzwerken auch das ökonomische Kapital ihrer Unternehmen zunutze. Sie waren dabei durch die Interessen des Unternehmens und der Anleger eingeschränkt. Eine Kandidatur konnte also nur in Gebieten effektiv gefördert werden, in denen das Unternehmen eigene Interessen hatte. Auffällig viele Eisenbahndirektoren kandidierten nicht in ihren Heimatorten für nationale politische Ämter, sondern in den Regionen, in denen 839 Journal des D¦bats (25. 11. 1863), S. 3.

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die von ihnen geleiteten Unternehmen über Einfluss verfügten. Charles Laffitte kandidierte nicht in Paris, sondern im Herzland der Chemin der Fer de Paris — Rouen; George Hudson nicht in York, sondern in Sunderland; Isaac Pereire nicht in Bordeaux bzw. in Paris sondern im Einflussgebiet der Chemin de Fer du Midi. Indirekte Beeinflussung durch Investitionen in Infrastrukturen und Spenden waren zwar umstritten, konnten aber durch einen Verweis auf lokale Interessen des Wahlkreises legitimiert werden. Dies gelang in Großbritannien wegen des vorherrschenden Politikverständnisses besser als in Frankreich, wo die Nation in ihrer Gesamtheit das Gemeinwohl repräsentierte. Patronagestrukturen, in denen soziale und ökonomische Abhängigkeiten genutzt wurden, um Druck auf die Wähler auszuüben, finden sich im Umfeld von Eisenbahndirektoren in der Regel in Orten, in denen ein Großteil der Wählerschaft im jeweiligen Unternehmen angestellt war. Sie waren in Großbritannien, wo sich eigene Eisenbahnzentren in vormals ländlich geprägten Gegenden entwickelten, häufiger. Aufgrund der starken Zentralisierung in Paris finden sich vergleichbare Beispiele in Frankreich für die Eisenbahnbranche nur in abgeschwächter Form. Am ehesten mit den britischen Railway Towns vergleichbar wäre die Situation von Paulin Talabot in Gard, dessen Wirtschaft stark von der Chemin de Fer de Paris-Lyon-M¦diterran¦e abhängig war. Überregionale Eisenbahnunternehmen wurden durch Bestimmungen in ihren Konzessionen dazu verpflichtet, ein Büro in Paris zu unterhalten. Zweck der Regelung war es, einen möglichst reibungslosen Austausch zwischen Behörden und Unternehmen sicherzustellen. Da die national operierenden Eisenbahnunternehmer bis auf wenige Ausnahmen den Pariser Finanzkreisen angehörten, entschieden sich die meisten Unternehmen, ihren Hauptsitz gleich in der Metropole einzurichten. In anderen Branchen – etwa der Stahl- und der Textilindustrie – finden sich deutlich häufiger Strukturen, die mit den Railway Towns in Großbritannien vergleichbar sind.840 Aus diesem Grund mussten sich französische Eisenbahnunternehmer andere Wahlkreise suchen, in denen sie gute Aussichten hatten, ins Parlament gewählt zu werden, wie das Beispiel der Wahl von Charles Laffitte zum Abgeordneten von Louviers zeigt. Je indirekter die Formen der Einflussnahme angelegt waren, desto besser ließen sie sich mit normativ positiv bewerteten Praktiken verbinden und dadurch legitimieren. Wohltätigkeit und wirtschaftliche Entwicklung waren Schlagworte, die immer wieder erfolgreich von Eisenbahndirektoren vorgebracht wurden, um ihr eigenes Verhalten zu verteidigen. Indirekte Beeinflussung durch Investitionen in Infrastrukturen und Spenden waren zwar angreifbar, wie 840 Jardin, Tudesq: Restoration and Reaction, S. 389; vgl. auch: Schneider, Dominique, Caroline Mathieu u. Bernard Clément: Les Schneider, Le Creusot. Une famille, une entreprise, une ville (1836–1960). Paris 1995, S. 290.

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der Fall Laffitte zeigt, konnten aber auch legitimiert werden, da ein direkter Kontakt zwischen dem Korrumpierenden und dem Korrumpierten hergestellt werden konnte. Diese Formen der Beeinflussung hatten langfristige Verbindungen der Akteure zur Folge, die zwar in relativ kurzer Zeit angebahnt werden konnten, jedoch, da es sich in der Regel um Infrastrukturprojekte handelte, häufig über Jahre hinweg Bestand hatten. In Frankreich waren Wahlen durch regionale Ungleichheiten bei der Verteilung politischer Macht geprägt, insbesondere das Verhältnis von Peripherie und Zentrum des Staates wurde in den Debatten erörtert. Entgegen der rousseauschen Staatstheorie wurden Abgeordnete von der Wählerschaft als deren Vertreter auf der nationalen politischen Bühne angesehen, die durch komplexe Patronagenetzwerke mit ihrem Wahlkreis verbunden waren.841 Für beide Untersuchungsländer kann festgestellt werden, dass Parlamentswahlen zu einem gewichtigen Anteil von lokalen Interessen bestimmt und nur nachrangig von großen politischen Themen und parteipolitischen Erwägungen geprägt waren.842 In Großbritannien war zumindest die Einordnung eines Kandidaten in ein konservatives beziehungsweise liberales Lager notwendig. Diese waren jedoch lose Verbindungen, die nicht die Kohäsionskräfte moderner Parteiorganisationen aufwiesen, wie sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelten.843 Im Wahlkampf von Charles Laffitte und Isaac Pereire hingegen spielten nationale politische Themen keine Rolle. Parlamentswahlen waren die beste Möglichkeit der lokalen Eliten, um Missfallen und Forderungen gegenüber den nationalen politischen Institutionen zu artikulieren. Während im Falle Laffittes die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den lokalen Behörden noch kooperativ erfolgte und die Konfliktlinien zwischen angrenzenden Regionen verliefen, zeigte sich bei der Wahl Pereires eine klare Frontstellung zwischen lokalen Eliten und dem Zentrum in Paris.844 Während des Zweiten Kaiserreichs war es für Kandidaten nahezu eine Grundvoraussetzung, sich als kaisertreu zu repräsentieren, um die notwendige Unterstützung durch Regierung und Ver841 Tombs: France 1814–1914, S. 109. 842 Joseph Parkes, Anwalt und prominenter Wahlkampfkoordinator der Jahrhundertmitte kam zu dem Schluss: »that the action of political principle & particular Cabinet policies on the English Borough Constituencies is much over rated; secondly : that the returns are much more influenced by particular local circumstances than generally imagined; thirdly, that the returns are greatly influenced by the sufficiency & purse weight of Candidates«. Joseph Parkes an Lord John Russell. Undatiertes Zitat nach: McCord, Wood: The Sunderland election, S. 11. 843 Kirner, Guido O.: Politik, Patronage, Gabentausch. Zur Archäologie vormoderner Sozialbeziehungen in der Politik moderner Gesellschaften. In: Berliner Debatte Initial 14 (2003) H. 4. S. 168–183, S. 175. 844 Tombs: France 1814–1914, S. 101.

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waltung zu erlangen. Diese Patronage durch die Regierung war während der autoritären Phase des Zweiten Kaisereichs in öffentlichen Debatten nicht nur unangreifbar, sondern wurde sogar als positiv zu bewertende Vorselektion durch den Staat kommuniziert, die den vermeintlich politisch unerfahrenen Wählern eine notwendige Orientierungshilfe zur Verfügung stellte. In den späten 1860er Jahren verlor diese Darstellung jedoch rapide an Überzeugungskraft. Regierungspatronage spielte für Wahlkämpfe in Großbritannien während der Hochzeit des Liberalismus keine signifikante Rolle.845 Die Old Corruption-Debatten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Öffentlichkeit für das Problem staatlicher Patronage sensibilisiert und Regierungen waren stets darauf bedacht, sich dieser Kritik nicht auszusetzen.

845 Burn: Electoral Corruption, S. 442.

Teil 2: Exekutive

5.

Regulierung und Verstaatlichung

5.1. Reformen des Board of Trade Das Parlament bildet bis heute in Abwesenheit einer kodifizierten Verfassung das Herzstück der britischen Demokratie.846 Die Exekutive hingegen hatte stets mit einem Legitimitätsdefizit zu kämpfen. Dies galt insbesondere für das späte 18. Jahrhundert, der Hochzeit der Old Corruption-Debatten und Burkes Economical Reform sowie für das 19. Jahrhundert während der Hochzeit des politischen Liberalismus.847 Die Pionierzeit des Eisenbahnwesens war klar durch das Parlament dominiert. Die Ministerien befassten sich demzufolge in Großbritannien lange Zeit nur in sehr geringem Umfang mit Eisenbahnprojekten. Doch auch das staatliche Eingreifen durch die Legislative wurde durch juristische Aspekte eingeschränkt, die sich aus dem Private Bill-Verfahren ergaben. Private Bills waren nur zu einem Teil Gesetzgebung, zum anderen Teil definierten sie die Statuten der Eisenbahngesellschaften und stellten somit einen zivilrechtlichen Vertrag dar. Im Unterschied zu den Private Bills der Turn-Pike Trusts, die in der Regel auf 21 Jahre limitiert bewilligt wurden, waren Eisenbahnstatute nicht zeitlich begrenzt, was eine legislative Revision unmöglich machte.848 Nachdem eine Private Bill Rechtskraft erlangt hatte, waren die Möglichkeiten der Legislative, regulierend einzugreifen daher sehr limitiert. Somit war es unumgänglich, dass den Ministerien in einigen Punkten doch Kompetenzen eingeräumt wurden. Die engsten Berührungspunkte mit dem Eisenbahnwesen hatte mit Sicherheit das Board of Trade, das britische Äqui846 Foster, Christopher D.: British Government in Crisis, or, the Third English Revolution. Oxford 2005, S. 8. 847 Zu Edmund Burkes Reformplänen, das Board of Trade aufgrund von Sinekuren komplett abzuschaffen, siehe: Klinge, Dennis Stephen: Edmund Burke, Economical Reform, and the Board of Trade. 1777–1780. In: Journal of Modern History 51 (1979) H. 3. S. 1185–1200, S. 1186; vgl. auch: Wellenreuther, Hermann: Korruption und das Wesen der englischen Verfassung im 18. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 234 (1982). S. 33–62, S. 35. 848 Foster : Privatization, S. 18.

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Regulierung und Verstaatlichung

valent eines Handels- und Wirtschaftsministeriums, das ab 1840 offiziell für einige Bereiche der Eisenbahnindustrie zuständig war. Um mit der schnellen Entwicklung der Eisenbahnindustrie Schritt halten zu können, waren permanente Reformen und Anpassungen der Zuständigkeiten und Befugnisse der Exekutive notwendig. Diese wurden über General Acts – allgemeine Gesetzgebung – geregelt. Der Grad und die Gestalt staatlicher Regulierung war Gegenstand zahlreicher Debatten, in denen häufig auch die Korruptionsanfälligkeit staatlicher Institutionen eine zentrale Rolle spielte. Daher galt in der Regel der Grundsatz, so wenig Regulierung wie möglich und so viel wie notwendig.849 Die politischen Aushandlungsprozesse über die Befugnisse der Exekutive sind in mehrfacher Hinsicht relevant. Zum einen reflektierten sie das Verhältnis zwischen dem Ministerium und der Eisenbahnindustrie. In einigen Fällen gingen Reformvorschläge so weit, dass sie im Falle ihrer Umsetzung die Regulierung der Eisenbahngesellschaften und damit das Verhältnis zwischen Staat und Privatwirtschaft fundamental verändert hätten. Zum anderen lassen sich an den Debatten auch die Praktiken und Methoden der Interessenpolitik, insbesondere die der Vertretung von Brancheninteressen, besonders gut nachvollziehen und veranschaulichen. Die potentiellen Kompetenzbereiche des Board of Trade lassen sich in fünf große Themenblöcke einordnen. Zunächst wäre die Bewilligung neuer Strecken und die Planung eines zusammenhängenden Schienennetzes für Großbritannien zu nennen. Als zweiter Bereich stand die Regulierung der bereits ausführlicher diskutierten regionalen Monopole und damit zusammenhängend die Frage nach »angemessenen« Frachttarifen und Fahrpreisen im Raum. In beiden Bereichen stand das Ministerium in direkter Konkurrenz zum Parlament, das aufgrund der gesetzgeberischen Besonderheiten des Private Bill-Verfahrens hier über umfangreiche Zuständigkeiten verfügte. Als dritter Punkt wäre die Sicherheit des Bahnbetriebs aufzuführen. Der vierte Block umfasst eine mögliche Finanzaufsicht über die Eisenbahngesellschaften. Dies wurde insbesondere unmittelbar nach der Railway Mania intensiv diskutiert. Im fünften Themenbereich, der Frage nach einer möglichen Verstaatlichung des Eisenbahnnetzes, liefen gewissermaßen alle vorher genannten Regulierungsbereiche zusammen und hätten sie im Falle ihrer Umsetzung obsolet gemacht. Die überwiegende Mehrzahl der behandelten Reformdebatten befassten sich mit Erweiterungen der Befugnisse des Board of Trade. Einschränkungen von Zuständigkeiten wurden hingegen nur selten diskutiert. Widerstand gegen verstärkte Regulierung der Eisenbahnbranche durch staatliche Institutionen kam naturgemäß zuvorderst von den Vertretern der Industrie selbst, die von ihr betroffen gewesen 849 The Times (2.4. 1844), S. 6; vgl. Lubenow, William C.: The Politics of Government Growth. Early Victorian Attitudes toward State Intervention. Newton Abbot 1971, S. 110.

Reformen des Board of Trade

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wären. Die Opposition des Railway Interest konnte sich je nach Situation in individuellen Aktionen von Direktoren und Unternehmen oder als kollektive Kampagne des gesamten Railway Interest ausdrücken. Befürworter von Reformen waren in erster Linie die Angehörigen der Exekutive, die darum bemüht waren, ihren eigenen Einfluss zu erweitern. Zusätzliche Kompetenzen brachten den Behördenleitern in der Regel auch erweiterte Einflussmöglichkeiten und gesteigertes soziales Kapital. Regierungsmitglieder und Ministerialbeamte wiederum machten sich die zunehmende Kritik am vermeintlich übermächtigen Einfluss des Railway Interest zunutze, um für eine Erweiterung ihrer eigenen Kompetenzen zu werben. 1838 wurde die erste Gesetzgebung mit verbindlichem Charakter für die gesamte Eisenbahnbranche auf den Weg gebracht, nachdem festgestellt worden war, dass in den bisherigen Private Bills der Eisenbahngesellschaften keinerlei Bestimmungen zur Beförderung von Post getroffen worden waren. Henry Labouchere, der Vizepräsident des Board of Trade, brachte eine Gesetzesinitiative ein, die Eisenbahngesellschaften dazu verpflichten sollte, Post kostenlos zu befördern. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen, weil der Railway Interest den Standpunkt vertrat, dass dies zu einem unzulässigen Eingriff in das Privatvermögen der Unternehmen führe.850 Der Gesetzesvorschlag Laboucheres wurde schließlich in einer stark abgeschwächten Form im Parlament bewilligt, nachdem die Eisenbahngesellschaften Entschädigungszahlungen für sich ausgehandelt hatten.851 Damit war ein Präzedenzfall für einen konstanten Aushandlungsprozess zwischen Politik und Wirtschaft geschaffen, der über Jahre hinweg nach einem ähnlichen Muster ablief und zumeist von den Eisenbahnunternehmen dominiert wurde. Die Railway Times als Sprachrohr der Eisenbahngesellschaften begrüßte den Kompromiss mit dem Hinweis, dass ein einvernehmliches Zusammenwirken der Unternehmen und der Behörden für die Eisenbahnbranche unerlässlich sei. Sie merkte aber auch an, dass der Railway Interest über deutlich größeren politischen Einfluss auf die Eisenbahnpolitik des Parlaments verfügte als die Regierung.852 Sicherheitsfragen waren der erste Bereich, in dem die Exekutive ermächtigt wurde, umfänglicher regulierend in die Privatwirtschaft der Eisenbahngesellschaften einzugreifen, und dies geschah nicht ohne Grund. Zwischen 1831 und 1843 ereigneten sich allein auf der Strecke der Liverpool and Manchester Railway zwölf schwere Unfälle. Die nationale Presse zeigte sich zunehmend besorgt über unzureichende sicherheitstechnische Standards der Eisenbahngesellschaften. 850 Railway Times (13. 6. 1838), S. 347. 851 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 44. Sp. 447–481. Sp. 481. 852 Railway Times (13. 6. 1838), S. 347.

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Regulierung und Verstaatlichung

Sicherheitsfragen, bei denen potentiell das Leben der Fahrgäste auf dem Spiel stand, stellten einen eindeutigen Fall des öffentlichen Interesses dar. Regulierendes Eingreifen durch den Staat konnte daher in diesen Fällen besser gerechtfertigt werden als in anderen Bereichen. 1839 befasste sich daher das Select Committee on Railway Communication mit möglichen Maßnahmen, deren Ergebnisse allgemein als Lord Seymours Act bekannt wurden. Der Ausschuss forderte eine verstärkte technische Kontrolle der Eisenbahnstrecken durch den Staat, nach Möglichkeit durch ein dem Board of Trade angegliedertes eigenes Department.853 Im Vorfeld der angekündigten Gesetzesinitiative fand erstmals eine Versammlung der führenden Eisenbahndirektoren in Birmingham statt, auf der Schritte gegen die drohende Regulierung besprochen wurden.854 Im Juni 1840 brachte Lord Seymour den Gesetzesvorschlag ein, der gegen den Widerstand des Railway Interest im Juli verabschiedet wurde.855 Mit Lord Seymours Act wurde zunächst eine Abteilung als Unterorganisation des Statistical Department des Board of Trade eingerichtet, die ermächtigt wurde, bei Unfällen Inspektoren zu entsenden, die eigene Untersuchungen anstellten und ihre Ergebnisse den Unternehmen mit Vorschlägen für Verbesserungen unterbreiteten.856 Doch auch nach diesen Neuregelungen wurden in der Presse regelmäßig Forderungen nach einer verstärkten Kontrolle der Unternehmen in Bezug auf Sicherheitsvorschriften laut. Insbesondere nach Unfällen mit Personenschäden traten sie gehäuft auf. Die Times lobte zwar die Reports des Board of Trade zu Unfällen als wichtige Neuerung.857 Sie kritisierte aber gleichzeitig, dass dem Board keine weitergehenden Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt worden waren.858 853 Der parlamentarische Ausschuss forderte »a careful review of the difficulties that must arise from an extended intercommunication throughout the country, solely maintained by the Companies acting for their private interests, unchecked by competition, and uncontrolled by authority«. Second Report from the Select Committee on Railways. Parliamentary Papers. 1839, Bd. 10. S. XIII. 854 Alderman: The Railway Interest, S. 15. 855 Widerstand gegen die Empfehlungen des Committee kam von Sir John Easthope, dem Vorsitzenden der London and South Western Railway, der im Parlament eine kämpferische Rede hielt. In: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 55. Sp. 905–931, Sp. 906. 856 The Times (9. 10. 1841), S. 4. 857 The Times (15. 9. 1840), S.4; The Times (12. 11. 1840), S. 4. 858 »The Government has no more power than the suggester themselves of enforcing anything of the sort. The only powers which the Government possesses are those vested in the Board of Trade by the act for regulating railways, passed in the session 1840. This act declares that it is expedient for the safety of the public to provide for the due supervision of railways but it makes no provision for that purpose, beyond empowering the Board of Trade to ask for return of accidents, to appoint inspectors, and to enforce the provisions of existing railway acts.« In: The Times (9. 10. 1841), S. 4.

Gladstones Railway Regulation Act von 1844

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Die beschränkten Einflussmöglichkeiten des Board of Trade werden Anhand einer Bemerkung deutlich, die Lord Ripon – zu diesem Zeitpunkt der Präsident des Board of Trade – ein Jahr darauf im House of Lords machte. Er berichtete, dass das Ministerium Rundschreiben an die Eisenbahngesellschaften versandt habe, um auf die Gefahren hinzuweisen, die aus der gängigen Praxis resultierten, Waggons während der Fahrt zu verschließen. Lord Rippon fügte hinzu, dass ihm keine weiteren Druckmittel zur Verfügung stünden und er auf die Kooperation und Einsicht der Firmen setzen müsse.859 Eine Novellierung des Gesetzes im gleichen Jahr räumte dem Board of Trade immerhin die Befugnis ein, die Eröffnung neuer Strecken zu untersagen, solange nicht notwendige Sicherheitsstandards erfüllt worden waren. Des Weiteren konnte das Ministerium die Offenlegung bestimmter Geschäftsdaten von den Unternehmen verlangen, um ein statistisches Register anzulegen.860 Wirkungsvolles Eingreifen war dennoch eigentlich nur in der Bauphase der Strecken möglich. Nachdem ein Streckenabschnitt eröffnet worden war, verfügte das Board of Trade über allenfalls geringe Einflussmöglichkeiten.861 Untersuchungen zur Klärung von Unfällen konnten nur mit der Zustimmung der Eisenbahngesellschaften aufgenommen werden, auf deren Kooperation die Inspektoren angewiesen waren. Die meisten Unternehmen kooperierten primär wegen des öffentlichen Drucks, der ansonsten auf sie ausgeübt worden wäre. Sicherheitsfragen waren daher, obwohl sie eine der Kernkompetenzen des Board of Trade darstellten, ein konstanter Punkt von Unstimmigkeiten zwischen den Eisenbahngesellschaften und dem Ministerium. Die Eisenbahngesellschaften weigerten sich in vielen Bereichen beharrlich, sich an feste Regeln zu binden und branchenweite Standards einzuführen.

5.2. Gladstones Railway Regulation Act von 1844 Während staatliche Vorgaben zu Sicherheitsstandards lediglich umstritten waren, war Regulierung anderer Unternehmensbereiche noch deutlich schwieriger zu rechtfertigen. Beispielsweise fiel die Kontrolle der Finanzen und der Tarife der Unternehmen ausdrücklich nicht in die Kompetenz des Board of Trade.862 Ganz abgesehen davon, dass es der Behörde in der Praxis wohl auch an den notwendigen personellen Ressourcen gemangelt hätte, um die Eisenbahngesellschaften effektiv zu überwachen und Forderungen durchzusetzen, bestand 859 860 861 862

Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 63. Sp. 675–677, Sp. 675. Edwards: Railway Records, S. 3–4. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 55. Sp. 905–931 Sp. 906. Clapham, John Harold: An Economic History of Modern Britain. The Early Railway Age. Cambridge 1950 (Bd. 2), S. 415.

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ein breiter gesellschaftlicher Konsens gegen ein solches Eingreifen in die Privatwirtschaft. Dennoch wurden, wie bereits am Beispiel der Railway Mania deutlich wurde, gerade im Bereich der Unternehmensfinanzen immer stärkere Missstände offensichtlich. Dies trifft insbesondere auf die Gründungsphase von Unternehmen zu. Spätestens ab den 1840er Jahren war für jedermann ersichtlich, dass das Parlament nicht jeden Antrag für eine Private Bill aus eigener Kenntnis bearbeiten und auf seine unternehmerische Solidität hin überprüfen konnte. Daher wurden verschiedene mögliche Verfahren angedacht, wie dem Parlament die nötigen Informationen zu neuen Eisenbahnprojekten zur Verfügung gestellt werden könnten, die für seine Entscheidungsfindung notwendig waren. 1844 regte der neu berufene Leiter des Board of Trade, William Gladstone, angesichts der steigenden Anzahl von Private Bills und zunehmender Beschwerden über die Servicequalität der Eisenbahngesellschaften einen weiteren parlamentarischen Untersuchungsausschuss an.863 Der aus dieser Untersuchung hervorgegangene Railway Regulation Act von 1844 stellte mit seinen Reformvorschlägen den wohl weitestgehenden Eingriff in die Geschäftsführung der Unternehmen während der Untersuchungsperiode in Aussicht.864 Der Ausschuss war hochkarätig besetzt. Neben William Gladstone, der als Vorsitzender fungierte, gehörten dem Gremium auch Henry Labouchere, Lord Seymour, John Wilson Patten, Dudley Ryder, auch bekannt als Viscount Sandon und Lord Granville Somerset an. Als Vertreter der Eisenbahngesellschaften wurden Charles Russell, Edmund Beckett Denison und John Easthope berufen. Im Laufe der Untersuchungen wurden außerdem weitere eminente Vertreter der Eisenbahnindustrie als Zeugen angehört. Unter anderen sagten George Carr Glyn von der Great Western Railway, George Hudson, Mark Huish, Edward Cardwell, der Direktor der South Eastern Railway und Rowland Hill, der Leiter der London and Brighton Railway aus. Als Vertreter der Exekutive wurde lediglich Samuel Laing, ein Sekretär des Board of Trade, befragt. Charles Vignoles vertrat die Perspektive der Ingenieure.865 Die Berichte des Ausschusses wurden unterteilt in sechs Bände und über einen Zeitraum von mehreren Monaten veröffentlicht. Drei der sechs Report befassten sich in erster Linie mit Reformen des Private Bill-Verfahrens, der Zusammensetzung zukünftiger Untersuchungsausschüsse sowie neuer Standing Orders. Die Empfehlungen der Berichte wurden ohne nennenswerte Opposition in Gesetzesform überführt. Der dritte und der fünfte Report enthielten jedoch einige Vorschläge, die auf heftigen Widerstand des Railway Interest stießen. 863 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 72. Sp. 232–256, Sp. 232. 864 Roberts: The Development, S. 48. 865 Railway Times (17. 2. 1844), S. 177.

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Gemäß dem dritten Report sollte die Regierung unter bestimmten Bedingungen ermächtigt werden, Unternehmen nach 15 Jahren aufzukaufen oder ihre Tarife anzupassen. Voraussetzung dafür war, dass die betreffende Eisenbahngesellschaft in den vorangegangenen drei Jahren Dividenden über zehn Prozent erwirtschaftet hatte. Außerdem sollten die Unternehmen verpflichtet werden, regelmäßig Züge mit Waggons der dritten Klasse anzubieten, deren Fahrpreise einen Penny pro Meile nicht überschreiten durften. Diese speziell im Hinblick auf die zunehmende Anzahl von Pendlern konzipierten Züge, wurden als parliamentary trains bekannt.866 Der fünfte Report zielte auf das Verhältnis der Eisenbahnunternehmen zu den Ministerien. Dem Board of Trade sollte das Recht eingeräumt werden, eingereichte Anträge für Private Bills zu sichten und Empfehlungen für das Parlament auszusprechen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, musste es jedoch entsprechend personell erweitert werden.867 Nur wenige Wochen nach dem fünften Report und noch bevor der Sechste überhaupt erschienen war, brachte Gladstone einen Gesetzesentwurf ein, der im Wesentlichen auf den Empfehlungen des dritten Reports basierte und für einige Kontroversen sorgte. Der Entwurf enthielt eine Verstaatlichungsklausel und sah die Kappung von Dividenden vor. Diese Reformen hatten streng genommen nichts mit der Erweiterung der Befugnisse des Board of Trade zu tun, wurden jedoch in der Presse und im Parlament häufig als ein Themenkomplex behandelt. Gladstone verfolgte mit seinem Gesetzesentwurf die Absicht, die Auswirkungen des Monopols der Eisenbahnen auf ihren Strecken durch die Androhung von Verstaatlichungen zu mildern und den Unternehmen Zugeständnisse in Bezug auf ihre Fahrpreispolitik und den Kundenservice abzuringen.868 Die Reform des Board of Trade zielte im Wesentlichen darauf ab, eine Vorauswahl der eingereichten Private Bills zu ermöglichen. Nichtsdestotrotz wurden beide Maßnahmen unweigerlich eng miteinander verknüpft und debattiert. Auch dieser Gesetzesentwurf stieß im Lager der Eisenbahnunternehmer auf erheblichen Widerstand. Die Railway Times bezeichnete den Artikel zur Verstaatlichung als eine Farce und die Pläne für die Reform des Board of Trade als vollkommen unausgegoren.869 Das fahrgastorientierte und gegenüber den Eisenbahngesellschaften durchaus mit einer gehörigen Portion Misstrauen behaftete Herapath’s Journal war der Meinung, dass es Gladstone zwar gelingen könnte, die Bill durchzubringen. Ihre Umsetzung in der Praxis würde jedoch unmöglich, sollten sich die Unternehmen auf eine Blockadehaltung verständi866 Third Report from the Select Committee on Railways. Parliamentary Papers. 1844, Bd. 11. S. 6. 867 Fifth Report from the Select Committee on Railways. Parliamentary Papers. 1844, Bd. 11. S. 7. 868 Cleveland Stephens: English Railways, S. 103. 869 Railway Times (29. 6. 1844), S. 714.

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gen. Herapath’s Journal stand normalerweise konzertierten Kampagnen der Eisenbahngesellschaften kritisch gegenüber, in diesem Fall hielt es sie aber für gerechtfertigt, da die Regierung einen unverhältnismäßigen Angriff auf die Autonomie der Unternehmen gestartet habe.870 Entsprechend reagierten die Eisenbahndirektoren dann auch. Am 26. Juni 1844 fand ein Treffen der Eisenbahndirektoren in London statt, an dem die wichtigsten Vertreter der Branche teilnahmen und auf dem ein gemeinsames Vorgehen beraten wurde. Berichte der Journale über das Treffen sprachen von dem Ziel, das Gesetz vollständig zu kippen und kündigten eine Deputation der einflussreichsten Eisenbahndirektoren an, die bei der Regierung vorsprechen sollte. Die Abordnung unter der Leitung von George Hudson traf sich mit Premierminister Robert Peel, William Gladstone und Lord Somerset, um Einfluss auf den Entwurf zu nehmen oder die Bill bis zur nächsten Sitzungsperiode zu vertagen. Die Vertreter konnten die Regierung jedoch nicht zum Einlenken bewegen und Premierminister Peel bestand darauf, das Gesetz wie geplant zu verabschieden.871 Als folgende Konsequenz verlegte sich der Railway Interest darauf, die Öffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen, und startete eine publizistische Kampagne gegen das Gesetz. Die Direktoren riefen alle Eisenbahnaktionäre dazu auf, Druck auf ihre Abgeordneten auszuüben und sie anzuhalten, gegen das Gesetz zu stimmen. Des Weiteren wurden Rundschreiben an alle Abgeordneten verschickt und Anzeigen in den großen Tageszeitungen geschaltet.872 Den Vertretern der Eisenbahngesellschaften fiel es nicht leicht, eine überzeugende Argumentationslinie gegen die Vorschläge des Ministers zu finden. Gladstone war taktisch geschickt vorgegangen und hatte permanent seinen Kooperationswillen mit den Vertretern der Eisenbahnbranche betont. Mehrere Eisenbahndirektoren waren in den Untersuchungsausschuss berufen worden, um von vornherein dem Argument, dass die Unternehmen nicht ausreichend in die Beratungen eingebunden worden seien, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Railway Interest musste also einen anderen Ansatzpunkt für seine Kritik finden. Im Parlament übernahm Charles Russell die Führung der Eisenbahnfraktion und bemängelte, dass sowohl die Auswahl der im Untersuchungsausschuss angehörten Zeugen als auch deren Befragung allein von Gladstone und ohne Absprache mit den Vertretern der Branche durchgeführt worden war. Die Unternehmen seien über die Intentionen der Regierung in die Irre geführt worden und hätten bereitwillig kooperiert, weil sie davon ausgegangen waren, dass eine

870 Herapath’s Journal (13. 7. 1844), S. 817. 871 The Illustrated London News (6. 7. 1844). S. 6. 872 Railway Times (6. 7. 1844), S. 729.

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einvernehmliche Lösung angestrebt würde.873 Genuine Unternehmensinteressen wie zum Beispiel höhere Gewinnmargen und möglichst geringe Betriebskosten konnten in Debatten nur bedingt angeführt werden und mussten durch gemeinnützige Argumente ergänzt werden. Um dies zu erreichen, setzte der Railway Interest auf zwei Kernargumente. Zum einen war man bemüht, die ohnehin schon vorhandenen Vorbehalte gegenüber einer wachsenden Staatsmacht weiter zu schüren und zum anderen warnte man vor den handelsschädlichen Auswirkungen zusätzlicher Regularien. Darüber hinaus führte der Railway Interest die Unantastbarkeit von Privateigentum – insbesondere dem der Aktionäre – an, deren Zahl während der 1840er Jahre beträchtlich gestiegen war. Auch hier findet sich die Argumentationslinie, die Geschäftsinteressen der Unternehmen unter Verweis auf die Aktionäre mit dem Gemeinwesen verbindet. Zum Glück für den Railway Interest traf Gladstones Gesetzesentwurf jedoch nicht nur bei seinen Anhängern auf Widerstand, sondern wurde auch von vielen unbeteiligten Abgeordneten abgelehnt. Die breite Front gegen das Gesetz zeigt sich besonders deutlich in der Tatsache, dass allein zwischen dem 26. 6. 1844 und dem 12. 7. 1844 46 Petitionen gegen den Entwurf eingereicht wurden.874 Trotz des geballten Einsatzes seiner Ressourcen, konnte der Railway Interest eine positive Abstimmung zum Gesetz nach der zweiten Lesung zunächst nicht abwenden. Anschließend verlegte man sich auf eine Blockadehaltung mit der Zielsetzung, die Verabschiedung in der laufenden Sitzungsperiode zu verhindern.875 Als auch dies zu scheitern drohte, machte George Hudson einen erneuten Vorstoß und bot in einem öffentlichen Brief Verhandlungen an, um einen Kompromiss zu erreichen. Aktionen wie diese verstärkten den Eindruck, dass der Railway Interest in der Lage war, seine eigenen Gesetze schreiben zu lassen.876 Gladstone willigte in ein erneutes Treffen ein und empfing eine zweite, diesmal kleinere Deputation zu Beratungen hinter verschlossenen Türen.877 Über den genauen Verlauf der Verhandlungen lässt sich nur spekulieren. Gesichert ist jedoch, dass Gladstone als Folge seinen eigenen Gesetzesentwurf in einigen fundamentalen Punkten entschärfte. Die Verstaatlichungsklausel blieb zwar bestehen, betraf jedoch keine Unternehmen, die vor 1844 gegründet worden waren. Im Übrigen wurde ihr Inkrafttreten erst für 1865, also nach 21 Jahren festgesetzt. Die Obergrenze für Dividenden von zehn Prozent war ohnehin viel zu hoch angesetzt, um nach realistischer Betrachtung jemals wirksam zu werden. Für den äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass ein Unternehmen tatsächlich 873 874 875 876 877

Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 76. Sp. 465–530. Sp. 468. Roberts: The Development. S. 63. Ebd., S. 64. Railway Times (13. 7. 1844), S. 764. Railway Times (20. 7.1844), S. 801; Gladstone, William: The Gladstone Diaries. 1840–1847. Hrsg. von M.R.D Foot u. Henry Colin Gray Matthew. Oxford 1974 (Bd. 3), S. 390.

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einmal mehr als zehn Prozent Dividenden erwirtschaftet hätte, blieben ihm genügend Möglichkeiten, diese durch Investitionen und Neuausgabe von Aktien künstlich zu drücken und so einer Revision der Tarife zu entgehen. Allein bezüglich der parliamentary trains konnte sich Gladstone ohne Abstriche durchsetzen.878 Die Einschätzung der Presse zum Gesetz war geteilt. Der Spectator stellte eine klare Niederlage des Ministeriums fest, das sich der Opposition des Railway Interest beugen musste.879 Herapath’s Journal hingegen feierte die Verhandlungen zum Railway Regulation Act als eine Meisterleistung von Robert Peel, der seine persönliche Autorität untermauert und anschließend durch Kompromissbereitschaft Antipathien vermieden habe.880 Tatsächlich jedoch scheint eine übergeordnete politische Agenda Peel dazu bewogen zu haben, Gladstone dahingehend unter Druck zu setzten, den Vertretern der Eisenbahnbranche entgegenzukommen. Sein Ziel war es, weitere Gesetzesinitiativen während der Sitzungsperiode einzubringen, die zwar nichts mit der Eisenbahnbranche zu tun hatten, für die er aber die Kooperation der Director MPs quasi erkaufen wollte.881

5.3. Das Railway Department und die Railway Commissioners in den 1840er Jahren Trotz der vielen Konzessionen an die Vertreter der Eisenbahnbranche konnte William Gladstone zumindest einen kleinen Erfolg für sich verbuchen, denn die neuen Befugnisse des Board of Trade gingen weit über seine bisherigen Kontrollfunktionen in Bezug auf Sicherheitsmaßnahmen hinaus.882 Im August 1844 wurde ein eigenes Railway Department eingerichtet, dessen Mitglieder ausschließlich mit der Eisenbahnindustrie befasst waren und unter der Leitung des Vize-Präsidenten James Dalhousie arbeiteten. Die Berichte für das Parlament 878 Foster : Privatization, S. 28. 879 »Ceding to the opposition which the bill provoked, Ministers have cut out and thrown away twenty clauses, including all that provided machinery for the contemplated action of the Board of Trade. Practically to carry out the scheme in the compulsory purchase of railways or otherwise, Ministers must come to Parliament for machinery. The residue merely constitutes a kind of protest that future railway companies are not to establish a »vested interest« against the public; and that if the present companies desire to alter their position or extend themselves, they too must conform to the new order. Although they do not say much about it – which is wise – the Ministers have sustained a real and important defeat.« In: The Spectator (27. 07. 1844), S. 1. 880 Herapath’s Journal (27. 7. 1844), S. 873. 881 Hyde, Francis Edwin: Mr. Gladstone at the Board of Trade. London 1934, S. 79–80. 882 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 73. Sp. 1060–1061. Sp. 1060.

Das Railway Department und die Railway Commissioners in den 1840er Jahren

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wurden von einer fünfköpfigen Abteilung verfasst.883 Diese prüfte alle Anträge für neue Eisenbahnstrecken auf ihre Einhaltung der Standing Orders und gab ein Votum ab, bevor sie im Parlament eingebracht werden konnten. Während der Railway Mania versprach man sich durch diese Präselektion den zusätzlichen positiven Effekt, dass eventuelle »Bubble Schemes«, also betrügerische Scheinfirmen, frühzeitig erkannt und vermieden werden könnten. Das Railway Department verfasste allein für die Sitzungsperiode von 1845 Berichte zu 244 Gesetzesanträgen. Da es überdies die Einhaltung der Vorschriften zu Parliamentary Trains zu überwachen hatte, war es jedoch personell kaum in der Lage, die in der Folgeperiode eingehende Antragsflut für neue Strecken zu bearbeiten.884 Eine dringend notwendige personelle Erweiterung der Abteilung konnte nicht durchgesetzt werden. Außerdem führte die Entscheidung für ein duales Verfahren mit Select Committees und den Berichten des Board of Trade zu ständigen Debatten über die Gewichtung der Reports.885 Die parlamentarischen Ausschüsse entschieden regelmäßig gegen die Empfehlungen des Ministeriums, was sein öffentliches Ansehen weiter untergrub.886 Zu allem Überfluss kursierten im Winter 1844 Gerüchte in verschiedenen Journalen, dass Mitarbeiter des Board of Trade ihr Wissen über Interna ausgenutzt hätten, um an der Börse zu spekulieren.887 Dadurch wurden nicht nur die Expertise, sondern auch die berufsethischen Standards der gesamten Abteilung infrage gestellt. Die Skepsis der Öffentlichkeit und die Ablehnung der Parlamentarier gegenüber dem Railway Department waren so tiefgreifend, dass seine Arbeit nicht als effektiv wahrgenommen werden konnte. Folgerichtig wurde es bereits im folgenden Jahr wieder aufgelöst. Die bisherige konservative Regierung war wegen Peels Entscheidung, dem öffentlichen Druck nachzugeben und die Corn Laws abzuschaffen, auseinander gebrochen. Als Nachfolgeorganisation des Railway Department richtete die neue Whig-Regierung auf den Vorschlag eines von James Morrison geleiteten Untersuchungsausschusses ein neues Gremium, die Railway Commission, ein. Diese sollte in Zukunft die eingehenden Anträge auf ihre Einhaltung der Standing Orders überprüfen und bekam auch alle weiteren Befugnisse des Board of

883 884 885 886

Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 124. Edwards: Railway Records, S. 5. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 77. Sp. 170–185, Sp. 170. 1845 ignorierte die Investorengruppe rund um Edmund Beckett-Denison einen negativen Report des Board of Trade, der sich bezüglich der Strecke von London nach York für die bereits bestehende Verbindung der Midland Railway ausgesprochen hatte und reichte ihren eigenen Antrag in der Annahme ein, dass sich der anschließende parlamentarische Ausschuss nicht an die Empfehlungen des Ministeriums halten würde, was er auch tat. Lambert: The Railway King, S. 140. 887 The Times (20. 12. 1844), S. 3. Näheres siehe Kapitel 6.4.

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Trade in Bezug auf Eisenbahnen übertragen.888 Sie setzte sich aus Beamten und Parlamentariern zusammen und bildete damit eine ungewöhnliche Vermengung von Legislative und Exekutive in einem Kollegialsystem.889 Die Railway Commissioners wurden von der Regierung bestimmt. Den Vorsitz übernahm in der Regel ein Abgeordneter. Darüber hinaus sollte jeweils ein Peer, der das Gremium im House of Lords vertrat, ein Richter im Ruhestand und ein Ingenieur der Royal Engineers berufen werden. Ein weiterer Ingenieur fungierte als Sekretär. Die Mitarbeiter des Railway Department wurden in den Dienst der Railway Commission übernommen. Auch die Autorität der Railway Commissioners unter der Leitung des Whigs Edward Strutt war nicht unumstritten. Für sich genommen waren wohl alle Mitglieder der Railway Commission angesehene und fähige Leute, ihre Zusammenarbeit scheint aber nicht reibungslos funktioniert zu haben.890 1847 kritisierte der Abgeordnete Henry Fitzroy, dass die Berichte des Gremiums viel zu spät vorgelegt worden waren und zudem so lückenhaft blieben, dass sie nahezu unbrauchbar waren. Als Konsequenz forderte er die Aussetzung der Berichte für die laufende Sitzungsperiode. George Hudson griff dieses Argument als Vertreter der Eisenbahngesellschaften auf und wies auf die durch die Verzögerungen entstehenden Kosten hin.891 Die Arbeit von Edward Strutt als Leiter der Railway Commission stand primär im Zeichen der Auseinandersetzungen mit dem Railway Interest über ein einheitliches Buchhaltungssystem der Branche, welches eine bessere Kontrolle der Unternehmensfinanzen ermöglichen sollte. Die Railway Mania hatte das Thema einer Finanzaufsicht für die Eisenbahngesellschaften auf die politische Tagesordnung gebracht, Schifffahrtsunternehmen und Turnpike Trusts, und Edward Strutt versuchte mit einem entsprechenden Gesetzesantrag, verbindliche Buchhaltungs- und Prüfungsregeln einzuführen und den Railway Commissioners eine Aufsichtsfunktion zu sichern.892 Vertreter des Railway Interest bezogen im Gegenzug den Standpunkt, dass staatliche Buchprüfung einen unzulässigen Eingriff in die Privatwirtschaft darstellen würde, der noch dazu äußerst einseitig nur eine Branche beträfe, während andere Wirtschaftsbereiche, wie zum Beispiel Schifffahrtsunternehmen und Turnpike Trusts, nicht betroffen gewesen wären. Staatliche Buchprüfer wurden des Weiteren nicht als Garanten für eine verbesserte Kontrolle gesehen, da sie ebenso anfällig für Missbräuche und Betrug seien wie ihre Kollegen in der 888 Report from the Select Committee on Railway Acts Enactments. Parliamentary Papers. 1846, Bd. 14. S. 592. 889 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 88. Sp. 891–893, Sp. 891. 890 Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 94. 891 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 92. Sp. 947–950, Sp. 947. 892 Robb: White-Collar Crime, S. 43.

Das Railway Department und die Railway Commissioners in den 1840er Jahren

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Privatwirtschaft.893 Samuel Laing, ein ehemaliger Sekretär im Railway Department des Board of Trade, der mit der Auflösung des Railway Department aus dem Staatsdienst ausgeschieden war und seit 1848 Direktor und General Manager der London, Brighton and South Coast Railway war, verfasste ein Pamphlet im Sinne des Railway Interest. Er kritisierte Strutts Vorschläge und wies darauf hin, dass die Eisenbahngesellschaften durch ihre Aktionäre bereits über eine Kontrollinstanz verfügten.894 Strutt konnte mit seinem Ansinnen, die Railway Commissioners dazu zu ermächtigen, in regelmäßigen Abständen die Bücher der Eisenbahngesellschaften zu inspizieren, zwar auf eine breite öffentliche Unterstützung bauen, dennoch schaffte er es nicht, seinen Gesetzesantrag gegen den Widerstand des Railway Interest durch das Parlament zu bringen.895 Im Frühjahr 1848 gab er daher seinen Posten auf. Henry Labouchere, der seit dem Regierungswechsel von 1846 das Board of Trade leitete, übernahm an seiner statt den Vorsitz. Doch auch dieser Personalwechsel änderte wenig an der Gesamtsituation. In der folgenden Sitzungsperiode wiederholte Lord Redesdale im House of Lords die Kritk Henry Fitzroys, dass die Railway Commission ihren Aufgaben nicht gewachsen sei.896 Wenige Tage später beantragte der konservative Abgeordnete George Bankes im House of Commons die Auflösung der Railway Commission. Grund für seinen Antrag war allerdings nicht die vermeintlich mangelnde Effektivität des Gremiums, sondern die entstandenen Kosten. Dabei wurde er erneut von George Hudson und erstaunlicherweise auch von William Gladstone unterstützt, der bemängelte, dass die Commissioners trotz gleichbleibender Aufgaben deutlich höhere Gehälter erhielten, als ihre Vorgänger beim Board of Trade.897 Die Regierungsmehrheit der Whigs sicherte jedoch vorerst das Fortbestehen der Railway Commissioners trotz der diversen Anträge. Nach den Erfahrungen mit Strutts Railway Audit Bill 1848 und einem eigenen gescheiterten Railway Audit Bill von 1849 änderte Henry Labouchere seine Strategie im Umgang mit den Eisenbahngesellschaften. Fortan setzte er weniger auf langfristig ausgelegte Gesetzgebung, sondern reagierte situationsgebunden auf anstehende Probleme. Dabei zählte er vor allem auf öffentlichen Druck, der die Eisenbahnbranche zur Eigeninitiative und Reformen zwingen sollte. Er gab 893 The Times (2. 1. 1850), S. 8. 894 Laing, Samuel: Observations on Mr. Strutt’s Amended Railway Regulation Bill. London 1847, S. 4. 895 The Times (12. 1. 1850), S. 4; Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 104. Sp. 973, Sp. 973. 896 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 99. Sp. 675–680, Sp. 675. 897 Bankes rechnete vor, dass die jährlichen Kosten seit der Gründung der Railway Commissioners von 3302 Pfund auf rund 17000 Pfund angestiegen waren. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 100. Sp. 110–126, Sp. 110.

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in einer Erklärung im Parlament an, dass es eigentlich Aufgabe der Eisenbahngesellschaften sei, eigene Standards zu schaffen. Deswegen wolle er ihnen zunächst Zeit geben, aus eigener Initiative Vorschläge für einen entsprechenden Gesetzesantrag zur Finanzaufsicht einzubringen, bevor die Regierung einen erneuten Anlauf in dieser Richtung in Erwägung ziehen würde.898 Keines von beiden trat jedoch in den folgenden Jahren ein. Verbindliche Regelungen zur Buchführung der Eisenbahngesellschaften wurden erst 1868 erlassen. 1851 wurden die Railway Commissioners schließlich doch wieder aufgelöst und ihre Aufgaben zurück an das Board of Trade und damit in ein Ministerialsystem überführt. Dabei wurden auch die meisten Angestellten wieder in den Dienst des Ministeriums genommen. Die Leitung des Railway Department wurde Sir John Simmons, einem Royal Engineer der seit 1850 auch die Railway Commission geleitet hatte, übertragen.899 Die Auflösung der Railway Commission fand im Zuge weiterer Reformen öffentlicher Ämter, unter anderem des Lord of Privy Seal und des Mastership of the Mint statt und war Bestandteil der Retrenchment-Bewegung, die mit ihren Forderungen nach niedrigen Abgaben und Steuern zu Beginn des Jahrhunderts zunächst von Radicals getragen wurde und in den 1860er Jahren zu einem Eckpfeiler liberaler Politik wurde.900 Nachdem die Flut der Anträge von 1845 und 1846 in den Folgejahren abgeebt war, ließen sich die hohen Gehälter der Railway Commissioners nun noch weniger überzeugend rechtfertigen. Der parlamentarische Ausschuss, der sich mit den Bezügen von Beamten befasste, hatte die Auflösung der Railway Commission denn auch mit der Begründung empfohlen, dass der Ausbau des Eisenbahnnetzes fast abgeschlossen sei und daher weniger Arbeit anfalle. Henry Labouchere als Leiter der Railway Commissioners stimmte dieser Entscheidung notgedrungen zu.901

5.4. Das Railway Department nach 1851 Die Autorität des Board of Trade wurde auch nach der Wiederherstellung des Railway Department durch einen Mangel an Befugnissen und Personal untergraben. Viele Parlamentarier hatten weiterhin Vorbehalte gegen Kontrollinstanzen der Exekutive und wurden durch den Railway Interest noch in dieser Haltung bestärkt.902 Exemplarisch steht hier Edward Cardwells gescheiterter Vorstoß von 1854, dem Board of Trade eine Schiedsgerichtsfunktion bei Aus898 899 900 901 902

Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 108. Sp. 272, Sp. 272. Parris: Government, S. 129. Harling: The Waning, S. 165; GASH: Aristocracy and People, S. 74–76. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 116. Sp. 537–561, Sp. 539. Railway Times (15. 5. 1858), S. 636.

Das Railway Department nach 1851

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einandersetzungen innerhalb der Branche oder mit Zulieferern zu übertragen. Diese Funktion wurde stattdessen an den Court of Common Pleas, also die Judikative delegiert. Aufgrund der anfallenden Gebühren für private Kläger wurde sie jedoch so gut wie nie genutzt. In den 1850er Jahren wurde die Sicherheit auf den Eisenbahnstrecken erneut zu einem politischen Thema. In Großbritannien hatte sich, beeinflusst durch Jeremy Bentham und die Anhänger des Utilitarismus, zwischen 1830 und 1850 das System der »inspectorate governance« weiterentwickelt, in dem Behörden überprüfende Untersuchungen anstellten und anschließend publizierten. Die Berichte der Ingenieure des Board of Trade wurden zunächst nur als Anhänge der jährlichen Arbeitsberichte veröffentlicht. Ab 1852 erschienen sie als eigene Blue Books und ab 1854 ging man dazu über, Berichte zu besonders schweren Unfällen sogar einzeln zu veröffentlichen.903 Dadurch sollte ein noch größerer Druck auf die Unternehmen ausgeübt werden, ihre Sicherheitsstandards zu erhöhen. Das Railway Department stellte die Ergebnisse nun der Öffentlichkeit zur Verfügung und überließ eventuelle rechtliche Schritte privater Initiative.904 Die erhoffte Wirkung der Berichte trat jedoch nicht ein und in den 1860er Jahren ereigneten sich einige folgenschwere Unfälle. Allein 1861 kam es auf den Strecken der North London Railway innerhalb von nur acht Tagen zu mehreren Unfällen mit insgesamt 36 Toten. 1865 folgte jeweils ein schwerer Unfall auf der Strecke der Great Western Railway und der South Eastern Railway. Der Unfall auf der Strecke der South Eastern Railway zog besonders viel Aufmerksamkeit auf sich, weil sich Charles Dickens an Bord befand.905 Weite Teile der Presse gaben den Unternehmen die Schuld an den Unfällen, weil sie vermeintlich technisch veraltete Bremssysteme und Signale verwendeten und selbst rudimentäre Sicherheitsmaßnahmen häufig nicht umgesetzt wurden. Ab 1869 erbat das Board of Trade daher Reports über die Einrichtung neuer Sicherheitssysteme. Einige Unternehmen, unter ihnen auch die North Eastern Railway, weigerten sich jedoch, Auskunft zu geben. Ein Jahr darauf ereigneten sich vier schwere Unfälle auf ihrer Strecke und der General Manager William O’Brien war gezwungen, seinen Rücktritt einzureichen. Diese Unfallwelle löste eine neue Gesetzgebung zwischen 1871 und 1873 aus, in deren Folge ein eigenes Gericht zur Untersuchung von Unfällen geschaffen wurde.906 Auch in anderen Bereichen fanden trotz mehrerer politischer Initiativen bis in die 1870er Jahre keine grundlegenden Veränderungen der Zuständigkeiten des Board of Trade mehr statt. Am 24. 6. 1863 hatte das Select Committee on 903 904 905 906

Parris: Government, S. 145. Dobbin: Forging Industrial Policy, S. 161. The Times (10. 06. 1865), S. 9. Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 2–3.

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Private Bill Legislation seinen Bericht vorgelegt, in dem James Booth, einer der Chefsekretäre des Board of Trade, einen Reformplan ausgearbeitet hatte. Dieser Plan sah vor, dem Board of Trade weitergehende Rechte einzuräumen und im Gegenzug die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in ihren Kompetenzen einzuschränken. Das Board sollte nach Möglichkeit die Konkurrenz zwischen den Unternehmen anregen und die langwierigen Verhandlungen über Landenteignungen verkürzen. Für seine Vorschläge fand sich jedoch keine Mehrheit unter den Abgeordneten.907 1865 stand die Frage nach einer potenziellen Verstaatlichung bestimmter Eisenbahngesellschaften nach den Bedingungen von Gladstones Railway Regulation Act von 1844 an. Auf Druck von Gladstone, seit 1859 Finanzminister, wurde eine Royal Commission unter der Leitung von William Cavendish, 7th Duke of Devonshire, eingesetzt, die sich über zwei Sitzungsperioden mit der Thematik befasste und sich in ihrem Report gegen eine Verstaatlichung aussprach. Die Finanzkrise von 1866 brachte auch die Frage nach verbindlichen Buchhaltungsregeln und einer verschärften Finanzaufsicht der Eisenbahnbranche wieder auf die Tagesordnung. Im Unterschied zu den 1840er Jahren war nun die Zeit für erste Reformen gekommen. 1868 setzte der neue Chairman der Great Eastern Railway, der junge Robert Cecil, zu diesem Zeitpunkt noch Lord Cranborne und später Marquess of Salisbury, erstmals Buchprüfer des Board of Trade ein, um die Finanzlage seines Unternehmens prüfen zu lassen.908 Im gleichen Jahr wurden mit dem Regulation of Railways Act daher auch erstmals verbindliche Buchhaltungsregeln eingeführt.909 Der Regulation of Railways Act von 1868 leitete die allmähliche Abkehr vom Laissez-faire ein. Grundlegend für die zunehmende Intervention der Ministerien war die wachsende Stabilität der Regierungsmehrheiten durch Parteidisziplin. Die Wahlrechtsreform von 1867 hatte das Zweiparteiensystem weiter gestärkt und läutete endgültig die Ära der Parteipolitik ein. Auch die öffentliche Meinung in Bezug auf staatliche Regulierung war einem allmählichen Wandel unterworfen.910 Dieser Umschwung in der Gesetzgebung ging jedoch nicht über Nacht vonstatten, sondern war ein gradueller Prozess.911 Zunächst bestand das System der ad-hoc Politik in vielen Bereichen noch weiter. Hierbei beschränkte sich die 907 908 909 910

Cleveland Stephens: English Railways, S. 210. Greaves: Sir Edward Watkin, S. 151. Robb: White-Collar Crime, S. 54. »The change which has now come over the spirit of the age is almost incredible. Whether from the precedent of the Electric Telegraph and other branches of the postal service, or whether from the growing conviction that »the state« ought to do more for the people than it does, we find it stoutly argued that Government work is better done than any other work, …« In: The Times (27. 3. 1873), S. 9. 911 Gourvish: Railways, S. 53.

Debatten über Erweiterungen der Befugnisse des Board of Trade

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Regierung darauf, auf aktuelle Probleme zu reagieren. Sie wurde jedoch zunehmend durch regulierende Gesetzgebung flankiert, die eine Stärkung der Exekutive bewirkte und sich 1873 mit der Gründung der Railway and Canal Commissioners auch institutionell manifestierte. Sicherheit und Verkehrsregulierung waren auch in den 1870er Jahre die dominierenden Themen. Mit der wiedererstarkenden Arbeiterbewegung gewann jedoch auch die Frage nach staatlichen Vorgaben zu Arbeitsbedingungen an Bedeutung und sollte sowohl die Eisenbahndirektoren, wie auch die nationale Politik in den folgenden Jahrzehnten beschäftigen.912

5.5. Debatten über Erweiterungen der Befugnisse des Board of Trade Die in den vorherigen Kapiteln dargestellten politischen Aushandlungsprozesse und Reformen waren von intensiven gesellschaftlichen Debatten begleitet. Die Railway Times warnte anlässlich des Gesetzesvorschlags von William Gladstone 1844 offen vor einem System korrupter Einflussnahme, das durch eine Erweiterung der Befugnisse der Exekutive entstehen würde.913 Sie spielte darauf an, dass Entscheidungsprozesse der Exekutive inhärent weniger transparent seien als ihre parlamentarischen Pendants. Die Reformen des Board of Trade waren von konstanten Debatten begleitet, in denen die Korruptionsanfälligkeit der Ministerialbürokratie und der Regierung gleichermaßen ein gängiges Motiv darstellte. Die meisten politischen Reformbewegungen der Zeit setzten sich intensiv und äußerst kritisch mit der Frage nach einem angemessenen Grad staatlicher Einflussnahme auf die Wirtschaft auseinander.914 Korruption war jedoch nur ein Argument unter vielen, die gegen eine Erweiterung der Befugnisse des Board of Trade vorgebracht wurden. Die Kompetenz der Ministerien wurde regelmäßig infrage gestellt und wirtschaftsliberale Kritiker warnten vor der Behinderung des Handels durch unnötige Regeln sowie Verordnungen. Ein Großteil der Auseinandersetzungen wurde also durchaus auf der Grundlage von wirtschaftspolitischen Erwägungen und Fragen der Praktikabilität geführt. Ein weiteres Argument gegen eine verstärkte Kontrolle der britischen Eisenbahnindustrie leitete sich aus der stark ausgeprägten Bedeutung von persönlicher 912 Bagwell, Philip Sidney : The Railwaymen. The History of the National Union of Railwaymen 1963 (Bd. 1), S. 47. 913 »Because an unheard-of power would be vested by the Bill in the Government, giving rise to a system of private solicitation and influence, and possibly to the exercise of undue partiality, in matters which hitherto come openly and exclusively under the cognizance of the Legislature.« In: Railway Times (6. 7. 1844), S. 730. 914 Searle: Morality, S. 28.

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Verantwortung in der viktorianischen Gesellschaft her. Die Forderung nach eigenverantwortlichem Handeln galt sowohl für die Leitung der Unternehmen, wie auch für Anleger und Kunden. Anlegern, die während der Railway Mania Betrügern zum Opfer gefallen waren, wurde nicht selten vorgehalten, sie hätten es an der notwendigen Sorgfalt mangeln lassen und könnten nun nicht auf den Schutz des Staates pochen.915 Auch das Argument Henry Laboucheres, dass es eigentlich die Aufgabe der Eisenbahngesellschaften sei, für Standards in Sachen Buchhaltung und Buchprüfung zu sorgen, spiegelt diese Überzeugung wider. Dennoch überlagerte die normative Ebene häufig den Diskurs der Sachebene. Dem äußeren Anschein nach waren diese Debatten Auseinandersetzungen über die politische Verfasstheit des Landes. Die Argumente in den Debatten wurden jedoch häufig instrumentalisiert und für machtpolitische Ziele genutzt. Der Verweis auf die inhärente Korruptionsanfälligkeit der Exekutive half dabei, argumentative Lücken zu schließen und kam immer dann zum Einsatz, wenn der Exekutive das grundsätzliche Recht zum Eingreifen abgesprochen werden sollte. Ein konstantes Problem für Verfechter stärkerer staatlicher Regulierung durch die Exekutive blieb das Argument, dass sie erneuten Raum für Missbräuche lieferte, indem sie Einzelpersonen erhebliche Machtmittel an die Hand gab.916 Dieses Argument war natürlich eine willkommene Unterstützung für diejenigen Abgeordneten, die den Einfluss der Legislative sichern und somit auch ihre eigene Position stärken wollten. Die Debatten im Parlament waren daher umfangreicher und hitziger als dies normalerweise bei wirtschaftspolitischen Themen üblich war. Die widerstreitenden Positionen lassen sich pointiert anhand der Reformdebatten von 1844 bis 1847 und um 1854 sowie der Debatten über die mögliche Umsetzung der Verstaatlichungsoption zwischen 1865 und 1874 nachvollziehen. Charles Russell, den Gladstone ironisch als Chieftain des Railway Interest bezeichnete, betonte 1844 in seiner Rede zu Gladstones Gesetzesentwurf die fundamentalen verfassungsrechtlichen Konsequenzen, die sich aus den Vorschlägen ergaben. Er stellte die Frage in den Raum, ob das Parlament wirklich gewillt sei, Ministern derartige Patronagemöglichkeiten einzuräumen, ohne Kontrollmechanismen eingerichtet zu haben.917 Robert Peel drehte in seiner 915 Robb: White-Collar Crime, S. 148. 916 The Times (25. 5. 1847), S. 4. 917 Charles Russell: »He expected the House to consider the Bill, not in relation merely to the interests of the Railway Companies, but with reference also to the principle on which it was founded. He asked was the House prepared, looking at the matter solely on commercial grounds, to take so violent a step as the Government called upon it to take? He asked, was the House prepared, on political grounds, to sanction a measure which would place such immense patronage in the hands of Ministers, and that, too, without any precaution to guard the use of it?« Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 76, Sp. 465–530, Sp. 468.

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Entgegnung das Argument um, und präsentierte das Canvassing der Eisenbahnunternehmen im Parlament als eine unzulässige Einflussnahme.918 William Gladstone hielt eine eindrucksvolle Rede, die in der Hansard-Edition fast dreißig Spalten umfasst. Da er die Vertreter der Eisenbahngesellschaften ohnehin nicht auf seine Seite ziehen konnte, konzentrierte er sich darauf, zumindest diejenigen Abgeordneten für seinen Gesetzesantrag zu gewinnen, die eine Erweiterung des Befugnisse des Board of Trade in erster Linie aufgrund von politischen Erwägungen ablehnten, jedoch keine persönlichen Verbindungen zum Railway Interest hatten. Er betonte, dass die Entscheidung über eine eventuelle Verstaatlichung auch weiterhin beim Parlament lag und auch die Entscheidungsgewalt über Private Bills nicht angetastet würde. Die Gefahr erweiterter Regierungspatronage bestünde daher nicht.919 Der Begriff der Patronage wurde in diesen Debatten in seiner engeren Bedeutung als Regierungspatronage verwendet, welche durch eine Erweiterung des Staatsapparates anwuchs und im Wesentlichen auf die Akkumulation politischen Einflusses abzielte. Die Debatten im Parlament wurden intensiv in den Tageszeitungen und Fachjournalen analysiert und somit in die breitere Öffentlichkeit getragen. Schon bald erschienen auch erste umfangreichere Publikationen, die sich mit den potentiellen Auswirkungen der Reformen befassten. Eine besonders populäre Publikationsart des 19. Jahrhunderts waren Pamphlete, die unter dem Schutz der Anonymität die Möglichkeit boten, einerseits Akteure klar zu benennen, andererseits aber auch unbelegbare Anschuldigungen vorzubringen. 1845 erschien ein zweiteiliges Traktat unter dem Titel »Ruminations on Railways«, in dem das Board of Trade scharf angegriffen wurde. Der Autor bemängelte in Anspielung auf Gladstones Select Committee, dass sich die Regierung die Antragsflut im Parlament zunutze mache, um ihre eigenen Befugnisse durch von ihr gesteuerte parlamentarische Ausschüsse zu erweitern.920 Dabei bediente er sich einer Sprache, die bewusst historisch aufgeladene Begriffe verwendete und einen klaren Bezug zu Korruptionsdebatten des Ancien R¦gime und den Old-Corruption Debatten herstellte.921 Was zunächst wie eine Propagandaschrift des Railway Interest oder eines Radicals anmutet, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Plädoyer für konservative und modernisierungs918 Robert Peel: »Great complaints had been made with respect to the system of Canvassing on private Bills. Public opinion had succeeded in putting down that species of canvass, but it continued in full force, and was even spreading more extensively with regard to public measures, and though the House might not be able to control it, it was proper that public opinion should be brought to bear upon it.« Ebd., Sp. 479. 919 Ebd., Sp. 480–509. 920 Anonym: Ruminations on Railways. The Board of Trade. London 1845 (Bd. 2), S. 2–3. 921 »That the Railways’ Bill, and the subsequent resolutions of the House of Commons, gave a new and most extraordinary power to Government, and patronage and influence, the amount of which almost baffles calculation can not be denied.« Ebd., S. 4.

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kritische Überzeugungen. Der Autor griff nämlich nicht nur das Board of Trade an, sondern kritisierte gleichzeitig auch die Eisenbahnunternehmen wegen ihrer regionalen Monopole und sprach sich für einen besseren Schutz der Landbesitzer vor Enteignungen aus.922 Aktienhandel und Spekulation wurden als eine Gefährdung für die Geschäftsmoral gebrandmarkt, in deren Folge niemand sich mehr mit ehrlichem und produktivem Handel zufrieden geben würde. Den Kern des Pamphlets bildet eine Verschwörungstheorie, wonach die Eisenbahndirektoren und die Minister des Board of Trade gemeinsam das Ziel verfolgten, die Rechte der Legislative zu untergraben, um ihren eigenen Einfluss zu erhöhen. Damit bedrohten sie nach der Ansicht des Autors die althergebrachte politische Ordnung und jahrhundertealte parlamentarische Traditionen.923 Die bereits etablierten Unternehmen wollten sich seiner Ansicht nach durch fadenscheinige Zugeständnisse ein zuständiges Gremium schaffen, das bedeutend einfacher zu beeinflussen war als das Parlament und sich dadurch gegen Landbesitzer und Konkurrenz von Seiten neuer Unternehmen absichern.924 Dadurch bezog der Verfasser klar Stellung gegen die monopolistischen Unternehmen. Ein weiteres Pamphlet unter dem Titel »Railways and the Board of Trade« aus dem gleichen Jahr, das nach seinem Duktus und der Argumentationslinie von dem gleichen Autor stammen könnte, konkretisierte diese Anschuldigungen. Das Board of Trade unterstütze durch seine Berichte Monopolisten und etablierte Interessengruppen. Es habe George Hudson in seiner Stellung im Nordwesten Englands gestärkt, indem es gegen eine unabhängige und konkurrierende Linie von Newcastle nach Berwick votierte und habe alles getan, um die Great Western und South Eastern Railway gegen Konkurrenten in ihren Regionen zu beschützen.925 Ein wesentlicher Kritikpunkt an dem neuen Railway Department war die Art und Weise, in der die Berichte für das Parlament erstellt wurden. Die Untersuchungen fanden nicht öffentlich statt und die beteiligten Parteien hatten keine Möglichkeit, eine Revision der Ergebnisse zu erwirken. Die Berichte des Railway Department zwischen 1844 und 1846 wurden daher primär wegen ihrer Intransparenz kritisiert und als korrupt wahrgenommen.926 Hinzu kam die ungeahnte Antragsflut während der Railway Mania, mit deren Bearbeitung das Railway Department schlichtweg überfordert war. Die Überlastung der Behörde in Kombination mit der starken generellen Skepsis der britischen Öffentlichkeit

922 Ebd., S. 16. 923 »We propose to exhibit …; Secondly, the real amount and unconstitutional nature of the authority thus transferred by the Legislative to the Executive Body.« Ebd., S. 5. 924 Ebd., S. 8. 925 Anonym: Railways and the, S. 31. 926 Casson: The World’s First, S. 28.

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gegenüber den Befugnissen der Exekutive, machten das Railway Department auf lange Sicht gesehen politisch unhaltbar. Den nachfolgenden Railway Commissioners erging es nicht viel besser. Auch ihnen wurde immer wieder Parteilichkeit vorgeworfen. Ironischerweise waren auch sie zumindest zum Teil mit der Zielsetzung gegründet worden, das als korrupt empfundene Canvassing privater Interessengruppen in den Untersuchungsausschüssen des Parlaments zu beenden. Das radikale Journal The Spectator vertrat 1846 zunächst eine für britische Verhältnisse ungewöhnliche Ansicht und forderte die Bildung eines Ministeriums für öffentliche Arbeiten nach französischem Vorbild. Es sollte die Legislative entlasten und die privaten Unternehmer vom Generalverdacht der korrumpierenden Einflussnahme auf das Parlament und die Untersuchungsausschüsse befreien. Der Spectator merkte allerdings noch im gleichen Artikel an, dass ein solches Vorgehen wohl zu weit von britischen parlamentarischen Gepflogenheiten abweichen würde und befürwortete daher die Gründung der Railway Commissioners als einen Mittelweg zwischen beiden Extremen.927 Einige Monate später wiederholte der Spectator seine Forderung nach der Einrichtung einer übergeordneten Instanz.928 Diesen Erwartungen konnte das Gremium nicht gerecht werden. Das größte legitimatorische Problem der Railway Commissioners waren jedoch die durch die Gehälter verursachten Kosten, verbunden mit der scheinbaren Ineffektivität der Einrichtung, die Erinnerungen an Sinekuren der Zeit vor dem Reform Act aufkommen ließen. Diese Assoziation wurde noch dadurch verstärkt, dass für eine Beschlussfähigkeit der Commissioners lediglich zwei Personen notwendig waren und einige Mitglieder nur selten an den Sitzungen teilnahmen.929 Bereits 1848 hatte sich die Einschätzung des Spectator soweit gewandelt, dass er die grundsätzliche Fähigkeit der Politik, der »railway anarchy« Herr zu werden, anzweifelte.930 Er spiegelte damit eine weitverbreitete Einschätzung wider. Angesichts dieser Begleitumstände konnte es kaum überraschen, dass die Railway Commissioners im Zuge der Retrenchment- Reformen von 1851 wieder aufgelöst wurden. Einen nächsten Anlass für Debatten über die Befugnisse des Board of Trade bildete Edward Cardwells Gesetzesentwurf von 1854. Thomas Coates, ein prominenter Parliamentary Agent, der von der London and North Western Railway und einigen weiteren Unternehmen engagiert worden war, um die gemeinsame 927 The Spectator (14. 2. 1846), S. 12. 928 »This kind of intervention would be a proper function for the new Railway Board, or rather for such a tribunal as that ought to be — one constructed of the ablest men, endowed with ample power judicial and administrative, beyond the influence of Parliamentary Canvassing, and above every corruption«. In: The Spectator (12. 9. 1846), S. 13. 929 Parris: Government, S. 103. 930 The Spectator (12. 8. 1848), S. 12.

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Opposition gegen die Bill zu koordinieren, fasste die Argumente des Railway Interest programmatisch in einem Pamphlet zusammen. Schon in der Einleitung wies er darauf hin, dass Großbritannien bisher von einem der größten Übel des Staatswesens verschont geblieben sei – der Entwicklung einer überbordenden Bürokratie.931 Die vorgeschlagenen Änderungen würden aber genau diese Entwicklung beschleunigen und Entscheidungsgewalt in die Hände politischer Amtsträger legen, die wegen ihrer kurzen Amtszeiten keine tiefergehende Sachkenntnis entwickeln könnten.932 Im Unterschied zu den anonymen Pamphleten der 1840er Jahre bemühte sich Coates nicht, seine Identität zu verbergen und seine Intention war jedem Leser, der mit der Eisenbahnbranche etwas vertraut war, sofort klar ersichtlich. Mitte der 1860er Jahre veröffentlichte Coates ein weiteres Pamphlet, in dem er das Board of Trade scharf angriff.933 Er nahm den Bericht des Committee on Private Bill Legislation von 1863 zum Anlass, um gegen die Befugnisse des Board of Trade im Allgemeinen zu argumentieren, und bediente sich der gleichen Argumente, die bereits in den 1840er Jahren gegen eine Ausweitung der Rechte des Board of Trade vorgebracht worden waren.934 Frühere Gesetzesvorschläge seien wenigstens in ihrem Ansinnen klar erkennbar gewesen, da das Board of Trade immer wieder versucht habe, sich Befugnisse anzueignen, die eigentlich im Machtbereich der Legislative angesiedelt seien.935 Zum Glück aber habe das House of Commons die bisherigen Versuche der Regierung, mittels Finanzaufsicht und obligatorischer Schiedsgerichte in das Management der Unternehmen einzugreifen, vereitelt.936 Auch die Schlüsse, die Coates aus dem vorliegenden Gesetzesentwurf zog, spiegeln Argumente der 1840er Jahre wieder. Abermals richtete sich die Hauptkritik gegen die Intransparenz der Untersuchungs- und Entscheidungsprozesse in der Exekutive. Nach den neuen Gesetzen gäbe es keine Kontrollinstanz, welche die Arbeit des Board of Trade überwachen könnte. Willkür und Machtmissbrauch würden daher stark begünstigt.937 931 »… another step is taken towards founding that against which every man who values our institutions revolts as it were instinctively ; and which we must borrow from our neighbours, who have fatal experience of it, a word to express – a Bureaucracy.« In: Coates, Thomas: Notes on the Present Condition of Railway Legislation. London 1854, S. 3. 932 Ebd., S. 17. 933 Coates, Thomas: Railway Deposits Discussed in a Letter to the Chairman of the Committee. London 1864, S. 3. 934 Coates, Thomas: Railways and the Board of Trade again Discussed. London 1864, S. 4. 935 »It is clear that we are sliding fast into that worst incident of despotic government – the usurpation by the Executive of legislative powers.« In: Ebd., S. 16. 936 Ebd., S. 5. 937 »But even to the least suspicious mind this clause must suggest the gravest apprehensions. The granting of withholding of a certificate being a matter of absolute discretion, one can

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Ein anonymer Leserbriefautor in der Daily News stimmte Coates in seiner Einschätzung zu, dass Willkür und Korruption aus einer Machterweiterung des Board of Trade resultieren würden. Er merkte jedoch an, dass Coates nur aus der Sicht seiner »railway friends« argumentierte und dabei geflissentlich verschwieg, dass gerade von diesen das korrumpierende Element ausginge. Er selbst sah die kleinen Eisenbahngesellschaften als die eigentlichen Leidtragenden an, die sich nicht gegen die Großunternehmen zur Wehr setzen könnten, weil sie keine engen Verbindungen zum Board of Trade hätten.938 Der Leserbrief in der Daily News ist auch deshalb interessant, weil er als einer der wenigen Beiträge auch die Seite der Eisenbahndirektoren mit einbezieht. In der Regel wurde das Verhalten der Eisenbahndirektoren in den Debatten nicht thematisiert. Es wurde implizit vorausgesetzt und gebilligt, dass Vertreter der Industrie jede sich bietende Möglichkeit nutzten, um Einfluss auf das Board of Trade zu erlangen und dabei auch klare Normbrüche, wie direkte Bestechung, in Erwägung zogen. Die Verantwortung für Korruptionsbekämpfung lag also klar beim Staat und seinen Vertretern. Sollte Korruption dennoch aufgedeckt werden, war es ein Versäumnis der Exekutive, ihre Institutionen durch entsprechende Maßnahmen gegen Einflussnahme abzuschirmen. Korruption in der Verwaltung wurde in erster Linie als ein strukturelles Problem aufgefasst, zu dessen Vermeidung institutionelle Reformen aussichtsreicher und einfacher umzusetzen waren, als Anpassungen moralischer Standards.

5.6. Verstaatlichungsdebatten in Großbritannien Verstaatlichung der Eisenbahnindustrie war die weitestgehende Form der Machtübertragung an den Staat. In Großbritannien waren Debatten über staatlichen Eisenbahnbetrieb nur politische Randerscheinungen. Es gab jedoch zwei Phasen, in denen sie vermehrt geführt wurden: 1844 im Zusammenhang mit dem Gesetzesvorschlag zum Railway Regulation Act von William Gladstone und zwischen 1865 bis 1874, als die mögliche Umsetzung eben dieser Verstaatlichungsoption anstand und diskutiert wurde. Die Verstaatlichungsoption in Gladstones Gesetzesentwurf von 1844 kam nicht gänzlich unerwartet. Konservative Gegner von Eisenbahnen nutzten die Androhung zukünftiger Verstaatlichung während der Pionierzeit gelegentlich, um gegen Projekte zu agitieren. Lord Wharncliffe hatte bereits 1836–37 in Anbetracht der Auseinandersetzungen zwischen Landbesitzern und Eisenbahnforesee what intrigue, what motives of caprice, of private interest, of party influence, nay of more direct and grosser inducement, may be brought to bear upon those whose function it will be to grant these concessions.« In: Ebd., S. 10–11. 938 Daily News (24. 4. 1854), S. 5.

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unternehmern gefordert, dass der Staat den Streckenverlauf festlegen sollte.939 Lord Londonderry forderte in der gleichen Debatte, dass Eisenbahnen nach einer bestimmten Zeitspanne und nachdem sie ihre Investitionen amortisiert hätten, an den Staat fallen sollten.940 Ein einflussreicher Verfechter von Verstaatlichung der 1840er Jahre war der Anwalt William Galt. Galt war reformorientiert, aber kein politischer Doktrinär. Er veröffentlichte zwischen 1843 und 1844 seinen Plan in Pamphleten unter dem Titel Railway Reform. Seine Vorschläge orientierten sich an den Reformen des britischen Postsystems während der 1830er Jahre und sahen vor, die Leitung sämtlicher Eisenbahngesellschaften einer Kommission zu übergeben, die wiederum unter die Aufsicht eines verantwortlichen Ministers gestellt werden sollte.941 1844 sagte er auch als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss des Railway Regulation Act aus und beeinflusste mit ziemlicher Sicherheit William Gladstones Ansichten in diesem Punkt. 1865 veröffentlichte Galt eine erweiterte Neuauflage seines Pamphlets aus den 1840er Jahren und wurde erneut durch das Select Committee als Experte befragt.942 Allerdings hatte er inzwischen seine Ansichten in einigen wesentlichen Punkten geändert. Das Eisenbahnnetz sollte zwar auch weiterhin verstaatlicht werden, im Anschluss allerdings von privaten Unternehmen geleast werden können. Diese mit deutlichen Anleihen beim französischen und belgischen System versehenen Ideen bezog er höchstwahrscheinlich von einem weiteren prominenten Befürworter des staatlichen Eisenbahnbaus, Edwin Chadwick. Chadwick war der ehemalige Privatsekretär von Jeremy Bentham und in seinen Ansichten stark durch den Utilitarismus geprägt. Die Eisenbahnbranche bewertete er primär nach ihrem Nutzen für die Öffentlichkeit. Sein Interesse für den Eisenbahnbau hatte sich ursprünglich auf Irland konzentriert. 1836 richtete das britische Parlament eine Royal Commission ein, die zum Ziel hatte, einen kohärenten Plan für ein irisches Eisenbahnnetz zu erstellen und Empfehlungen für dessen Finanzierung abzugeben. Die Debatten über den irischen Eisenbahnbau fanden stets auch unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung des Landes und im Kontext der schwelenden sozialen Unruhen auf der kleineren der beiden britischen Inseln statt. Dabei wurden auch staatliche und halbstaatliche Konzepte in Erwägung gezogen. Denn von Beginn an war klar, dass nicht genügend Investoren bereit waren, Kapital in irische Eisenbahnen zu investieren, um einen zeitnahen Ausbau des irischen Eisenbahnnetzes aus privaten Mitteln zu garantieren. Nach zweijährigen Untersu939 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 31. S. 670–673, S. 670. 940 Ebd., S. 671. 941 Galt, William: Railway Reform. Its Expediency and Practicability Considered. London 1844. 942 Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 175.

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chungen empfahlen die Royal Commissioners for Ireland 1838, dass das irische Eisenbahnnetz nicht wie in Großbritannien in Einzelstrecken gebaut, sondern von vornherein als Gesamtprojekt und durch staatliche Hilfsmittel unterstützt errichtet werden sollte.943 Die Vorschläge der Commissioners wurden schon bald zum Ziel von politischen Angriffen, denn zur gleichen Zeit legte der Leiter des Irish Board of Public Works einen Bericht vor, in dem er auf erhebliche Missstände bei der Verwendung staatlicher Hilfsgelder in Irland hinwies. Der Spectator warf den Commissioners vor, dass sie ihre Befugnisse überschritten und jobbing und Korruption durch die von ihnen geforderten Hilfsmittel angeheizt hätten.944 Die Times schlug einen ähnlichen Ton an und unterstellte den Commissioners, ihre Vorschläge zielten darauf ab, ein System der Patronage in Irland zu errichten, von dem sie selbst profitieren wollten.945 Gelegentlich finden sich in der Debatte jedoch auch relativierende Stimmen. Der englische Ingenieur William Moorsom sprach sich in einem öffentlichen Brief für einen staatlich organisierten Eisenbahnbau in Irland aus. Die Railway Times, als Branchenorgan der Eisenbahnindustrie in der Regel eher ein Verfechter des privaten Eisenbahnbaus, stimmte ihm hinsichtlich Irlands zu, weil dort die vorhandenen Infrastrukturen so dringend verbessert werden müssten, dass die inhärente Gefahr von Korruption und Wirtschaftskriminalität, die mit staatlich unterstütztem Eisenbahnbau einherging, in Anbetracht der positiven Effekte für die wirtschaftliche Entwicklung Irlands akzeptiert werden könne.946 Im Endeffekt entschied man sich für privat geplanten und finanzierten Eisenbahnbau, der jedoch mit erheblichen staatlichen Krediten sowie Zinsgarantien unterstützt werden musste und immer wieder durch Bubble Schemes und andere Missbrauchsfälle in die Schlagzeilen geriet.947 Um diesen Problemen 943 Second Report of the Commissioners Appointed to Consider and Recommend a General System of Railways for Ireland. Parliamentary Papers. 1837–1838, Bd. 35. S. 94. 944 The Spectator (6. 10. 1838), S. 13. 945 »One would think, to judge from the absurdities in the Ministerial journals, that there was no other course but either to undertake the Irish railways at the public expense – i. e. to establish in Ireland a vast Government workshop for the manufacture of commissioners, assistant-commissioners, secretaries, engineers, valuers, contractors solicitors, and sundry other spawn of railway jobbing, and for the distribution along its far-stretching ramifications of (golden) »lines« and »branches« of some 5,000,000 l. or 6,000,000 l. of English money, or to sanction the crude and dishonest schemes of reckless or unprincipled adventurers , and to leave the public at the mercy of a despotic and unrestricted monopoly.« In: The Times (3. 11. 1838), S. 4. 946 »… corruption and jobbing are not necessarily inseparable from the constitution of a Public Board, and that, even if it were so, the benefit to Ireland from the construction of railways on an extended scale would far outweigh any concomitant evils.« In: Railway Times (8. 8. 1840), S. 628. 947 The Times (18. 6. 1841), S. 8; The Times (24. 7. 1845), S. 5.

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Abhilfe zu verschaffen, formulierte Edwin Chadwick in den 1850er Jahren den Plan, die Eisenbahnen in Irland zwar zu verstaatlichen, anschließend aber an private Unternehmen zu konzessionieren.948 Diesen Plan übertrug er später auch auf das britische Eisenbahnnetzwerk. Die britische Eisenbahnpolitik in Bezug auf Irland verdeutlicht, dass ein rein privates Eisenbahnsystem auch in Großbritannien nicht gänzlich unumstritten war. Die Aussichten, in England ein staatliches Eisenbahnwesen einzuführen, waren jedoch eher gering und die Erfahrungen mit dem irischen Eisenbahnbau bestätigten noch dazu die vorhandenen Vorbehalte. Die Royal Commission von 1865 kam denn auch nach zweijährigen Beratungen zu dem Schluss, dass eine Verstaatlichung der englischen Eisenbahnen keinen wirtschaftlichen Nutzen bringen würde.949 In den folgenden Jahren wurden die Diskussionen jedoch in Journalen und den beliebten Debattierklubs intensiv weitergeführt. Edwin Chadwick war der Meinung, dass die Royal Commission ihre Untersuchungen nicht unvoreingenommen durchgeführt hatte und hielt weiter an seinem System fest.950 Als Beispiel für die Schwächen des privaten Eisenbahnbetriebs führte er die regelmäßig wiederkehrenden Spekulationsphasen in Eisenbahnaktien an. Seine Ansichten fanden allerdings auch diesmal nicht allzu viele Anhänger. William Gladstone schwebte anscheinend 1865 ein Konzessionierungsmodell vor, wurde politisch aber nicht mehr in dieser Richtung aktiv, da er andere Themen, wie etwa die Frage der Irish Home Rule, für vorrangig hielt.951 1867 wurde auch die Frage der irischen Eisenbahnen wieder akut, da viele private Bahnen in einer wirtschaftlichen Krise steckten. Erneut wurde eine Verstaatlichung des gesamten Schienennetzes debattiert und insbesondere die irischen Abgeordneten im House of Commons setzten sich für das halbstaatliche Konzept Chadwicks ein.952 Die Debatten über Verstaatlichung in England und Irland vermischten sich, obwohl der wirtschaftliche Zustand der Schienennetzwerke beider Länder eigentlich nicht vergleichbar war. Die Argumente für als auch wider einen staatlichen Eisenbahnbetrieb ähnelten denen der 1840er Jahre frappierend. Befürworter versprachen sich eine bessere Wartung der Strecken und des rollenden Materials sowie niedrigere Fahrpreise und Tarife, 948 Chadwick, Edwin: Government and the Railways. In: Transactions of the National Association for the Promotion of Social Science. Hrsg. von George Woodyatt Hastings. London 1858. S. 593–604, S. 597. 949 Royal Commission on Railways. Report of the Commissioners. Parliamentary Papers. 1867, Bd 38. S. XXV. 950 Chadwick, Edwin: Address on Railway Reform. London 1865. S. 41. 951 Prest, John: Gladstone and the Railways. In: Gladstone. Hrsg. von Peter J. Jagger. London 1998. S. 197–212, S. 208.; vgl. auch: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 189. S. 606–629, S. 625. 952 Ebd., S. 606.

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weil der Staat vermeintlich gemeinwohlorientiert handelte und nicht unter dem Zwang stand, möglichst viel Profit zu erwirtschaften.953 Die Eisenbahnbranche reagierte auf die debattierte Verstaatlichung mit dem erneuten Hinweis auf die Gefahr von Patronage und Korruption durch gesteigerte staatliche Macht.954 1872 veröffentlichte Edward Watkin ein Pamphlet gegen die Pläne zur Verstaatlichung des Eisenbahnnetzes. Er argumentierte, dass die von Parteikämpfen geprägten Regierungen zu viel Macht erhalten würden und Händler politisch konform sein müssten, um angemessene Tarife zu erhalten.955 In der Darstellung Watkins spiegelt sich auch die gewandelte politische Situation in Großbritannien während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts wider. Der Fraktionszwang innerhalb der politischen Parteien wurde zunehmend zum dominierenden Faktor nationaler Politik und damit auch zum Gegenstand von Korruptionsdebatten. Auf die Vorschläge Galts und Chadwicks, die Eisenbahnen nach der Verstaatlichung an private Unternehmen zu konzessionieren, reagierte Edward Watkin, indem er auf die seiner Meinung nach weit verbreitete politische Korruption in Frankreich verwies, die dort mit dem Konzessionierungsmodell einherging.956 Als Entgegnung auf Vorwürfe der Korruptionsanfälligkeit und der Ineffektivität konnten Etatisten immerhin auf das Post Office und das 1867 verstaatlichte Telegrafennetz verweisen, die einen exzellenten Ruf genossen.957 Trotzdem konnten sie sich im politischen Diskurs nicht durchsetzen und das Eisenbahnsystem blieb bis 1948 in den Händen privater Unternehmen. Auch die irischen Eisenbahnen wurden erst 1945 endgültig verstaatlicht.958

953 Barry : Nationalisation in British, S. 82. 954 Railway News (17. 7. 1869), S. 52. 955 »…; if you claim to have a commodity or your family carried at a price tag as cheap as your neighbour’s, you must go cap in hand to a Government official, who will turn over the polling list to see how you last voted, before giving you an answer.« In: Watkin, Edward William: Railways and the State. Observations by Sir E. W. Watkin at the Meeting of the Manchester Chamber of Commerce. 1872. S. 11. NA, Kew. ZLIB 15/43/18. 956 »For myself I fail to see any practical benefit in substituting Government contractors for the existing companies. But I think that, politically, such a plan might have the effect similar to that of farming the revenue in France, viz., the growth of great political corruption, and the introduction of fast imbecility and favouritism into public affairs.« In: Ebd. 957 Barry : Nationalisation in British. S. 84. 958 Klenner, Markus: Eisenbahn und Politik 1758–1914. Vom Verhältnis der europäischen Staaten zu ihren Eisenbahnen. Wien 2002 (=Dissertationen der Universität Wien 81), S. 20.

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5.7. Befugnisse des Ministeriums für öffentliche Arbeiten und der Ponts et Chaussées Es ist bemerkenswert, dass sich die französische Bürokratie während des gesamten 19. Jahrhunderts in ihren Grundstrukturen trotz der häufig wechselnden politischen Systeme und Regimes nur graduell wandelte. Ihre primäre Funktion blieb kaum verändert darauf ausgerichtet, die staatliche Macht im Zentrum zu konzentrieren.959 Die Ponts et Chauss¦es als staatlicher ausführender Akteur im Eisenbahnbau und auch das System der Konzessionen hatte ihren Ursprung im Ancien R¦gime, wobei die Konzessionen die königlichen Monopole und die Privilegien der Frühen Neuzeit ersetzten und in die Moderne transferierten.960 Das Konzessionierungsverfahren trug aber auch distinkt moderne Züge, da ein Auswahlverfahren über öffentliche Ausschreibungen angewandt wurde, das auf sachbezogenen Kriterien beruhte und Bevorzugung aufgrund persönlicher Verbindungen ausschließen sollte. In der Praxis gelang dies natürlich nicht immer. Die Ponts et Chauss¦es überstand die Umwälzungen der Revolution von 1789 vor allem deswegen nahezu unverändert, weil sie stets für sich in Anspruch nehmen konnte, mit ihrer Arbeit einen Dienst für die Nation zu leisten und die Durchdringung der Peripherie durch den Staat voranzutreiben.961 Die strikt hierarchisch aufgebauten Strukturen der Ponts et Chauss¦es gingen in wesentlichen Teilen auf die napoleonischen Reformen zurück. Ihre Wurzeln reichten jedoch noch deutlich weiter in die Vergangenheit. An der Spitze der staatlichen Verwaltungsstruktur standen die Ministerien in Paris, die ihre Anweisungen an die Präfekten der D¦partements weitergaben, die wiederum gegenüber den Sub-Präfekten und den Bürgermeistern der Gemeinden weisungsbefugt waren.962 Das Ministerium für öffentliche Arbeiten wurde 1830 gegründet und entstand aus der Direction g¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es, dessen politischer Arm es wurde. Unmittelbar nach der Revolution von 1830 nahmen zunächst die Liberalen um Jaques Laffitte, Casimir P¦rier und FranÅois Guizot das politische Heft in die Hand. Sie setzten den langjährigen Leiter der Ponts et Chauss¦es Becquey ab und den liberalen Bankier Simon B¦rard ein, der private Unternehmen beim Eisenbahnbau unterstützen wollte. Seine Bemühungen wurden jedoch schon früh durch Opposition im Staatsrat und durch Techno959 Dobbin: Forging Industrial Policy, S. 95–96. 960 Campagnac, Elisabeth u. Graham Winch: The Social Regulation, S. 90; vgl. auch: Rosanvallon: Der Staat, S. 153. 961 »Le grand agent du gouvernement central en matiÀre de travaux publics ¦tait, comme de nos jours, le corps des ponts et chauss¦es. Ici tout se ressemble d’une maniÀre singuliÀre, malgr¦ la diff¦rence des temps.« In: Tocqueville, Alexis de: L’Ancien R¦gime et la R¦volution. Paris 1856, S. 56. 962 Tombs: France 1814–1914, S. 98.

Befugnisse des Ministeriums für öffentliche Arbeiten und der Ponts et Chaussées

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kraten, die einen Ingenieur als Leiter der Behörde sehen wollten, untergraben. Daher wurde B¦rard nach den Unruhen von 1832 wieder abgesetzt. Sein Nachfolger wurde Alexis Legrand, der das Amt während der folgenden 15 Jahre prägen sollte.963 Mit Alexis Legrands Amtsantritt wurden die Rechte des Direktors der Ponts et Chauss¦es jedoch zumindest formal zu Gunsten der Minister für öffentliche Arbeiten beschnitten. Der Direktor durfte nur noch eingeschränkt selbst über Stellen und Budgets entscheiden und der Minister für öffentliche Arbeiten hatte nominell den Vorsitz im Conseil des Ponts et Chauss¦es.964 Die Befugnisse und Zuständigkeiten der beiden Institutionen waren jedoch auch weiterhin nicht immer klar geregelt, was zur Folge hatte, dass sich die Leiter der Ponts et Chauss¦es regelmäßig auch in politischen Debatten zu Wort meldeten. In Frankreich wurden bereits bevor der Eisenbahnbau wirklich begonnen hatte, ausgedehnte Debatten darüber geführt, wie er in Angriff genommen werden sollte und welche Rolle der Staat und vor allen Dingen die Exekutive spielen sollte. Das Ministerium für öffentliche Arbeiten zählte Infrastrukturen und Transportwesen ganz selbstverständlich zu seinen Domänen. Von Beginn an spielte das Ministerium für öffentliche Arbeiten und das Corps des Ponts et Chauss¦es daher eine wichtige Rolle in den Plänen für den Eisenbahnbau. Insbesondere das Corps des Ponts et Chauss¦es handelte häufig als eigene Interessengruppe, die mit den Verfechtern des privaten Eisenbahnbaus konkurrierte. Die Verwaltung warf privaten Geschäftsleuten vor, nur ihre eigenen Wirtschaftsinteressen zu verfolgen und das Wohl der Nation zu vernachlässigen, während im Gegenzug Vertreter der Privatindustrie den Ministerien vorhielten, sie würden den Handel durch unnötige Regulierung und langwierige Verhandlungen behindern. Diese Debatte war kein neues Phänomen des 19. Jahrhunderts, sondern lässt sich in seinen Grundzügen bis zur Gründung der Ponts et Chauss¦es unter Auguste Perronet Mitte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen.965 Die Minister für öffentliche Arbeiten und die Leitung der Ponts et Chauss¦es sahen ihre Machtdomäne bedroht und wollten einen staatlichen Eisenbahnbau durchsetzen. Die Ponts et Chauss¦es durchlebte zu Beginn der 1830er Jahre jedoch eine Legitimitätskrise, weil die Kosten des von ihr geplanten Kanalsystems geradezu explodierten und ihre Argumente dadurch geschwächt wurden.966 Die Finanzierung eines staatlichen Eisenbahnsystems zusätzlich zum umfangreichen Kanalbauprogramm hätte den Staatshaushalt vollkommen überlastet. 963 964 965 966

Smith Jr.: The Longest Run, S. 666. Ratcliffe: Bureaucracy, S. 345. Ebd., S. 332. Ebd., S. 340.

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Das Konzessionierungssystem des Gesetzes von 1842 stellte daher einen Kompromiss dar, der es den Ministerien erlaubte, wesentliche Teile ihrer Befugnisse zu sichern und zur gleichen Zeit neue Finanzmittel zur Verfügung gestellt zu bekommen. Nach den Regelungen von 1842 waren mehrere Ministerien direkt in den Eisenbahnbau involviert. Das Ministerium für öffentliche Arbeiten war für die Planung und Konzessionsvergabe an Unternehmen zuständig. Außerdem unterstand ihm die Ponts et Chauss¦es, deren Ingenieure die nötigen technischen Planungen übernahmen und den Bau der Infrastrukturen leiteten und überwachten. Das Justizministerium regelte die Enteignung des benötigten Landes. Dem Innenministerium unterstand die speziell eingerichtete Eisenbahnpolizei, die den Betriebsablauf überwachte und allgemein polizeiliche Aufgaben auf den Bahnstrecken und Bahnhöfen übernahm.967 Nach dem verheerenden Eisenbahnunglück auf der Linie der Chemin de Fer du Nord 1846 wurden die Befugnisse der Ponts et Chauss¦es abermals erweitert. Mit Beschluss vom 15. 11. 1846 wurden die Inspekteure ermächtigt, für die Sicherheit der Fahrgäste notwendige technische Vorgaben zu überprüfen und gegebenenfalls Änderungen zu verlangen. Mit dem gleichen Gesetz wurden auch die Commissaires Royaux gegründet, die die Einhaltung der in den Cahiers des Charges vorgeschriebenen Tarife überwachten.968 Während der Zweiten Republik wurden die Commissaires Royaux wieder abgeschafft. Ihre Kompetenzen wurden gemeinsam mit den Aufsichtsfunktionen der Eisenbahnpolizei an die Inspekteure der Ponts et Chauss¦es übertragen. Mit dem Gesetz vom 26. 7. 1850 wurde ein leitender Ingenieur en Chef des Ponts et Chauss¦es zur Überwachung für jedes R¦seau bestellt.969 1847 war zusätzlich die Commission G¦n¦rale des Chemins de Fer gegründet worden, die aus Staatsräten, Abgeordneten sowie Ingenieuren der Ponts et Chauss¦es bestand und unter dem Vorsitz des Ministers für öffentliche Arbeiten tagte. Sie fungierte als beratendes Organ für den Minister und befasste sich mit allgemeinen Fragen der Eisenbahnpolitik. Über die Jahre hinweg firmierte dieses Gremium unter verschiedenen Bezeichnungen, ohne dass seine Zusammensetzung grundsätzlich geändert wurde.970 In den Jahren des Zweiten Kaiserreichs entwickelte sich der Staatsrat zu 967 Tudesq: Administration et Parlement, S. 26. 968 Dobbin: Forging Industrial Policy, S. 138. 969 Rials, St¦phane: Le contrúle de l’Êtat sur les chemins de fer. Des origines — 1914. In: Administration et contrúle de l’¦conomie. 1800–1914. Hrsg. von Michel Bruguière. Genf 1985. S. 73–122, S. 97. 970 1848 wurde die Commission G¦n¦rale des Chemins de Fer in Commission Centrale des Chemins de Fer umbenannt. Ab 1852 firmierte sie als Comit¦ Consultative des Chemins de Fer, nur um sie ab 1871 erneut als Commission Centrale des Chemins de Fer zu bezeichen. Ebd., S. 98.

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einem bedeutenden Rivalen der Ministerien, die der Kontrolle des Parlaments enthoben worden waren und nur noch dem Kaiser gegenüber verantwortlich zeichneten. Der Staatsrat bestand aus 40–50 Mitgliedern, die vom Kaiser ernannt wurden und dafür zuständig waren, Gesetze zu erarbeiten und diese im Parlament zu verteidigen. Des Weiteren war er das höchste Berufungsgericht in administrativen Fragen. Dadurch stand er in ständiger Konkurrenz zu den Ministerien, die sich in ihrer Autonomie bedroht sahen.971 Ab 1860 wurde die Position des Staatsrates graduell wieder geschwächt, als die Befugnis, Gesetze im Parlament zu verteidigen, auf einen neu eingeführten Minister ohne Portfolio übertragen wurde. Dies hatte zur Folge, dass die Minister zunehmend auch wieder auf die Unterstützung des Parlaments angewiesen waren, um ihre Politik zu legitimieren. Ab 1863 übernahm der Staatsminister diese Funktion.972

5.8. Verstaatlichungsdebatten in Frankreich In Frankreich hatten Debatten über staatlichen Eisenbahnbau während dreier Phasen besondere Konjunktur : zwischen 1830 und 1842, als die Planungen für die ersten Eisenbahnstrecken auf die politische Agenda kamen, zu Beginn der Zweiten Republik, als die republikanische Übergangsregierung den Aufkauf der bereits bestehenden Eisenbahngesellschaften plante, sowie 1871 zu Beginn der Dritten Republik. Die zweite und dritte Periode fällt mit den Zeiträumen zusammen, in denen republikanische Strömungen besonders stark waren. In allen drei Phasen spielten Korruptions- und Missbrauchsvorwürfe eine zentrale Rolle in den Auseinandersetzungen. Diese unterschieden sich allerdings grundlegend von ihren Pendants in Großbritannien. In Frankreich waren es die Befürworter des staatlichen Eisenbahnbaus, die privates Unternehmertum als ein korrumpierendes Element diskreditierten. 1837 legte eine außerparlamentarische Kommission unter der Leitung des Ministers für öffentliche Arbeiten ihren Bericht zum Eisenbahnbau vor. Sie sprach sich für staatlichen Eisenbahnbau aus, unter anderem mit der Begründung, dass im Falle des privaten Eisenbahnbaus die Gefahr von Aktienspekulation und Korruption stark ansteige. Als Beleg wurden die Verhältnisse im britischen House of Commons angeführt, welches aus Sicht der Etatisten von Unternehmern kontrolliert wurde und von ihnen für ihre privaten Interessen missbraucht wurde.973 Ein Jahr darauf bezog Alphonse de Lamartine während einer berühmten Rede zum Eisenbahnbau im 971 Price: The French Second, S. 80. 972 Ebd., S. 55. 973 Ministre Secr¦taire d’Êtat au D¦partement du Commerce et des Travaux public: ProcÀsverbaux de la Commission Sup¦rieure des Chemins de Fer. Sitzungsprotokolle 1837. AN Paris C 789.

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Parlament einen ähnlichen Standpunkt und verwies darauf, dass die Interessen einzelner Unternehmergruppen unvereinbar mit den Interessen der Nation seien.974 Vorerst blieben die Forderungen der Etatisten jedoch nicht mehrheitsfähig und das Konzessionierungsmodell wurde beschlossen. Zehn Jahre später sollte Lamartine allerdings die Gelegenheit bekommen, einen Versuch zu unternehmen, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Die Revolution im Februar 1848 brachte die Eisenbahnbranche an den Rand des Zusammenbruchs. Die Chemin de Fer de Paris — Orl¦ans und die Chemin de Fer Central mussten unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt werden, um ihren Betrieb aufrecht erhalten zu können, weil die Mitarbeiter die Arbeit niedergelegt hatten. Die Aktienkurse der Eisenbahnunternehmen fielen drastisch und die Konzessionäre der Strecken von Lyon nach Avignon, von Bordeaux nach SÀte und von Fampoux nach Hazebrouck lösten ihre Verträge auf. Selbst bis dato profitable Unternehmen wie die Chemin de Fer du Nord und die Chemin de Fer de Paris — Strasbourg gerieten in wirtschaftliche Schieflagen.975 Die provisorische Regierung nahm die wirtschaftlichen Probleme der Unternehmen zum Anlass, um Pläne für eine Verstaatlichung sämtlicher Eisenbahngesellschaften auszuarbeiten. Alphonse de Lamartine, der erste Präsident der Zweiten Republik, war ja bereits seit der Grundsatzdebatte von 1838 als ein Verfechter des staatlichen Eisenbahnbetriebs bekannt und viele seiner Minister waren Mitglieder der Bankettbewegung, die nun bemüht waren, ihre Ideen für eine staatliche Neuordnung umzusetzen. Am 12. 4. 1848 traf sich der Finanzminister Louis-Antoine Garnier-PagÀs mit Vertretern der führenden Eisenbahnkompanien und unterbreitete ihnen ein Angebot zum staatlichen Aufkauf.976 Garnier-PagÀs Plan sah vor, dass die Aktien der Unternehmen in Staatsanleihen umgewandelt und den Konzessionären Entschädigungen gezahlt werden sollten, deren Höhe sich an den Aktienkursen der Eisenbahngesellschaften während der vorherigen sechs Monate bemessen sollte.977 Diese waren aufgrund der Finanzkrise des vergangenen Jahres natürlich auf einem denkbar niedrigen Stand. Der Delegation der Eisenbahndirektoren gehörte James de Rothschild als Vertreter der Chemin de Fer du Nord, Charles Laffitte für die Chemin de Fer du Havre, L¦on Faucher für die Chemin de Fer de Paris — Strasbourg und Denis Benoist für die Chemin de Fer de Paris — Rouen an. Das Angebot wurde von den Vertretern der Unternehmen verständlicherweise als inakzeptabel zurückgewiesen. 974 975 976 977

Journal des D¦bats (9. 5. 1838), S. 2. Girard: La politique, S. 7. Kaufmann: Die Eisenbahnpolitik Frankreichs, S. 75. Journal des D¦bats (20. 5. 1848), S. 1.

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Am 17. 5. 1848 brachte der neue Finanzminister Charles Duclerc – GarnierPagÀs hatte das Amt nach der Bildung der Exekutivkommission an ihn abgegeben – dennoch einen entsprechenden Gesetzesentwurf ein und begründete ihn in einem ausführlichen Expos¦ des motifs.978 Dieses Dossier ist höchst informativ in Bezug auf die Vorstellungen der Republikaner über das ideale Verhältnis von Staat und Wirtschaft und zeigt ihre Argumentationsmuster konzentriert auf. Duclerc nannte drei Hauptgründe für eine Verstaatlichung der Eisenbahnen. Erstens sicherte sich der Staat dadurch ein wichtiges Machtinstrument. Zweitens würden die Fahrpreise sinken und Bahnreisen dadurch auch für ärmere Schichten bezahlbar. Drittens würde der sich ausbreitenden Spekulation ein Riegel vorgeschoben und die Privatwirtschaft könne sich auf andere Projekte konzentrieren.979 Neben diesen ökonomischen und machtpolitischen Argumenten spielten aber auch wirtschaftsethische Aspekte eine bedeutende Rolle in der Argumentation des Ministers. Seine zentrale Begründung für die Verstaatlichung war der vermeintliche Egoismus kapitalistischer Unternehmer, die nur ihren persönlichen Gewinn im Auge hätten und nicht im Interesse der Nation handelten. Hier stand er klar in der geistigen Tradition seines Regierungskollegen Lamartine. Nach Duclerc war eine solch augenscheinliche Selbstbereicherung während der Julimonarchie noch möglich gewesen, mit den Idealen der Republik aber unvereinbar. Die privaten Unternehmen seien Profiteure eines Patronagesystems, das der König aufgebaut hatte, um treue Gefolgsleute zu entlohnen.980 Damit habe der König große Teile des Volksvermögens in die Hände einzelner gegeben. Es sei die Pflicht der neuen Regierung, jene Machtmittel wieder in die Obhut des Staates und gewählter Volksvertreter zurückzuführen. Die neue Regierung müsse daher prüfen, welche Institutionen der Monarchie mit den Prinzipien der Republik vereinbar seien und fortgeführt werden könnten und welche abgeschafft werden müssten. Duclerc verglich die Situation in Frankreich mit der in Großbritannien, wo auch weiterhin eine Aristokratie, deren Einfluss auf Landbesitz beruhte, an der Macht sei und sogar die Eisenbahngesellschaften mit Privilegien ausgestatten würden. In Frankreich hingegen habe sich die Bevölkerung gegen den Zusam978 Journal des D¦bats (18. 5. 1848), S. 1. 979 Journal des D¦bats (21. 5. 1848), S. 3. 980 »Est ce qui prouve combien peu dans la pens¦e du gouvernement d¦chu la construction des chemins de fer ¦tait une question de finances et d’¦conomie; combien au contraire, c’¦tait la une question politique, c’est le nom et la position de la plus grand partie des chefs de l’entreprise. Quels ¦taient-ils? Parmi quelques homme sp¦ciaux, vous y avez vu les chefs r¦els du gouvernement, les principaux membres de la majorit¦ des deux Chambres, des mar¦chaux, des amiraux des g¦n¦raux, des aides de camp du roi, des chevalier d’honneur et des familiers.« In: Ebd.

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menschluss der Monarchie mit privaten Finanziers zur Wehr gesetzt. Mit dem Fall der Monarchie müssten nun auch die Eisenbahngesellschaften aufgelöst werden. Duclerc griff in seiner Argumentation auf die inzwischen geläufige rhetorische Figur der frühsozialistischen Veröffentlichungen der späten Julimonarchie zurück und bezeichnete Eisenbahnunternehmer als eine Aristokratie, die im republikanischen Frankreich entmachtet werden müsse. Die Machthaber der Julimonarchie hätten versucht, eine neue Aristokratie aufzubauen und da viele der ehemaligen Privilegien der Krone in der modernen Gesellschaft nicht mehr zur Verfügung standen, hätten neue Wege gefunden werden müssen, um Patronagenetzwerke aufzubauen. Dies gelang über die Kontrolle des Bankenwesens durch wenige einflussreiche Klienten. Die Leiter der Banken seien die wahre Regierung des Königs.981 Duclerc war zudem der Überzeugung, dass die Finanzelite ihrem Charakter nach nicht demokratisch, sondern aristokratisch sei. Sie strebe die Konzentration der finanziellen Macht in den Händen weniger an und nutze sie, um das Volk zu unterdrücken. Die Arbeiterschaft der großen Unternehmen sei so abhängig von ihren Arbeitgebern, dass sie eine potentielle Streitmacht bildete, die sich dem Zugriff des Staates entzog. Darüber hinaus brächten die Unternehmen, die profitabel arbeiteten, dem Staat kaum Nutzen, während der Rest Zuschüsse erhalten müsse. In beiden Fällen entstünde kein Vorteil für den Staat.982 Die Forderungen nach einer Verstaatlichung der Eisenbahnen sind im Zusammenhang mit weiteren republikanischen Reformzielen zu sehen. Die radikaleren Mitglieder der provisorischen Regierung propagierten vehement eine Umverteilung der Besitzverhältnisse und gesteigerte Löhne für Arbeiter, was eine ebenso heftige Abwehrreaktion des Finanzbürgertums auslöste.983 Die Unsicherheit über die politischen Intentionen der neuen Regierung führte wiederum zu einer Ausweitung der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Republikaner forderten daher weitere staatliche Kontrollmechanismen und Aktivitäten, um die ausbleibenden privaten Investitionen abzufangen. Die Regierung versuchte durch breit angelegte Maßnahmenpakete, der drohenden Inflation entgegenzusteuern und dadurch das Vertrauen von Privatinvestoren in die Währung wieder zu festigen; jedoch nur mit geringem Erfolg.984 Die Diskussion des Verstaatlichungsgesetzes in der Nationalversammlung wurde kontrovers geführt. Sozialistisch-etatistische Ansichten standen wirtschaftliberalen Positionen gegenüber. Der Abgeordnete Th¦odore Morin hielt 981 Ebd. 982 Ebd. 983 Aminzade, Ronald: Class, Politics, and Early Industrial Capitalism. A Study of Mid-Nineteenth-Century Toulouse, France. Albany 1981 (=Studies in European social history), S. 151. 984 Fortescue: France and 1848, S. 109.

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den Ausführungen Duclercs entgegen, dass die privaten Aktienunternehmen eine sehr demokratische Form des Wirtschaftens seien und sich gerade an den Punkten bewährt hätten, an denen der Staat an seine Grenzen gestoßen sei, nämlich bei der Beschaffung des notwendigen Kapitals.985 Die liberale Position wurde von dem in England aufgewachsenen Charles de Montalembert weiter ausgeführt. Er betonte die Bedeutung von Vertragssicherheit für jegliche Form des Handels, ohne die keine Investitionen mehr getätigt würden. Eine einseitige Aufkündigung der Konzessionen durch die Regierung käme einem Vertragsbruch gleich und würde das Ansehen des Staates beschädigen. Er warnte explizit vor den Gefahren des Sozialismus und betonte, dass sich der Staat darauf beschränken sollte, die Rahmenbedingungen für diejenigen Arbeiten zu schaffen, die die Privatwirtschaft besser und kostensparender ausführen könne.986 Die Vertreter der Eisenbahnbranche reagierten mit einer publizistischen Kampagne auf die Pläne der Regierung, in der sie ähnlich argumentierten. Die Direktoren der finanziell angeschlagenen Chemin de Fer d’Orl¦ans und der Chemin de Fer Central verfassten unter der Federführung von FranÅois Bartholony und L¦on Faucher, der unter Präsident Napoleon Minister für öffentliche Arbeiten werden sollte, eine Stellungnahme gegen eine vollständige Verstaatlichung ihrer Unternehmen.987 Sie protestierten heftig gegen den Vorwurf, Eisenbahngesellschaften seien aristokratisch, und argumentierten, dass gerade Aktienunternehmen in ihrer Essenz demokratisch und nicht aristokratisch seien. Die Leitung der Unternehmen würde von den Aktionären gewählt. Aktien wiederum würden auf dem freien Markt gehandelt und könnten von jedem, der über das nötige Kapital verfügte, erworben werden.988 Die Frontstellung zwischen einem vermeintlichen neuen Adel und der Bevölkerung hielten sie für reine Fiktion. Die eigentliche Konfliktlinie verlief ihrer Meinung nach zwischen den Verfechtern staatlicher Zentralisierung in einem mächtigen Verwaltungsapparat und den Befürwortern freier wirtschaftlicher Assoziation.989 Batholony und Faucher forderten ebenso wie Morin Vertrags- und Rechtssicherheit für ihre Unternehmen. Die Konzessionen stellten ihrer Meinung nach einen Vertrag dar, der nicht einfach einseitig, auch nicht durch ein entsprechendes Gesetz, aufgekündigt werden könne.990 Dies würde zu einem vollkom985 Journal des D¦bats (23. 6. 1848), S. 3. 986 Ebd. 987 Die Leitung der Chemin de Fer de Paris — Saint Germain schloss sich diesem Protest an. Vgl. Protokoll der außerordentlichen Aktionärsversammlung vom 29. 5. 1848. AN Roubaix 65 AQ E 565. 988 Compagnies d’Orl¦ans et du Centre: Question des chemins de fer. Observations pr¦sent¦es a l’Assembl¦e Nationale sur le projet de reprise des chemins de fer par l’Êtat. Paris 1848, S. 11. 989 Ebd., S. 5. 990 Ebd., S. 12.

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menen Niedergang des Handels führen, da sich kein Geldgeber mehr sicher sein könne, dass seiner Investition auch die Möglichkeit zur Amortisierung gegeben würde. Ein angemessener Aufkaufspreis, wie ihn der Minister meinte vorgeschlagen zu haben, sei unmöglich festzulegen, wenn man bedenke, dass den Unternehmen in ihren Konzessionen bis zu 30 Jahren Laufzeit garantiert worden waren.991 Auch die wirtschaftsliberale Presse reagierte naturgemäß ablehnend auf die Pläne der provisorischen Regierung. Allen voran das Branchenorgan der Eisenbahnindustrie, das Journal des Chemins de Fer, lief gegen eine mögliche Verstaatlichung Sturm. Der Kommentator stellte die These, dass die Ponts et Chauss¦es bereits seit längerem heimlich auf die Verstaatlichung hingearbeitet und daher den Bau neuer Linien und Hilfen für die bestehenden Unternehmen verhindert oder verschleppt habe. Implizit wurde also der Staat für die wirtschaftlichen Probleme der Eisenbahnunternehmen verantwortlich gemacht.992 Das orl¦anistische Journal des D¦bats fand sich nach den Umwälzungen der Revolution in einer oppositionellen Position wieder und vertrat ebenfalls eine wirtschaftsliberale Haltung. Es warnte vor einer Ausbreitung des »Kommunismus« und einer Diffamierung der Kapitalisten durch die aktuelle Regierung.993 Nach der Meinung des Journalisten versuchte die provisorische Regierung, sich sämtliche Produktionsmittel des Landes anzueignen. Die Versicherungen, Banken und Transportunternehmen des Landes sollten verstaatlicht werden, was indirekt zu einer Beschneidung der Rechte des Volkes geführt habe. Die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien hingegen wurden als leuchtende Beispiele für weit entwickelte Länder angeführt, in denen die Bevölkerung die größtmögliche Freiheit und der Staat nur minimale Produktionsmittel besaß. Die Unternehmen dürften ihre Interessen nicht mehr im Parlament vorbringen, da sie ansonsten sofort unter dem Generalverdacht der Korruption stünden.994 Auch die britische Times, die die Interessen der britischen Anleger in französischen Eisenbahnaktien im Blick hatte, kritisierte die geplante Verstaatlichung aufs Schärfste.995 Politisch ließen sich für die Bestrebungen der Regierung im heterogenen Parlament nur schwer Mehrheiten finden. Eine parlamentarische Kommission 991 992 993 994

Ebd., S. 14. Journal des Chemins de Fer (17. 6. 1848), S. 508. Journal des D¦bats (22. 5. 1848), S. 1. »A une ¦poque o¾ la tribune l¦gislative n’¦tait pas interdite — la d¦fense des int¦rÞts graves et respectables, elle fournissait un moyen quelquefois efficace de vaincre la mauvaise volont¦ du bureaux. Aujourd’hui l’industrie priv¦e ne peut plus compter sur le mÞme appui. Sous peine d’Þtre accus¦ ou soupÅonn¦ de corruption, il n’est pas permis de soutenir — la tribune un int¦rÞt priv¦, quelque respectable qu’il soit, quelque rapport qu’il ait avec l’int¦rÞt public.« In: Journal des Chemins de Fer (21. 7. 1849), S. 484. 995 The Times (23. 5. 1848), S. 4.

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kam zu dem Ergebnis, dass die privaten Unternehmen durchaus in der Lage seien, rentabel zu arbeiten. Die Republik hingegen müsse stark genug sein, um den Gefahren der Dominanz durch Wirtschaftsmagnaten Einhalt zu gebieten.996 Die bürgerlich geprägte republikanische Regierung befand sich in einem schwerwiegenden Zwiespalt, der zu immer stärkeren Spannungen führte. Einerseits musste sie die Interessen der wachsenden Arbeiterschaft, die jetzt zu größeren Teilen auch Wählerschaft war, berücksichtigen, andererseits durfte sie die Forderungen des verunsicherten, aber einflussreichen Finanzbürgertums nicht außer Acht lassen.997 Das Verstaatlichungsprojekt wurde im Endeffekt von den historischen Ereignissen überholt. Bereits bei den Wahlen im April 1848 hatten die republikanischen Kräfte an Stimmen eingebüßt und die Liberalen und Konservativen zugelegt. Die parlamentarische Debatte zur Verstaatlichung begann Anfang Juni, wurde aber unterbrochen, als es am 24. Juni aufgrund der Schließung der Nationalwerkstätten zu Aufständen der Arbeiterschaft kam.998 Die Nationalversammlung setzte eine Militärregierung unter der Leitung des Kriegsministers General Louis-EugÀne Cavaignac ein, der die Unruhen brutal niederschlagen ließ. Im Anschluss wählte die Nationalversammlung Cavaignac zum Chef der Exekutivgewalt und zum Präsidenten des Kabinetts. Mit ihm kamen auch die wirtschaftsliberalen Kräfte des Landes wieder ans Ruder. Die neue Regierung legte sämtliche Pläne einer Verstaatlichung umgehend zu den Akten. Auf Nachfrage Duclercs am 3. 7. 1848 erklärte der neue Finanzminister und enge Freund von James de Rothschild, Michel Goudchaux, dass die Regierung beabsichtige, auf eine Verstaatlichung der Eisenbahnen zu verzichten.999 Isaac Pereire legte in seiner Autobiographie eine andere Version der Abläufe dar, die eine Umdeutung der Ereignisse im Sinne des wirtschaftsliberalen Bürgertums präsentierte und etatistische Bestrebungen gezielt herunterspielte. Nach seiner Darstellung setzte sein Bruder Emile seine persönlichen Beziehungen dazu ein, dem Druck der »Sozialisten« auf die republikanische Regierung unter Lamartine entgegenzuwirken. Er verschwieg in seinem Bericht geflissentlich die Pläne der Regierung zur Verstaatlichung und stellte Sozialisten als alleinige Urheber dieser Forderung dar. Sie seien jedoch eine Randgruppe gewesen, deren Forderungen niemals ernsthaft in Erwägung gezogen worden waren.1000

996 997 998 999 1000

Journal des D¦bats (9. 6. 1848), S. 1. Aminzade: Class, Politics, S. 150. Journal des D¦bats (9. 6. 1848), S. 1. Journal des D¦bats (4. 7. 1848), S. 1. »Le gouvernement eut le bon sens de repousser ces projets extravagants ou odieux, et l’influence de M. Emile Pereire sur ses anciens amis du National, alors tout-puissants, ne

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Aufs Ganze gesehen war die Verstaatlichung des Eisenbahnnetzes nie über das Planungsstadium hinausgekommen. Eine Ausnahme bildete die strategisch bedeutende Verbindung zwischen Paris und Lyon, deren Konzession im August 1848 wegen der drohenden Insolvenz des Unternehmens durch die Nationalversammlung zurückgenommen werden musste. Die Fertigstellung und der Betrieb dieser Strecke wurde bis zu ihrer Reprivatisierung im März 1852 vom Staat übernommen.1001 Von dieser durch wirtschaftliche Notwendigkeiten erzwungenen Ausnahme abgesehen, setzte sich in der Wirtschaftspolitik der Zweiten Republik der liberal-konservative Politikwechsel fort, der im Herbst 1848 mit der Wahl Louis-Napol¦ons zum Präsidenten gefestigt wurde. Aufgrund seiner Erfahrungen im britischen Exil war Louis-Napol¦on ein entschiedener Befürworter des privaten Eisenbahnbaus, der nach seinen eigenen Vorstellungen jedoch durch einen autoritären Staat kontrolliert werden sollte. Dennoch blieb die Eisenbahnbranche für die gesamte Zeit der Zweiten Republik in einer Art Schockstarre. Der Staat hatte nach 1848 nicht die finanziellen Mittel, um die Arbeiten an den Infrastrukturen in nennenswertem Umfang wieder aufzunehmen, und das Parlament war von politischen Machtkämpfen geprägt, die private Investoren abschreckten. Zwischen 1848 und 1851 wurde lediglich eine einzige Konzession für eine neue Strecke erteilt.1002 Während des Zweiten Kaiserreichs spielten Verstaatlichungsdebatten nur eine untergeordnete Rolle und wurden erst während der Dritten Republik wieder populär. Diesmal sprachen sich zwei diametral entgegengesetzte politische Strömungen gegen den momentanen Status Quo in der Eisenbahnpolitik aus, die beide nach Verantwortlichen für die militärische Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg suchten. Die Republikaner der Linken forderten die Verstaatlichung in der Tradition der frühen Zweiten Republik. Eine Splittergruppe des rechten Spektrums hingegen forderte eine weiterreichende Liberalisierung der Wirtschaft und die Zerschlagung der sechs großen Monopole.1003 1871, kurz nach dem Friedensschluss von Frankfurt brachte der anti-etatistische Abgeordnete Claude Raudot einen Gesetzesentwurf zur kompletten Privatisierung der Eisenbahnindustrie ein, um die Subventionierung der Eisenbahngesellschaften zu beenden und die Staatsausgaben zu minimieren.1004 Die republikanischen Abgeordneten Leon Gambetta und Cl¦ment Laurier antworteten mit einem Plan zur Verstaatlichung. Die Republikaner der Linken griffen die Ar-

1001 1002 1003 1004

fut pas ¦trangÀre — cette d¦termination.« In: Pereire, Isaac: La question des chemins de fer. Paris 1879, S. 111. Girard: La politique, S. 38. Ebd., S. 42. Rials: Le contrúle, S. 74. Picard, Alfred: Les chemins de fer franÅais. Êtude historique sur la constitution et le r¦gime du r¦seau. Paris 1884 (Bd. 3), S. 12.

Zwischenfazit

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gumente der späten 1840er Jahre wieder auf. Ihre Argumente erhielten diesmal zusätzliche Nahrung durch die Monopolstellung der sechs großen Eisenbahngesellschaften, die als Wiederauferstehung des »Feudalismus« und ihre Leiter als »reaktionäre Monarchisten« angegriffen wurden.1005 Sie konnten sich aber im von Konservativen dominierten Parlament unter der Präsidentschaft von Adolphe Thiers und wegen der unverzüglichen Reaktion des liberalen Ministers für öffentliche Arbeiten Pouyer-Quertier, der darauf hinwies, dass unter den gegebenen Umständen ein solcher Plan schlichtweg nicht zu finanzieren war, nicht durchsetzen.1006 Nach dem Sturz Thiers 1873 und der Machtübernahme durch Patrice de MacMahon flammten die Diskussionen erneut auf. In den Folgejahren lieferten sich die beiden Fraktionen ein Wechselspiel der Argumente, das bis in die späten 1870er Jahren anhielt.1007

Zwischenfazit In Großbritannien war die Regulierung der Eisenbahnbranche einem kontinuierlichen Reformprozess unterworfen, in dem die Befugnisse der Exekutive über Jahre hinweg und schrittweise ausgeweitet wurden. Allerdings bewegte sich diese Regulierung stets auf einem relativ niedrigem Niveau. Grund hierfür war einerseits die vorherrschende liberale Doktrin, die einen schlanken Staat forderte, und andererseits die Interessenpolitik des Railway Interest, die sich eben diese Anschauung zunutze machte. So gelang es den Eisenbahngesellschaften mehrfach, parlamentarische Mehrheiten zu erhalten, um Gesetze, die dem Board of Trade mehr Rechte übertragen hätte, zu blockieren oder zu entschärfen. Dass in Großbritannien dennoch regulierende Maßnahmen durchgesetzt wurden, ist der Tatsache geschuldet, dass der Eisenbahnbau zu einem gewissen Maß als ökonomischer Sonderfall angesehen wurde. Die liberale Doktrin des freien Marktes wurde in den britischen Debatten über Regulierung selten grundsätzlich angezweifelt, aber gelegentlich mit dem Hinweis auf das natürliche Monopol der Eisenbahnunternehmen und das gesteigerte öffentliche Interesse an Infrastrukturen relativiert.1008 In Frankreich waren im Gegensatz zu Großbritannien die Zuständigkeiten der Ministerien nur geringen Veränderungen unterworfen und wurden von den Vertretern der Eisenbahnunternehmen nur selten infrage gestellt. Mit der 1005 1006 1007 1008

Rials: Le contrúle, S. 75. Picard: Les chemins. AperÅu, S. 29. Mitchell: The Great Train, S. 88. Barry : Nationalisation in British, S. 87.

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Regulierung und Verstaatlichung

Gründung des Zweiten Kaiserreichs wurden die Befugnisse der Minister gegenüber dem Parlament aufgewertet. Die Vertreter der großen Eisenbahngesellschaften scheinen diese Entwicklung begrüßt zu haben, da sie ohnehin gut mit der Exekutive vernetzt waren und sich der Aufwand, Interessenpolitik im Parlament zu betreiben, verringerte. Die Debatten über Regulierung durch staatliche Behörden offenbaren im Vergleich beider Länder grundlegende Unterschiede im Verständnis der Rollen von Staat und Privatwirtschaft, die durch die jeweilige Deutungshoheit der beiden Ideologien – Liberalismus in Großbritannien und Republikanismus in Verbindung mit Zentralismus in Frankreich – geprägt waren. Insbesondere in Auseinandersetzungen über eine potentielle Verstaatlichung des Eisenbahnwesens, die eine fundamentale politische Neuausrichtung bedeutet hätte, wurden sie klar ersichtlich und häufig zur ideologischen Untermauerung von Korruptionsvorwürfen verwendet. Liberale sowie etatistisch geprägte Republikaner verfolgten gleichermaßen das übergeordnete Ziel, Verflechtungen zwischen staatlichen Behörden und der privaten Wirtschaft möglichst gering zu halten. Sie kamen jedoch zu grundlegend unterschiedlichen Schlüssen, wie das Problem angegangen werden sollte. In Großbritannien dominierte der Lösungsansatz, den Eisenbahnbau möglichst weitgehend in die private Marktwirtschaft zu integrieren und den Einfluss des Staates möglichst zu begrenzen. Die komplette Verstaatlichung des Eisenbahnsystems wäre hingegen einer Abschaffung der Marktwirtschaft in diesem Wirtschaftssektor gleichgekommen. Sie wurde daher von Liberalen sowohl in Großbritannien, wie auch in Frankreich grundsätzlich abgelehnt. Die wesentlichen liberalen Argumente gegen den staatlichen Eisenbahnbetrieb waren Ineffizienz und Korruptionsanfälligkeit der Ministerien und Behörden. Dies sind klassische Argumente für einen »schlanken« Staat. Ein weiterer wichtiger Einwand gegen eine Verstaatlichung war das Recht auf privates Eigentum. Das Drängen der britischen Eisenbahngesellschaften auf die Wahrung ihres Privatbesitzes war eine Umkehr der Kritik am Einfluss des Railway Interest auf das Parlament und die Ministerien. Fasst man Wirtschaft und Staat als zwei getrennte gesellschaftliche Bereiche auf, so thematisieren beide Argumente ungerechtfertigte Grenzüberschreitungen zwischen diesen Sphären. Vertreter der Industrie griffen parteipolitische oder persönliche Patronage im Board of Trade an, um die Arbeit der Behörde zu diskreditieren und als Ursache für Ineffektivität und Verschwendung zu brandmarken. In Großbritannien dominierte die nicht nur von Wirtschaftsliberalen propagierte grundsätzliche Ansicht, dass die Bürokratie an sich korruptionsanfällig sei, weil Staatsbedienstete in der Realität in erster Linie ihre Eigeninteressen verfolgten und nicht, wie in der Theorie gefordert, primär dem öffentlichen Interesse verpflichtet waren.

Zwischenfazit

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In Frankreich hingegen wurde Korruption von Republikanern und Etatisten als Argument für die Verstaatlichung des Eisenbahnnetzes angeführt. Bei ihnen herrschte die Ansicht vor, dass der Eisenbahnbau grundsätzlich dem staatlichen Einflussbereich zuzuordnen sei und private Unternehmer einen korrumpierenden Einfluss ausübten. Aus republikanischer Sicht bewirkte Verstaatlichung eine massive Stärkung des Staates und sicherte damit die nationale Einheit, indem der Einfluss partikularer Interessengruppen ausgeschaltet wurde. Historische Bezüge spielten in den britischen Debatten eher eine untergeordnete Rolle, wohingegen sie in Frankreich sehr ausgeprägt waren und immer wieder in der rhetorischen Formel des »Finanzadels« in den Debatten auftauchten. Insgesamt ist bemerkenswert, wie wenig sich die Argumente für und wider eine Verstaatlichung der Eisenbahnbranche im Zeitraum zwischen 1830 und 1870 veränderten. In Frankreich war das Ancien R¦gime selbst während der Dritten Republik noch präsent genug in den Köpfen der politischen Akteure, um als Negativreferenz für die Bewertung aktueller politischer Verhältnisse Wirkungskraft zu entfalten. In der Agitation gegen den Finanzadel zeigt sich auch die enge ideologische Verbindung zwischen republikanischen Idealen und dem Frühsozialismus. Der Korruptionsvorwurf konnte in den Debatten über Regulierung also je nach Blickwinkel für nahezu diametral entgegengesetzte Ziele instrumentalisiert werden, indem er gegen unterschiedliche Akteursgruppen vorgebracht wurde.

6.

Zum Verhältnis von Wirtschaft und Ministerien

6.1. Personale Verflechtung auf Leitungsebene in Großbritannien Die politische Landschaft Großbritanniens war im Zeitraum zwischen 1830 und 1875 von häufig wechselnden Regierungen und sich permanent wandelnden Koalitionen geprägt. Die politischen Gruppierungen entwickelten weniger Kohäsionskräfte als vor dem ersten Reform Act, was die Herausbildung sogenannter Independent MPs begünstigte, die sich keiner Fraktion verpflichtend verbunden fühlten.1009 1846 spalteten sich die Tories über die Abschaffung der Corn Laws in eine konservative Fraktion und die liberal-konservativen Peelites auf. Die Peelites schlossen sich 1852 mit freihandelsorientierten Anhängern der Whigs und einigen Radicals zur Regierung unter Lord Aberdeen zusammen und entwickelten sich in den Folgejahren nach dem Bruch mit dem konservativen Flügel der Whigs zur Liberal Party, die erstmals 1868 offiziell so genannt wurde. Dieser Transformationsprozess der frühneuzeitlichen Tories und Whigs hin zu modernen politischen Parteien prägte auch die Arbeit der Ministerien.1010 Die leitende Position des Board of Trade war ein politisches Amt und wurde mit jedem Regierungswechsel neu besetzt, was zu sehr häufigen Personalwechseln an der Spitze der Behörde führte. Zwischen 1823 und 1875 sah das Ministerium 22 Präsidenten kommen und gehen.1011 Auch die Aufgabenbereiche der Minister waren ständigen Veränderungen unterworfen. Bis 1844 waren die Präsidenten des Board of Trade in nahezu alle Amtsgeschäfte ihrer Behörde in Bezug auf Eisenbahnen direkt eingebunden und grundsätzlich für alle Entscheidungen ihres Ministeriums persönlich verantwortlich. Der steigende Arbeitsumfang der Ministerien machte es jedoch erforderlich, dass zunehmend

1009 The Times (27. 4. 1853), S. 8. 1010 Hawkins, Angus: »Parliamentary Government« and Victorian Political Parties. c.1830c.1880. In: English Historical Review 104 (1989), S. 638–669, S. 643. 1011 Parris: Government, S. 230.

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Zum Verhältnis von Wirtschaft und Ministerien

Aufgaben delegiert wurden.1012 Das Railway Department wurde 1844 unter anderem auch zu dem Zweck eingerichtet, um den Präsidenten des Board of Trade von der direkten Zuständigkeit für die Eisenbahnbranche und dem damit verbundenen Arbeitsaufwand zu befreien. In der Folge übernahm der Vizepräsident die Leitung der Tagesgeschäfts der Abteilung, während der Präsident nur noch bei wichtigen Entscheidungen von politischer Tragweite konsultiert wurde. Ab 1851, mit der Rückübertragung der Zuständigkeiten von den Railway Commissioners zum Board of Trade, wurde ein Joint Secretary eingesetzt, der als Vermittler zwischen der Leitungsebene und den Inspektoren sowie den übrigen Sachbearbeitern fungierte. Bereits unter den Railway Commissioners hatten sich bestimmte Themengebiete herauskristallisiert, die auf der Verwaltungsebene entschieden wurden, während andere Bereiche der Entscheidungsgewalt der Behördenleiter vorbehalten blieben. Diese Regelung wurde auch im neu eingerichteten Railway Department nach 1851 beibehalten.1013 Die Präsidenten des Board of Trade waren neben der Leitung ihrer Behörde primär für die Repräsentation des Ministeriums im Parlament zuständig. Sie übernahmen häufig den Vorsitz parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, die sich mit politischen Grundsatzfragen ihres Ressorts befassten. Außerdem verteidigten sie die der Legislative zur Diskussion vorgelegten Gesetzesvorschläge für General Acts. Da Minister jeweils nur in der Kammer des Parlaments redeberechtigt waren, in der sie auch einen Sitz hatten, wurden bevorzugt Vizepräsidenten ernannt, die in der anderen Kammer saßen. Angesichts der häufig wechselnden Regierungen führte dies regelmäßig zu problematischen Situationen. Beispielsweise musste sich James Dalhousie, der seit 1840 die Nachfolge seines Vaters im House of Lords angetreten hatte, nach dem Rücktritt von William Gladstone ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Railway Mania auf die Eloquenz seines in der Eisenbahnpolitik noch sehr unerfahrenen neuen VizePräsidenten Sir George Clerk verlassen.1014 Das Verhältnis der Präsidenten des Board of Trade zum Railway Interest war ambivalent. In der Frühphase des Eisenbahnbaus herrschte zumindest in der Außendarstellung eine Atmosphäre der Kooperation zwischen dem Ministerium und der Eisenbahnbranche. Der Bericht des Select Committee on Railways von 1841 sprach von einem »amicable spirit«, in dem Vertreter des Staates und der Privatwirtschaft zusammen arbeiteten, um den Ausbau des Schienennetzes voranzutreiben. Der Report vermerkte jedoch auch, dass diese Kooperation 1012 Reports of the Committees of Inquiry into Public Offices and Papers connected therewith. Parliamentary Papers. 1854, Bd. 27. S. 130. 1013 Ebd., S. 132. 1014 Beispielsweise geriet Clerk in Erklärungsnöte, als im Parlament die Frage aufkam, ob die Reports des Board of Trade endgültig oder reversibel seien. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd.78. Sp. 1316–1320, Sp. 1320.

Personale Verflechtung auf Leitungsebene in Großbritannien

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hauptsächlich darauf zurückzuführen war, dass das Board of Trade in der Regel nur Vorschläge unterbreitete. Sollten dem Ministerium sanktionierende Befugnisse übertragen werden, vermerkte der Report, würden die Unternehmen ihre freiwillige Zusammenarbeit aller Wahrscheinlichkeit nach sehr schnell einstellen.1015 Henry Labouchere äußerte sich im Zusammenhang mit neuen Sicherheitsmaßnahmen in ähnlicher Weise, als er anmerkte, dass sich die Unternehmen bisher meist kooperativ gezeigt hätten und er keine rechtlichen Schritte für notwendig erachte, um ihre Mitarbeit in Sicherheitsfragen zu erzwingen.1016 Und auch Premierminister Peel hoffte auf einvernehmliche Lösungen zwischen der Legislative und den Eisenbahngesellschaften, weil er Sicherheitsstandards für effektiver hielt, die die Eisenbahngesellschaften aus eigenem Antrieb heraus einhielten.1017 Häufig dürfte es sich bei derartigen Aussagen allerdings um politische Rhetorik gehandelt haben, die dazu gedacht war, das Fehlen eigener Machtmittel zu kaschieren. Ab Mitte der 1840er Jahre war von einem »amicable spirit« freilich nur noch selten etwas zu spüren. Die zähen Verhandlungen Gladstones 1844 und die anhaltenden Debatten über die Befugnisse des Railway Department und der Railway Commission nahmen häufig auch sehr persönliche Züge an. Das Verhältnis der Präsidenten des Board of Trade zu den verschiedenen Interessenverbänden des Railway Interest in den 1850er und 1860er Jahren war sehr wechselhaft, da ihre politischen Ziele zumeist gegenläufig und Konflikte in bestimmten Bereichen daher unumgänglich waren. Zwischen der Railway Companies Association von 1857 und Edward Stanley sowie seinem Nachfolger Joseph Henley gab es erhebliche Spannungen, weil die Association versuchte, Gesetzesänderungen im Parlament durchzusetzen, die es Eisenbahngesellschaften ermöglicht hätten, Fusionen ohne parlamentarische Bewilligung durchzuführen.1018 Gelegentlich und unter bestimmten Bedingungen konnten aber auch Ziele formuliert werden, die gemeinsames Handeln erlaubten. Mit der Nachfolgeorganisation der Railway Companies Association in den späten 1860er Jahren pflegten die Leiter des Board of Trade zum Beispiel einen sehr professionellen und auf Kooperation ausgelegten Umgang. Auf Anfrage der Railway Companies Association zog 1867 der Präsident des Boards, der Duke of Richmond, seinen Gesetzesentwurf für den Railways and Joint Stock Companies Act zurück, um den Eisenbahngesellschaften die Möglichkeit zu geben, eigene Vorschläge für verbindliche Buchhaltungsstandards zu erarbeiten, die in den Regulation of Rail1015 1016 1017 1018

Report from the Select Committee on Railways. Parliamentary Papers. 1841, Bd. 8. S. V. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 56. Sp. 623–624, Sp. 624. Ebd. Bagwell: The Railway Interest, S. 69.

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ways Act von 1868 einfließen sollten.1019 Nach den Erfahrungen von Edward Strutt und seiner Gesetzgebung zur Buchführung und Finanzaufsicht in den 1840er Jahren und der vornehmlich destruktiven Haltung des Railway Interest gegenüber branchenweiten Standards, muss dies eine willkommene Veränderung gewesen sein. Dennoch muss zumindest hinterfragt werden, weshalb er dem Railway Interest erlaubte, quasi seine eigenen Gesetze zu schreiben. Wie im Einzelnen der Railway Interest und seiner Vertreter Einfluss auf Entscheidungen des Präsidenten des Board of Trade nahmen, lässt sich nur schwer nachvollziehen, da über die Verhandlungen keine Protokolle geführt wurden und der Öffentlichkeit gegenüber in der Regel Stillschweigen gewahrt wurde. Aus der Presseberichterstattung lassen sich zumindest einige Hinweise darauf extrahieren, wie Vertreter der Unternehmen versuchten, Minister in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die wohl prägnantesten Beispiele waren Gladstones Railway Regulation Act von 1844 und Edward Cardwells Railway Act von 1854. In beiden Fällen gelang es Vertretern der Eisenbahnbranche, in persönlichen Verhandlungen wesentliche Änderungen an den Gesetzesentwürfen zu bewirken. Ungeachtet der vermeintlichen Schwäche des Board of Trade verließ sich der Railway Interest also nicht gänzlich nur auf seine Stärke im Parlament. Die zahlreichen Treffen zwischen Vertretern der Eisenbahngesellschaften mit den verschiedenen Leitern des Board of Trade belegen dies eindrücklich. Detailfragen zu Gesetzesentwürfen ließen sich in kleinerer Runde besser diskutieren und Änderungen durchsetzen, als im großen Plenum des Parlaments. Der größte Trumpf der Vertreter des Railway Interest in diesen Verhandlungen war die Bedeutung ihrer Unternehmen für die Wirtschaft des gesamten Landes und die steigende Anzahl der Aktionäre, mit deren konkreten Interessen sich augenscheinlicher argumentieren ließ, als mit dem stets diffusen Gemeinwohl, das die Minister ihnen argumentativ entgegensetzen konnten. Im Umgang mit einzelnen Unternehmen waren Minister eher gewillt auf Konfrontation zu gehen. Das Verhältnis einzelner Unternehmen zum Board of Trade hing daher stark von persönlichen Kontakten und Sympathien ab. 1844 versuchte John Moss, der Vorsitzende der Grand Junction Railway, seine guten persönlichen Beziehungen zu John Gladstone, der ein Großaktionär seines Unternehmens war, dazu einzusetzen, um eine kostenintensive parlamentarische Auseinandersetzung mit George Hudson und der von ihm geleiteten Midland Railway zu verhindern.1020 Es ging in dem Streitfall um die beste Verbindungsroute zwischen London und Schottland. Die Grand Junction Railway plante als Fernziel, das eigene Streckennetz entlang der Westküste bis Glasgow zu erweitern, während Hudson eine direkte Verbindung zwischen London und 1019 Ebd., S. 71. 1020 Trust: John Moss, S. 191–192.

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Edinburgh entlang der Ostküste anvisierte. Moss bat John Gladstone, seinen Einfluss geltend zu machen, um einen Schiedsspruch durch das Board of Trade erarbeiten zu lassen, der für beide Seiten bindend sein sollte. Sicherlich dachte er dabei in erster Linie an John Gladstones Sohn William. Er erwähnte des Weiteren, dass er sich auch an Robert Peel, mit dem er ebenfalls persönlich bekannt war, wenden wolle, um ihn um Unterstützung zu bitten. John Gladstone schätzte eine Erweiterung des Schienennetzes der Grand Junction nach Norden jedoch als unprofitabel ein und verweigerte daher seine Unterstützung. Moss’ Befürchtung, dass die parlamentarischen Kosten der Unternehmen aufgrund der Konkurrenzsituation immense Ausmaße annehmen würden, erwies sich jedoch als unbegründet, da beide Projekte ohne langwierige Verhandlungen vom Parlament genehmigt wurden.1021 Es war keineswegs ungewöhnlich, dass die Behördenleiter auch Vertreter einzelner Eisenbahnunternehmen zu persönlichen Gesprächen empfingen. Es gab jedoch kein festes Regularium, nach dem diese Treffen bewilligt wurden. Vielmehr lag diese Entscheidung im persönlichen Ermessensspielraum des Leiters der Behörde.1022 Vermittlungsgesuche in Angelegenheiten, die keine Auswirkungen auf das gesamte Eisenbahnsystem erwarten ließen, wurden in der Regel abgelehnt.1023 Gelegentlich wurden jedoch Ausnahmen gemacht. Der gesellschaftliche Status der beteiligten Personen und die ökonomische Bedeutung der von ihnen repräsentierten Interessen spielten eine gewichtige Rolle bei der Entscheidung, ob die Leiter des Board of Trade einem Treffen zustimmten oder nicht. Donatus O’Brien, der Sekretär des Railway Department, erteilte zwei Geschäftsleuten aus Manchester, die um ein persönliches Gespräch mit Lord Dalhousie gebeten hatten, äußerst diplomatisch eine Absage: »I am directed …. to inform you that my Lords will not give a deputation the trouble of coming and they therefore request the favour of a statement in writing.«1024 Die Möglichkeiten des Board of Trade, Sanktionierungen für einzelne Unternehmen zu verhängen waren beschränkt. Diese Tatsache und die notgedrungen pragmatische Kompromissbereitschaft bei Verhandlungen zu Gesetzesentwürfen mit dem Railway Interest lassen jedoch noch nicht automatisch den Umkehrschluss zu, dass sich das Ministerium in den Bereichen, die es zu seinen Kernkompetenzen zählte, besonders leicht von Interessenvertretern beeinflussen ließ. In diesen Fällen kam die persönliche Autorität der jeweiligen Minister voll zur Geltung, um der häufig auf Blockade abzielenden Haltung einzelner Eisenbahnunternehmen entgegenzusteuern. Ein Verlust öffentlichen 1021 1022 1023 1024

Ebd. Parris: Government, S. 139. Railway Department: Briefbücher. 1844, S. 33. NA, Kew. MT 11/6. Ebd., S. 19, 21.

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Zum Verhältnis von Wirtschaft und Ministerien

Ansehens der Behördenleiter konnte leicht auch die Arbeit des gesamten Ministeriums diskreditieren. James Dalhousies Autorität zum Beispiel wurde dadurch beeinträchtigt, dass die Berichte des Railway Department von allen Mitarbeitern unterzeichnet wurden und so der Eindruck entstand, er sei in dem von ihm geleiteten Ministerium nur als primus inter pares tätig.1025 Die Leiter des Board of Trade mussten daher mit den Vertretern der Eisenbahngesellschaften zumindest sozial gleich oder höher gestellt sein, um effektiv die Interessen ihres Ministeriums durchsetzen zu können. Das Board of Trade war nicht gerade der traditionelle Ausgangspunkt für große Politikerkarrieren. William Gladstone bildet hier eine Ausnahme. Im Normalfall übernahmen eher nüchterne Arbeiter, denn politisch hoch ambitionierte Charaktere dieses Amt, das eine hohe Affinität zu Statistiken und Tabellen erforderte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Leiter des Board of Trade tendenziell einen niedrigeren sozialen Status hatten als ihre Kollegen in prestigeträchtigeren Ministerien. Rund die Hälfte der Präsidenten des Board of Trade zwischen 1830 und 1875 entstammte dem Hochadel, während der übrige Teil einen kaufmännischen familiären Hintergrund hatte.1026 Auf Versuche einflussreicher Personen, allzu offen Druck auf sie auszuüben, reagierten die Leiter des Ministeriums daher bisweilen sehr negativ. Als Lord Lonsdale und George Stephenson 1845 versuchten, während eines Treffens mit James Dalhousie die von dem Inspektor des Board of Trade verweigerte Freigabe der Whitehaven Junction Railway zu erwirken, und sich dabei seiner Meinung nach im Ton vergriffen, war dieser äußerst ungehalten. Jedoch zeigte er sich wenig später kompromissbereit und bewilligte eine erneute Untersuchung der Strecke.1027

6.2. Vergebliches Bemühen um vollständige Neutralität? – Private wirtschaftliche Interessen von Ministern Trotz der geradezu reflexhaften Verweise auf die Korruptionsanfälligkeit und Patronagemöglichkeiten der Ministerien, die immer dann vorgebracht wurden, wenn eine Erweiterung der Befugnisse des Board of Trade diskutiert wurde, gab es so gut wie keine konkreten Missbrauchsvorwürfe gegen die Amtsführung der Minister.1028 Dies zeigt eine klare Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des 1025 1026 1027 1028

Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 77. Sp. 511–525, Sp. 514. Parris: Government, S. 230. Ebd., S. 91. Selbst der anonyme Autor des Pamphlets »Railways and the Board of Trade«, der ansonsten kaum ein gutes Wort über das Board of Trade und seine Angestellten zu verlieren

Private wirtschaftliche Interessen von Ministern

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Amtes und der Bewertung der Personen, die es ausfüllten. Aufgrund der langen Tradition von Debatten über Korruption durch Regierungsmitglieder waren Minister im 19. Jahrhundert stets darum bemüht, nicht den Anschein persönlicher Nähe zu einzelnen Unternehmen zu erwecken.1029 Dies zeigt sich auch in William Gladstones Verhältnis zur Eisenbahnbranche. Gladstone war nicht das einzige, wohl aber das bekannteste hochrangige Regierungsmitglied, das enge Verbindungen zu Eisenbahngesellschaften hatte. Sein Vater war Mitbegründer mehrerer schottischer Linien und hielt 1843 Aktien im Wert von 170.000 Pfund.1030 Die Verbindungen seines Vaters und Bruders zur Liverpool and Manchester Railway und der Grand Junction Railway wurden bereits eingehender thematisiert. William Gladstone befürchtete schon 1842, dass seine familiären Verbindungen zur Eisenbahnbranche seine Autorität als Leiter des Board of Trade beeinträchtigen könnten.1031 1844 begründete er die Reform des Railway Department gegenüber Robert Peel unter anderem damit, dass er durch persönliche und familiäre Interessen als voreingenommen gelten könnte.1032 In öffentlichen Debatten konnte dieses Argument natürlich nicht vorgebracht werden, da es im Endeffekt darauf hinauslief, dass Gladstone eine staatliche Behörde reformieren wollte, nur um sich selbst von einem möglichen Interessenskonflikt zu befreien. Seine politischen Gegner hätten sicherlich eher seinen Rücktritt gefordert, als der Reform zuzustimmen. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass seine persönlichen Motive nicht der einzige Grund waren, warum er ein eigenes Department für Eisenbahnen beim Board of Trade einrichten wollte, dessen Leitung nach Gladstones Vorstellungen komplett in den Händen des Vizepräsidenten Dalhousie liegen sollte. Die Beaufsichtigung der geplanten Reports zu Private Bills drohte schlichtweg zu viel Zeit des Ministers in Anspruch zu nehmen, die eigentlich für andere Aufgaben benötigt wurde.1033 Trotzdem zeigen seine Bedenken, wie deutlich sich Gladstone bewusst war, dass Minister unter verschärfter öffentlicher Beobachtung standen und ihre Amtsführung immer auch im Hinblick auf den Einfluss möglicher persönlicher Motive bewertet wurde. Auch nach seinem Rücktritt von der Leitung des Board of Trade im August 1844 war Gladstone sichtlich darum bemüht, in seinen politischen Funktionen nicht mehr direkt mit Eisenbahnpolitik befasst zu sein.

1029 1030 1031 1032 1033

hatte, hielt den Leiter James Dalhousie zwar für inkompetent in Eisenbahnfragen, aber dennoch für persönlich ehrenhaft und respektabel. Anonym: Railways and the, S. 12. »… public opinion was extremely sensitive to charges of governmental corruption and political leaders were extremely sensitive to public opinion.« Gash: Politics, S. 343. Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 176. Carlson: The Liverpool & Manchester, S. 48. Parris: Government, S. 62., Vgl. auch: Lee-Warner, William: The Life of the Marquis of Dalhousie. London 1904, S. 75. Ebd.

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Zum Verhältnis von Wirtschaft und Ministerien

Er war zwar 1853 und 1854 Mitglied in Caldwells Committee, nahm aber kaum an den Sitzungen teil.1034 1865 vermied er bewusst eine Mitarbeit in der Devonshire Commission, die über die Umsetzung der Verstaatlichungsoption seines Gesetzes von 1844 beraten sollte.1035 Ähnliches gilt auch für Robert Peel, der über verwandtschaftliche Beziehungen zu Eisenbahndirektoren verfügte. Sein Bruder Edmund Peel war Direktor der Trent Valley Railway, die jedoch noch vor ihrer Fertigstellung von der neu gebildeten London and Northwestern Railway geschluckt wurde.1036 Diese Verbindung wurde ihm jedoch nicht zum Vorwurf gemacht, weil er in seinem Amt nicht direkt mit Eisenbahnpolitik in Verbindung kam. Generell kann festgestellt werden, dass es spätestens ab Mitte der 1840er Jahre wohl kaum ein Mitglied der Regierung gab, das vollkommen frei von finanziellen, familiären oder bekanntschaftlichen Verbindungen zu einem Eisenbahnunternehmen gewesen wäre. Vollkommene Neutralität von Amtsträgern war und ist ein Ideal, das sich so lange nicht umsetzen ließ, wie Amtsträger noch über ein Privatleben verfügten. An diesem Punkt stieß die Differenzierung zwischen privaten und öffentlichen Sphären an seine Grenzen.1037 Es stellte sich also die Frage, wo pragmatisch eine Trennlinie gezogen werden sollte und konnte, zumal sich Minister, die über geringe Verbindungen zur Wirtschaftswelt verfügten und nicht als ausgewiesene Fachleute gelten konnten, im Gegenzug dem Vorwurf der Inkompetenz erwehren mussten. Die häufig kurzen Amtsperioden der Minister verschärften diese Vorbehalte noch, weil sie vermeintlich nicht genug Zeit hatten, sich wirklich in die Materie einzuarbeiten. 1857 musste sich Edward Stanley, ein studierter Jurist, während seiner Amtszeit als Präsident des Board of Trade eben dieser Vorwürfe erwehren. Henry Labouchere verteidigte ihn im Parlament mit dem Hinweis, dass die Präsidenten des Board of Trade gezielt nicht aus Wirtschaftskreisen rekrutiert würden, da ihre Unabhängigkeit sichergestellt werden solle.1038 Ein kurzer Blick auf die Liste

1034 1035 1036 1037

Cleveland Stephens: English Railways, S. 182. Simmons, Biddle (Hrsg.): The Oxford Companion, S. 176. Herapath’s Journal (14. 3. 1846), S. 382. Fahrmeir, Andreas: Investitionen in politische Karrieren? Politische Karrieren als Investition? Tendenzen und Probleme historischer Korruptionsforschung. In: Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. Hrsg. von Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir u. Alexander Nützenadel. München 2009. S. 67–90, S. 86. 1038 Henry Labouchere: »Common sense was quite as valuable a qualification for the office as a knowledge of the details of trade, and a great and essential point was that the Minister of Trade should not be actually interested in the matters upon which he had to decide. The principle advocated by the hon. Gentleman that the affairs of trade should be managed exclusively by merchants was, he contended, a retrograde principle. It was a return to the old principle that trade was best managed by guilds; it implied a partial and one-sided view of commercial affairs, and if it had continued to have operated upon our legislation

Private wirtschaftliche Interessen von Ministern

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der Leiter des Board of Trade offenbart jedoch, dass ein Großteil der Präsidenten zumindest aus Unternehmerfamilien stammten, auch wenn sie selbst nicht in der Privatwirtschaft tätig waren, sondern politische oder administrative Karrieren gewählt hatten. Gelegentlich waren jedoch die eigenmächtigen Entscheidungsgewalten der Präsidenten des Board of Trade Gegenstand von Missbrauchsvorwürfen. Insbesondere, dass es kein festes Regularium gab, in welchen Fällen persönliche Treffen mit den Ministern gewährt wurden, bot Anlass für Kritik. Mitunter beanstandeten Unternehmen, dass ihre Konkurrenten vom Board of Trade bevorzugt behandelt worden seien. 1844 beklagte sich die Leitung der Great Western and Cornwall Junction Railway in einem Brief an das Board of Trade, dass ihren Vertretern kein persönliches Treffen gewährt worden war, um ihre Anliegen vorzubringen. Donatus O’Brien, der Sekretär des Railway Department antwortete, dass es nicht üblich sei und auch nicht im Sinne der Öffentlichkeit, dass sich die Leitung des Board of Trade rechtfertigte, welche Vertreter es empfinge und welche nicht.1039 Das Beispiel verdeutlicht, dass sich keine festen Verfahrensregeln etabliert waren, nach denen die Vertreter des Staates mit den Vertretern der Industrie interagierten. Gesellschaftlicher Rang und wirtschaftliche Macht, sprich soziales und ökonomisches Kapital, waren in dieser Situation ausschlaggebend, um Zugang zu staatlichen Institutionen zu erlangen und Gleichbehandlung durch Vertreter des Staates war nicht einforderbar. Kritik am Verhältnis der Minister zum Railway Interest als Ganzem oder einzelnen Eisenbahnunternehmen drückte sich in verschiedenen Formen aus. Joseph Hume kritisierte Edward Cardwell 1854 öffentlich im Parlament für seine vermeintliche Nachgiebigkeit gegenüber den Eisenbahndirektoren in Zusammenhang mit dem Railway and Canal Traffic Act, weil dem Board of Trade dadurch Schlüsselkompetenzen vorenthalten würden, die es im Sinne der Allgemeinheit benötige. Cardwell entgegnete in einer kurzen Stellungnahme lediglich, er habe sich mit Vertretern der Eisenbahnbranche getroffen und sei von ihren Ansichten überzeugt worden.1040 Aus pragmatischer Sicht war sein Verhalten durchaus nachvollziehbar, weil er zu Konzessionen gezwungen war, wenn er überhaupt Gesetzgebung mit Aussichten auf Erfolg auf den Weg bringen wollte. Dies konnte er aber natürlich nicht in einer öffentlichen Debatte zugeben, ohne gleichzeitig die Autorität des Board of Trade zu untergraben. Ebenso rief die Kooperation des Board of Trade mit der Railway Companies Association in den späten 1860er Jahren den Withe interests of the country would have proportionately suffered.« In: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 145. Sp. 1122–1176, Sp. 1140. 1039 Railway Department: Briefbücher, 1844. S. 37. NA, Kew. MT 11/6. 1040 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 132. Sp. 1229–1250, Sp. 1230.

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derstand der Handelskammern hervor, weil sie das Gefühl hatten, dem Railway Interest würde erlaubt, seine eigenen Gesetze zu schreiben.1041 1869 warf der Spectator John Bright, als dieser Präsident des Board of Trade war, vor, dass er die Eisenbahnbranche zum Schaden der Allgemeinheit unterstütze. Er habe Vorgaben des Board of Trade zu Sicherheitsmaßnahmen nicht durchgesetzt und die Entschädigungen bei Unfällen mit Personenschäden, die Eisenbahngesellschaften an Hinterbliebene zahlen mussten, als zu hoch bezeichnet.1042 Auch hier gab es jedoch keinen expliziten Vorwurf der persönlichen Bereicherung und über seine Beweggründe für seine Nachlässigkeit wurde nicht spekuliert. Zusammenfassend ergibt sich ein ambivalentes Bild. Der Einsatz persönlicher Kontakte zwischen Vertretern der Privatwirtschaft und dem Staat konnte dann als positiv nach außen vertreten werden, wenn er zu einer unkomplizierten und schnellen Lösung eines Problems beitrug, dessen Beilegung auf offiziellem Weg mehr Zeit und Kosten verursacht hätte, und dies nicht zur Benachteiligung Dritter führte. Personale Verflechtung wurde also durch die Intention gerechtfertigt, kostensparend zu einer Einigung zwischen Kontrahenten zu gelangen, was wiederum der Allgemeinheit zugute kam. Die Times argumentierte, dass informelle Absprachen zwischen dem Board of Trade und den Unternehmen zulässig seien, so lange sie der wirtschaftlichen Entwicklung förderlich seien und politische Entscheidungen beschleunigten.1043 In diesem Falle wurde geringere Transparenz und Überprüfbarkeit staatlichen Handelns bewusst gebilligt.

6.3. Die Ministerialbürokratie und ihr Verhältnis zur Eisenbahnbranche in Großbritannien Das Railway Department in seinen verschiedenen Formen war und blieb über den gesamten Untersuchungszeitraum eine kleine Abteilung des Board of Trade und trotz der häufigen Umbenennungen der Behörde änderte sich über die Jahre hinweg nur relativ wenig an ihrem strukturellen und personellen Aufbau. Im Unterschied zur Behördenleitung war die Beamtenschaft der Sach- und Verwaltungsebene verhältnismäßig unabhängig von politischen Machtwechseln und wurde daher nicht mit jeder neuen Regierung ausgetauscht.1044 Das Railway Department bestand bei seiner Gründung lediglich aus drei 1041 1042 1043 1044

Searle: Entrepreneurial Politics, S. 182. The Spectator (14. 8. 1869), S. 2. The Times (15. 6. 1842), S. 6. Aylmer, G. E.: From Office-Holding to Civil Service. The Genesis of Modern Bureaucracy. In: Transactions of the Royal Historical Society 30 (1980). S. 91–108, S. 92.

Die Ministerialbürokratie und ihr Verhältnis zur Eisenbahnbranche

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Personen, G. R. Porter, der aus dem Statistical Department ins Railway Department wechselte, dem Ingenieur Sir Frederick Smith und Samuel Laing, einem gelernten Juristen, der zunächst als Privatsekretär von Henry Labouchere angestellt gewesen war und aus dieser Stellung ins Board of Trade wechselte. Für die Rekrutierung von Mitgliedern des öffentlichen Dienstes spielte Patronage in den 1830er Jahren eine große Rolle und keines der ursprünglichen Mitglieder des Railway Department verfügte über spezifische Vorkenntnisse zu Eisenbahnen. Im Verhältnis zum Wachstum der Eisenbahnbranche stieg die Zahl der Mitarbeiter kaum an. 1843 waren es lediglich sechs Angestellte. Neben einem Chefsekretär hatte das Department drei Inspektoren, einen juristischen Assistenten und einen Assistenten, der für die Korrespondenz sowie allgemeine Schreibtätigkeiten zuständig war.1045 Auch nach der Neugründung 1851 wuchs das Railway Department nur unwesentlich an. Allerdings gingen mit der Einführung der Joint Secretaries einige strukturelle Änderungen einher, die das Ministerialsystem klarer durchsetzten, in dem eindeutige hierarchische Strukturen und Verantwortlichkeiten herrschten, während andere Abteilungen des Board of Trade noch nach dem Kollegialsystem arbeiteten.1046 Obwohl die administrativen Posten im Board of Trade auch nach 1830 noch häufig durch persönliche Beziehungen vergeben wurden, waren diese Stellen von Sinekuren jedoch weit entfernt. Patronage als Rekrutierungsmechanismus bedeutete nicht, dass Eignung kein wesentliches Kriterium für eine Einstellung darstellte. Persönliche Bekanntschaft oder Empfehlungen durch Dritte wurden auch dazu eingesetzt, um die Fähigkeiten und den Bildungsgrad eines Kandidaten einzuschätzen. In den 1850er Jahren geriet diese Praxis jedoch aufgrund ihrer geringeren Transparenz zunehmend in Misskredit. Der Legitimitätsverlust von Patronage in der öffentlichen Verwaltung fand seinen Ausdruck in den Empfehlungen der berühmten Northcote-Trevelyan-Untersuchung. Einstellungen im öffentlichen Dienst sollten fortan allein auf der Basis von Konkurrenz und Eignung vorgenommen werden. Als vergleichbare Nachweise der Eignung sollten Abschlüsse der privaten Eliteschulen herangezogen oder interne Aufnahmeprüfungen eingeführt werden. Trotzdem dauerte es noch bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, ehe diese Kontrollmechanismen für die Einstellung im öffentlichen Dienst die Regel darstellten.1047 Bestimmte Arbeitsbereiche der Ministerien erforderten jedoch aufgrund der komplexeren technischen Zusammenhänge, mit denen sich die Behörden wegen 1045 Roberts: The Development, S. 277. 1046 Reports of Committees of Inquiry into Public Offices and Papers connected therewith. Parliamentary Papers. 1854, Bd 27. S. 134. 1047 Bourne: Patronage and Society, S. 13.

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der raschen industriellen Entwicklung befassen mussten, schon vor den 1850er Jahren ein ausgeprägtes Expertenwissen. Dies trifft insbesondere für die Sicherheitskontrolleure des Board of Trade und die verschiedenen für Eisenbahnen zuständigen Unterabteilungen zu, die zwingend über entsprechende technische Kenntnisse verfügen mussten. Allein schon dieser Umstand erforderte die graduelle Einführung eines meritokratischen Systems, in dem sich Einstellung und Beförderungen an gewissen formalen Standards orientierten. 1841 kam mit Charles Pasley ein zweiter Ingenieur zum Board of Trade, der sich fortan gemeinsam mit Frederick Smith um die technischen Fragen zu kümmern hatte. Die Inspektoren sollten den Präsidenten direkt unterstellt und nach Möglichkeit nicht in das Alltagsgeschäft des Board of Trade eingebunden sein, um sich voll auf ihre Aufgabe konzentrieren zu können.1048 Da Großbritannien im Gegensatz zu Frankreich nicht über ein staatlich finanziertes Ausbildungssystem für technische Berufe verfügte, aus denen Ingenieure hätten rekrutiert werden können, mussten sie zwangsläufig entweder aus der Privatwirtschaft oder der einzigen staatlichen Institution stammen, die Bautätigkeit in nennenswertem Umfang betrieb, dem Militär. In der Regel hatten sie daher ihre Karriere bei den Royal Engineers begonnen. Schon früh wurden Maßnahmen ergriffen, um die Rekrutierung von Ingenieuren aus der Privatwirtschaft zu reglementieren. Nach den Bestimmungen des Railway Regulation Act von 1840 wurden Bewerber für den Posten eines Inspektors ausgeschlossen, die im vorangegangenen Jahr in einem Eisenbahnunternehmen beschäftigt gewesen waren.1049 Diese Regelung ging auf eine Forderung von Lord Somerset im House of Commons zurück und sollte eine unzulässige Verflechtung zwischen den Unternehmen und den sie kontrollierenden Inspektoren verhindern. Sie hatte aber auch zur Folge, dass die eingesetzten Inspektoren gemeinhin über keine praktische Erfahrung in der Eisenbahnbranche verfügten. Daher wurde diese Bestimmung schon 1844 wieder aufgehoben.1050 Trotz alledem hielt sich der anfängliche Eindruck der Inkompetenz hartnäckig. Denn die Bemühungen der Minister, nach Möglichkeit personelle Wechsel zwischen der Privatwirtschaft und ihren Behörden zu vermeiden, konnten schnell in Widerspruch zu Forderungen nach einer größeren Kompetenz der Mitarbeiter des Board of Trade geraten. Noch 1857, fast zwanzig Jahre nachdem die ersten Ingenieure ihre Arbeit beim Board of Trade aufgenommen hatten, 1048 Reports of Committees of Inquiry into Public Offices and Papers connected therewith. Parliamentary Papers. 1854, Bd 27. S. 137. 1049 »No person shall be elligible … who shall within one year of his appointment have been a director or have held any office of trust or profit under any railway company.« In: Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 55. Sp. 1157–1159, Sp. 1157. 1050 Parris: Government, S. 65.

Die Ministerialbürokratie und ihr Verhältnis zur Eisenbahnbranche

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bemängelte der Liverpooler Abgeordnete Thomas Horsfall eben diesen Punkt, als er eine Reform des Ministeriums forderte.1051 Die Sicherheitskontrollen der Ingenieure waren ebenso wie das Recht, die Inbetriebnahme neuer Strecken zeitweilig zu untersagen, eine wichtige Domäne des Board of Trade. Es gab jedoch keine formalen Einspruchsmöglichkeiten gegen die Entscheidungen der Inspektoren, was in Einzelfällen dazu führte, dass sie schlichtweg ignoriert wurden. Die Oxford, Worcester and Wolverhampton Railway hatte ein besonders schlechtes Verhältnis zum Board of Trade und eröffnete in den 1850er Jahren wiederholt Teilabschnitte ihrer Strecke ohne Genehmigung des Board of Trade.1052 Auch die Metropolitan District Line eröffnete 1871 eine Teilstrecke zwischen Blackfriars und Mansion House im Zentrum Londons, ohne die Bewilligung des Board of Trade abzuwarten. Solch ostentatives Hinwegsetzen über die Befugnisse des Ministeriums war jedoch die absolute Ausnahme. Auch die Empfehlungen des Board of Trade für neue Sicherheitsstandards wurden gelegentlich mit Blockadehaltungen von Seiten einzelner Unternehmen und ihrer Direktoren beantwortet.1053 James Allport, der Nachfolger George Hudsons bei der Midland Railway, war dafür berüchtigt, dass er regelmäßig äußerst ungehaltene Antwortbriefe auf die Reports der Inspektoren des Board of Trade verfasste. Edward Watkin agitierte häufig gegen sie und Richard Moon, der Vorsitzende der London and North Western Railway ging sogar so weit, den Inspektoren eine Mitschuld an Unfällen zu geben, weil sie die Handlungsfreiheit des Managements der Eisenbahnunternehmen einschränken würden.1054 Auch unter ihren Ingenieurskollegen in der Privatwirtschaft waren die Inspektoren des Board of Trade nicht immer hoch angesehen. Isambard Kingdom Brunel, neben den Stephensons wohl der berühmteste Ingenieur Großbritanniens des 19. Jahrhunderts, sah in ihnen nicht mehr als einen Versuch der Regierung, privates Unternehmertum zu behindern.1055 Die Alltagsarbeit des Ministeriums spiegelt sich in den Briefbüchern des Board of Trade, von denen allerdings nur die Jahrgänge bis 1866 erhalten geblieben sind, wider. Die überwältigende Mehrheit der Einträge besteht aus sehr formal gehaltenen Eingangsbestätigungen von Memoranda, die von verschiedensten Institutionen, angefangen bei konkurrierenden Unternehmen über kommunale Körperschaften bis hin zu Privatpersonen, für oder gegen be-

1051 1052 1053 1054 1055

Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 145. Sp. 1122–1176, Sp. 1136. Parris: Government, S. 163. Simmons: The Victorian Railway, S. 80–81. Greaves: Sir Edward Watkin, S. 110. Buchanan, R. A.: Brunel. The Life and Times of Isambard Kingdom Brunel. London 2002, S. 175.

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stimmte Eisenbahnprojekte vorgebracht wurden.1056 Darüber hinaus finden sich in den Unterlagen Korrespondenzen mit anderen staatlichen Institutionen, die das Ministerium in Eisenbahnfragen beriet.1057 Zu guter Letzt fungierte das Board of Trade gelegentlich auch als Beschwerdestelle für Passagiere, deren Kritik dann an die Unternehmen weitergegeben wurde. Diese Funktion war jedoch nicht offiziell und bei der Berücksichtigung von Beschwerden spielte der gesellschaftliche Rang des Beschwerdeführers eine bedeutende Rolle. In der Regel wurde wohl nur Beschwerden von Personen nachgegangen, die einen gewissen gesellschaftlichen Status vorweisen konnten.1058 Einen Einblick in private Verbindungen zwischen Inspektoren und den Unternehmen, die sie kontrollierten, geben die persönlichen Tagebücher von Charles W. Pasley, der zwischen 1841 und 1846 als General Inspector beim Board of Trade für die technische Kontrolle der Eisenbahngesellschaften zuständig war. Seine Aufzeichnungen weichen erheblich von dem häufig kolportierten Bild einer generellen Antipathie privater Eisenbahnunternehmer gegenüber den Kontrolleuren des Board of Trade ab. Pasley beschrieb recht detailliert, dass er rege soziale Kontakte mit Angehörigen der Eisenbahnbranche pflegte. Er vermerkte in verschiedenen Einträgen, dass er als Gast bei privaten Festen verschiedener Direktoren der London and South Western Railway und der South Eastern Railway eingeladen worden war und dort auf den Erfolg der Unternehmen angestoßen hätte.1059 In welchem Maß Pasleys persönliche Beziehungen Einfluss auf seine beruflichen Entscheidungen hatten, lässt sich nur schwer ermessen. Henry Parris vertritt in seiner Arbeit über das Board of Trade die Theorie, dass Pasleys soziale Vernetzung dem Railway Department eher nützte, als dass sie seine Autorität zu untergrub, da auf diesem Wege Machtdefizite des Ministeriums und fehlende Druckmittel durch persönliche Verbundenheit ausgeglichen werden konnten.1060 Parris postuliert damit einen positiven Effekt von Verflechtung als »Schmiermittel« in schwachen Staatsgebilden. Dass sich aus diesen Verflechtungen allerdings auch Abhängigkeiten und persönliche Vorteile für Pasley ergaben, thematisiert Parris nicht. Es waren jedoch gerade diese persönlichen Verbindungen, die den Dienst im Railway Department zu einem Sprungbrett für lukrative Posten in der Privatwirtschaft machen konnten, wie das bereits kurz angerissene Beispiel von Samuel Laing zeigt. Von seinem Wechsel 1848 aus dem Staatsdienst in die GeBriefbücher des Railway Department. NA, Kew. MT 11/6. Briefbücher des Railway Department. 19.1.853, S. 77. NA, Kew. MT 11/24. Roberts: The Development, S. 286. Tagebuch von Sir Charles. W. Pasley. Einträge vom 4. 2. 1842, S.104 und 22. 8. 1842, S. 138. BL Add. Mss. 41.989. 1060 Parris: Government, S. 34.

1056 1057 1058 1059

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schäftsführung der London, Brighton and South Coast Railway versprachen sich die Mitglieder des Direktoriums mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Vorteile durch seine Verbindungen zum Ministerium. In der Folgezeit trat er gelegentlich als Sprecher für die Interessen des Railway Interest in Erscheinung und veröffentlichte mehrere Pamphlete zu eisenbahnpolitischen Themen.1061 1852 wurde er außerdem Präsident der Chrystal Palace Company, trat 1855 jedoch von beiden Posten zurück. Anschließend verfolgte Laing eine politische Karriere und kandidierte 1852 erfolgreich für einen Sitz im Parlament. 1859 wurde er zunächst Financial Secretary of the Treasury unter Lord Palmerston und im folgenden Jahr Finance Minister in India. Während dieser Zeit kursierten Gerüchte in der Presse, er habe Gelder unterschlagen. Die Anschuldigungen stellten sich jedoch als haltlos heraus und konnten von Laing entkräftet werden.1062 1867 übernahm Laing erneut den Vorsitz der London, Brighton and South Coast Railway, die sich in gravierenden finanziellen Schwierigkeiten befand. Es gelang ihm, das Unternehmen in den folgenden zwei Dekaden wirtschaftlich wieder auf ein gesundes Fundament zu stellen.1063 Wechsel zwischen Posten in der ministerialen Bürokratie, der Politik und der Privatwirtschaft waren im viktorianischen Großbritannien nicht ungewöhnlich, auch wenn nur wenige Akteure ein solch weit gefächertes Spektrum der Aktivitäten aufweisen wie Samuel Laing.

6.4. Familiäre Verflechtung und Insiderhandel im Board of Trade Korruptionsdebatten über Mitarbeiter des Board of Trade hatten Mitte der 1840er Jahre eine deutliche Hochzeit, als das Railway Department neu eingerichtet worden war und die Railway Mania ihren Höhepunkt erreichte. Im Fokus der Kritik standen die Berichte des Railway Department für das Parlament, mittels derer Mitarbeiter des Board of Trade angeblich bestimmte Projekte bevorzugten und dadurch mangelnde Sachgerechtigkeit offenbarten. Im Falle eines Patts zwischen zwei Projekten – sprich beide Anträge waren gleich gut und weit fortgeschritten in ihren Planungen – hätte das Board eigentlich positiv über beide berichten müssen und die Entscheidung dem Parlament überlassen sollen. In diesen Situationen war nach Ansicht der Kritiker die Gefahr besonders groß, dass persönliche Präferenzen der Mitarbeiter des Department zum Tragen kämen. Das Board musste, um sich nicht dem Vorwurf der Parteilichkeit auszusetzen, unbedingt nachweisen, dass es sachgerecht entschieden hatte, und 1061 Laing, Samuel: Observations; Laing, Samuel: Audit of Railway Accounts. Letter to the Proprietors of the London, Brighton and South Coast Railway Company. London 1851. 1062 The Saturday Review (9. 3. 1861), S. 237. 1063 Casson: The World’s First, S. 234.

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dass sein Favorit dem Konkurrenzprojekt überlegen war. Die Berichte wurden daher nach der Ansicht der Kritiker eher Plädoyers für die Favoriten des Department, denn als neutral einzustufende Reports.1064 Die Neutralität der Berichte konnte insbesondere dann infrage gestellt werden, wenn einzelnen Mitarbeitern des Railway Department persönliche Beziehungen zu dem von ihnen bewerteten Projekten nachgewiesen werden konnte. Im Frühjahr 1845 wurde Kritik an dem Bericht des Board of Trade zu zwei konkurrierenden Strecken in der Grafschaft Kent laut. Die Anschuldigungen entstanden vor dem Hintergrund von Auseinandersetzungen in den Jahren 1844 und 1845 zwischen einem von dem Ingenieur Charles Vignoles gegründeten Projekt im Norden der Grafschaft Kent, das unter dem provisorischen Namen London, Chatham and North Kent Railway gestartet wurde, und der South Eastern Railway, die eine Erweiterung ihres Schienennetzes in der gleichen Region plante. Vignoles hatte bereits seit mehreren Jahren verschiedene Streckenvarianten angedacht und 1844 die Finanzierung für das Projekt organisiert. Im gleichen Jahr kündigte die South Eastern Railway eine Erweiterung ihres Streckennetzes in eben dieses Gebiet an. Es drängte sich daher der Verdacht auf, dass die South Eastern Railway lediglich agierte, um die Konkurrenz durch Vignoles Projekt zu auszuschalten.1065 Das Board of Trade sprach sich in seinem Report vom Frühjahr 1845 für die Erweiterung der South Eastern Railway und gegen die London, Chatham and North Kent Railway aus. Problematisch wurde diese Entscheidung dadurch, dass William O’Brien, der Bruder des Chefsekretärs des Railway Department, Captain Donatus O’Brien, als Manager der South Eastern Railway tätig war. Die familiären Verbindungen eines Mitarbeiters des Railway Departments zu einer Eisenbahngesellschaft waren ein willkommenes Argument für Kritiker der South Eastern Railway, die dem Board of Trade Parteilichkeit vorwarfen.1066 Weitere Angriffspunkte entstanden dadurch, dass Donatus O’Brien selbst vor seiner Einstellung im Railway Department Sekretär bei der Great North of England Railway und Direktor der Newcastle and Darlington Junction Railway gewesen war.1067 Die Debatten um Donatus O’Brien und den Bericht zur South Eastern Railway brachten ein weiteres Problem auf die Tagesordnung, das seinen Ursprung im Aktienhandel hatte. Da die Berichte des Railway Department erst zu einem bestimmten Zeitpunkt publiziert wurden, konnte Insiderwissen dazu genutzt werden, gewinnbringend in Aktien zu spekulieren. Bereits im Dezember 1844 1064 1065 1066 1067

Anonym: The Board of Trade and the Kentish Railway Schemes. London 1845, S. 3. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd.77. Sp. 246–298, Sp. 294.

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hatte die Times darauf hingewiesen, dass Aktienspekulanten einen distinkten Vorteil hätten, sollten sie über die Empfehlungen des Railway Department vor ihrer offiziellen Veröffentlichung Kenntnis erlangen.1068 Informationen wurden dadurch ein mindestens genauso wichtiges soziales Kapital wie persönliche Verbindungen zu den Entscheidungsträgern. Die Besonderheit des Aktienhandels – Preisvariabilität und direkte Abhängigkeit von politischen Entscheidungen – ermöglichte es, privilegierte Informationen quasi direkt in ökonomisches Kapital umzuwandeln, und schuf dadurch neue Möglichkeiten des Amtsmissbrauchs. Auch die Möglichkeit von Aktienspekulationen durch Mitarbeiter des Board of Trade selbst kam zur Sprache. Colonel Sibthorp richtete Anfang Februar 1845 im Parlament eine offizielle Anfrage an William Gladstone, ob Mitarbeiter des Railway Department Aktien in Unternehmen besäßen, über die sie zu urteilen hatten, und dadurch ihre Neutralität aufgaben.1069 Sibthorp spielte unverhohlen auf Zeitungsberichte an, nach denen Donatus und William O’Brien wenige Tage vor der Veröffentlichung des Berichts des Railway Department in größerem Umfang Aktien der South Eastern Railway gekauft hatten. Der Radical Thomas Wakley nahm Sibthorpes Anschuldigungen auf und verwies auf weitere Gerüchte: die Entscheidungen des Railway Department seien in manchen Fällen bereits Aktienhändlern des Londoner Finanzdistrikts – der City – bekannt gewesen, ehe sie in der London Gazette, dem offiziellen Regierungsorgan, veröffentlicht worden waren. Mit diesen Insiderinformationen hätten privilegierte Einzelpersonen daher beträchtliche Gewinne an der Börse erzielt.1070 Als Konsequenz forderte er, dass die Untersuchungen des Board of Trade in Zukunft öffentlich stattfinden sollten, um mehr Transparenz der Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Wakley argumentierte dabei allerdings weniger mit der potentiellen Benachteiligung privater Unternehmen als vielmehr damit, dass das Verfahren das Ansehen des Board of Trade, der Regierung und schließlich auch des Parlaments beschädigen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Staat nachhaltig erschüttern würde.1071 William Gladstone verteidigte die Verfahrensweise, in der die Reports des Board of Trade erstellt wurden mit dem Hinweis, dass durch öffentliche Untersuchungen immense Kosten entstehen würden und angesichts der Masse an eingegangen Anträgen die gesamte Arbeit des Parlaments beeinträchtigt würde. Auch hier tritt das grundsätzliche Spannungsfeld zwischen Praktikabilität und der Forderung nach höchstmöglicher Transparenz klar hervor.1072 1068 1069 1070 1071 1072

The Times (20. 12. 1844), S. 3. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 77. Sp. 170–185, Sp. 175. Ebd., S. 176. Ebd., S. 179. Ebd., S. 181.

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In Erwiderung auf Sibthorps Anfrage vermerkte Gladstone, er habe seine Mitarbeiter nicht direkt darauf angesprochen, ob sie Aktien von Unternehmen besäßen, deren Anträge sie bearbeiteten. Er gab aber an, er gehe davon aus, dass dies nicht der Fall sei. Lediglich Donatus O’Brien habe spontan bei Antritt seiner Stelle im Oktober 1844 erklärt, in geringem Umfang Eisenbahnaktien zu besitzen. Es sei ihm damals von seinen Vorgesetzten nahegelegt worden, diese umgehend zu verkaufen.1073 Die Anmerkung Gladstones verdeutlicht, dass kein offizielles Verbot für Mitarbeiter des Railway Department Eisenbahnaktien zu kaufen, oder eine Verpflichtung, Investitionen zu veröffentlichen, bestand. Es wurde aber eindeutig von Angestellten erwartet, ihre Position nicht für persönliche Anlagen zu nutzen und dadurch das Board of Trade zu kompromittieren. Gladstone beschrieb außerdem das Prozedere des Railway Department, um ein ungewolltes Durchsickern von Informationen über seine Entscheidungen zu verhindern.1074 Damit war die Affäre aber noch nicht ausgestanden, denn die Times berichtete in einem langen Artikel über die Debatten, was zu ihrer Verbreitung in der Öffentlichkeit beitrug.1075 Wenige Tage später meldete sich Thomas Wakley während einer parlamentarischen Debatte erneut zu Wort. Er verlas einen Artikel des Economist, der andeutete, dass William O’Brien bei der South Eastern Railway nur deshalb angestellt worden sei, weil sein Bruder Donatus im Railway Department arbeitete. Außerdem wiederholte er die Spekulationsvorwürfe, die in der Presse schon seit einigen Wochen kursierten. Um die Situation noch zu verschlimmern, sei die Entscheidung des Railway Department für die South Eastern Railway für die meisten Beobachter, die mit der Materie vertraut waren, nicht nachvollziehbar, da das Unternehmen mehrere Standing Orders nicht eingehalten habe. Wakley forderte eine gründliche Aufklärung der Sachverhalte und gegebenenfalls personelle Konsequenzen im Railway Department, um das Board of Trade von dem Vorwurf der Voreingenommenheit zu befreien1076 Als Reaktion auf die Anschuldigungen meldete sich Sir James Graham zu Wort, zu diesem Zeitpunkt Secretary of State unter Robert Peel, und verteidigte Donatus O’Brien, der zuvor sein Privatsekretär gewesen war. Graham betonte nochmals, dass O’ Brien bei Antritt seiner Stelle alle Eisenbahnaktien verkauft habe, und verbürgte sich persönlich, dass es keine Kommunikation zwischen den Brüdern in Bezug auf Aktienspekulationen oder die South Eastern Railway

1073 1074 1075 1076

Ebd., S. 183. Ebd., S. 182. The Times (11. 2. 1845), S. 3. Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd.77. Sp. 246–298, Sp. 290.

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gegeben habe. Für den Fall, dass seine persönliche Versicherung als Beweis nicht ausreichen sollte, empfahl er ebenfalls eine offizielle Untersuchung.1077 Graham setzte damit den Anschuldigungen und Reformforderungen Wakleys seine persönliche Reputation entgegen und forderte mehr Vertrauen in die Rechtschaffenheit bisher unbescholtener Gentlemen ein. Für den Moment scheint dieses Plädoyer gegen zunehmende Rationalisierung und absolute Transparenz in der öffentlichen Verwaltung auch gewirkt zu haben, denn Wakley zog seine Forderungen zunächst zurück. Dennoch sah sich William O’Brien offensichtlich genötigt, auch selbst das Wort in eigener Sache zu ergreifen, und veröffentlichte einen Leserbrief, in dem er versicherte, keine Informationen über den Report des Railway Department von seinem Bruder erhalten zu haben.1078 Zwei Tage darauf brachte der Whig Henry Brougham – ein geradezu notorischer Kritiker des Railway Department und der Eisenbahnindustrie – das Thema erneut zur Sprache, diesmal allerdings im House of Lords. Nun war es an James Dalhousie, Donatus O’Brien gegen Angriffe der Vorteilsgewährung und der Aktienspekulation in Schutz zu nehmen.1079 Aus der Auseinandersetzung um den konkreten Fall von William und Donatus O’Brien entwickelte sich erneut eine Diskussion über die generelle Legitimität von Regulierung durch die Exekutive. Brougham brachte die Berichte des Railway Department auch in den Folgemonaten wiederholt auf die Redeliste des Parlaments und erhob schwere Vorwürfe gegen das Board of Trade. Diesmal kritisierte er die Entscheidung des Railway Department bezüglich einer geplanten Direktverbindung zwischen London und York unter der Leitung von Edmund Beckett Denison. Das negative Votum des Railway Department sei noch vor der offiziellen Veröffentlichung bekannt geworden und habe zu einem erheblichen Kurseinbruch der Unternehmensaktien geführt.1080 Dalhousie entgegnete, dass der Wertverlust der Aktien der London and York Railway schon eingesetzt habe, ehe die Entscheidung im Railway Department überhaupt getroffen worden sei.1081 Dennoch konnte der Verdacht, dass Informationen über Entscheidungen des Board of Trade vor ihrer Veröffentlichung in die Hände Außenstehender gelangten, nicht vollständig ausgeräumt werden und belasteten den Ruf des Railway Department nachhaltig. Die Debatten um das Board of Trade stehen exemplarisch für weite Teile der 1077 Sir James Graham: »If there be any doubt as to the accuracy of the statement that I have made respecting the conduct of those two gentlemen — one being a public servant, and the other being immediately connected with him, — if there be, I say, any suspicion on the part of any Member of this House, let an inquiry be instituted.« Ebd., S. 294. 1078 The Spectator (15. 2. 1845), S. 11. 1079 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd 77. Sp. 511–525, Sp. 515. 1080 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 78. Sp. 771–774, Sp. 771. 1081 Ebd.

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Ministerialbürokratie. Auch über Angestellte des Parlaments, die im Umfeld der Untersuchungsausschüsse arbeiteten, wurden gelegentlich Gerüchte lanciert, sie hätten ihre Position genutzt, um in Eisenbahnaktien zu spekulieren. Die Railway Times hielt diese Gerüchte allerdings für unglaubwürdig, weil die Angestellten sicher nicht ihre Stelle für Gewinne aus unlauteren Aktienspekulationen aufs Spiel setzen würden. Diese Argumentation mag wenig überzeugend anmuten, denn schließlich würde sie auf nahezu alle Fälle der Selbstbereicherung am Arbeitsplatz zutreffen, sie verdeutlicht aber, dass der Kommentator der Railway Times Staatsbedienstete nicht grundsätzlich für korrumpierbar hielt und konkrete Fälle für ihn eine Ausnahme und nicht die Regel darstellten. Der Autor wunderte sich allerdings darüber, dass Angestellte des Parlaments im Unterschied zu Parlamentariern keine formale Erklärung darüber abgeben mussten, dass sie keine finanziellen Interessen an den von ihnen bearbeiteten Private Bills hatten.1082 Konkrete persönliche Vorwürfe gegen Mitarbeiter des Board of Trade waren äußerst selten. Die bereits zuvor kurz angesprochenen anonymen Pamphlete »Railways and the Board of Trade« und »Ruminations on Railways« von 1845 bildeten in dieser Hinsicht eine Ausnahme und bauten auf den öffentlichen Debatten um Donatus O’Brien auf. Der oder die Autoren nutzten ihre Anonymität für Attacken gegen sämtliche Mitarbeiter des Department und berichteten detailliert über ihre vermeintlichen persönlichen Defizite. In ihrer Schärfe und Direktheit stellen sie sehr ungewöhnliche Dokumente dar. Sie sind jedoch sehr erhellend für die Bedeutung des gesellschaftlichen Status und der persönlichen Expertise einzelner Akteure in den Debatten der Periode. Lord Dalhousie als Leiter des Department und Vizepräsident des Board of Trade wurde noch in einem einigermaßen positiven Licht präsentiert. Er wurde »lediglich« als inkompetent in Bezug auf Eisenbahnen beschrieben und sei durch seine anderen Verpflichtungen als auf die Zuarbeit seiner nachgeordneten Mitarbeiter angewiesen.1083 Über General Pasley hatte der Autor immerhin noch positiv zu berichten, dass er in früheren Jahren beim Militär seinem Land gute Dienste geleistet habe. Er sei jedoch »nur« ein Ingenieur und könne daher die komplexen ökonomischen Zusammenhänge der Eisenbahnbranche nicht adäquat einschätzen.1084 G.R. Porter sei ursprünglich Weinhändler gewesen, in diesem Geschäft aber gescheitert und 1832 nur durch die Patronage von George Eden, 1st Baron Auckland, damals Leiter des Board of Trade, ins Ministerium gekommen. Über 1082 Railway Times (12. 7. 1845), S. 1018–1019; vgl. auch: The Railway Times (30. 8. 1845), S. 1369. 1083 Anonym: Railways and the, S. 12. 1084 Ebd., S. 13.

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Donatus O’Brien berichteten die Autoren hauptsächlich, dass er zwar fähig sei, seine Entscheidungen aber wegen seiner persönlichen Verbindungen zur Eisenbahnbranche stets unter Generalverdacht stünden. Samuel Laing schließlich beschrieben sie als gescheiterten Juristen, der regelmäßig seine Kompetenzen überschritt und sich anmaßte, Deputationen zu empfangen, deren Vertreter sozial über ihm stünden.1085 Diese detaillierte Darstellung der vermeintlichen Charakterschwächen der Mitarbeiter des Railway Department überschritt Grenzen des politisch Sagbaren, selbst für kritische Veröffentlichungen der Zeit, und muss in höchstem Maße diffamierend für alle Betroffenen gewesen sein. Sie erfüllte aber mehrere Zwecke. In erster Linie sollte die Inkompetenz der Exekutive unterstrichen werden. Es sollte aber auch dargestellt werden, weshalb die Mitarbeiter des Board of Trade potentiell anfällig für Korruption waren. Der oder die Verfasser konstatierten, dass die Stellen im Staatsdienst zu gering bezahlt seien und sich daher auch keine fähigen Bewerber fänden, die bereit wären, dort zu arbeiten. Da aber für die Vertreter der Eisenbahnindustrie viel Geld auf dem Spiel stünde, wäre es nur logisch, dass sie versuchten, Beamte als Gegenleistung für einen positiven Bericht zu bestechen.1086 Der Autor geht davon aus, dass die weniger vermögenden Angestellten des Railway Department dieser Versuchung erliegen könnten. Hier haben wir ein Beispiel für das gängige Narrativ eines unterbezahlten Staatsdieners, der sein Einkommen durch Bestechungsgelder aufbessert. Auch die Verlockungen der Aktienspekulation und des Insiderhandels betrachtete der Autor aus der Perspektive junger, unterbezahlter Mitarbeiter des Board of Trade. Wenn sie schon nicht selbst investieren konnten, so hätten sie doch gewiss Verwandte, die in Aktien spekulieren wollten. Die Versuchung wäre daher zu groß, den eigenen Angehörigen einen Tipp zu geben. Im Umkehrschluss könnten bereits bestehende Investitionen auch Entscheidungen der Beamten beeinflussen. Der Autor schränkte seine Theorie jedoch direkt mit dem Vermerk wieder ein, dass die derzeitigen Mitarbeiter Bestechungsgelder zwar wahrscheinlich ablehnen würden, ihre Nachfolger jedoch anders denken könnten.1087 Hier war selbst für diesen Autor offensichtlich eine Grenze erreicht, 1085 »Mr. Laing was either a barrister or an attorney and of so little success in his profession, whichever it was, that a short time since he became a clerk in the Board of Trade, at a salary of about three or four hundred pounds a year.« In: Ebd., S. 15. 1086 Ebd., S. 23. 1087 »I believe that direct bribery – the giving of hard money, or money’s worth, to a public officer, for the sake of influencing his conduct – is rare; though not unknown, it is, I believe, not frequent. But if we desired to give vogue to that crime, I should say, let us establish a Railway department of the Board of Trade, such as that which now revels in an existence as brief I hope as it is mischievous.« In: Ebd.

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denn unhaltbare Anschuldigungen hätten die Intention, die Legitimität des Board of Trade in Zweifel zu ziehen, untergraben Für den Autor bestand eine direkte Korrelation zwischen dem Einkommen, den Fähigkeiten, dem Charakter und der Korruptionsanfälligkeit der Mitarbeiter der Exekutive. Der Fokus auf zukünftige Generationen deutet darauf hin, dass der Autor mit einem allgemeinen Werteverfall rechnete, was sich auch mit dem fortschrittsfeindlichen Tenor deckt, der das gesamte Pamphlet durchzieht. Eine sehr ähnliche Argumentationslinie findet sich auch in dem Pamphlet »Ruminations on Railways«. Dieser Autor gestand den Mitarbeitern des Board of Trade zwar durchaus noble Intentionen zu, zweifelte aber an ihrer grundsätzlichen Eignung für die ihnen übertragenen Aufgaben.1088

6.5. Die Bestechungsaffäre Hignett Nur wenige Monate nach der Kontroverse um Donatus O’Brien wurde die Konkurrenzsituation zwischen der South Eastern Railway und dem Projekt von Charles Vignoles, der London, Chatham and North Kent Railway, zum Gegenstand einer weiteren Kontroverse. Allerdings ging es diesmal nicht um die Mitarbeiter des Board of Trade, sondern des Board of Ordnance, einer Behörde, die für die Versorgung der britischen Streitkräfte zuständig war, betraf. Streng genommen handelte es sich um zwei voneinander getrennte Fälle, die aber gemeinsam publik wurden. Die South Eastern Railway hatte seit 1844 die Opposition gegen die London, Chatham and North Kent Railway geleitet und Vertreter des Board of Ordnance während der Anhörungen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss als Zeugen berufen, weil ein Teil der geplanten Strecke über militärische Einrichtungen verlief. Nach intensiven Verhandlungen einigte sich die London, Chatham and North Kent Railway mit dem Board of Ordnance auf einen alternativen Streckenverlauf.1089 Als Reaktion auf diese Übereinkunft reichte die South Eastern Railway eine Petition mit schwerwiegenden Anschuldigungen gegen den Anwalt des Board of Ordnance John Hignett im Parlament ein. Hignett habe im Vorfeld der Untersuchung beiden Parteien angeboten, gegen unentgeltliche Aktienpakete zu ihren Gunsten aktiv zu werden.1090 Als Beweis legte die South Eastern Railway mehrere Briefe von Hignett an den ehemaligen Sekretär der London, Chatham and North 1088 Anonym: Ruminations on Railways, S. 17. 1089 Report from the Select Committee on the South Eastern Railway Petition. Parliamentary Papers. 1845, Bd. 10. S. III. 1090 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 81. Sp. 1301–1305, Sp. 1301.

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Kent Railway vor, in denen die Aktienüberschreibungen und potentiellen Strategien, um lokale Opponenten zu überzeugen, besprochen wurden.1091 Darüber hinaus reichten sie mehrere Briefe an William O’Brien von der South Eastern Railway ein, in denen Hignett ihnen ebenfalls Hinweise zum Vorgehen im Untersuchungsausschuss gegeben hatte, jedoch nicht direkt auf Aktienpakete als Gegenleistung für seine Unterstützung zu sprechen kam. In diesen Dokumenten zeichnet sich deutlich ab, dass Hignett versucht hatte, beide Unternehmen gegeneinander auszuspielen. Dieses Verhalten eines Angestellten der öffentlichen Verwaltung stuften die Petitionäre der South Eastern Railway als Amtsmissbrauch und korrumpierende Einflussnahme ein.1092 Der Petition wurde im Parlament stattgegeben und ein Untersuchungsausschuss unter der Leitung des liberalen Abgeordneten Benjamin Hawes eingerichtet. Im Verlauf der Untersuchungen stellte sich heraus, dass Hignett dem Sekretär der London, Chatham and North Kent Railway, John Whitehead, geraten hatte, auch zwei weiteren Mitgliedern des Board of Ordnance unentgeltlich Aktien zuzuweisen, um deren Aussage im Untersuchungsausschuss in ihrem Sinne zu beeinflussen. Bei den Mitarbeitern des Board of Ordnance handelte es sich um den Magazinverwalter Francis Bonham und Captain Henry Boldero, einen leitenden Sekretär des Ministeriums und Abgeordneten für Chippenham. Während der Vernehmung sagte Hignett allerdings aus, Bonham und Boldero hätten nichts von seiner Korrespondenz mit der London, Chatham and North Kent Railway gewusst und er habe ihre Namen lediglich in den Briefen erwähnt, um seiner eigenen Position mehr Gewicht zu verleihen. Im Verlauf der Untersuchungen stellte sich außerdem heraus, dass Hignett in den vergangenen Jahren auch von der South Eastern Railway mehrfach Aktienpakete für seine Unterstützung in parlamentarischen Auseinandersetzungen erhalten hatte.1093 Trotz der Entlastung durch Hignett wurden auch Bonham und Boldero vernommen. Bonham gab zu, Gelder von der South Eastern Railway erhalten zu haben, was jedoch nach seinen Angaben schon einige Jahre zurücklag und nichts mit dem aktuellen Fall zu tun hatte. Während seiner Zeit als Abgeordneter hatte er 1836 von der South Eastern Railway Geldgeschenke (»gratuities«) als Gegenleistung für seine Unterstützung im Parlament erhalten. Außerdem hatten er und Captain Boldero unter Hignetts Mithilfe und entgegen der Verhaltensregeln ihres Ministeriums in Aktien spekuliert.1094 Als Mittelsmann zwischen der South 1091 Report from the Select Committee on the South Eastern Railway Petition. Parliamentary Papers. 1845, Bd. 10. S. V. 1092 »That such corrupt conduct in a public servant of the Crown is not only injurious to the interests of your petitioners, but derogatory to the honour and the integrity of public authorities.« In: Ebd., S. VI. 1093 Ebd. 1094 The Times (21. 7. 1845), S. 7.

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Eastern Railway und Bonham fungierte 1836 John Wray, der Receiver General of the Police. Wray hatte Bonham um Unterstützung für die Bill der South Eastern Railway gebeten, in die er selbst investiert hatte und für die er nebenberuflich als Parliamentary Agent tätig gewesen war. Bonham gab in seiner Aussage zu Protokoll, dass er Wray gegenüber noch finanzielle Verpflichtungen (»considerable obligations«) gehabt habe. Daher habe er der Bitte entsprochen und die South Eastern Railway unterstützt. Nachdem die Bill der South Eastern Railway bewilligt worden war, übergab Wray Bonham Aktien im Wert von 500 Pfund, die ihm die Direktoren der South Eastern Railway aus Dankbarkeit für seine Unterstützung reserviert hatten. Wray behielt die Anteile für ihn und löste sie in Bargeld aus.1095 Bonham präsentierte die Unterstützung der South Eastern Railway während seiner Vernehmung als einen Freundschaftsdienst für seinen persönlichen Bekannten Wray. Seine Motivation sei nicht ökonomischer Natur gewesen und es habe mit der South Eastern Railway vor der Unterstützung im Parlament keinerlei Abmachungen für eine Vergütung gegeben.1096 In seiner Abschlussbemerkung differenzierte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Benjamin Hawes klar zwischen der Stellung von Angehörigen der Ministerialbürokratie und der Position eines Abgeordneten im Parlament. Er verurteilte das Verhalten von Hignett aufs Schärfste und betonte seine mehrfache Pflichtverletzung als »Public Officer«. Zum einen hatte er gegen die Vorgaben seiner Behörde verstoßen, der er als bezahlter »Servant« diente, zum anderen hatte er aber auch gegen das Gemeinwohl gehandelt, dem er verpflichtet sein sollte.1097 Der Ausschuss empfahl aufgrund dieser Pflichtverletzung die sofortige Entlassung Hignetts.1098 In dieser Betonung sowohl der Treue gegenüber der eigenen Behörde als auch der Verpflichtung gegenüber der Öffent1095 Report from the Select Committee on the South Eastern Railway Petition. Parliamentary Papers. 1845, Bd. 10. S. X.–XI. 1096 »Mr. Wray never held out to me one word, nor did any conversation ever take place, as to any advantage of any kind or sort that I was to derive from it. I considered it a great personal advantage; I mean personal, with reference to the debt of gratitude that I owed him; I considered it a great pleasure to myself to do what I could for him.« In: Ebd., S. XI. 1097 »Upon reviewing this portion of the evidence, it clearly appears that Mr. Hignett was a considerable speculator in the shares of one of the competing lines before a Committee of this House, and which, immediately affected property placed under the charge of the Board of Ordnance, and the proceedings as to which it was his duty as a public officer to watch, in order to protect the interests of the public; and also that he entered into private and confidential communications with both of the parties promoting these lines before the Committee, without the knowledge of the Board of Ordnance, of which he was a paid servant and legal advisor.« In: Ebd., S. X. 1098 »… they [der Untersuchungsausschuss] are of the opinion that throughout these transactions Mr. Hignett corruptly used the influence of his official station for the furtherance of his private pecuniary interests, and has thereby rendered himself unworthy of confidence as a public officer.« In: Ebd., S. XIV.

Die Bestechungsaffäre Hignett

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lichkeit spiegelt sich ein distinktes Amtsverständnis als Dienst an der Öffentlichkeit, das klare Grenzen zwischen privaten Aktivitäten und öffentlichen Amtshandlungen der Angehörigen der Ministerialbürokratie zog.1099 Die Aktienspekulationen von Boldero und Bonham wurden als missbräuchlich eingestuft und verletzten ihre Neutralitätspflicht, zumal die Unternehmen, in deren Aktien sie investiert hatten, von Entscheidungen des Board of Ordnance abhängig waren. Über das Verhalten von Francis Bonham in Zusammenhang mit dem Untersuchungsausschuss der South Eastern Railway 1836 gab der Ausschuss kein offizielles Verdikt ab, da es nicht in den vorgegebenen Kompetenzrahmen der Untersuchung fiel. In einer persönlichen Stellungnahme merkte Benjamin Hawes allerdings an, dass Bonhams Verhalten ebenfalls als illegitim einzustufen sei, bewertete die Tatsache, dass es keine vorherige Vereinbarung gegeben hatte, jedoch als mildernden Umstand.1100 Betratet man noch einmal den gesamten Ablauf der Affäre, so stellt sich die Frage, weshalb die die Leitung der South Eastern Railway den Fall überhaupt publik machte. Wahrscheinlich steckte hinter der Petition das Kalkül, die Entscheidung des Select Committee bezüglich der London, Chatham and North Kent Railway zu diskreditieren. Die Veröffentlichung belastender Informationen war für die South Eastern Railway also ein Mittel der Interessendurchsetzung, das in diesem Fall jedoch mehr Schaden als Nutzen brachte, da die Leitung der South Eastern Railway im Verlauf der Ermittlungen ebenfalls belastet wurde. Dies scheint jedoch allenfalls geringe Folgen für das Unternehmen und seine Direktoren gehabt zu haben. Das Verhalten der Direktoren der South Eastern Railway, die ja bereitwillig einen Abgeordneten bestochen hatten, war der Presse, wie auch in vielen anderen Fällen, kaum eine Erwähnung wert. Der Bericht des Untersuchungsausschusses löste ein breites Medienecho aus und wurde in mehreren parlamentarischen Debatten thematisiert. Die Handlungen der drei Angeklagten wurden einhellig verurteilt, wobei sich die meisten Zeitungen keineswegs überrascht zeigten. Der Kommentator der Times schrieb sich geradezu in Rage und diagnostizierte einen »oriental extent«, in dem sich Korruption im Zuge der Railway Mania in den Ministerien ausgebreitet habe.1101 Diese Kopplung von Korruption mit einem außereuropäischen Kulturkreis und 1099 Vgl. auch: Harling: The Modern British, S. 76. 1100 Report from the Select Committee on the South Eastern Railway Petition. Parliamentary Papers. 1845, Bd. 10. S. XIV. 1101 »It not only shows the extent – the truly oriental extent – of venality and corruption in our own immaculate offices; but it is one of the many reflexes of that universal disregard of truth, and of the honour and dignity of upright conduct for its own sake apart from worldly advantage and repute, which is the canker of our social virtue. Terrible are the self-worked retributions for these sins; the mad dream of delusion and corruption which this railway speculation mania has fostered will be attended by the ruin and humiliation that, sooner or later, overtake all dishonest adventurers.« In: The Times (21. 7. 1845), S. 7.

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die damit implizierte Rückständigkeit politischer und wirtschaftsethischer Standards ist häufig in westeuropäischen Korruptionsdebatten anzutreffen, taucht jedoch in den Debatten zum Eisenbahnbau nur äußerst selten auf.1102 Der Spectator schloss sich in seiner Bewertung der Affäre der Times an und sah die Ursache für die Kontroverse in der Spekulationswut der Railway Mania und dem Verfall moralischer Standards, der mit ihr einherging.1103 Andere Journale bevorzugten eine eher nüchterne Berichterstattung und waren darum bemüht, den Fall als singuläres Ereignis zu präsentieren.1104 Im Parlament wurde primär der Fall Boldero und Bonham intensiv erörtert, weil er Implikationen für das Ansehen der Legislative hatte.1105 Für die Betroffenen hatte der Skandal gravierende persönliche Folgen. John Hignett wurde entlassen. Francis Bonham und Henry Boldero sahen sich gezwungen, ihre Kündigungen einzureichen: Sein Mandat im Parlament behielt Boldero jedoch noch einige Jahre. John Wray erhielt lediglich einen tadelnden Brief seines Vorgesetzten Sir James Graham. Diese milde Behandlung veranlasste Benjamin Hawes, sich erneut im Parlament zu Wort zu melden. Er forderte schärfere Konsequenzen für Wray, der, wie Hawes betonte, nicht nur das ihm von seinem Vorgesetzten Robert Peel eingeräumte Privileg, neben seinem Posten als General Receiver of the Police als privater Parliamentary Agent tätig zu sein, missbraucht hatte, sondern es auch noch dazu verwendet hatte, um einen Abgeordneten zu bestechen. Um seine Kritik zu unterstreichen, führte Hawes mehrere, seiner Meinung nach vergleichbare Korruptionsfälle während des ausgehenden 17. Jahrhunderts und den Skandal um die South Sea Company im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts an.1106 James Graham rechtfertigte sein Vorgehen mit dem verfahrenstechnischen Argument, dass der Untersuchungsausschuss ihm keinen direkten Auftrag gegeben habe, Schritte gegen Wray einzuleiten. Nach einer ausgedehnten Debatte, ob der Umstand, dass es keine vorherige Vereinbarung zwischen Bonham und Wray gegeben hatte, als mildernd gewertet werden könne, stimmte das Parlament gegen weitere Schritte in diesem Fall.1107 In den Debatten zeigen sich feine Abstufungen in der Bewertung der Schwere der Vergehen, in die auch die verschiedenen Positionen der Akteure einflossen. 1102 Vgl. Engels: Geschichte der Korruption, S. 210–14. Speziell zu Debatten über den möglichen Transfer korrupter Praktiken aus dem britischen Kolonialreich in Indien nach Großbritannien. Dirks, Nicholas B.: The Scandal of Empire. India and the Creation of Imperial Britain. Cambridge 2006. S. 12–13. 1103 The Spectator (19. 7. 1845), S. 686. 1104 The Examiner (26. 7. 1845) S. 472; Herapath’s Journal (12. 7. 1845), S. 1122. 1105 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 82. Sp. 797–807, Sp. 802. 1106 Parliamentary Debates (Hansard). 3rd Series. Bd. 82. Sp. 1377–1417, Sp. 1379. 1107 Ebd., S. 1417.

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Am unteren Ende der Skala stand Aktienspekulation mit Insiderwissen, gefolgt von der Entgegennahme von Geschenken durch Bonham als Abgeordneten bis hin zur Bestechlichkeit Hignetts, eines bezahlten Beamten, der noch dazu aus eigener Initiative gehandelt hatte und nicht von dem Privatunternehmen korrumpiert worden war. Dies drückte sich auch in der Art und Weise aus, in der mit den Delinquenten verfahren wurde. Hignetts Entlassung kam auch einer gesellschaftlichen Degradierung gleich, während Bonham und Boldero zumindest die Option gegeben wurde, selbst ihre Kündigung einzureichen und dadurch ihre Würde ein Stück weit zu wahren. Mit dem Abflachen der Railway Mania ging auch die Zahl der Korruptionsdebatten rund um die Ministerien deutlich zurück. In den 1870er Jahren gab es mehrere kleinere Kontroversen im Umfeld des Board of Trade. Zum Beispiel warf 1873 der Abgeordnete Samuel Plimsoll den Mitarbeitern des Board of Trade Bestechlichkeit vor. Diese Anschuldigungen verliefen jedoch recht schnell im Sande, als der Leiter des Board of Trade Chichester Parkinson-Fortescue ihn aufforderte, seine Anschuldigungen entweder durch Namen und Fakten zu erhärten oder zurückzunehmen. Plimsoll wollte oder konnte dieser Aufforderung nicht Folge leisten.1108

6.6. Verhandlungen über Konzessionen während der Julimonarchie Während das Board of Trade in Großbritannien in die Planung neuer Strecken und die Bewilligung von Private Bills nur indirekt durch seine Berichte für das Parlament involviert war, war das Ministerium für öffentliche Arbeiten in Frankreich direkt für die Verhandlungen zur Vergabe von Konzessionen zuständig. Der scheinbar unversöhnliche Antagonismus zwischen Ministern, die eigentlich einen staatlichen Eisenbahnbetrieb bevorzugt hätten, und den wirtschaftsliberalen Vertretern der Privatwirtschaft gestaltete sich in der Praxis wie so häufig weniger drastisch. Keineswegs alle Minister für öffentliche Arbeiten waren überzeugte Etatisten und französische Unternehmer waren daran gewöhnt und akzeptierten weitreichende staatliche Einflussnahme in ihre Betriebsabläufe und unternehmerischen Entscheidungen. Pierre Dumon, der Minister für öffentliche Arbeiten zwischen 1844 und 1847, vertrat zum Beispiel wirtschaftsliberale Ansichten und setzte sich gegen Verstaatlichungsforderun-

1108 The Times (2. 8. 1873), S. 5.

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gen zur Wehr, was ihm Angriffe von der Opposition einbrachte, die ihm zu große Nähe zu den Eisenbahndirektoren der privaten Unternehmen vorwarf.1109 Da neue Eisenbahnprojekte zunächst von der Ponts et Chauss¦es auf ihre technische Machbarkeit und strategische Kompatibilität mit den Plänen des Ministeriums überprüft wurden, war die Ponts et Chauss¦es häufig der erste Anlaufpunkt für potentielle Konzessionäre. Ihr Leiter Alexis Legrand war dafür zuständig, die Interessen der Ponts et Chauss¦es nach außen zu vertreten und setzte sich daher nachhaltig für einen staatlichen Eisenbahnbau ein. Von seinen Zeitgenossen wurde er häufig als der Prototyp eines Technokraten und Etatisten porträtiert.1110 Nachdem jedoch klar geworden war, dass ein rein staatlicher Eisenbahnbau nicht finanzierbar gewesen wäre, konzentrierte er seine Bemühungen darauf, dem Staat möglichst günstige Konditionen für eine spätere Verstaatlichung zu sichern.1111 Seine grundsätzliche Ablehnung des privaten Eisenbahnbaus scheint sich aber nicht allzu negativ auf sein Verhältnis zu Vertretern der Eisenbahnindustrie ausgewirkt zu haben. Mit Emile Pereire führte er in den 1830er Jahren eine rege Korrespondenz, vornehmlich zu technischen Fragen, die im Zuge der Bauarbeiten der Chemin de Fer de Paris — Saint Germain auftraten.1112 In der täglichen Zusammenarbeit herrschte also meist auf beiden Seiten Pragmatismus, der politische Differenzen in den Hintergrund treten ließ. Probleme und Konflikte entstanden eher durch machtpolitisches Taktieren, persönliche Animositäten und technische Grundsatzdiskussionen. Die Verhandlungen über Konzessionen wurden zwischen den Ministern und den Bewerbern persönlich geführt, mussten aber durch das Parlament abgesegnet und vor ihm gerechtfertigt werden. Betrachtet man die Bewerberseite, zeigen sich bemerkenswerte Kontinuitäten. Die engen Verbindungen zwischen den Ministerien und der Hochfinanz erzeugten einen weitestgehend geschlossenen Kreislauf, in dem einzelne Unternehmen eine privilegierte Stellung genossen.1113 Unter ihnen dominierte klar das Bankhaus Rothschild. Von den rund zwanzig Unternehmen, die während der Julimonarchie eine Eisenbahnkonzession erhielten, waren die 1109 Robert, Adolphe u. Gaston Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires (Bd. 2), S. 480. 1110 Audiganne: Les Chemins, S. 189. 1111 Alexis Legrand: »Les grandes lignes de chemins de fer, … , sont de grandes rÞnes du gouvernement; il faudrait que l’Êtat p˜t les retenir dans sa main; et si nous avons consenti — confier ces travaux — l’industrie particuliÀre, c’est sous la condition patente, avou¦e, ¦crite dans la loi, qu’un jour le gouvernement pourra rentrer dans la possession pleine et entiÀre de ce grand moyen de communication, si l’int¦rÞt du pays le requiert.« Zitiert nach: ebd., S. 160–161. 1112 Vgl. die Korrespondenz zwischen Emile Pereire und Alexis Legrand 1836 AN Paris F 14 11 169. 1113 Jardin, Tudesq: Restoration and Reaction, S. 131.

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Rothschilds an acht beteiligt. Danach folgten die Pereires mit vier und Charles Laffitte mit ebenfalls vier erteilten Konzessionen.1114 Dieser personellen Kontinuität auf Unternehmerseite standen häufige personelle Wechsel im Ministerium für öffentliche Arbeiten gegenüber. Im Zeitraum zwischen 1830 und 1848 hatten zwölf verschiedene Minister das Amt inne. Während der für den Eisenbahnbau bedeutsamen Periode zwischen der Konzessionierung der Chemin de Fer de Paris — Saint Germain 1835 und der Februarrevolution von 1848 waren es immerhin noch neun, unter denen Pierre Dumon mit Abstand die längste Amtszeit hatte. In der Mehrzahl hatten die Minister für öffentliche Arbeiten einen juristischen oder wirtschaftlichen Hintergrund und mussten sich für die technischen Fragen der Konzessionen auf die Einschätzung der Ingenieure der Ponts et Chauss¦es verlassen.1115 In der Regel wurden über die Verhandlungen der Minister mit potentiellen Konzessionären keine Protokolle angefertigt, oder sie sind nicht erhalten geblieben, weil die Minister ihre persönlichen Unterlagen nach ihrer Amtszeit vernichtet haben.1116 Auch in den Unternehmensarchiven finden sich zumeist nur Andeutungen, die jedoch, wie im Fall der Chemin de Fer de Marseille — Avignon, Einblicke in die Strategien der Unternehmen geben. Im Frühjahr 1843 entwickelte Paulin Talabot auf eigene Initiative Pläne für eine Eisenbahnlinie zwischen Marseille und Avignon und übernahm die nötigen Vorarbeiten. Er besorgte die notwendigen technischen Planungen und sondierte mögliche Geldgeber. Die Finanzierung des Projektes sollte größtenteils lokal durch Investoren aus Marseille, Avignon und Montpellier geleistet werden. Talabot bemühte sich jedoch zusätzlich um eine Beteiligung der Pariser Bankhäuser und warb bei James de Rothschild um eine Investition. Rothschild zeichnete letztendlich 4000 Anteile des Unternehmens, was etwa einem Zehntel des Kapitals entsprach und begründete damit eine Partnerschaft mit Talabot, die über Jahrzehnte Bestand haben sollte.1117 Die Verhandlungen mit dem Ministerium wurden von Paulin Talabot und dem aus Marseille stammenden Anwalt Êmilien Rey de Foresta übernommen.1118 Talabot verfügte als Absolvent der Ecole des Ponts et Chauss¦es und Mitglied des Corps des Ponts et Chauss¦es über gute Verbindungen zum Leiter der Ponts et

1114 1115 1116 1117

Leclercq: Le r¦seau impossible, S. 32. Ratcliffe: Bureaucracy, S. 333. Vgl. zur eingeschränkten Quellenlage zu den Verhandlungen: ebd., S. 337. Gille: Histoire de la maison Rothschild. 1848–1870. Paris 1967 (=Travaux de droit, d’¦conomie, de sociologie et de sciences politiques 1) (Bd. 2), S. 353. 1118 Rey de Foresta erhielt für seine Bemühungen eine Aufwandsentschädigung von 10.000 Franc durch den Verwaltungsrat der Chemin de Fer de Marseille — Avignon zugesprochen. Sitzung des Verwaltungsrates vom 11. 10. 1843. S. 69. AN Roubaix 77 AQ 44.

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Chauss¦es Alexis Legrand.1119 Rey de Foresta hingegen hatte persönliche und familiäre Verbindungen zum Minister für öffentliche Arbeiten Jean Baptiste Teste.1120 Die von Talabot entworfene Streckenplanung wurde ohne tiefgreifende Änderungen durch das Ministerium für öffentliche Arbeiten und die Ponts et Chauss¦es akzeptiert und eine direkte Konzession an ihn und seine Geschäftspartner angekündigt. Darüber hinaus stellte das Ministerium Subventionen in Höhe von 32 Millionen Franc in Aussicht. Zu diesem Zeitpunkt schien es so, als könne die Konzession ohne größere Auseinandersetzungen vergeben werden. Im Parlament traten jedoch Konkurrenten in Erscheinung, die behaupteten, dass die Konzessionäre um Talabot durch das Ministerium für öffentliche Arbeiten bevorzugt und andere Bewerbungen gezielt sabotiert worden seien. Teste konnte sich jedoch nach einer hitzigen Debatte im Parlament durchsetzen und die Konzession wurde am 24. 7. 1843 offiziell bewilligt.1121 In anderen Fällen gestalteten sich die Verhandlungen zwischen dem Ministerium und den Konzessionären schwieriger. Die Verhandlungen des Ministeriums für die Strecken von Paris nach Le Havre und von Paris nach Orleans in den 1830er Jahren zogen sich über mehrere Jahre hin, wobei vor allem Diskussionen über den genauen Streckenverlauf und technische Fragen wie Kurvenradien oder Steigungswinkel zu Verzögerungen führten.1122 Entgegen der häufig in der Presse kolportierten Vorwürfe, dass die Verbindungen zwischen dem Ministerium und privaten Unternehmern zu eng gewesen seien, arbeiteten sie nicht immer konstruktiv zusammen, sondern trugen heftige Konflikte aus. Die Verhandlungen zur Chemin de Fer du Nord waren besonders langwierig. Bereits seit Ende der 1830er Jahre standen verschiedene Investorengruppen mit der Regierung in Kontakt, um eine Strecke von Paris an die belgische Grenze zu realisieren. Die Verhandlungen wurden jedoch immer wieder durch Forderungen nach einem staatlichen Bau der Strecke unterbrochen und verschoben.1123 In mehreren Orten an der Strecke formierte sich grundsätzlicher Widerstand gegen die Vergabe einer Konzession. Lokale Vertreter des Handels befürchteten, ein privates Unternehmen würde nur die profitablen Streckenabschnitte bewirtschaften und den weiteren Ausbau des Schienennetzes vernachlässigen.1124 Sie plädierten daher in der Mehrzahl für einen staatlichen Ausbau der Strecke, der zu diesem Zeitpunkt jedoch politisch nicht mehrheitsfähig war. Dieser grundsätzliche Konflikt zwischen den Inter1119 1120 1121 1122 1123 1124

Lenoble: Les frÀres Talabot, S. 154. Journal des D¦bats (4. 7. 1843), S. 4. Goy, Georges: Hommes et choses du P.L.M. (Ohne Ortsangabe) 1911, S. 43. Ratcliffe: Bureaucracy, S. 363. Caron: Histoire de l’exploitation, S. 46. Ebd., S. 49.

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essen lokaler Unternehmer und denen der Eisenbahnunternehmer sollte, wie bereits dargestellt, in den Folgejahren noch weiter an Schärfe gewinnen und bis weit in die 1870er Jahre hinein ungelöst bleiben. Nach der Verabschiedung des Eisenbahngesetzes von 1842 und der definitiven Entscheidung für das Konzessionierungsmodell im französischen Eisenbahnbau wurden die Verhandlungen für die Strecke von Paris an die belgische Grenze wieder aufgenommen. James de Rothschild stand an der Spitze einer Investorengruppe, an der auch die angesehenen Bankhäuser d’Eichthal, Mallet und Lefebvre beteiligt waren, und die sich in regelmäßigen Abständen mit der Regierung zu Gesprächen traf. Der Hauptstreitpunkt war erneut die Laufzeit der Konzession. Rothschild forderte zunächst eine Laufzeit von 50 Jahren, die das Ministerium allerdings auf 40 Jahre reduzierte. Im Vergleich mit anderen Konzessionen war dies jedoch immer noch außerordentlich lang.1125 Im Frühjahr 1843 schien man einer Einigung nahe zu sein. Das Parlament lehnte jedoch einen positiven Bericht der Kommission unter der Leitung des Abgeordneten Jean-Jacques Baude ab und vertagte die Entscheidung auf die nächste Sitzungsperiode. Im Herbst 1843 trat eine weitere Investorengruppe rund um das Bankhaus Durand auf den Plan und meldete Interesse an der Konzession an. Der mit Rothschild verbundene Bankier Achille SeilliÀre vermerkte in einem Brief an seinen Vater, dass Rothschild anscheinend nicht mehr über die notwendige Mehrheit im Parlament verfügte.1126 Es kam zu einem publizistischen Schlagabtausch zwischen beiden Gruppen, der im Herbst in Berichten über eine neue Konzession an Rothschild gipfelte. Die Gruppe um Durand beschwerte sich daraufhin, dass ihnen die notwendigen Unterlagen für eine aussichtsreiche Bewerbung vom Minister für öffentliche Arbeiten nicht zugänglich gemacht worden waren. Im Frühjahr 1844 formierte sich eine weitere Interessentengruppe unter der Führung der beiden großen Fuhr- und Kurierunternehmen (Messageries) dieser Zeit. Das Ministerium nutze die Konkurrenz verschiedener potentieller Investoren, um ihre Konditionen weiter zu verschärfen. Die Laufzeit wurde auf 28 Jahre reduziert und die Frachttarife, die im Cahier des Charges festgeschrieben wurden, gesenkt. Zu diesem Zeitpunkt hielt James de Rothschild die Konditionen für inakzeptabel.1127 Die Regierung teilte die Konzession kurzerhand in diverse kleinere Abschnitte auf und bot sie verschiedenen Gruppen an. Im Endeffekt gab James de Rothschild nach und seine Investorengruppe erhielt den Zuschlag für die gesamte Konzession. Am 30. 4. 1845 wurde die Compagnie de Chemin de Fer du Nord schließlich durch königlichen Erlass gegründet. Zu den Investoren zählten 1125 Ebd., S. 47. 1126 Gille: Histoire, S. 344. 1127 Ebd., S. 345.

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neben Rothschild auch der italienische Duc de Galliera, die britischen Bankiers Edward Blount und Thomas Baring sowie die Brüder Pereire und weitere wichtige Vertreter der Haute Banque. Aus diesen beiden kontrastierenden Verläufen von Konzessionsverhandlungen lassen sich mehrere Schlüsse über die Effektivität von Vernetzungspraktiken während der Julimonarchie ziehen. Persönliche Beziehungen zum Ministerium, wie sie Talabot und Rey de Foresta aufweisen konnten, waren ein klarer Vorteil in den Verhandlungen. Sie waren jedoch bei weitem nicht die einzigen ausschlaggebenden Kriterien, da natürlich auch die Minister eine eigene Agenda verfolgten und Konkurrenzsituationen für sich nutzbar machten. Im Fall der Chemin de Fer du Nord war die Regierung im Gegenteil primär bemüht, gezielt die verschiedenen Bewerber um die Konzession gegeneinander auszuspielen, um die für den Staat besten Konditionen zu erhalten. Für den Fall, dass sich kein Bewerber gefunden hätte, hatte das Ministerium immer noch den staatlichen Bau als Option für einzelne Strecken in der Hinterhand und diese Möglichkeit wurde auch gezielt in der Presse lanciert, um den Verhandlungsdruck zu erhöhen.1128 Sie verdeutlichen auch, dass, auch wenn der Kreis möglicher Konzessionäre relativ beschränkt war, die Vergabe einer Konzession an eine bestimmte Investorengruppe bei weitem nicht vorherbestimmt war. Selbst James de Rothschild war in den Verhandlungen mit dem Ministerium zu Zugeständnissen gezwungen, um sich gegen seine Kontrahenten durchzusetzen.

6.7. Korruptionsdebatten um Minister während der Julimonarchie Die Intransparenz bei den Verhandlungen über Konzessionen ließ stets viel Spielraum für Spekulationen und Debatten über unzulässige Einflussnahme durch Bewerber mit besonders guten Kontakten und Vorteilsgewährung durch die Minister. Schon im Zusammenhang mit dem Kanalbauprogramm in den 1820er und 1830er Jahren war das Ministerium für öffentliche Arbeiten mehrfach in die Kritik geraten, weil es privaten Unternehmergruppen vermeintlich zu gute Konditionen eingeräumt hatte.1129 Diese Kritik flammte nun im Zusammenhang mit der Vergabe der Konzessionen für Eisenbahnen erneut auf. Die Konzessionierung der Strecke von Marseille nach Avignon an Talabot und seine Partner wäre 1843 beinahe am Protest von Konkurrenten gescheitert. Der Vertreter einer Dampfschiffgesellschaft, die sich ebenfalls auf die Konzession bewerben wollte, verlas während der Debatte im Parlament einen Brief, in dem er 1128 Journal des Chemins de Fer (4. 5. 1844), S. 225. 1129 Großkreutz, Helmut: Privatkapital und Kanalbau in Frankreich. 1814–1848. Berlin 1977 (=Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 28), S. 68.

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die Behauptung aufstellte, seine Investorengemeinschaft sei vom Minister nicht angehört worden. Teste antwortete, dass die Ausschreibung ordnungsgemäß durchgeführt worden und der Beschluss nach Sachkriterien erfolgt sei. Die Dampfschiffgesellschaft habe ihre Bewerbung schlichtweg zu spät eingereicht, um im Auswahlverfahren noch berücksichtigt zu werden. Des Weiteren habe man sich für eine andere Streckenführung entschieden. Im Fall der Linie Marseille-Avignon handelte es sich um eine Korruptionsanklage, die zunächst von einem unterlegenen Konkurrenzunternehmen vorgebracht und später von der politischen Opposition im Parlament aufgenommen wurde. Der Abgeordnete Armand Jacques Lherbette, der Mitglied der sogenannten »Opposition Dynastique« um Odilon Barrot war, hinterfragte die Beziehung zwischen den Konzessionären Paulin Talabot und Rey de Foresta zu dem Minister für öffentliche Arbeiten Jean Baptiste Teste. Er deutete an, dass die Neutralität des Ministers durch zu enge persönliche Bande kompromittiert sei. Teste erwiderte darauf, er sei zwar mit Talabot befreundet und der Ziehsohn von Rey de Foresta sei sein zukünftiger Schwiegersohn, dies habe aber seine Entscheidung nicht beeinflusst. Er beschwerte sich außerdem, es handele sich um eine Verleumdungs- und Hetzkampagne der Opposition. In diesem Fall waren es also keine direkten ökonomischen Transaktionen, die zum Ziel von Missbrauchsvorwürfen wurden, sondern persönliche Freundschaft und familiäre Verbundenheit. Teste unternahm gar nicht erst den Versuch, diese Beziehungen abzustreiten, verneinte jedoch ihren Einfluss auf seine Entscheidungen als Minister. Er verwies explizit auf den korrekten formalen Ablauf der Verhandlungen und den Verfahrensfehler der nichtberücksichtigten Bewerber.1130 Die Chemin de Fer de Marseille — Avignon geriet 1847 in finanzielle Schwierigkeiten und musste 1848 unter staatliche Verwaltung gestellt werden. Als 1849 die Rückübertragung der Leitung in private Hände im Parlament debattiert wurde, brachte der republikanische Abgeordnete Victor Versigny das Thema erneut zur Sprache und reichte einen Antrag ein, wonach die Namen sämtlicher Anteilseigner veröffentlicht werden sollten, um persönliche Beziehungen zu Vertretern des Staates besser nachvollziehen zu können. Der Antrag hätte einen Präzedenzfall geschaffen und wurde angesichts der Investitionen vieler Abgeordneter mit großer Mehrheit abgelehnt.1131 Auch die Verhandlungen für die Konzession der Chemin de Fer du Nord waren von Korruptionsvorwürfen begleitet, die in diesem Falle allerdings ihren Ursprung in der Presse hatten und nicht im Parlament. Im Frühjahr 1843, just zu dem Zeitpunkt, als eine Einigung zwischen dem Ministerium und der Investorengruppe um Rothschild zum ersten Mal nahe schien, startete die republika1130 Journal des D¦bats (4. 7. 1843), S. 4. 1131 Journal des D¦bats (11. 11. 1849), S. 1.

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nisch-oppositionelle Tageszeitung Le National eine Kampagne, in der sie die Konditionen, zu denen die Konzession erteilt werden sollte, angriff. Nach Berechnungen der Tageszeitung räumte die Konzession derartig gute Bedingungen ein, dass die Betreiber der Chemin de Fer du Nord Kosteneinsparungen im Wert von 495 Millionen Francs erwarten konnten, für die der Staat aufzukommen hätte. Im Zentrum der Kritik stand erneut der Minister für öffentliche Arbeiten Jean Baptiste Teste sowie der Leiter der Ponts et Chauss¦es Alexis Legrand, denen zu große Nähe zum Unternehmerkonsortium um Rothschild und Begünstigung während der Verhandlungen vorgeworfen wurden.1132 Das Journal des Chemins de Fer vermutete politische Gründe als Motivation der Kampagne des National, der grundsätzlich gegen privaten Eisenbahnbau eingestellt war und einen rein staatlichen Bau von Infrastrukturen befürwortete.1133 FranÅois Caron hingegen bewertete die kritische Berichterstattung diverser Journale in seiner Dissertation über die Chemin de Fer du Nord als reine Hetzkampagne gegen das Bankhaus Rothschild.1134 1845, als die Konzession schließlich verabschiedet wurde, wurde vor allem die Zahl der ausländischen Investoren im Aufsichtsrat des Unternehmens, aber auch die Laufzeit der Konzession, die trotz der Reduktion noch zu lang erschien, kritisiert.1135 Das regierungsnahe Journal La Presse verteidigte die Konzession und verglich ihre Laufzeit mit der der Strecke von Orl¦ans nach Bordeaux, die allerdings – und das verschwieg La Presse – ebenfalls an Rothschild und Pereire vergeben worden war und 29 Jahre umfasste. Der Kommentator von La Presse vermerkte des Weiteren, dass auch die staatlichen Subventionen, die bewilligt werden sollten, in vollem Umfang zurückerstattet werden müssten.1136 Die Versuche der oppositionellen Presse, die Vergabe der Konzession der Chemin de Fer du Nord zu einem Skandal aufzubauschen, verliefen weitestgehend im Sande. Die meisten Beobachter kamen offensichtlich zu dem Schluss, dass die vereinbarten Konditionen keinesfalls das Resultat von Vetternwirtschaft waren, sondern das Ergebnis von auf beiden Seiten hart geführten Verhandlungen. Wenige Jahre später wurde Jean Baptiste Teste jedoch in die bereits kurz angesprochene größte Korruptionsaffäre der Julimonarchie verwickelt, die für 1132 1133 1134 1135

Le National (12. 4. 1843), S. 1. Journal des Chemins de Fer (28. 1. 1843), S. 368. Caron: Histoire de l’Exploitation, S. 47. »The difference between 21 and 38 is 17, it is consequently an enjoyment of 17 years which the Minister of Public Works has gratuitously and voluntarily abandoned to the company, or, in other words, an income of 11,000,000f. according to his own calculation, of 12,500,000f. according to the opinion of the committee, and of 13,500,000 according to ours, which he has gratuitously and voluntarily granted to Messrs. Rothschild and Co.« Zitiert nach: The Times (13. 9. 1845), S. 5. 1136 La Presse (10. 9. 1845), S. 1.

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viele politische Kommentatoren als Bestätigung für den Befund diente, dass Korruption im politischen System der Julimonarchie endemische Ausmaße angenommen hatte. Die Affäre wurde im Mai 1847 publik und kompromittierte neben Teste noch einen weiteren prominenten Vertreter des politischen Establishments der Julimonarchie, den Pair und ehemaligen Kriegsminister General Am¦d¦e Despans-CubiÀres. Teste hatte das Ministerium für öffentliche Arbeiten zwar zu diesem Zeitpunk schon nicht mehr inne und war zum Vorsitzenden des Kassationsgerichtshofes ernannt worden. Doch holte ihn 1847 die Vergangenheit ein. General Despans-CubiÀres war 1842 Teilhaber eines Unternehmens gewesen, das sich um eine Konzession zur Ausbeutung einer Salzmine in der Nähe von Gouhenan bemüht hatte, für dessen Vergabe das Ministerium für öffentliche Arbeiten zuständig war. Im Frühjahr 1842 hatte Despans-CubiÀres in einem Brief an den Direktor des Unternehmens angeboten, seine Bekanntschaft mit Teste zu nutzen und ihm Bestechungsgeld für den Zuschlag der Konzession anzubieten. Teste war auf das Angebot Despans-CubiÀres eingegangen und hatte von dem Unternehmen 94.000 Franc erhalten.1137 Obwohl sich der Fall bereits 1842 zugetragen hatte, kam er erst 1847 im Zuge von juristischen Auseinandersetzungen zwischen dem entlassenen Direktor des Unternehmens Parmentier und seinem ehemaligen Arbeitgeber am Tribunal de Commerce de la Seine ans Licht. Da es sich bei beiden Verdächtigen um Pairs handelte, entschied Louis-Philippe, den Fall von einem Tribunal eben dieser Kammer verhandeln zu lassen. Pairs konnten nach der Verfassung von 1830 nur durch Beschluss der Pairs-Kammer juristisch verfolgt und verurteilt werden. Die Beweise, die im Zuge der Verhandlungen vorgelegt wurden, waren so gravierend, dass CubiÀres und ein weiterer Mittelsmann zu jeweils schweren Geldstrafen und dem Verlust sämtlicher staatsbürgerlicher Rechte (D¦gradation Civique) verurteilt wurden. Jean Baptiste Teste wurde zusätzlich mit einer Strafe von drei Jahren Haft belegt.1138 Wie weit die Wahrnehmung allgegenwärtiger Korruption verbreitet war, spiegelt sich in den Schriften Victor Hugos wider. Hugo empfand trotz seiner Entrüstung über das Verhalten der Beteiligten Mitleid mit Teste, da dieser seiner Meinung nach nicht verwerflicher gehandelt hatte, als viele andere auch und nun als Bauernopfer an den Pranger gestellt würde.1139 Die Eisenbahnbranche war von dem Skandal in zweierlei Hinsicht betroffen. Zum einen hatte Teste in seiner Zeit als Minister für öffentliche Arbeiten auch diverse Verhandlungen über Konzessionen von Eisenbahnstrecken geführt. Der 1137 Journal des D¦bats (18. 7. 1847), S. 3. 1138 Dass Bestechlichkeit im Amt auch in der Julimonarchie kein Kavaliersdelikt war und einen immensen Ansehensverlust nach sich zog, wird auch durch den Suizidversuch untermauert, den Teste beging, noch während er auf seinen Prozess wartete. 1139 Hugo, Victor : Things Seen. Choses vues. Essays by Victor Hugo. Rockville, Maryland 2009, S. 171.

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Schluss lag also nicht fern, dass auch bei diesen Verhandlungen Bestechungsgelder geflossen waren. Zum anderen war Despans-CubiÀres zum Zeitpunkt der Enthüllung des Skandals Vorsitzender des Verwaltungsrats der Compagnie de Chemin de Fer de Paris — Strasbourg und kompromittierte somit zugleich das Ansehen der Eisenbahndirektoren. Er trat jedoch im Mai 1847 von seinem Posten zurück, nachdem klar geworden war, dass sich der Skandal nicht mehr eindämmen ließ. Bereits seit Anfang des Jahres hatte er an keiner Verwaltungsratssitzung mehr teilgenommen und auch die Leitung der Aktionärsversammlungen wurden von seinem bisherigen Stellvertreter und Nachfolger, Raffaele de Ferrari, übernommen. Raffaele de Ferrari entstammte einer genuesischen Adelsfamilie und trug den Titel des Herzogs von Galliera. Seit den 1830er Jahren war er in Paris unternehmerisch aktiv und in zahlreiche Eisenbahnprojekte involviert.1140 In den Protokollen der Verwaltungsratssitzungen findet sich bis auf das Rücktrittsgesuch CubiÀres keinerlei Erwähnung des Skandals, auch wenn dieser für die Leitung des Unternehmens von großer Bedeutung gewesen sein dürfte. Offensichtlich wurden derart sensible Themen nicht im offiziellen Rahmen erörtert oder zumindest aus den offiziellen Aufzeichnungen entfernt.1141 In der Korrespondenz des Unternehmens findet sich lediglich ein kurzer Brief an den englischen Teilhaber John Easthope, in dem Raffaele de Ferrari ihn vom Rücktrittsgesuch CubiÀres in Kenntnis setzte und betonte, dass die Affäre in keinerlei Zusammenhang mit der Eisenbahn stehe und keine Auswirkungen auf die Geschäfte der Firma haben werde.1142 Der umgehende Rücktritt CubiÀres zeigt jedoch deutlich, dass der Skandal sehr wohl Implikationen barg, die weit über die persönlichen Verfehlungen der Akteure hinausgingen und das System der Konzessionsvergabe an private Unternehmen in Diskredit brachten. Dadurch hatte er auch Auswirkungen auf das Ansehen der gesamten Eisenbahnbranche. Noch stärker als die Industrie waren die Ministerien durch den Skandal von einem Verlust ihrer Legitimität bedroht. Die Affäre enthüllte nicht nur die Korrumpierbarkeit zweier lang gedienter Würden- und Amtsträger der Julimonarchie, sie lieferte konkrete Beweise für die moralische Verkommenheit der politischen Elite und schien in den Augen der Öffentlichkeit sämtliche, zumeist unbelegten Korruptionsanklagen gegen die Regierung Guizot zu bestätigen.1143 1140 Merger, MichÀle: Raffaele de Ferrari, Duke of Galliera, an Investor of European Stature. In: Across the borders. Financing the World’s Railways in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Hrsg. von Ralf Roth und Günter Dinhobl. Aldershot, 2008. S. 25–32. S. 28. 1141 Compagnie de Chemin de Fer de Paris — Strasbourg. Protokolle der Verwaltungsratssitzungen. 6. 5. 1847, S. 60. AN Roubaix 13 AQ 34. 1142 Brief von Raffaele de Ferrari an John Easthope vom 6. 5. 1847. Compagnie de Chemin de Fer Paris — Strasbourg: Briefbücher 1846–1847, S. 192. AN 13 AQ 631. 1143 »En voyant deux hommes de position ¦lev¦e qui ont ¦t¦ ministres, convaincus de cor-

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Fortan standen Minister unter Louis-Philippe unter dem Generalverdacht der Bestechlichkeit. Die im Zuge der Rechtsstreits zwischen Parmentier und den Aktionären des Unternehmens vorgelegten Briefe von CubiÀres ließen keinen Zweifel an seinen Ansichten über die Regierung zu und erhielten dadurch zusätzliches Gewicht, dass er ein Nutznießer eben dieses Systems war : »N’oubliez pas que le gouvernement est dans des mains avides et corrompues.«1144

6.8. Das Ministerium für öffentliche Arbeiten während des Zweiten Kaiserreichs Bereits während seiner Zeit als Präsident der Zweiten Republik hatte LouisNapol¦on damit begonnen, systematisch die politisch wichtigen Posten mit seinen Vertrauten zu besetzen.1145 Charles de Morny übernahm vorübergehend das Innenministerium, um die Übergangsphase der Machtübernahme zu gestalten. Sein Nachfolger wurde Victor Persigny, der es zwischen 1852 und 1854 leitete und von 1853 bis 1854 in Personalunion auch das Ressort der Finanzen beaufsichtigte. Anschließend wurde er zum Botschafter in London bestellt, nur um zwischen 1860 und 1863 erneut das Innenministerium zu leiten. Das Finanzministerium wurde im Oktober 1849 Achille Fould anvertraut. Achille Fould genoss unter anderem auch deshalb eine besondere Stellung unter LouisNapol¦on, weil er gemeinsam mit seinem Bruder Beno„t, der eines der größten Bankhäuser von Paris betrieb, Napoleons Wahlkämpfe während der Zweiten Republik mitfinanzierte und dadurch wesentlich zum Aufstieg des späteren Kaisers beigetragen hatte.1146 Die Leitung des Staatsrates, der im System des Zweiten Kaiserreiches eine wichtige Organisation darstellte, wurde Pierre Jules Baroche übertragen, der die Präsidentschaft bis 1863 inne hatte und in dieser Position zu den einflussreichsten Persönlichkeiten nach dem Kaiser selbst gehörte.1147 Die Minister waren in der Theorie an die Entscheidungen des Kaisers gebunden und sollten seinen Willen ausführen. Da der Kaiser aber unmöglich über sämtliche Staatsgeschäfte auf dem Laufenden sein konnte und sich noch dazu häufig mehr für große Entwürfe interessierte denn für Detailfragen, eröffneten

1144 1145 1146 1147

ruption, on se confirmera dans l’id¦e que la haute administration est indigne de confiance et d’estime.« Barante, Amable Guillaume Prosper BrugiÀre de: Souvenirs du Baron de Barante, de l’Acad¦mie FranÅaise 1782–1866. Hrsg. von Claude de Barante. Paris 1899 (Bd. 7), S. 210. Le SiÀcle (5. 5. 1847), S. 1. Gildea: Children, S. 60. Ebd., S. 58. Achille Fould zog sich nach seinem Wechsel in die Politik zwar aus dem aktiven Geschäft des Bankhauses zurück, blieb aber stiller Teilhaber. Vgl. Plessis: The Rise, S. 29. Price: The French Second, S. 58.

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sich den Ministern erhebliche Entfaltungsmöglichkeiten und Ermessensspielräume.1148 Den meisten Vertretern der Finanzwelt war sehr wohl bewusst, welche Chancen, aber auch Gefahren die Umbruchsphase zwischen der Zweiten Republik und dem Zweiten Kaiserreich bot. Auch James de Rothschild erkannte, dass diese Zeit eine entscheidende Periode darstellte, in der Kontakte und Konstellationen neu ausgehandelt und gebildet wurden, die für die folgenden Jahre entscheidend sein konnten.1149 Er hatte dabei wahrscheinlich zuvorderst die Pereires im Blick, die zu Beginn des Zweiten Kaiserreichs durch ihre Kooperation mit Beno„t und Achille Fould im Zusammenhang mit der Cr¦dit Mobilier über einen direkten Zugang zum Kaiser verfügten. Schon zu diesem Zeitpunkt bestand offensichtlich eine starke Konkurrenz zwischen den Finanziers um den Zugang zu Institutionen staatlicher Macht, auch wenn sie in wirtschaftlichen Angelegenheiten noch eng miteinander kooperierten. Zunächst schienen die Pereires im Vorteil zu sein, nachdem Rothschilds enger persönlicher Vertrauter L¦on Faucher, Minister für öffentliche Arbeiten bis zum Oktober 1851, mit Louis-Napol¦on in Konflikt geraten war und von diesem entlassen wurde.1150 Das Ministerium für öffentliche Arbeiten wurde während des Zweiten Kaiserreichs durch drei Persönlichkeiten entscheidend geprägt: Pierre Magne, der das Amt von 1852 bis 1855 inne hatte und anschließend ins Finanzministerium wechselte, EugÀne Rouher, der zu den engsten Vertrauten Napoleons III. im Kreise seiner Minister gehörte und bis 1863 das Ministerium leitete, und zu guter Letzt noch Louis Behic, der von 1863 bis 1867 im Amt war. In den folgenden Jahren bis zum Ende des Zweiten Kaiserreiches wechselten sich verschiedene Minister ab, deren Amtszeiten jedoch zu kurz waren, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.1151 Pierre Magne war studierter Jurist und bereits während der Julimonarchie von 1843 bis 1848 regierungstreues Mitglied der Abgeordnetenkammer. Nach der Revolution von 1848 verlor er vorübergehend seinen Sitz im Parlament. Während der Zweiten Republik unter Napoleon war er zunächst Unterstaatssekretär im Finanzministerium und leitete ab Januar 1851 das Ministerium für 1148 Ebd., S. 55. 1149 »In short, I do not want a major operation to take place under a new government without our name being on it. If such an operation were to succeed without us, then people would say »We don’t need Rothschild any more.« … it is better that we remain part of this camaraderie … . The gentlemen concerned are very popular with the ministers.« Zitiert nach: Ferguson: The House, (Bd. 2), S. 59. 1150 Ferguson, Niall: The House of Rothschild. Money’s Prophets. 1798–1848. New York, NY 1998 (Bd. 1). S. 463. 1151 Price: The French Second, S. 55.

Das Ministerium für öffentliche Arbeiten während des Zweiten Kaiserreichs

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öffentliche Arbeiten. Während des Zweiten Kaiserreichs wurde er von Napoleon in den Senat berufen und hatte verschiedene Ministerämter inne. Auch er trat am 22. Januar 1852 wegen der Konfiskation der Orleanistischen Güter kurzzeitig zurück, wurde aber schon fünf Monate später wieder eingesetzt. 1854 wechselte er in das Finanzministerium, welches er bis 1860 leitete und prägte, um anschließend den Posten eines Ministers ohne Portfolio zu übernehmen. Während seiner Zeit als Finanzminister hatte er vor allem mittelbar über die verschiedenen in den 1850er Jahren gegründeten Aktienbanken mit der Finanzierung der Eisenbahngesellschaften zu tun. In den 1860er Jahren drängte er auf eine Liberalisierung des Kaiserreichs und setzte sich 1861 dafür ein, den Abdruck der parlamentarischen Debatten wieder zu erlauben, worüber er mit Achille Fould in Konflikt geriet.1152 Seine Zeit als Minister für öffentliche Arbeiten war von der intensiven Boomphase Anfang der 1850er Jahre geprägt, in der viele neue Eisenbahnkonzessionen vergeben wurden und die regionalen Monopole der großen Unternehmen ausgehandelt und eingerichtet wurden. Magnes Nachfolger Eugene Rouher, der auch nach 1870 überzeugter Bonapartist blieb, war einer der einflussreichsten Minister unter Napoleon und hatte fast 20 Jahre lang verschiedene Ministerämter inne. Rouher hatte den Ruf, ein Bürokrat durch und durch zu sein, und möglicherweise machte gerade dieser Charakterzug ihn für Napoleon so unverzichtbar. Charles de Morny soll über ihn gesagt haben, er sei mit einem Füllfederhalter hinter dem Ohr geboren worden.1153 Während der Zweiten Republik wurde er sowohl 1848 als auch bei der Neuwahl 1849 als konservativer Kandidat in die Assembl¦e Nationale gewählt und im Oktober 1849 von Louis-Napol¦on zum Justizminister ernannt, wo er zunächst das allgemeine Stimmrecht einführte und anschließend federführend am Entwurf der neuen Verfassung des Zweiten Kaiserreiches beteiligt war.1154 Rouher wurde direkt nach dem Staatsstreich erneut zum Justizminister ernannt, trat aber gemeinsam mit Charles de Morny und Pierre Magne 1852 zurück. Dabei handelte es sich jedoch nur um einen symbolischen Akt und nicht um ein ernsthaftes Zerwürfnis mit Napoleon III., denn er wurde bereits drei Tage später zum Vizepräsident des Staatsrates ernannt und bereitete dort wesentliche Gesetze vor, die zur Stabilisierung des Kaiserreichs gedacht waren. Bis 1855 blieb er im Staatsrat und wechselte dann ins Ministerium für öffentliche Arbeiten, wo er den von Georges Haussmann geplanten Ausbau von Paris finanzieren musste und die Verhandlungen für das Handelsabkommen mit England 1859 leitete. Nach dem Tod von Adolphe Billaut 1863 wurde Rouher 1152 Robert, Bourloton u. Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires, (Bd. 4), S. 218. 1153 The Times (4. 2. 1883), S. 7. 1154 Robert, Adolphe, Edgar Bourloton u. Gaston Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires franÅais. Paris 1891 (Bd. 5), S. 202.

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zum Sprecher der Regierung und Staatsminister ernannt, konnte sich in dieser Funktion jedoch nicht bewähren. Er hatte nach den Wahlen von 1863 allerdings auch mit deutlich mehr Widerstand im Parlament zu kämpfen, als seine Vorgänger. Als 1867 die Notwendigkeit von Reformen immer drängender wurde, bot Rouher seinen Rücktritt an, nur um kurze Zeit später zum Finanzminister ernannt zu werden. In seine Amtszeit als Minister für öffentliche Arbeiten fielen die wegweisenden Konventionen mit den großen Eisenbahngesellschaften von 1859. Louis B¦hic war ebenso wie seine beiden Vorgänger Jurist und bereits während der Julimonarchie Abgeordneter gewesen. Während des Zweiten Kaiserreichs war er zunächst in der Privatwirtschaft als Geschäftsmann tätig, unter anderem als Generalinspektor der Messageries Maritimes. 1865 wurde er von Napoleon zum Minister für öffentliche Arbeiten ernannt, wo er mehrere wichtige Untersuchungen zur Banque de France, zur Landwirtschaft und zum Eisenbahnsystem einleitete.1155 Unter seiner Leitung wurde das Gesetz für die Chemins de fer d’Int¦rÞt Local verabschiedet.1156 Das Verhältnis zwischen den Ministern und dem persönlichen Umfeld des Kaisers war von Kompetenzrangeleien und persönlichen Animositäten geprägt. Insbesondere Charles de Mornys Beziehung zu vielen Ministern war konfliktbeladen, weil diese ihn als Konkurrenten betrachteten, der ohne formale Befugnisse politische Entscheidungen beeinflusste. Nicht selten setzte er sich einfach über ihre Anordnungen hinweg. So ließ er Bauarbeiten bei der Chemin de Fer de Grand Central beginnen, ohne die offizielle Genehmigung zu haben.1157 Als das Scheitern der Chemin de Fer de Grand Central 1856 absehbar wurde, sprachen sich sowohl Rouher, wie auch der Leiter der Ponts et Chauss¦es Ernest de Franqueville für eine schnelle Auflösung des Unternehmens aus, das ihrer Meinung nach einzig der Finanzspekulation Mornys nützte.1158 Zwischen 1855 und 1858 kam es wegen der Gründung der Aktienbank Cr¦dit Industriel et Commercial, an der Morny beteiligt war, zu Auseinandersetzungen zwischen Rouher und Morny.1159 Rouher versuchte direkt bei Napoleon III. gegen das Unternehmen zu intervenieren, dieser lehnte jedoch ab. Der Conseil d’Etat erlegte der Bank jedoch scharfe Beschränkungen auf.1160 Rouher hatte zwar den Ruf eines nüchternen Bürokraten, der sich von der 1155 Robert, Adolphe u. Gaston Cougny (Hrsg.): Dictionnaire des parlementaires franÅais. Paris 1889 (Bd. 1), S. 238. 1156 La Presse (5. 3. 1891), S. 1. 1157 Grothe: Der Herzog, S. 147. 1158 Girard: La Politique, S. 174. 1159 Beaujouan, Guy u. Edmond Lebée: La fondation du Cr¦dit Industriel et Commercial. In: Histoire des entreprises 6 (1960). S. 5–40, S. 16. 1160 Freedeman: Joint-Stock, S. 87.

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persönlichen Entourage des Kaisers nach Möglichkeit fern hielt, doch auch er scheint persönlich enorm von seinen politischen Ämtern profitiert zu haben und ein eigenes Patronagenetzwerk aufgebaut zu haben. In einem Nachruf vermerkte die britische Times 1883, dass er nach dem Staatsstreich von Napoleon III. mit 40.000 Francs, einem Landgut nahe Brunoy und einem Monatssalär von 4000 Francs entlohnt worden sei. Seine Klienten habe er mit Auszeichnungen und Ämtern versorgt und eine Zeitschrift in Clermont, die kritisch berichtete, zensieren lassen.1161 Auch Pierre Magne wurde von Napoleon III. mit ausgedehnten Ländereien beschenkt.1162 Aktienspekulation war eine weitere Bereicherungsmöglichkeit für Minister und weit verbreitet, was das Missfallen des Kaisers erregte und ihn dazu veranlasste, wiederholt auf Zurückhaltung seines Kabinetts bei Finanzgeschäften zu drängen. Der Herzog Apponyi berichtete in seinen Memoiren über eine Unterredung zwischen Louis-Napol¦on und Achille Fould, in dem er diesem vorwarf, er sei nur Minister geworden, um seine Möglichkeiten an der Börse zu spekulieren, zu verbessern.1163 Im Unterschied zum Finanzminister Achille Fould waren die Minister für öffentliche Arbeiten Rouher, Magne und B¦hic zurückhaltender in ihren Finanzgeschäften und hatten auch keine so offensichtlichen persönlichen Verbindungen zur Leitung der großen Eisenbahngesellschaften wie Fould, der ja durch die Cr¦dit Mobilier eng mit den Pereires verbunden war. Es zeichnen sich jedoch bestimmte Präferenzen ab, die jedoch stets unter der Maßgabe standen, das grundsätzliche Gleichgewicht in der Branche nicht zu gefährden.1164 Rouher war während der Julimonarchie stark von Charles de Morny gefördert worden, entfernte sich aber während des Zweiten Kaiserreichs zunehmend von seinem ehemaligen Proteg¦ und wird gelegentlich in der Literatur als sein »Erzfeind« beschrieben.1165 In späteren Jahren pflegte er gute Verbindungen zu den Pereires und vermittelte zwischen ihnen und dem Kaiser, als es darum ging, der Chemin de Fer du Midi nach dem Desaster der Grand Central zu einer direkten Verbindung mit Paris zu verhelfen.1166 Pierre Magne vermied es, sich enger an eine der Gruppen der Eisenbahnwelt zu binden. Louis B¦hic schließlich wurde eine besondere Nähe zur Gruppe um Rothschild und Talabot nachgesagt.1167 Roger 1161 The Times (4. 2. 1883), S. 7. 1162 Plessis: The Rise, S. 27. 1163 Rodolphe de Apponyi. Eintrag vom 26. 1. 1851. In: Apponyi, Rodolphe de u. Ernest Daudet: Vingt-cinq ans — Paris (1826–1850). Journal du Comte Rodolphe Apponyi, attach¦ de l’Ambassade d’Autriche-Hongrie — Paris. Paris 1926 (Bd. 4), S. 306. 1164 Schnerb, Robert: Rouher et le Second Empire. Paris 1949, S. 76–79. 1165 Grothe: Der Herzog, S. 249. 1166 Die Verhandlungen zur Abwicklung der Grand Central überließ Rouher wegen seiner persönlichen Vorgeschichte mit Morny jedoch Pierre Magne, der zu diesem Zeitpunkt Finanzminister war. Vgl. Autin: Les frÀres Pereire, S. 134. 1167 Plessis: The Rise, S. 30.

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Price hat denn auch in seiner detailreichen Studie zu den Machtstrukturen und der politischen Kultur des Zweiten Kaiserreiches das Verhältnis zwischen Eisenbahnunternehmern und Ministern als zunehmend »close and cozy« bezeichnet.1168 Diese besondere Nähe war sicherlich zu einem nicht geringen Teil den intensiven Verhandlungen über Konzessionen und die Konventionen geschuldet. Eine weitere wichtige Organisation während des Zweiten Kaiserreichs, deren Führungspersonal bisher nur am Rande erwähnt wurden, war der Conseil G¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es. Der Leiter der Ponts et Chauss¦es Ernest de Franqueville nahm eine zentrale Rolle in der Eisenbahnpolitik dieser Periode ein. In den 1850er und 1860er Jahren war sowohl in den Eisenbahnunternehmen wie auch in den Behörden eine Generation in leitende Positionen gekommen, die durch eine gemeinsame Ausbildung an der Êcole Polytechnique und anschließend an der Êcole des Ponts et Chauss¦es bestens vernetzt war. Die Mitgliedschaft im Corps des Ponts et Chauss¦es stiftete ein Band, das wichtige Schlüsselakteure des Eisenbahnbaus im Kaiserreich dauerhaft miteinander verband. Ein gutes Beispiel sind Paulin Talabot, der Leiter der PLM, und Charles Didion, ab 1852 Generaldirektor der Chemin de Fer de Paris — Orl¦ans. Beide hatten gemeinsam die Êcole des Ponts et Chauss¦es besucht und diese Verbindung über Jahre hinweg aufrecht erhalten. In den 1830er Jahren erhielt Paulin Talabot eine Genehmigung für sein Projekt einer Eisenbahnstrecke von AlÀs nach Beaucaire, bei dem auch Didion, der vorübergehend vom Staatsdienst beurlaubt wurde, mitarbeitete.1169 Nach Beendigung der Arbeiten kehrte Didion im Unterschied zu Talabot 1840 in den Staatsdienst zurück und wurde 1845 in den Conseil G¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es berufen. Cavaignac bot ihm 1848 den Posten als Minister für öffentliche Arbeiten an, was er jedoch ablehnte. 1852 schied er erneut aus dem Staatsdienst aus und wurde Direktor der aus mehreren Fusionen hervorgegangenen Chemin de Fer de Paris — Orl¦ans.1170 Als Dritter im Bunde wurde 1855 mit Ernest Franquey de Franqueville ein Klassenkamerad Didions und Talabots auf der Êcole des Ponts et Chauss¦es in die Leitung der Ponts et Chauss¦es berufen. Franqueville war ein Schüler Alexis Legrands und trat dessen Nachfolge an. Ebenso wie das Ministerium für öffentliche Arbeiten zeichnete sich auch die Leitung der Ponts et Chauss¦es während des Zweiten Kaiserreichs durch eine ausgesprochene personale Kontinuität aus. Franqueville bekleidete das Amt von 1855 bis zu seinem Tod 1876 und war

1168 Price: The French Second, S. 217. 1169 Brunot, A. u. R. Coquand: Le corps des ponts et chauss¦es. Paris 1982, S. 260. 1170 Noblemaire: Hommes et choses, S. 2.

Die Affäre Mirès

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daher die prägende Persönlichkeit in der Administrative des Kaiserreichs in Bezug auf Infrastrukturen und Verkehr.1171 Trotz ihrer unterschiedlichen Funktionen in der Eisenbahnbranche kooperierten die drei ehemaligen Schulkameraden stets eng miteinander.1172 Sie hatten gemeinsam wesentlichen Einfluss darauf, dass die Grand Central zwischen der PLM und der Chemin de Fer de Paris — Orl¦ans aufgeteilt wurde und die Chemin de Fer du Midi der Pereires außen vor blieb. Sie hatten außerdem tiefgreifenden Anteil an den Konventionen von 1859 und der Einteilung der Eisenbahnbranche in die sechs großen Ressorts, die sie mit Rouher und Magne aushandelten.1173

6.9. Die Affäre Mirès Im Frühjahr 1861 wurde das Zweite Kaiserreich von seinem größten Finanzskandal erschüttert. Der Unternehmer und Bankier Jules MirÀs wurde in einem aufsehenerregenden Prozess wegen Betrug und Veruntreuung zu mehreren Jahren Haft verurteilt. MirÀs hatte über Jahre hinweg fiktive Aktien der von ihm geleiteten Caisse g¦n¦rale des Chemins de Fer ausgegeben und dadurch die Anleger betrogen.1174 Zwar handelte es sich bei den Anklagepunkten nicht um Korruption im engeren Sinne, dennoch spielten Korruptionsvorwürfe eine zentrale Rolle in den Debatten um die Affäre. Jules Isaac MirÀs war ein typischer Aufsteiger im System des Zweiten Kaiserreichs. Innerhalb weniger Jahre brachte er es von einem Aktienbroker in Bordeaux zum Leiter einer der bedeutendsten Aktienbanken der 1850er Jahre und war Besitzer mehrerer nationaler Tageszeitungen. In den 1840er Jahren war er nach Paris übergesiedelt und hatte dort zunächst weiter als Agent für Aktienbroker gearbeitet und sich damit nach eigenen Angaben eher schlecht als recht über Wasser gehalten. Er muss aber dennoch über genügend finanzielle Mittel verfügt haben, um im Herbst 1848 gemeinsam mit einem Partner das kurz zuvor eingestellte Journal des Chemins de Fer zu übernehmen. Ab diesem Zeitpunkt scheint es mit seinen Geschäften bergauf gegangen zu sein. 1852 übernahm er mit Le Pays und Le Constitutionnel, den er Charles de Morny abkaufte, zwei der auflagenstärksten regierungstreuen Zeitungen des Kaiserreiches und sicherte sich so das vorsichtige Wohlwollen der 1171 Caron: Histoire des chemins, S. 205. 1172 »Depuis cette ¦poque, on peut dire avec raison qu’aucune grande mesure n’a ¦t¦ prise, qu’aucune r¦forme n’a ¦t¦ faite dans l’organisation des chemins de fer en France, qui n’ait ¦t¦, — des degr¦s divers, l’œuvre commune de ces trois ma„tres.« Brunot, Coquand: Le corps, S. 263. 1173 Ebd., S. 264. 1174 Girard: La politique, S. 266.

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Regierung. Im Laufe der fünfziger Jahre erwarb er zusätzlich bedeutende Anteile an den großen Tageszeitungen Journal des D¦bats, La Presse und Le SiÀcle und gab ihnen ebenfalls eine dezidiert regierungskonforme Ausrichtung. Aus der Konzentration einflussreicher Journale in seiner Hand ergaben sich für MirÀs weitergehende wirtschaftliche Möglichkeiten.1175 Seine Aktivitäten beschränkten sich in der Folgezeit daher nicht nur auf den journalistischen Bereich. 1850 gründete er die Caisse des Actions R¦unies, eine Kommanditgesellschaft, die hauptsächlich in Aktien spekulierte, deren Wert er durch gezielte Berichterstattung in seinen Journalen zu steigern versuchte.1176 1856 wollte er diese unter dem Namen Caisse G¦n¦rale des Chemins de Fer in eine reine Aktienbank umwandeln lassen, benötigte dafür allerdings die Zustimmung des Finanz- und des Wirtschaftsministeriums. Rouher, zu dessen Ressort auch das Wirtschaftsministerium gehörte, lehnte die Umwandlung zunächst ab. Eine Spekulationswelle des vergangenen Jahres und die allgemein schlechte wirtschaftliche Lage hatte Napoleon III. dazu bewogen, die Neugründung von Aktienunternehmen zu untersagen. Rouher verwies außerdem auf Bedenken, dass durch staatliche Unterstützung großer Aktienunternehmen nur die Spekulationslust erneut geschürt würde. Interessanterweise bewarb sich zur gleichen Zeit das Comptoir Imp¦rial des Travaux publics du Commerce, hinter dem James de Rothschild stand, ebenfalls um eine Bewilligung. Dieses Unternehmen wurde vom Staatsrat zumindest in Erwägung gezogen, anschließend jedoch ebenfalls zunächst abgelehnt. Nach längeren Verhandlungen wurden schließlich doch beide Unternehmen bewilligt.1177 Die Caisse G¦n¦rale des Chemins de Fer war darauf ausgelegt, das Geld von Kleinanlegern zu bündeln und in den Ausbau von Infrastrukturen zu investieren, ein Konzept, das demjenigen der im gleichen Jahr gegründeten Cr¦dit Mobilier auffallend ähnlich war.1178 Innerhalb weniger Jahre war die Caisse in diverse Projekte in verschiedenen Staaten Europas verwoben. In Frankreich gewährte sie der Stadt Paris einen Kredit über 50 Millionen Francs zur Umsetzung der von Georges Haussmann entwickelten Neugestaltung der Stadt.1179 Weitere Projekte konzentrierten sich vor allem im südlichen Teil des Landes. Seit 1857 entwickelte MirÀs Pläne, ein eigenes Eisenbahnnetz im Südwesten Frankreichs einzurichten, das er als R¦seau Pyr¦n¦en bezeichnete. In Marseille hatte er an der Einrichtung einer Gasversorgung zur Beleuchtung der Stadt mitgewirkt und plante im großen Maßstab Land aufzukaufen, um neue Docks zu errichten. Ähnlich wie Simon Philippart wenige Jahre später, befand sich MirÀs mit beiden 1175 1176 1177 1178 1179

Price: The French Second, S. 174. Freedeman: Joint-Stock, S. 90. Ebd., S. 91. Ferguson: The House, (Bd. 2), S. 60. The Bankers Magazine (Novermber 1861), S. 341.

Die Affäre Mirès

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Projekten in direkter Konkurrenz zu einflussreichen Unternehmern. Das R¦seau Pyr¦n¦en stieß auf erbitterten Widerstand der Pereires, die die Interessen ihrer Chemin de Fer du Midi beeinträchtig sahen und primär mit dem Ziel, MirÀs von ihrem Netzwerk fern zu halten, ein Angebot für die ausgeschriebene Konzession abgaben. MirÀs hatte seine Konkurrenten deutlich unterboten und forderte vehement eine öffentliche Ausschreibung der Konzession, anstatt der im Zweiten Kaiserreich üblichen direkten Verhandlungen mit den Ministern. Die folgende Debatte im Parlament ist bei Louis Girard zusammengefasst. MirÀs wurde durch die Abgeordneten Maximilien de Koenigswarter und Auguste Kerv¦guen in seinem Anliegen unterstützt. Der deutschstämmige Bankier Koenigswarter kritisierte die privilegierte Stellung der großen Kompanien heftig. Auch der Minister für öffentliche Arbeiten Rouher wurde in den Debatten angegriffen, was seiner Haltung gegenüber MirÀs sicherlich nicht zuträglich war. Schlussendlich erhielten Pereire und die Chemin de Fer du Midi trotz der günstigeren, von MirÀs angebotenen Konditionen den Zuschlag.1180 Das Dockbauprojekt in Marseille wurde von Paulin Talabot und der von ihm geleiteten PLM bekämpft, und auch dieses Projekt wurde durch den Minister für öffentliche Arbeiten Rouher abgelehnt. Auch hier drängt sich der Eindruck auf, dass Talabot seine hervorragende Vernetzung mit dem Ministerium gewinnbringend einsetzte, um MirÀs Ambitionen zu blockieren. MirÀs europäische Projekte verliefen vergleichsweise erfolgreich, doch auch dort traf er auf Widerstand französischer Finanzunternehmer. Mit Rothschild geriet er beispielsweise wegen der Vergabe eines Kredites über 16 Millionen Francs an die Spanische Krone und verschiedene Eisenbahnprojekte in Spanien und Italien in Konflikt.1181 Bereits Mitte der 1850er Jahre erschienen erste Veröffentlichungen, die die Caisse G¦n¦rale des Chemins de Fer wegen unlauterer Geschäftspraktiken angriffen. So wurden angeblich für die spanische Eisenbahn von Pamplona nach Saragossa weit mehr Aktien ausgegeben, als in den Geschäftsbüchern verzeichnet. Seine häufig fragwürdigen Geschäftspraktiken machten MirÀs zu einem geeigneten Ziel für Kapitalismuskritik. Die Uraufführung der Satire La question d’argent von Alexandre Dumas dem Jüngeren rief heftige Proteste bei MirÀs hervor, der meinte, sich selbst in der Person des Jean Giraud porträtiert und verunglimpft zu sehen.1182 Im gleichen Jahr veröffentlichte der Generalstaatsanwalt des kaiserlichen Gerichtshofes Oscar de Vall¦es eine scharfe Kritik an der Moral von Börsenspekulanten, die eine ebenso scharfe Replik MirÀs im

1180 Girard: La politique, S. 186. 1181 The Bankers Magazine (Novermber 1861), S. 342. 1182 Le Constitutionnel (17. 2. 1857), S. 1.

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Zum Verhältnis von Wirtschaft und Ministerien

Constitutionnel zur Folge hatte.1183 Auch der radikale Republikaner Jules VallÀs machte MirÀs zum Gegenstand seiner Kritik und sprach ihn im Vorwort seines ebenfalls 1857 erschienen Buches L’Argent direkt an.1184 Im Dezember 1860 wurde die Kritik konkreter, als C¦lestin de Pontalba, ein Aufsichtsratsmitglied der Caisse G¦n¦rale des Chemins de Fer, MirÀs beschuldigte, die Anleger der Bank in großem Stil betrogen zu haben.1185 Er selbst machte ausstehende Forderungen gegen die Caisse G¦n¦rale des Chemins de Fer im Wert von über 140.000 Francs geltend.1186 Viele bedeutende Personen aus dem Umfeld Napoleons III., unter ihnen auch Charles de Morny unterhielten geschäftliche Verbindungen zu MirÀs und befürchteten eine Verwicklung in den Skandal. Der Kaiser selbst versuchte zunächst zu verhindern, dass das ganze Ausmaß der finanziellen Probleme von MirÀs publik wurde, weil dieser für ihn als Unterhändler mit dem Osmanischen Reich fungiert hatte. Er musste aber schließlich dem Druck einiger Kabinettsmitglieder nachgeben. Insbesondere Persigny und Magne drängten darauf, eine offizielle Untersuchung einzuleiten. Der kaiserliche Chefankläger Ernest Pinard nahm Ermittlungen auf und die Polizei beschlagnahmte sämtliche Geschäftsunterlagen der Caisse G¦n¦rale des Chemins de Fer. Am 17. Februar 1861 wurde MirÀs verhaftet und ins Gefängnis von Mazas überstellt, in dem bevorzugt politische Dissidenten inhaftiert wurden. Im Juni des gleichen Jahres fand der Prozess statt, in dessen Verlauf mehr als 360 Geschädigte als Zeugen aussagten. MirÀs fühlte sich offensichtlich von seinen ehemaligen Geschäftspartnern fallengelassen und drohte damit, Bestechungszahlungen publik zu machen, sollten die Ermittlungen gegen ihn nicht eingestellt werden. Während der Gerichtsverhandlungen vermerkte er, dass er die unterschlagenen Gelder nicht für sich selbst behalten habe, sondern an Minister und andere hochrangige Personen weitergegeben habe, um die Interessen seiner Unternehmen und der Aktionäre zu wahren. Mehrere ausländische Tageszeitungen berichteten, in den im Zuge der Ermittlungen beschlagnahmten Unterlagen hätten sich auch detaillierte Listen befunden, in denen MirÀs die Bestechungsgelder vermerkt habe. Diese Listen seien aber durch die Ermittler beseitigt worden, um Regierungsmitglieder zu schützen.1187 MirÀs nannte während des Prozesses keine Namen und das Gericht zeigte kein gesteigertes Interesse, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Schlussendlich wurde MirÀs zu fünf Jahren Haft und einer vergleichsweise geringen Strafe von 4000 Francs 1183 Le Constitutionnel (7. 9. 1857), S. 3. 1184 Vallès, Jules: L’argent. Par un homme de lettres devenue homme de bourse. Paris 1857, S. 10. 1185 Vella, Christina: Intimate Enemies. The Two Worlds of the Baroness de Pontalba. Baton Rouge, La 1997, S. 316. 1186 The Bankers Magazine (Novermber 1861), S. 344. 1187 The Times (7. 3. 1861), S. 10; The Liverpool Mercury (21. 2. 1861), S. 3.

Die Affäre Mirès

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verurteilt. Napoleon III. befürchtete jedoch auch weiterhin eine Ausweitung der Affäre und ordnete im folgenden Jahr die Wiederaufnahme des Verfahrens an, in dem MirÀs freigesprochen und rehabilitiert wurde.1188 Dennoch war seine Karriere unwiederbringlich ruiniert. Im gleichen Jahr war MirÀs gezwungen, den Constitutionnel zu verkaufen. Auf Betreiben von Morny, mit dem MirÀs zeitweise enge Geschäftskontakte unterhalten hatte, überließen ihm die Pereires 15.000 Aktien seiner ehemaligen Eisenbahn, um ihn so vor dem finanziellen Ruin zu bewahren. In seiner während des Gefängnisaufenthaltes verfassten und 1861 erschienenen apologetischen Autobiographie warf MirÀs den Ministern Magne und Rouher vor, ihm grundsätzlich feindselig gesonnen gewesen zu sein und seine Projekte blockiert zu haben, um ihren eigenen Freunden, insbesondere Paulin Talabot, Vorteile zu verschaffen.1189 MirÀs Autobiographie ist ein interessantes Dokument eines ehemaligen Akteurs in dem Beziehungsgeflecht, das die Politik und Wirtschaft des frühen Zweiten Kaiserreichs prägte, der sich jedoch auf Dauer nicht gegen seine Konkurrenten durchsetzen konnte und schlussendlich ausgeschlossen und öffentlich degradiert wurde.1190 Dies stellt den exemplarischen Fall einer Korruptionsanklage eines Benachteiligten im politischen Netzwerk dar. Der Skandal brachte diverse Pamphlete hervor, die den Fall MirÀs für verschiedene Zielsetzungen instrumentalisierten. In einem etatistisch motivierten Pamphlet wurde MirÀs mit James de Rothschild verglichen und ihre Geschäftsmodelle und gesellschaftlichen Positionen gegenüber gestellt. James de Rothschild wurde als geradezu archetypischer Vertreter der Finanzaristokratie portraitiert, die den Finanzmarkt fest in ihrem Griff hielt, während das System MirÀs als Paradebeispiel der durch den Aktienhandel demokratisierten Geschäftswelt dargestellt wurde, mithilfe dessen er versucht hatte, die Phalanx der Haute Banque zu durchbrechen und den Finanzsektor offener zu gestalten.1191 MirÀs System war jedoch anfällig für Missbräuche, da es nicht genug Kontrolle über die finanzierten Geschäfte erlaubte. MirÀs persönlich wurde in diesem Pamphlet, in dem der Autor seine eigene Neutralität stets mit Nachdruck betonte, nicht angegriffen. Im Vergleich kam der Autor zu dem Schluss, dass beide Wirtschaftsmodelle ihre Nachteile hätten und daher ein drittes System vorzuziehen sei: eine staatlich kontrollierte Cr¦dit National, über die Infrastrukturen und Staatsanleihen finanziert werden sollten.1192 1188 Pinard, Ernest: Œuvres judiciaires. R¦quisitoires – conclusions, discours, juridiques – plaidoyers. Hrsg. von Charles Boullay. Paris 1885, S. 354. 1189 Mirès, Jules Isaac: õ mes juges. Ma vie et mes affaires. Paris 1861, S. 71–73. 1190 The New York Times (22. 2. 1861), S. 3. 1191 Anonym: M. MirÀs et M. de Rothschild. Paris 1861, S. 6, 9. 1192 Ebd., S. 14–15.

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Zum Verhältnis von Wirtschaft und Ministerien

Eine stärker auf die gesellschaftlichen Implikationen des Skandals ausgerichtete Broschüre erschien anonym in Deutschland unter dem Titel MirÀs und was daran hängt. Der Autor des Vorwortes merkte an, dass der Inhalt seiner Veröffentlichung zwar primär für Franzosen von Interesse sei, die Schrift aber aus politischen Gründen nicht in Frankreich erscheinen könne.1193 Im Grundtenor zielte das Pamphlet darauf ab, MirÀs als das Bauernopfer eines durch und durch korrupten Systems darzustellen, das, um sich selbst zu schützen, gegen eine Einzelperson vorging und diese öffentlich aburteilte. Der Verfasser bezeichnete das eigene Werk als eine Schrift für die Demokratie und das System Napoleons III. in der Abgrenzung dazu als Absolutismus.1194 Diesem System attestierte er die fatale Verbindung von zwei grundsätzlichen Problemen des modernen Staatswesens. Erstens sei Korruption die Folge jeder überbordenden Verwaltung. Zweitens sei die Entstehung der Eisenbahnsysteme in Europa zwangsläufig von Phasen intensiver Aktienspekulation begleitet worden. Das zentrale Problem des Zweiten Kaiserreiches sei nun der Zusammenschluss von Vertretern der öffentlichen Verwaltung und Aktienspekulanten, der die Kontrollfunktionen des Staates endgültig aushebelte und dadurch Korruption und Spekulation miteinander verband.1195 Hier finden sich Versatzstücke liberaler Zentralismuskritik mit frühsozialistisch beeinflusster Kritik am Aktienkapitalismus, in dem Korruption als das »Schmiermittel« dargestellt wird, das weitere Missbräuche ermöglicht. Der Skandal wird aber auch als Zeichen der Krise des politischen Systems gesehen, der, ähnlich wie der Korruptionsskandal um Teste und CubiÀres am Ende der Julimonarchie, lediglich das sichtbare Symptom tiefergehender Probleme darstellte. Da MirÀs an der Spitze des Unternehmens gestanden habe und von offizieller Seite unterstützt wurde, fielen seine Verbrechen auch auf den Staat zurück.1196 In beiden Fällen seien Gerichte eingeschaltet worden, um den Anschein eines Einzelfalls zu erwecken, der durch staatliche Intervention abschließend behandelt werden könne.1197 Der Autor interpretierte das Vorgehen gegen MirÀs also als einen Versuch staatlicher Organisationen und Akteure, ihre eigene Legitimität zu wahren, indem sie Delinquenten exemplarisch aburteilten, dabei aber die eigene Verwicklung in den Fall ignorierten. Im Unterschied zu MirÀs Autobiographie wurden in dem Pamphlet auch namentlich mehrere hohe Würdenträger des Zweiten Kaiserreichs, der Bestechlichkeit bezichtigt, unter ihnen auch Pierre Jules Baroche, zu diesem Zeitpunkt bereits Minister ohne Portfolio. Baroche hatte angeblich über die 1193 1194 1195 1196 1197

Anonym: MirÀs und was daran hängt. Berlin 1861, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 4–5. Ebd., S. 5. Ebd., S. 20.

Die Ingenieure der Ponts et Chaussées

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Jahre hinweg von MirÀs mehr als 1.500.000 Franc erhalten.1198 Auch hier zeigt sich der Effekt, dass Autoren anonymer Pamphlete wesentlich konkreter in ihren Anschuldigungen wurden, da sie keine Konsequenzen zu befürchten hatten.

6.10. Die Ingenieure der Ponts et Chaussées und ihr Verhältnis zu den privaten Eisenbahngesellschaften Das Corps des Ponts et Chauss¦es war ein Instrument staatlicher Machtentfaltung und wurde von Verfechtern der Zentralisation als integraler Bestandteil staatlicher Planungshoheit gefördert.1199 In allen Regionen Frankreichs wurden Ingenieure stationiert, die ein Netzwerk bildeten, das die gesamte Nation umspannte.1200 Dieses Netzwerk wuchs im Zuge der Industrialisierung dramatisch an. In den 1840er Jahren hatte das Corps bereits fast 700 Mitglieder und war damit eine der personenstärksten Organisationen des französischen Staates.1201 Die Exekutive gewährleistete die Loyalität ihrer Administrative über ihr weitestgehendes Ausbildungsmonopol und das Corpssystem.1202 In Frankreich wurden im Laufe des 19 Jahrhunderts in quasi allen Bereichen des öffentlichen Dienstes Examina und Eignungsprüfungen (Concours) eingeführt. Die Julimonarchie vertrat somit zwar nach außen hin ein meritokratisches System, setzte aber weiterhin auf Patronage bei der Vergabe von öffentlichen Stellen.1203 Auch die Zulassung zu den großen Schulen (Grandes Êcoles) verlief weiterhin häufig über persönliche Kontakte. Bewerber mussten Schreiben eines Leumunds vorlegen, der sich für ihre Eignung verbürgte. Dabei zählte nicht nur ihr Bildungstand, sondern auch eine gute Herkunft und »sitthaftes« Verhalten. Die

1198 Ebd., S. 15. 1199 »Le jour o¾ les ponts-et-chauss¦es auraient cess¦ d’exister ou seulement de jouer un rúle brillant dans les travaux publics, la centralisation, dont ce corps est l’un des plus beaux instruments serait dans le plus grand danger ; or, la centralisation, c’est le g¦nie de la France, c’est sa sauvegarde; la nationalit¦ franÅaise p¦rirait avec la centralisation.« In: Journal des D¦bats (18. 9. 1838), S. 3. 1200 Ringrose, Daniel MacKay : Engineering Modernity. Civil Engineers between National State and Provincial Society in France, 1840–1914. Dissertation. Ann Arbor, Mich. 1995, S. 2. 1201 Ebd., S. 246. 1202 Silberman, Bernard S.: Cages of Reason. The Rise of the Rational State in France, Japan, the United States, and Great Britain. Chicago, Illinois 1993, S. 137; Seit der Gründung der Êcole Centrale des Arts et Manufactures 1829 gab es auch eine private Ausbildungseinrichtung für Ingenieure. Die überwiegende Mehrzahl der mit dem Eisenbahnbau beschäftigten Ingenieure entstammte aber der Êcole des Ponts et Chauss¦es. Vgl. Dobbin: Forging Industrial Policy, S. 100. 1203 Tudesq: Les grands notables, S. 920–921.

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Zum Verhältnis von Wirtschaft und Ministerien

Mehrzahl der Schüler stammte aus Familien, die bereits eine Tradition im öffentlichen Dienst hatte.1204 Nach dem Abschluss an einer der großen Schulen wurden die Abgänger nahezu automatisch in den Staatsdienst übernommen.1205 Dies war auch im Corps des Ponts et Chauss¦es der Fall, wo die Verbindungen, die auf der Schule der Ponts et Chauss¦es geknüpft wurden, häufig noch lange nachwirkten. Für den gehobenen Dienst, wo Didion, Talabot und Franqueville über Jahre hinweg eng kooperierten, gilt dies ebenso wie für die einfachen Ingenieure, die im Eisenbahnbau eingesetzt wurden. So wie Bankiers und Finanziers die Schnittstelle zwischen den Eisenbahnunternehmen und Vertretern der Politik stellten, waren Ingenieure die Verbindung zur öffentlichen Verwaltung. Die hohe Konzentration technischer Expertise in Staatshand führte jedoch zu einer Verknappung auf dem privaten Sektor. Eine mögliche Lösung für die privaten Unternehmen stellte der Einsatz ausländischer Ingenieure dar, die in der Regel aus Großbritannien stammten und daher gegenüber ihren französischen Kollegen über einen Erfahrungsvorsprung im Eisenbahnbau verfügten. Insbesondere die französischen Eisenbahngesellschaften mit hohem Anteil britischer Investoren setzten bevorzugt auch auf britische Arbeitskräfte und Planer, um ihre Strecken bauen zu lassen.1206 Die Chemin de Fer de Paris — Rouen engagierte in den 1830er Jahren den berühmten britischen Ingenieur Joseph Locke, der wiederum in großem Maßstab britische Subunternehmer beschäftigte, was zu vehementer Kritik von Seiten der Ponts et Chauss¦es führte.1207 Der Einsatz von britischen Experten und Kapital war in Zeiten nationaler Rivalität politisch nicht opportun und wurde auch von der französischen Administrative kritisch bewertet, die ihr Machtmonopol in technischen Fragen gefährdet sah. Der Einsatz staatlicher Ingenieure in der Privatwirtschaft war daher für die Ponts et Chauss¦es auch ein Mittel, ihren Einfluss zu wahren und zu erweitern.1208 Bereits 1831 richtete die Leitung der Ponts et Chauss¦es einen internen Ausschuss ein, der sich mit der Frage befassen sollte, wie die Ingenieure der Ponts et Chauss¦es ihren Status als Angehörige des Corps behalten und gleichzeitig die 1204 Oliver III., James Montgomery : The Corps des Ponts et Chauss¦es, 1830–1848. Dissertation. Missouri 1968, S. 65. 1205 Die beschränkten Eintrittsmöglichkeiten in den Dienst in der Ponts et Chauss¦es wurden gelegentlich kritisiert und zum Gegenstand von politischen Reformforderungen, die jedoch keine Grundlegenden Änderungen zur Folge hatten. Vgl. Journal des D¦bats (20. 11. 1850), S. 4; Journal des D¦bats (21. 11. 1850), S. 1. 1206 Dunham: How the First, S. 16; Für eine britische Einschätzung der Stimmung in Frankreich gegenüber britischem Kapital im Eisenbahnbau siehe: The Times (30. 6. 1843), S. 1. 1207 Smith Jr.: The longest Run, S. 674. 1208 Ringrose: Engineering Modernity, S. 275.

Die Ingenieure der Ponts et Chaussées

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dringend benötigte Expertise für private Unternehmen zur Verfügung stellen könnten.1209 Das Ergebnis dieser Untersuchung war ein gemischtes Model, nach dem Ingenieure auf unbestimmte Zeit von ihrem Dienst freigestellt werden konnten, um für private Unternehmen zu arbeiten: der sogenannte Cong¦ Illimit¦.1210 Aus dieser speziellen Form der Verquickung von Staat und Privatwirtschaft ergaben sich freilich auch Interessenkonflikte und problematische Verflechtungsformen, denn die Ingenieure der Ponts et Chauss¦es wurden häufig dazu eingesetzt, um die Arbeit ihrer beurlaubten Corpsbrüder zu überwachen. Unternehmen versuchten Ingenieure der Ponts et Chauss¦es durch lukrative Verträge an sich zu binden, nicht nur weil sie über die notwendige Expertise, also inkorporiertes kulturelles Kapital verfügten, sondern auch, weil sie durch ihre Mitgliedschaft im Corps ein engmaschiges Netzwerk aufweisen konnten, das persönliche Kontakte zu zentralen Akteuren der Verwaltung ermöglichte.1211 Die technischen Leiter von fünf der sechs großen Eisenbahngesellschaften in den 1860er Jahren waren Mitglieder des Corps und stellten bevorzugt ihre Kollegen und Corpsbrüder ein.1212 Per Dekret vom 15. 2. 1868 wurden die Chefingenieure der Ponts et Chauss¦es, die bisher für die einzelnen Ressorts zuständig gewesen waren, durch Inspecteurs G¦n¦raux ersetzt, weil zu viele ranghohe Ingenieure des Ponts et Chauss¦es in die Privatwirtschaft gewechselt waren und ihnen in der Hierarchie des Corps gleichberechtigte staatliche Vertreter gegenübergestellt werden mussten.1213 Ein weiteres Spannungsfeld ergab sich auch in Frankreich aus privaten Investitionen und Geschäftsbeziehungen von Ingenieuren, die noch im Staatsdienst tätig waren. Die Leitung des Corps des Ponts et Chauss¦es entwickelte im Verlaufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts klare Regeln und ein ausgeprägtes Kontrollsystem, um das Verhalten ihrer Ingenieure zu überwachen. Untersuchungen wurden durch den Conseil g¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es geleitet und zogen nötigenfalls Disziplinarmaßnahmen bis hin zum Ausschluss aus dem Corps nach sich. Bereits in den 1830er Jahren untersuchte der Conseil g¦n¦ral mehrere Fälle, bei denen sich Ingenieure im Staatsdienst finanzielle Gewinne durch private Geschäfte mit Kanalgesellschaften erzielt hatten. Das Kontrollgremium kam in diesen Fällen nicht nur zu dem Schluss, dass die In1209 Conseil G¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es. Sitzungsprotokolle. AN Paris F 14 15490, S. 42–45. 1210 Brunot, Coquand: Le Corps, S. 257. 1211 Der aus dem staatlichen Ausbildungsmonopol resultierende überdurchschnittlich häufige Wechsel hoher Verwaltungsmitglieder in die Privatwirtschaft wird in Frankreich mit dem Begriff Pantouflage bezeichnet. Vgl. Charle, Christophe: Le pantouflage en France, vers 1880–1980. In: Annales. Êconomies, Soci¦t¦s, Civilisations 49 (1987). H.5. S. 1115–1137. 1212 Ringrose: Engineering Modernity, S. 262. 1213 Rials: Le contrúle, S. 98.

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genieure ihre Position unrechtmäßig ausgenutzt hatten, sondern auch, dass dieses Verhalten das Ansehen des gesamten Corps beeinträchtigt hatte.1214 Das öffentliche Ansehen des Corps war von essentieller Bedeutung der Organisation, deren Legitimität zu großen Teilen auf ihrem Gemeinwohlsanspruch basierte. Es spielte daher eine zentrale Rolle in den Beratungen zum Einsatz von Staatsbediensteten in der Privatwirtschaft und wirkte als ein starker verhaltensregulierender Mechanismus.1215 Die Ponts et Chauss¦es griff unter diesem Gesichtspunkt ganz selbstverständlich weit in das Privatleben ihrer Mitglieder ein. In den Personalakten finden sich neben ausführlichen Vermerken zur Qualifikation und Arbeitsmoral auch detaillierte Einträge über das äußere Erscheinungsbild und den persönlichen Lebenswandel der Ingenieure.1216 Hier stieß die Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre an ihre Grenzen. Privates Verhalten von Staatsbediensteten wirkte sich auch auf die Organisation aus und musste daher überwacht werden. Die Vergabe staatlicher Aufträge und Konzessionen an privat agierende Ingenieure der Ponts et Chauss¦es stellte einen besonders heiklen Punkt dar. Nach mehreren kleineren Skandalen während der 1830er Jahre wurden daher strikte Beschränkungen eingeführt. Ingenieure, die selbstständig als Unternehmer oder gar Konzessionäre tätig werden wollten, mussten das Corps komplett verlassen.1217 Insbesondere ab den 1850er Jahren verhandelte der Conseil g¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es auch vermehrt Fälle von finanziellen Investitionen in Eisenbahngesellschaften durch Ingenieure in Form von Krediten und Aktienbeteiligungen, die als unvereinbar mit ihrer offiziellen Funktion eingestuft wurden. Ab 1850 wurde daher ein spezieller Rat eingerichtet, der sich ausschließlich mit den Ingenieuren befasste, die im privaten Eisenbahnbau eingesetzt waren.1218 Die Beratungen des Conseil g¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es und seiner Untergremien stellten einen organisationsinternen Korruptionsdiskurs dar, der moralisch-ethische Standards setzte und Verhaltensregeln definierte. Um mögliche Einflussnahme und Vorteilsgewährung vorzubeugen, war Außenstehenden die Teilnahme an den Sitzungen des Gremiums untersagt. Ingenieure, die mit einem privaten Unternehmen in Verbindung standen, durften nicht an Verhandlungen über ihre Firmen beteiligt sein.1219 Die Ponts et Chauss¦es wies im 19. Jahrhundert bereits wesentliche Merkmale auf, die gemeinhin als Cha1214 1215 1216 1217

Conseil G¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es. Sitzungsprotokolle, AN Paris F 14 15490, S. 48. Personalakte Jacob Jules Carvallo. AN Paris F 14 2187 1 Personalakte Pierre Cailloux. AN Paris F 14 2184 2 Conseil g¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es. Sitzungsprotokolle, AN Paris F 14 15490, S. 120–126. 1218 Ebd., S. 116. 1219 Conseil g¦n¦ral des Ponts et Chauss¦es. Sitzungsprotokolle, AN Paris F 14 15491, S. 31–34.

Zwischenfazit

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rakteristika einer modernen Bürokratie gesehen werden, in der eine klare Trennung zwischen öffentlichen und privaten Aktivitäten der Staatsbediensteten angestrebt wurde.

Zwischenfazit Die personellen Verbindungen zwischen Ministerien und Eisenbahnunternehmen waren naturgemäß direkter und weniger komplex als die Vernetzungsformen im Parlament. Britische Minister waren im Allgemeinen darum bemüht, eine gewisse Distanz zu Eisenbahnunternehmern zu wahren, und ihre Kontakte beschränkten sich meist auf Verhandlungen über regulierende Gesetzgebung. Ihre Einflussmöglichkeiten hingen hierbei wesentlich von ihrem sozialen Status sowie ihrer persönlichen Autorität ab. Minister in Frankreich hatten durch die direkte Vergabe der Konzessionen wesentlich engere Kontakte zur Eisenbahnbranche als ihre britischen Kollegen. Trotz der gelegentlichen ideologischen Differenzen zwischen Vertretern des Staates und privaten Eisenbahnunternehmern kooperierten sie in vielen Bereichen. Die Netzwerke, über die Kontakte zwischen den Ministerien und Eisenbahngesellschaften angebahnt wurden, hatten ihren Ursprung in der Regel in den Direktorien und Verwaltungsräten der Unternehmen. Für die Verhandlungen wurden von Seiten der Eisenbahngesellschaften bevorzugt Personen ausgewählt, die ohnehin schon mit den Ministern bekannt waren. Diese Bekanntschaften konnten aus früheren offiziellen Verhandlungen herrühren, aber auch über persönliche Freundschaften und verwandtschaftliche Beziehungen zustande gekommen sein. In Großbritannien waren die Ingenieure des Board of Trade Neuankömmlinge in der Eisenbahnbranche und verfügten zunächst kaum über persönliche Verbindungen. Diese wurden erst im Laufe der Zeit aufgebaut und führten in einigen Fällen zu einem Wechsel aus dem Staatsdienst in die Privatwirtschaft. Wechsel in umgekehrter Richtung waren in der Frühphase nur unter Auflagen möglich, was jedoch aus praktischen Gründen bereits in den 1840er Jahren revidiert wurde. Die Mitarbeiter der Ministerialbürokratie standen wegen des grundsätzlichen Misstrauens gegenüber der Staatsgewalt in Großbritannien unter verstärkter Beobachtung und damit schon fast unter Generalverdacht. Die Verflechtungsformen auf Mitarbeiterebene der Behörden waren in Frankreich stark durch das Corps der Ponts et Chauss¦es und durch die häufigen Wechsel der Ingenieure zwischen dem Staatsdienst und der Privatwirtschaft geprägt, der durch eine unbefristete Beurlaubung ermöglicht wurde. Hier bestanden durch die zentralisierte Ausbildung der Ingenieure und Ministerialbeamten bereits weitverzweigte Netzwerke, die auch nach einem Wechsel zu einem

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Zum Verhältnis von Wirtschaft und Ministerien

Eisenbahnunternehmen nicht aufgelöst wurden. Sie wären auch durch offizielle Regeln nur schwer reversibel gewesen und wurden in der Öffentlichkeit kaum kritisiert. Patronage wurde in diesen Kreisen als weniger problematisch wahrgenommen, da sie auf einem wissenschaftlich-professionellen Hintergrund basierte und immer noch Sachentscheidungen zu produzieren schien. Dennoch ist in beiden Untersuchungsländern zu beobachten, dass Ministerialbeamte relativ klaren Verhaltensregeln unterworfen waren. Schon vor Beginn des Eisenbahnbaus hatte sich in der Ministerialbürokratie beider Länder schrittweise die Auffassung durchgesetzt, dass ein Amt in der öffentlichen Verwaltung durch einen Dienst am Gemeinwohl charakterisiert wurde und aus staatlichen Mitteln finanziert werden sollte. Dies zeigt sich sowohl in den internen Kontrollmechanismen der Ponts et Chauss¦es in Frankreich wie auch in den Debatten über den Insiderhandel um Donatus O’Brien und den Korruptionsskandal Hignett in Großbritannien. Unterschiede im Formalisierungsgrad der internen Kontrollfunktionen lassen sich aus der Größe der Ministerien in beiden Ländern erklären. In Großbritannien waren die Ministerien kleine Organisationen mit nur wenigen Mitarbeitern. Daher reichte hier die persönliche Aufsicht der Behördenleiter aus. Der Ponts et Chauss¦es hingegen gehörten schon im 19. Jahrhundert mehrere hundert Ingenieure an, die noch dazu teilweise in der Privatwirtschaft eingesetzt wurden. Um hier eine effektive Kontrolle zu gewährleisten wurde schon relativ früh ein eigenes Gremium eingerichtet, das das Verhalten der Ingenieure überwachte. Auch aus den Pamphleten gegen das Board of Trade lassen sich klare Anforderungen an das Verhalten eines Amtsträgers herauslesen. Neutralität und Sachgerechtigkeit waren hohe Werte. Persönliche Verbindungen und daraus resultierender Nutzen wurden hingegen negativ bewertet. Persönliche Korruptionsvorwürfe gegen die Leiter des Board of Trade waren in Großbritannien sehr ungewöhnlich. Gelegentlich wurden britische Minister der Inkompetenz bezichtigt, Vorwürfe der persönlichen Bereicherung finden sich in den Debatten jedoch nicht. Persönliche Anklagen wurden, wenn überhaupt, nur von anonymen Autoren vorgebracht. Unter Gentlemen im Parlament galten sie als nicht üblich und passten wohl nicht in die politische Kultur, die auch weiterhin ein System der Kooperation unterstützte. In Frankreich hingegen waren Vorwürfe der persönlichen Bereicherung gegen Minister zumindest während der Julimonarchie weit verbreitet. Die Debatten über Konzessionen im Parlament boten Konkurrenten die Möglichkeit, ihre Kritik effektiv zu artikulieren. Sie lieferten der politischen Opposition das benötigte Material, um ihre Regimekritik zu untermauern. Während des Zweiten Kaiserreichs fielen die Debatten im Parlament als öffentlichkeitswirksames Forum vorübergehend weg. Investitionen in Aktien der Unternehmen galten sowohl für Minister, wie

Zwischenfazit

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auch für Angehörige der Ministerialbürokratie als unstatthaft, da sie ihrer Neutralitätsverpflichtung zuwider liefen. Verwandtschaftliche Beziehungen und persönliche Freundschaften zwischen Vertretern der Exekutive und den Privatunternehmen waren in beiden Ländern stets mit dem Verdacht der Vorteilsgewährung behaftet, es gab jedoch genügend Gründe, um sie bis zu einem gewissen Maß zu rechtfertigen. Die Rolle der Eisenbahnunternehmer wurde in sämtlichen Korruptionsdebatten der Ministerien in Großbritannien kaum thematisiert. An das Unternehmerethos wurden offensichtlich andere Standards angelegt als an das Beamtenethos. Die Aufgabe der Korruptionsbekämpfung lag klar bei den Vertretern des Staates.

Resümee

In der Zusammenschau präsentieren sich Interessenpolitik und Korruption im Eisenbahnbau des 19. Jahrhunderts als äußerst vielgestaltige Phänomene. Dies trifft sowohl auf die Praktiken personaler Netzwerkbildung als auch auf Korruptionsdebatten zu. Das grundsätzliche Ziel von ökonomischer Interessenpolitik war es, die durch Staatsbildungsprozesse entstandene Kluft zwischen Wirtschaft und Staat zu überbrücken. Diese Kluft wurde im vorliegenden Fall noch durch den Umstand vergrößert, dass Eisenbahnunternehmer überwiegend einer aufstrebenden Elite entstammten und daher gezielt an der Erweiterung ihrer politischen Netzwerke arbeiten mussten. Hinsichtlich der Struktur von Verflechtungspraktiken wäre zunächst eine quellentechnische Erkenntnis voranzustellen. Langfristig angelegte Netzwerke, deren Knotenpunkte in der Regel die Führungsgremien der Eisenbahngesellschaften bildeten, schlagen sich in den historischen Quellen deutlich nieder. Kurzlebige Vernetzungsformen, deren Existenz sich im Extremfall nur über eine einzelne Transaktion zwischen zwei Akteuren erstreckte, waren flüchtiger und sind daher für den Historiker schwerer nachzuvollziehen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass sie nicht zum Einsatz kamen. Einen klaren Hinweis hierauf liefern die immer wieder aufkommenden Gerüchte über die Bestechlichkeit von Parlamentariern und Ministern in beiden Ländern. Da aber die politische Interessenvertretung der Eisenbahngesellschaften in der Regel auf eine strategische Positionierung ausgerichtet war, spricht vieles dafür, dass auch in den Vernetzungsstrategien ihre Priorität auf langfristigen Verbindungen lag. Die Netzwerke, die Eisenbahnunternehmen aktivieren konnten, waren wesentlich durch die personelle Zusammensetzung und sozioökonomische Struktur ihrer Leitungsgremien bestimmt. Grundsätzlich bestanden zwei Möglichkeiten der Netzwerkbildung. Entweder wurden bereits politisch einflussreiche Personen durch Investitionen und Posten in den Unternehmen an die Eisenbahngesellschaften gebunden, wodurch ihre bestehenden Netzwerke für

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Resümee

das Unternehmen nutzbar gemacht werden konnten, oder Eisenbahnunternehmer bauten selbst eigene Netzwerke auf. In beiden Ländern entstammten Eisenbahnunternehmer in der Regel dem Bürgertum und in beiden Ländern waren ihre Geschäftsaktivitäten nicht auf eine Branche beschränkt. Eisenbahndirektoren agierten häufig in verschiedenen Geschäftsfeldern und behielten diese Betätigungen zumeist auch nach ihrem Eintritt in die Direktorien von Eisenbahngesellschaften weiter bei. Durch ihr wirtschaftliches und zunehmend auch politisches Engagement auf der nationalen Ebene wurden sie zudem exponierte Vertreter ihrer Gesellschaftsschicht. Die Grundlage für diesen schnellen Aufstieg in den Kreis der politisch Mächtigen bildete ökonomisches Kapital, mit dem häufig ein Defizit an sozialem und kulturellem Kapital ausgeglichen werden musste. In Großbritannien war die Zusammensetzung der Direktorien relativ heterogen. Hier finden sich neben den Bankiers und Ingenieuren auch viele Vertreter des Handels und des produzierenden Gewerbes. In späteren Jahren wurden zunehmend auch Angehörige der Gentry und des Hochadels in die Unternehmensnetzwerke eingebunden, die jedoch, bis auf wenige Ausnahmen, nicht in der Geschäftsführung der Unternehmen tätig wurden.1220 Diese zunehmend engeren Kontakte durch gemeinsame ökonomische Interessen leisteten einen Beitrag dazu, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der öffentlichen Wahrnehmung Teile des Bürgertums und des Adels zur Oberschicht verschmolzen.1221 Dieser Prozess war während der Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch allenfalls in seinen Anfängen begriffen. Die traditionellen gesellschaftlichen Schichten waren auch weiterhin determinierend für die sozialen Kreise, in denen sich die Akteure bewegten, ohne dabei gänzlich undurchlässig zu sein. In Frankreich wurde der nationale Eisenbahnbau durch ein recht überschaubares Feld verschiedener Investoren und Investorengruppen dominiert, die zumeist auch die Verwaltungsräte der Gesellschaften kontrollierten. Der überwiegende Teil der Investoren, beispielsweise die Pereires und James de Rothschild, gehörte der Pariser Finanzwelt an, die ihre bereits bestehenden Verbindungen zu politischen Kreisen nutzen konnten, um sich gegen Konkurrenten durchzusetzen und Konzessionen zu sichern. Hinzu kamen einige Ingenieure, die zuvor im Staatsdienst tätig gewesen waren und in die private Wirtschaft wechselten. Händler und Industrielle sowie Angehörige des weitestgehend entmachteten Adels wurden hier in geringerem Umfang aktiv. Die strategische Ausrichtung aktiv erweiterter Netzwerke war stark von den 1220 Then: Eisenbahnen und Eisenbahnunternehmer, S. 147–258. 1221 Cassis, Youssef: Wirtschaftselite und Bürgertum. England, Deutschland und Frankreich um 1900. In: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger. Deutschland im europäischen Vergleich. Eine Auswahl. Hrsg. von Jürgen Kocka. Göttingen 1995. S. 9–34, S. 10.

Resümee

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politischen Rahmenbedingungen abhängig. In Großbritannien lag der Fokus klar auf der Legislative. Den beiden Kammern des Parlaments kam für die politische Interessenvertretung eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Die Exekutive trat demgegenüber in den Hintergrund. Daran änderte sich während des gesamten Untersuchungszeitraums allenfalls in Nuancen etwas. Die Bedeutung der beiden Staatsgewalten als Ansatzpunkt der Interessenpolitik war in Frankreich hingegen erheblichen Schwankungen unterworfen. Während der Julimonarchie spielte das Parlament eine maßgebliche Rolle in politischen Aushandlungsprozessen über den Eisenbahnbau, die während der Zweiten Republik sogar noch zunahm. Im Zuge des Übergangs von der Zweiten Republik zum Zweiten Kaiserreich trat die Legislative jedoch in dem Maße in den Hintergrund, in dem die Exekutive zur zentralen Instanz politischer Entscheidungsfindung wurde. Folgerichtig konzentrierte sich auch das Interesse der Eisenbahnbranche stärker auf diesen Bereich. Die Struktur der für Interessenpolitik aktivierten Netzwerke variierte stark je nach Situation und Organisation, auf die sie abzielte. Für die Interessendurchsetzung im Parlament waren komplexe Verflechtungsformen notwendig, die möglichst viele Abgeordnete integrierten, auch wenn in den Debatten zumeist nur einzelne Akteure in Erscheinung traten.1222 Für die Kontakte mit den Ministern waren primär die Direktoren der Unternehmen zuständig, die nach Möglichkeit auch selbst über ein politisches Amt verfügten. Hier offenbaren sich Rückwirkungen der Korruptionsdebatten auf die Vernetzungspraktiken. Britische Minister waren stets darauf bedacht, Distanz zu Eisenbahnunternehmern zu wahren, um sich nicht dem Verdacht der Vorteilsgewährung im Amt auszusetzen. In Frankreich hingegen finden sich häufig Hinweise auf engere und langfristiger angelegte Verbindungen zwischen der Exekutive und den privaten Eisenbahngesellschaften, die zumindest zum Teil aus den tendenziell kürzeren Amtszeiten britischer Minister und der stärkeren Einflussnahme der Exekutive in Frankreich zu erklären sind, die zwangsläufig häufigere Kontakte erforderte. Eine besondere Vernetzungsform stellt die Vermengung eines politischen Amtes mit einer Funktion in der Privatwirtschaft in Personalunion dar. In beiden Ländern war es üblich, dass Eisenbahnunternehmer auch gleichzeitig Abgeordnete waren. Für Eisenbahnunternehmer war ein Sitz im Parlament aus mehreren Gründen von Bedeutung. Zum einen bot er direkte Einflussmöglichkeiten durch Abstimmungen und die Möglichkeit, durch Reden und die Arbeit in Untersuchungsausschüssen aktiv Einfluss zu nehmen. Darüber hinaus versprach ein Sitz im Parlament aber auch einen gehobenen sozialen Status und 1222 Die überwältigende Mehrheit der Director MPs in Großbritannien gehörte der »schweigenden« Gruppe des Parlaments an, die sich nicht oder nur äußerst selten an den Debatten beteiligte. Roberts: The Development, S. 237.

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Resümee

die Möglichkeit, politische Verbindungen zu knüpfen und zu pflegen. Director MPs befassten sich in der Regel fast ausschließlich mit wirtschaftspolitischen Fragen. Weitergehende politische Ambitionen hatten sie selten. Dies ist ein starkes Indiz dafür, dass sie ihr politisches Amt in erster Linie aus interessenpolitischen Erwägungen heraus angestrebt hatten. Um ihre Kandidatur für das Parlament erfolgreich zu gestalten, griffen Eisenbahnunternehmer auf verschiedene Praktiken der Wahlbeeinflussung zurück. Angefangen bei eher unspezifischen Formen wie direktem Stimmenkauf und Wahlgeschenken, über Spenden für wohltätige Zwecke, bis hin zu eisenbahnspezifischen Praktiken wie zum Beispiel dem Wahlkampfversprechen, den Wahlkreis an das Schienennetz des eigenen Unternehmens anzuschließen, ließen sie keine der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ungenutzt. Im Zuge des Eisenbahnbaus entwickelten sich in Großbritannien außerdem sogenannte Railway Towns, in denen Eisenbahnunternehmen die größten Arbeitgeber waren und dadurch das politische Leben dieser Orte nachhaltig prägten und bestimmten. In Frankreich war diese Form der Wahlbeeinflussung weniger verbreitet, weil die Unternehmen stark auf Paris konzentriert waren und dort stärker mit anderen sozio-ökonomischen Netzwerken in Konkurrenz standen. Anzeichen für ähnliche Strukturen finden sich jedoch während der Kandidatur von Isaac Pereire, während der Stellen in seinem Unternehmen als Gegenleistung für Wählerstimmen in Aussicht gestellt wurden. Hier zeigen sich Parallelen zum sogenannten Spoils-System in den USA. Allerdings mit dem bedeutsamen Unterschied, dass im Spoils-System nicht Stellen in industriellen Großunternehmen, sondern in der öffentlichen Verwaltung, die mit jedem Regierungswechsel nahezu komplett ausgetauscht wurde, als Gegenleistung für Wählerstimmen angeboten wurden.1223 In Frankreich bot sich Eisenbahnunternehmern alternativ die Möglichkeit, sich in das staatliche Wahlpatronagesystem zu integrieren und dadurch ihre Aussichten auf einen Wahlerfolg immens zu steigern. Diese Entscheidung war jedoch auch mit der politischen Bindung an die Regierungspartei und der Aufgabe der eigenen politischen Unabhängigkeit verbunden. In der Exekutive war eine Vermengung von Posten in der Privatwirtschaft und öffentlicher Ämter in Personalunion weniger üblich. In Frankreich durften Ingenieure der Ponts et Chauss¦es zwar in der Privatindustrie tätig werden und dort sogar leitende Positionen übernehmen. Dieser Vorgang war allerdings unter den Vorgaben des Cong¦ Illimit¦ streng reglementiert und mit dem tem1223 Vgl. Pessen, Edward: Corruption and the Politics of Pragmatism. Reflections on the Jacksonian Era. In: Before Watergate. Problems of Corruption in American Society. Hrsg. von Eisenstadt, Abraham S.; Ari Hoogenboom u. Hans Trefousse. New York 1978. S. 79–98.

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porären Verlust von Privilegien verbunden. Die Mitgliedschaft der Ingenieure im Corps blieb dabei jedoch unangetastet und eine Rückkehr in den Staatsdienst war jederzeit möglich. In Großbritannien gab es keinen vergleichbaren Mechanismus, ein Wechsel aus dem Staatsdienst in die Privatwirtschaft und umgekehrt war jedoch mit einem gewissen zeitlichen Abstand gestattet. Auf der Führungsebene finden sich in beiden Ländern keine Beispiele für Wechsel zwischen Eisenbahnbranche und Exekutive. Ein singuläres Phänomen in Großbritannien war die Professionalisierung und personelle Differenzierung der parlamentarischen Interessenvertretung durch Parliamentary Agents in den 1830er und 1840er Jahren und die Gründung eines eigenen Interessenverbandes der Branche in den 1850er und 1860er Jahren. Beide Entwicklungen veränderten die Praktiken der Interessenvertretung und waren zumindest zu Teilen das Resultat von Korruptionsdebatten. Aufgrund der unterschiedlichen Staatsauffassungen und anderer politischer Rahmenbedingungen hatten diese Entwicklungen keine vergleichbaren Pendants in Frankreich. Der Siegeszug des Aktienhandels fügte als neue Form des ökonomischen Kapitals eine weitere Komponente der Netzwerkbildung hinzu. Er hatte den Effekt, dass wesentlich mehr Personen ein Interesse an einem einzelnen Unternehmen hatten und sich Interessengemeinschaften bildeten, in denen sich die Akteure nicht notwendigerweise persönlich kannten. So konnten Eisenbahngesellschaften im Parlament auf die Unterstützung von Abgeordneten zählen, die Aktien ihres Unternehmens hielten, ohne dass das Unternehmen weitere eigene Ressourcen investieren musste. Die Vergabe von Aktienpaketen an Parlamentarier war daher auch ein beliebtes Mittel dieser Zeit, um politische Akteure längerfristig an das Unternehmen zu binden und stellte ein spezifisches Einflussmittel von Eisenbahndirektoren sowohl in Frankreich wie auch in Großbritannien dar. Aus dem Aktienhandel ergab sich noch eine weitere Form der Akkumulation von ökonomischem Kapital. Spekulative Anlagen, die auf Kursschwankungen wetteten, ermöglichten es, innerhalb kürzester Zeit hohe Gewinne zu erzielen. Spekulation war besonders erfolgversprechend, wenn man über Insiderinformationen, eine spezielle Form des sozialen Kapitals, verfügte. Parlamentarier nutzten diese Möglichkeit ebenso wie Angehörige der Exekutive, angefangen bei Ministern bis hinunter in die Ministerialbürokratie. Die Gewinnerwartungen der verschiedenen Akteure sind zumeist klar ersichtlich. Eisenbahngesellschaften und ihre Interessenvertreter waren darum bemüht, politischen Einfluss zu erhalten, sprich ihr soziales Kapital zu erhöhen. Einflussnahme konnte dazu dienen, die Bewilligung einer Private Bill oder den Zuschlag einer Konzession sicherzustellen. Sie konnte aber auch das restriktive Ziel verfolgen, wirtschaftlichen Konkurrenten den Zugang zu politischen In-

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stitutionen zu erschweren und ihre Projekte zu blockieren. Die Interessenpolitik der gesamten Branche war zumeist darauf ausgerichtet, regulierendes Eingreifen durch den Staat zu minimieren. In Großbritannien waren diese Bemühungen erfolgreicher als in Frankreich, weil das vorherrschende politische Klima und die Deutungshoheit des politischen Liberalismus häufig im Einklang mit den Argumenten der Eisenbahngesellschaften standen. Staatsbedienstete und Abgeordnete zogen aus den Verbindungen vielfältigen Nutzen. Zum einen waren sie darauf bedacht, eigene Netzwerke zu erweitern und politische Unterstützung zu sichern. Zum anderen waren ökonomische Motive häufig ein bedeutender Handlungsanreiz. Zusammenfassend erscheint der Untersuchungszeitraum in Bezug auf Praktiken der ökonomischen Interessenpolitik als eine Phase des Übergangs. Die ständischen Korporationsformen der Frühen Neuzeit, dies gilt besonders für Frankreich, waren in der Auflösung begriffen und traditionelle Patronageformen, die auch zur ökonomischen Interessenvertretung genutzt werden konnten, hatten an Legitimität und Bedeutung verloren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht mehr existierten oder genutzt wurden. Die Eisenbahnbranche in ihrer Gesamtheit steht exemplarisch für eine neu entstandene Interessengruppe, die sich in der politischen Landschaft erst noch etablieren musste. Sie tat dies zunächst weitestgehend im informellen Rahmen, ohne eigene Organisationen zu bilden. Ab den 1860er Jahren etablierten sich in Großbritannien die ersten dauerhaft agierenden Unternehmerverbände und leiteten damit die Phase organisierter Interessenvertretung ein, die ab dem späten 19. Jahrhundert immer bedeutender wurde. In Frankreich wurde diese Entwicklung aufgrund eines Interessenverbänden gegenüber sehr kritischen Politik- und Staatsverständnisses erheblich verzögert und setzte erst um die Jahrhundertwende mit der Gründung der ersten Arbeitgeberverbände ein.1224 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann schließlich auch der Siegeszug der politischen Massenparteien, in dessen Verlauf neue Netzwerkstrukturen an Bedeutung gewannen, die sich innerhalb der Organisationen bildeten.1225

1224 Vgl. Fraboulet, DaniÀle: Quand les patrons s’organisent. Strat¦gies et pratiques de l’Union des industries m¦tallurgiques et miniÀres. 1901–1950. Villeneuve-d’Ascq, 2007. Auch: Weber, Petra: Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 1918–1933/39. München 2010. S. 21. 1225 Zur Organisationspatronage vgl. Engels: Geschichte der Korruption, S. 32.

Ist wirtschaftliche Interessenpolitik zwangsläufig prekär?

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Ist wirtschaftliche Interessenpolitik zwangsläufig prekär? Die Grenzen zwischen legitimer Interessenvertretung und korrupter Einflussnahme waren und werden wohl auch in Zukunft fließend bleiben. Hierbei bewirkten nicht nur sich wandelnde Werte- und Normensysteme Ambivalenzen, sondern auch variable Rahmenfaktoren. Das »Gemeinwohl« bildete in beiden Untersuchungsländern die Referenzgröße, an der sich Amtsträger zu orientieren hatten. Das grundsätzliche Problem blieb jedoch stets, zu definieren, was genau das »Gemeinwohl« verkörperte, und nachzuweisen, dass bestimmte politische Entscheidungen durch partikulare Einflussnahme zustande gekommen waren. Es scheint ein Signum der politischen Moderne zu sein, dass Gemeinwohlkonzepte zunehmend abstrakt und nicht mehr an Personenverbände oder lokale Gruppen gebunden waren.1226 In Korruptionsdebatten wurde nur äußerst selten der Versuch unternommen, den Begriff des Gemeinwohls genauer zu definieren.1227 In der Regel bildete es daher einen weitestgehend unbestimmten Gegenpol zu Partikularinteressen. Zusätzliche Probleme in der Bewertung von Praktiken der Interessenpolitik entstanden dadurch, dass die verschiedenen Ebenen der Interessenpolitik – der Unternehmen, der gesamten Branche und einzelner Unternehmer – in der Regel von den gleichen Personen und über die gleichen persönlichen Verbindungen betrieben wurden. Handlungsleitende Motivationen waren daher nicht immer klar ersichtlich. Trotz dieser grundsätzlichen Ambivalenz können Tendenzen aufgezeigt werden. Kurzlebige Vernetzungspraktiken der Interessendurchsetzung waren anfällig für Korruptionsvorwürfe, da die Verbindungen der beteiligten Akteure relativ gut nachvollziehbar waren und die Gewinnaussichten wenig Spielraum für Umdeutungen boten. Je klarer der politische Aushandlungsprozess zum Gegenstand von Warentausch wurde und nicht mehr im Bereich eines impliziten Gabentauschs angesiedelt war, desto geringer fiel seine Legitimität aus und desto eindeutiger war er als Korruption zu brandmarken. Bestechung von Amtsträgern, egal ob sie in der Form von Bargeld oder der unentgeltlichen Vergabe von Aktienpaketen stattfand, stellte sowohl in Großbritannien wie auch in Frankreich einen klaren Normbruch dar, der nicht durch andere Argumente legitimiert werden konnte. In ihrer sozialen Signifikanz unterschieden sich beide Praktiken kaum voneinander, da sie im Endeffekt darauf hinausliefen, dass politische oder administrative Entscheidungen käuflich waren und die Moti1226 Engels: Geschichte der Korruption, S. 173. 1227 Allein schon die verschiedenen Begrifflichkeiten, die zur Umschreibung des »Gemeinwohls« verwendet wurden, verdeutlichen die Ambivalenz des Konzeptes. Zur Problematik vgl. Engels: Politische Korruption, S. 317; Kerkhoff, KROEZE, WAGENAAR: Corruption, S. 19.

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vation des Amtsträgers rein auf ökonomischen Zugewinn ausgelegt war. Die Versuche von George Hudson und Jules MirÀs, ihre Geschäftspraktiken dadurch zu rechtfertigen, dass sie zum Wohle der Anleger gehandelt hätten und damit auf ein gruppenbezogenes Gemeinwohl rekurrierten, hatten daher wenig Aussicht auf Erfolg. Hier zeigen sich grundsätzliche Unterschiede zum Patronageethos der Frühen Neuzeit und ihrer zumindest in Teilen erfolgreichen Legitimierung eines partikularen Gemeinwesens. Im 19. Jahrhundert blieb in solchen Fällen nur Abstreiten als Verteidigungsstrategie, denn eine Rechtfertigung war nicht möglich. Ähnliches gilt für das Verbot von Vorteilsgewährung und -annahme im Amt, die zwar nicht zwangsläufig mit einem direkten Zugewinn an ökonomischem Kapital für den Vertreter des Staates einhergehen musste, jedoch relativ klar als ein Verstoß gegen das Gebot der Sachgerechtigkeit und der Neutralität des Amtsträgers, beziehungsweise der Gleichbehandlung durch den Staat und der politischen Partizipation angeprangert werden konnte. Dass diese in der Theorie absoluten Kategorien in der Praxis nicht umgesetzt werden konnten, offenbart sich in erster Linie im Verhältnis von Angehörigen der Exekutive zur Privatwirtschaft. Die Entscheidungsfreiheit von Ministern, wen sie zu Gesprächen und Verhandlungen einluden, wurde regelmäßig zum Gegenstand von Kritik. Dabei gilt, je komplexer und langlebiger Vernetzungsformen angelegt waren, die zu Vorteilsgewährung und -annahme führten, desto mehr Spielraum für Interpretationen und Bewertungen boten sie. Die verschiedenen Ebenen der Interessenvertretung weisen ebenfalls unterschiedliche Legitimationsmöglichkeiten auf. Reine Einzelinteressen wurden in der Regel als unzulässig bewertet. In Bezug auf Interessen von Unternehmen konnte zumindest der Versuch einer Rechtfertigung unternommen werden, indem die Aktionäre und Angestellten des Unternehmens, die wirtschaftlich von ihm abhängig waren, als eigenes Gemeinwohl dargestellt wurden. Auf der Ebene der Branchenvertretung lassen sich deutliche Unterschiede zwischen beiden betrachteten Ländern feststellen. In Frankreich hatte wirtschaftliche Interessenvertretung stets mit einem Legitimationsdefizit zu kämpfen und verblieb daher weitestgehend im informellen Rahmen. In Großbritannien hingegen konnten die Interessen der gesamten Branche deutlich effektiver legitimiert werden. Dies ging so weit, dass der Railway Interest als offizieller Verhandlungspartner der Regierung in Bezug auf regulierende Gesetzgebung zur Eisenbahnbranche auftreten konnte. Problematisch wurde die Einflussnahme des Railway Interest erst dann, wenn er als konkurrierende Macht des Staates wahrgenommen wurde, der Gesetzgebung selbst gestalten konnte.1228 In eine ähnliche Richtung lief auch die Kritik an Kartellen und Mo1228 »They had too much influence, the present companies, they were becoming a power in the

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nopolen. Sie waren angreifbar, weil Eisenbahngesellschaften staatliche Ressourcen in Form von Privilegien und Konzessionen, in Frankreich zusätzlich noch durch Zinsgarantien und staatliche Hilfsgelder, erhielten. Dadurch verletzten sie das Ideal der Chancengleichheit und benachteiligten konkurrierende Unternehmen und Handelspartner unzulässig. Monopole führten nach Ansicht der Kritiker fast zwangsläufig zu Missbrauch, wobei es nebensächlich war, ob politische oder ökonomische Macht die Grundlage dieser Monopole bildete.

Zur Funktion von Korruptionsvorwürfen Betrachtet man die Aussagen der Ankläger über ihre Motivation, so entfaltet sich ein altruistisches Narrativ, das erneut auf das Gemeinwohl rekurriert. Korruptionsvorwürfe dienten nach Angabe der politischen Akteure vor allem dazu, die partikularen Interessen der beteiligten Personen aufzudecken und den politischen Prozess dadurch transparenter zu machen. Durch Transparenz wiederum versprach man sich Selbstregulierung des Verhaltens durch öffentlichen Druck. Untersucht man die Umstände von Korruptionsdebatten jedoch etwas genauer, wird schnell klar, dass Korruptionsvorwürfe häufig aus einer konkreten politischen oder ökonomischen Konkurrenzsituation heraus entstanden. Die Unbestimmtheit des Gemeinwohl-Konzepts eröffnete auch die Möglichkeit, es situationsgebunden mit unterschiedlichen Inhalten zu füllen und zu instrumentalisieren. Korruptionsvorwürfe wurden häufig mit dem Ziel vorgebracht, politische oder wirtschaftliche Gegner zu diskreditieren und somit strategische und taktische Vorteile im Konkurrenzkampf zu erzielen. Dieser Konkurrenzkampf verlief entlang vielfältiger Konfliktlinien. Angefangen bei rein wirtschaftlichen Auseinandersetzungen innerhalb der Eisenbahnbranche über die Konkurrenz mit anderen Transportmitteln bis hin zu Streitigkeiten mit Zulieferbetrieben und Kunden entfaltet sich ein breites Spektrum. Ein Aspekt, der in der Untersuchung im Rahmen der Wahlkorruption und der Monopoldebatten in Frankreich immer wieder anklingt, sind die Aushandlungsprozesse zwischen Vertretern der Peripherie und dem Zentrum in Frankreich, die anlässlich der Planung des Streckennetzes häufig für Konflikte sorgten und primär im Parlament ausgetragen wurden.1229 state: and the waste of means by delay and diversion of traffic was intolerable.« William Gladstone. Zitiert nach: Derby, Edward H.: Disraeli, Derby and the Conservative Party. Journals and Memoirs of Edward Henry, Lord Stanley, 1849–1969. Hrsg. von John Vincent. Hassocks 1978, S. 229. 1229 Walter Sperling hat unter diesem Aspekt den Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes mit sehr interessanten Ergebnissen untersucht. Diese Beziehungen auch im Hinblick auf ihre Vernetzungspraktiken und auf Mechanismen der Entscheidungsfindung in Frankreich genauer zu untersuchen, wäre sicherlich interessant. Sperling, Walter: Der Aufbruch der

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Derartige partikulare Motive konnten jedoch nur bedingt in der Öffentlichkeit kommuniziert werden, weil Korruptionsvorwürfe ansonsten ebenfalls leicht als eigennützig enttarnt und in den Bereich der Verleumdung und unstatthaften Skandalisierung gerückt wären, was wiederum einen eigenen Normbruch dargestellt hätte. Es liegt in der Natur der Sache – dem Austausch von Ressourcen zwischen einzelnen Akteuren – dass nahezu alle Kritiker die Wurzel politischer Korruption in der Profitgier eben dieser Akteure sahen. Häufig wurde Profitstreben jedoch als unumstößlich hingenommen und daher nach zusätzlichen Erklärungsmodellen gesucht, die begründen konnten, weshalb in einer spezifischen Situation Korruption zu einem besonderen Problem geworden war. Hier lenkte sich der Blick schnell auf politische Rahmenbedingungen, die Korruption vermeintlich beförderten. Daher konnten Korruptionsvorwürfe auch gut eingesetzt werden, um politische Regimes, bestimmte Herrschaftsformen oder auch das gesamte Wirtschaftssystem anzugreifen. Hier finden sich gelegentlich auch Mischformen, in denen persönliche Vorwürfe dazu genutzt wurden, abstrakter Systemkritik mehr Gewicht und Glaubwürdigkeit zu verleihen. In Frankreich war regimekritische Korruptionskritik besonders effektiv. Insbesondere während der Julimonarchie richtete sich die Kritik fundamentaloppositioneller Gruppen vor allem gegen das politische System, eine politische Faktion und eine eingegrenzte Gruppe der Bourgeoisie. In Großbritannien war die Kritik zugleich diffuser und allgemeiner. Hier nahm man einen allgemeinen Sittenverfall der wirtschaftlichen und politischen Elite wahr, der durch verstärktes Auftreten von White Collar Crime, dem Missbrauch gesellschaftlicher Vorrechte durch Adelige sowie die Verbindung von persönlichen Interessen mit einem öffentlichen Amt durch Director MPs symptomatisch zutage trat. Während der Pionierphase richtete sich die Kritik vor allem gegen den Adel, also eine gesellschaftlich privilegierte Schicht, und nicht gegen Vertreter einer ökonomischen Interessengruppe. Ab den 1840er Jahren ist eine Verlagerung der Debatten in Richtung der Eisenbahnunternehmer zu beobachten. In Großbritannien waren Debatten über Korruption im Eisenbahnbau in der Regel nicht regimekritisch, weil die Regierung nicht so eng in den Eisenbahnbau involviert war. Zudem waren die politischen Exklusionstendenzen in Großbritannien weniger stark. Tories und Whigs waren zwar politische Konkurrenten, oppositionelle Gruppen fühlten sich jedoch nicht systematisch aus dem politischen Prozess ausgeschlossen. Die politischen Lager waren daher

Provinz. Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich. Frankfurt am Main [u. a.] 2011 (=Campus historische Studien 59).

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in Großbritannien nicht so stark polarisiert, wie dies in Frankreich der Fall war.1230 Politisch dogmatisch motivierte Akteure versuchten das Problem der Korruption zu abstrahieren und Fehler in den von ihnen abgelehnten politischen oder wirtschaftlichen Systemen aufzudecken. Frühsozialisten kamen zu dem Schluss, dass die Privatwirtschaft das grundlegende Problem sei und richteten daher ihre Korruptionsanklagen in diese Richtung. In Frankreich verbanden frühsozialistische Angriffe auf das kapitalistische Wirtschaftssystem Korruptionsvorwürfe häufig mit antijüdischer Propaganda, um ihren Argumenten mehr Nachdruck zu verleihen.1231 In Großbritannien dominierten in Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau ganz klar liberale Ansichten, die es zum Ziel hatten, den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft möglichst gering zu halten. Als Argument wurde die Ineffizienz und Korruptionsanfälligkeit, insbesondere der Exekutive angeführt. Hier setzten frühsozialistische Strömungen, wie etwa der Chartismus, andere Schwerpunkte in ihrer Agitation. Antijudaismus spielte in den Korruptionsdebatten in Großbritannien keine Rolle, wohl auch, weil im britischen Eisenbahnbau kaum jüdische Unternehmer aktiv waren. Allerdings spielte Antisemitismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in Großbritannien eine zunehmende Rolle in Korruptionsskandalen, die jedoch nicht die dezidierte Verbindung von Antikapitalismus frühsozialistischer Prägung und Antisemitismus aufweisen.1232 Die konfessionelle, politische und soziale Heterogenität der Eisenbahnunternehmer wurde, von dieser Ausnahme abgesehen, in den Debatten selten thematisiert. Eisenbahnunternehmer wurden primär als geschlossene Gruppe wahrgenommen und über ihre Erwerbstätigkeit definiert. Ihr religiöser und sozialer Hintergrund spielte nur eine untergeordnete Rolle. Die system- und regimekritischen Debatten waren klaren Konjunkturen unterworfen. In Großbritannien ist eine Blütezeit verschiedener Korruptionsdebatten während der Railway Mania in den 1840er Jahren zu verzeichnen, wohingegen die 1850er und 1860er Jahre relativ ruhige Jahrzehnte waren. In Frankreich fielen Konjunkturen besonders stark mit politischen Krisenzeiten zusammen. Hier gab es schon vor der Revolution 1789 eine Welle der Korrup1230 Zu einem analogen Befund gelangt Frank Bösch allgemein zu Korruptionsdebatten während des 19. Jahrhunderts in Großbritannien. Bösch, Frank: In Defence of Taxpayers. Korruptionspraktiken und -wahrnehmungen im edwardianischen Großbritannien. In: Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. Hrsg. von Jens Ivo Engels, Andreas Fahrmeir u. Alexander Nützenadel. München 2009. S. 175–201, S. 177. 1231 Zur häufigen Verbindung von Antikapitalismus und Antisemitismus auch abseits frühsozialistischer Kreise vgl.: Pulzer, Peter G. J.: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914. Göttingen 2004, S. 101–103. 1232 Bösch: In Defence, S. 182.

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tionsdebatten, die sich im Vorfeld der Revolution von 1848 wiederholte und diesmal auch den Eisenbahnbau mit einschloss. Die Korruptionskommunikation verlor während des Zweiten Kaiserreichs einen Großteil ihrer Wirkungsmacht. In autoritären Staatsformen wird die Existenz von Korruption in der Regel schon aus machtpolitischen, aber auch aus ideologischen Gründen geleugnet und Korruptionsdebatten daher weitgehend unterbunden. Liberale Staaten hingegen lassen Korruptionskritik eher zu.1233 Dies bestätigt sich auch am Beispiel der autoritären Phase des Zweiten Kaiserreiches, wobei der ideologische Aspekt hier in den Hintergrund tritt. Historische Bezugnahmen finden sich in den Debatten häufig. In der überwältigenden Mehrheit der Fälle wurden sie dazu verwendet, um ein Fortschrittsnarrativ zu entwerfen. Am deutlichsten zeichnete sich die Reflektion über die Moderne in den Debatten immer dann ab, wenn aktuelle Phänomene mit der Situation im als »korrupt« diskreditierten Ancien R¦gime verglichen wurden. Bezüge zum Ancien R¦gime verdeutlichen, dass historische Akteure der festen Überzeugung waren, dass sie in einer fortschrittlichen Gesellschaft lebten, in der Ressourcen gerechter verteilt sein müssten, in der Privilegien bestimmter Gruppen besonders zu rechtfertigen wären und eine klarere Trennung zwischen staatlichen Ämtern und privaten Interessen angestrebt werden sollte. In Großbritannien herrschte trotzdem grundsätzlich eine positive Bezugnahme zur eigenen politischen Vergangenheit, die sich in der Ansicht widerspiegelte, dass parlamentarische Traditionen gewahrt werden müssten. Es bestand ein breiter Konsens innerhalb der politischen Elite, dass die Essenz der britischen Verfassung, insbesondere der Parlamentarismus, erhaltenswert war und nötigenfalls durch Reformen neuen Rahmenbedingungen angepasst werden konnte. Dies wurde besonders deutlich in dem Reformprozess des Private Bill-Verfahrens, der ein direktes Resultat der gestiegenen Anforderungen durch den Eisenbahnbau war und darauf abzielte, eine höhere Effektivität zu erreichen sowie Missbrauchsmöglichkeiten zu beseitigen. Im Gegensatz dazu war der Bruch mit dem Ancien R¦gime in Frankreich klarer verlaufen. Anstelle des politischen Systems rückte hier die Nation in ihrer Gesamtheit als positive Identifikationsfigur in den Vordergrund und begünstigte Wechsel zwischen politischen Systemen. Die weitreichende Delegitimierung des Ancien R¦gime spiegelt sich in der rhetorischen Figur der »Finanzaristokratie«, die in frühsozialistischen Kreisen ihren Ursprung hatte, aber schon bald auch von anderen politischen Gruppen verwendet wurde. Der Begriff der Finanzaristokratie war in Großbritannien zwar ebenfalls geläufig, er hatte jedoch nicht die in dem Maße abwertende Konnotation, die ihm in Frankreich anhaftete. Im Vereinigten Königreich war der Übergang von der 1233 Fahrmeir : Investitionen, S. 70–71.

Politische Reformbestrebungen

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Frühen Neuzeit zur Moderne ein fließender Prozess und nicht durch klare Zäsuren gekennzeichnet. Der Adel genoss daher auch weiterhin einen gesellschaftlichen und politischen Führungsanspruch, der zwar im Rahmen von Korruptionsdebatten hinterfragt werden konnte, jedoch nur selten grundsätzlich bestritten wurde.

Politische Reformbestrebungen – Zur Wirkungsmacht von Korruptionsdebatten Korruption war in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts kein gottgegebenes Phänomen, das geduldig ertragen werden musste, sondern konnte durch Reformen eingedämmt werden. Dies wird aus nahezu allen untersuchten Korruptionsdebatten ersichtlich. Der Kampf gegen Korruption konnte beim Individuum ansetzen und über eine »moral reform«, sprich die Anpassung ethischer Standards, wie ihn beispielsweise Samuel Smiles propagierte, geschehen. Weitaus häufiger wurde er jedoch über eine Neuordnung der staatlichen Rahmenbedingungen angestrebt. Korruptionsdebatten waren nicht nur der Ausdruck eines Aushandlungsprozesses, in dem Normen verhandelt wurden, sondern entwickelten eine eigene Wirkungsmacht, indem sie Reformprozesse unter dem Banner der Korruptionsbekämpfung anstießen und beschleunigten. Allerdings – diese Einschränkung ist wichtig – waren Korruptionsdebatten in der Regel nicht der alleinige Auslöser für Reformprozesse, sondern flankierten andere zumeist an Sachthemen orientierte Debatten. Korruptionsbekämpfung war deshalb bedeutsam, weil das Fehlverhalten einzelner Akteure einer staatlichen Institution immer auch auf dieselbe zurückfiel. Eine wichtige Bezugsgröße für die Bewertung des Verhaltens von Amtsträgern war daher stets die Legitimität der Organisation, der sie angehörten. Legitimität konnte sich in verschiedensten Begriffen wie »Ehre«, »Ansehen« und »Respektabilität« einer Organisation, einer Regierung, aber auch einer Herrschaftsform widerspiegeln, die vermeintlich Schaden genommen hatte. Dies war sowohl in Großbritannien wie auch in Frankreich der Fall und trifft auf die Legislative ebenso zu wie auf die Exekutive.1234 In Großbritannien reagierten Amts- und Mandatsträger äußerst sensibel auf Korruptionsvorwürfe, welche die Legitimität des parlamentarischen Systems infrage stellten. Im Laufe der Untersuchungsperiode wurden eine ganze Reihe politischer Reformen durchgeführt und neue Verhaltensregeln für Amtsträger geschaffen, die es zum Ziel hatten, als illegitim empfundene Einflussnahme zu 1234 Sellin: Gewalt und Legitimität, S. 3–8.

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verhindern. Die Annahme von Geschenken war Parlamentariern ohnehin schon seit dem 17. Jahrhundert untersagt. Bis in die 1840er Jahre wurde das System der Untersuchungsausschüsse in Großbritannien reformiert. Parlamentarier mussten für die Mitarbeit in Untersuchungsausschüssen ihre Neutralität deklarieren und es wurde von ihnen erwartet, dass sie sich bei Abstimmungen zu Private Bills, an denen sie persönliche Interessen hatten, der Stimme enthielten. Hier haben wir es mit einer »weichen« Form der Regulierung zu tun, die auf persönliche Ehre und das Urteilsvermögen der Abgeordneten als regulierende Instanz setzte. Das Verbot für Abgeordnete, Canvassing zu betreiben, oder persönlich als Parliamentary Agent tätig zu werden, folgte einem ähnlichen Mechanismus. Viele dieser Reformen waren direkte Reaktionen auf Korruptionsdebatten im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau. Dennoch wurden häufig Stimmen laut, die beklagten, dass Korruption als ein Kavaliersdelikt behandelt würde. Ein Kommentator der Times sah die Bestechungen als das schwerwiegendste Vergehen George Hudsons an und wunderte sich, dass die Enthüllungen während der Gerichtsverhandlung 1851 keine weiteren Untersuchungen nach sich gezogen hatten. Er schlussfolgerte daraus, dass augenscheinlich und entgegen der häufigen Beteuerungen der politischen Elite kein nachdrücklicher Aufklärungswille bestand.1235 Der liberal reformerische Spectator zeigte sich ebenfalls ernüchtert darüber, dass die Bestechlichkeit der Parlamentarier, die im Zuge der Untersuchungen zum Fall Hignett bekannt wurde, keine tiefgreifenderen Reformen bewirkt hatte.1236 Auch in Frankreich war Korruptionsbekämpfung nach Ansicht der meisten Kritiker eine Aufgabe des Staates. Korruptionskritik war hier jedoch weniger erfolgreich darin, Reformprozesse anzustoßen. Die Versuche oppositioneller Gruppen während der Julimonarchie, Unvereinbarkeiten (Incompatibilit¦s) für Parlamentarier einzuführen und somit eine klarere Trennung zwischen Privatwirtschaft und Politik zu erzwingen, scheiterten ebenso wie das Drängen auf eine Reform des Wahlrechts. Für die Exekutive zeigt sich die Fokussierung auf den Staat und die Entindividualisierung der Korruptionsbekämpfung sogar in noch stärkerem Maße. Mitglieder der Ministerialbürokratie waren im Gegensatz zu Abgeordneten bezahlte Staatsdiener und klaren Verhaltensregeln unterworfen. In Frankreich verfügte die Pont et Chauss¦es über organisationsinterne Kontrollmechanismen, die das Verhalten der Angehörigen des Corps genauestens überwachten. In 1235 The Times (10. 12. 1853), S. 8. 1236 »Outwardly all is morality and primness. But the virtue is only skin deep. The equanimity with which the detection of gross corruption in a legislator has been received, betrays that men were aware of the existence of such practices, though they chose to affect ignorance.« The Spectator (19. 7. 1845), S. 14.

Politische Reformbestrebungen

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Großbritannien waren die Kontrollmechanismen weniger formalisiert, was wohl auch auf die geringere Anzahl der Ministerialbeamten zurückzuführen ist. Gleichzeitig geht aus den Debatten zusätzlich auch eine klare soziale Hierarchisierung hervor, die nach dem gesellschaftlichen Status des Delinquenten eine differenzierte moralische Wertung vornahm. Je höher eine Person sozial gestellt war, desto größer war ihre individuelle Verantwortung und Pflicht, der Versuchung von Korruption zu widerstehen. Von Ministern und Abgeordneten wurde ein höheres Maß an Selbstdisziplin erwartet als von Ministerialbeamten, für die im Gegenzug klarere Verhaltensregeln vorgegeben wurden. Die komplette Ausblendung des Verhaltens von Eisenbahndirektoren in den Debatten zur Ministerialbürokratie erhärtet diesen Befund und steht kontrastierend zu den Forderungen nach einer Verbesserung der unternehmerischen Moral im Zusammenhang mit Spekulation und Wirtschaftskriminalität. Der Wandel des Verhältnisses zwischen privater Wirtschaft und dem Staat war mit dem Ende des Untersuchungszeitraumes natürlich nicht abgeschlossen, allerdings änderten sich die Rahmenbedingungen erneut. Eine Skandalisierung von Korruptionsfällen im Sinne einer weit verbreiteten öffentlichen Empörung fand sowohl in Frankreich wie auch in Großbritannien im Zeitraum zwischen 1830 und 1870 in Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau nur in Ausnahmefällen statt. Für Frankreich wären vor allem die Kontroversen um Teste und Despanse-CubiÀre sowie bedingt der Fall MirÀs zu nennen, der jedoch stark von der ausländischen Berichterstattung getragen wurde. In Großbritannien fielen die Enthüllungen über George Hudson und eingeschränkt noch der Fall Hignett in die Kategorie eines Skandals.1237 In den meisten Fällen standen diese Korruptionsfälle in Verbindung mit Finanz- und Betrugsskandalen, die ihnen zusätzliche öffentliche Sprengkraft verliehen. Einiges spricht dafür, dass Skandale, bedingt durch verschiedene Faktoren erst nach der Untersuchungsperiode mit dem Beginn der Hochmoderne eine Hochphase erlebten. Dies kann auf mehrere Entwicklungen zurückgeführt werden: die Einführung von Diäten für Parlamentarier bewirkte eine veränderte Bewertung von Vernetzungspraktiken zwischen der Wirtschaft und der Politik und förderte die Herausbildung von Berufspolitikern als eigenständige Profession. Die Entwicklung des modernen Parteiensystems hingegen schuf neue Begünstigungssysteme und eine klarere Frontstellung zwischen politischen Lagern. Die Ausweitung der Presselandschaft schließlich sorgte dafür, dass breitere Bevölkerungsschichten einbezogen und Informationen schneller ver-

1237 Bösch, Frank: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914. München 2009 (=Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 65), S. 9.

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breitet werden konnten.1238 Eine Konstante blieb jedoch: Infrastrukturen – allen voran der Eisenbahnbau – blieben auch während der Hochmoderne ein wichtiger Gegenstand von Interessenpolitik und nicht selten das Thema von Korruptionsdebatten, nun allerdings unter gewandelten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

1238 Zu Großbritannien vgl. ebd., S. 470–478.; zu Frankreich vgl. Engels: Revolution und Panama, S. 163–171. Kürzlich zu Korruptionsskandalen während der Weimarer Republik vgl. Klein, Annika: Korruption und Korruptionsskandale in der Weimarer Republik. Göttingen 2014 (= Reihe des internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert«).

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen a)

Ungedruckte Quellen

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Archives Nationales, Roubaix (AN, Roubaix) 13 AQ 34 13 AQ 631 48 AQ 3349 60 AQ 225 60 AQ 221 60 AQ 226 65 AQ E 563 65 AQ E 565 65 AQ E 565 77 AQ 44

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Quellen- und Literaturverzeichnis

British Library (BL) Add. Mss. 44337 Add. Mss. 41989 Add. Mss. 88942

National Archives, Kew ( NA, Kew) PRO RAIL 1008/56 PRO RAIL 384/1 PRO RAIL 384/6 MT 11/6 MT 11/24 ZLIB 15/43/18 Korrespondenz von William Henry Fox Talbot. Online verfügbar unter : http://foxtalbot. dmu.ac.uk/index.html. Zuletzt geprüft am 10. 04. 2015

b)

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Personenregister

Allport, James 151, 279 Apponyi, Rudolphe de 307 Aytoun, William 95 Bagshaw, William 193, 195 Balzac, Honor¦ 74 Bankes, George 237 Barbier, Auguste 74 Baring, Thomas 298 Baroche, Pierre Jules 303, 314f. Barrot, Odilon 78, 299 Bartholony, FranÅois 112f., 161, 167, 179, 259 Baude, Jean-Jacques 297 Behic, Louis 304 Belmontet, Louis 179 Benoist, Denis 256 Bentham, Jeremy 239, 248 Bentinck, George 90, 202 B¦rard, Simon 252f. Beyens, EugÀne 169 Billaut, Adolphe 305 Black, John 106, 108 Bloomfield, Charles James 44 Blount, Edward 204, 298 Boldero, Henry 289, 291–293 Bonham, Francis 289–293 Bonaparte, Napoleon; Napoleon I. 114, 126 Bonnardet, Louis 72 Booth, Henry 43 Booth, James 240 Bos Darnis, Pascal 174

Bright, John 136, 193, 276 Brougham, Henry ; 1st Baron Brougham 45, 153, 285 Brunel, Isambard Kingdom 45, 279 Burke, Edmund 186, 225 Burrell, Sir Charles 50f. Cadogan, George; 3rd Earl of Cadogan 47 Capel, George; 5th Earl of Essex 40 Cardwell, Edward 135–137, 146, 230, 238, 245, 270, 275 Carlyle, Thomas 98 Cavaignac, Louis-EugÀne 261, 308 Cavendish, William; 7th Duke of Devonshire 240, 274 Cavendish-Bentinck, George 144 Cecil, Robert; 3rd Marquess of Salisbury 240 Chadwick, Edwin 248, 250f. Charteris, Francis 91, 94 Chevalier, Michel 62, 77, 160 Choiseul-Praslin, Charles de 74 Clerk, Sir George 268 Coates, Thomas 245–247 Cobden, Richard 188, 193, 201 Cradock, John; 1st Baron Howden 46 Cr¦mieux, Adolphe 75–79, 213 Crichton-Stuart, John; 2nd Marquess of Bute 42 Cundy, Nicholas 50f. Curzon-Howe, Richard; 1st Earl Howe 48 Dairnvaell, George

119–123, 125–129

362 Dalhousie, James 234, 268, 271–273, 285f. D’Alton Sh¦e de LigniÀres, Edmond; Vicomte D’Alton Sh¦e 164 Danton, Georges 112 Darimon, Alfred Luis 175, 180 Daru, Napol¦on 114 Daumier, Honor¦ 74, 297 d’Eichthal, Adolphe 63f., 68 d’Eichthal, Gustave 63 Denison, Edmund Beckett , 89, 91, 94, 101, 106, 137f., 146, 230, 235, 285 Denison, John Evelyn 136 Despans-CubiÀres, Am¦d¦e 74, 78, 121, 301–303, 314, 337 Dickens, Charles 95, 239 Didion, Charles 308, 316 Disraeli, Benjamin 19, 157, 202, 331 Divett, Edward 91 Drumont, Edouard 124 Duclerc, Charles 257–259, 261 Dufaure, Jules 69, 79, 211f. Dumas, Alexandre (Fils) 74, 128, 311 Dumon, Pierre 120, 210, 293, 295 Dundas, George 90, 93 Dupin, Charles 174 Durand, Justin 208, 214–216 Duvergier de Hauranne, Prosper 79, 120, 213 Easthope, Sir John 60, 228, 230, 302 Eden, George; 1st Baron Auckland 286 Engels, Friedrich 122, 124, 126 Evans, David Morier 98 Faucher, L¦on 256, 259, 304 Fauvety, Charles 118f., 129 Favre, Jules 175, 216 Ferrari, Raffaele de; Duc de Galliera 298, 302 Ferry, Jules 180 Fitzroy, Henry 236f. Forbes, James Staat 151 Forcade, EugÀne 169 Fould, Achille 63f., 160f., 303–305, 307 Fould, Benoit 63f., 160, 304 Fourier, Charles 117f., 124, 126f.

Personenregister

Fournel, Henri 114 Franqueville, Ernest de 169, 306, 308, 316 Freeman-Mitford, John; 1st Earl Redesdale 156, 237 Fritzherbert-Stafford, Francis Edward; Baron Stafford 43f. Galt, William 248, 251 Gambetta, Leon 262 Garnier-PagÀs, Louis-Antoine 256f. Germain, Henri 177 Gibbs, George Henry 44 Gibson, Thomas Milner 140 Girardin, Emile 74f. Gladstone, John 43, 273 Gladstone, Robert 43, 273 Gladstone, William Ewart 43, 53, 60f., 87, 133, 135f., 138, 144, 148, 154, 183,199, 230–234, 237, 240–243, 247f., 250, 268–273, 283f., 331 Glyn, George Carr 150, 230 Gooch, Daniel 146, 151 Gordon Lennox, Charles; 5th Duke of Richmond 49, 185, 269 Goudchaux, Michel 261 Graham, Sir James 284f., 292 Grenville, Richard; 1st Duke of Buckingham and Chandos 155 Grey, Charles; 2nd Earl Grey 192 Guizot, Francois 73–76, 78–81, 83f., 115, 118f., 121, 212f., 252, 302 Hamilton, Claud 156 Hamilton Gordon, George; 4th Earl of Aberdeen 267 Haussmann, Georges-EugÀne 162, 165, 171, 180, 305, 310 Hawes, Benjamin 289–292 Henley, Joseph 136, 269 Hignett, John 288–290, 292f., 320, 336f. Hill, Rowland 230 Horsfall, Thomas 279 Hudson, George 46, 89–95, 98f., 101f., 104–106, 109, 130, 133, 146, 150, 185, 187, 191–197, 201f., 220, 230, 232f., 236f., 244, 270, 279, 330, 336f.

363

Personenregister

Hugo, Victor 75, 173, 301 Huish, Mark 134, 137, 150, 230 Hume, Joseph 55–57, 60, 275 Huskisson, William 44 Janz¦, Alfred de Jeaffreson, John

74, 177 51

Kerv¦guen, Auguste 311 Koechlin, Nicolas 69 Koenigswarter, Maximilien de

311

Labouchere, Henry 136, 227, 230, 237f., 242, 269, 274, 277 Laffitte, Charles 63, 164, 185, 203–206, 209–213, 220f., 256, 295 Laffitte, Jaques 63, 112, 204, 252 Laing, Samuel 230, 237, 277, 280f., 287 Lamartine, Alphonse de 79, 255–257, 261 Lamennais, F¦licit¦ de 71 Lanjuinais, Victor 68 Larcy, Roger de 178 Laurier, Cl¦ment 262 Lawrence, Charles 43 Lebeau, Jules 170 Lecomte, Casimir 113 Lecount, Peter 48 Lefebvre, Jacques 68, 297 Legrand, Alexis 64–67, 253, 294, 296, 300, 308 Lemoinne, John 218 Leroux, Pierre 118, 123–125, 127–129 Lherbette, Armand Jacques 299 Littleton, Edward 152f. Locke, Joseph 204, 316 Louis-Napol¦on; Napoleon III. 128, 158–161, 164f., 167, 174, 179f., 206, 213, 262, 303–307, 310, 312–314 Louis-Philippe I. 71, 74, 82, 164, 204, 301, 303 Love, Horacio 91 Lowther, Henry ; 3rd Earl of Lonsdale 272 Luneau, S¦bastien 77 Mac-Mahon, Patrice de 263 MacarÞt, Beno„t-Louis-FranÅois

122

Magne, Pierre 304f., 307, 309, 312f. Marx, Karl 81, 124 Maupas, Charlemagne-Êmile de 179 M¦lorel de la Haichois, Joseph 216 M¦rim¦e, Prosper 80 Migneret, Jean-Baptiste 162f. Mill, John Stuart 143 MirÀs, Jules Isaac 158, 309–315, 330, 337 Mol¦, Louis Mathieu 77 Molyneux, William Philip; Baron Sefton 40, 43 Montalembert, Charles de 259 Montijo, Eug¦nie de 80 Moon, Richard 200, 279 Moorsom, William 249 Morin, Th¦odore 258f. Morny, Charles Auguste de 79, 161, 164–168, 178–180, 216, 303, 305–307, 309, 312f. Morrison, James 106–108, 141, 235 Moss, John 150, 270f. Motier, Marie-Joseph; Marquis de Lafayette 164 Nord, Martin du 113 Normanby, Constantine Henry Phipps; 1st Marquess of Normanby 80 O’Brien, Donatus 271, 275, 282–288, 320 O’Brien, William 239, 282–285, 289 Olivier, Emile 175, 180, 216f., 219 Parkinson-Fortescue, Chichester 293 Parmentier, Auguste 301, 303 Parris, Henry 21, 280 Parson, John 109 Pasley, Charles W. 278, 280, 286 Patten, John Wilson; 1st Baron Winmarleigh 136, 230 Peel, Edmund 274 Peel, Robert 53, 57, 83, 135, 157, 190, 232, 234f., 242f., 269, 271, 273f., 284, 292 Percy, Algeron George; 6th Duke of Northumberland 42 Pereire, Emile 63f., 67–69, 124, 160, 164f., 167, 206–208, 217, 261f., 294f.,

364 298, 300, 304, 307, 309, 311, 313, 324, 326 Pereire, Isaac 63f., 67–69, 124, 160,164f., 167, 185,203, 207–209, 213–221, 261f., 295, 298, 300, 304, 307, 309, 311, 313, 324, 326 P¦rier, Casimir 252 Perronet, Auguste 253 Persigny, Victor Fialin de 161, 207, 303, 312 Peto, Sir Morton 149 Petre, William; 11th Baron Petre 47f. Philipon, Charles 74 Philippart, Simon 168–173, 178, 181, 310 Picard, Alfred 20, 159, 172 Picard, Ernest 175f. Pinard, Ernest 312f. Plichon, Jean Ignace 170, 178 Plimsoll, Samuel 293 Pontalba, C¦lestin de 312 Porter, George Richardson 277, 286 Pouyer-Quertier, Auguste 178, 263 Prance, Robert 91 Proudhon, Pierre-Joseph 118, 124, 126f., 129, 177 Raudot, Claude 262 Redpath, Leopold 110, 138 Rennie, John 50 Rey de Foresta, Êmilien 295f., 298f. Robespierre, Maximilien de 112 Robinson, Frederick John; 1st Earl of Ripon 229 Rothschild, Alphonse 170 Rothschild, Anselm 122f. Rothschild, James de 64, 113, 117–122, 124–126, 160f., 164, 167, 256, 261, 295, 297–300, 304, 307, 310, 313, 324 Rothschild, Lionel 126 Rothschild, Nathan 130 Rouher, EugÀne 304–307, 309–311, 313 Russell, Charles 53, 60, 185, 189f., 230, 232, 242 Russell, John; 1st Earl Russell 183, 221 Ryder, Dudley ; 1. Earl of Harrowby 230

Personenregister

Saint-Simon, Henri 62f., 117 Saleta, L¦on 215f. Sandars, Joseph 43, Saunders, Charles Alexander 45, 150, 189 Sauvage, FranÅois Cl¦ment 218 Say, Leon 218 Scrufield, Richard 192 SeilliÀre, Achille 297 Seymour, Edward Adolphus 228, 230 Sibthorp, Charles 61, 143, 195, 283f. Simmons, Jack 20 Simmons, Sir John 238 Sinclair, George 56 Smiles, Samuel 97, 104, 335 Smith, Arthur 91 Smith, Sir Frederick 277f. Smith Stanley, Edward Geoffrey ; 12th Earl of Derby 40, 43, 93 Somerset, Grenville Charles Henry 54, 230, 232, 278 Soult, Nicolas Jean-de-Dieu 73, 76, 80, 212 Souzat-Flauhat, Gräfin 164 Spencer, Herbert 100f., 104f., 145f., 155 Stanley, Edward John; 2nd Baron Stanley of Alderley 269, 274, 331 Stephenson, George 97, 154, 272, 279 Stephenson, Robert 50f., 97, 154, 279 Strutt, Edward 136, 236f., 270 Stuart-Wortley, John; 2nd Baron Wharncliffe 47, 247 Talabot, Paulin 62, 161, 167, 203, 207, 217f., 220, 295f., 298f., 307f., 311, 313, 316 Talbot, Henry Fox 45 TalhouÚt-Roy, Auguste de 177 Temple, Henry John; 3rd Viscount Palmerston 281 Teste, Jean Baptiste 74, 78, 121, 296, 299–301, 314, 337 Thiers, Adolphe 64, 69, 78, 121, 178, 263 Thompson, Perronet 192–195, 201f. Thompson, Poulette; 1st Baron Sydenham 57 Thurneyssen, Auguste 64

365

Personenregister

Vanderbyl, Philip 198 Vall¦es, Oscar de 311 VallÀs, Jules 312 Vane, Charles; 3rd Marquess of Londonderry 46f., 248 Verney, Sir Harry 56 Versigny, Victor 299 Vignoles, Charles 230, 282, 288 Villiers, John; 3rd Earl of Clarendon 40

Wakley, Thomas 283–285 Wallace, Robert 53, 60 Walpole, Robert 86, 108, 121 Watkin, Sir Charles Edward 134, 141, 146, 151, 156f., 185, 188f., 198f., 240, 251, 279 Wentworth-Fitzwilliam, William; 6th Earl of Fitzwilliam 42 Whishaw, Francis 50 Whitbread, Samuel 156 Whitehead, John 289 Whittle Harvey, Daniel 152 Wilson-Patten, John; 1st Baron Winmarleigh 136 Wray, John 290, 292

Waddington, David

Zola, Emile

Tocqueville, Alexis de 79f. Toussenel, Alphonse 117–119, 123–126, 128f. Trollope, Anthony 95, 102 Turgot, Jacques 111

109

181