Individuum und Herrschaft im Stalinismus: Emel’jan Jaroslavskij (1878-1943) 9783486707137, 9783486589559

Trotz der Bedeutung der ersten Generation bolschewistischer Führer für die Geschichte des 20. Jahrhunderts gibt es bishe

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German Pages 484 [490] Year 2010

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Individuum und Herrschaft im Stalinismus: Emel’jan Jaroslavskij (1878-1943)
 9783486707137, 9783486589559

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Dahlke · Individuum und Herrschaft im Stalinismus

Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit

üHerausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 2 9

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Sandra Dahlke

Individuum und Herrschaft im Stalinismus Emel'jan Jaroslavskij (1878-1943)

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim an der Ruhr, der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung Hamburg und der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2010 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagbild: Roman Clemens: Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton (1929) © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langensalza ISBN 978-3-486-58955-9

Inhalt

Danksagung I.

II.

Einleitung

11

1. Gegenstand und Fragestellung

11

2.

Konzepte, Methoden, Begriffe

17

3.

Quellen

28

Identität und Identitätskonstruktion 1. Rationalität und Gefühl: zwei Pole der Identitätsbildung und Weltaneignung a. Jugend in der Verbannung und Engagement im revolutionären Untergrund b. Literatur als Modell für persönliches Verhalten und als Anleitung zur politischen Praxis c. Der kruzok als Modell sozialer Interaktion d. Ein Koordinatensystem auf dem Prüfstand: Revolution und Bürgerkrieg als „formative experience"? e. Der Revolutionär und die „Massen" f. Kontakt mit dem Fremden 2.

III.

Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften a. Formen der Lebensbeschreibung: anketa, avtobiografija, vospominanie b. Lebensberichte c. Erinnerung, Narration und Identität d. Personenkulte e. Macht und Emotion oder die Macht der Emotionen? f. Identitätskonstruktionen unter Beschuss

33 33 35 44 53 56 66 77 89 93 95 98 99 104 107

Aufstieg in der Stalin-Fraktion

115

1. Jaroslavskijs politische Karriere von 1917 bis 1929

115

2. IV.

9

Jaroslavskij und Stalin: gemeinsame Interessen und Politikvorstellungen

136

Ideologieproduktion als politische Praxis und Spiegel von Vorstellungen

149

1. Funktionen von Geschichtsschreibung a. Geschichtsschreibung als politisches Instrument: Konstruktion des Leninismus

149 150

6

Inhalt b. c. d. 2.

V.

VI.

Historiographie als Sinnproduktion und Spiegel von Jaroslavskijs Vorstellungen von Politik und Geschichte Geschichtsschreibung als Ausdruck von Gruppenidentitäten: die Genealogie des Bolschewismus Was ist Ideologie?

159 163 171

Jaroslavskij und die marxistischen Historiker a. Autorität b. Funktionsmechanismus des Felds: Patronage, Allianzund Klientelbildung

176 182

3.

Konflikte an der „historischen Front" a. Das Narodnicestvo b. Die Revolution von 1905

193 194 206

4.

Konflikt und politische Praxis a. Signale von oben b. Überschneidung von Konfliktfeldern c. Modi der Auseinandersetzungen d. Doppelte Loyalitäten und Statussicherheiten

215 215 216 221 226

5.

Veränderung der Spielregeln: Stalins „Brief an die

188

Redaktion der Zeitschrift Proletarskaja revoljucija

228

6.

Politische Pädagogik: Jaroslavskijs „Reueerklärung"

243

7.

Konstruktion von Bedeutungen: Politische Kommunikation

250

8.

Statusillusionen und unvereinbare Loyalitäten

253

9.

Degradierung, Desillusionierung und Statusanspruch

259

10. Zusammenfassung: Kulturrevolution

266

Stalinkult und Identität

273

1. Der Kampf um Stalin

273

2.

Der „Parteitag der Sieger"

278

3.

Statuskämpfe der Kultproduzenten

289

4.

Emotionalisierung des Sprechens über Stalin

305

5.

Der „Kurze Lehrgang"

318

6.

Die Kampagne gegen Pokrovskij

339

Disziplinierung und Selbstdisziplinierung

347

1. Gerontologie oder ein Leben im Panopticon

347

2.

Das sowjetische Pantheon und der Tempel der Memoria

361

3.

Alltag, Alltäglichkeit und das ferne Rauschen der Revolution

366

Inhalt

7

4.

Realistischer Sozialismus und Sozialistischer Realismus

385

5.

Die Logik des Absurden: Leben im Terror

401

VII. Epilog

433

VIII. Zusammenfassung

437

Abkürzungen und russische Begriffe

447

Abbildungsverzeichnis

451

Quellen- und Literaturverzeichnis

453

1. Quellen a. Archivalia b. Publizierte Quellen: Schriften Jaroslavskijs c. Publizierte Quellen und Quelleneditionen

453 453 453 455

2.

459

Literatur

Personenregister

481

Danksagung Diese Arbeit wurde im August 2005 am Historischen Seminar der Universität Hamburg als Dissertation verteidigt. Von der Idee bis zum Buch haben mich viele Kollegen und Freunde unterstützt. Ohne meinen Doktorvater Prof. Dr. Norbert Angermann wäre ich wohl kaum auf die Idee gekommen, einen wissenschaftlichen Weg einzuschlagen. Er bestärkte mich und andere angehende Historiker und Historikerinnen in der Überzeugung, dass auch Studierende forschen können. Für sein Vertrauen, seine vorbehaltlose Unterstützung, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren, und für seinen fachlichen Rat bin ich ihm sehr dankbar. Meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Nikolaus Katzer danke ich für sein konstruktives Interesse an meinem Thema, für seine Bereitschaft, mit seiner sich manchmal im Kreise drehenden Mitarbeiterin immer wieder darüber zu sprechen und insbesondere für seine Geduld, auch wenn es manchmal so aussah, als würde das Projekt nie abgeschlossen werden. Esther Meier und Prof. Dr. Karsten Brüggemann haben das gesamte Manuskript korrekturgelesen und durch ihre kritischen Kommentare sehr bereichert. Prof. Dr. Stefan Plaggenborg lenkte mein Interesse auf die antireligiöse Politik im jungen sowjetischen Staat und somit mittelbar auch auf Jaroslavskij. Prof. Dr. Bernd Wegner, Prof. Dr. Helmut Altrichter, Prof. Dr. Frank Golczewski, Prof. Dr. Jörg Baberowski, Prof. Dr. Dietrich Beyrau, Prof. Dr. Ludwig Steindorff sowie Prof. Dr. Manfred Hildermeier haben mir die Möglichkeit gegeben, mein Projekt in ihren Forschungskolloquien vorzustellen. Diese Vorträge, insbesondere die Diskussionsbeiträge der Teilnehmer, haben meine Arbeit jedes Mal ein großes Stück befördert. Gleichermaßen gilt mein Dank den Organisatoren des Stalinismusarbeitskreises, in dem ich mein Projekt zur Diskussion stellen durfte. Für ihr Interesse, ihre Anregungen, Diskussionsbereitschaft und Unterstützung möchte ich mich zudem bei Maja Apelt, David Brandenberger, Yves Cohen, Olivia Gomolinski, Hans Grasselt, Malte Griesse, Benno Ennker, Lorenz Erren, Judith Henning, Alexandra Köhring, Aleksandr Kvasonkin, Gábor Rittersporn, Jan Plamper, Julia Obertreis, Malte Rolf und Susanne Schattenberg bedanken. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Russländischen Staatsarchivs für Sozial- und Politikgeschichte (RGASPI), des Staatlichen Archivs der Russländischen Föderation (GARF), des Archivs der Akademie der Wissenschaften in Moskau (AAN), der Staatlichen Öffentlichen Historischen Bibliothek in Moskau und der Russländischen Staatsbibliothek gewährten mir Zugang und wertvolle Hinweise zu ihren Beständen. Besonders dankbar bin ich Andrej Doronin für seine freundliche und fachkundige Unterstützung und für

10

Danksagung

die zahllosen Tassen heißen Tees, die so manchen Rückschlag bei der Recherche schnell vergessen machten. Überaus dankbar bin ich, dass ich Marianna Emel'janovna Jaroslavskaja, die inzwischen leider verstorben ist, kennenlernen durfte. Oleg Kapcinskij hat den Kontakt zu ihr hergestellt. Die Bekanntschaft mit ihr, das Interesse und Vertrauen, das sie der jungen Historikerin aus dem Westen entgegenbrachte, obwohl sie wusste, dass ihr Vater eine umstrittene Figur war, hat mich nicht nur im Hinblick auf mein Forschungsvorhaben sehr bereichert und motiviert. Sie ermöglichte mir einen anderen, sehr persönlichen Blick auf ihr Leben und auf die Welt ihrer Eltern. Danken möchte ich auch ihrem ebenfalls inzwischen verstorbenen Mann Vasilij Ivanovic und ihrer Tochter Marianna Georgievna Jaroslavskaja, von denen ich viel gelernt habe. Einen längeren Forschungsaufenthalt in Moskau konnte ich dank eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdiensts absolvieren. Letzte Arbeiten am Manuskript konnten während eines halbjährigen Forschungsaufenthalts am Centre d'études des mondes russe, caucasien et centre-européen an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris erfolgen, den mir der Deutsche Akademische Austauschdienst und die Maison des Sciences de l'Homme gewährten. Die Publikation wurde durch die großzügige Unterstützung der Geschwister Böhringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung und der HelmutSchmidt-Universität/Universität der Bundeswehr in Hamburg ermöglicht. Meine Dissertation wurde 2008 mit dem Fritz-Theodor-Epstein-Preis des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker ausgezeichnet. Für diese Würdigung bin ich sehr dankbar. Sehr verbunden bin ich zudem den Herausgebern der „Ordnungssysteme", insbesondere Prof. Dr. Dietrich Beyrau, dass sie mein Buch in die Reihe aufgenommen haben. Tobias Tönnis hat nicht nur bei Nacht und Nebel meine Dissertation formatiert, sondern sowohl meine monatelange Abwesenheit als auch meine mitunter etwas monothematische Anwesenheit ertragen. Dafür bin ich ihm zutiefst dankbar.

Hamburg, im Dezember 2009

I. Einleitung 1. Gegenstand und Fragestellung „Unsere Partei vollbringt eine großartige historische Sache im Interesse der gesamten werktätigen Menschheit. Es wird eine Zeit kommen, wenn unsere Schwächen und Fehler verblassen vor dem, was wir getan haben und noch tun werden."1

Diese Zeilen schrieb Emel'jan Jaroslavskij unmittelbar nach der Ermordung des Leningrader Parteivorsitzenden Sergej Kirov im Dezember 1934. Zu diesem Zeitpunkt hatte das bolschewistische Regime gerade eine schwere Krise überwunden, die es durch die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft und die forcierte Industrialisierung selbst ausgelöst hatte. Mit der Verabschiedung des ersten Fünfjahrplans im Jahr 1929 wurden in der Sowjetunion soziale und wirtschaftliche Umwälzungen in Gang gesetzt, die für ihre Initiatoren kaum noch unter Kontrolle zu bringen waren und die in ihrer Radikalität den Eindruck erwecken, als habe man in das Jahrzehnt der 1930er Jahre ein ganzes Jahrhundert gepresst. Und obwohl Jaroslavskij seine Überzeugung kundtut, das Wohl der werktätigen Menschheit hinge von der stalinschen Führung und dem Gelingen des bolschewistischen Experiments ab, waren die 1930er Jahre in der Sowjetunion für viele Zeitgenossen keine glückliche Zeit. Etwa sechs Millionen Bauern wurden zwischen 1930 und 1933 deportiert, mehrere hunderttausend starben während oder infolge der Umsiedlung. Allein die durch die Kollektivierung und gewaltsame Getreidebeschlagnahmung ausgelöste Hungersnot der Jahre 1932/33 kostete nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen vier und acht Millionen Menschen das Leben.2 Die Jahre 1934 bis 1936 bildeten nur eine kurze Atempause. Am 31. Juli 1937 verabschiedete das Politbüro einen vom NKVD vorbereiteten Befehl, demzufolge „ehemalige Kulaken, antisowjetische Elemente und Kriminelle" entweder zu exekutieren oder zu deportieren seien. Allein infolge dieser sogenannten Massenoperation starben mehr als 750.000 Menschen oder wurden in Lager eingewiesen.3 In anderen „Massenoperationen" wurden in den Grenzregionen

1 Entwurf eines Schreibens von Jaroslavskij an Ordzonikidze vom 3.12.1934. F.89, op.12, d.2,1.39ob. 2 Davies, R.W./Harrison, MarkJWeathcmft S.G: The Economic Transformation of the Soviet Union, 1913-1945, Cambridge 1994, S. 68,74. 3 Siehe hierzu: Binner, Rolf/Junge, Marc: Wie der Terror „Groß" wurde. Massenmord und Lagerhaft nach Befehl 00447, in: Cahiers du monde russe 42 (2001), S. 557-613, hier S. 557. Es hat zwischen 1937 und 1938 etwa zehn Massenoperationen gegeben, in deren Rahmen 1.575.000 Menschen vom NKVD verhaftet, 1.345.000 (85,4 %) verurteilt und 681.692 (51 % der Verurteilten) hingerichtet worden sind. Werth, Nicolas: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen Terror, hrsg. v. Stéphane Courtois, Nicolas Werth u.a., München 1998, S. 51-298, hier S. 213.

12

I. Einleitung

der Sowjetunion ansässige nichtrussische Bevölkerungsteile gewaltsam umgesiedelt.4 Diese außerordentliche Gewaltausübung kann mit einiger Mühe nachvollzogen werden, da sich das bolschewistische Regime hier gegen selbstdefinierte Kategorien von Menschen wandte, die es als feindselig wahrnahm. Weniger leicht zu erklären ist, dass sich die bolschewistische Partei von 1935 bis 1938 auch zunehmend gegen sich selbst richtete. Der erste Moskauer Schauprozess im Sommer 1936 bildete den Auftakt für eine beispiellose Selbstzerstörung der Parteielite. Auf den mittleren und unteren Hierarchieebenen resultierten „Säuberungen" in der Verhaftung und Ermordung hunderttausender Kommunisten.5 Jaroslavskij hatte im Dezember 1934 mit „der großen historischen Sache" wohl eher die Zukunft als die Gegenwart im Blick. Obgleich die Industrialisierung unter widrigsten Bedingungen und um den Preis der Zerstörung alter wirtschaftlicher und sozialer Strukturen, der massenhaften Verfolgung und Vernichtung von Menschen durchgeführt wurde, beruhte die bolschewistische Herrschaft nicht nur auf Gewalt. Das Regime konnte einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung mit einigem Erfolg Partizipations- und Integrationsangebote machen und viele dazu mobilisieren, begeistert am Aufbau einer sozialistischen Industrie und Gesellschaft mitzuwirken.6 Terror, radikaler sozialer und ökonomischer Wandel sowie enthusiastische Zukunftserwartungen waren wohl die auffälligsten äußeren Merkmale der Herrschaftsform, die gemeinhin als Stalinismus bezeichnet wird.7 Die Person, die vor diesem Hintergrund den roten Faden der vorliegenden Arbeit bilden wird, Emel'jan Jaroslavskij, war nicht nur Zeuge von Stalins

4

Zu den Zielen des Terrors siehe: Khlevnjuk, Oleg: The Objectives of the Great Terror, 1937-1938, in: Soviet History, 1917-1953. Essays in Honour of R.W. Davies, hrsg. v. Julian Cooper, Maureen Perrie, E.A. Rees, London 1995, S. 158-176. 5 Zum Terror der bolschewistischen Partei gegen sich selbst siehe: Getty, J. ArchJNaumov, Oleg: The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks, New Haven, London 1999. 6 Zur Integrationsfáhigkeit und den Partizipationsangeboten des bolschewistischen Regimes an die sowjetische Bevölkerung siehe u.a.: Dunham, Vera S.: In Stalin's Time. Middleclass Values in Soviet Fiction, Cambridge 1976; Fitzpatrick, Sheila: Education and Social Mobility in the Soviet Union, 1921-1934, Cambridge, New York 1979; Kotkin, Stephen: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1994; Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York, Oxford 1999, S. 67-114; Petrone, Karen: Life has Become more Joyous Comrades. Celebrations in the Time of Stalin, Bloomington 2000; Schattenberg, Susanne: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren, München 2002; Stadelmann, Matthias: Isaak Dunaevskij - Sänger des Volkes, Köln, Weimar, Wien 2003. 7

Siehe hierzu den Forschungsbericht von: Baberowski, Jörg: Wandel und Terror: die Sowjetunion unter Stalin 1928-1941. Ein Literaturbericht, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43 (1995), S. 97-129. Beispielhaft für die gleichzeitige Gewalthaftigkeit und Begeisterungsfahigkeit des stalinistischen Regimes siehe: Kotkin, Magnetic Mountain; Fitzpatrick, Everyday Stalinism.

1. Gegenstand und Fragestellung

13

Aufstieg zur Macht, der dieser so utopischen wie gewaltsamen Politik vorausging, sondern direkt an diesen Entwicklungen und Ereignissen beteiligt. Er war Befürworter eines hierarchisch organisierten zentralistischen Staats und unterstützte Stalin bis zu seinem natürlichen Tod im Jahr 1943.8 Jaroslavskij gehörte zwar nicht zu Stalins engster Entourage, jedoch zählte er zu der Gruppe von Bolschewisten, die diesem in wesentlichem Maße zu seinem Aufstieg verhalfen und deren eigene Karriere eng mit diesem Aufstieg verknüpft war. Jaroslavskij erfüllte in den 1920er und 1930er Jahren zwei hierfür zentrale Aufgabenbereiche: Zum einen spielte er eine bedeutende Rolle in der Zentralen Kontrollkommission (ZKK), die die Funktion eines obersten Parteigerichts hatte und über die Einhaltung der vom Zentralkomitee (ZK) festgelegten Parteilinie wachte. Jaroslavskij war Mitglied des Präsidiums und Sekretär des sogenannten Parteikollegiums der ZKK. In diesem Rahmen war er einer derjenigen, die in maßgeblicher Weise die Regulation und Manipulation der Zusammensetzung der Partei organisierten. Dies geschah auf zwei Wegen: durch Erziehung der Parteimitglieder und durch die regelmäßig durchgeführten „Parteisäuberungen", bei denen missliebige Genossen verwarnt, bestraft oder aus der Partei ausgeschlossen wurden. Zudem trat Jaroslavskij besonders in den 1920er, aber auch in den 1930er Jahren als einer der auffälligsten Ankläger der stalinschen Mehrheitsfraktion im ZK gegen die unterschiedlichen innerparteilichen oppositionellen Gruppen auf. Diese Tätigkeit brachte ihm unter eher oppositionell eingestellten Genossen den Ruf eines „Kettenhunds" Stalins ein. Seine Bedeutung in der Stalin-Fraktion in den 1920er Jahren lässt sich daran ablesen, dass er nicht nur an den offiziellen Sitzungen des Politbüros, sondern auch an denen der sogenannten semerka, einer geheimen, gegen Trotzkij gerichteten Fraktion teilnahm. Die semerka setzte sich aus allen Politbüromitgliedern außer Trotzkij zusammen; Valerian Kujbysev und Jaroslavskij hatten als Vertreter der ZKK eine Art Beisitzerfunktion inne. Eng verbunden mit dem Machtkampf der jeweiligen ZK-Mehrheitsfraktionen gegen ihre Konkurrenten in der Partei und Jaroslavskij s Arbeit in der ZKK war sein zweites Betätigungsfeld: die ideologische Kontrolle. Jaroslavskij war einer der bedeutendsten Produzenten und Kontrolleure ideologischer Texte über nahezu alle Bereiche der Parteipolitik und der Parteigeschichte. Er war entweder offizielles Mitglied oder eine Art graue Eminenz in den Redaktionen der wichtigsten bolschewistischen Presseerzeugnisse und übernahm sogar 1929 nach Nikolaj Bucharins Entlassung vom Posten des verantwortlichen Redakteurs der Pravda vorübergehend die Leitung im Redaktionskol8

Die folgende kurze biographische Darstellung ist dokumentiert in: Dahlke, Sandra: Die zwei Leben des Emel'jan Jaroslavskij (1878-1943) und die grenzenlose Liebe zu Stalin, in: Kollektivität und Individualität. Der Mensch im östlichen Europa. Festschrift für Norbert Angermann zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Karsten Brüggemann, Thomas Bohrt, Konrad Maier, Hamburg 2001; dies:. Emelian Iaroslavski, acteur dans le monde des historiens, in: Communisme 70/71 (2002), S. 213-244.

14

I. Einleitung

legium des Zentralorgans der bolschewistischen Partei. Jaroslavskij verfasste unzählige Pamphlete gegen die Gruppen und Personen in der Partei, die als „Trotzkistische", „Linke" und „Rechte Opposition" gebrandmarkt wurden, und begleitete die Schauprozesse der Jahre 1936 bis 1938 mit Artikeln und Broschüren, in denen er die Ermordung seiner ehemaligen hochrangigen Genossen rechtfertigte. Er betätigte sich als Autor und Herausgeber zahlreicher populärer Darstellungen über Parteigeschichte, schrieb mehrere Biographien über Lenin und Stalin und war einer der wichtigsten Produzenten des Stalinkults und des Antikults um Trotzkij. Jaroslavskij zeichnete sich durch eine bemerkenswerte, graphomanisch anmutende Textproduktion aus: Eine von der Historischen Bibliothek in Moskau erstellte Bibliographie seiner Werke führt insgesamt 1766 Titel zu allen nur erdenklichen Themen auf, darunter sind 140 Bücher und umfangreichere Broschüren.9 Einige von seinen Schriften zählen zu den meistgedruckten, die je geschrieben wurden. Hierzu gehört das ideologische Hauptwerk des Stalinismus, der sogenannte „Kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU", auf dessen Titelblatt der Name Jaroslavskij s zwar nicht erscheint, an dessen Zustandekommen er aber maßgeblich beteiligt war. Von 1938 bis zur Einleitung der Entstalinisierungspolitik durch Nikita Chruscev auf dem 20. Parteitag im Jahr 1956 erschien der „Kurze Lehrgang" (Kratkij leurs) allein in der Sowjetunion in einer Auflage von über 42 Millionen Exemplaren und wurde in 67 Sprachen übersetzt.10 Jaroslavskij s 1923 erstmals veröffentlichte „Bibel für Gläubige und Ungläubige" ( B i b l i j a dlja verujuscich i neverujuscich) wurde auch nach Stalins Tod in millionenfacher Auflage immer wieder publiziert. Der Kampf gegen die Religion war eine von Jaroslavskij s größten Leidenschaften, die allerdings in dieser Arbeit von geringerer Bedeutung sein wird. Er bekleidete den Vorsitz der „antireligiösen Kommission" des ZK und den Vorsitz der „Gesellschaft der militanten Gottlosen". Jaroslavskij s Leben ist aber auch durch Brüche und Widersprüche gekennzeichnet, die in vielerlei Hinsicht für Bolschewisten seiner Generation typisch sind. Zum einen war er trotz seines ausgeprägten intellektuellen Ehrgeizes und seiner anhaltenden Loyalität zu Stalin kein skrupelloser Opportunist, wie es aus dem kurzen biographischen Abriss vielleicht hervorscheinen mag, sondern vielmehr ein mitunter etwas selbstgefälliger, zu emotionalen Reaktionen neigender idealistischer Romantiker und inbrünstiger Überzeugungstäter. Er nahm sein Postulat, die Bolschewiki seien angetreten, um die Interessen der gesamten arbeitenden Menschheit in die Realität umzusetzen und eine neue Welt zu schaffen, durchaus ernst. Jaroslavskij setzte sich auch, wenn es ihm angemessen erschien, für in Ungnade gefallene und vom Terror 9

Bibliografija trudov akademika E.M. Jaroslavskogo, Moskau 1944. Maslov, N.N.: „Kratkij kurs istorii VKP(b)" - enciklopedija i ideologija stalinizma i poststalinizma: 1938-1988 gg., in: Sovetskaja istoriografija, hrsg. v. Ju.N. Afanas 'ev, Moskau 1996, S. 240-273, hier S. 240. 10

1. Gegenstand und Fragestellung

15

bedrohte Genossen ein. Zum anderen weist Jaroslavskijs Leben, obwohl sich das bisher Gesagte nach einer glatten Karriere anhört und er zu keiner Zeit einer gegen Stalin gerichteten Opposition angehörte, signifikante Brüche auf. Jaroslavskij musste in den 1930er Jahren, als die politischen Spielregeln umgeschrieben wurden, mehrere schwerwiegende Rückschläge hinnehmen. Er wurde zu Beginn des Jahrzehnts von Stalin wegen vermeintlicher Fehler in seinen parteihistorischen Texten öffentlich und wegen anderer „Fehltritte" intern gemaßregelt und in der Folge von seinen wichtigsten Redaktionsposten enfernt sowie von der engeren Parteiführung isoliert. Für Jaroslavskij kehrten sich die Verhältnisse um. Er gehörte nun nicht mehr zu denen, die entschieden und kontrollierten, andere kooptierten oder ausschlossen, sondern zu denen, über die entschieden wurde und die kontrolliert wurden. Auch der Terror kam in den Jahren 1937/38 bedrohlich nah an Jaroslavskij heran: 1937 wurde seine Frau aus der Partei ausgeschlossen. Sein Schwiegersohn, ein hochrangiger sowjetischer Diplomat, wurde im selben Jahr verhaftet und hingerichtet. Einige von Jaroslavskijs „Schülern", die in den 1930er Jahren hohe Parteiposten in der Provinz bekleidet hatten, sowie viele seiner Mitarbeiter und nahestehenden Genossen fielen dem Terror zum Opfer. Gleichwohl blieb Jaroslavskij ein loyaler Anhänger Stalins und zweifelte nicht grundsätzlich an der Notwendigkeit der Terrors als Instrument der Politik. Schon diese wenigen biographischen Details machen deutlich, dass zwischen Opfern und Tätern häufig nur schwer trennscharf zu unterscheiden ist, und werfen die Frage auf, warum idealistische Revolutionäre, die zunächst emanzipatorische Ziele verfolgten, ein repressives Regime unterstützten, obwohl sie selbst und ihr gesamtes Umfeld durch diese Repressionen bedroht wurden. Warum schritten sie nicht ein, als ihre Familienmitglieder und ihre Genossen dem Terror zum Opfer fielen? Und wie konnten sie die abenteuerlichen, vom NKVD konstruierten Anklagen akzeptieren? Warum wurden Jaroslavskij und viele andere hartgesottene Mitglieder der bolschewistischen Elite, die schließlich im revolutionären Untergrund, in der Revolution und im Bürgerkrieg bereit gewesen waren, ihr Leben zu opfern, von Stalin abhängig und konnten ohne dessen Intervention weder ihre Konflikte lösen noch die Richtigkeit des eigenen Handelns und Denkens beurteilen? Wie erklärt sich der Umstand, dass die Bolschewiki als säkulare marxistische Elite, die das Führerprinzip und die kultische Verehrung von einzelnen Personen theoretisch ablehnte, ein so scheinbar atavistisches Phänomen wie den Stalinkult nicht nur akzeptierten, sondern auch forderten? Das Erstaunen über diese Phänomene stand am Beginn des Forschungsprojekts, dessen Ergebnis mit dieser Arbeit nun vorliegt. Im Verlauf der Arbeit drängten sich noch weitere Fragen auf, die insbesondere den Zusammenhang zwischen Ideologie, Realitätswahrnehmung und Macht betreffen: Wie entstand die stalinistische Ideologie? Und was bedeutete Ideologie für

16

I. Einleitung

diejenigen, die ideologische Texte verfassten? Sind die ideologischen Konzepte ein Ausdruck dessen, wie die führenden Bolschewiki die sie umgebende Realität wahrgenommen haben, oder sind diese Konzepte schlichtweg Propaganda, mit der skrupellose Machthaber versuchten, der Bevölkerung und den einfachen Parteimitgliedern eine andere „Realität" vorzugaukeln als die, die sie selbst wahrnahmen? Der personengeschichtliche Zugang rechtfertigt sich nicht nur durch die gestellten Fragen, sondern auch durch die Eigenschaft bolschewistischer Herrschaft als Krisenregime. Die Bolschewiki regierten nicht auf der Grundlage funktionierender, routinisierter bürokratischer Verfahren, die sich aus der Achtung von festgeschriebenen Gesetzen ergaben, sondern durch personale Netzwerke." Jörg Baberowski hat jüngst konstatiert, dass gerade daher die Fragen, „wie und wo sich die prominenten und weniger prominenten Bol'seviki trafen, mit wem sie sprachen, in welchen Klientelbeziehungen sie standen, welche Kultur des Rechts und des Konflikts ihr Handeln motivierte", von zentraler Bedeutung seien, um die stalinistische Diktatur zu verstehen.12 In diesem Sinne soll Jaroslavskij im Rahmen des formulierten Fragenkomplexes nicht so sehr als herausragender politischer Akteur dargestellt werden - ein solcher Ansatz würde keine Beschäftigung mit ihm legitimieren. Er soll vielmehr als Fokus dienen, um zu zeigen, wie bolschewistische Herrschaft funktioniert und wie sie auf ihre Träger zurückgewirkt hat. Zu den weltweit bekanntesten Repräsentanten der bolschewistischen Partei gehört Jaroslavskij trotz seines politischen und ideologischen Einflusses nicht. Weder bestimmten seine Aktivitäten auf der politischen Bühne in nennenswerter Weise die Geschicke und Missgeschicke der Vorkriegssowjetunion, noch profilierte er sich als origineller marxistischer Theoretiker, dessen Gedanken auch heute noch der Auseinandersetzung wert wären. Er erfüllte vielmehr die Funktion des bolschewistischen Auftragsintellektuellen, ohne aber die Bereitschaft und die Fähigkeit zu eigenständiger Machtausübung zu zeigen. Einige Berühmtheit erlangte er lediglich durch die vernichtenden Urteile seines Rivalen Trotzkij, der ihn als offiziellen „Fälscher der Parteigeschichte" und als „innerlich demoralisiertes Subjekt" bezeichnete.13 In der historischen Forschung ist Jaroslavskij in erster Linie im Zusammenhang mit 11 Rigby, T.H.: Early Provincial Cliques and the Rise of Stalin, in: Soviet Studies 33 (1981), S. 3-28; Gill, Graeme: The Origins of the Stalinist Political System, Cambridge 1990; Jowitt, Ken: New World Disorder. The Leninist Extinction, Berkeley 1992, S. 1-157; Easter, Gerald: Reconstructing the State. Personal Networks and Elite Identity in Soviet Russia, Cambridge 2000. Diese paternalistische politische Kultur hatte ihre Wurzeln in der starken Unterinstitutionalisierung des Russischen Reichs. Siehe hierzu: Hosking, Geoffrey: Patronage and the Russian State, in: Slavonic and East European Review 78 (2000), S. 301-320. 12 Baberowski, Jörg: Arbeit an der Geschichte. Vom Umgang mit den Archiven, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 51 (2003), S. 36-56, hier S. 43. 13 Trotzlä, Leo: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1961 (1929), S. 208, 452.

2. Konzepte, Methoden, Begriffe

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der bolschewistischen Religionspolitik und im Rahmen der Historiographiegeschichte präsent.14 Es ist symptomatisch, dass Jaroslavskij mit Ausnahme von zahlreichen idealisierenden sowjetischen Darstellungen noch nie zum Gegenstand eigenständiger biographischer Untersuchungen gemacht worden ist.15 Jedoch taucht sein Name in sehr vielen Abhandlungen über die 1920er und 1930er Jahre im Zusammenhang mit den verschiedensten Themen und Politikbereichen auf; und vermutlich ist nahezu jeder Historiker, der sich mit der sowjetischen Vorkriegsgeschichte beschäftigt, mit Texten von Jaroslavskij konfrontiert worden. Gerade diese „Allgegenwärtigkeit" Jaroslavskijs, seine Eigenschaft als Grenzgänger zwischen den unterschiedlichen Politikbereichen, personalen Netzwerken und Institutionen sowie seine erstaunliche Produktion ideologischer Texte machen ihn zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand und zu einem zwar nicht herausragenden, aber in vieler Hinsicht typischen - nicht repräsentativen - Vertreter der ersten Generation von Bolschewisten, die 1917 die politische Macht übernehmen konnten.

2. Konzepte, Methoden, Begriffe Die Beschäftigung mit einem einzelnen Menschen impliziert zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit dem historiographischen Genre der Biographie, so wie die Beschäftigung mit einem Führungsmitglied der bolschewistischen Partei eine Auseinandersetzung mit der Politikgeschichte erfordert. Wenn man die Historiker mit Marc Bloch als Menschenfresser bezeichnen will16, so muss man sich entweder über die mangelnden kannibalischen Gelüste der Zunft der Sowjetunionhistoriker oder über die Zähigkeit und Widerstandskraft der bolschewistischen Führung gegen derlei Ansinnen wundern. Biographische Arbeiten über die leitenden Akteure in der bolschewistischen Partei sind, wie jüngst eindringlich konstatiert wurde, ein Forschungsdesiderat.17 Angesichts der lange vorherrschenden Betrachtung der sowjetischen Geschichte „von oben" ist dies zunächst ein merkwürdiger Befund. Aber nur 14 Siehe z.B.: Enteen, George: Writing Party History in the USSR: The Case of E.M. Iaroslavskii, in: Journal of Contemporary History 21 (1986), S. 321-339; Luukkanen, Arto: The Party of Unbelief. The Religious Policy of the Bolshevik Party, 1917-1929, Helsinki 1994; ders.: The Religious Policy of the Stalinist State. A Case Study: The Central Standing Commission on Religious Questions, 1929-1938, Helsinki 1997. 15 Eine Ausnahme bildet hier lediglich die relativ kritische militärgeschichtliche Arbeit von: Egosin, Michail Federovic: Voenno-politiceskaja dejatel'nost' E.M. Jaroslavskogo (1905-1920 gg.), kand. diss., Moskau 1991. 16 LeGoff, Jacques: Wie schreibt man eine Biographie?, in: Fernand Braudel, Natalie Zemon Davis, Lucien Fèvre u.a.: Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, Berlin 1990, S. 103-112, hier S. 103. 17 So z.B. Plaggenborg, Stefan: Stalinismusforschung: Wie weiter?, in: Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, hrsg. v. dems., Berlin 1998, S. 4 4 3 ^ 5 2 , hier S. 448-449; Baberowski: Arbeit an der Geschichte, S. 42-45.

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I. Einleitung

einige w e n i g e haben sich - häufig unter dem Eindruck des Totalitarismusmodells - an diesen Akteuren die Zähne ausgebissen. D a s D e n k e n in theoretischen Modellen und in dichotomischen Kategorien w i e Täter versus Opfer oder Gemäßigte versus Radikale ließ auch die w e n i g e n Forschungen häufig holzschnittartig und unbefriedigend bleiben, so dass unser Bild v o n den Mitgliedern der bolschewistischen Führung nach w i e vor sehr blass ist. In Biographien und in den klassischen Arbeiten über die Geschichte der bolschewistischen Partei werden die d e m Handeln der j e w e i l i g e n Akteure zugrundeliegenden Motivationen, insbesondere w e n n es um die Beurteilung von deren Rolle in den innerparteilichen Machtkämpfen, bei Repressionen und i m Terror geht, entweder als ängstlicher Opportunismus, als machtgieriger Zynismus oder ideologischer Fanatismus 18 gedeutet. Z u d e m beschränkt sich das Interesse der Biographen bis auf w e n i g e Ausnahmen auf die vermeintlichen Hauptakteure Lenin und Stalin, die augenfälligsten „Scheusale" E z o v und Berija s o w i e auf die prominentesten Verlierer der innerparteilichen Machtkämpfe Trotzkij und Bucharin. 19 Letztere wurden häufig als so aufrechte w i e überzeugte Marxisten und ebenso w i e andere „Oppositionelle" als „ G e w i s s e n der Revolution" 2 0 dargestellt, w o b e i sich das „Gewissen" meist auf die vorgebliche Treue dieser Figuren zu den kanonischen Texten des

18 Eine solche Sichtweise vertritt auf besonders ungebrochene Weise: Malìa, Martin: Vollstrecker Wahn. Rußland 1917-1991, Stuttgart 1994. 19 Siehe u.a.: Tucker, Robert C.: Stalin as Revolutionary, London 1974; ders:. Stalin in Power. New York 1990; Volkogonov, Dmitrij: Triumf i tragedija. I.V. Stalin: Politiceskij portret, 2 Bde., Moskau 1989; Cohen, Stephen F.: Bukharin and the Bolshevik Revolution: A Political Biography, 1888-1938, New York 1975; Deutscher, Isaac: The Prophet Armed, Trotsky, 1971-1921, London 1954; ders.: The Prophet Unarmed, Trotsky, 1921-1929, London 1959; ders:. The Prophet Outcast, Trotsky 1929-1940, London 1963; Medvedev, Roy: All Stalin's Men, Oxford 1983; Graziosi, Andrea: GL. Piatakov: A Mirror of Soviet History, in: ders.: A New Peculiar State. Explorations in Soviet History, 1917-1937, Westport, London 2000, S. 1-64; Knight, Amy: Beria. Stalin's First Lieutenant, Princeton 1993. Eine Zusammenstellung von neueren Biographien und biographischen Materialien über einige führende Mitglieder der RKP(b) bzw. VKP(b) findet sich in: Bol'sevistskoe rukovodstvo. Perepiska. 1912-1927, hrsg. v. A.V. Kvasonkin, A.Ja. Livsin, O.V. Chlevnjuk, Moskau 1996, 398-401. Neuerdings: Service, Robert: Lenin. Eine Biographie. München 2000; Carrère d'Encausse, Hélène: Lenin. München, Zürich 2000; Monteflore, Simon Sebag: Stalin: The Court of the Red Tsar, London 2003; Service, Robert: Stalin. A Biography, London 2005; McDermott, Kevin: Stalin: Revolutionary in an Era of War, Basingstoke 2006. Differenzierte, auf Archivstudien fußende biographische Studien bieten: Chlevnjuk, Oleg: Stalin i Ordjonikidze. Konflikty ν politbjuro ν 30-e gody, Moskau 1993; Merridale, Catherine: The Making of a Moderate Bolshevik: an Introduction to L.B. Kamenev's Political Biography, in: Soviet History, 1917-1952. Essays in Honour of R.W. Davies, hrsg. v. Julian Cooper, Maureen Perrie, E.A. Rees, Basingstoke, London 1995, S. 22—41 ; Jansen, MarcIPetrov, Nikita: Stalin's Loyal Executioner: People's Commissar Nikolaj Ezhov, 1895-1940, Stanford 2002; Getty, J. Arch: Yezhov: the Rise of Stalin's 'Iron Fist', New Haven 2008; Boterbloem, Kees: The Life and Times of Andrei Zhdanov, 1896-1948, Montreal 2004; Fayet, Jean-Francois: Karl Radek (1885-1948). Biographie politique, Bern 2004; Watson, Derek: Molotov. A Biography, Basingstoke 2005. 20

Daniels, Robert Vincent: Das Gewissen der Revolution. Kommunistische Opposition in Sowjetrußland, Köln, Berlin 1962.

2. Konzepte, Methoden, Begriffe

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Marxismus bezieht. Mit dem Interesse an diesen gescheiterten Helden der Revolution verband sich bis zum Zusammenbrach der Sowjetunion meist die Suche nach Potentialen fur eine positivere Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft.21 Spätestens seit der Durchsetzung der Sozial- und Strukturgeschichte sind die Geschichte der Politik und damit auch die Geschichte der bolschewistischen Partei sowie das Genre der Biographie vollends in eine Krise geraten. In Ablehnung der durch die Politikgeschichte favorisierten Perspektive auf den Stalinismus „von oben" verzichtete eine große Gruppe von amerikanischen und westeuropäischen Sozialhistorikern, die die Sowjetunionforschung bis Mitte der 1990er Jahre dominierten, auf die biographische Erforschung der Parteiführung. Sie konzentrierten sich stattdessen auf die gesellschaftlichen Vorgänge und Konflikte, die ihrer Auffassung nach die Herrschaftsform des Stalinismus begünstigten.22 In der Sowjetunion blieben Biographien über Parteiführer populär. Die entsprechenden Arbeiten berücksichtigen zwar eine umfassende Bandbreite politischer Akteure, weisen jedoch eine fest kodifizierte, didaktische Narrationsform der Revolutionärsbiographie auf, die die Erfahrungen der ersten bolschewistischen Parteiführergeneration entindividualisiert. Hierbei handelt es sich in erster Linie um Festschriften, die anlässlich runder Geburts- und Todestage vorbereitet wurden. Diese spezifische Art der Biographik ist aus der institutionalisierten Selbststilisierung der selbsternannten professionellen Revolutionäre hervorgegangen und reproduzierte deren homogenisierenden Mythen.23 21

Siehe hierzu: McNeal, Robert: Trotskyist Interpretations of Stalinism, in: Stalinism. Essays in Historical Interpretation, hrsg. v. Robert C. Tucker, New Brunswick, London (1977) 1999, S. 30-52; Cohen, Stephen F.: Bukharin, NEP, and the Idea of an Alternative to Stalinism, in: ders.: Rethinking the Soviet Experience. Politics and History Since 1917, New York, Oxford 1985, S. 71-92. 22 Die unterschiedlichen Richtungen und „Kohorten" in der Stalinismusforschung sollen an dieser Stelle nicht noch einmal diskutiert werden. Hier sei auf die zahlreichen Forschungsberichte und Diskussionsbeiträge verwiesen: Fitzpatrick, Sheila: New Perspectives on Stalinism, in Russian Review 45 (1986), S. 352-373; Boffa, Giuseppe: The Stalin Phenomenon, Ithaca 1992; Baberowski: Wandel und Terror; Hildermeier, Manfred: Interpretationen des Stalinismus, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 654-674; Hellbeck, Jochen/Halfin, Igal: Rethinking the Stalinist Subject: Stephen Kotkins „Magnetic Mountain" and the State of Soviet Historical Studies, in: Jahrbücher fur Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 456-463; Plaggenborg, Stefan: Die wichtigsten Herangehensweisen an den Stalinismus in der westlichen Forschung, in: Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, hrsg. v. dems., Berlin 1998, S. 13-33; Stadelmann, Matthias: Die neue Kulturgeschichte des revolutionären Rußland. Diskursive Formationen und soziale Identitäten, Erlangen, Jena 1997; Fitzpatrick, Sheila: Introduction, in: Stalinism. New Directions, hrsg. v. ders., London 2000, S. 1-14. Einen sehr guten knappen Überblick mit umfangreichen Literaturangaben bietet: Stadelmann: Isaak Dunaevskij, S. 1-10. 23 Z.B. über Jaroslavskij: Agalkov, V.T.: Emel'jan Jaroslavskij ν Sibili, Irkutsk 1964; Mine, Isaak I.: Emel'jan Michajlovic Jaroslavskij (1878-1943), in: Izvestija Akademii Nauk USSR. Serija istorii i filosofii 1 (1944), S. 16-25; Grigor'ev, B.GJKut'ev, V.F.: Boec i letopisec revoljucii. O E.M. Jaroslavskom, Moskau 1960; Savel'ev, S.N.: Emel'jan

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I. Einleitung

Wie beschäftigt man sich aber im Hinblick auf die formulierte Fragestellung mit einem Individuum? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, zunächst auf die historiographische Gattung der politischen Biographie und auf einige Einwände, die gegen jegliche Form von personenorientierter Politikgeschichte vorgebracht wurden, einzugehen. Pierre Bourdieu hat in seinem kurzen Essay „L'illusion biographique" zu bedenken gegeben, dass der Versuch, ein Leben als einzigartige, sich selbst genügende Serie von Ereignissen zu begreifen, die keine andere Verbindung aufweise, als dass sie an ein Subjekt gebunden sei, dessen Kohärenz nur durch einen Eigennamen gewährleistet werde, genauso absurd sei, wie wenn man einer Fahrt mit der Metro einen Sinn abgewinnen wolle, ohne die Struktur des U-Bahn-Netzes zu kennen.24 Eine bestimmte Konzeption vom Menschen, ob sie nun explizit gemacht wird oder implizit hervorscheint, ist zentral für jede Art von Geschichtsschreibung, insbesondere aber für die Biographie, die den einzelnen Menschen zum Gegenstand hat. Die politische Biographie steht in der historiographischen Tradition des westeuropäischen 19. Jahrhunderts25, erfreut sich aber in ihrer populären Form auch heute noch anhaltender Beliebtheit. Etwas pauschal formuliert, macht die politische Biographie genau das, was Bourdieu als Illusion und Absurdität bezeichnet. Ihr Gegenstand sind Herrscherpersonen oder Mitglieder engerer Machteliten. Die Aufgabe des Biographen ist, die Intentionen, Zielvorstellungen und Pläne einer solchen „Persönlichkeit" mit deren Handeln und den hierdurch erzielten Ergebnissen abzugleichen. Solche Arbeiten gehen von der erkenntnisleitenden Prämisse aus, der herausragende Mensch sei in seinem Handeln und seinen Entscheidungen frei, seine Weltwahrnehmung, Denkweise und Handlungsmotive seien vernünftig. Die Vernunft wird vom Biographen als Eigenschaft vorausgesetzt, die der Gegenstand der Biographie, also der historisch herausragende Mensch, mit dem Biographen und dem potentiellen Rezipienten einer so verstandenen Biographie teilt. Diese gemeinsame Eigenschaft wird als Voraussetzung dafür gesehen, dass der Biograph den Lebensweg der historischen Figur rekonstruieren kann und dass die Leser diese Rekonstruktion verstehen können. Eine solche Vorannahme impliziert, dass alle Menschen nach der gleichen „Grammatik" funktionieren. Das kognitive Prinzip der Träger einer solchen „Grammatik" und der Darstellungsmodus der biographischen Narration ist Jaroslavskij - propagandist marksistskogo ateizma, Leningrad 1976; Antonjuk, D.I.: E.M. Jaroslavskij (k 100-letiju so dnja rozdenija), in: Voprosy istorii KPSS, 1978, H. 3, S. 9 8 102; Fateev, P.S.: Emel'jan Michajlovic Jaroslavskij, Moskau 1980; Jurasov, I.: E.M. Jaroslavskij i Sibir' (k 105 letiji so dnja rozdenija), in: Sibirskie ogni, 1983, H. 3, S. 117131; Illerickaja, N.V.: Istoriko-partijnoe tvorcestvo E.M. Jaroslavskogo, in: Voprosy istorii KPSS, 1987, H. 11, S. 93-107. 24 Bourdieu, Pierre: L'illusion biographique, in: Actes de la recherche en sciences sociales 62/62 (1986), S. 69-72, hier S. 71. 25 Zur narrativen Struktur der Historiographie im 19. Jahrhundert siehe: White, Haydn: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1990.

2. Konzepte, Methoden, Begriffe

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die Bildung von Kausalketten auf einer linearen zeitlichen Achse. Der vernünftige, in seinen Entscheidungen freie Mensch, der über allen Menschen gemeinsame kognitive Rezeptoren verfügt, ist ein Konstrukt des Aufklärungsdiskurses. Diejenigen Menschen, die diesen Anforderungen aus sozialen, kulturellen oder politischen Gründen nicht genügen, fallen durch das Raster einer so verstandenen Geschichtsforschung. Gegen eine solche Form der Geschichtswissenschaft sind schon in den 1930er Jahren von dem Soziologen Norbert Elias zwei gewichtige Einwände erhoben worden. Der eine betrifft die Konzeptualisierung historischer Akteure, der andere die mit dieser Konzeptualisierung unterstellte Vertrautheit des Handelns und Verhaltens historischer Menschen. Bezüglich der Konzeptualisierung des handelnden Individuums in der traditionellen Geschichtsschreibung bemerkt Elias, dass unter Historikern die „weitverbreitete Neigung [herrsche; S.D.], einzelne Herrscherpersonen wie Ludwig XIV. oder Friedrich den Großen und Bismarck zur letztlichen Erklärung geschichtlicher Abläufe zu benutzen, ohne (...) einen Aufriß des Abhängigkeitsgeflechts zu geben, das das Rahmenwerk ihrer Entscheidungen bildet (...). Auf diese Weise werden die Herrscher oder auch Mitglieder kleiner Machteliten den Beherrschten dann oft als Symbol der Freiheit des Individuums vorgestellt und die Geschichte selbst als eine Sammlung der Aktionen solcher Individuen."26

Die beiden möglichen extremen weltanschaulichen Grundhaltungen, der Mensch sei entweder „absolut frei" oder absolut „gesellschaftlich determiniert", hält Elias aus erkenntnistheoretischer Sicht für unhaltbar, da der Handlungsspielraum von einzelnen Menschen empirisch erst erwiesen werden müsse. Desweiteren bezweifelt Elias auch die von einigen Historikern angenommene Vertrautheit des Handelns und Denkens historischer Akteure und stellt fest, dass Historiker mit einem auf einen einzelnen Menschen gerichteten Blick und durch die Bildung von Kausalketten nicht in der Lage seien, z.B. die eigentümliche Etikette am Hofe Ludwigs des XIV. zu erklären. Einem Historiker, der ein solches Verfahren wähle, bleibe nichts anderes übrig, als die beobachteten Vorgänge als merkwürdiges Kuriosum zu qualifizieren, das sich einer vernünftigen Erklärung entziehe. Derartige Fremdheitserfahrungen standen auch am Beginn dieses personengeschichtlich ausgerichteten Forschungsprojekts. Die von Thomas Mergel aufgestellte Forderung an eine moderne Kulturgeschichte der Politik, der Historiker müsse sich gleich dem Ethnologen dazu zwingen, eine Position des „Fremden" gegenüber seinem Gegenstand einzunehmen27, erübrigte sich in den Moskauer Archiven. Das „Fremde" drängte sich geradezu auf und musste nicht künstlich evoziert werden. Der gewählte Forschungsgegenstand sperrte 26

Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Baden Baden 2002, S. 242. 27 Mergel, Thomas: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606, hier S. 604.

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I. Einleitung

sich gegen die Gattung der traditionellen politischen Biographie. Jaroslavskijs Vorstellungen, sein Verhalten und seine Handlungen insbesondere hinsichtlich der Bereiche Ideologie und Terror ließen sich zunächst nur schwer semantisieren. Schon allein die Sprache der Dokumente verursachte erhebliche Schwierigkeiten. Die angeregten politischen Debatten der 1920er Jahre, in denen unterschiedliche Standpunkte zum Ausdruck kamen, wurden seit Beginn der 1930er Jahre von denselben Akteuren sukzessiv durch eine Konsens suggerierende, stark ritualisierte Sprache und ebensolche Umgangsformen ersetzt. Die referentielle Funktion von Sprache, auf die der Verfasser einer politischen Geschichte oder politischen Biographie so angewiesen ist, verliert sich in den Dokumenten der 1930er Jahre. Zwischen den Forscher und sein Objekt tritt eine Barriere fester Redewendungen und offizieller Leitbilder, die das von uns erwartete Individuum und seine Denkweisen scheinbar überdecken. Möglicherweise erklärt sich durch diese Probleme auch die Distanz zur Biographie in der Sowjetunionforschung. In der bisherigen biographischen Forschung, aber auch in den klassischen politikgeschichtlichen Darstellungen sind daher die bolschewistische Ideologie und die öffentlichen Verlautbarungen der politischen Akteure häufig als reine Propaganda gewertet worden, mit der die Parteiführer das Ziel verfolgt hätten, ihre eigenen, vermeintlich illegitimen Machtinteressen zu verschleiern, die sowjetische Bevölkerung und die einfachen Parteimitglieder für die eigenen Zwecke zu mobilisieren und über die Realität hinwegzutäuschen. Diese Interpretation ist zwar nicht zwingend falsch, ihre Erklärungskraft aber dürftig. Sie macht deutlich, dass die entsprechenden Autoren ihre eigenen Vorstellungen von politischem Handeln ihren Untersuchungen zugrundelegen und sich eben nicht vorstellen können, wie ein nur einigermaßen intelligenter Mensch an solche vermeintlich primitiven ideologischen Parolen glauben konnte. Die relative zeitliche Nähe zum Untersuchungsgegenstand begünstigt wohl die Illusion, dass die Mitglieder der bolschewistischen Führung genauso „ticken" wie die Historiker, die sie untersuchen. Die Konfrontation mit den Archivalien hat eine solche Sichtweise unhaltbar gemacht.28 In einer Diskussion über den Begriff „Kulturrevolution" hat Sheila Fitzpatrick, eine der profiliertesten Kennerinnen der sowjetischen Geschichte, bemerkt, dass auch sie die Öffnung der Parteiarchive zu Beginn der 1990er Jahre mit der Hoffnung verbunden habe, darüber Auskunft zu bekommen, ob die Mitglieder der bolschewistischen Führung an die aberwitzigen Beschuldigungen von „Sabotage" und „Schädlingsarbeit" in den Prozessen gegen die Ingenieure und Techniker, die an der Jahrzehntwende von den 1920er zu den 1930er Jahren in mehreren Schauprozessen verurteilt worden waren, wirklich geglaubt haben. Sie habe aber feststellen müssen, dass die führenden Bolschewisten vielfach in ihrer internen Korrespondenz und im Privaten die28

Halfin, Igal: Poetics in the Archives: The Quest for „True" Bolshevik Documents, in: Jahrbücher fur Geschichte Osteuropas 51 (2003), S. 84-89.

2. Konzepte, Methoden, Begriffe

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selbe Sprache benutzten wie in der Öffentlichkeit.29 Es ist aus heutiger Perspektive ein erstaunlicher Befund, dass sich die Äußerungsweisen Jaroslavskijs und vieler seiner Genossen in öffentlichen Dokumenten von denen in nicht für fremde Augen und Ohren bestimmten Texten zumindest hinsichtlich des Inhalts häufig nicht wesentlich voneinander unterscheiden. In Jaroslavskijs privater und halbprivater Korrespondenz und selbst in seinen Tagebüchern figurieren dieselben „trotzkistischen Kontrabandisten", „Schädlinge", „Doppelzüngler" und „faschistischen Missgeburten" wie in seinen öffentlichen Verlautbarungen. Dieser Befund legt die Vermutung nahe, dass die politischen und ideologischen Konzepte, die in diesen Texten zum Ausdruck kommen, der Realitätswahrnehmung Jaroslavskijs und vieler seiner Genossen, so unwahrscheinlich das aus heutiger Perspektive auch erscheinen mag, durchaus entsprachen. Einen bemerkenswerten Versuch, die außerordentliche Gewalttätigkeit und vermeintliche Irrationalität der stalinschen Herrschaft zu erklären, hat Robert Tucker mit seiner zweibändigen Stalinbiographie unternommen. Unter Anwendung von aus der Psychoanalyse stammenden Methoden hat Tucker versucht, die Schrecken des Stalinismus auf Stalins vermeintlich pathologische Psyche, genauer auf kindliche Traumata, zurückzuführen. Auch wenn Tuckers Werk insgesamt beeindruckt und sehr lesenswert ist, können gegen ein solches Verfahren einige Einwände vorgebracht werden. Zum einen bedeutet die Tatsache, dass eine Handlung oder ein Verhalten für Historiker aus ihrer Zeitgebundenheit heraus nicht gleich verstanden werden, nicht zwingend, dass diese irrational sind. Ronald Grigor Suny hat daher zu Recht dafür plädiert, dass selbst eine so außergewöhnliche Figur wie Stalin nur aus ihrem kulturellen und sozialen Interdependenzgeflecht heraus verstanden werden könne.30 Ein grundlegendes Problem bei der Anwendung von aus der Psychoanalyse stammenden Methoden in der Geschichtswissenschaft ist, dass die klassische Psychoanalyse eine allen Menschen gemeinsam Struktur dessen annimmt, was sie das Unterbewusste nennt.31 Die Übertragbarkeit des Freudschen Modells muss dahingehend angezweifelt werden, dass es sich an den spezifischen Problemen des patriarchalisch strukturierten Fin-de-Siècle Bürgertums orientiert, dessen Probleme aber als archetypische Struktur be-

29

Fitzpatrick, Sheila: Cultural Revolution Revisited, in: Russian Review 58 (1999), S. 202-209, hier S. 203. 30 Suny, Ronald G.: Beyond Psychohistory: The Young Stalin in Georgia, in: Slavic Review 50 (1991), S. 48-58; eine überzeugende Kritik an der Übertragbarkeit psychoanalytischer Kategorien auf die russische und sowjetische Geschichte bietet: Engelstein, Laura: Paradigms, Pathologies, and other Clues to Russian Spiritual Culture: Some Post-Soviet Thoughts, in: Slavic Review 57 (1998), S. 864-877. 31 Eine solche Auffassung hat auch der französische Experte für russische Geistesgeschichte Alain Besancon vertreten: Psychoanalytische Geschichtsschreibung, in: Geschichte und Psychoanalyse, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Köln 1971, S. 101-155, hier S. 128.

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I. Einleitung

greift und daher gesellschaftliche Veränderungen und ihre Auswirkungen auf das Individuum nicht adäquat erfasst. Einige neuere, auf Archivmaterial beruhende Arbeiten zur Geschichte der bolschewistischen Partei und der Komintern in den 1930er Jahren haben versucht, den hermeneutischen Zirkel zu durchbrechen, der die Historiker in ihrem kognitiven Raster verharren läßt. Hier sind vor allem die Untersuchungen von J. Arch Getty, Oleg Chlevnjuk, William Chase und Benno Ennker zu nennen.32 Bei allen signifikanten Unterschieden in den jeweiligen Arbeiten lässt sich erkennen, dass diese Historiker bedeutend mehr Wert auf die politische Praxis legen, d.h. auf die Regeln, nach denen die einzelnen Mitglieder der bolschewistischen Führungsgarde miteinander interagierten. Besonders Getty und Ennker gehen davon aus, dass Menschen durch ihr Handeln bestimmte Strukturen wie z.B. „Selbstkritikrituale" oder den Stalinkult herstellen, ohne dass diesen Phänomenen konkrete politische Entscheidungsprozesse zugrundeliegen. Diese Autoren lösen damit indirekt die Forderung Norbert Elias' ein, dass der Mensch als ein in Interdependenzgeflechten mit anderen Menschen verstricktes Wesen konzeptualisiert werden müsse, und dass der Historiker sich der Fremdartigkeit der historischen Individuen nur dann annähern und ihre Handlungsspielräume, Abhängigkeiten und ihre Vorstellungswelten ermitteln könne, wenn der einzelne Mensch in seinen Beziehungen zu anderen sichtbar gemacht werde. Wirklichkeit wird in diesen neueren Arbeiten als intersubjektiver Erfahrungsraum konzeptualisert, in dem Menschen einander bestätigen, was sie für real halten. Auf diese Weise stellen die entsprechenden Autoren auch eine Verbindung zwischen politischer Praxis und Ideologie her.33 Ein weiterer neuerer Forschungszweig in der russischen und sowjetischen Geschichte kann zwar nicht im engeren Sinne als biographisch oder politikgeschichtlich bezeichnet werden, ist aber dennoch für die vorliegende Arbeit von erheblichem Belang: Gemeint sind die neueren Forschungen zur Subjektivität, die insbesondere von jüngeren Historikern wie Jochen Hell32

Getty/Naumov: Road to Terror; Getty, J. Arch: Afraid of their Shadows: The Bolshevik Recourse to Terror, 1932-1938, in: Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, hrsg. v. Manfred Hildermeier, München 1998 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. 43), S. 169-192; ders.: Samokritika Rituals in the Stalinist Central Committee, 1933-1938, in: The Russian Review 58 (1999), S. 47-70; Chlevnjuk·. Stalin i Ordjonikidze; ders.: Politbjuro. Mechanizmy politiceskoj vlasti ν 1930-e gody, Moskau 1996; Chase, William: Enemies within the Gates? The Comintern and Stalinist Repressions, 1934-1939, New Haven, London 2001; Ennker, Benno: Politische Herrschaft und Stalinkult 1929-1939, in: Stalinismus: neue Forschungen und Konzepte, hrsg. v. Stefan Plaggenborg, Berlin 1998, S. 151-182; ders.: „Struggling for Stalin's Soul": The Leader Cult and the Balance of Power in Stalin's Inner Circle, in: Personality Cults in Stalinism/Personenkulte im Stalinismus, hrsg. v. Klaus Heller, Jan Plamper, Göttingen 2004, S. 161-196. 33 Zum Zusammenhang zwischen Praxis und Ideologie siehe auch die Überlegungen von: Fitzpatrick, Sheila: Politics as Practice. Thoughts on a New Political History, in: Kritika 5 (2004), S. 27-54, hier S. 35-39.

2. Konzepte, Methoden, Begriffe

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beck, Igal Halfin, Susan Morrissey und Susanne Schattenberg betrieben werden.34 Diese innovative Form der Geistesgeschichte orientiert sich häufig methodisch an dem von Michel Foucault geprägten Begriff des Diskurses. Der Mensch erscheint hier als Schnittmenge von Diskursen, also von Texten und Bildern, die in einem sozialen Raum kursieren. Die diesen Arbeiten zugrundeliegenden Quellen sind Selbstzeugnisse35, also Texte, wie u.a. Tagebücher, autobiographische Schriften und Briefe, aber auch fiktionale Literatur36, in denen Menschen über sich selbst sprechen, sowie Texte, die als Folien für das Sprechen über sich selbst dienen. Für unsere personengeschichtlich angelegte Studie sind diese Arbeiten anregend, weil sie erstens zeigen, dass Menschen sich bestimmter kulturell bedingter sprachlicher Formen bedienen, um über sich und ihre Erfahrungen zu sprechen, diese Formen aber auch immer wieder neu schaffen. Zweitens haben diese Forschungen ein weitverbreitetes Konzept, das Ideologie entweder als kanonische Texte oder als Propaganda fasst, überzeugend in Frage gestellt. Sie verstehen Ideologie nicht als von oben gesteuerte Doktrin, sondern als Diskurs, der von einer Vielzahl von Akteuren auf unterschiedliche Weise aufgenommen, weitergeleitet und verändert wird. Besonders Jochen Hellbeck hat zu bedenken gegeben, dass die bolschewistische Ideologie nicht außerhalb der Zeitgenossen stand, dass diese nicht entscheiden konnten, ob sie an diese Ideologie glauben wollten oder nicht, sondern dass ihr gesamtes Leben, ihr Selbstbild und ihre Weltanschauung von dem allgegenwärtigen ideologischen Diskurs durchdrungen worden sei.37 Drittens erlaubt die Annahme, dass die Äußerungsformen und Denkweisen von Individuen durch Diskurse bzw. Codes konstituiert werden, die in einer semiotischen Gemeinschaft kursieren, aus der Analyse scheinbar zufalliger individueller Äußerungen Schlüsse über die in

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Hellbeck, Jochen: Fashioning the Stalinist Soul: The Diary of Stepan Podlubnyj (19311939), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 344-373; ders.: SelfRealization in the Stalinist System: Two Soviet Diaries of the 1930s, in: Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, hrsg. v. David L. Hoffmann, Yanni Kotsonis, Basingstoke, London 2000, S. 185-203; ders.'. Working, Struggling, Becoming: Stalin-Era Autobiographical Texts, in: Russian Review 60 (2001), S. 340-359; ders.: Revolution on my Mind: Writing a Diary under Stalin, Cambridge 2006; Halfin, Igal: From Darkness to Light: Student Communist Autobiography During NEP, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997), S. 210-236; ders.: From Darkness to Light. Class, Consciousness and Salvation in Revolutionary Russia, Pittsburgh 2000; Morrissey, Susan: Heralds of Revolution. Russian Students and the Mythologies of Radicalism, New York, Oxford 1998; Schattenberg, Susanne: Stalins Ingenieure. 35 Siehe hierzu: Schulze, Winfried: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996; Hahn, Alois /Kapp, Volker (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M. 1987. 36 Beispielhaft sei hier die Arbeit von Thomas Lahusen genannt: How Life Writes the Book. Real Socialism and Socialist Realism in Stalin's Russia, Ithaca, London 1997. 37 Hellbeck: Stalin-Era Autobiographical Texts; ders.I Halfin: Rethinking the Stalinist Subject.

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I. Einleitung

bestimmten Gruppen gültigen Codes zu ziehen.38 Unbefriedigend bleibt jedoch bei vielen dieser innovativen Arbeiten, dass der Zusammenhang zwischen Diskurs, Herrschaft und Intention geleugnet und dem Diskurs die Rolle zugeschrieben wird, das eigentliche geschichtsmächtige Agens zu sein. Nicht zufallig wird das Thema der Ideologieproduktion auf der Ebene der Parteiführung in diesen Arbeiten ausgeblendet. Pierre Bourdieu hat demgegenüber argumentiert, dass Diskurse nie außerhalb von Machtbeziehungen existieren, und gefordert, dass die Eigenschaft des Diskurses mit der hierarchischen Stellung dessen, der ihn hält, und mit der Eigenschaft der Institution, die den Diskurs autorisiert, in Beziehung gesetzt werden müsse.39 Sowohl die neueren Forschungen über die bolschewistische Partei als auch die Arbeiten über Subjektivität im Stalinismus zeigen Möglichkeiten auf, wie historische Individuen und damit auch der Bolschewist Jaroslavskij in den sie umgebenden sozialen und sprachlichen Strukturen beschrieben werden können. Das methodische Vorgehen in der vorliegenden Arbeit orientiert sich an diesen theoretischen und quellenkritischen Erkenntnissen. Um die eingangs formulierten Fragen beantworten zu können, soll hier untersucht werden, wie bolschewistische Herrschaft funktionierte, wie Jaroslavskij zu ihrem Funktionieren beitrug und schließlich wie bolschewistische Herrschaft auf ihre Träger zurückwirkte. Die Annäherung an Jaroslavskij soll aus zwei Richtungen, aus einer Außen- und einer Binnenperspektive erfolgen: Zum einen sollen die Strukturen, die Jaroslavskij s Handeln und Denken bestimmten und einschränkten, erarbeitet und die Regeln, nach denen er mit seinen Genossen interagierte, erörtert werden; zum anderen soll gezeigt werden, wie er seine jeweilige Situation selbst deutete. Diese beiden Perspektiven sollen immer wieder aufeinander bezogen werden. Jaroslavskij interessiert in diesem Zusammenhang nicht als herausragende Person, sondern als Knoten in einem Netz von Beziehungen und Texten, also gewissermaßen als Sonde, um den spezifischen Herrschaftsmechanismen auf die Spur zu kommen. Da die Ideologieproduktion neben der Gewalt ein wesentlicher Bestandteil bolschewistischer Herrschaft war, erscheint gerade Jaroslavskij als Fokus für ein solches Forschungsanliegen geeignet. An seinem Beispiel kann das Verhältnis zwischen Realitätswahrnehmung, Ideologie und Macht erörtert werden. Zudem eröffnet Jaroslavskij durch seine Sozialisation im 19. Jahrhundert und als Überlebender des Terrors eine Perspektive der „mittleren Dauer", die sich über seine eigentliche Lebenszeit hinaus ausdehnt. Fernand Braudel hat in seinem berühmten Artikel über die „lange Dauer" diese als die tiefgreifendste und langsamste Form aller historischen Zeiten definierte Zeitspanne 38 Beispielhaft hierfür: Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 1993; Biernacki, Richard: Language and the Shift from Sign to Practices in Cultural Inquiry, in: History and Theory 39 (2000), S. 289-310, hier S. 297. 39 Bourdieu, Pierre: Die autorisierte Sprache, in: ders.: Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs, Wien 1990, S. 73-83, hier S. 77.

2. Konzepte, Methoden, Begriffe

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gegen zwei andere Zeitspannen abgegrenzt: gegen die schnelle ereignishafte Zeit einerseits und gegen die „mittlere Dauer" der zyklisch konjunkturellen Zeit ökonomischer Auf- und Abwärtsphasen, aber auch sozialer, politischer und kultureller Konjunkturen andererseits.40 Jaroslavskij ist mit Formen sozialer Interaktion und mit Diskursen sozialisiert worden, die schon vor ihm existierten. Zwar liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf den späten 1920er und den 1930er Jahren; es wird aber zu fragen sein, inwieweit zählebigere Traditionen die so dynamische wie gewaltsame Entwicklung bolschewistischer Herrschaft begünstigten und inwieweit sie die Schablonen lieferten, mit denen Jaroslavskij und vermutlich auch andere Bolschewisten versuchten, die meist selbstausgelösten akuten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen zu bewältigen. Zunächst müssen aber noch einige Begriffe geklärt werden, die für diese Arbeit ein grundlegendes Analyseinstrumentarium bilden. Ein zentraler Begriff ist der der Identität. Zwar ist die Operationalisierbarkeit des Identitätsbegriffs in den Sozialwissenschaften aufgrund seiner Vieldeutigkeit in jüngster Zeit mehrfach in Frage gestellt worden.41 Jedoch liegt gerade in dieser Vieldeutigkeit sein Wert für die vorliegende Arbeit, da er sowohl das Soziale als auch das Subjektive umfasst. Identität soll hier zum einen als Inbegriff von im Laufe des Lebens erworbenen Erfahrungen, Gewohnheiten und Dispositionen verstanden werden, die ein Individuum prägen. Diese bilden in ihrer Summe den Habitus eines Menschen. Der Begriff Habitus ist wesentlich von Pierre Bourdieu geprägt. Der Habitus ist ein Stück von durch Sozialisation verinnerlichter Gesellschaft und bedingt eine tiefgehende, vortheoretische, d.h. nicht reflektierte Grundhaltung der Welt gegenüber.42 Der Habitusbegriff bezeichnet ein „implizites" Selbst, das sich in allen Äußerungen eines Menschen manifestiert, aber nicht selbstreflexiv ist. Der Identitätsbegriff umfasst zum anderen ein „explizites" Selbst, das sich ausdrücklich zum Gegenstand öffentlicher Kommunikation und Darstellung macht. Identität erscheint hier als etwas bewusst durch bestimmte narrative Praktiken Konstruiertes. Einer näheren Erläuterung bedarf im Rahmen dieser Arbeit auch der Begriff Interaktion. Hier soll die Prämisse Bourdieus geteilt werden, dass die Interaktionen von Menschen in einem sozialen Raum auf dem Tausch von Ressourcen beruhen und dass sich durch diesen Tausch die hierarchische Positionierung der Akteure in diesem sozialen Raum, dem Feld, ergibt. Zur Bestimmung der inneren Struktur dieses sozialen Raums verwendet Bourdieu 40

Braudel, Fernand: Geschichte und Sozialwissenschaften: Die lange Dauer, in: ders.: Schriften zur Geschichte, Bd. 1 : Gesellschaften und Zeitstrukturen, Stuttgart 1992, S. 49-87. Siehe hierzu: Brubaker, Rogers/Cooper, Frederick: Beyond „Identity", in: Theorie and Society 29 (2000), S. 1-47; Mansfield, Nick: Subjectivity: Theories of the Self from Freud to Harraway, New York 2000. 42 Bourdieu, Pierre: Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld, in: ders.: Der Tote packt den Lebenden. Schriften zur Politik und Kultur 2, Hamburg 1997, S. 59-78, ders./Wacquant, Loie J.D.: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, S. 159. 41

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I. Einleitung

das Bild des Markts, auf dem mit Kapitalien verhandelt wird. Bourdieu hat den ökonomischen Kapitalbegriff um andere Kapitalsorten, um das soziale, kulturelle und symbolische Kapital, erweitert.43 Dieser offene Kapitalbegriff ist für unser Vorhaben nutzbringend, weil marktwirtschaftliche Tauschbeziehungen, also der Tausch von Geld und Waren, sowohl im Milieu der vorrevolutionären radikalen intelligencija, in deren Umfeld Jaroslavskij verkehrte, als auch in der bolschewistischen Partei eine bestenfalls untergeordnete Rolle spielten.44 Die hierarchische Position und die Machtmittel einer Person definierten sich nicht, wie in idealtypischen bürgerlichen Gesellschaften, durch die Menge an ökonomischem Kapital in ihrem Besitz, sondern durch andere Ressourcen wie z.B. eine einwandfreie Revolutionärsbiographie oder später durch bedingungslose Loyalität zu Stalin. Mit welchen Strategien und mit welchen Einsätzen der Kampf um Status und Autorität geführt wurde, soll in dieser Arbeit am Beispiel Jaroslavskij s gezeigt werden. Der bourdieusche Kapitalbegriff bildet in Verbindung mit der Kategorie Identität in unserem Zusammenhang ein geeignetes Instrumentarium, um das Funktionieren bolschewistischer Herrschaft und die Rolle der einzelnen Akteure zu untersuchen.

3. Q u e l l e n Die „Allgegenwärtigkeit" Jaroslavskij s und die durch seine Person gegebene Perspektive der „mittleren Dauer", die ihn für unsere Zwecke einerseits zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand machen, gestalten den Zugang andererseits schwierig. Der Quellenbestand, der dieser Arbeit zugrundeliegt, ist sehr umfangreich, extrem heterogen, und die einzelnen Zeitabschnitte in Jaroslavskij s Leben sind unterschiedlich dicht dokumentiert. Der größte Teil der verwendeten Archivalien stammt aus dem ehemaligen Archiv der KPdSU, dem heutigen Russischen Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social 'no-Politiceskoj Istorii, RGASPI).45 Dort liegt ein sehr umfangreicher persönlicher Bestand Jaroslavskij s, der trotz seiner Heterogenität einen ersten Zugang erleichtert hat.46 43

Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Ungleichheit, hrsg. v. Reinhard Kreckel, Göttingen 1983, S. 183-198. Zu antikapitalistischen Einstellungen und nicht-marktwirtschaftlichen Interaktionsformen in der russischen intelligencija siehe: Clark, Katerina: Petersburg. Crucible of Cultural Revolution, Cambridge, London 1995, S. 16-23; Walker, Barbara: Maximilian Voloshin's House of the Poet: Intelligentsia Social Organization and Culture in Early 20th Century Russia, Ph.D. diss., University of Michigan 1994. 45 Falls die in dieser Arbeit aufgeführten Archivalien nicht anders gekennzeichnet sind, stammen sie aus diesem Archiv. 46 Der persönliche Bestand Jaroslavskijs setzt sich insgesamt aus zwölf Findbüchern (iopisi) zusammen. Die in opis 12 verzeichneten Akten sind erst Ende der 1990er Jahre aus dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation (APRF), dem ehemaligen Archiv des Politbüros, in das RGASPI überführt worden und erst seitdem zur Nutzung freigege-

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3. Quellen

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Wenn es darum geht, Jaroslavskij und andere B o l s c h e w i s t e n in ihrer alltäglichen Interaktion sichtbar zu machen und auf diese Weise das Funktionieren bolschewistischer Herrschaft zu beschreiben, dann ist die private und dienstliche Korrespondenz dieser Personen miteinander und übereinander v o n erheblicher Relevanz. Sie gibt Auskunft darüber, wer mit w e m und nach w e l chen Regeln verkehrte, wer w e m w e l c h e Informationen übermittelte oder vorenthielt, w i e die einzelnen Bolschewiki übereinander sprachen, wann sich die Grenzen des Sagbaren verschoben und die U m g a n g s f o r m e n veränderten. D i e s e Briefe liegen verstreut in den unterschiedlichen persönlichen Beständen der Parteiführer. Zudem sind in jüngster Zeit mehrere sehr nützliche Briefsammlungen veröffentlicht worden. 4 7 Desweiteren wurden die Bestände des ZK, vor allem die Protokolle des Politbüros s o w i e die stenographischen Mitschriften v o n Parteitagen und den gemeinsamen Plena v o n ZK und Z K K verwendet. In den letzten Jahren sind einige umfangreiche Quelleneditionen zu diesem Arkanbereich der Politik erschienen. 4 8 Von unschätzbarem Wert für die vorliegende Arbeit sind die Dokumente, die sich im Besitz der Familie Jaroslavskijs befinden. Hierbei handelt es sich u m über hundert Briefe Jaroslavskijs an seine Frau, die hochrangige Parteifunktionärin Klavdija Kirsanova, aus den Jahren 1916 bis 1937 und um

ben. Der persönliche Bestand Jaroslavskijs ist wie die persönlichen Bestände anderer Parteiführer nicht das Ergebnis seiner eigenen Archivierungstätigkeit. Diese Bestände spiegeln daher nur bedingt das, was diese Parteiführer für wichtig und bewahrenswert gehalten haben. Diese Bestände sind vielmehr von Archivaren zusammengestellt worden. Siehe hierzu: Koseleva, L\àï]ajRogovaja, Larisa: Les fonds d'archives personnels des dirigeants soviétiques: histoire de leurs formation et histoire actuelle, in: Cahiers du monde russe 40 (1999), S. 91-100. Jaroslavskij führte jedoch auch ein eigenes Archiv. Einige Dokumente in seinem licnyj fond sind mit einem Vermerk an seinen Sekretär „in mein Archiv" gekennzeichnet. Hierbei handelt es sich häufig um Texte, die seine Auseinandersetzungen mit anderen Bolschewisten dokumentieren. Auf diese Weise sammelte Jaroslavskij offensichtlich auch kompromittierendes Material über seine Widersacher in der Partei. Zudem archivierte er Texte, in denen seine ideologischen Standpunkte oder seine Handlungen von höherer Stelle sanktioniert wurden. 47 Bol'sevistskoe rukovodstvo; Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska, 1928-1941, hrsg. v. A.V. Kvasonkin, A.Ja. Livsin, O.V. Chlevnjuk, Moskau 1999; Stalin. Briefe an Molotow, 1925-1926, hrsg. v. Lars T. Lih, Oleg Naumow, Oleg Chlewnjuk, Berlin 1996; Stalin i Kaganovic. Perepiska, 1931-1936, hrsg. v. O.V. Chlevnjuk, R.U. Devis, L.P. Koseleva, E.A. Ris, L.A. Rogovaja, Moskau 2001. Einige unveröffentlichte Briefe sind der Autorin dankenswerterweise von Aleksandr' Kvasonkin zur Verfügung gestellt worden. 48 Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma CK VKP(b) 1937 goda, in: Voprosi istorii, 1992, H. 2-12; 1993, H. 2, 5-9; 1994, H. 1-2, 6, 8, 10, 12; 1995, H. 2-8, 10-12; Stalinskoe Politbjuro ν 1930-e gody, hrsg. v. O.V. Chlevnjuk, A.V. Kvasonkin, L.P. Koseleva, L.A. Rogovaja, Moskau 1995; Getty/Naumov: Road to Terror; Kak lomali NEP. Stenogrammy plenumov CK VKP(b), 1928-1929, 5 Bde., hrsg. v. V.P. Danilov, O.V. Chlevnjuk, A.Ju. Vatlin, Moskau 2000; RKP(b). Vnutripartijnaja bor'ba ν dvadcatye gody. Dokumenty i materialy, 1923 g., hrsg. v. K.M. Anderson, V.P. Vilkova, O.V. Volobuev u.a., Moskau 2004; Vlast' i chudozestvennaja intelligencija. Dokumenty CK RKP(b) - VKP(b), VCK - OGPU - NKVD o kul'turnoj politike. 1917-1953, hrsg. v. A.N. Jakovlev, A. Artizov, O. Naumov, Moskau 1999. Weiteres Material ist in den Jahren 1989/90 in den Izvestija CK KPSS veröffentlicht worden.

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I. Einleitung

Jaroslavskijs „Tagebücher", die der Autorin für die Jahre 1934 bis 1937 vorliegen.49 Jaroslavskij hat diese „Tagebücher" selbst nicht so genannt, sondern „persönliche Aufzeichnungen" (licnye zapiski). Diese Aufzeichnungen tätigte er mit Ausnahme der Sommeijahreshälfte, in der er sich zumindest teilweise im Urlaub befand, regelmäßig in einen Kalender.50 Die publizierten Quellen, d.h. Jaroslavskijs Artikel in der Presse, propagandistische Broschüren, Monographien über Parteigeschichte und veröffentlichte Reden, stellen den umfangreichsten Quellenkorpus dar. Hier wurden insbesondere Texte ausgewählt, die sich im allerweitesten Sinne mit Parteigeschichte und den innerparteilichen Machtkämpfen befassen. Eine wichtige Funktion haben Briefe auch vor diesem Hintergrund. Das Entstehen von ideologischen Texten, die damit verbundenen Intentionen und Interessen sowie die inhaltliche Bedeutung der Texte können nur durch die Korrespondenz der Ideologieproduzenten untereinander, mit den verschiedenen Redaktionskollegien oder höhergestellten Instanzen deutlich gemacht werden. Die ideologischen Texte als kulturelle Artefakte müssen immer vor dem Hintergrund ihrer Entstehung, d.h. der Bedingungen ihrer Produktion, gelesen werden. Weniger zentrale Bestände, die in diese Arbeit Eingang gefunden haben, befinden sich im Russischen Staatsarchiv (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, GARF), insbesondere die Akten der zarischen Geheimpolizei, von der Jaroslavskij seit 1898 regelmäßig observiert wurde, und im Archiv der Akademie der Wissenschaften (Archiv Akademii Nauk, AAN). Es ist eine Konvention in Qualifikationsarbeiten, dass die darin verwendeten Quellenbestände in der Einleitung aufgeführt und auf ihren Informationsgehalt und ihre Aussagekraft überprüft werden. Hier soll eine etwas andere Vorgehensweise gewählt werden: Die vorliegende Arbeit stellt insgesamt auch einen Versuch dar, die Bewertungsmöglichkeiten des durch die Öffnung der Archive zugänglich gewordenen Materials in Kombination mit veröffentlichten Quellen auszuloten. Hiermit schließt dieses Vorhaben an die Diskussionen der letzten Jahre über die Qualität und Bedeutung der Dokumente an, die uns durch die Öffnung der Archive zu Beginn der 1990er Jahre zugäng-

49 Es gibt einige Hinweise darauf, dass Jaroslavskij auch außerhalb dieser vier Schlüsseljahre der stalinistischen Diktatur persönliche Aufzeichnungen getätigt hat. Andere Auszüge aus Jaroslavskijs persönlichen Aufzeichnungen, die sich nicht in den Tagebüchern des erwähnten Zeitraums befinden, hat Kirsanova nach dem Tod ihres Manns zusammengestellt und an Stalin geschickt. Diese liegen daher in Stalins persönlichem Bestand. F.558, o p . l l , d.842,1.75-85. Darüber, ob weitere Tagebücher existierten und falls ja, aus welchen Gründen sie der Autorin nicht zugänglich gemacht worden sind, ließe sich lange spekulieren. Die Tatsache aber, dass sie gerade für die Jahre des beginnenden Terrors erhalten sind und daher besondere politische Brisanz vermuten lassen, legt nahe, dass Jaroslavskij außerhalb dieser Jahre entweder nicht regelmäßig Tagebuch führte, oder dass diese Aufzeichnungen verlorengegangen sind. 50 Für das Jahr 1934 gibt es keine Einträge zwischen dem 5.5. und dem 9.11., für das Jahr 1935 zwischen dem 24.4. und dem 18.11, für das Jahr 1936 zwischen dem 3.2. und dem 31.8. Den letzten Eintrag tätigte Jaroslavskij am 2.3.1937. Damit bricht das Tagebuch ab.

3. Quellen

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lieh gemacht worden sind.51 Die neuen Entdeckungen haben bei einigen Historikern zu Enttäuschungen geführt, da sie in den Archiven nicht das fanden, was sie erwartet hatten. Erwartet hatten sie offensichtlich, dass die fuhrenden Bolschewiki uns hinter einer Fassade der Lüge ihr „wahres Gesicht" zeigen. 50 ist z.B. in einer Stellungnahme beklagt worden, dass die persönlichen Nachlässe der Parteiführer deren „wahre" Befindlichkeiten, Denkweisen und Ideologien im Dunkeln ließen. Aufgrund der Seltenheit und der „schlechten Qualität" der Memoirenliteratur stehe außerdem zu befürchten, dass es unmöglich sein werde, ein psychologisches Porträt dieser Figuren zu zeichnen. Mit dieser Enttäuschung verband sich lediglich die Hoffnung, dass man durch den Zugriff auf noch geheimere Dokumente, z.B. aus dem Archiv des FSB oder dem sogenannten Präsidentenarchiv {Archiv Presidenta Rossijskoj Federaci!, APRF), die bis heute für die meisten Wissenschaftler unzugänglich sind, Licht ins Dunkel bringen könne.52 Gegen eine solche Bewertung sind einige Einwände vorzubringen: Kann man z.B. von einem Molotov erwarten, dass er sich in seinen Gesprächen mit dem Journalisten Feliks Cuev in die Lage eines heutigen aufgeklärten westeuropäischen Demokraten versetzt, um eben diesem Demokraten seine Motivlagen und Befindlichkeiten in den Jahren des Terrors zu erklären? Solche Einschätzungen kommen durch die Neigung einiger Zeithistoriker zustande, ihre eigenen Denkweisen auf ihre Untersuchungsgegenstände zu projizieren.53 Es würden wohl nur sehr wenige Mittelalterhistoriker auf die Idee kommen, eine Heiligenvita oder eine Chronik als Quelle von „schlechter Qualität" zu bezeichnen, nur weil deren Inhalte heutigen Vorstellungen von Rationalität nicht entsprechen. Zwar sollen auch in der vorliegenden Arbeit Quellen zur Rekonstruktion von historischem Geschehen, d.h. als Faktensteinbruch genutzt werden. Ebenso ist der Autorin bewusst, dass die Bolschewiki auf zynische Weise gelogen, wie Jaroslavskij vorsätzlich Dokumente gefälscht und eine ausgeklügelte Politik der Geheimhaltung gepflegt haben. Durch diese Praktiken werden aber die Quellen nicht wertlos. Die Erklärungskraft einer solchen Feststellung wäre vielmehr hinsichtlich der Funktionsmechanismen bolschewistischer Herrschaft und der subjektiven Verfasstheit der Parteiführer relativ gering. Hier soll daher vordringlich auf der Basis des zugänglichen Quellenmaterials darüber nachgedacht werden, welche Funktion bzw. Bedeutung die unterschiedlichen Praktiken und Ausdrucksformen wie z.B. die unterschiedlichen Abstufungen von Geheimhaltung, ideologische Texte und Selbstzeugnisse in dem Interaktionsgefüge und Wertesystem hatten, in dem Jaroslavskij

51 Dem Problem der Archive haben die Cahiers du monde russe 40 (1999) und die Jahrbücher für Geschichte Rußlands 51 (2003) eigens Themenhefte gewidmet. 52 Graziosi, Andrea: The New Soviet Archival Sources. Hypotheses for a Critical Assessment, in: Cahiers du monde russe 40 (1999), S. 13-64, besonders S. 26-27. 53 Halfìn: „True" Bolshevik Documents.

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I. Einleitung

sich bewegte. Erklärungsbedürftig ist z.B. der Umstand, dass Jaroslavskij eine derartige Menge an ideologischen Texten produzierte, von denen sich viele inhaltlich kaum voneinander unterscheiden. Welche Funktion hatte diese Vielschreiberei? In welchem Zusammenhang stand die Fülle an biographischen und autobiographischen Texten von und über hochstehende Bolschewisten? Welche Bedeutung hatte das Tagebuch, das Jaroslavskij mindestens in den Jahren 1934 bis 1937 führte? Diese Tagebuchaufzeichnungen entsprechen weder unseren heutigen Vorstellungen von diesem Genre als Instrument individueller Introspektion54, noch unterscheiden sie sich inhaltlich in wesentlicher Weise von Jaroslavskijs öffentlichen Äußerungen. Wie erklärt sich schließlich die merkwürdige Einmütigkeit, die uns in den Stenogrammen der öffentlichen und nichtöffentlichen Parteiversammlungen der 1930er Jahre überliefert ist? Diese Fragen sind das Ergebnis einer ständigen Abgleichung der oben vorgestellten methodischen Überlegungen mit den Quellen. Es bleibt zu hoffen, dass auf diese Weise zum Verständnis bolschewistischer Herrschaft und deren Wirkung auf ihre Träger beigetragen werden kann.

54 Zur Entwicklung des Genres Tagebuch in der westeuropäischen Kultur siehe: Kapp, Volker: Von der Autobiographie zum Tagebuch (Rousseau - Constant), in: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, hrsg. v. dems., Alois Hahn, Frankfurt a.M. 1987, S. 297-310.

II. Identität und Identitätskonstruktion 1. Rationalität und Gefühl: zwei Pole der Identitätsbildung und Weltaneignung Leopold Haimson hat in seiner klassischen Arbeit über die Russische Sozialdemokratie im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Kategorien „Spontaneität" bzw. „Gefühl" und „Bewusstsein" bzw. „Rationalität" als zentrale Orientierungsmuster bezeichnet, mit denen die Mitglieder der unterschiedlichen sozialdemokratischen Fraktionen sowohl die Identität der Arbeiterklasse analysierten als auch ihre eigenen Lebenserfahrungen interpretierten. Die doppelte Orientierung in der Selbstanalyse der russischen Sozialdemokraten führt Haimson einerseits auf deren positivistische Lektüre materialistischer Philosophie, insbesondere der Texte von Marx, und andererseits auf einen latenten populistischen Romantizismus zurück. Nicht nur die Sozialdemokraten, sondern die Vertreter der radikalen russischen intelligencija insgesamt seien durch zwei dichotomische Bedürfnisse motiviert worden: zum einen ihre Rolle in der russischen Gesellschaft mit Hilfe rationaler Welterklärungsmodelle wie den Naturwissenschaften und der materialistischen Philosophie zu interpretieren und zum anderen für die „unterdrückten Volksmassen" zu sprechen, ihnen zur Bewusstwerdung ihrer Lage zu verhelfen und gemeinsam mit ihnen zu agieren.1 Die von Haimson eingeführten Kategorien „Spontaneität" und „Bewusstsein" sind jüngst von Anna Krylova wieder aufgegriffen worden. Krylova hat dabei zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Sowjetunionforschung 1 „For almost three decades, the members of the various factions of Social Democracy had been content to interpret the data of their life experience - and to define and phrase their varied and changing political stands - through the medium of the two conceptual and symbolic categories 'consciousness' and 'spontaneity'. The whole complex of psychological and social factors that had conditioned the development of the intelligentsia had been reflected in the meaning that had been asigned to these two categories. It had been their common quest for consciousness, for a reasonable and responsible world view in the face of an alien and indifferent society, that had originally brought the members of the intelligentsia together. The influence of the West had been the chief agent of their alienation; yet it had been through this agency, through the prism of the abstract categories of Western philosophical systems, that they had sought to find a meaningful identity, an intelligible pattern and order in the process of reality. This search for a 'conscious' identity - through the relentless exercise of a rationality trained in the school of Western rationalism - had widened the chasm, that separated the intelligentsia from the world around them. (...) The very intensity of their efforts to find a 'conscious' identity had periodically given rise in many members of the intelligentsia to an opposite striving, to an urge to break out of their isolation and to give free 'spontaneous' expression to their feelings - by 'fusing' with an outside popular force which, however oppressed by the existing order, was assumed to have the power and the 'inner freedom' that the intelligent himself lacked." Haimson, Leopold H.: The Russian Marxists and the Origins of Bolshevism, 3. Aufl., Boston 1971, S. 209-210.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

kaum für die Kategorie der Spontaneität bzw. des Gefühls in der bolschewistischen politischen Kultur interessiert hat, dafür aber um so mehr für die Kategorie des Bewusstseins, die eine erstaunliche Karriere gemacht habe. Ausgehend von der Auffassung, dass für die Bolschewiki das Gefühl oder Spontaneität eine negative Erscheinung gewesen sei, die habe überwunden werden müssen, hätten auch die Wissenschaftler diese Kategorie aus der Liste ihrer Forschungsgegenstände gestrichen.2 Der Eindruck, den wir am Beispiel unseres Themas gewonnen haben, widerspricht ebenfalls diesem einseitigen Urteil: Die Kategorie des Gefühls und insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen Gefühl und Rationalität hatten eine ganz wesentliche Bedeutung für die sowjetische politische Kultur, weil hierdurch sowohl die Frage nach der Legitimität bolschewistischer Herrschaft insgesamt als auch nach der Legitimität des Auftretens einzelner Bolschewisten berührt wird. Da die Herrschaft der Bolschewiki nicht durch demokratische Verfahren legitimiert wurde, hing der Erfolg ihrer Partei im wesentlichen davon ab, inwieweit sie in der Lage waren, die arbeitende Bevölkerung auch emotional anzusprechen und mit der Arbeiterschaft gemeinsam zu agieren. Andererseits begründeten die Bolschewiki ihren selbstangemaßten Avantgarde-Status mit ihrem vermeintlich überlegenen theoretischen Wissen und insbesondere mit ihrer Kenntnis der marxistisch-leninistischen Ideologie. Eine der Thesen dieser Arbeit ist, dass die zentrale Dichotomie, die Haimson beschreibt, nicht nur von Bedeutung für die Entwicklung des russischen Marxismus und der Theorien Lenins ist, sondern dass auch der Stalinismus als allerdings destruktiver Versuch betrachtet werden kann, diese Spannung aufzulösen. Dieses Argument soll mit dem Fokus auf Jaroslavskij im Laufe dieser Arbeit begründet werden. In diesem Kapitel soll es zunächst darum gehen, das Koordinatensystem zu erarbeiten, in dem Jaroslavskij in seiner Jugend und im frühen Erwachsenenalter seine Identität als Revolutionär konstruierte und seine Vorstellungen von Politik entwickelte. Die Periode der Revolutionen von 1917, des Bürgerkriegs und der frühen 1920er Jahre bildete eine Testphase für diese Vorstellungen; denn Jaroslavskij und seine Genossen mussten mit der Machtübernahme durch ihre Partei zum ersten Mal ihre revolutionären Ideale mit den Erfordernissen der Realität, d.h. mit den Zwängen, denen eine regierende Massenpartei in einer mehrjährigen Krisensituation ausgesetzt war, abgleichen. Im Laufe der Arbeit wird zu zeigen sein, dass Jaroslavskij s Einstellungen bis in die späten 1930er Jahre hinein zwar relativ stabil blieben, durch zentrale Ereignisse, Krisenperioden und die allgemeine Veränderung des politischen, sozialen und diskursiven Umfelds aber eine erhebliche Verformung erfuhren und eine destruktive Wirkung entfalteten. Jaroslavskij bietet so 2

Krylova, Anna: Beyond the Spontaneity-Consciousness Paradigm: „Class Instinct" as a Promising Category of Historical Analysis, in: Slavic Review 62 (2003), S. 1-23, hier S. 1-8.

1. Rationalität und Gefühl: Identitätsbildung und Weltaneignung

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einen geeigneten Fokus, um zu untersuchen, was schief ging auf dem Weg von den idealistischen und emanzipatorischen Hoffnungen der revolutionären intelligencija zur Realität der bolschewistischen Herrschaft. a. Jugend in der Verbannung und Engagement im revolutionären

Untergrund

Jaroslavskij wurde am 19. Februar (3. März) 1878 als Icko-Mejer (Minej) Izrailevic Gubel'man in der ostsibirischen Stadt Cita als Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater stammte aus der Stadt Kamenec-Podol'sk in der Westukraine, deren Bevölkerung zu 40 Prozent aus Juden bestand. 3 Er hatte aus religiösen Gründen den Dienst in der zarischen Armee verweigert und war dafür lebenslänglich nach Sibirien verbannt worden. Er war Kürschner, übte diesen Beruf aber nicht aus und schien sich überhaupt wenig um den wirtschaftlichen Erhalt der vielköpfigen Familie gekümmert zu haben. Jaroslavskij s Tochter bezeichnete ihren Großvater in einem Gespräch mit der Autorin als Jüdischen Lehrer" (evrejskij ucitel) und Talmudisten, der sich überwiegend mit dem Studium religiöser Texte und der Kommunikation mit anderen jüdischen „Gelehrten" beschäftigt habe. Jaroslavskijs Mutter, Brajna, die vermutlich schon in der Bajkal-Region geboren worden war, war ebenfalls Jüdin. Ihr Vater hatte in Barguzinsk als Fischer gearbeitet. Über die Umstände, unter denen sich ihre Familie in Sibirien angesiedelt hat, ist nichts bekannt. Brajna arbeitete seit ihrem 13. Lebensjahr als Haushälterin und Köchin bei reichen jüdischen Familien und gewährleistete den Unter- und Zusammenhalt der Familie. Beide Eltern waren religös. Der Vater sprach ausschließlich jiddisch; die Mutter lernte erst im Erwachsenenalter, angeblich bei den Nachkommen der Dekabristenfamilie Smoljaninov, die russische Sprache sowie das Lesen und Schreiben.4 Jaroslavskij hatte neun Geschwister.5 Die Lebensverhältnisse in der Familie waren ärmlich, die zwischenmenschlichen Beziehungen aber offenbar harmonisch und liebevoll. Während seiner späteren Gefängnisaufenthalte korrespondierte Jaroslavskij regelmäßig mit seiner Mutter, die seine politische Tätigkeit unterstützt zu haben scheint, und den Geschwistern, von denen mindesten zwei, der jüngere Bruder Moisej und die ältere Schwester Etta (Tanja, Tat'jana), ebenfalls im revolutionären Untergrund aktiv waren.6 Anhand eines Fotos aus der Mitte der 1890er Jahre,

3

Magocsi, Paul Robert: Historical Atlas of East Central Europe, Washington 1993, S. 108-109. Gespräch der Autorin mit Marianna Jaroslavskaja vom 10.5.2000. Jaroslavskij schrieb seiner Mutter 1902 aus dem Gefängnis in Cita auf jiddisch. F.89, op.l, d.l, 1.13. 5 Agalkov: Emel'jan Jaroslavskij ν Sibiri, S. 7. Sechs seiner Geschwister sind mit Namen und Beruf in einem Fragebogen der zarischen Geheimpolizei vom 12. Februar 1905 aufgeführt. GARF, f.102, op.1905, d.731 c.8, l.l-2ob. 6 In einem Brief an seine ältere Schwester Tanja aus seinem späteren Verbannungsort in Jakutsk, erinnerte sich Jaroslavskij daran, wie er in seiner Kindheit von der Mutter und den Geschwistern umsorgt wurde. Brief Jaroslavskijs an Tanja Gubel'man vom 10.11.1913, S. 6-7. Familienarchiv. In Jaroslavskijs Gefängnistagebüchem, die er während seines

4

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Minej Gubel'man (Emel'jan Jaroslavskij) ca. 1896 in Nercinsk

auf dem die Gubel'mans mit allen Attributen bürgerlicher Kultur abgebildet sind, lässt sich zudem schließen, dass die Familie ambitioniert war.7 Jaroslavskij s ältere Schwester Etta besuchte trotz der strengen Zugangsrestriktionen für Juden das örtliche Gymnasium.8 Jaroslavskij allerdings arbeitete seit seinem neunten Lebensjahr in einer Buchbinderwerkstatt und schloss mit vierzehn Jahren die dreijährige städtische Schule ab. Nach Abschluss der Schule trat er eine Ausbildung zum Apothekershelfer, einem typischen jüdischen Beruf, an.9 Durch beständiges autodidaktisches Studium konnte er 1898 an der Kazan'er Universität die Prüfung zum Pharmazeuten ablegen, arbeitete darauf aber nicht als solcher, sondern widmete sich zunehmend seiner politischen Tätigkeit, ging unregelmäßigen Beschäftigungen wie Schreibarbeiten, Privatunterricht oder als Tagelöhner bei den Gleisbauarbeiten der transsibirischen Eisenbahn nach. Mitte der 1890er Jahre zog die Familie nach

Aufenthalts im Moskauer Gefängnis Butyrka von 1909-1911 verfasste, finden sich mehrere Abschriften der Briefe von Familienangehörigen. F.89, op. 1, d.4,1.92-96,1. 143-169. 7 Das Familienporträt ist abgedruckt in: Fateev, P.SJKorolev, V.V. (Hrsg.): O Emel'jane Jaroslavskom: Vospominanija, ocerki, stat'i, Moskau 1988. 8 1886/87 wurde im Russischen Reich ein Numerus clausus eingeführt, der Prozentsätze festsetzte, die den Zugang von Juden zu den Gymnasien und Hochschulen nach einem gestaffelten Quotensystem innerhalb und außerhalb des Ansiedlungsrayons regelten. Siehe hierzu: Hausmann, Guido: Der Numerus clausus für jüdische Studenten im Zarenreich, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41 (1993), S. 509-531. 9 Kleinmann, Yvonne: Neue Orte - neue Menschen. Jüdische Lebensformen in St. Petersburg und Moskau im 19. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 120-121, 150, 171.

1. Rationalität und Gefühl: Identitätsbildung und Weltaneignung

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dem Tod des Vaters vorübergehend in die nicht weit von Cita gelegene Stadt Nercinsk.10 Cita war ein wichtiges Zentrum der Handelsaktivitäten des Russischen Reichs mit China. Die langsame Industrialisierung der Stadt und der gesamten Region setzte aber erst mit dem Bau der transsibirischen Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts ein. Cita war zudem ein wichtiger Ort im System der Straflager und der Verbannung des Russischen Reichs. Viele zu Zwangsarbeit in den berüchtigten geschlossenen Straflagern von Nercinsk Verurteilte wurden nach Beendigung ihrer Frist lebenslänglich in Cita und der näheren Umgebung angesiedelt. Gegen 1900 hatte Cita 11.500 Einwohner. Die Stadt bestand um die Jahrhundertwende überwiegend aus Holzhäusern, verfugte über kein ausgebautes Abwassersystem, die Straßen waren zu großen Teilen ungepflastert, Waren und Menschen wurden mit Pferdekarren transportiert, Telefone und elektrisches Licht waren eine Seltenheit." Jaroslavskij gehörte als Jude und als Kind einer in der Verbannung lebenden, ärmlichen kinderreichen Familie zu den städtischen Randgruppen und fiel aufgrund seiner Herkunft aus dem Ständesystem des Russischen Reichs heraus.12 Er hatte weder Zugang zur offiziellen russischen Gesellschaft, noch zu höherer Bildung, da er als Jude strengen Zugangsrestriktionen zu den Gymnasien und Universitäten unterlag. Insgesamt koinzidierte Jaroslavskijs Kindheit und Jugend mit einer reaktionären und antijüdischen Politik. Die Ermordung Alexanders II. durch Mitglieder der revolutionären Gruppierung Narodnaja volja im Jahr 1881, an der auch jüdische Revolutionäre beteiligt waren, gepaart mit den gravierenden sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen dieser Zeit, begünstigten nicht nur antisemitische Stimmungen in den russischen Bevölkerungsteilen, die sich vielerorts in Pogromen entluden, sondern auch die zunehmende Verdrängung von Juden aus dem öffentlichen Leben.13 10 Autobiographie Jaroslavskijs, geschrieben für die „Kommission zur Erforschung der Geschichte der Oktoberrevolution und der Partei" (Istpart) beim Leningrader Gebietskomitee der RKP(b), Dezember 1925. F.89, op.l, d.10,1.5. 11 Kremenev, A.I.: Citinskaja oblast'. Kratkij ocerk prirody, ekonomiki i kul'tury, Cita 1955; Enciklopediceskij slovar', Bd. 38, hrsg. v. F.A. Brokgauz', I.A. Efron, St. Petersburg 1903, S. 880-882; siehe auch: Brower, Daniel R.: The Russian City between Tradition and Modernity, 1850-1900, Berkeley 1990. 12 Zum Ständesystem im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts sowie zu den sozialen und kulturellen Spannungen siehe: Freeze, Gregory: The Soslovie (Estate) Paradigm and Russian Social History, in: American Historical Review 91 (1986), S. 11-36; zu den städtischen Unterschichten siehe: Hildermeier, Manfred: Was war das mescanstvo? Zur rechtlichen und sozialen Verfassung des unteren städtischen Standes in Russland, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 36 (1985), S. 15-53; zur jüdischen Bevölkerung in der BajkalRegion siehe: Kal'minina, L N J K u r a s , L.V.: Evrejskaja obscina ν Zapadnom Zabajkale (60-e gody XIX veka - fevral' 1917 goda), Ulan-Ude 1999. 13 Zur rechtlichen und sozialen Stellung von Juden im Russischen Reich zwischen 1881 und 1917 siehe: Freitag, Gabriele: Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole, 1917-1932, Göttingen 2004, S. 3 5 - 4 9 ; Löwe, Heinz-Dietrich: The Tsars and the Jews. Reform, Reaction and Antisemitism in Imperial Russia, 1772-1917, Chur 1993; Kleinmann: Neue Orte, S. 285-387.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Als etwa 15-Jähriger wurde Jaroslavskij von seiner Schwester Etta zum ersten Mal mit oppositionellem Gedankengut konfrontiert. Seine Schwester, die nach dem Abschluss des Gymnasiums in dem unter jüdischen Frauen weitverbreiteten Beruf der Hebamme und Masseurin arbeitete14, stand in Kontakt mit oppositionellen Zirkeln, die sich aus Gymnasiasten, Studenten, Lehrern und Arzthelfern zusammensetzten. Aber erst 1895 in Nercinsk wurde er nach eigenen Angaben durch den Lehrer Michail Cernjavskij, der aufgrund seiner Teilnahme an Studentendemonstrationen in St. Petersburg verbannt worden war, in die Texte der Sozialisten Lassalle und Flerovskij eingeführt. Diese Schriften hätten sein Interesse am Marxismus geweckt. Mit seiner Rückkehr nach Cita im Jahr 1898 begann Jaroslavskij, ebenfalls nach eigenen Angaben, sich ganz der politischen Arbeit zu widmen und vermehrt an den Diskussionen in den Zirkeln der dort ansässigen Kolonie der politischen Verbannten teilzunehmen.15 Um 1900 verkehrte er wie auch seine ältere Schwester Etta (Tanja) und sein jüngerer Bruder Moisej überwiegend in den Zirkeln oppositioneller Studenten und Gymnasiasten sowie in den Kreisen der politischen Verbannten. Zur selben Zeit begann er, gemeinsam mit anderen Studenten und einigen verbannten Narodovol'cy, Zirkel unter den Arbeitern der transsibirischen Eisenbahn zu organisieren, die in speziellen Siedlungen entlang der Bahnlinie lebten.16 Nach seinem zweijährigen Militärdienst in Cita nahm Jaroslavskij Verbindung zur Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDRP) auf. Zu Beginn des Jahres 1902 reiste er für einige Monate nach Berlin und Paris, um illegale Literatur zu beschaffen, und konnte dort offenbar Kontakte zu Sozialdemokraten in der Emigration und mit der Redaktion der Iskra aufnehmen. Die Zeitschrift war u.a. von Lenin, Julij Martov und Georgij Plechanov gegründeten worden, um die Aktivitäten der russischen Marxisten zu koordinieren. Seitdem betätigte sich Jaroslavskij als Korrespondent der Iskra und informierte die Redaktion über die Vorgänge in der Bajkal-Region. Nach seiner Rückkehr aus dem Ausland gründete Jaroslavskij mit einigen anderen Genossen die erste sozialdemokratische Organisation in Cita.17

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Im Jahr 1883 machten Jüdinnen in St. Petersburg sechs Prozent aller Ärztinnen und Hebammen aus. Kleinmann: Neue Orte, S. 170-171. 15 Jaroslavskij, Em.: O tov. Sergee Ivanovice Martynovskom (1869-1926 g.), in: Katorga i ssylka, 1926, no. 27, S. 201-206, hier S. 202-203. 16 Siehe hierzu die Stenogramme eines Erinnerungsabends in der Gesellschaft der ehemaligen Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes vom 24.4.1925, an dem einige ehemalige Arbeiter (u.a. Innokentij Voroncov und Ivan Gorskov) über die Zusammenarbeit mit Jaroslavskij und mit den politischen Verbannten in Cita um 1900 berichteten. F. 89, op.8, d.140,1.4-21. 17 Agalkov, V.T.: Emel'jan Jaroslavskij ν Zabajkal'e, in: Iz istorii partijnych organizacii Vostocnoj sibirii, Irkutsk 1962, S. 327-348, hier S. 335; Jaroslavskij, Em.: Pervaja rabocaja organizacija ν Zabajkal'e, in: Proletarskaja revoljucija, 1923, no. 4, S. 344-346. Ein Bericht Jaroslavskijs über die Mai-Demonstration in Cita an die Redaktion der Iskra ist abgedruckt in: Sibirskie korrespondencii ν leninskuju „Iskru", Irkutsk 1939, S. 15-16.

1. Rationalität und Gefühl: Identitätsbildung und Weltaneignung

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Minej Gubel'man (Emel'jan Jaroslavskij) 1905

1903 musste Jaroslavskij Sibirien nach einer ersten Verhaftung verlassen, fuhr nach St. Petersburg und wurde dort als Mitglied des St. Petersburger Komitees der RSDRP kooptiert. Hiermit begann er seine Karriere als professioneller Revolutionär. Zwischen 1905 und 1907 führte Jaroslavskij, der sich seit Beginn des Jahres 1905 zur bolschewistischen Fraktion der RSDRP bekannte, das Leben eines typischen Untergrundarbeiters. Er bereiste die industriellen Zentren in der Provinz des Russischen Reichs, u.a. Tver, Tula, Niznyj Novgorod, Odessa, Kostroma, Kiev, Jaroslavl und Ekaterinoslavl, lebte in konspirativen Wohnungen, organisierte Parteikomitees, Streikbewegungen, agitierte, verteilte illegale Literatur, druckte Proklamationen und rekrutierte Mitglieder.18 In der vorrevolutionären Zeit gab es drei mögliche Lebensformen für Parteiarbeiter: die Emigration, legale oder illegale Arbeit im Russischen Reich. Das Leben eines illegalen Untergrundarbeiters beinhaltete die ständige Gefahr der Verhaftung, setzte einen bestimmten Verhaltenskodex voraus, der auf Konspiration, persönlichem Vertrauen und Empfehlungen basierte, und generierte weitgesponnene persönliche Netzwerke, die auch nach 1917 noch eine wichtige Rolle spielten.19 In St. Petersburg und in Moskau engagierte sich Jaroslavskij in den militärischen Organisationen der Partei, agitierte unter Soldaten und gab die an Soldaten gerichteten Zeitschriften Zizn' soldato (Das Leben des Soldaten) und 18 Siehe hierzu den autobiographischen Text: Jaroslavskij, Em.: Stranicki vospominanija (1905 god). Iz Tuly na Volgu, in: Proletarskaja revoljucija, 1922, no. 6, S. 107-124. 19 Der revolutionäre Untergrund gehört zu den von der westlichen Forschung vernachlässigten Themen. Eine Ausnahme bildet: Elwood, Ralph C.: Russian Social-Democrats in the Underground: A Study of the RSDRP in the Ukraine, Assen 1974. Siehe auch die allerdings etwas holzschnittartige Charakterisierung der sog. komitetciki bei: Easter: Reconstructing the State, S. 30-31, S. 35-37. Zur Bedeutung dieser Netzwerke und zu den Konflikten zwischen Emigranten und Untergrundarbeitem nach 1917 siehe: Fitzpatrick, Sheila: The Bolshevik's Dilemma: Class, Culture and Politics in the Early Soviet Years, in: Slavic Review 47 (1988), S. 599-626.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Kazarma (Kaserne) heraus. Er war Delegierter auf der Parteikonferenz der bolschewistischen Fraktion der RSDRP in Tammerfors im Dezember 1905, auf dem Parteitag in Stockholm im Frühjahr 1906 und auf dem Londoner Parteitag im Frühjahr 1907.20 Hiermit war er ins Zentrum der RSDRP vorgestoßen. Jaroslavskij stand seit 1898 unter ständiger Beobachtung der ochrana, der zarischen Geheimpolizei, und war seit 1903 mehrmals inhaftiert worden.21 1907 wurde er direkt nach seiner Rückkehr vom Londoner Parteitag festgenommen und von einem außerordentlichen Militärgericht als führender Kopf einer konspirativen militärischen Organisation der RSDRP, die während der Parteikonferenz in Tammerfors gegründet worden war, wegen Agitation, der Herstellung von Sprengstoff und der Vorbereitung eines bewaffneten Aufstands zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt.22 Das Urteil wurde später auf fünf Jahre abgemildert.23 Er saß bis 1910 im St. Petersburger Durchgangsgefängnis für verurteilte Zwangsarbeiter Kresty, von 1910 bis 1912 in der berüchtigten Butyrka in Moskau und bis 1913 in der Nercinsker Strafkolonie im Gefängnis Gornyj Zerentuj. Jaroslavskij arbeitete auf dieser letzten Station nicht in den berüchtigten Gold- und Silberminen, sondern wie auch schon in der Butyrka in einer Schreinerwerkstatt sowie als Heizer.24 Er verbrachte längere Zeitabschnitte in Einzelhaft.25 Im Sommer 1913 wurde er entlassen und lebenslänglich nach Jakutsk, in ein weiteres Zentrum des zarischen Straf- und Exilsystems, verbannt. Dort konnte er sich relativ frei bewegen, hatte Zugang zur russischen liberalen und Arbeiterpresse sowie zu deutschen und polnischen Zeitungen26, leitete die örtliche Wetterstation und das Heimatkundemuseum; damit übernahm er eine Tätigkeit, die auch vor seiner Ankunft ausschließlich von politischen Verbannten ausgeübt wurde.27

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Grigor'ev/Kut'ev: Boec i letopisec, S. 12-16. Siehe hierzu die Berichte der Geheimpolizei über Jaroslavskijs politische Tätigkeit und Jaroslavskijs Gefangnisakten in: F.89, op.l, d.l u. 2. 22 Eine Kopie der Strafverfolgungsakte gegen Jaroslavskij und die anderen Mitglieder der konspirativen militärischen Organisation befindet sich in: F.89, op.l, d.3 (Iz obvinitel'nogo akta peterburgskogo voenno-okruznogo suda po delu o boevoj organizacii pri peterburgskom komitete RSDRP). 23 GARF, f. 102, 7 del-vo, 1907, d.4388,1.319. 24 Autobiographie Jaroslavskijs, geschrieben für die „Kommission zur Erforschung der Geschichte der Oktoberrevolution und der Partei" (Istpart) beim Leningrader Gebietskomitee der RKP(b), Dezember 1925. F.89, op.l, d.10,1.10. 25 Eine anschauliche Beschreibung der Haftbedingungen in der Nercinsker Katorga liefert: Ackeret, Markus: In der Welt der Katorga. Die Zwangsarbeitsstrafe für politische Delinquenten im ausgehenden Zarenreich (Ostsibirien und Sachalin), München 2007 (Osteuropa-Institut, Mitteilungen, 56). 26 Jaroslavskij las regelmäßig die sozialistischen Zeitungen und Zeitschriften Pravda truda, Novaja rabocaja gazeta, Za pravdu, Trud, Nasa zarja, Prosvescenie, aber auch die populäre, national-antiautokratische Zeitung Russkoe slovo sowie die von den Liberalen herausgegebene Zeitung Ree'. Brief Jaroslavskijs an Tanja (Etta) Gubel'man, 10.11.1913, S. 4-5. Familienarchiv. 27 Sisigin, E.S.: Emel'jan Jaroslavskij i Jakutskij kraevedeeskij muzej, in: Poljarnaja zvezda, 1978, H. 3, S. 112-115. 21

1. Rationalität und Gefühl: Identitätsbildung und Weltaneignung

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Minej Gubel'man (Emel'jan Jaroslavskij) nach seiner Verhaftung im Frühjahr 1907 im St. Petersburger Durchgangsgefángnis für verurteilte Zwangsarbeiter Kresty

In Jakutsk lernte Jaroslavskij seine Frau, die aus einer russischen Mittelstandsfamilie aus Murom stammende Klavdija Ivanovna Kirsanova, kennen, die ebenfalls als Bolschewistin verbannt worden war.28 Er knüpfte Kontakte mit Bolschewisten wie Grigorij (Sergo) Ordjonikidze, Grigorij Petrovskij und Viktor Nogin, die nach der Machtübernahme der bolschewistischen Partei im Oktober 1917 wichtige Positionen einnehmen sollten. Insbesondere die Verbindung zu Ordzonikidze sollte sich in den 1920er und 1930er Jahren als bedeutsam erweisen. Jaroslavskij spielte eine zentrale Rolle in der kleinen sozialdemokratischen Organisation, die sowohl aus Bolschewisten als auch aus Menschewisten bestand - ein Umstand, der ihn später angreifbar machen sollte.29 Er leitete marxistische Zirkel und engagierte sich in der von politi28

Klavdija Ivanovna Kirsanova wurde 1888 in Murom als Tochter eines Ingenieurs und höheren Angestellten geboren. Sie besuchte das Gymnasium. Seit 1903 engagierte sie sich in von Studenten und Gymnasiasten getragenen oppositionellen Zirkeln und wurde 1905 des Gymnasiums verwiesen. Zwischen 1906 und 1910 wurde Kirsanova, die 1904 der RSDRP beigetreten war, mehrmals verhaftet und schließlich 1910 nach Jakutsk verbannt. Avtobiografija Klavdii Kirsanovoj (undatiert). F.124, op.l, d.863,1.2-6. 29 Die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDRP) war formal 1898 in Minsk gegründet worden. Auf dem zweiten Parteitag 1903 in London spaltete sie sich in eine von Lenin angeführte bolschewistische und in eine von Julij Martov und Pavel Akselrod geleitete menschewistische Fraktion. Der Grund für die Spaltung waren unüberwindbare Meinungsverschiedenheiten bzgl. der Frage, ob man eine Massenpartei von Gesinnungsgenossen oder - wie Lenin es wollte - eine Elitepartei von Berufsrevolutionären schaffen sollte.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

sehen Verbannten aller Parteien getragenen Kasse der gegenseitigen Hilfe.30 Nach dem Sturz des Zarenregimes im Februar 1917 wurde Jaroslavskij als Vorsitzender des örtlichen Sowjets gewählt. Er verließ im Mai, sobald die Flüsse wieder schiffbar waren, im Verbund mit anderen Revolutionären Jakutsk. Die Zeit in den Gefängnissen und in der Verbannung diente dem Autodidakten Jaroslavskij als eine Art revolutionäre Universität. Jaroslavskij s Notizbücher aus den St. Petersburger und Moskauer Gefängnissen legen Zeugnis über sein beachtliches Studienpensum ab. Die Auswahl seiner Lektüre dokumentiert seine positivistische Orientierung, seine Begeisterung für Naturwissenschaften und moderne Technik, seinen Glauben an materialistische und evolutionistische Welterklärungsmodelle und seine Suche nach Gesetzmäßigkeiten in der Natur sowie in der Geschichte. Viele der von Jaroslavskij gelesenen Texte entsprachen dem Zeitgeist. Sie sind Ausdruck eines gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitverbreiteten Bedürfnisses nach einer Verobjektivierung von Ethik und Politik und nach fortschrittsfordernden Rezepten für die Entwicklung einer humaneren Gesellschaft.31 Er las Bücher über Mechanik, Naturwissenschaften, insbesondere über Physik, Physiologie und Botanik, materialistische Philosophie, Psychologie, Geschichte, Kriegswissenschaft, aber auch fiktionale Literatur. Alle diese Texte exzerpierte er gründlich, las viele davon in der jeweiligen Originalsprache und übersetzte sie ins Russische. Er entwarf selbst populärwissenschaftliche Texte über Elektrizität, Flugzeuge, die Zukunft der Luftfahrt und einen Entwurf zu einer „Ethik der Zukunft".32 Während seiner sibirischen Verbannung interessierte er sich insbesondere für die Sibirischen Erzählungen und die politischen Reportagen über aufsehenerregende Gerichtsfälle Vladimir Korolenkos, eines der bekanntesten Vertreter des russischen Populismus.33 Ebenfalls in Jakutsk kulti30 Jaroslavskij, Em.: Cto bylo devjat' let nazad ν Jakutske (o fevral'skoj revoljucii ν Jakutske) (1926), in: Em. Jaroslavskij. O Jakutii (stat'i, pis'ma, reci, telegrammy), Jakutsk 1968, S. 127-143, hier S. 128; ders.: Nakanune fevral'skoj revoljucii ν Jakutske (1927), in: O Jakutii, S. 144-155, hier S. 152. 31 Siehe hierzu: Engels, Eve-Marie (Hrsg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1995. 32 In diesen umfangreichen Notizbüchern befinden sich Exzerpte aus: Gustave LeBon: Evolution der Materie (L'évolution de la matière, 1905), Ernst Haeckel: Das ungelöste Welträtsel. Gemeinverständliche Studie über monistische Philosophie (1899), Max Verworn: Die Mechanik des Geisteslebens (1905), Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums (1841), Friedrich Engels: Antibrumaire, V.l. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus (1908), Pavel Miljukov: Ocerki po istorii russkoj kul'tury (1898), Michail Pokrovskij: Istorija Rossii, August Bebel: Mein Leben, Adam Smith: An enquiry into the nature and causes of the wealth of nations (1776), James Clerk Maxwell: Matter and motion (1876) u. Manual of elementary science, August Forel: Gehirn und Seele (ca. 1900), Jakob Moleschott: Untersuchungen zur Naturlehre (1857) u. Physiologisches Skizzenbuch (1861), A. Olivieri San Giacomo: Psichologija della Caserna u. Il soldato italiano, Emanuel Baron Korff: Zur Beziehung zwischen Kriegswissenschaft und Gesellschaftswissenschaft, und nichtidentifizierbare Exzerpte aus Goethes Transmutationstheorie, Descartes, Spinoza, Edgar Alan Po, Thomas More und Adam Mickiewicz. F.89, op.l, d.4. 33

Brief Jaroslavskijs an Tanja (Etta) Gubel'man, 10.11.1913, S. 5. Familienarchiv.

1. Rationalität und Gefühl: Identitätsbildung und Weltaneignung

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Emel'jan Jaroslavskij, seine Frau Klavdija Kirsanova und ihre Tochter Marianna in der Jakutsker Verbannung, Anfang 1917

vierte Jaroslavskij in seiner Funktion als Leiter des Heimatkundemuseums seine Interessen an Botanik und Ethnographie, beschäftigte sich mit der Sammlung und Konservierung von Pflanzen und war korrespondierendes Mitglied der Russischen Geographischen Gesellschaft.34 In mehreren autobiographischen Texten aus den 1920er Jahren bezeichnet Jaroslavskij das Umfeld, das ihm die exilierten Mitglieder der unterschiedlichen oppositionellen und revolutionären Parteien boten, als für seine weitere Entwicklung als Revolutionär bestimmend.35 Diese Selbstbeschreibung aus den 1920er Jahren führt zu einem grundlegenden methodischen Problem: Es kann zwar kein Zweifel daran bestehen, dass Jaroslavskij sich im Umfeld der verbannten Revolutionäre unterschiedlicher Parteien bewegte und von ihnen beeinflusst wurde; im folgenden soll durch eine Rekonstruktion dieses Milieus aufgezeigt werden, auf welchen Ebenen dieser „reale" Einfluss verortet werden kann. Hierbei geht es um das Problem der Sozialisation, die Herausbildung eines Habitus, d.h. eines Sets von Vorstellungen, von Überzeugungen und von vortheoretischen, nicht reflektierten Verhaltensformen.36 Jedoch waren die Orte von Jaroslavskij s Jugend und seiner frühen revolutionären

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Sisigin: Emel'jan Jaroslavskij, S. 112-115. Siehe: Jaroslavskijs Autobiographie, geschrieben für die „Kommission zur Erforschung der Geschichte der Oktoberrevolution und der Partei" (Istpart) beim Leningrader Gebietskomitee der RKP(b), Dezember 1925. F.89, op.l, d.10, 1.5; Jaroslavskij: O tov. Sergee Ivanovice Martynovskom, S. 203. 36 Zum Habitusbegriff siehe: Bourdieu: Habitus und Feld. 35

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Sozialisation für die russische radikale intelligencija gleichsam Orte von hohem symbolischen Wert; sie wurden zu den zentralen Orten ihrer Martyrologie, zur Legitimationsfigur des von ihnen beanspruchten moralischen und geistigen Aristokratismus und vor allem zum Gegenstand der Mythenbildung in der sowjetischen Historiographie. Hierbei geht es um das Problem der rückgewandten Identitätskonstruktion. Für Jaroslavskij waren die Orte, an denen er seine ersten zwanzig Lebensjahre verbrachte, von zweifachem symbolischen Wert: Zum einen wurde in Cita in den 1890er Jahren die Trasse der transsibirischen Eisenbahn gebaut. Dieser Umstand ermöglichte es dem frischgebackenen Marxisten Minej Gubel'man im Jahr 1898, erste Kontakte zu „realen" Arbeitern herzustellen. Für den gestandenen Bolschewisten Jaroslavskij war der Kontakt zu den Arbeitern bedeutsam, weil sich hierdurch rückblickend seine Konversion zum Marxismus darstellen und glaubhaft machen ließ. Zum anderen waren Öita, Nercinsk und auch Jaroslavskij s späterer Verbannungsort Jakutsk Hochburgen im zarischen System der Strafkolonien. Sie waren die Orte der Verbannung der Dekabristen. Nach dem Polnischen Aufstand 1863 wurden insgesamt 4000 Personen in den Strafkolonien von Nercinsk interniert. Nikolaj Cernysevskij saß zwanzig Jahre in den sibirischen Gefängnissen, u.a. in Nercinsk. Mitglieder nahezu aller revolutionären Parteien der 1860er bis 1890er Jahre waren an diesen Orten exiliert.37 Dieser Umstand wiederum schaffte für den jungen, ambitionierten Oppositionellen Minej Gubel'man ein interessantes, anregendes und emotional ansprechendes Umfeld, das ihm soziale Anerkennung und letztlich seinen sozialen Aufstieg ermöglichte. Für den gestandenen Bolschewisten eröffnete dieser Umstand die Möglichkeit, seine revolutionäre Identität im Rahmen einer revolutionären Genealogie zu konstruieren. Diese Genealogie wurde in den 1920er Jahren zu einer institutionalisierten Form der Selbstthematisierung. b. Literatur als Modell für persönliches Verhalten und als Anleitung zur politischen Praxis Jaroslavskij s Selbstbild als Revolutionär, seine Vorstellungen vom Menschen, von sozialen Beziehungen, von einer politischen Organisation und politischer Praxis waren im wesentlichen durch zwei Diskurse geprägt, den russischen Radikalismus und den Marxismus, aber auch durch die Formen sozialer 37

Tatsächlich waren nur zwei Prozent der Verbannten in Sibirien politische Verbannte (politiceskie ssyl'nye). Die große Mehrheit der Menschen, die zwischen 1807 und 1898 nach Sibirien verbannt wurden, bestand aus Bauern. Die Fokussierung der sowjetischen Historiographie auf die politischen Verbannten wurde besonders in den Arbeiten zum zarischen System der Strafkolonien und der Verbannung von Aleksandr' Margolis revidiert: Margolis, Aleksandr' Davidovic: Tjur'ma i ssylka ν imperatorskoj Rossii: Issledovanija i archivnye nachodki, Moskau 1995; siehe auch: Gorjuskin, Leonid Michajlovic (Hrsg.): Politiceskaja ssylka ν Sibirii: Nercinskaja katorga, Bd. 1, Novosibirsk 1993.

1. Rationalität und Gefühl: Identitätsbildung und Weltaneignung

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Interaktion im Milieu der oppositionellen, radikalen intelligencija. In diesem Milieu war er einem spezifischen „Zeitgeist" ausgesetzt. Die intelligencija ist ein speziell russisches gesellschaftliches Phänomen. Sie konstituierte eine kleine Gruppe im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts, die ihre Wurzeln in dem sich entwickelnden Bildungssystem hatte, sich aber weder durch ihre Position im Ständesystem oder durch ihre Zugehörigkeit zu einer ökonomischen Klasse noch durch einen einheitlichen ideologischen Standpunkt definierte. Gerade der Zustrom immer weiterer Kreise von nichtadeligen, gebildeten und halbgebildeten Männern und Frauen, der sogenannten raznocincy, seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde zum wesentlichen Merkmal dieser amorphen Gruppe.38 Diejenigen, die sich der intelligencija zugehörig fühlten, sahen sich vielmehr durch ein gemeinsames Ethos verbunden, nämlich durch den Anspruch, auf selbstlose Weise die Interessen des unterdrückten Volks (narod) zu vertreten. Die intelligencija kann so am angemessensten mit Benedict Andersons Formel der „imaginierten Gemeinschaft" beschrieben werden. Die zunehmenden sozialen und kulturellen Spannungen im Russischen Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten zu einer politischen Radikalisierung großer Teile der intelligencija, die sich immer stärker an populistischen oder sozialistischen Ideologien orientierte und sich in unterschiedlicher Art und Weise gegen die zarische Autokratie richtete.39 Die Literatur des russischen Radikalismus, die Texte der radikalen Autoren und Literaturkritiker der 1860er Jahre, Visarion Belinskij, Dmitrij Pisarev, Nikolaj Dobroljubov, Petr Lavrov und vor allem Nikolaj Cernysevskijs 1862 erschienener Roman „Was tun?" trafen auch in den 1890er Jahren, in denen Jaroslavskijs politische Sozialisation stattfand, noch den Nerv der Zeit: Diese Texte waren selbst Kristallisationspunkte unterschiedlicher Diskurse: Sie kombinierten die Ideen Feuerbachs mit denen der französischen utopischen 38

Allgemein zur intelligencija: Raeff, Marc: Origins of the Russian Intelligentsia: the Eighteenth Century Nobility, New York 1966; Burbank, Jane: Were the Russian Intelligenty Organic Intellectuals?, in: Intellectuals and Political Life, hrsg. v. Judith Farquar, Leon Fin, Stephen Leonard, Ithaca 1994; Pipes, Richard (Hrsg.): The Russian Intelligentsia, New York 1961; Müller, O.W.: Intelligencija: Untersuchungen zur Geschichte eines politischen Schlagworts, Frankfurt a.M. 1971; Lejkina-Svirskaja, V.R.: Intelligencija ν Rossii vo vtoroj polovine XIX veka, Moskau 1971. Zur ambivalenten Beziehung der russischen Sozialdemokraten zur intelligencija siehe: Halfln: Class, Consciousness, and Salvation, S. 153-204. Zu den raznocincy siehe: Kimerling Wirtschafter, Elise: Structures of Society: Imperial Russia's „People of Various Ranks", De Kalb 1994. Zum Ständesystem im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts und zu den sozialen und kulturellen Spannungen siehe: Freeze: Soslovie; Rieber, Alfred: The Sedimentary Society, in: Between Tsar and People. Educated Society and the Quest for Public Identity in Late Imperial Russia, hrsg. v. Edith W. Clowes, Samuel D. Kassow, James L. West, Princeton 1991, S. 343-366; Haimson, Leopold: The Problem of Social Stability in Russia, 1905-1917, in: The Structure of Russian History: Interpretative Essays, hrsg. v. Michail Cherniavsky, New York 1970. 39 Die umfassendste Geschichte der radikalen Intelligenz bleibt: Venturi, Franco: Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in 19th Century Russia, New York 1960.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Sozialisten sowie mit naturwissenschaftlichen Weltdeutungen. Sie verbanden auf diese Weise einen militanten Atheismus mit einer christlichen Erlösungsterminologie und asketischen Idealen.40 Diese Literatur bediente und schuf gleichzeitig ein unklares Bedürfnis nach einem anderen Leben sowie nach einem neuen, vollkommeneren Menschen und einer gerechteren, bedeutungsvolleren Gesellschaft. Sie stellte zudem ein attraktives narratives Modell zu Verfügung, das sich zur Nachahmung eignete und mit dem sich Erfahrungen ordnen sowie Identitäten konstruieren und artikulieren ließen. Insbesondere Cernysevkijs Roman mit dem aufschlußreichen Titel „Was tun?"41 lieferte eine detaillierte Anleitung zum „richtigen Leben" und damit ein ganzes Set von Verhaltensmustern, die bis in die kleinsten Winkel des persönlichen alltäglichen Lebens hineinreichten. Er erfand mit seinem Helden Rachmetov die Figur des asketischen, selbstlosen professionellen Revolutionärs, der zum Zweck der Selbstdisziplinierung buchstäblich auf einem Nagelbett schlief und eifrig materialistische Philosophie und die Naturwissenschaften studierte. Mit Rachmetov lieferte Cernysevskij nicht nur ein Porträt der radikalen Jugend; Rachmetov wurde für mehrere Generationen zum Vorbild und zur Identifikationsfigur.42 Er diente dem jungen Lenin in seiner nach Cernysevskij s Roman benannten Schrift „Was tun?" (1902) als Vorbild für seinen Entwurf des Typus des professionellen Revolutionärs und beeinflusste besonders Maksim Gor'kij in der Gestaltung der literarischen Figur des Neuen Menschen. Die in der Literatur und Literaturkritik entworfene ideale Figur des Neuen Menschen ist trotz des inhaltlich vermittelten Rationalismus und Atheismus nach dem Muster von Heiligenvitae gestaltet.43 Der Neue Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er beständig an seiner eigenen intellektuellen, moralischen und emotionalen Selbstvervollkommnung arbeitet, sein persönliches Glück von einem allumfassenden gesellschaftlichen Glück abhängig macht, für das er sich aufopfert, und dass er ganz von der Erhabenheit dieser Idee durchdrungen ist. Daraus leiteten insbesondere junge Menschen, die sich der radikalen intelligencija und dem radikalen studencestvo zugehörig fühlten, die Aufgabe ab, beständig an sich zu arbeiten und die Bevölkerung in diesem Sinne zu erziehen. Die Qualifikationen, die den Neuen Menschen und später die selbsternannte Avantgarde des Proletariats dazu befähigten, auf ihre Mitmenschen einzuwirken, 40

Matich, Olga: The Symbolist Meaning of Love, in: Creating Life. The Aesthetic Utopia of Russian Modernism, hrsg. v. Irina Paperno, Joan Delaney Grossman, Stanford 1994, S. 24-50, hier S. 25. 41 Der vollständige Titel des Romans lautet: „Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen", Berlin 1947. 42 Zum Einfluss Cernysevskijs auf die gebildete Jugend im Russischen Reich und der Interaktion zwischen Leben und Text siehe: Paperno, Irina: Chernyshevsky and the Age of Realism. A Studie of the Semiotics of Behavior, Stanford 1988; Besancon, Alain: Les origines intellectuelles du léninsme, Paris 1977, S. 139-154. 43 Clark, Katerina: The Soviet Novel. History as Ritual, 3. Aufl., Bloomington 2000, S. 46-52, 55-56.

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ihnen zu einem besseren Bewusstsein ihrer Situation zu verhelfen und die entrechteten Teile der Bevölkerung des Russischen Reichs anzuführen, waren schon in der Figur Rachmetovs angelegt: Rachmetov eignete sich durch disziplinierte Lektüre naturwissenschaftlicher Texte und materialistischer Philosophie sein rationales Wissen an und stärkte durch körperliches Training, eine strenge Diät sowie durch sein selbstauferlegtes Martyrium seine Willenskraft und bereitete sich damit auf seine Aufgaben als Revolutionär vor. Es ist aber bezeichnend, dass Rachmetov im Roman seine erworbenen Fähigkeiten nicht anwendet, sondern spurlos aus der Romanhandlung verschwindet. Susan Morrissey zeigt in ihrer Studie über das vorrevolutionäre studencestvo eindrücklich, wie die literarischen Vorbilder des Neuen Menschen von den Studenten an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert angenommen und in die Tat umgesetzt wurden. Sie umschreibt das narrative Modell des Neuen Menschen mit der Metapher des „Bildungsromans", der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts omnipräsent gewesen sei und sich im russischen Studentenmilieu zwischen 1890 und 1905 zu einem dominanten Diskurs entfaltet habe. Nach diesem Vorbild konzipierten die radikalen Studenten ihr Leben als heroisches Streben nach Bewusstseinsbildung und Selbstaufopferung.44 Dieses Muster der Selbstthematisierung findet sich ebenfalls in Arbeitermemoiren dieser Zeit wieder.45 Nach 1917 entwickelte sich der „Bildungsroman" in modifizierter Form zu einer Metaerzählung, die nicht nur, wie noch zu zeigen sein wird, die gesamte sowjetische Erinnerungs- und Literaturproduktion, sondern auch die Selbstwahrnehmung vieler Zeitgenossen strukturierte.46 Jaroslavskij war mit den oben aufgeführten Texten vertraut.47 Auch er, der aufgrund seiner Herkunft weder in einer ökonomischen oder ständischen noch in einer nationalen Identität verwurzelt war, orientierte seine Lebensweise an 44

Morrissey: Heralds of Revolution, S. 3-^12. Siehe z.B. die Memoiren des Arbeiters Semen Kanacikov, die erstmals 1929 in der Sowjetunion veröffentlicht wurden, Zelnik, Reginald (Hrsg.): A Radical Worker in Tsarist Russia: The Autobiographie of Semen Ivanovich Kanatchikov, Stanford 1986; ders.: Russian Bebels: An Introduction to the Memoirs of Semen Kanatchikov and Matvei Fisher, in: Russian Review 35 (1976), S. 417-^47. 46 Clark: Soviet Novel, S. 27-90. Siehe auch Susanne Schattenbergs Ausführungen zu den Ingenieursmemoiren der 1930er Jahre. Schattenberg: Stalins Ingenieure, S. 23-33. 47 Siehe hierzu Jaroslavskijs Manuskript des Artikels „Pervye sagi rabocej partii ν Zabajkal'e", den er anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Parteiorganisation in Cita im Frühjahr 1932 verfasste. Hier beschreibt er das Milieu der verbannten Oppositionellen sowie der radikalen Studenten und Gymnasiasten, in dem er sich im Alter zwischen achtzehn und zwanzig Jahren bewegt habe und in deren Zirkelwesen er eingebunden gewesen sei. Zudem listet Jaroslavskij hier die Literatur auf, die für die Zirkelarbeit zur Verfügung gestanden habe: „Das Kapital" von Karl Marx, Plechanovs Schrift: „K voprosu o monisticeskom vzgljade na istoriju", zahlreiche Aufsätze Pisarevs, Lavrovs, Dobroljubovs und Belinskijs, „Was tun?" und „Prolog zum Prolog" von Cernysevskij, einige Texte von Lassalle sowie Flerovskijs „Polozenie rabocego klassa ν Rossii". F.89, op.8, d.4, 1.26-34. Nach Angaben eines „Schülers" Jaroslavskijs soll dieser in den 1890er Jahren nach dem Lektüreprogramm des marxistischen, in St. Petersburg operierenden Brusnevskij-Zirkels studiert haben. F.89, op.l, d.72, 1.82. Dieses Programm umfasste ebenfalls die klassische russische Literatur des 19. Jahrhunderts. 45

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II. Identität und Identitätskonstruktion

philosophischen, sozialen und literarischen Vorbildern. In einem Gespräch mit Pionieren aus dem Jahr 1933 erinnerte er sich, dass ihn schon sein Russischlehrer in der städtischen Schule in Cita mit der entsprechenden Literatur bekannt gemacht habe. Einen besonders starken Einfluss hätten die Texte Dobroljubovs, Pisarevs, Lavrovs und Cernysevskijs auf ihn ausgeübt. Jaroslavskijs rückblickende Selbstbeschreibung wird durch die Protokolle eines Erinnerungsabends aus dem Jahr 1925 über die ersten marxistischen Gruppierungen in der Bajkal-Region bestätigt: Dort berichtete der Zeitzeuge Vul'fovic, der Genösse Emel'jan habe gegen Ende der 1890er Jahre immer wieder das Porträt Pisarevs gezeichnet, um sich diesen anzueignen.48 Auch in Jaroslavskijs späteren Gefängnisaufzeichnungen befinden sich mehrere Bleistiftzeichnungen der Porträts Pisarevs und Dobroljubovs. Zumindest bemerkenswert ist, dass Jaroslavskij in dem eben genannten Gespräch mit Pionieren explizit erwähnt, dass Dobroljubovs Aufsatz „Wann endlich kommt der Tag?" besonders nachhaltig auf ihn gewirkt habe. Dobroljubov hatte in diesem Aufsatz aus dem Jahr 1860 über Ivan Turgenevs Roman „Am Vorabend" prophezeit, dass in Russland ein neuer sozialer Typus, ein Neuer Mensch mit einem neuen Bewusstsein und eine neue allumfassende Idee zur Befreiung der Menschheit entstehen werde.49 Dobroljubovs Aufsatz war einer der zentralen Texte, die das narrative Muster des „Bildungsromans" vorgaben; er verband den Auftrag zur Selbstvervollkommnung mit einer so unspezifischen wie allumfassenden gesellschaftlichen und sozialen Aufgabe. Es ist anzunehmen, dass Dobroljubovs Text bei Jaroslavskij einen so starken Eindruck hinterließ, weil der Held in Turgenevs Roman Insarov, den Dobroljubov als Prototypen des leidenschaftlichen, freiheitsliebenden Neuen Menschen beschreibt, Bulgare und daher Außenseiter in der russischen Gesellschaft war - eine Rolle, die auch Jaroslavskijs Selbstwahrnehmung entsprach. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts richtete Jaroslavskij seine gesamte Lebenspraxis, seinen Habitus, bis hin zur Art, sich zu kleiden nach diesen literarischen Modellen aus: Er trug die typische Frisur, Brille und Kleidung eines asketischen revolutionären intelligent, organisierte kruzki unter Studenten und Gymnasiasten, in denen er für eine strenge Selbsterziehung, den Verzicht auf Alkohol und Tabak, für kameradschaftliche, selbstlose Beziehungen untereinander, ein ehrliches Verhältnis zu Frauen, gegen libertinäres Sexualverhalten sowie für eine disziplinierte, selbstorganisierte Beschäftigung mit kritischer Literatur, materialistischer Philosophie und den Naturwissenschaften eintrat.50

F.89, op.8, d.140,1.13. Dobroljubow, N.A.: Wann endlich kommt der Tag?, in: Ders.: Ausgewählte philosophische Schriften, Moskau 1949, S. 439^89. 50 Bericht der Kazan'er Gouvernements Gendarmerie (Kazanskoe gubemskoe zandarmskoe otdelenie), 16.11.1898. GARF, f. 102,00, 1898, d.494,1.4-4ob., 9.

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Minej Gubel'man (Emel'jan Jaroslavskij) 1903

Auch später zeigte sich Jaroslavskij überzeugt von der Wirkungsmächtigkeit literarischer Vorbilder auf seine eigene Entwicklung als Revolutionär: 1928 schrieb er an Maksim Gor'kij, dass ihm die Lektüre der russischen Literatur in seiner Jugend die „Stärke und Festigkeit der Seele" vermittelt habe, die er zur Bewältigung seiner Parteiarbeit benötige.5' Gor'kij hatte seit den 1890er Jahren begonnen, den Mythos des Neuen Menschen sowie des Martyriums des Revolutionärs fortzuschreiben und den Bedürfnissen der Zeit anzupassen. Insbesondere seine Erzählung Lied vom Sturmvogel (1901), deren Sturmallegorie und romantisierendes Freiheitspathos die Gewissheit einer nahen Revolution evozierten, und der Roman Die Mutter (1906/7) hatten einen beispiellosen Erfolg unter der revolutionären Jugend.52 Beide Texte waren Ausdruck der Stimmung der Zeit, knüpften in idealisierender Form an die Erfahrungen der radikalisierten Zeitgenossen an und dienten ihnen gleichsam als Handlungsorientierung. Das hohe Identifikationspotential des Romans Die Mutter für die Zeitgenossen entstand durch die Verflechtung einer realen Begebenheit, einer Mai-Demonstration in der Wolga-Stadt Somov im Jahr 1902, die von der Polizei niedergeschlagen wurde, und in deren Anschluss die Verhafteten darauf bestanden, sich vor Gericht selbst zu verteidigen, mit der fiktiven, nach dem Muster von Heiligenvitae gestalteten Modellbiographie des Arbeiterführers Pavel Vlasov sowie mit dem Martyrium seiner Mutter.53 Jaroslavskij wurde im Juni 1907 etwa zur Zeit der russischen si Brief Jaroslavskijs an Gor'kij, 29.3.1928. F.89, op.l, d.104,1.18. 52 Gor'kij hatte das Lied vom Sturmvogel im Anschluss an die brutale Niederschlagung von Studentenunruhen in mehreren Städten des Russischen Reichs verfasst. Zu den Hintergründen der Entstehung der beiden genannten Werke und zu ihrer Wirkung siehe: Katzer, Nikolaus: Maksim Gor'kijs Weg in die russische Sozialdemokratie, Wiebaden 1990, S. 133-142,210-217. 53 Clark: Soviet Novel, S. 52-67.

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Erstveröffentlichung des Romans verhaftet und zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass er den Roman vor seiner Verurteilung im November 1908 gelesen hat. Jedoch macht eine vergleichende Lektüre von Jaroslavskijs Strafverfolgungsakte54 und von Pavel Vlasovs Selbstverteidigung vor Gericht in Gor'kijs Roman die gegenseitige Durchdringung des „wahren Lebens" russischer Revolutionäre und der „lebendigen Vorbilder" in der literarischen Fiktion deutlich. Mit 18 Jahren hatte Jaroslavskij nach eigenen Angaben das „Kommunistische Manifest" gelesen.55 Damit kommen wir zum zweiten dominanten Diskurs, der Jaroslavskijs Vorstellung vom Bereich des Politischen wesentlich prägte: dem Marxismus. Vor dem Hintergrund des Diskurses vom Neuen Menschen entwickelte sich der Marxismus in den 1890er Jahren zur zweiten großen Metaerzählung. In der sowjetischen offiziellen Erinnerungsliteratur und der Historiographie der 1920er Jahre sind die unterschiedlichen Strömungen des russischen Radikalismus zumeist abwertend als „Populismus" bezeichnet und die Auseinandersetzungen der Marxisten mit den Anhängern anderer radikaler Gruppen als unvereinbarer Gegensatz und Generationskonflikt konstruiert worden.56 Diese Erinnerungsliteratur verdeckt allerdings, dass der Marxismus die Mythologeme des russischen Radikalismus nicht ablöste, sondern gerade durch dieses Prisma rezipiert wurde, so dass sich die beiden Diskurse gegenseitig überlagerten. Diese Art der Rezeption war insbesondere fur diejenigen Revolutionäre typisch, die wie Jaroslavskij nahezu ausschließlich in Russland sozialisiert worden waren und nicht an den komplexen theoretischen Diskussionen über die Entwicklung des Kapitalismus in der Emigration teilhatten. Die Marxsche Theorie war für viele Mitglieder der radikalen intelligencija so attraktiv, weil sie das so quälende wie vage Bedürfnis nach einer allumfassenden Idee und nach einer neuen Zeit, das insbesondere Dobroljubov in seinem Aufsatz „Wann endlich kommt der Tag?" so eindrücklich formuliert hatte, bediente und auf die Frage „Was tun?" eine Antwort zu geben schien. Der Marxismus lieferte Ansätze eines Programms zur politischen Aktion. Igal Halfin hat jüngst gezeigt, in welchem Maße die im Entstehen begriffene russische Arbeiterschaft den Mitgliedern der radikalen intelligencija als Projektionsfläche für ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Hoffnungen diente. Er stellt die These auf, das russische Proletariat sei von der radikalen intelligencija im Rahmen ihrer durch religiöse Diskurse strukturierten eschatologischen Weltsicht als eine Art „Klassen-Messias" wahrgenommen s4 F.89, op.l, d.3. 55 Mine: Jaroslavskij, S. 16-17. Einen Eindruck der Leseinteressen von Studenten und Gymnasiasten um die Jahrhundertwende bietet die zeitgenössische Erhebung: Levin, Κ.: Cto citaet i cem interesuetsja ucascajasja molodez'?, in: Mir bozii, 1903, no. 11. 56 Barber, John: Soviet Historians in Crisis, 1928-1932, New York 1981, S. 80-99; Frankel, Jonathan: Party Genealogy and Soviet Historians, in: Slavic Review 25 (1966), S. 563-603.

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worden.57 Dies trifft auch auf Jaroslavskij zu: Am Beispiel eines von der ochrana abgefangenen Briefs, den Jaroslavskij im April 1905 aus dem Odessaer Gefängnis an einige Kampfgenossen nach St. Petersburg geschickt hatte und der in seiner Bildhaftigkeit, seiner literarischen Ambitioniertheit und seinem romantischen Pathos stark an Gor'kijs Lied vom Sturmvogel erinnert, lässt sich illustrieren, wie sich die beiden diskursiven Stränge, des Bildungsromans und des Marxismus, miteinander verbinden. Jaroslavskij bezieht sich hier auf die friedlichen Arbeiterproteste in den ersten Tagen des Jahres 1905, die am 9. Januar von zarischen Truppen brutal niedergeschlagen worden waren. Jaroslavskij, der selbst Zeuge dieses brutalen Vorgehens war, überträgt das Ereignis, das später als Blutsonntag bezeichnet wurde, in ein säkulares Erlösungsschema zur Vervollkommnung der Menschheit, in eine Reise „aus der Finsternis zum Licht" und weist dem „Volk" (narod) die Funktion des Erlösers zu: „Wie Russland seit dem 9. Januar gewachsen ist! Das ist doch schon ein ganz anderes Russland. Natürlich hört man noch ängstliche Stimmen, fühlt das beschnittene Wort, spürt den stinkenden Atem der verkommenen Dreckskerle. Aber dennoch dringt ein lebendiger Fluss immer tiefer in das Volksleben ein; und der verschlafene Sumpf, auf dem dicke Krusten faulen Schlamms und Moders schwammen, beginnt lebendig zu werden und sich zu reinigen. Ich beneide euch, die ihr an der Quelle des lebendigen Lebens steht und mit eigenen Augen sehen könnt, wie das Bewusstsein des Volks erwacht und sich in Leben verwandelt. (...) Ich habe noch nie so tief die Bedeutsamkeit (soderzatel'nost") des Lebens gefühlt wie jetzt. (...) Noch nie ist unser Wort so schnell und wahrhaftig in die Tat umgesetzt worden wie jetzt. (...) Jetzt kann es keinen Raum für Pessimismus mehr geben, für die Verzweiflung vergangener Tage, als selbst denen mit starker Seele die Hände sanken vor der 'Mauer', vor dem seelenlosen Schweigen [des Volks; S.D.]. Man hört jetzt lauter fröhliche Stimmen; leuchtende Wellen haben die Finsternis vertrieben, die schwer auf der Heimat lastete. Lasst uns auf den nahenden Frühling mit froher Hoffnung warten, auf den wahrhaftigen Frühling, den uns die Geschichte bereitet. (...) Als ich das Geschriebene noch einmal gelesen habe, habe ich bei mir gedacht, dass ihr sicher über meine erregte und fröhliche Stimmung lachen werdet, so als schreibe ich über meine Entlassung aus dem Gefängnis. Aber die großartige allgemeine Sache verdrängt das kleinliche Persönliche."58

Auch wenn man gegenüber Halfins aus dem religiösen Kontext stammender Terminologie skeptisch bleibt, zeigt Jaroslavskijs mit zahlreichen organischen Metaphern gespickter Brief, dass der Marxismus von vielen als philosophisches System verstanden wurde, das realistische Möglichkeiten aufzuzeigen schien, um die Gegensätze von „Gefühl"/„Spontaneität" und „Rationalität"/„Bewusstsein" zu vereinen und die Isolation der radikalen intelligencija sowie der selbsternannten Revolutionäre von der arbeitenden Bevölkerung zu überwinden.59

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Halfln: Class, Consciousness, and Salvation, S. 1-148, S. 153-165; zur Rezeption des Marxismus in der russischen radikalen intelligencija siehe: Walicki, Andrzej: The Controversy over Capitalism. Studies in the Social Philosophie of the Russian Populists, Oxford 1969. s» F.89,op.l,d.2,1.13-15. 59 Haimson: Russian Marxists, S. 211.

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Ein weiterer Grund fur die Attraktivität des Marxismus war, dass er ein Instrumentarium anbot, mit der die russische gesellschaftliche Entwicklung mit der westeuropäischen verglichen werden konnte, und dass er gleichzeitig, insbesondere mit der Schrift „Das Kapital", ein moralisches Argument gegen den Kapitalismus vorbrachte, dieses aber mit einer wissenschaftlichen Methode verknüpfte, die versprach, die historischen Entwicklungsgesetze erkennen zu können.60 Der Marxismus bediente damit sowohl die antikapitalistischen Ressentiments vieler Mitglieder der radikalen intelligencija als auch ihre optimistische Überzeugung, dass die Gesellschaft mit wissenschaftlichen Mitteln umgestaltet werden könne.61 Die Mehrzahl der gebildeten Russen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch sozialisiert worden waren, definierte sich in unterschiedlichen Abstufungen durch ihre entweder positive oder negative Haltung zu den durch die Industrialisierung und ihre Folgen gekennzeichneten westeuropäischen Entwicklungen. Insbesondere die Mitglieder der radikalen intelligencija beobachteten und diskutierten die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Westeuropa intensiv, um durch den Blick auf das „Andere" die eigene Situation und das eigene historische Potential zu verstehen. Der entwickelte Kapitalismus in Westeuropa und insbesondere in England schien aus ihrer Sicht alle Perspektiven für eine russische historische Entwicklung bereitzustellen. Der Marxismus ermöglichte es, die dynamischen Veränderungen des Russischen Reichs insbesondere im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu erklären und stellte zudem einen wichtigen interpretativen Rahmen bereit, mit dem es möglich schien, persönliche Erfahrung bzw. den persönlichen „Bildungsroman" in die übergeordnete geschichtliche Entwicklung der Moderne einzubinden. Individuelle Lebensgeschichten konnten so als Spiegelung einer historischen Teleologie konstruiert und die persönliche Bewusstseinsbildung in ein dialektisches Verhältnis zur Geschichte der Revolution gesetzt werden. Der Marxismus entfaltete parallel zur Entstehung eines russischen Industrieproletariats seit den 1890er Jahren im Milieu der radikalen intelligencija eine derartige Wirkung, weil er ein theoretisches Schema anbot, mit dem sowohl die individuelle Existenz als auch die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen effektiv mit einer übergeordneten Bedeutung versehen werden konnten.62

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Haimson: Russian Marxists, S. 49-59; Hough, Jerry FJFainsod, Merle: How the Soviet Union is Governed, Cambridge, London 1979, S. 3-17. 61 Zu den in den russischen Bildungsschichten weitverbreiteten Vorbehalten gegen kapitalistische Tauschbeziehungen siehe: Clark: Petersburg, S. 16-23. 62 Morrissey : Heralds of Revolution, S. 8, 33, 42.

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c. Der kruzok als Modell sozialer Interaktion Jaroslavskijs Vorstellungen von sozialen Beziehungen und politischem Handeln wurden aber nicht nur durch literarische und philosophische Modelle vermittelt, sondern auch durch seine Sozialisation in der typischen Organisationsform der russischen intelligencija, dem kruzok (Zirkel).63 Der Terminus kruzok bezeichnet einen Kreis von Menschen, die sich der intelligencija zugehörig fühlten und sich zusammenfanden, um bestimmte intellektuelle, philanthropische und politische Ziele zu verfolgen. In den kruzki wurde über Ideen debattiert, wurden Meinungen gebildet und gemeinsame Projekte entwickelt. Die Variationsbreite der kruzki reichte von kleinen Familienzirkeln über gut organisierte literarische Zirkel, die über eigene Bibliotheken verfügten, Wohltätigkeitsveranstaltungen organisierten und Texte veröffentlichten, bis hin zu marxistischen Lesekreisen und zum konspirativen revolutionären Zirkel. Der kruzok war eine Einrichtung, mit der die intelligencija versuchte, ihr wichtigstes Anliegen zu verfolgen: die Verbreitung ihrer pädagogischen, politischen und ästhetischen Vorstellungen in der russischen Öffentlichkeit. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass der kruzok eine informelle soziale Organisation darstellte, in der die Beziehungen der Mitglieder untereinander und deren Interaktionen mit der Umwelt weder durch ein marktwirtschaftliches Tauschsystem, noch durch formalisierte rechtliche oder bürokratische Prozeduren reguliert wurden. Den Zusammenhalt der kruzki gewährleisteten Beziehungen, die auf persönlichem Vertrauen sowie gemeinsamen Interessen basierten und abhängig von den symbolischen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen, die den einzelnen Mitgliedern zu Verfügung standen und die sie in den Zirkel einbringen konnten, hierarchisch strukturiert waren. Ein wesentliches Merkmal der kruzki bildete die Überschneidung der Wertsphären des Privaten und des Öffentlichen, des Persönlichen und des Professionellen, des Emotionalen und des Materiellen, die in dem von Max Weber konstruierten idealtypischen Modell der westeuropäischen modernen Gesellschaft ausdifferenziert sind. Die wichtigste Form der Beziehung der Mitglieder untereinander war die der Patronage: Dem kruzok stand in der Regel eine zentrale Figur vor, die die Verteilung der Ressourcen an die Mitglieder organisierte, das heißt zum Beispiel ihr überlegenes Wissen, Räumlichkeiten, Literatur, Protektion, Veröffentlichungsmöglichkeiten, finanzielle und emotionale Unterstützung bereitstellte und damit das Funktionieren des Zirkels und das Wohlergehen seiner Mitglieder gewährleistete. Der kruzok als Institution funktionierte wie eine erweiterte Familie. Durch die Überschneidung der unterschiedlichen Wertsphären waren die kruzki in höchstem Maße durch Zerwürfhisse bedroht. 63

In den folgenden Ausführungen über den kruzok als soziale Struktur folge ich im wesentlichen den Ausführungen von: Walker. Intelligentsia Social Organization, S. 13-25; dies.·. Rruzkovaja kul'tura i stanovlenie sovetskoj intelligencii: na primere Maksimiliana Volosina i Maksima Gor'kogo, in: Novoe literaturaoe obozrenie 6 (1999), S. 210-222.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Diese permanente Gefährdung durch Konflikte und Zerfall provozierte die Produktion eines mythischen Ideals von Einmütigkeit, von authentischen, harmonischen und gleichberechtigten Beziehungen der Mitglieder untereinander. Diese Mythen wurden insbesondere in der Erinnerungsliteratur tradiert. In den folgenden Ausführungen wird am Beispiel Jaroslavskijs zu zeigen sein, wie die Bolschewiki diese Form der Identitätspolitik aufnahmen und veränderten. Die spezifische soziale Struktur des intelligencija-Zirkeis wurde einerseits durch die starke Unterinstitutionalisierung der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts begünstigt, in deren Ständesystem viele Menschen, die sich der intelligencija zughörig fühlten, keinen Platz fanden. 64 Andererseits wurde diese Struktur durch eine antikapitalistische Haltung bedingt, die unter den Repräsentanten der russischen Bildungsschichten unterschiedlicher politischer Orientierung weitverbreitet war. Der kruzok weist damit wesentliche Merkmale auf, die der von Ferdinand Tönnies idealtypisch konstruierte Begriff der Gemeinschaft im Gegensatz zu dem der versachlichten, formalisierten und in Wertsphären ausdifferenzierten Gesellschaft impliziert.65 Auch die russische sozialdemokratische Partei und ihre einzelnen Organisationen zeichneten sich vor ihrer Entwicklung zu einer Massenpartei durch eine ähnliche Struktur aus. Jaroslavskij, dem die Teilhabe an der offiziellen Gesellschaft in seiner Geburtsstadt Cita verwehrt blieb, verkehrte seit etwa Mitte der 1890er Jahre in den kruzki der dorthin verbannten Mitglieder russischer revolutionärer Organisationen, in denen die traditionellen Distinktionsmechanismen des Russischen Reichs keine Bedeutung hatten. Die Zirkel boten ihm eine Orientierung an der russischen Kultur, am russischen Radikalismus und eine Möglichkeit der sozialen Anerkennung. Jaroslavskij nahm, wahrscheinlich aus dem Bedürfnis heraus, seinen Platz zu finden, seine marginale Stellung zu verstehen und zu überwinden, an sogenannten Zirkeln zur Selbstbildung und Selbstentwicklung teil, die von verbannten Mitgliedern der Narodnaja volja und anderer politischer Gruppierungen für Gymnasiasten und Schüler der Mittleren Bildungseinrichtungen organisiert wurden. Diese älteren Revolutionäre weckten das Interesse Jaroslavskijs an Literatur und marxistischer Theorie.66 Sie unterstützten ihre jungen „Schüler" aber offensichtlich nicht nur bei deren intellektuellen Entwicklung, sondern halfen auch bei der Suche nach Arbeit, verschafften ihnen Zugang zu Literatur und boten Orte der Geselligkeit, wo 64

Zu den sog. raznocincy siehe: Kimerling Wirtschafter. Structures of Society; Rieber: Sedimentary Society; Freeze: Soslovie. 65 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie, 3. Aufl., Darmstadt 1963. 66 Siehe hierzu Jaroslavskijs Vortrag auf einem Erinnerungsabend, abgedruckt in: Sibirskij Sojuz RSDRP. Κ 30 letiju bol'sevistskich partijnych organizacii ν Sibirii, 1903-1933, Moskau 1935, S. 5-6; und die kurze autobiographische Skizze von Jaroslavskijs Bruder Moisej Gubel'man. F. 124, op.l, d.539,1.2.

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gemeinsam gesungen, gegessen, getrunken und diskutiert wurde.67 Jaroslavskijs jüngerer Bruder Moisej gibt in seiner in den 1920er Jahren verfassten Parteiautobiographie an, dass die älteren Revolutionäre ihm Arbeit in den Eisenbahnwerkstätten vermittelt hätten. In Nercinsk, wo Jaroslavskij nach dem Tod des Vaters mit seiner Mutter und seinen Geschwistern von 1895 bis 1898 lebte, kamen, glaubt man der rückblickenden Erinnerung Moisejs, regelmäßig einige Vertreter unterschiedlicher revolutionärer Parteien in der Wohnung der Gubel'mans zusammen, um dort politische Gespräche zu führen.68 Die Wirkungsmächtigkeit der Zirkelkultur lässt sich auf einer soziologischen und einer symbolischen Ebene verdeutlichen: Zum einen begann Jaroslavskij um die Jahrhundertwende, eigene kruzki unter Schülern, Studenten und Arbeitern zu organisieren und reproduzierte hiermit ein habitualisiertes Modell sozialer Organisation und Interaktion. Diese Praxis führte er später in der Jakutsker Verbannung in größerem Stil fort. Zinaida Ordjonikidze, die mit ihrem Mann Grigorij (Sergo) Ordzonikidze 1916 nach Jakutsk verbannt worden war, berichtet in ihren Erinnerungen an diesen, dass Jaroslavskij schon aufgrund der Tatsache, dass er als Leiter des Heimatkundemuseums arbeitete und im Museum eine Wohnung hatte, im Zentrum der örtlichen Verbanntenkolonie und der kleinen sozialdemokratischen Organisation gestanden habe.69 Das Museum war ein kommunikativer Ort, über den sich sowohl neue Verbindungen herstellen als auch unter dem Vorwand wissenschaftlicher oder pädagogischer Diskussionen politische Versammlungen abhalten ließen. In Jaroslavskijs Wohnung und in den Räumen des Museums fanden Zirkelarbeit, politische und wissenschaftliche Diskussionen sowie gesellige Veranstaltungen statt. Hier waren sowohl die Verteilungsstelle für gefälschte Papiere, eine Art Fluchthilfebüro und die „Kasse der gegenseitigen Hilfe" der Verbanntenkolonie untergebracht, die maßgeblich von Jaroslavskij und seiner Frau verwaltet wurden.70 Jaroslavskij orientierte sich aber nicht nur am Modell des kruzok, sondern verschrieb sich auch einem typischen Beschäftigungsfeld der intelligencija, der Ethnographie und Botanik. Schon die Narodniki hatten

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Jaroslavskij·. O tov. Sergee Ivanovice Martynovskom (1926), S. 201-206. Gubel'man, M.I.: Vospominanija o brate, in: O Emel'jane Jaroslavskom. Vospominanija, ocerki, stat'i, hrsg. v. P.S.Fateev, V.V. Korolev, Moskau 1988, S. 18-20. 69 Ordzonikidze, Zinaida: Put' bol'sevika. Stranicy iz vospominanij o Sergo Ordjonikidze, Moskau 1938, S. 8, 13. 70 Jaroslavskij: Nakanune fevral'skoj revoljucii; Avtobiografija Klavdii Kirsanovoj (1922, unveröffentlicht). F.124, op.l, d.863, 1.5. In Jaroslavskijs Wohnung trafen sich regelmäßig etwa 30 Personen zur Zirkelarbeit. Das Programm des Zirkels war allgemeinbildenden Charakters. Es wurden politische und naturwissenschaftliche Themen behandelt sowie über Texte von Puskin, Lermontov und Gogol' diskutiert. Der Zirkel war nicht parteilich festgelegt; er bestand aus Sozialrevolutionären, Anarchisten, Menschewisten und Bolschewisten. Syrovatskij, Afanasij Dmitrievic: Rol' ssyl'nych revoljucionerov ν sozdanii i dejatel'nost' marksistskich kruzkov ν Jakutii, Jakutsk 1991, S. 28-37. 68

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durch ihren „Gang ins Volk" seit Beginn der 1870er Jahre eine Flut ethnographischer Aufzeichnungen verfasst.71 Zum anderen wird der Gründung eigener (Arbeiterzirkel in Jaroslavkijs autobiographischen Texten aus den 1920er Jahre nachträglich eine wichtige symbolische Funktion beigemessen, indem diese Tätigkeit als wichtige Etappe in seiner Entwicklung dargestellt wird. Hiermit vollzog Jaroslavskij den Schritt vom „Schüler" zum „Lehrer", vom oppositionellen Jugendlichen zum erwachsenen Marxisten. In diesen Selbstbeschreibungen integriert Jaroslavskij den kruzok in einen zentralen Mythos der radikalen intelligencija, den Bildungsroman. d. Ein Koordinatensystem auf dem Prüfstand: Revolution und Bürgerkrieg als „formative experience "? Jaroslavskij war in den Jahren 1907 bis 1917, die er fast ausschließlich in Gefängnissen, teilweise in Einzelhaft, und in der Jakutsker Verbannung verbrachte, nahezu isoliert von den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Russischen Reich. Er war daher auch nicht unmittelbar mit der weitverbreiteten Desillusionierung nach der gescheiterten Revolution von 1905 konfrontiert.72 Zudem hatte er den Weltkrieg mit allen seinen verheerenden Folgen in der Verbannung verpasst und konnte sich darüber nur durch die Zeitungen, die er auch in Jakutsk abonnieren konnte oder sich schicken ließ, auf dem Laufenden halten. Mit dem Ausbruch der revolutionären Ereignisse im Februar 1917 verbanden die russischen Sozialdemokraten, von denen sich viele wie Jaroslavskij in der Verbannung, in den Gefangnissen oder im Exil befanden, oder im Untergrund arbeiteten, die lange gehegte Hoffnung, nun endlich ihre Isolation überwinden und mit den „revolutionären Massen" gemeinsam agieren zu können. Jaroslavskij hatte schon ein Jahr zuvor, als er noch in der Verbannung eine geologische und botanische Exkursion im Auftrag eines holzverarbeitenden Unternehmens in der Region Olekminsk durchführte, in einem Brief an Klavdija Kirsanova seine Unruhe und revolutionäre Erwartung mit einer Anspielung auf Dobroljubovs Text „Wann endlich kommt der Tag?" zum Ausdruck gebracht und die Verhaftung des polnischen Sozialdemokraten Karski im deutschen Kaiserreich folgendermaßen kommentiert: „Ich habe den Eindruck, dass sich die Ereignisse beschleunigen. Aber der Tag ist noch nicht gekommen."73 Hier hatte er aber offensichtlich weniger mit Aufständen 71

Siehe hierzu: Kappeler, Andreas: Zur Charakteristik russischer Terroristen (1878-1887), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27 (1979), S. 520-547, hier S. 544. Viele ehemalige Terroristen begannen in der sibirischen Verbannung, sich mit den sibirischen Völkern, mit Ethnographie und Botanik zu beschäftigen. N.M. Tan-Borogaz und L.Ja. Sternberg wurden auf diesem Wege zu bedeutenden Ethnographen. 11 Siehe hierzu: Morrissey. Heralds of Revolution, S. 178-205. 73 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Olekminsk, 17.6.1916. Familienarchiv.

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im Russischen Reich und dem Sturz der Autokratie als mit dem Ausbruch der Revolution in Westeuropa gerechnet. Im Mai 1917 nutzten Jaroslavskij und andere Sozialdemokraten in der Jakutsker Verbannung mit Begeisterung die erste Möglichkeit, nachdem die Flüsse wieder schiffbar geworden waren, um nach Moskau zu fahren und dort an den revolutionären Ereignissen teilzunehmen. Die Revolutions- und Bürgerkriegszeit war für Jaroslavskij und viele seiner Genossen durch ambivalente Erfahrungen von revolutionärer Euphorie, Zerfall und Gewalt gekennzeichnet. In Moskau geriet er zum ersten Mal unter den Eindruck einer revolutionären Massenpolitik und von großen Menschenversammlungen, bei denen Revolutionäre, wenn sie gut redeten, ihr Publikum überzeugen konnten. Die daraus resultierende euphorische Stimmung Jaroslavskij s im Winter 1917/18 teilt sich in einem Brief an Kirsanova mit: „Ich erlebe solche tiefen Momente der Freude in diesen Tagen der europäischen Revolution. Alles brennt, alles ist in Bewegung! Ich habe im Januar 48 Reden, Vorträge, Auftritte auf Versammlungen abgehalten. Es kommt selten ein Tag vor, an dem ich nicht zwei bis vier Mal auftrete. Das gesamte arbeitende Moskau kennt mich und liebt mich. Ich fühle mich so gut."74

Die revolutionären Ereignisse und der darauf folgende Bürgerkrieg brachten für die meisten Akteure aber auch erhebliche persönliche Härten, soziales und wirtschaftliches Chaos sowie sehr bald auch den Zerfall freundschaftlicher und kameradschaftlicher Beziehungen mit sich, die der Atmosphäre der politischen Radikalisierung und Polarisierung nicht mehr standhielten. Ein Beispiel hierfür ist das Verhältnis Jaroslavskijs zu der 1888 geborenen Schauspielerin Vera Dilevskaja und der gesamten, überwiegend aus weiblichen Mitgliedern bestehenden adeligen Familie Dilevskij: Vera Dilevskaja und Jaroslavskij waren beide seit 1905 Mitglieder einer konspirativen militärischen Organisation (boevaja organizacija) der RSDRP gewesen, die überwiegend in St. Petersburg unter Soldaten und Studenten agitiert, diese auf den bewaffneten Kampf vorbereitet, eine illegale Druckerei betrieben und Sprengstoff hergestellt hatte.75 Die Zusammensetzung der Organisation, die aus Männern und Frauen, Adeligen, Bauern, Arbeitern, Studenten, Söhnen und Töchtern von Ärzten und Geistlichen, Kleinbürgern sowie aus Christen und Juden aus unterschiedlichen Regionen des Russischen Reichs bestand, illustriert die soziale Heterogenität des Umfelds, in dem sich Jaroslavskij bewegte.76 74

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Moskau, 29.1.1918, S. 5. Familienarchiv. Die Gruppe wurde auf der Konferenz der militärischen Organisationen der RSDRP 1906 in Tammerfors gegründet. GARF, f.102, 7 del-vo, 1907, d.4388,1.319. 76 Siehe die Protokolle der von den Mitgliedern der Organisation getätigten Aussagen vor dem Kreis-Militärgericht. GARF, f.102, 7 del-vo, 1907, d.3345. Zur heterogenen sozialen Zusammensetzung des Umfelds Jaroslavskijs vor seiner Verhaftung 1907 siehe auch die 75

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II. Identität und Identitätskonstruktion

1907 war die Gruppe aufgeflogen. Jaroslavskij wurde zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt.77 Vera Dilevskaja verblieb bis 1910 in Haft und wurde darauf in den Kreis Narymsk im Gouvernement Tomsk verbannt, wohin ihre Mutter und ihre Schwester Ol'ga sie begleiteten. Auch dieses Beispiel illustriert die Bedeutung von Vorbildern für die Aktivisten und Sympathisanten der revolutionären Bewegung. Dilevskajas Mutter und Schwester bildeten mit diesem so aufopferungsvollen wie anklagenden Schritt mitnichten eine Ausnahme: Beide handelten wie viele andere nach dem Rollenmodell der Dekabristen-Frauen, die achtzig Jahre zuvor ihren Männern in die sibirische Verbannung gefolgt waren, und realisierten damit den im Laufe des 19. Jahrhunderts fortgeschriebenen Mythos der revolutionären Frau als selbstlose Märtyrer-Heldin.78 In der Verbannung stand Vera in engem Kontakt zu den Bolschewisten Iosif Stalin, Valerian Kujbysev und Jakov Sverdlov. Dort heiratete sie den Bruder Sverdlovs, mit dem sie später nach Amerika emigrierte.79 Jaroslavskij s Verhältnis zu Vera Dilevskaja ging vermutlich über die gemeinsamen politischen Interessen hinaus: Er hatte nicht nur intensiv mit ihr korrespondiert, sondern auch während der Gerichtsverhandlung ausgesagt, Dilevskaja sei seine gesetzliche Ehefrau (grazdanskaja zena). Auch während seiner Haft in der Moskauer Butyrka brach der Kontakt zu der Familie nicht ab. In seinen Gefängnisaufzeichnungen befinden sich zahlreiche Abschriften von Briefen, die Mitglieder der Familie an Jaroslavskij geschrieben hatten. Eine der Schwestern, Ol'ga, brachte ihm regelmäßig Post und Lebensmittel in das Moskauer Gefängnis. 80 Zwischen 1905 und 1913 hatten die Dilevskijs zu seinen wichtigsten Bezugspersonen gehört. Im selben Brief an Kirsanova vom Jahresbeginn 1918, in dem Jaroslavskij seiner revolutionären Euphorie Ausdruck verliehen hatte, schreibt er: „(...) Ich habe Schweres erlebt in dieser Zeit. Oksana Dilevskaja, die Schwester von Vera, hat sich erschossen. Ich habe Dir, glaube ich, schon erzählt, dass ich seit dem Oktoberumsturz nicht mehr zu ihnen gegangen bin, obwohl ich wusste, dass Vera mit ihrem Mann (der Bruder Sverdlovs) aus Amerika gekommen ist. Ich habe sie sogar einmal gesehen und bin nicht hingegangen. Eine der Schwestern, Galja, hat sich, als sie mich gesehen hat, mit einem Schrei des Schreckens auf den Bürgersteig geworfen (...). Ich wusste, dass bei ihnen zu Hause ein rasender Hass auf die Bolschewisten herrscht. Besonders hassen uns Jurij (ein

von der ochrana zusammengestellten Personenlisten: GARF, f.102, 7 del-vo, 1904, d.1278, 1.7-9, 17-18 ob. 77 Der Bericht über den Prozess wurde abgedruckt in: Sovremennoe slovo, 14.11.1908. 78 Zum Mythos der revolutionären Frau als Märtyrer-Heldin siehe: Alpern Engel, Barbara: Mothers and Daughters. Women of the Intelligentsia in Nineteenth-Century Russia, Cambridge 1983, S. 155. 79 Siehe hierzu die Autobiographie Vera Dilevskajas und den Bericht der zarischen Geheimpolizei im Archiv der Gesellschaft der ehemaligen politischen Gefangenen und Verbannten des Zarenregimes. GARF, f.533, op.2, d.598,1.1-4. 80 Der Kontakt zwischen Jaroslavskij und der Familie Dilevskij wurde von der zarischen Geheimpolizei überwacht und einige der Briefe abgefangen. GARF, f. 102, 00, d. 122 1 At 1,1.59ob., 125-125ob., 152-153, 220ob., 245.

1. Rationalität und Gefühl: Identitätsbildung und Weltaneignung

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desertierter Offizier), Galja und Oksana, die sich erschossen hat. Ich kenne die Gründe ihres Selbstmords nicht so genau; man sagt, hier hätten sich persönliche und gesellschaftliche Gründe vermischt. Sie haben mich in einem Automobil abgeholt. Und ich habe eine schreckliche Stunde des Wiedersehens mit Menschen erlebt, deren Liebe zu mir sich in Hass auf uns gewandelt hat. (...) Und überhaupt haben die letzten Monate eine Barriere zwischen mir und vielen meiner Freunde aufgebaut: Die Lehrerin Liza, die dem [jüdischen; S.D.] Bund angehört und mir nach Jakutsk immer geschrieben hat, und noch ein weiterer Genösse haben mit mir aufgrund meines unnachgiebigen Standpunkts gebrochen. Nad. Andreevna hat weder versucht, mich zu treffen noch mit mir zu sprechen. Ich habe mich ebenfalls nicht gemeldet. Ich will mit solchen Gefühlen nicht voranschreiten. Findest Du nicht auch, dass das richtig ist?"81

Für Jaroslavskij hatte die Februarrevolution und sein Aufbruch aus Jakutsk noch eine andere Bedeutung: In einer Tagebuchnotiz aus den 1930er Jahren findet sich eine außergewöhnlich subjektive Bewertung der revolutionären Ereignisse von 1917; hier vermerkt er, dass der Ausbruch der Februarrevolution ihn aus schwerwiegenden persönlichen Problemen mit seiner Frau Klavdija Kirsanova erlöst habe.82 Jaroslavskij und Kirsanova hatten seit 1913 in Jakutsk zusammen gelebt und gearbeitet. Im Januar 1915 wurde das erste Kind des Paars, die Tochter Marianna, geboren. Im Frühjahr 1917 verließ Kirsanova Jaroslavskij wegen eines anderen Mannes, des Menschewisten Ochnjanskij, von dem sie 1918 eine weitere Tochter, Margarita, bekam. Vermutlich hatte der Bruch zwischen Jaroslavskij und Kirsanova sowohl persönliche als auch politische Gründe: Kirsanova deutet in ihrer Parteiautobiographie einen Konflikt Jaroslavskij s mit Ochnjanskij in der Jakutsker sozialdemokratischen Organisation an, die, wie zu diesem Zeitpunkt viele andere Parteiorganisationen auch, sowohl aus Bolschewisten als auch aus Menschewisten bestand.83 Trotz der Trennung und der Dynamik der revolutionären Ereignisse fuhr Jaroslavskij fort, Kirsanova oft und regelmäßig lange Briefe zu schreiben: Alle Briefe aus dieser Zeit sind neben Berichten über die politischen Ereignisse von dem eifersüchtigen Verlangen gekennzeichnet, Kirsanova und die gemeinsame Tochter Marianna wiederzugewinnen.84 Es wäre zwar übertrieben zu behaupten, Jaroslavskij sei aus Liebeskummer zum Revolutionär geworden, jedoch scheint er versucht zu haben, die missglückte Beziehung zu Kirsanova durch besonderen revolutionären Eifer zu kompensieren. Jaroslavskij und Kirsanova fanden zwar im Verlauf des Jahres 1918 wieder zusammen, lebten aber aufgrund der Bürgerkriegsereignisse und ihres politischen Engagements bis 1921 meistens getrennt. Jaroslavskij arbeitete in unterschiedlichen Funktionen von 1917 bis zum Herbst 1919 in Moskau, wurde darauf nach Perm im Ural und im Frühjahr 1920 nach Omsk delegiert; 81

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Moskau, 29.1.1918, S. 5-6. Familienarchiv. Aufzeichnung vom 8.1.1934. Familienarchiv. Avtobiografija KJavdii Kirsanovoj. F.124, op.l, d.863,1.5-6. 84 Hierzu siehe die Korrespondenz Jaroslavskijs mit Kirsanova aus den Jahren 1917/18. Familienarchiv. 82 83

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II. Identität und Identitätskonstruktion

er verbrachte die erste Hälfte des Jahres 1921 in Moskau und wurde von dort bis Ende 1922 nach Novo-Nikolaevsk (Novosibirsk) abkommandiert. Während Jaroslavskij in der Zeit des Bürgerkriegs zwar überwiegend mit organisatorischen und propagandistischen Aufgaben in der Roten Armee befasst, aber nicht in militärische Auseinandersetzungen an den Bürgerkriegsfronten involviert war85, war Kirsanova im Ural als Maschinengewehrschützin und im Bereich der politischen Aufklärung der Soldaten direkt an den Kampfhandlungen beteiligt und arbeitete anschließend von 1920 bis 1922 als Sekretärin des städtischen Parteikomitees in Omsk.86 Im Sommer 1921 bekamen Kirsanova und Jaroslavskij ihr drittes Kind, den Sohn Volodja, der aber schon im Herbst des selben Jahres aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen, der Nahrungsknappheit, der Kälte und mangelnder medizinischer Versorgung, in Omsk verstarb.87 Im Frühjahr 1922 übernahm Kirsanova schließlich den Posten der stellvertretenden Direktorin der Sverdlov-Universität in Moskau (der Direktor war Bucharin), während Jaroslavskij noch bis Ende 1922 in Novo-Nikolaevsk arbeitete. Im selben Jahr bekam das Paar erneut einen Sohn, der wieder den Namen Volodja erhielt. Von der Korrespondenz zwischen Jaroslavskij und Kirsanova liegen nur die Briefe Jaroslavskijs vor, in denen sich jedoch auch Kirsanovas Erfahrungen und Vorstellungen indirekt spiegeln.88 In diesen Briefen vermitteln sich die von Hunger und Kälte geprägten katastrophalen Lebensbedingungen und die schwankenden Stimmungen, die von einer absoluten revolutionären Euphorie, einem Berauschtsein an den Ereignissen, über das Leiden an der Trennung voneinander, am Tod und den schweren Krankheiten der eigenen Kinder und von nahestehenden Personen sowie am Zerfall von freundschaftlichen Beziehungen reichen.89 Die Briefe dokumentieren die psychische und physische Erschöpfung der Akteure sowie die vor allem von Kirsanova geäußerten Zweifel am Durchhaltevermögen der Bolschewiki. Ohne die Qualität der existentiellen Sorgen und der Erschöpfung, die diese Zeit wesentlich prägten, in Frage stellen zu wollen, lässt sich doch aus den Briefen herauslesen, dass sowohl Jaroslavskij als auch Kirsanova ihre jeweiligen Erfahrungen, ihre Rollen und ihre Beziehung zueinander in Kategorien definierten, die durch die dominanten Diskurse des russischen Radikalismus, in denen die Geschlechterbeziehungen eine wichtige Stellung einnehmen, vorgegeben wurden. 85

Zu Jaroslavskijs Arbeit als Organisator und Propagandist in der Roten Armee siehe: Egosin: Voenno-politiceskaja dejatel'nost. 86 Autobiographie Kirsanovas (undatiert). F. 124, op. 1, d.863, 1.11; Pancov, A.V.: Tajnaja istorija sovetsko-kitajskich otnosenii, Moskau 2001, S. 412. 87 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Moskau nach Omsk, 7.11.1921, S. 5. Familienarchiv. 88 Die im Familienarchiv befindlichen Briefe sind offensichtlich von Kirsanova gesammelt und nach Jaroslavskijs Tod aufbewahrt worden. 89 Zu den verheerenden Lebensbedingungen im Ural in der Zeit des Bürgerkriegs und den frühen 1920er Jahren siehe: Narskij, Igor: Zizn' ν katastrofe: Budni naselenija Urala ν 1917-1922 gg., Moskau 2001..

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Jaroslavskij stellt seine Beziehung zu Kirsanova als aufrichtige und reine Liebe dar, die sowohl zärtlich und liebevoll als auch kameradschaftlich ist, und interpretiert die Trennung voneinander als Bestandteil des Martyriums, das der Revolutionär in seinem heroischen Kampf fur eine bessere, bedeutungsvollere Gesellschaft durchzustehen hat. So schreibt er im Mai 1922: „Klavdicka! Wenn Du nur wüsstest, wie gern ich jetzt bei dir wäre! Aber auf der anderen Seite wächst dir und mir selbst gegenüber die Hochachtung dafür, dass wir für eine große Sache leben, indem wir auf das große und helle Glück verzichten, einander zu sehen und einander nahe zu sein."90

Hiermit stellt er sein Verhältnis zu Kirsanova und vor allem den damit verbundenen Verzicht in den Dienst eines höheren Ziels, wertet diese Beziehung dadurch auf und gibt vor, seine persönlichen emotionalen Bedürfnisse diesem Ziel unterzuordnen. Durch den Verzicht bestätigt Jaroslavskij s seine Revolutionärsidentität. Auffällig ist desweiteren, dass er häufig einen paternalistischen Ton gegenüber seiner zehn Jahre jüngeren Frau anschlägt. Er forderte Kirsanova immer wieder auf, zu ihm nach Moskau zu kommen, um ihm bei seiner Arbeit zu helfen. Er stilisiert sich nicht nur als Märtyrer im Kampf für eine höhere Sache, sondern auch als selbstlosen Mentor Kirsanovas. Hiermit nimmt er eine typische Konstellation der Geschlechterbeziehungen auf, die in Romanen wie Öernysevskijs „Was tun?" bis hin zu Gor'kijs „Mutter" ein immer wiederkehrendes Motiv bildet. Zudem findet sich in den Briefen eine merkwürdige, so pathetische wie asymmetrische Gleichsetzung Kirsanovas mit der Revolution. Die Revolution wird in Jaroslavskij s Texten wie auch die „revolutionären Massen" weiblich konnotiert. So schrieb er im Februar 1918 nach der Geburt von Kirsanovas Tochter Margarita in einem ressentimentgeladenen, eifersüchtigen Brief an seine Frau: „Trotz alledem wird wahrscheinlich das Bewusstsein bleiben, dass ich in den Tagen der Großartigen Russischen Revolution für dich nicht der war, dem du eine großartige Freude [die Geburt eines Kinds; S.D.] bereiten wolltest. Die Tage der Großartigen Russischen Revolution waren für mich Tage der allerquälendsten Sorgen, unvorstellbarer Leiden und Erniedrigungen."91

Jaroslavskij entwirft hier ein Bild des männlichen Revolutionärs, das sich aus der Texttradition des russischen Radikalismus und dominanten Bildern der Revolution, die konventionellerweise als Frau dargestellt wird, zusammensetzt. Die weiblich konnotierte Revolution erscheint in Jaroslavskij s Beschreibung als Projektion seiner emotionalen Bedürfnisse und als überwältigendes Ereignis, das dem Revolutionär Befriedigung verschafft und von dem er seine Befreiung und Bestätigung erwartet, die Kirsanova ihm vorzuenthalten schien.

90 91

Brief Jaroslavskij s an Kirsanova aus Novo-Nikolaevsk, 11.5.1922. Familienarchiv. Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Moskau, 2.2.1918. Familienarchiv.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Kirsanova hingegen weigerte sich lange, Jaroslavskijs Bitte nachzugeben, zu ihm nach Moskau zu kommen, und blieb unter schwersten Bedingungen in Omsk. Ihr ging es, das geht deutlich aus den Briefen Jaroslavskijs hervor, darum, ihre Eigenständigkeit zu wahren und den Auftrag, den sie von der Partei erhalten hatte, trotz aller Widrigkeiten, trotz des Todes eines Kindes, durchzuführen. Auch Kirsanovas Beziehung zu Ochnjanskij scheint in Teilen dadurch motiviert gewesen zu sein, dass sie hierdurch ihre Unabhängigkeit ausleben und demonstrieren wollte. Sie orientierte die Definition ihrer Rolle an den in der radikalen intelligencija dominanten Diskursen über Frauenemanzipation.92 Die in den Briefen geäußerten Zweifel, die physischen und psychischen Belastungen und insbesondere die Familienangelegenheiten, die zwischenmenschlichen Probleme, die Geburt und der Tod von Kindern und die damit zusammenhängenden existentiellen Sorgen fehlen zwar in den späteren offiziellen Autobiographien der Revolutionäre und in den offiziellen Parteigeschichten. Alle diese „materiellen" Erfahrungen sind aber sowohl individuell erlebt als auch für viele in der Revolution und im Bürgerkrieg aktiven Bolschewisten repräsentativ und haben ihre Spuren hinterlassen. Vermutlich erklärt sich aus dieser im Bürgerkrieg gemachten extremen Erfahrung der durch Krankheit, Verletzung und Traumatisierung gefährdeten Körper die aus heutiger Perspektive etwas komisch und zimperlich anmutende ständige Beschäftigung dieser Bolschewisten mit der eigenen Gesundheit und mit dem körperlichen Wohlbefinden der Genossen, so dass zuweilen der Eindruck entstehen kann, man habe es hier mit einer Selbsthilfegruppe von Hypochondern und nicht mit der „eisernen Kohorte der Revolution" zu tun. Diese Sorgen schlagen sich sowohl in der Korrespondenz der Bolschewisten untereinander als auch in Entscheidungen des Politbüros nieder, das hochstehenden Funktionären nicht selten eine bestimmte Diät, einen Kuraufenthalt oder Krankenbehandlung im Ausland verordnete. Die Briefe Jaroslavskijs an Kirsanova dokumentieren zwar die ersten Kollisionen zwischen der materiellen Realität und den durch den russischen Radikalismus und den Marxismus vermittelten Vorstellungen und Idealen. Jedoch halfen diese Ideale offensichtlich sowohl Jaroslavskij als auch Kirsanova, das Erlebte in einen übergeordneten „Sinnrahmen"93 einzuordnen und mit ihren jeweiligen Bedürfnissen 92

Kirsanova bildete hier keine Ausnahme. Das Bestreben nach Gleichberechtigung und Entfaltungsmöglichkeiten war für viele Frauen ein Beweggrund, sich der sozialdemokratischen Bewegung anzuschließen. Siehe hierzu: Fieseier, Beate: Frauen auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie, 1890-1917. Eine kollektive Biographie, Stuttgart 1995; Clements, Barbara: Bolshevik Women, Cambridge 1997, S. 22-53. 1931 sagte Kirsanova während einer Befragung aus, sie sei auf Jaroslavskijs Drängen nicht eingegangen, weil sie sich selbst und anderen ihre Eigenständigkeit und Durchhaltefáhigkeit als Bolschewistin beweisen wollte. F.89, op.5, d.31,1.4-9. 93 Der Begriff „Sinnrahmen" stammt von Maurice Halbwachs. Halbwachs geht davon aus, das von der Vergangenheit nur das bewahrt wird, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren jeweiligen Bezugsrahmen rekonstruieren kann". Halbwachs, Maurice: Das

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abzugleichen. Die Bürgerkriegserfahrung hatte, interpretiert durch das Prisma dieser narrativen Modelle, für Jaroslavskij etwas Produktives, sie machte seine Identitätsfestschreibung als Revolutionär und Bolschewist erst möglich und bestärkte ihn in seiner Überzeugung, besonders für den Bereich der Agitation und Propaganda geeignet zu sein. Ein zunächst erstaunlicher Befund bei der Lektüre von Jaroslavskij s Briefen an Kirsanova aus der Zeit des Bürgerkriegs, in denen er ja durchaus menschliches Elend beschreibt, ist, dass die wesentlichen Eigenschaften der Kriegssituation selbst, nämlich die damit verbundenen gewalttätigen Auseinandersetzungen weitgehend unbeschrieben bleiben und bestenfalls angedeutet werden. Zwar hatte sich Jaroslavskij den kämpferischen Handlungen an den Bürgerkriegsfronten ferngehalten und auch später nie den Status eines Bürgerkriegshelden beansprucht, jedoch ist es kaum vorstellbar, dass er nicht Zeuge von Terror und außerordentlicher Gewaltanwendung wurde oder Gewaltanwendung anordnete. Jaroslavskij war selbst nicht in einer gewalttätigen Umgebung aufgewachsen und hatte den Weltkrieg, der für viele russische Männer zu einer Schule der Gewalt wurde, in der Jakutsker Verbannung versäumt. Der Bürgerkrieg war zwar eine für die Bolschewiki voraussehbare Folge der Oktoberrevolution, jedoch gibt es keinen Anlass für die Vermutung, dass sie das Ausmaß an Terror und Gewalt, die unübersichtlichen Frontenbildungen und vor allem die politisch bedeutungslose Gewalt, wie Plünderungen, Raub, sowie die allgemeine Gesetzlosigkeit und Verwahrlosung erwarteten, die der Bürgerkrieg mit sich brachte.94 Man kann daher annehmen, dass die Gewalt im Bürgerkrieg Jaroslavskij und viele seiner Genossen nicht unbeeindruckt ließ. Hierauf gibt es einige Hinweise: Jaroslavskij schrieb sehr wohl über außerordentliche Formen von Gewaltanwendung im Rahmen des Weltkriegs und der revolutionären Ereignisse. So hatte er sich während der Juli-Krise 1917 gegenüber Kirsanova entsetzt über den Umgang mit desertierten Bauernsoldaten geäußert, die man trotz ihrer vollkommenen Erschöpfung bis zum Wahnsinn gejagt und dann rücklings erschossen habe, und die Wiedereinführung der Todesstrafe für den Tatbestand der Desertion durch die

Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 390. Erinnerungen werden demnach bewahrt, indem sie in einen Sinnrahmen eingefügt werden. Dieser Rahmen hat den Status einer Fiktion, also eines narrativen Musters. Erinnern bedeutet entsprechend Halbwachs' Theorie Sinnstiftung für Erfahrung in einem Rahmen. Assmann, Jan: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. v. Aleida Assmann, Dietrich Harth, Frankfurt a.M. 1993, S. 337-355, hier S. 347. 94 Zu den unterschiedlichen Formen der Gewalt im Russischen Bürgerkrieg siehe: Narskij: Zizn' ν katastrofe; Holquist, Peter: Making War, Forging Revolution. Russia's Continuum of Crisis, 1914-1921, Cambridge 2002; Katzer, Nikolaus: Die Weisse Bewegung in Russland. Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Bürgerkrieg, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 279-310.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Provisorische Regierung heftig beklagt.95 Er bewahrte in seinem persönlichen Archiv einen Bericht über Pogrome auf, die während des Bürgerkriegs stattgefunden hatten,96 und äußerte sich mehrfach vehement gegen das sogenannte Rote Banditentum und dessen gewalttätige Übergriffe auf die Zivilbevölkerung.97 Er hatte sich auch, wie nur wenige andere Bolschewisten, in einigen seiner Artikel sehr deutlich gegen die Härte und Ungerechtigkeit des Bürgerkriegsregimes sowie gegen die Anwendung des Roten Terrors ausgesprochen.98 Andererseits war Jaroslavskij von 1920 bis 1921 Mitglied des Sibirischen revolutionären Komitees (Sibrevkom), das unter anderem für die Requirierung von Getreide zuständig war. Diese Requirierungen wurden gegen den erbitterten Widerstand der Bauern unter äußerster Gewaltanwendung durchgeführt. Jaroslavskij hatte keinen plausiblen Grund, derartige Gewalterfahrungen im Bürgerkrieg vor Kirsanova, die selbst als Maschinengewehrschützin an der Bürgerkriegsfront im Ural und in Omsk an Kampfhandlungen unmittelbar beteiligt war, zu verheimlichen. Die Briefe an Kirsanova sind vielleicht am adäquatesten als Ausdruck von Selbstüberzeugungsstrategien gegen den Verlust des Glaubens an die Revolution und des revolutionären Optimismus zu verstehen. Diese Strategie wandte er auch nach der Beendigung des Bürgerkriegs, unter dem Eindruck einer unbeherrschbaren Zerstörung, des wirtschaftlichen und sozialen Chaos und des Todes seines Sohns Volodja, in einem aufmunternden Brief an Kirsanova vom November 1921 an: „Mich beunruhigt deine Stimmung, liebe Klavdicka. Ich habe den Eindruck, dass bei dir Zweifel aufkommen, ob wir das durchhalten. Sind wir etwa schlechtere Menschen, schlechtere Kommunisten geworden? Ich würde das von dir nie behaupten, und du selbst geißelst dich grundlos. Wenn nur ein Zehntel der Parteimitglieder in ihre Sache soviel Liebe und Energie legen würden, wie du es tust, dann wären wir schon weiter vorangeschritten. Je mehr ich darüber nachdenke, was um uns herum passiert, um so mehr bin ich davon überzeugt, dass wir trotz allem siegen werden. Und dass vieles um uns herum elendig ist und die Menschen armselig, damit müssen wir irgendwie zurechtkommen. ((99

In der revisionistischen Sowjetunionforschung ist mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung die These aufgestellt worden, der Bürgerkrieg und insbesondere die damit einhergehende Gewalt sei für die Bolschewiki eine grundlegende prägende Erfahrung (formative experience) gewesen, die die politische Kultur der Partei erheblich militarisiert habe und in der die Ur95

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Moskau, 12.7.1917, S. 2. Familienarchiv. Auch in seinen Artikeln forderte Jaroslavskij mehrfach die Aufhebung der Todesstrafe, siehe z.B. den eindringlichen und sehr emotionalen Artikel „Smert'", in: Social-demokrat, 16.7.1917. 96 Aufstellung der Pogrome in der Periode des Bürgerkriegs. F.89, op.9, d.331,1.6. 97 Jaroslavskij, Em.: O krasnom banditizme: Mariinskoe delo, Tomsk 1922. 98 Jaroslavskij, Em.: Nedopustimaja merka, in: Pravda, 25.12.1918; Pipes, Richard: Die Russische Revolution, Bd. 2: Die Macht der Bolschewiki, Berlin 1992, S. 805-806. 99 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Novo-Nikolaevsk, 7.11.1921. Familienarchiv.

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spränge des Stalinismus angelegt seien.100 Diese Deutungsfigur ist durch die Bestrebung gekennzeichnet, die Totalitarismustheorie zu relativieren, deren Vertreter den Stalinismus in der marxistischen Theorie oder zumindest in den Texten Lenins schon angelegt sahen. Die revisionistischen Historiker lenkten den Fokus von der Ideologie auf die Sozialisation der Akteure. Auch in der vorliegenden Arbeit geht es darum zu untersuchen, wie ein idealistischer Marxist zu einem Träger stalinscher Herrschaft und zu einem der wichtigsten Apologeten Stalins wurde. War der Bürgerkrieg für Jaroslavskij die prägende Erfahrung, die ihn in den 1930er Jahren seine idealistischen Überzeugungen als überholt und die Gewaltausübung des stalinschen Regimes als legitimes Mittel der Politik wahrnehmen ließ? Oder lag eine derartige Disposition vielleicht doch in der marxistischen Ideologie? Der italienische Sowjetunionhistoriker Andrea Graziosi hat die revisionistische Deutungsfigur auf den führenden Bolschewisten und Wirtschaftsexperten Georgij Pjatakov angewendet und ist zu dem Schluss gekommen, dass Pjatakovs humanitärer Marxismus, der ihn mit sozialistischen, emanzipatorischen Traditionen verbunden habe, durch die traumatische Erfahrung des Bürgerkriegs obsolet geworden sei. Die Bürgerkriegserlebnisse hätten Pjatakov nachhaltig psychisch und vor allem moralisch destabilisiert.101 Graziosi sieht Pjatakov nicht als Einzelfall, sondern vielmehr als „Spiegel" der sowjetischen Geschichte. Im Falle Jaroslavskijs, der im Gegensatz zu Pjatakov nicht an den Bürgerkriegsfronten eingesetzt worden war, soll in dieser Arbeit argumentiert werden, dass weder die Texte von Marx und Lenin als abstrakte, statische Ideologie noch der Bürgerkrieg die prägenden Erfahrungen waren, die ihn für ein autoritäres Terrorregime besonders empfänglich hätten machen können. Nicht nur, dass der Bürgerkrieg in Jaroslavskij s persönlicher Traditionsbildung und Identitätskonstruktion keine nennenswerte Rolle spielte: Es wird zu zeigen sein, dass er sich in eindeutiger Weise mit der russischen revolutionären Tradition sowie mit den vorrevolutionären Erfahrungen von Gefängnis, Zwangsarbeit und Verbannung identifizierte und gegenüber den jüngeren Bolschewisten, die im Kontext des Bürgerkriegs politisch sozialisiert worden waren, skeptisch blieb. Jaroslavskij verlor auch keinesfalls seine politischen Ideale. Diese sollten sich im Gegenteil als äußerst resistent erweisen.

100 So z.B.: Lewin, Moshe: The Social Background to Stalinism, in: ders.: The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia, New York 1985, S. 113-115; Pethybridge, Roger: The Social Prelude to Stalinism, London 1974, S. 73131; Cohen, Stephen F.: Bolshevism and Stalinism, in: Stalinism. Essays in Historical Interpretation, hrsg. v. Robert C. Tucker, New York 1977, S. 15-21. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser These bietet: Fitzpatrick, Sheila: The Civil War as a Formative Experience, in: Bolshevik Culture. Experiment and Order in the Russian Revolution, hrsg. v. Abbot Gleason, Peter Kenez, Richard Stites, Bloomington, Indianapolis 1989, S. 57-76. 101 Graziosi: Piatakov, S. 10, 18-19.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Trotz dieser Einwände lohnt es sich aber, auf einer anderen, strukturellen Ebene nach der Bedeutung der Bürgerkriegszeit für den Stalinismus der 1930er Jahre zu fragen. Für Jaroslavskij war in diesem Zusammenhang weniger die unmittelbare persönliche Erfahrung von Gewalt und Elend relevant. Insgesamt erscheinen die Kategorien der Erfahrung und des Traumas, die einen ursächlichen, in einzelnen Personen verankerten Zusammenhang zwischen Bürgerkrieg und dem Stalinismus bzw. eine psychische Deformation der Akteure und damit eine Zwangsläufigkeit der Entwicklung implizieren, nur bedingt geeignet, um sich der Frage anzunähern, wie aus idealistischen Revolutionären überzeugte Anhänger eines Terrorregimes werden konnten. Wichtiger ist vielmehr, dass sich die bolschewistischen Machthaber in den sich schnell abwechselnden, häufig selbstproduzierten Krisensituationen der 1920er und 1930er Jahre, in denen sie ihre Herrschaft bedroht sahen, an die im Bürgerkrieg etablierten Feindbilder und Mittel des Regierens erinnerten, diese auf die jeweiligen aktuellen Krisensituationen projizierten und dementsprechende Mobilisierungs-, Kontroll- und Gewaltmaßnahmen, wie z.B. Lebensmittelrequirierung und -rationierung, Deportation, die Kategorisierung und Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen, das Gouverneursprinzip und Terror, anwendeten und institutionalisierten.'02 Wenn wir aus der privilegierten Position, die der Historiker den Zeitgenossen voraus hat, da er das Ende der Geschichte schon kennt, von den 1930er Jahren auf die Bürgerkriegszeit zurückblicken, so scheint der Stalinismus weniger durch die psychische Deformation der einzelnen Akteure vorgeprägt, sondern vielmehr dadurch, dass sich gerade durch das Bemühen der Bolschewiki, ihre Herrschaft zu konsolidieren, bestimmte Formen der politischen und sozialen Interaktion entwickelten. Diese Konsolidierungsversuche wurden durch einen zunehmenden Konkurrenzkampf der einzelnen Bolschewisten um Statuspositionen begleitet, der, wie noch zu zeigen sein wird, Stalins Aufstieg und die Entwicklung des stalinistischen Terrorregimes begünstigte. Wir wollen somit die These aufstellen, dass Jaroslavskijs Populismus, der im nächsten Kapitel näher betrachtet wird, sowie schon in der intelligencijaKultur angelegte Formen der politischen und sozialen Interaktion, gepaart mit konkreten politischen Krisen das Ursachenbündel bildeten, das Jaroslavskij das stalinistische Terrorregime mittragen ließ. e. Der Revolutionär und die „Massen " Die Bolschewiki verstanden sich als eine Avantgarde, die die revolutionären „Massen" zum Sozialismus führt. Innerhalb dieses Rollenmodells, das auf die leninsche Konzeption der revolutionären Partei zurückgeht und das dieser 102 Lih, Lars T.: Bread and Authority in Russia, 1914-1921, Berkeley 1990; Holquist, Peter: Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, in: Kritika 4 (2003) H.3, S. 627-652; Werth·. Ein Staat gegen sein Volk, S. 292-295.

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insbesondere in seiner auf Cernysevskijs gleichnamigen Roman rekurrierenden Schrift „Was tun?" (1902) entfaltet hatte, gab es aber unterschiedliche Möglichkeiten, sich als Revolutionär zu definieren und innerhalb der bolschewistischen Partei zu positionieren. Jaroslavskij gehörte weder zu denen, die sich als unbeugsame Bürgerkriegskämpfer wahrnahmen, von denen viele auch nach Beendigung des Bürgerkriegs fortfuhren, einen militärischen Stil des Umgangs zu pflegen, Waffen und uniformähnliche Kleidung zu tragen. Noch gehörte er zu den herausragenden Parteitheoretikern und Programmatikern. Er definierte seine Rolle als Revolutionär vielmehr durch seine, wie er glaubte, ausgeprägte Fähigkeit, unmittelbar mit den „Massen" kommunizieren zu können. Dieses Selbstverständnis spiegelte sich auch in seinem politischen Verhalten, das für die Revolutions- und Bürgerkriegszeit von einem russischen Militärhistoriker aus einer objektivierenden Perspektive zutreffend charakterisiert wird: Jaroslavskij habe sich vor allem als leidenschaftlicher Agitator und Propagandist, als Vermittler des bolschewistischen Worts ausgezeichnet und sich für die Sorgen und Nöte der Arbeiter und Soldaten unermüdlich eingesetzt. Seine organisatorische Tätigkeit während der Revolutions· und Bürgerkriegszeit sei jedoch häufig durch Unentschlossenheit und mangelnde militärische Kompetenz geprägt gewesen. Zudem habe er sich neben einigen gravierenden militärischen Fehlentscheidungen den kämpferischen Handlungen eher ferngehalten und auch dann auf friedliche Lösungen gehofft, wenn diese nicht realistisch gewesen seien.103 Jaroslavskij hatte sich auch schon vor 1917 als „sanften", einfühlsamen aber prinzipientreuen Revolutionär und als Hoffnungsträger aller Unterdrückten, Entrechteten, Entwurzelten, Einsamen und Benachteiligten dargestellt und gefiel sich in dieser Rolle. Nach seiner Ankunft in seinem Verbannungsort in Jakutsk im Herbst 1913 schrieb er an seine Schwester Tanja (Etta): „Und wie man mich hier liebt! Mir ist es sogar manchmal peinlich. Peinlich, weil man auf mich solch große Hoffnungen setzt, so dass ich fast nicht weiß, ob ich ihnen gerecht werden kann. Hier wohnt zum Beispiel ein nicht mehr ganz junges Fräulein (...). Eine schwere Kindheit hat bei ihr tiefe Spuren hinterlassen, ihre Seele ist einsam geworden, freudlos war ihre Kindheit, ebenso ihre Jugend: Bedürftigkeit, Hunger, Waisendasein, Einsamkeit und obendrein eine vererbte Neurasthenie. Viele halten sie für nicht ganz normal. Sie führt ein sehr asketisches Leben und kommt mit 15 Rubeln im Monat aus. Davon kauft sie auch noch Bücher und Zeitungen. Das Studieren ist das Glückbringendste in ihrem Leben. Das ist die Ebene, auf der sie aktiv am Leben ihrer Klasse teilnimmt. (...) Sie hat ein so gutes Verhältnis zu mir entwickelt, wie ich es kaum verdiene. Sie schreibt mir: 'Ich bin in vielem nicht mit Ihnen einverstanden, aber sie haben etwas, das andere nicht haben. Sie haben etwas sehr Sanftes und ich schätze ihre Haltung zur Arbeit und zu den Genossen.'" I04

Trotz aller vorgetragenen Bescheidenheit scheint Jaroslavskij sich hier durch die ihm entgegengebrachte „Liebe" und Zuneigung des mit allen Attributen eines Opfers der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgestatteten erbarmungs103 104

Egosin: Voenno-politiöeskaja dejatel'nost', S. 91-111, 188, 198-200. Brief Jaroslavskijs an Tanja (Etta) Gubel'man, 10.11.1913, S. 6-7. Familienarchiv.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

würdigen „Fräuleins", im Vergleich zu dem sich selbst eine dostojevskijsche Figur oder eine asketische Heldin der radikalen Literatur wie das blühende Leben ausnimmt, in seinem Selbstbild als Revolutionär und Hoffnungsträger der Entrechteten bestätigt zu sehen. War Jaroslavskij vor 1917 fur seine Identitätssicherung als Revolutionär noch auf die Kommunikation mit kleineren Gruppen oder einzelnen Mitgliedern der „entrechteten Massen" angewiesen, so schien insbesondere in der Zeit zwischen dem Sommer 1917 und dem Beginn des Jahres 1918, als sich die wirtschaftliche Krise und damit die soziale Polarisierung zuspitzten und die Bolschewisten in den Städten einen rasanten Popularitätszuwachs verzeichnen konnten105, der lange erwartete Moment gekommen, an dem die selbsternannte Avantgarde des Proletariats ihre Isolation von der einfachen Bevölkerung überwinden konnte. Im Februar 1918 schrieb Jaroslavskij, offensichtlich noch ganz von seinen Erfahrungen der Massenpolitik, der Demonstrationen und Versammlungen, überwältigt, an Kirsanova über seine Erfolge bei öffentlichen Redeauftritten und im direkten Kontakt mit den Moskauer Arbeitern: „Im Moment bin ich von Liebe umgeben. Tausende Augen schauen mich liebevoll an, wenn ich jeden Tag zwei bis drei Mal im Milieu der Arbeiter auftrete. Und wie man mich liebt! Gestern hat mich eine alte Frau um zwölf Uhr nachts in der Danilov-Manufaktur überredet, zu ihnen zu kommen und Tee zu trinken. Wenn Du gesehen hättest, mit welcher Liebe sie um mich herum saßen, als ich meine gebratene Wurst mit Brot zum Tee zu mir genommen habe, wie sie mich verabschiedet haben! Ich schicke Dir einen Brief, einen von unzähligen, die ich jetzt bekomme. Zu mir kommen alte Männer und Frauen, junge Männer und junge Mädchen, um mir von ihrem Kummer zu erzählen. Ich habe so ein religiöses Gefühl, eine Art von Ekstase überkommt mich, die dann in meinen Reden zu einer Predigt des Sozialismus wird. Und das fühlen auch die anderen! Im Moment spreche ich im Zusammenhang mit den Kampagnen der Popen häufig über die Kirche. Im gottesfiirchtigen Moskau hören mir, dem Häretiker, Tausende mit angehaltenem Atem zu, weil ich das sanfte Bild Christi, des Sohnes eines armen Zimmermanns, den Metropoliten gegenüberstelle, die 300 Rubel Gehalt verlangen."106

Bemerkenswert ist in diesem Textausschnitt nicht nur, dass Jaroslavskij seinen Kontakt mit Arbeitern als spirituelle Erfahrung, als einen Moment der emotionalen Entgrenzung darstellt, sondern auch, welche Sprache und Bilder er zur Beschreibung dieser Erfahrung benutzt. Sein Verhältnis zu den Arbeitern wie auch schon zu seinen Genossen in der Jakutsker Verbannung ist in seinen Texten aus dieser Zeit weniger wie in der marxistischen Theorie durch die „objektive" Stellung der entsprechenden Personen zu den Produktionsmitteln als vielmehr durch die subjektiven und informellen Bande des Ge-

105 Siehe hierzu: Suny, Ronald Grigor: The Soviet Experiment. Russia, the USSR and the Successor States, New York, Oxford 1998, S. 44-55; Read, Christopher: From Tsar to Soviets: the Russian People and their Revolution, 1917-1921, London 1996, S. 151-160, 179-188; McAuley, Mary: Bread and Justice. State and Society in Petrograd, 1917-1922, Oxford 1991, S. 23-187. 106 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova, 2.2.1918, S. 3-4. Familienarchiv.

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fühls, durch „Liebe", bestimmt. Auch gegenüber Kirsanova stilisiert sich Jaroslavskij, wahrscheinlich auch in der Hoffnung, diese beeindrucken und wieder für sich gewinnen zu können, als Hoffnungsträger der Arbeiter und insbesondere der Notleidenden, die ihn ihrerseits durch ihre „Liebe" und dadurch, dass sie ihn in ihre „Familie" aufnehmen, in seiner Revolutionärsidentität bestätigen und damit die Legitimität seines Anspruchs anerkennen. Jaroslavskij s Darstellung ist durch drei dominante Bilder bestimmt, von denen sich mindestens zwei nicht dem in der Forschung vorherrschenden Stereotyp vom rationalen Revolutionär, also dem Bewusstseinsdiskurs, zuordnen lassen, die aber gerade seine Gefühlsempfindungen strukturierten oder zumindest die Begriffe in sich konzentrierten, die ihm zur Artikulation seiner Emotionen zu Verfügung standen. Hiermit meinen wir zum einen das Bild der Familie der Arbeiter, die den isolierten Revolutionär Jaroslavskij beim gemeinsamen Essen wie einen Sohn aufnimmt, und zum anderen das gerade im Hinblick auf den radikalen Atheismus Jaroslavskij s zunächst erstaunliche Bild Jesu Christi. Das Bild der Familie bildet eines der dominanten symbolischen Muster in der fiktionalen Literatur des russischen Radikalismus, in der die revolutionären Gruppen meist als eine höhere Form von Familie dargestellt werden, die sich aus Gleichgesinnten zusammensetzt und in der die traditionellen verwandtschaftlichen Familienbande durch ideelle Beziehungen ersetzt werden.107 Jaroslavskijs soziale Erfahrung in den intelligencija- und ArbeiterZirkeln sowie später in konspirativen Parteizellen ließ sich mit diesem idealisierenden narrativen Muster verbinden und auf die Erfahrungen in der Revolutionszeit übertragen. Das Christusbild verwendet Jaroslavskij in seinem Brief an Kirsanova auf zwei Ebenen: Zum einen gibt er vor, die Figur Jesu Christi als politisches Instrument zu benutzen, das die „Massen" besser verstehen als komplexe politische Theorien. Zum anderen stilisiert er sich aber wenig bescheiden indirekt selbst als Christus bzw. als asketische Heilsfigur, die den Sozialismus predigt, indem er insinuiert, dass „Tausende" ihn, den Juden und Atheisten, als Christus, den Sohn eines armen Zimmermanns, wahrnähmen. Jaroslavskij ist auch hier nicht ohne Vorbilder: Das Bild Jesu Christi ist sowohl in den Texten der russischen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts als auch in denen deijenigen Marxisten, die dem sogenannten Gotterbauertum zugerechnet werden - hier sind insbesondere Anatolij Lunacarskij und Maksim Gor'kij zu nennen - ein häufig vorkommendes Motiv. Christus erscheint in diesen Texten häufig als Objekt der Verehrung, als Träger ethischer Werte, als Modell einer säkularen, spirituellen Transformation der Menschheit und außergewöhnlicher Leidensfähigkeit, oder aber als Proletarier und Anführer der

107

Siehe hierzu: Clark: Soviet Novel, S. 49.

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städtischen Armen.108 Die besondere Attraktivität Christi für Jaroslavskij lag vermutlich im emotionalen Potential bzw. im Pathos dieser Figur, aber auch in der durch diese Figur symbolisch vermittelten spirituellen Verschmelzung einer höheren Ordnung mit den Armen und Entrechteten. Das dritte Bild, welches Jaroslavskij in seinem Schreiben an Kirsanova nur implizit, in anderen Zusammenhängen aber explizit entfaltet, ist das der „Masse", das sich dem marxistischen Diskurs zuordnen lässt. So schrieb Jaroslavskij, um ein Beispiel zu nennen, in einem Brief im Mai 1922: „Die Masse fordert, dass ich ihr alles gebe."109 Die „Masse" war für ihn und viele seiner Genossen aber weniger ein heuristischer Begriff, mit dem sich ein soziales Phänomen, nämlich das der Industriearbeiter, exakt beschreiben ließ, als vielmehr eine intellektuelle und emotionale Projektion, die versprach, das Bedürfnis der Revolutionäre, ihre Isolation zu überwinden und in eine Gemeinschaft aufgenommen zu werden, zu befriedigen. Der Begriff „Masse" verweist zwar auf ein imaginiertes Proletariat, umfasst jedoch in Jaroslavskij s Äußerungen die gesamte Bandbreite der von ihm als unterdückt und ausgebeutet wahrgenommenen arbeitenden Armen und verfügt damit über ein ähnliches Bedeutungsspektrum wie der Begriff „Volk" (narod) im Diskurs der Anhänger des narodnicestvo. Nicht zufällig äußert sich Jaroslavskij in dem oben zitierten Textausschnitt so begeistert darüber, dass ausgerechnet er, der Inbegriff einer marginalisierten Figur in der russischen Gesellschaft, der Jude und Häretiker, im russischen, gottesfürchtigen orthodoxen Moskau geliebt werde. Insofern diente die „Masse" als therapeutisches Mittel zur Selbstvergewisserung des Revolutionärs. Jedoch verhielt sich die reale „Masse" keinesfalls immer so, wie sich die Avantgarde des Proletariats das vorstellte: Im Falle einer negativen Reaktion auf den bolschewistischen Redner konnte die „Masse" in die negativ konnotierte tolpa, als undifferenzierte, unkontrollierbare, bedrohliche und bedeutungsarme „Menge" umgewertet werden, der die geschichtsphilosophische Mission der „Masse" im Verbund mit dem Revolutionär fremd ist. Der Begriff tolpa fallt bei Jaroslavkij häufig im Zusammenhang mit antijüdischer Gewalt, antisemitischen und antiintellektuellen Stimmungen, die einen konstitutiven Teil der Arbeiterkultur bildeten.110 Tolpa verweist damit auf sein ambivalentes Verhältnis zur realen, nicht-imaginierten Gruppe der Industriearbeiter bzw. zu deren schwer zu kontrollierendem zerstörerischen Potential, in dem sowohl revolutionäre Verheißung als auch existentielle Bedro108 Siehe hierzu: Bergman, Jay: The Image of Jesus in the Russian Revolutionary Movement. The Case of Russian Marxism, in: International Review of Social History 35 (1990), S. 220-248. 109 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova, 23.5.1922. Familienarchiv. 110 Siehe hierzu: Wynn, Charters: Workers, Strikes and Pogroms: The Donbass-Dnepr Bend in Late Imperial Russia, 1870-1905, Princeton 1992; Weinberg, Robert: The Pogrom of 1905 in Odessa: a Case Study, in: Pogroms: Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, hrsg. v. John D. Klier, Shlomo Lambroza, Cambridge, New York 1992, S. 248-291.

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hung angelegt waren. Als die Bolschewiki im unübersichtlichen und unkontrollierbaren Chaos der Juli-Tage 1917, in denen Pogromstimmungen zu eskalieren drohten, immer stärker unter Druck gerieten und sich einer existentiellen Gefährdung ausgesetzt sahen, schrieb Jaroslavskij aus Moskau an Kirsanova: „Unter der Menge (tolpa) befinden sich eindeutige Antisemiten, an die Adresse der Genossen ist immer wieder ein Zischeln: der Jude (zid), der Jude, Judenpack, zu vernehmen. (...) Mir ist schwer auf der Seele, ungute Gefühle. Es findet eine Jagd auf die Bolschewisten statt; ich bin häufig vor feindlich gestimmten Leuten aufgetreten: Der Pöbel hört feindselig zu und unterbricht andauernd die Rede."111

Über den Begriff „Masse" artikulierte sich im Diskurs der russischen Marxisten und so auch in den Texten Jaroslavskij s aber nicht nur das Bedürfnis, von der russischen arbeitenden Bevölkerung akzeptiert und „geliebt" zu werden, sondern auch Vorstellungen von Hierarchien und Machtbeziehungen, d.h. das Überlegenheitsgefühl der marxistischen Intellektuellen. Die „Masse" ist wie auch im Diskurs bürgerlicher Intellektueller des 19. und frühen 20. Jahrhundert - in Jaroslavkijs Äußerungen weiblich konnotiert und damit nicht nur Akklamationsinstanz, sondern auch Gegenstand einer dreifachen Machtstrategie von Verführung, Unterweisung und Unterwerfung.112 Was aber bedeuten die von Jaroslavskij verwendeten sprachlichen Konventionen, die Ähnlichkeiten mit der durch die radikale Literatur des 19. Jahrhunderts vermittelten christlichen Ikonologie und die geschlechtliche Codierungen der politischen Sprache? Es soll hier nicht darum gehen, bestimmte geistesgeschichtliche Einflüsse auf Jaroslavskij nachzuweisen oder im Falle der Verwendung des Christusbilds zu beurteilen, ob dieses als Ausdruck einer Form von Religiosität bewertet werden kann. Vielmehr soll hier nach der Funktion dieser Bilder für Jaroslavskij im Kontext der Revolutionsund Bürgerkriegszeit gefragt werden. Über das Christusbild, das Bild der Familie und den Begriff der „Masse" artikulieren sich sowohl eine diffuse Sehnsucht nach Authentizität und Gemeinschaft als auch die Erfahrung von Exklusion sowie das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung und Bestätigung als Revolutionär. Diese Bilder beinhalten aber auch die Grundzüge von Jaroslavskij s Vorstellungen von sozialen Beziehungen und politischem Handeln. Er reproduziert und entwirft ein Ideal von menschlichem Zusammenleben, das mit dem von Ferdinand Tönnies geprägten idealtypischen Begriff der Gemeinschaft 111

Brief Jaroslavskij s an Kirsanova, 5.7.1917, S. 3-4. Familienarchiv. Siehe z.B.: LeBon, Gustave: Psychologie der Massen (1885), 15. Aufl., Stuttgart 1982; Carey, John: The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice among the Literary Intelligence a, 1880-1939, London 1992. Zur sexuellen Codierung des Begriffs siehe: Genett, Timm: Angst, Haß und Faszination. Die Masse als intellektuelle Projektion und die Beharrlichkeit des Projizierten, in: Neue Politische Literatur 44 (1999), S. 193-240, S. 207-212; Blättler, Sidonia: Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Berlin 1995. 112

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umschrieben werden kann. Der Soziologe und Zeitgenosse Jaroslavskijs hat in seiner Analyse der modernen Industriegesellschaft mit all ihren als Entfremdung wahrgenommenen Tendenzen das idealtypische Modell der Gemeinschaft dem idealtypischen Modell der Gesellschaft gegenübergestellt. In letzterer werden soziale Interaktionen durch abstrakte, formalisierte Tauschbeziehungen gesteuert.113 Im Folgenden wird noch deutlicher zu zeigen sein, dass Jaroslavskij jede Form von Mittelbarkeit, also jegliche Art formalisierter Beziehungen ablehnte und stattdessen ein Ideal menschlicher Beziehungen kultivierte, die über die vermeintlich authentischen Bande des Gefühls und der Ideen gewährleistet werden sollten. Aus diesen Vorstellungen leitete Jaroslavskij auch seine bevorzugte politische Praxis ab: Er sah sich in der Rolle dessen, der unmittelbar mit den revolutionären „Massen" kommuniziert und diese aufgrund seiner überlegenen Position für ein höheres Ziel mobilisiert sowie durch didaktische Einwirkung einer höheren Bewusstseinsstufe zuführt. Bei der Vermittlung seiner Anliegen schrieb Jaroslavskij den Emotionen eine besonders große Wirkungsmächtigkeit zu. Das bedeutet aber nicht, dass er dieses Mittel in zynischer Absicht einsetzte. Im Gegenteil wirkte das selbstproduzierte Pathos wieder auf seinen Produzenten zurück. Die einzelnen Mitglieder der bolschewistischen Führung waren sicherlich in sehr unterschiedlichem Maße abhängig von der Bestätigung durch die „Massen" und ihre Parteigenossen. Jaroslavskij war, wie Stalin ihn viel später, im Jahr 1929, treffend charakterisieren sollte, in besonderer Weise durch „plebejische Stimmungen" ansprechbar und manipulierbar.114 Jedoch hatten die Bolschewiki den Oktoberumsturz im Namen des Proletariats durchgeführt. Besonders von 1917 bis 1921, als die errungene Macht noch keinesfalls gesichert war, konnten sie nur durch den Zuspruch von Arbeitern und Soldaten ihren Herrschaftsanspruch und ihre revolutionäre Mission als legitim und realisierbar ansehen. Jaroslavskij wollte erreichen, dass möglichst viele Arbeiter und Parteimitglieder ihn nicht nur aus eigener Anschauung kennen, sondern sich auch emotional mit ihm verbunden fühlen. In einer Zeit der Rückschläge, außerordentlicher Gewalt, des Zerfalls von Beziehungen, existentiellen Unsicherheiten und Entbehrungen, die Jaroslavskij und seine Genossen unter erheblicher Anspannung durchlebten, war diese Bestätigung durch eine imaginierte Zielgruppe für viele Revolutionäre eine psychologische Notwendigkeit. Von 1917 bis 1921 hatte sich das Verhältnis der Bolschewiki zu den Arbeitern und Soldaten aber wesentlich verändert. 1921 hatten mehr als die Hälfte der Arbeiter die hungerleidenden Städte verlassen. Die meisten Arbeiter, in deren Namen die Bolschewiki ja schließlich vorgaben zu sprechen, wurden von der bäuerlichen Bevölkerung absorbiert. Viele von ihnen waren noch auf 113 114

Tönnies·. Gemeinschaft und Gesellschaft. Brief Stalins an Molotov, 9.9.1929, abgedruckt in: Stalin. Briefe an Molotow, S. 194.

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dem Land aufgewachsen und kehrten zurück in ihre Dorfgemeinden, wo sie sich gegen die von den Bolschewiki und den anderen Bürgerkriegsparteien gewaltsam durchgeführten Getreiderequisitionen zu Wehr setzten. Die Demobilisierung der Roten Armee zeitigte ähnliche Folgen. Durch diese Entwicklungen und die allgemeine Not und Erschöpfung verlor die selbsternannte Avantgarde des Proletariats zunehmend ihre Basis.115 Im November 1921, als in Sowjetrussland eine verheerende Hungersnot herrschte und sich die Bolschewiki nach mehreren Aufständen und insbesondere nach der Erfahrung der Revolte der Soldaten von Kronstadt, die mit äußerster Gewalt niedergeschlagen wurde, der Loyalität der „Massen" nicht mehr sicher sein konnten, schrieb Jaroslavskij aus Novo-Nikolaevsk an Kirsanova: „Gestern habe ich mehrere Vorträge über meine Erinnerungen [an die Revolution; S.D.] gehalten: im Klub, im Agitpunkt, in der Eisenbahnstation. Alles ist hier viel armseliger als in Omsk, ich habe mich ganz erbärmlich gefühlt; sollte ich etwa so ein Publikum erheben und begeistern können, es zwingen können, die großartigen Gemütsbewegungen (perezivanija) des Oktober zu erleben. Aber auch hier hat es funktioniert; vertraut, sehr vertraut wurden mir diese grauen Menschen und auch ich wurde ihnen vertraut. Du weißt, welche guten und hellen Aufwallungen meine Seele empfinden kann, so dass alle um mich hemm es fühlen. Damit hab ich mich gestern aufrecht gehalten."116

Jaroslavskij wollte in seinen öffentlichen Auftritten vor den „Massen" starke Emotionen erzeugen, sein Publikum trotz der allgegenwärtigen Not durch seinen revolutionären Optimismus mobilisieren, aber umgekehrt auch durch die Reaktionen des Publikums bestätigt und motiviert werden. Zudem wird anhand dieser Textstelle deutlich, dass es ihm nicht nur um die Vermittlung konkreter Inhalte und nachprüfbarer Informationen ging, sondern auch darum, dass die „Massen" seine inbrünstige Überzeugung mitfühlten und sich davon mitreißen ließen. Jaroslavskij berauschte sich an der Wirkung der eigenen Worte. Erst durch den erfolgreichen Auftritt vor den „Massen" erfüllte er seine Rolle als Revolutionär. Es wäre daher verfehlt, Jaroslavskij s Redeauftritte auf ihre propagandistische Funktion zu reduzieren. In der Sprechakttheorie wird zwischen zwei idealtypischen Sprechsituationen unterschieden: dem Theater und dem Ritual. Propaganda kann als eine idealtypische Form von Theater aufgefasst werden, dessen grundlegende Eigenschaft es ist, dass etwas Vorbereitetes oder Inszeniertes vor einem Publikum mit der Intention vorgeführt wird, eine transformative Wirkung auf dieses Publikum zu erzielen. Das unmittelbare Ziel Jaroslavskij s war es tatsächlich, durch seine Auftritte beim Publikum eine höhere Bewusstseinstufe und vor allem Loyalität gegenüber der bolschewistischen Partei zu erreichen. Der Akt des Sprechens hatte für ihn aber nicht nur eine Funktion in Bezug auf sein Publikum, sondern auch in Bezug auf ihn 115 Von den 3,5 Millionen Arbeitern, die vor der Revolution in der Industrie beschäftigt waren, verblieben Ende 1920 nur noch 1,5 Millionen. Suny: Soviet Experiment, S. 84-88. 116 Brief Jaroslavskij s an Kirsanova, 7.11.1921, S. 2. Familienarchiv.

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selbst. Er transformierte sich während des Redens über die Revolution von einem sich erbärmlich fühlenden, isolierten Menschen in einen leidenschaftlichen Revolutionär, der von den Armen, Unterdrückten und Notleidenden geliebt und verstanden wurde. Der Akt des Sprechens kann als Schwelle bezeichnet werden, durch die der Redner Jaroslavskij die alltägliche Welt verlassen konnte, um in einen anderen, bedeutungsvolleren und harmonischen Zustand einzutreten.117 Insofern erfüllen Jaroslavskijs Auftritte einige Kriterien, die eher mit einem idealtypischen Ritualbegriff assoziiert werden: Als Ritual werden in der anthropologischen Forschung die sozialen Handlungen bezeichnet, die in der Vorstellung der Beteiligten die größtmögliche kulturelle Bedeutung in sich konzentrieren. Rituale sind gekennzeichnet durch die Wiederholung der Aufführung, insbesondere das wiederholte Durchspielen der Vergangenheit in der Gegenwart, die Aufhebung der Differenz zwischen Denken und Handeln, zwischen Zeichen und Bezeichneten sowie zwischen Publikum und Sprecher."8 In Jaroslavskijs öffentlichen Auftritten dieser Zeit deutet sich auch eine zunehmende Ritualisierung der Geschichte der Revolution an - hiermit meinen wir sein Bedürfnis, die Geschichte der Revolution immer wieder zu erzählen. Diese Rituale sind durch eine dreifache Struktur gekennzeichnet, in der auf drei Ebenen ein Bewusstwerdungsprozess - der Geschichte selbst, des Redners im Rahmen der Parteigeschichte und des Publikums während des Vortrags über Parteigeschichte - symbolisch rekapituliert bzw. realisiert wird. In den Ausführungen zu den 1930er Jahren wird zu zeigen sein, in 117

Der Anthropologe Arnold van Gennep hat das Ritual in drei Phasen aufgeteilt: 1. Die Trennung von der alltäglichen Welt, 2. die Phase des Übergangs (limen), 3. Wiedereintritt in die alltägliche Welt auf veränderter Grundlage. Gennep, Arnold van: Übergangsriten, Frankfurt a.M. 1999 (zuerst 1908). 118 Die hier vorgenommene konzeptionelle Trennung zwischen Theater und Ritual ist eine ahistorische bzw. idealtypische. Sie spiegelt eine Differenz, die typisch ist für die Wahrnehmungsmuster in modernen westlichen Gesellschaften. Dennoch scheint eine solche dichotomische Begriffsbildung als provisorische Analysekategorie geeignet, um bestimmte Phänomene zunächst erst mal beschreiben zu können. In unseren Ausführungen stützen wir uns auf die theoretischen Überlegungen der sogenannten Performanzforschung. Performanzforschung ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Forschungsfelder, die sich, an religionswissenschaftliche Forschungen und die Sprechakttheorie J.L. Austins anknüpfend, die Formen des theatralischen und rituellen Ausdrucks zum Gegenstand machen. Die entsprechenden Arbeiten haben gemeinsam, dass sie ihr Interesse nicht so sehr auf die inhaltlichen Aspekte der rituellen und theatralischen Texte legen, sondern auf den Aspekt der Sprechsituation, der Emotionen, des Raums und der sensorischen Wahrnehmungen. Austin, J.L.: How to do Things with Words, Cambridge 1955; siehe auch die instruktive Zusammenfassungen zum Bereich der Performanzforschung von: Suydam, Mary: Background: An Introduction to Performance Studies, in: Performance und Transformation. New Approaches to Late Medieval Spirituality, hrsg. ν. Mary Α. Suydam, Joanna E. Ziegler, Houndsmílls, Basingstoke 1999, S. 1-26; Fischer-Lichte, Erika: Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Geschichtswissenschaft und „performative turn". Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hrsg. v. Jürgen Martschukat, Steffen Patzold, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 33-54.

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welchem Maße das so evozierte revolutionäre Gefühl über Jaroslavskij eine derartige Macht erlangte, dass er buchstäblich davon abhängig wurde und unter den Zwang geriet, dieses Gefühl sowohl in öffentlichen Auftritten als auch in nicht für andere Augen und Ohren bestimmten Aufzeichnungen immer wieder von Neuem durchzuspielen. Jaroslavskij s revolutionärer Enthusiasmus sowie seine Vorstellungen von sozialer Interaktion und politischem Handeln, insbesondere sein Ideal der direkten Kommunikation mit den „Massen", gerieten aber schon zu Beginn der 1920er Jahre in Konflikt mit den Erfordernissen und Aufgaben einer pragmatischen Politik, die eine regierende Partei zu erfüllen hatte, die ein so großes Territorium wie Sowjetrussland verwalten wollte. Im Zusammenhang mit den Versuchen der Bolschewiki, ihre Herrschaft zu konsolidieren, wurde zudem sein Konzept von der bolschewistischen Partei als einer aus selbstlosen Mitgliedern bestehenden Familie, das durch das Modell des in der Texttradition der radikalen intelligencija idealisierten revolutionären Zirkels geprägt war, mit der Realität konfrontiert; denn die Konsolidierungsversuche brachten es mit sich, dass die einzelnen Bolschewiki untereinander zunehmend um Einfluss und Statuspositionen konkurrierten. Jaroslavskij war im März 1919 auf dem 8. Parteitag als Kandidat des ZK und auf dem 10. Parteitag im März 1921 als Vollmitglied gewählt und bis zu seinem Wechsel in die ZKK 1923 als solches bestätigt worden. Auf dem 10. Parteitag waren er, Vjaceslav Molotov und Vasilij Michajlov zudem als Sekretäre des ZK gewählt worden." 9 Jaroslavskij bekam aber keine Gelegenheit, seinen Sekretärsposten lange auszuüben, sondern wurde schon im Juli 1921 als Sekretär des Sibirischen Büros des ZK nach Novo-Nikolaevsk delegiert, was eine eindeutige Degradierung bedeutete und von ihm auch als Niederlage verstanden wurde. Aus seinen Briefen an Kirsanova geht deutlich hervor, warum er für den Sekretärsposten als nicht geeignet eingestuft wurde: Offensichtlich hatten Ineffizienz, mangelnder Pragmatismus in der Arbeitsorganisation, sein emotionaler Populismus, aber auch ein grundlegend anderes Verständnis seiner Aufgaben Unstimmigkeiten mit dem ersten Sekretär Molotov verursacht und letztlich dazu geführt, dass Jaroslavskij seines Postens enthoben wurde. Während Molotov versuchte, die Abläufe im Sekretariat zu effektivieren und zu routinisieren, die Arbeit der lokalen Parteiführer durch Instruktionen sowie den Aufbau systematischer Kommunikation zu lenken und zu unterstützen, die laufende Antikorruptionskampagne einfror und das

119 Seit April 1920 hatte das Sekretariat aus drei Personen bestanden. Erst im April 1922 wurde der Posten des Generalsekretärs geschaffen, den seitdem Stalin besetzte. Die seit 1920 amtierenden Sekretäre Krestinskij, Preobrazenskij und Serebijakov waren auf dem 10. Parteitag nicht wieder gewählt worden, weil sie während der sogenannten Gewerkschaftsdiskussion die Plattformen Trotzkijs und Bucharins unterstützt hatten. Medvedev, Roy: Let History Judge, Oxford 1989, S. 69.

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sogenannte Beschwerdebüro abschaffte 120 , scheint Jaroslavskij gerade die Beschwerdebereitschaft der Parteimitglieder über lokale Parteiführer gefördert zu haben. M o l o t o v s Maßnahmen, die dazu dienen sollten, die Verhältnisse in den örtlichen Parteiorganisationen zu stabilisieren, wurden v o n Jaroslavskij unterlaufen. Dieser hatte auch während seiner Tätigkeit im Sekretariat des ZK, das schließlich die Funktion erfüllen sollte, die Arbeit der Partei zu koordinieren und eine effektive zentrale Verwaltung der regionalen Parteiorganisationen aufzubauen, nicht auf die unmittelbare Kommunikation mit den „Massen" verzichten w o l l e n und seinen Sekretärsposten in eine Anlaufstelle für streitbare und notleidende Parteimitglieder umgewandelt. In Briefen an Kirsanova stellt Jaroslavskij die ihm vorgeworfenen Defizite hartnäckig als revolutionäre Tugenden dar: „Ich glaube, dass ich bald den Sekretärsposten aufgeben muss. Diese Arbeit liegt mir aus unterschiedlichen Gründen nicht (...): Niemand empfängt so viele Leute wie ich. Zu mir kommen sechs Mal so viele Menschen wie zu Molotov. Aber genau das wirft man mir vor: Ich sei zu weichherzig, zu leicht zugänglich und zu heißblütig in meinen Entscheidungen. Das Ideal Molotovs ist, im Büro zu sitzen, nur ausgewählte und hochgestellte Funktionsträger zu empfangen und jede einzelne Frage im Vorfeld auf bürokratischem Wege zu erledigen. Vielleicht hat er ja auf seine Art recht, aber ich kann nicht so arbeiten. Ich will mich nicht von den Massen abkapseln, die ins ZK kommen, um Rat und Hilfe zu suchen (...). Wir dürfen uns nicht von den einfachen Parteimitgliedern abschotten; damit bin ich nicht einverstanden. Auf der anderen Seite bin ich im Sekretariat so beschäftigt, dass ich nicht mehr vor Ort auftreten kann. Das ist die schmerzlichste Sache an meiner Sekretärstätigkeit."121 Im Herbst 1921 sah Jaroslavskij sein negatives Urteil über M o l o t o v und die Angemessenheit seiner eigenen Arbeitshaltung durch die Ergebnisse einer K o m m i s s i o n bestätigt, die mit der Überprüfung des ZK-Apparats beauftragt worden war. D i e Überprüfung hatte zu scharfer Kritik an M o l o t o v gefuhrt. 122 Mit Genugtuung schrieb er an Kirsanova: „Es stellt sich heraus, meine Liebe, dass es nicht ganz so schlecht war, dass im ZK zumindest ein Mensch saß, den keine Form der Arbeit oder irgendwelche Papiere in einen Parteibürokraten verwandeln können, in einen vertrockneten Fisch, in eine seelenlose Maschine. Ich habe immer die Leute um mich hemm gefühlt. Ich habe versucht, jeden Menschen anzusehen, ihn zu erkennen und zu verstehen. Eben weil eine solche Haltung eine seltene Erscheinung geworden ist, hält man sie für nicht ganz normal, fremd und

120

Siehe hierzu Molotovs Bericht auf dem 11. Parteitag: Odinnadcatyj s-ezd RKP(b). Mart 1922. Stenograficeskij otcet, Moskau 1961, S. 54-57, 659; Easter: Reconstructing the State, S. 71-72. 121 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova, 5.6.1921, S. 2-4. Familienarchiv. 122 Die von Viktor Nogin geleitete Kommission hatte festgestellt, dass die Koordination zwischen den einzelnen ZK-Abteilungen und die Kontrolle über die regionalen Parteiorganisationen schlecht funktionierte und sich diese lokalen Organisationen mit Unterstützung des ZK-Sekretariats in lokale Cliquenwirtschaften verwandelten. Dieser Befund hatte zu Molotovs Degradierung und letztlich zur Einrichtung des Postens des Generalsekretärs geführt, den Stalin 1922 übernahm. Siehe hierzu: Easter: Reconstructing the State, S. 71-73; Watson: Molotov, S. 47-51.

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sentimental. Aber mit Sentimentalität hat das nichts zu tun, ich pflege lediglich gute kameradschaftliche Beziehungen."123

In Jaroslavskijs Kritik an Molotov, den er als berechnenden, rational agierenden, effektiven, in Hierarchien denkenden, seelenlosen Bürokraten präsentiert, wird einmal mehr deutlich, dass Jaroslavskij in politischen Kategorien dachte und fühlte, die dem idealtypischen Konstrukt der Gemeinschaft sehr nahe kommen. In seinem Urteil über Molotov stand Jaroslavskij nicht allein, dieser wurde teils mit Bewunderung und teils mit Ablehnung auch von anderen Bolschewisten als außergewöhnlich effektiver Arbeiter, aber auch als kalter Technokrat wahrgenommen: eine Mischung, die ihm den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Steinhintern" einbrachte.124 Jaroslavskijs Urteil über Molotov, als dessen so leidenschaftliches wie inbrünstiges und den „Massen" nahes Gegenteil er sich präsentiert, verdeutlicht zum einen, dass Jaroslavskij Schwierigkeiten hatte, sich mit den Erfordernissen abzufinden, mit denen auch die revolutionäre Partei der Bolschewiki konfrontiert war, sobald sie die Regierungsverantwortung übernehmen musste. Diese Erfordernisse machten den ohnehin unrealistischen Traum von der unmittelbaren Kommunikation mit den „Massen" und mit jedem einzelnen Arbeiter und Parteimitglied Sowjetrusslands obsolet. Zum anderen zeigt diese abfällige Einschätzung aber auch, dass er sich der Konkurrenzsituation bewusst war, denn Molotov behielt seine Stellung als ZK-Sekretär auch nach der Einrichtung des Postens des Generalsekretärs 1922. Für Jaroslavskij blieb auch unter den neuen Bedingungen jede Form der mittelbaren Kommunikation, der Professionalisierung und der rationalen Verwaltung verdächtig und emotional unbefriedigend. Diese Haltung blieb bis in die 1930er Jahre hinein stabil und machte ihn in der Folgezeit, obwohl er zum disziplinierten Mitglied der Stalin Fraktion werden sollte, zu einem Verfechter von populistischen politischen Praktiken, die zum Substitut für geregelte, formalisierte politische und rechtliche Verfahren wurden, die aber andererseits, wie noch zu zeigen sein wird, eine ganz eigene Dynamik entwickelten und sich Jaroslavskijs Kontrolle entziehen sollten.

f . Kontakt mit dem Fremden Jaroslavskijs Vorstellungen von Revolutionärstugenden, sozialer Interaktion und politischer Praxis lassen sich am Beispiel seiner Wahrnehmung des Fremden noch deutlicher konturieren. Im Sommer 1922 wurde er gegen seinen Willen vom Orgbüro beauftragt, als Leiter einer Delegation einige sowjetische Vertretungen in Westeuropa, insbesondere die in Berlin und Lon-

123

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Novo-Nikolaevsk, 7.11.1921, S. 2-3, Familienarchiv. Bazanov, Boris: Vospominanija byvsego sekretaija Stahna, St. Petersburg 1990, S. 7475; Watson: Molotov, S. 47-48. 124

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II. Identität und Identitätskonstruktion

don, zu überprüfen.125 Jaroslavskij hatte sich bis dahin, abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Berlin und Paris im Jahr 1902 zum Zwecke der Beschaffung illegaler Literatur und der Kontaktaufnahme mit Sozialdemokraten in der Emigration sowie als Delegierter der Parteitage in Stockholm (1906) und London (1907), nie länger in Westeuropa aufgehalten. Er hatte in der vorrevolutionären Zeit zu den typischen im Russischen Reich operierenden professionellen Revolutionären gehört, die im Auftrag von übergeordneten Parteiorganisationen so lange von Ort zu Ort zogen, um Parteizellen zu gründen oder zu organisieren und unter Arbeitern zu agitieren, bis sie verhaftet wurden. Jaroslavskij reagierte aus zwei Gründen ablehnend auf den Auftrag. Zum einen erwartete seine Frau, nachdem der Sohn Volodja 1921 kurz nach der Geburt gestorben war, wieder ein Kind. Während seines viermonatigen Aufenthalts in Westeuropa schrieb Jaroslavskij regelmäßig an Kirsanova. Die Sorge um ihre Gesundheit und die des Kindes, das in seiner Abwesenheit geboren wurde, bestimmen einen großen Teil dieser Korrespondenz. Zum anderen hegte Jaroslavskij, dem der Sinn stärker nach revolutionärem Heroismus stand, einen ausgeprägten Widerwillen gegen die Art der Arbeit, nämlich die systematische Prüfung der Akten, die ihn dort erwartete und die er abfallig als „papierene Arbeit" (bumaznaja rabota) bezeichnete.126 In Jaroslavskij s Briefen zeigt sich zudem ein sehr eingeschränktes Interesse, sich auf das in den besuchten westeuropäischen Städten Erlebte intensiver einzulassen und stattdessen eine hohe Bereitschaft, vorgefasste Urteile zu bestätigen. Auffällig ist auch, dass er sich kaum mit den jeweiligen Arbeiterbewegungen beschäftigte. Zwar war 1922 nach mehreren gescheiterten Aufständen in Westeuropa bei vielen Bolschewiki die Hoffnung auf einen baldigen Ausbruch von Revolutionen in entwickelten kapitalistischen Staaten schon abgeebbt. Die sowjetische Außenpolitik musste sich dem Umstand anpassen, dass die kommunistischen Parteien in Westeuropa schwach waren, dass sich die kapitalistische Wirtschaft stabilisierte und der sowjetische Staat international zunehmend isoliert wurde, und einen moderateren Kurs einschlagen. Jaroslavskij selbst schätzte in einem Brief an Lenin das revolutionäre Potential in Westeuropa als sehr gering ein.127 Dennoch muss ein derartig geringes Interesse erstaunen. Das Raster, durch das Jaroslavskij insbesondere Deutschland und Großbritanien wahrnahm, war ganz wesentlich sowohl von mehreren Stereotypen als auch von gewohnten Mustern sozialer Interaktion geprägt, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Zudem soll am 125 Jaroslavskij hatte gegen seine Entsendung Protest eingelegt. Protokoll No. 22, Sitzung des PB vom 17.8.1922. F. 17, op.3, d.308, 1.3. Neben den Vertretungen in Berlin und London überprüfte die Kommission auch die Vertretungen in Rom, Hamburg, Stockholm, Riga und Reval. 126 Am 18.9.1922 schrieb er an Kirsanova: „Mich ermüdet die für mich ungewohnte Arbeit, die Prüfung der Rechnungen, der Bücher, der Korrespondenz. Ich fühle mich hier fehl am Platze. Es ist widersinnig, gerade mich für eine solche Arbeit abzuberufen." Familienarchiv. 127 Schreiben Jaroslavskijs an Lenin aus Rom vom 3.10.1922. F.5, op.2, d.326,1.20-22.

1. Rationalität und Gefühl: Identitätsbildung und Weltaneignung

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Beispiel der Briefe an Kirsanova gezeigt werden, wie er mit dem durch dieses Raster gebrochenen Blick auf das Fremde ein idealisiertes Eigenes konstruierte. Jaroslavskijs Briefe an Kirsanova zeichnen sich zunächst durch eine selektive Wahrnehmung der jeweiligen fremden Umgebung aus. Er konnte sich durchaus für die eine Seite der westeuropäischen Moderne, für ihre Dynamik und technische Entwicklung begeistern und verglich diese mit den Verhältnissen in Moskau. So berichtete er nach seiner Ankunft in Berlin insbesondere von der Schnelligkeit und der Dichte des Verkehrs sowie von der Vielfalt der Verkehrsmittel: der Automobile, der Busse und Straßenbahnen wie auch der Untergrundbahnen, die ihn beeindruckt zu haben scheinen. In London hingegen fielen ihm die weite Verbreitung elektrischen Lichts, die technische Ausstattung der Kinosäle, die technische Qualität der Filme und das fließende warme Wasser positiv auf.128 Insgesamt sind seine Beobachtungen sowohl der Verhältnisse in London als auch der in Berlin aber durch einen dominanten Sinnrahmen strukturiert, der hier als moralischer Antikapitalismus bezeichnet werden soll. Antikapitalistische Haltungen waren in unterschiedlichen Ausprägungen in der russischen intelligencija-Kultur weit verbreitet; sie manifestierten sich sowohl in den typischen Formen sozialer Interaktion als auch in der literarischen Produktion und bedingten ebenfalls die spezifische Marxismusrezeption in der radikalen intelligencija. Der Marxismus war für Jaroslavskij vor diesem Hintergrund mehr als eine Wissenschaft, mit der sich eine gesellschaftliche Entwicklung beschreiben und prophezeien ließ; er war vor allem ein moralischer Angriff gegen das kapitalistische System mit seinen spezifischen Warentauschbeziehungen, das als repressiv, ausbeuterisch und ungerecht angesehen wurde.129 Jaroslavskij sah seine Einstellung durch seine Beobachtungen in Berlin bestätigt: „Man lebt hier ärmlich. Die Teuerung erwürgt den Arbeiter. Der Brotpreis ist innerhalb eines Monats um das Dreifache gestiegen. Die Arbeitslosigkeit beginnt rasant anzusteigen."130

Stellte Jaroslavskij die von ihm beobachteten sozialen Probleme in Berlin noch als Folgen von dem kapitalistischen System immanenten anonymen Mechanismen dar, zeichnet sich sein Kommentar zu den englischen Verhältnissen durch eine starke Personalisierung aus. Hier erscheint der „bourgeois" als hassenswertes Beispiel der tiefsten moralischen Degeneration: „Hier beginnt man, die Bourgeoisie noch abgrundtiefer zu hassen als anderswo. Sie ist hier reicher als in anderen Ländern. Aber hier sieht man auch die andere Seite des Reichtums 128

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus London, 28.10.1922. Familienarchiv. Zum moralischen Antikapitalismus Lenins und der Bolschewiki siehe: Hough/Fainsod: How the Soviet Union is Governed, S. 13-17. 130 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Berlin, 9.9.1922, S. 9. Familienarchiv. 129

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deutlicher. Ich habe noch nie so viele elende, verwahrloste Kinder gesehen wie in London.131 Er registrierte zwar sehr w o h l auch die in Folge v o n Weltkrieg und Bürgerkrieg überbordende Kinderarmut in Sowjetrussland, j e d o c h enthielt er sich in diesem Zusammenhang jeglicher moralischer Wertung und Schuldzuweisung. 132 Ebenfalls in London sah er seine Vorbehalte g e g e n demokratische Verfahren bestätigt, die v o n den bürgerlichen Parteien lediglich als Instrument zur Zementierung ihrer Herrschaft missbraucht würden: „Während unseres Aufenthalts fanden die Wahlen zur Londoner Munizipalität statt. Die Arbeiterpartei hat bei diesen Wahlen riesige Verluste hinnehmen müssen. Mir hat man übermittelt, wie die Wahlen durchgeführt wurden. In den Arbeitervierteln sind dieser Tage die Automobile der Liberalen und Konservativen herumgefahren. Die Arbeiter und ihre Frauen hat man mit Bier verköstigt und sie in den Automobilen herumkutschiert. Tausende Leute geben ihre Stimmen dem, der zuerst mit dem Automobil und einem Krug Bier daherkommt."133 Jaroslavskijs Äußerungen zeigen zudem, dass der übergeordnete Sinnrahmen des moralischen Antikapitalismus in sich differenziert ist und sich aus einigen in der russischen Kultur dominanten Stereotypen oder, u m mit Svetlana B o y m zu sprechen, aus „Allgemeinplätzen" zusammensetzt. 1 3 4 Er beurteilte die Verhältnisse in Deutschland und in England durchaus unterschiedlich. U m diese Differenzen deutlicher zu machen, sollen im Folgenden zwei längere Passagen aus Jaroslavskijs Briefen an Kirsanova zitiert werden: „Gestern sind wir mit einer ganzen Gruppe losgezogen, um zu sehen, wie sich die Deutschen amüsieren. Ich bin beim Anblick dieser Art des Amüsements von solch einer niederschmetternden Traurigkeit befallen worden. Der Kinematograph zeigt die abgeschmacktesten (poslejsaja) Pinkertonschen Streifen, Filmchen, die die Seele quälen, absolute Leere, nicht ein einziges soziales Drama. Mit so etwas speist man die Arbeiter ab. (...). Dann sind wir in den Tanzpalast in der Kaiserallee gegangen. An den Wänden hingen die Porträts

131

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus London, 14.11.1922, S. 2. Familienarchiv. Jaroslavskij hatte in einem Telegramm an Molotov, 10.11.1923, gefordert, dass im Zusammenhang mit der Gründung der „Liga zur Hilfe für Kinder von deutschen Arbeitern" die Arbeit im eigenen Land gegen die Kinderarmut und -Verwahrlosung verstärkt werden müsse. Die bezprizornost ' nehme erschreckende Formen an, die Reevakuierung von Kindern aus den Hungergebieten finde in abscheulicher Form statt und erhöhe die Zahl der verwahrlosten Kinder. F.89, op.3, d.176, 1.2. Zum Problem der bezprizornost' in den 1920er Jahren siehe: Ball, Alan: And now my Soul is Hardened: Abandoned Children in Soviet Russia, 1918-1930, Berkeley 1994. 133 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus London, 14.11.1922, S. 3-4. Familienarchiv. 134 Stereotype sollen hier definiert werden als „ein strukturiertes System von zugeschriebenen Merkmalen, das relativ wenige, eine bestimmte Gruppe charakterisierende Merkmale enthält, auffällige, häufig sogar zu Unrecht zugeschriebene Merkmale betont, zumeist mit negativer oder positiver Wertung belastet ist und sich schließlich gegenüber differenzierender oder widersprechender Erfahrung oder Information als äußert änderungsresistent erweist." Roth, Klaus: „Bilder in den Köpfen". Stereotypen, Mythen, Identitäten aus ethnologischer Sicht, in: Das Bild vom Anderen. Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in multiethnischen europäischen Regionen, hrsg. v. Valeria Hellberger, Arnold Suppan, Elisabeth Vyslonzil, Frankfurt a.M. 1998, S. 22-23. 132

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irgendwelcher adeliger Herren. Ein scheußliches Zeug! Was für eine Abgeschmacktheit (posljatina)! Sie sitzen eng gedrängt auf den Baikonen des großen Saals, und unter den Klängen der Musik tanzen sie zu Hunderten, schwitzend im Tabakrauch und im Gestank von Parfüm und Puder, sie klatschen im Kreis wirbelnd in die Hände und schneiden Grimassen. Wenn es doch nur irgendetwas wahrhaftig Ideelles (idejnego) gäbe, das die Seele erheben könnte."' 35

„Hier gibt es sehr 'strenge', aber in Wahrheit scheinheilige Regeln. Alles ist reglementiert, zum Beispiel beim Essen: Die Gabel muss mit den Zinken nach oben gelegt werden, das Brot legt man auf die rechte Seite, der Mann geht im Zimmer auf die Frau zu, aber die Frau nicht auf den Mann. Alles das sind Äußerlichkeiten. Aber unter dieser Hülle befindet sich eine große Erbärmlichkeit. (...) Das englische Volk und seine Arbeiterklasse wird von vorne bis hinten von einem Netz bourgeoiser Lügen umwickelt, die von den englischen Politikern gewohnheitsmäßig mit der Bibel gerechtfertigt werden. Das färbt auf die gesamte Lebensweise ab. Der gesamte Reichtum Englands stützt sich auf die riesigen, versklavten Kolonien."136 Das Alltagsleben in Deutschland und England bildet in Jaroslavskijs Briefen die beiden Pole einer verabscheuungswürdigen Lebensweise. Während in England ein raffiniertes und dekadentes Großbürgertum geschickt und mit Hilfe fester Verhaltensregeln und einem autoritären religiösen Puritanismus über die Ausbeutung der Kolonien und der Arbeiter hinwegtäuscht, zeichnen sich die Deutschen durch ihre so vulgäre wie obszöne Ungezwungenheit und Kleinbürgerlichkeit aus. Die Bilder des kleinbürgerlichen, bierseligen Deutschen und des formellen, pietistischen Engländers, die Jaroslavskij in seinen Briefen an Kirsanova entwirft, sind ganz offensichtlich von den nationalen Stereotypen, die in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts entworfen worden sind, beeinflusst. Insbesondere die Figur des Deutschen, aber auch die des Engländers dienten in den entsprechenden Romanen als meist wenig sympathisches Gegenbild zu einer literarisch konstruierten russischen Identität.137 Wichtig sind in unserem Zusammenhang aber weniger diese Stereotypen an sich, sondern vielmehr der Umstand, dass diese auf zentrale Dichotomien in der russischen Kultur verweisen und dass Jaroslavskij innerhalb dieses Musters und in Abgrenzung zu diesen Stereotypen seine eigene bolschewisti135

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Berlin, 9.9.1922, S. 8-9. Familienarchiv. Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus London, 28.10.1922, S. 2-3. Familienarchiv. Alexander Herzen begründete als einer der ersten die Tradition, das westeuropäische Konzept des Mittelstands (middle class, classes moyennes) in eine russische mythische Kategorie des mescanstvo zu überführen und es damit negativ zu konnotieren. Gercen, Aleksandr: Koncy i nacala. Pis'mo pervoe, in: Socinenija ν dvuch tomach, Moskau 1986, S. 353-356. Zahlreiche Beispiele für ein negatives, der russischen „Wesensart" entgegengesetztes Bild des Deutschen, des Engländers (und des Franzosen) bietet Fedor Dostojevskij: Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke (1863), in: ders.: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus und drei Erzählungen, aus dem Russischen von E.K. Rahsin, München 1992, S. 735-836; ders.: Tagebuch eines Schriftstellers (1873-1881), aus dem Russischen von E.K. Rahsin, München 1992; siehe auch: Joukovskaia, Anna: Deutsche Gestalten in der populären Belletristik, in: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19. Jahrhundert: von der Jahrhundertwende bis zu den Reformen Alexanders II., hrsg. v. Dagmar Herrmann, Alexander L. Ospovat, München 1998, S. 528-548. 136

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sehe, aber auch seine russische Identität konstruiert. Das zentrale Merkmal, das Jaroslavskij mit der Figur des Deutschen assoziiert, ist die poslost '. Poslost ' lässt sich nicht direkt übersetzen; der Begriff umfasst ein Bedeutungsspektrum von Trivialität, Vulgarität, Geschmacklosigkeit, Obszönität, Niederträchtigkeit und fehlender Spiritualität. Der Kampf gegen die poslost' war laut Svetlana Boym eine der dominantesten kulturellen Obsessionen der russischen intelligencija seit den 1860er Jahren und eines ihrer wichtigsten Distinktionsmerkmale.138 Semantisch eng verbunden mit poslost' ist der Begriff des byt. Byt kann annähernd als Alltag oder Alltäglichkeit übersetzt werden. Im späten 19. Jahrhundert wurde byt zunehmend negativ konnotiert und dem positiv konnotierten Begriff bytie gegenübergestellt, der soviel bedeutet wie „geistig bzw. spirituell bedeutungsvolle Existenz". Boym bezeichnet die Opposition zwischen byt und bytie als grundlegend für die russische kulturelle Identität139, auch wenn der Begriff byt in den 1920er Jahren in seiner Verwendung als novyj byt positiv belegt wurde und eine neue sowjetische Identität begründen sollte. Und es ist genau das „die Seele Erhebende" das „Ideenhaltige", also bytie, das Jaroslavskij der Figur des Deutschen abspricht. Das zentrale Merkmal der Figur des Engländers sind die aus Jaroslavskij s Sicht nicht nur oberflächlichen, sondern auch täuschenden formalisierten Umgangsformen. Jaroslavskij konstruiert an diesem Beispiel implizit eine Opposition zwischen einer „wahren, authentischen Kultur" und einer „oberflächlichen Zivilisation".'40 Trotz dieser Unterschiede zwischen „dem Engländer" und „dem Deutschen" ist in seinem Urteil beiden gemeinsam, dass sie durch ihre Fixiertheit auf materielle Dinge und festgefiigte Regeln, ihre „spirituelle Armut" (duchovnaja bednota), mangelnde Authentizität und ihren mangelnden „Ideengehalt" (idejnost ') gekennzeichnet sind. Als Träger spirituellen Reichtums, hohen Ideengehalts und moralischer Authentizität identifiziert Jaroslavskij trotz seiner theoretischen internationa-

138 Boym, Svetlana: Common Places. Mythologies of Everyday Life in Russia, Cambridge, London 1994, S. 41-66. 139 Boym: Common Places, S. 29-31; Kiaer, Kristina: The Russian Constructivist „Object" and the Revolutionizing of Everyday Life, 1921-1929, Ph. D. diss., University of California, Berkeley 1995. 140 Das Konzept von Kultur im Diskurs der russischen Intelligenz wird gewöhnlich auf deutsche philosophische Einflüsse, insbesondere auf die Philosophie Herders zurückgeführt. Der deutsche Kulturbegriff bezog sich auf eine authentische Volksseele. Mit dieser Idee wurde ein fundamentaler Gegensatz zum französischen Konzept der Zivilisation hergestellt. Dieses Konzept von Kultur war ein wichtiges Distinktionsvehikel der deutschen bürgerlichen Intellektuellen, die sich auf diese Weise von dem Einfluss der als oberflächlich wahrgenommenen französischen Adelskultur abzusetzen versuchten. Die russischen Slavophilen konstruierten einen ähnlichen Gegensatz zwischen einer authentischen russischen Volkskultur und einer westlichen Kultur, die sie durch die gebildeten Eliten repräsentiert sahen. Volkov, Vadim: The Concept of Kul'turnost'. Notes on the Stalinist Civilizing Process, in: Stalinism. New Directions, hrsg. ν. Fitzpatrick, Sheila, London, New York 2000, S. 210-230, S. 211-213; Kelly, Catriona: Constructing Russian Culture in the Age of Revolution, 1881-1940, Oxford 1998.

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listischen Überzeugung den bolschewistischen Revolutionär und den russischen Arbeiter. So beklagt Jaroslavskij gegenüber Kirsanova immer wieder seine Einsamkeit, seine Isolation von Russland und erwähnt mehrfach seine Sehnsucht nach einer direkten Kommunikation mit den Moskauer Arbeitern und nach seinen Auftritten auf ihren Versammlungen.141 Es wäre verfehlt, Jaroslavskij des russischen Nationalismus zu verdächtigen; er war bekennender Internationalist. Jedoch gehörte sein Internationalismus in den Bereich seiner theoretisch fundierten Überzeugungen. Über die Betonung des Russischen artikuliert sich hingegen eine vortheoretische Gewissheit, sein Bedürfnis nach der Überwindung seiner gesellschaftlichen Marginalisierung. Die russische Kultur und ihre selbsterklärten Repräsentanten in der intelligencija waren das Vehikel für Jaroslavskij s Integration und letztlich für seinen sozialen Aufstieg; und die russische Sprache war für ihn, wie er sehr viel später in den 1930er Jahren in seinem Tagebuch vermerkte, die Sprache der Revolution.142 Wichtig erscheint im Kontext dieser russischen Orientierung auch das Problem der Eigennamen. Jaroslavskij, der als Icko-Mejer (Minej) Izrailevic Gubel'man in einem religiösen jüdischen Elternhaus geboren wurde und aufwuchs, verwendete im revolutionären Untergrund mehrere Pseudonyme. Den Namen Jaroslavskij, den er seit 1906 immer wieder benutzte und von 1917 bis zu seinem Tod beibehielt, ist mit einem konkreten Ereignis verknüpft, mit einer Streikbewegung in Jaroslavl' im Herbst 1905, die Jaroslavskij gemeinsam mit anderen Bolschewisten angeführt hatte.143 Das Pseudonym Emel'jan, das er nach der Revolution zu seinem Vornamen machte, wurde ihm angeblich von Elena Stasova zugewiesen, über deren Verbindung Jaroslavskij im Winter 1903/4 in das Petersburger Komitee der RSDRP kooptiert wurde.144 Bedenkt man Jaroslavskij s ausgeprägtes Interesse für die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung und seine populistischen Neigungen, so steht zu vermuten, dass er mit dem Namen Emel'jan den legendären Anführer von Bauernaufständen im 18. Jahrhundert Emel'jan Pugacev assoziierte. Die unter Bolschewisten weitverbreitete und unter den Bedingungen der Illegalität notwendige Praxis der Annahme von Decknamen zeigt im Falle Jaroslavskijs, dass er seine neue Identität mit der russischen revolutionären Bewegung verknüpfte und damit seine vorrevolutionäre Lebensphase für abgeschlossen erklärte. Lediglich die Briefe an Kirsanova unterschrieb Jaroslavskij bis in die 1930er Jahre hinein mit seinem Geburtsnamen Minej. Auch Jaroslavskij s und Kirsanovas Kinder: die 1915 geborene Marianna, der 1921 geborene, aber bald darauf verstorbene Volodja (Vladimir), der 1922 geborene Volodja und der 1925 geborene Frunze waren Kinder der Revolution. Marianna verweist auf das

i« So z.B. in den Briefen vom 18.9.1922, S. 5, und vom 28.10.1922, S. 4. Familienarchiv. 142 Aufzeichnung vom 3.2.1935. Familienarchiv. 143 Siehe hierzu Jaroslavskijs Erinnerungen: Iz Tuly na Volgu. 144 Vojskobojnikov, V.M.: Tovarisc Emel'jan, Leningrad 1979, S. 55-58.

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zentrale Symbol der französischen Revolution die „Marianne", Vladimir ist der Vorname Lenins und die Namensgebung des jüngsten Sohns ist eine Ehrerbietung an den 1925 infolge einer Operation verstorbenen Stabschef der Roten Armee Michail Frunze. In seiner Korrespondenz mit Kirsanova spiegelt sich in offensichtlicher Weise Jaroslavskijs Identitätsdilemma, dem er in Westeuropa ausgesetzt war und das bei ihm das Bedürfnis weckte, sich immer wieder als aufrechter und asketischer Bolschewist zu bestätigen und vor Kirsanova zu präsentieren; denn Jaroslavskij war gegen die Versuchungen der Warenwelt keineswegs gefeiht und sah sich auch unter Druck, sich in der Art sich zu kleiden und zu verhalten seiner deutschen und englischen Umgebung anzupassen. Er kaufte mehrere Gegenstände, unter anderem für sich einen Mantel, Spielzeug und bunte Kleider für Kirsanova und die Kinder, und registrierte genau die Preise dieser Gegenstände. Er sah sich aber gezwungen, seine Käufe vor Kirsanova zu rechtfertigen, die aus einer asketischen Haltung heraus dafür offensichtlich wenig Verständnis aufbringen konnte. So begründete er den Kauf seines Mantels damit, dass sein Begleiter Medved'ev gesagt habe, seinen alten Mantel könne man nur noch in der Sauna tragen, nicht aber auf der Straße, und versuchte Kirsanova mit dem Argument milde zu stimmen, die bunten Kleider habe er nur gekauft, damit sie und die Tochter Marianna diese am Jahrestag der Oktoberrevolution trügen.' 45 Hiermit soll aber keinesfalls impliziert werden, dass Jaroslavskij Kirsanova täuschen wollte. Im Gegenteil diente sie ihm als Publikum, vor dem er sich in Abgrenzung zu „dem Engländer" und „dem Deutschen" als asketischer, inbrünstig überzeugter russischer Bolschewist konstituieren und seine Identität absichern konnte. Wodurch zeichnete sich jedoch der geistige bzw. „spirituelle Reichtum" und der hohe „Ideengehalt" aus, die Jaroslavskij in den westeuropäischen Städten so zu vermissen schien, die aber in seiner Vorstellung den bolschewistischen Revolutionär und den russischen Arbeiter auszeichneten? In einer Umfrage, die die Zeitschrift Rodnaja gazeta zu Beginn der 1920er Jahre durchführte, gab Jaroslavskij auf die Frage „Was ist Glück und worin besteht der Sinn des Lebens" eine Antwort, die uns der Bedeutung dieser etwas vagen Begriffe näher bringt: „(...) Für mich bedeutet Glück die Schöpfung neuer Lebensformen, das ewige Streben nach vollkommeneren Formen des Lebens und den Kampf dafür. (...) Ich halte mich für glücklich, weil ich die Schönheit der Natur fiihle, das Glück der Liebe erfahren habe und durch das Leiden, durch den Hass auf das Böse (das Böse des Lebens) eine noch größere Fähigkeit erlangt habe, dafür zu leiden, was ich für den Sinn des Lebens halte."146

Jaroslavskij verband mit diesen Begriffen kämpferisches Heldentum, Opferbereitschaft, unmittelbare menschliche Beziehungen und vor allem eine eher 145 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Berlin, 19.10.1922, S. 3-4; Brief Jaroslavskijs an Kirsanova, 28.10.1922, S. 4. Familienarchiv, i « F.89, op.l, d.72,1.111.

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ideologische als spirituelle Form der Transzendenz, das heißt das Streben nach einer diesseitigen harmonischen kommunistischen Zukunft. Am Beispiel dieser Aussage wird zudem deutlich, dass Jaroslavskijs Weltbild nichts mit einem idealtypischen demokratischen oder liberalen Verständnis von Politik gemein hat. Er verstand politisches Handeln weder als zweckrationale Verfolgung begrenzter Ziele, noch glaubte er an die Möglichkeit einer rationalen, geregelten Form des Interessenausgleichs zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, der durch demokratische und rechtstaatliche Verfahren gewährleistet wird.147 Parlamentarismus und Rechtstaatlichkeit waren für ihn lediglich ein besonders raffiniertes Instrument der Besitzenden, Gebildeten und Mächtigen, das dazu diente, ihre Klassenherrschaft aufrecht zu erhalten. Seine Vorbehalte gegen den Parlamentarismus wurden durch seine Beobachtungen in London lediglich bestätigt. Jaroslavskij war der Überzeugung, dass die Ursache der sozialen Probleme die Ausbeutung der Armen durch die Besitzenden sei und der Schlüssel zur Lösung dieser Probleme in der Enteignung der Ausbeuter und der „gerechten", das heißt Gleichheit garantierenden Umverteilung der Ressourcen liege.148 Die Prämisse für eine derartige Überzeugung war eine diffuse Vorstellung von einem „allgemeinen Wohl", dessen Inhalt von allen erkennbar ist und durch das jegliche Partikularinteressen überwunden werden können. Jaroslavskij dachte sowohl über seine Rolle als Revolutionär als auch über politische Praxis in moralischen und mythischen Kategorien. Mit „mythisch" ist gemeint, dass seine Vorstellungen vom Sinn politischen Handelns durch narrative Modelle strukturiert wurden. In seiner Antwort lassen sich zentrale symbolische Muster der zwei großen Erzählungen herauslesen, die weiter oben konturiert worden sind: zum einen das durch den Marxismus vorgegebene eschatologische Drama mit seinem Endpunkt eines vollkommenen Lebens und zum anderen den Bildungsroman mit der engen Verknüpfung von persönlichem und allgemeinem Glück, von Liebe gegenüber den Unterdrückten und Entrechteten und dem Leiden des Revolutionärs, der von einer allumfassenden Idee durchdrungen ist. Das rachmetovsche Nagelbett, auf dem sich der Revolutionär in seiner fiktionalen Welt auf seine zukünftigen Aufgaben vorbereitet, und der von Dobroljubov als Prototyp des Neuen Menschen proklamierte Held Insarov aus Turgenevs Roman „Am Vorabend" sind auch in Jaroslavskijs Antwort präsent. Nur wird hier das narrative Modell des heroischen Martyriums zu Beginn der 1920er Jahre mit den Erfahrungen von Haft, Zwangsarbeit und Verbannung unter dem Zarenregime gefüllt und diese realen Erfahrungen durch das Prisma der Erzählung interpretiert: Die Befähi-

147 Zum liberalen Verständnis von Politik siehe: Sellin, Volker: Politik, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 789-874. 148 Zu dieser Tradition im russischen Denken siehe: Walicki, Andrzej: Legal Philosophies of Russian Liberalism, Oxford 1987, S. 59.

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gung, für ein vollkommeneres Leben kämpfen und vollkommene gesellschaftliche Formen schaffen zu können, und die Legitimation, als Mitglied einer revolutionären Avantgarde aufzutreten, erwirbt der Revolutionär Jaroslavskij durch sein Martyrium und den Hass auf das Böse. Aber erst durch die Kombination der beiden Erzählungen erhält die Aufopferungsbereitschaft des Revolutionärs auch eine geschichtliche Dimension und den Status einer sinnvollen Erzählung: Sein Leidensweg wird mit der Zukunft der Revolution verknüpft und die Schöpfung neuer Lebensformen von seiner Leidensfähigkeit abhängig gemacht. Wie verhält sich aber die starke Orientierung an der Kultur der russischen intelligencija zu Jaroslavskijs jüdischer Herkunft? Jaroslavskij setzte sich, wie die meisten jüdischen Kommunisten im Russischen Reich und später in der Sowjetunion, nicht explizit mit seiner Herkunft auseinander. Er hegte wie viele von ihnen eine Aversion dagegen, der „jüdischen Frage" besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.149 Seine Frau, Klavdija Kirsanova, war Russin. Jaroslavskij versuchte, im Gegensatz zu seinem Bruder Moisej, auch nicht, seine Entscheidung, sich im revolutionären Untergrund zu engagieren, mit Erfahrungen von antisemitischen Übergriffen oder Pogromerlebnissen zu begründen. Moisej Gubel'man hatte in seiner Parteiautobiographie vermerkt, dass ihn die ständige Diskriminierung durch seine Lehrer aufgrund seiner jüdischen Herkunft vor die Wahl gestellt habe, entweder nach Amerika auszuwandern oder sich der Sozialdemokratie anzuschließen. 150 Jaroslavskijs Schweigen in dieser Frage ist symptomatisch, denn obwohl das Bewusstsein im Diskurs der russischen radikalen Bewegungen einen so großen Raum einnimmt - gemeint ist hiermit das Bewusstsein der eigenen Identität und der eigenen Rolle in der Geschichte - , hatte Jaroslavskij ein so unreflektiertes wie ambivalentes Verhältnis zu seiner jüdischen Herkunft. Es gibt aber einige Hinweise darauf, dass diese nicht ganz so unbedeutend war, wie er durch sein Schweigen glauben machen wollte. Es wurde schon erwähnt, dass Jaroslavskij im Bürgerkrieg Informationen über Pogrome sammelte und sich über antisemitische Stimmungen Sorgen machte, ihn aber gleichzeitig die Erfahrung, dass russische Arbeiter ihm, dem Juden im gottesfurchtigen, orthodoxen Moskau zuhörten, so in Begeisterung versetzte, dass er sich als Christusfigur stilisierte. Auf der anderen Seite äußerte er sich zu Beginn des Jahres 1924 in einem Brief an den ehemaligen Bundisten und hochrangigen Funktionär der jüdischen Sektion der Kommunistischen Partei Rachmiel Vajstejn mit Ekel über die evrejskaja ulica, die jüdische Straße, die 149 Das traf ebenfalls für einen Großteil der Menschewiki zu. Liebich, André: From the Other Shore. Russian Social Democracy after 1921, Cambridge 1997, S. 12-20. 150 Kratkaja avtobiografija clena o-va starych bol'sevikov Moiseja Izrailevica Gubel'mana. F. 124, op. 1, d.539, 1.2. Diese Aussage Moisejs verdeutlicht, dass seine Geschichte auch ganz anders hätte verlaufen können. Zwischen 1840 und 1914 waren über eine Million russischer Juden nach Amerika ausgewandert. Siehe hierzu u.a.: Hödl, Klaus: „Vom Shtetl an die Lower East Side". Galizische Juden in New York, Wien, Köln, Weimar 1991.

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für ihn offensichtlich der Inbegriff eines verabscheuenswürdigen traditionellen jüdischen Lebens war: Die Genossen, die im Milieu der kleinen Handwerker und Kleinbürger der .jüdischen Straße" aufgewachsen seien, hätten ganz unweigerlich die Ideologie des menschewistischen Teils des „Bunds" in sich genährt.151 Jaroslavskij beschreibt hier, möglicherweise ohne sich dessen bewusst zu sein, das Milieu, aus dem seine Eltern und er selbst stammten. Bemerkenswert ist zudem, dass er seine Mutter in seinen sämtlichen Parteiautobiographien lediglich als Tochter eines Fischers aus Barguzinsk ausgibt, möglicherweise um ihre jüdische Identität zu vertuschen. Nach jüdischem Recht wird die jüdische Identität durch die Mutter vererbt. Es ist zu vermuten, dass er hiermit versuchte, antisemitischen Anfeindungen entgegenzutreten. Jaroslavskij war einer der wichtigsten Wortführer der Partei und der sowjetischen Regierung in Fragen des Antisemitismus, sprach aber von den Juden konsequent in der dritten Person. In einem Vortrag über Nationalitätenpolitik auf einem Plenum des ZK der Ukraine Mitte der 1920er Jahre stellte Jaroslavskij die korenizacija-Politik der Partei in bezug auf die jüdische Bevölkerung in Frage. Es sei erstaunlich, dass man den Juden erlaube, die jiddische Sprache in den Schulen zu unterrichten und eine künstliche evreizacija zu organisieren.152 Jaroslavskij reagierte auf Bestrebungen der Juden, sich von der russischen Mehrheitsgesellschaft zu differenzieren, genauso negativ wie auf den Antisemitismus der Russen. In dieser Haltung vermittelt sich seine Erfahrung gesellschaftlicher Exklusion, aus der sich möglicherweise auch sein so radikaler wie inbrünstiger Atheismus erklärt. Für ihn waren die russische Orthodoxie genauso wie die jüdische Religion sowohl Symptome als auch Instrumente der Exklusion und Diskriminierung. An dieser Stelle kommen wir wieder auf das von Leopold Haimson beschriebene Dilemma der russischen Sozialdemokraten zurück, das zu Beginn dieses Kapitels angeführt wurde. Jaroslavskij s Identifikation mit der russischen Kultur und den russischen Arbeitern war für ihn die einzige Möglichkeit, seine marginale gesellschaftliche Stellung zu überwinden. Die Kultur und die Lebensformen der intelligencija, der russische Radikalismus, und der Marxismus bildeten ein Schema zur Klärung der eigenen Identität und Zugehörigkeit. Im Laufe dieser Arbeit wird immer 151 Schreiben Jaroslavskijs an Vajnstejn vom 9.1.1924. F.89, op.3, d.272,1.1. Der „Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland" wurde 1897 gegründet. Die Delegierten des „Bunds" hatten 1903 den zweiten Parteitag der RSDRP, auf dem sich die Partei in eine bolschewistische und eine menschewistische Fraktion gespalten hatte, aus Protest gegen das von Lenin vertretene zentralistische Organisationsprinzip verlassen. Zur Geschichte des „Bunds" siehe: Tobias, Henry J.: The Jewish Bund in Russia. From its Origins to 1905, Stanford 1972; Brym, Robert J.: The Jewish Intelligentsia and Russian Marxism. A Sociological Study of Intellectual Radicalism and Ideological Divergence, London 1978; Frankel, Jonathan: Prophecy and Politics. Socialism, Nationalism and the Russian Jews, Cambridge 1981. Zur 1918 gegründeten jüdischen Sektion der Kommunistischen Partei siehe: Freitag: Nächstes Jahr in Moskau, S. 175-185. 152 Luukkanen: Party of Unbelief, S. 203.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

wieder zu zeigen sein, dass die Furcht vor Marginalisierung eine wesentliche Motivation war, die Jaroslavskijs Handeln und Verhalten bestimmte. In den vorangegangen Ausführungen ist versucht worden, das Koordinatensystem nachzuzeichnen, in dem Jaroslavskij seine Identität als Revolutionär konstruierte und seine Vorstellungen von Politik entwickelte. Seine Vorstellungen von sich selbst und der Welt oder, um mit Bourdieu zu sprechen, sein Habitus, konstituierten sich an der Schnittstelle von den Diskursen des russischen Radikalismus und des Marxismus, der Erfahrung von gesellschaftlicher Marginalisierung und der in den Zirkeln der radikalen intelligencija praktizierten Formen sozialer Interaktion. Jaroslavskij sah sich als selbstlosen, in seinen Überzeugungen unerschütterlichen Bolschewisten, der sich unermüdlich für die Belange der „Massen" einsetzt und über die Fähigkeit verfügt, unmittelbar mit diesen zu kommunizieren und sie trotz widrigster Bedingungen von der bolschewistischen Sache zu überzeugen. Die „Massen" waren für ihn weniger eine soziologische Kategorie, sondern vielmehr Träger eines eschatologischen Potentials, also eine intellektuelle und emotionale Projektion. Die Partei konzipierte Jaroslavskij als familienähnliche, kameradschaftliche Gemeinschaft selbstloser und überzeugter Revolutionäre. Er lehnte jegliche Form sozialer und politischer Interaktion ab, die durch formalrechtliche Verfahren und abstrakte Institutionen bestimmt wurde. Die Erfahrung gesellschaftlicher Marginalisierung war für ihn, auch wenn er sich dessen vermutlich nicht bewusst war, eine wesentliche Handlungsmotivation. Aus diesen einzelnen Aspekten resultierte Jaroslavskijs relativ eingeschränkte, provinzielle und populistische Vorstellung von Politik, die sich für ihn im Mobilisieren und Erziehen der „Massen", der Umverteilung von Ressourcen und dem Ausüben von Kontrolle erschöpfte. Diese Vorstellungen und Ideale Jaroslavskijs blieben trotz wiederholter Kollisionen mit der Realität und trotz seiner in den 1930er Jahren zunehmenden Marginalisierung von der Parteispitze bis zu seinem Tod stabil. Es wurde schon angedeutet, dass er nicht nur über effektive Immunisierungsstrategien verfügte, mit der sich kognitive Dissonanzen reduzieren ließen, sondern dass er seine Vorstellungen, sobald diese bedroht wurden, besonders vehement verteidigte. Diese Ideale sollten aber im Kontext der politischen Entwicklung eine destruktive Wirkung entfalten. Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, wie Identitätskonstruktionen zum Instrument von Politik und zu einem der zentralen Strukturmerkmale bolschewistischer Herrschaft wurden.

2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften

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2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften Bolschewistische Herrschaft ist in auffälliger Weise durch Identitätspolitik gekennzeichnet. Schon kurz nachdem die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht übernommen hatten, waren die Zeitungen und Zeitschriften voll mit biographischen und autobiographischen Texten von und über Revolutionäre. Der seit 1923 geforderte Leninkult, der Antikult um Trotzkij und auch der Stalinkult in den 1930er Jahren waren Varianten dieses kulturellen Musters. Die Bolschewiki beanspruchten die Herrschaft über ein Territorium, das schon in der Zarenzeit durch eine schwach ausgeprägte Institutionalisierung von Staat und Gesellschaft gekennzeichnet war, die dann im Chaos von Weltund Bürgerkrieg noch weiter zersetzt wurde. Vor diesem Hintergrund ließ sich mit Biographien zeigen, wer die neuen Machthaber waren, und die Légitimât des Herrschaftsanspruchs von Gruppen, aber auch individuelle Statusansprüche in der Gruppe vermitteln. Biographisches und autobiographisches Schreiben wurde schon seit Beginn der 1920er Jahre zunehmend institutionalisiert und bestimmte narrative Muster wurden kanonisiert. Im folgenden soll versucht werden, durch das Prisma Jaroslavskij zu zeigen, in welcher Tradition dieses Muster der bolschewistischen Identitätspolitik stand, wie es sich im Rahmen der bolschewistischen Herrschaftssicherung entwickelte, wie bolschewistische Herrschaft funktionierte und wie diese sich wiederum auf die Herrschaftsträger auswirkte. Jaroslavskij war einer der maßgeblichen Organisatoren der Institutionalisierung revolutionärer Erinnerung und einer der bedeutendsten Hüter einer bolschewistischen Revolutionärsidentität. Noch während des Bürgerkriegs nahm er am 12. März 1919, dem zweiten Jahrestag der Befreiung der politischen Gefangenen aus den zarischen Gefangnissen, an einer feierlichen Zusammenkunft von Kommunisten in der Wohnung des lettischen Bolschewisten Jan Rudzutak teil, auf der der Plan gefasst wurde, eine Gesellschaft zur Sammlung und Erforschung der Lebensläufe von Kommunisten zu gründen.153 Feliks Dzerzinskij, Rudzutak und Jaroslavskij bildeten den Kern der sogenannten Initiativgruppe, die die Statuten der zu gründenden Gesellschaft erarbeitete. Bemerkenswert ist, dass keiner der drei Hauptinitiatoren Russe war. Das Vorhaben wurde schließlich am 21. März 1921 in die Tat umgesetzt. Auf Initiative der Dreiergruppe versammelten sich im Moskauer Haus der Gewerkschaften ehemalige narodniki, Marxisten und Mitglieder anderer revolutionärer Parteien und gründeten die „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" {Vsesojuznoe obscestvo politkatorzan i ssyl'noposelencev).154 Auf dieser Gründungsversammlung wurde der Bol153

Grigor'ev/Kut'ev: Boec i letopisec, S. 22. Savel'ev: Propagandist marksistskogo ateizma, S. 10; Heller, Ilse: Die Entstehung und Entwicklung der neuen geschichtswissenschaftlichen Institutionen in der Sowjetunion, 154

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II. Identität und Identitätskonstruktion

schewist Ivan Adolfovic Teodorovic, der in den folgenden Ausführungen noch eine wichtige Rolle spielen wird, als Vorsitzender bzw. als sogenannter Ältester der Traditionsgesellschaft gewählt. Von 1925 bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1935 bekleidete Jaroslavskij dieses Amt. Mitglieder der Gesellschaft konnten diejenigen werden, die einer Partei oder Gruppierung der russischen revolutionären Bewegung angehörten und eine justitiäre Bestrafung, d.h. Zwangsarbeit, Verbannung oder Gefängnisstrafen, hatten erdulden müssen. Als wichtigste Aufgaben der Gesellschaft wurden in ihrer Satzung das Sammeln, die Aufbewahrung sowie die Aufarbeitung von derartigen Materialien formuliert, die an die revolutionäre Bewegung und insbesondere an die Zeit der Verbannung und der politischen Gefangenschaft erinnerten. Die Mitglieder der revolutionären Parteien wurden aufgefordert, persönliche Dokumente wie Memoiren, Notizen, Tagebücher, Briefe, Gefángnisakten, Fotografíen, Zeichnungen und Gedichte der Gesellschaft zur Aufbewahrung zu überlassen, und dazu angehalten, ihre Erlebnisse niederzuschreiben oder auf sogenannten Erinnerungsabenden davon zu berichten. Die Gesellschaft stellte sich darüber hinaus die Aufgabe, das Gedenken an die verstorbenen Revolutionäre lebendig zu halten, bot Orte der Geselligkeit und übte soziale Funktionen aus, indem sie bedürftige Mitglieder und deren Familien finanziell und durch die Vermittlung anderer Ressourcen wie z.B. Wohnraum oder einen Aufenthalt in einem Erholungsheim unterstützte. Diese sozialen Funktionen waren in Anbetracht des allgegenwärtigen Mangels von erheblicher Relevanz für die Mitglieder und ihre Familien, da hierdurch ein privilegierter Zugang zu den Gütern gewährleistet wurde, die den meisten sowjetischen Bürgern nicht zugänglich waren. Die Gesellschaft unterhielt einen Komplex von drei Wohnhäusern in Moskau, wo etwa zweihundert ihrer Mitglieder lebten, mehrere Erholungsheime, unter anderem das ehemalige Gut der Grafen Seremetev in Michajlovskoe bei Moskau.155 Sie betrieb einen eigenen Verlag und gab die Zeitschrift „Zuchthaus und Verbannung" (Katorga i ssylka) her-

Halle 1986, S. 123; Alatorceva, A.UUdal'cova, M.I.: ¿urnal „Katorga i ssylka" i ego rol' ν izucenii istorii revoljucionnogo dvizenija ν Rossii, in: Istorija SSSR, 1982, H.4, S. 100115, S. 101. 155 Der Komplex der drei Wohnhäuser entstand zwischen 1927 und 1934. Die Mitglieder der Gesellschaft verfügten über eine ganze Reihe von Privilegien. Sie erhielten besondere Möglichkeiten medizinischer Betreuung, der Erholung und der Kinderversorgung. Während der durch die rücksichtslose Kollektivierungspolitik der stalinschen Führung ausgelösten dramatischen Versorgungsengpässe, die sich 1932/33 zu einer Hungersnot ausweiteten, die ca. sechs Millionen Menschen das Leben kosten sollte, genossen die Mitglieder zumindest in Moskau Sonderzuteilungen von Lebensmitteln und hatten Zugang zu fur die breite Bevölkerung geschlossenen Geschäften. Lur'e, Al'bert: Vremja i ljudi, in: Vsesojuznoe obscestvo politkatorzan i ssyl'noposelencev. Obrazovanie, razvitie, likvidacija, 1921-1935. Byvsie cleny obscestva vo vremja Bol'sogo terrora. Materialy mezdunarodnoj naucnoj konferencii (26-28 oktjabrja 2001 g.), Moskau 2004, S. 14-17.

2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften

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aus, deren selbsterklärtes Ziel es war, „mit vereinten Kräften die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung lebendig zu erhalten."156 Ähnliche Funktionen erfüllte auch die am 28. Januar 1922 gegründete „Gesellschaft der Altbolschewisten" ( Vsesojuznoe obscestvo starych bol'sevikov), die organisatorisch der 1920 gebildeten „Kommission für die Sammlung und zum Studium von Materialien zur Geschichte der Oktoberrevolution und der Kommunistischen Partei" (Komissija po istorii Oktjabr'skoj revoljucii i istorii Kommunisticeskoj partii, Istpart) angegliedert war. M.S. Ol'minskij bekleidete den Vorsitz der Gesellschaft. Anfang des Jahres 1931 wurde Jaroslavskij zum Vorsitzenden gewählt; diese Position behielt er bis zur Auflösung der Gesellschaft im August 1935 inne. Mitglieder in der Gesellschaft konnten diejenigen Bolschewisten werden, die eine ununterbrochene achtzehnjährige Parteimitgliedschaft nachweisen konnten. Die organisierten Altbolschewisten formulierten in der Satzung die wesentlichen Aufgaben der Gesellschaft: die Aufrechterhaltung enger kameradschaftlicher Gemeinschaftlichkeit unter Altbolschewisten, die Erziehung jüngerer Parteimitglieder „im Sinne der alten kameradschaftlichen Traditionen des Bolschewismus", die Sorge um den Lebensunterhalt und die Gesundheit der Mitglieder und ihrer Angehörigen sowie die Unterstützung des Istpart bei der Sammlung von Zeitzeugenberichten.157 Das Istpart gab seit Oktober 1921 die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija heraus, die zumindest in den ersten Jahren ihres Erscheinens überwiegend Erinnerungen von bzw. an Revolutionäre veröffentlichte. Demselben Zweck diente auch die Zeitschrift Krasnaja letopis für die das Petrograder/Leningrader Institut für Parteigeschichte verantwortlich zeichnete. Den Hintergrund für die Gründung der Traditionsgesellschaften bildete der endgültige Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg. Die „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" wurde unmittelbar nach dem 10. Parteitag (8.-16. März 1921) und der zeitgleichen gewaltsamen Niederschlagung des Kronstädter Aufstands ins Leben gerufen. Der Parteitag hatte mit der Einführung der NEP einen Politikwechsel vorgenommen, mit dem die Bolschewiki hofften, ihre Herrschaft zu konsolidieren. Die in den Statuten der „Gesellschaft der Altbolschewisten" festgeschriebene Aufgabe, den kameradschaftlichen Zusammenhalt der alten Revolutionäre zu stärken und die Parteijugend in diesem Sinne zu erziehen, legt die Vermutung nahe, dass die Gründung von Traditionsgesellschaften gerade zu einem Zeitpunkt als ein besonders dringliches Anliegen wahrgenommen wurde, als sich die Zusammensetzung der Partei von einer konspirativen Untergrundorganisation 156 Ot redakcii, in: Katorga i ssylka 1925, no. 2, S. 13. Die Zeitschrift unterteilte sich diesem Anspruch gemäß in die Abschnitte: 1. Aus der Geschichte der revolutionären Bewegung, 2. Zwangsarbeit, Zuchthaus, Verbannung und Emigration, und 3. Antlitz der Verstorbenen. Materialien zu einem biographischen Wörterbuch. 157 Hierzu siehe: Korzichina, T.P.: Obscestvo starych bol'sevikov (1922-1935 gg.), in: Voprosy istorii KPSS, 1989, H. 11, S. 50-65.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

einiger weniger überzeugter Revolutionäre hin zu einer Massenorganisation entwickelte, die auch viele unsichere Kanonisten integrieren musste.158 Diese Veränderungen in der Struktur der Partei wurden offensichtlich von einigen langjährigen Revolutionären auch als Bedrohung ihrer Erfahrung und ihrer Vorstellung von revolutionärer Festigkeit wahrgenommen. Hieraus resultierte sowohl ihr pädagogischer Anspruch als auch ihr Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den Jüngeren sowie die Markierung ihres besonderen Status als „eiserne Kohorte der Revolution" und der damit zusammenhängenden Herrschaftsansprüche . Die Traditionsgesellschaften waren eine institutionalisierte Variante des vorrevolutionären kruzok. Nach den Wirrnissen und Härten des Bürgerkriegs, der von den meisten Revolutionären ein hohes Maß an geographischer Mobilität verlangt hatte und häufig den Zerfall gewohnter familiärer und sozialer Beziehungen mit sich brachte, bedienten die Traditionsgesellschaften das Bedürfnis ihrer Gründer und Mitglieder nach Kontinuität, nach einem Bezugsrahmen für ihre frühen Sozialerfahrungen sowie nach den gewohnten „kameradschaftlichen" Interaktionsmustern. Die Gesellschaften waren darüberhinaus Orte einer symbolischen Vergemeinschaftung, wo die Repräsentationsmuster entwickelt wurden, mit denen die Revolutionäre ihr Leben beschrieben und ihre Erinnerungen organisierten. Sie interpretierten Verbannung, Haft und Bürgerkrieg als schwerwiegende identitätsstiftende Erlebnisse und nahmen die daraus resultierende Martyrologie als Grundlage und Bezugsrahmen ihrer Zusammengehörigkeit, ihres Ehrbegriffs sowie der Legitimation ihres Status und ihrer Privilegien wahr. Eine derartige Bewertung dieser Erfahrungen, die allerdings, wie im vorausgegangenen Kapitel gezeigt wurde, durch schon existierende narrative Modelle bzw. „Sinnrahmen" vorstrukturiert wurde, brachte erst das Bedürfnis nach der Gründung von Traditionsgesellschaften hervor, die sich der Erinnerung und der ständigen Reproduktion von Erinnerung, aber auch der privilegierten Alimentierung ihrer Mitglieder widmen und damit zunächst der Herstellung und später der Sicherung einer sozialen Identität, aber auch eines Herrschaftsanspruchs dienen sollten.

158 Am Vorabend der Februar-Revolution zählte die im Untergrund operierende bolschewistische Partei etwa 24.000 Mitglieder. Gegen Ende des Bürgerkriegs war die nun regierende Partei um mehr als 700.000 Mitglieder angewachsen. Siehe hierzu: Rigby, T.H.: Communist Party Membership in the USSR, 1917-1967, Princeton 1968, S. 7-8, 52, 5 7 109; Korzichina: Obscestvo starych bol'sevikov, S. 50-54, stellt diesen Zusammenhang zwischen der Veränderung der Parteizusammensetzung und der Gründung der Traditionsgesellschaften explizit her. Einer der Initiatoren der „Gesellschaft der Altbolschewisten", S.V. Malysev, formulierte auf der konstituierenden Sitzung sein Anliegen in diesem Sinne: Die Vereinigung der langjährigen Parteimitglieder sei unabdingbar, um „den kameradschaftlichen Zusammenhalt in unseren Reihen zu erhalten, der insbesondere für die alte, konspirative Organisation charakteristisch war. Dieser Zusammenhalt muss auch an die Parteijugend weitergegeben werden." F. 124, op.3, d.3,1.2-3.

2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften

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Jaroslavskij und viele seiner Genossen neigten dazu, in Generationszusammenhängen zu denken. Diese Art des Denkens ist eine Reaktion auf durch Revolution und Bürgerkrieg bedingte Umbruchserfahrungen.159 Jaroslavskij und seine etwa gleichaltrigen Mitstreiter, von denen viele Mitglieder der Traditionsgesellschaften waren, waren sicherlich keine Generation im Sinne einer konkreten, gut festlegbaren Gruppe wie z.B. die Absolventen ein und derselben Bildungsinstitution. Dafür waren ihre sozialen und geographischen Hintergründe zu disparat. Sie waren aber dennoch einschneidenden generationellen Prägungen wie Haft, Zwangsarbeit, Verbannung und Bürgerkrieg sowie ähnlichen Diskursen ausgesetzt, die sie zu ihrer Selbstdeutung heranzogen. Die „alten Revolutionäre" sind so am angemessensten als Selbstdeutungsgemeinschaft oder als „imaginierte Gemeinschaft" zu beschreiben. Ihre Erfahrungen erhielten rückblickend eine kollektiv hergestellte Deutung, die zur Konstruktion eines Idealbilds des Revolutionärs sowie eines spezifischen Ehrbegriffs führte und Homogenität suggerierte. Auch Jaroslavskij s Biographie mit ihren einzelnen Stationen fügte sich in den „Sinnrahmen" des revolutionären Martyriums. Hieraus sollte er in der Folgezeit die Rechtmäßigkeit des von ihm beanspruchten Status als Mitglied der bolschewistischen Führung ableiteten.160 Im Rahmen dieser Untersuchung soll weder eine detaillierte Beschreibung der Geschichte der Traditionsgesellschaften und von Jaroslavskij s Agieren in diesen, noch eine Dekonstruktion des Idealbilds vom Revolutionär und Bolschewisten geleistet werden. Die Traditionsgesellschaften dienen vielmehr als Ansatzpunkt, um die Vorstellungen, die Jaroslavskij und viele seiner Genossen von sich hatten, zu untersuchen. An diesem Beispiel wollen wir uns ausgehend von den unterschiedlichen Mustern der Lebensbeschreibung dem Zusammenhang zwischen Erfahrung, Erinnerung, Geschichte, Identitätskonstruktion und Kultproduktion nähern. a. Formen der Lebensbeschreibung: anketa, avtobiografija, vospominanie Schon gegen Ende des Bürgerkriegs wurden die aktiven Teilnehmer der revolutionären Bewegungen, der revolutionären Ereignisse von 1917 sowie des Bürgerkriegs immer wieder dazu aufgefordert, in unterschiedlicher Form und für unterschiedliche Verwendungen ihren Lebenslauf und den von anderen Genossen zu schildern. Diese Erinnerungsproduktion wurde durch die eben genannten und andere Institutionen gesteuert und in Archiven verwaltet, so z.B. auch an der Spitze der Parteihierarchie, im Sekretariat des ZK, das u.a. 159

Zum Zusammenhang von einschneidenden Veränderungen und Generationsdenken siehe: Koselleck, Reinhart: „Erwartungsraum" und „Erfahrungshorizont" - zwei historische Kategorien, in: ders:. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 349-375, hier S. 366-368. 160 Diese Legitimationsstrategie verlor allerdings aus noch zu schildernden Gründen in den 1930er Jahren zunehmend ihre Wirkung.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

aufgrund dieser Selbstauskünfte über die Eignung von Parteikadern fur bestimmte Posten entschied. Im Zuge der strukturellen Veränderungen der Partei von einer revolutionären Gruppierung zu einer regierenden Massenpartei, die auch ihre Mitglieder registrieren und auf ihre Tauglichkeit überprüfen musste, wurde es zudem üblich, dass Bewerber um Aufnahme in die Partei oder in den Komsomol ihren Lebenslauf {avtobiografija) in schriftlicher Form zunächst darlegen und dann vor der Parteiversammlung verteidigen mussten. Die dort gemachten Selbstauskünfte konnten in den regelmäßigen Parteisäuberungen durch Vertreter der ZKK aber auch durch die Parteiöffentlichkeit überprüft und in Frage gestellt werden.161 Die geläufigsten Formen der Lebensbeschreibung waren Parteifragebögen (ankety), die sogenannte avtobiografija, die aber nicht gleichbedeutend ist mit einem geläufigen Begriff von Autobiographie, sondern einen ausformulierten Lebenslauf darstellt, die Erinnerungen (vospominanija) an eigene Erlebnisse oder die anderer Revolutionäre, die Memoiren (memuary) aber auch der Nekrolog. Eine spezifische Form der Erinnerungsproduktion stellten die sogenannten Erinnerungsabende (vecer vospominanija) dar, die in der Regel vom Istpart oder den Traditionsgesellschaften organisiert wurden und bei denen die Teilnehmer von ihren Erlebnissen berichteten. Die Berichte wurden in der Regel schriftlich aufgezeichnet und aufbewahrt. Während die anketa schon durch den Katalog von Fragen festlegte, welche Informationen eines Lebenslaufs als relevant galten, sollten die als weniger kompetent wahrgenommenen Zeitgenossen auch in den anderen Darstellungsmodi der Lebensbeschreibung keinesfalls selbst bestimmen, nach welchen Kriterien sie ihre Erinnerungen anordneten. Genrebildend wurden die von führenden Bolschewisten wie z.B. Ol'minskij und Jaroslavskij geschriebenen Texte, aber auch konkrete Anleitungen bzw. eine „Methodik" zum Verfassen von Erinnerungen.162 Weniger schreibkundigen Genossen standen die Mitarbeiter des Istpart bei der Ausformulierung von Lebensbeschreibungen zur Seite und kontrollierten hierdurch die Repräsentationsmuster. Dem heutigen Leser dieser Lebensbeschreibungen fällt zunächst auf, dass sich die überwiegend für den internen Gebrauch angefertigten Parteifragebögen und sogenannten Autobiographien bezüglich der vermittelten Informationen 161 Zu dieser spezifischen Form der Selbstthematisierung von Kommunisten siehe: Halfin: Student Communist Autobiography; ders.\ Looking into the Oppositionists' Souls: Inquisition Communist Style, in: Russian Review 60 (2001), S. 316-339; Studer, Bngitte/Unfried, Berthold: Der stalinistische Parteikader. Identitätsstiftende Praktiken und Diskurse in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Köln 2001; Studer, Brigitte/Unfried, Berthold/Herrmann, Irène (Hrsg.): Parler de soi sous Staline: La construction identitaire dans le communisme des années trente, Paris 2002; Fitzpatrick; Sheila: Lives under Fire. Autobiographical Narratives and their Challenges in Stalins Russia, in: De Russie et d'ailleurs. Feux croisés sur l'histoire, hrsg. ν. Martine Godet, Paris 1995, S. 225-232. 162 Siehe z.B. die von Ol'minskij verfasste Anleitung: O memuarach, in: Iz epochi „Zvezdy" i „Pravdy", Moskau 1921, S. 4; Ot istparta, in: Proletarskaja revoljucija, 1921, no. 2, S. 8.

2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften

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über den revolutionären Lebenslauf einer Person nicht wesentlich von den Erinnerungen oder Memoiren unterscheiden, die in der Regel publiziert wurden und explizit, wie in den Statuten der Traditionsgesellschaften vermerkt, der Erziehung der Parteimitglieder dienen sollten. In den Parteifragebögen wurden u.a. Angaben zur sozialen Herkunft, zur Erwerbstätigkeit, zur Mitgliedschaft in politischen Parteien, zu den Stationen der Parteiarbeit und Auslandsaufenthalten im Dienste der Partei, zur Tätigkeit im revolutionären Untergrund und im Bürgerkrieg sowie zu den erlittenen Repressionen vor 1917, d.h. zu den verbüßten Gefängnisstrafen, Zwangsarbeit, Verbannung und Emigration verlangt. Die Anordnung der Erinnerung nach diesen Kriterien war schon vor der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 ein gängiger Darstellungsmodus in den legalen und illegalen Publikationen des revolutionären Untergrunds und wurde zu Beginn der 1920er Jahre zu einem verbindlichen Repräsentationsmuster, in dem Jaroslavskij und seine Genossen ihre Lebensbeschreibungen und die der anderen verfassten. Die Prosaformen, d.h. die Autobiographie, die Erinnerungen bzw. Memoiren, die Biographie und der Nekrolog, boten jedoch größere Möglichkeiten der sinnhaften Verknüpfung und der Emotionalisierung dieser einzelnen Informationen. b. Lebensberichte Die Lebensläufe der alten Revolutionäre sind genretypisch als Martyrium und Prozess der Selbstvervollkommnung gestaltet: Der Revolutionär vervollkommnet sich selbst unter den widrigsten Bedingungen durch die Lektüre illegaler Literatur und überwindet selbstlos und nur seiner Idee verpflichtet unter übermenschlicher Anstrengung und Willenskraft alle Hindernisse und physische Qual. Auch Jaroslavskijs Selbstdarstellung folgt diesem Muster: Sein Leidensweg beginnt mit der entbehrungsreichen Kindheit und der frühen Verpflichtung, für den Unterhalt der Familie sorgen zu müssen. Durch eiserne Disziplin im Selbststudium kompensiert er die fehlenden Bildungsmöglichkeiten. Mit der Gründung von marxistischen Arbeiterzirkeln zeigt Jaroslavskij schon früh seine organisatorischen Fähigkeiten und seine natürlichen Führungsqualitäten, die er dann bei der Organisation von Streiks und Mai-Demonstrationen im bolschewistischen Untergrund unter Beweis stellt.163 In seinen autobiographischen Texten wird immer wieder seine Fähigkeit hervorgehoben, die Repressionen durch die zarische Geheimpolizei auszuhalten und durch Hungerstreiks und Ausbrüche aus den Gefangnissen zu überwinden.164 Das in den Texten, insbesondere in den Nekrologen aber auch in den vospominanija, produzierte Leidenscharisma des Revolutionärs und das ent•M Siehe: Kap. II.l.a. 164 Jaroslavskij, Em.: Avtobiograficeskoe svedenie (undatiert, ca. 1925). F.89, op.l, d.10, 1.5-10.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

sprechende Selbstverständnis der Mitglieder dieser Gruppe spiegelte sich z.B. auch in der Ausstattung der Klubräume der „Gesellschaft der ehemaligen politischen Gefangenen und Verbannten des Zarenregimes", die der deutsche Reporter Egon Erwin Kisch folgendermaßen beschrieb: „Im Moskauer Klub sind aufbewahrt Erinnerungsstücke an die Schlüsselburg, an die PeterPauls-Festung, an die Katorga von Nertschinsk, an den Amurschen Weg, auf dem sich die Verbannten schleppten, an das Oreler, das Tobolsker und Alexandrowkische Zentralgefángnis und an die Sträflingsinsel Sachalin, sind aufbewahrt Knuten der Schergen, ein Schaffott, der Stempel mit den Buchstaben „S.K.", der den Galeerensklaven des 19. Jahrhunderts in den Rücken eingebrannt wurde, Handketten und Fußfesseln, Armseile und Schließeisen, Kerkervorschriften, Todesurteile (.. .)."165

Der Leidensweg des Revolutionärs wird in den dominanten Erzählungen als Voraussetzung fur das Erlangen eines „richtigen" revolutionären Bewusstseins sowie als Ausweis von unbedingter Selbstdisziplin gestaltet. Die Anzahl und Zeiträume der Aufenthalte in den Gefangnissen und der Verbannung adelten den Revolutionär und galten in der Gruppe als Statussymbol. In einem Beitrag über seine Verbannung in Jakutsk für einen Sammelband, der anlässlich des zehnten Jahrestags der Februarrevolution herausgegeben wurde, betont Jaroslavskij, dass die „revolutionäre Qualifikation" der Verbannten dort besonders hoch gewesen sei, weil ein überdurchschnittlich großer Teil der Genossen Zwangsarbeit und die zarischen Gefangnisse und insbesondere - wie auch er selbst - Monate und Jahre der Einzelhaft hätten durchleiden müssen.166 In den zarischen Gefängnissen, in der Verbannung und durch Zwangsarbeit wird in diesen Erzählungen „die eiserne Kohorte" der Revolution geschmiedet. Einen weiteren Schritt auf dem Parcours zum „richtigen" Bewusstsein ging der Revolutionär durch die Aneignung von Texten, der russischen Literatur, den Naturwissenschaften und der materialistischen Philosophie, aber insbesondere von denen des Marxismus und durch die Bekanntschaft mit Arbeitern. Für die „Selbstbildung" (samoopredelenie) des jungen Ol'minskij und seine Annahme des Marxismus habe die Begegnung mit klassenbewussten Arbeitern eine besondere Bedeutung gehabt, schreibt Jaroslavskij in einem Nachruf auf jenen. Ol'minskij habe ihm berichtet, dass sich erst durch die Lektüre des „Kapitals" das gesamte Spektrum der kapitalistischen Beziehungen vor seinen Augen entfaltet habe, das er vorher nicht vermocht habe zu sehen.167 Auch für seinen eigenen Werdegang misst Jaroslavskij in der rückblickenden Betrachtung seinen ersten Begegnungen als Zwanzigjähriger mit klassenbewussten Arbeitern auf den Baustellen der transsibirischen Eisenbahn in der Bajkal-Region, der Gründung eigener Arbeiterzirkel und sei165 Kisch, Egon Erwin: Henker in Haft, Opfer befreit, in: ders:. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 3, Berlin, Weimar 1977, S. 94. 166 Jaroslavskij: Nakanune fevral'skoj revoljucii (1927), S. 145. 167 Jaroslavskij, Em.: Polveka revoljucionnoj bor'by (1933), in: ders.: O Jakutii, S. 175181, hier S. 175, 176.

2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften

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ner zeitgleichen Aneignung marxistischer Texte eine zentrale Bedeutung bei, wodurch er sich fur den Beruf des „professionellen Revolutionärs" qualifiziert und entschieden habe.168 Hierin vermittelt sich die Vorstellung, dass sich der Mensch durch Leiden, Entbehrungen, Selbstdisziplinierung und Erziehung, d.h. durch die Aneignung bestimmter Texte, formen und sich seiner historischen Aufgabe bewusst werden kann. Den letzten Schritt auf dem Weg der politischen Bewusstwerdung, die Konversion zum Bolschewismus, vollzieht Jaroslavskij in einer seiner autobiographischen Erzählungen zum für ihn frühstmöglichen Zeitpunkt, nämlich direkt im Anschluss an seine Entlassung aus achtmonatiger Haft im Vorfeld des sogenannten Blutsonntags in St. Petersburg Ende des Jahres 1904.169 Die Ereignisse des Winters 1904/05 und insbesondere der Kontakt mit den aufständischen Arbeitern werden als kathartischer Moment modelliert, in dem Jaroslavskij seine aktive Rolle in der Geschichte erkennt und in dem die Bewegung der Geschichte mit der persönlichen Entwicklung des Revolutionärs kongruent verläuft. In dieser Erzählung leitet Jaroslavskij seine Entscheidung für den Bolschewismus aus der Erfahrung der Revolution und dem Kontakt mit aufständischen Arbeitern her. Jaroslavskij konstruiert hier seine Identität und die von anderen Bolschewisten nicht nur mit Hilfe der Darstellung dessen, als was er gesehen werden wollte, sondern auch durch die Präsentation dessen, als was er nicht gesehen werden wollte. Das in seinen Texten vorliegende Erzählmuster der Bewusstseinsbildung beinhaltet auch einen Ausschließungsdiskurs: Teilten Jaroslavskij und seine marxistischen Genossen noch den gemeinsamen Leidensweg der Verbannung und der Gefängnisse mit den narodniki, also den Anhängern der populistischen Parteien, so verpassten jene den letzten Schritt zum „richtigen" Bewusstsein durch ihre Weigerung bzw. Unfähigkeit, sich den Marxismus anzueignen und der historischen Mission des Proletariats uneingeschränktes Vertrauen entgegenzubringen.170 Dies galt auch für die Menschewiki, die später dem „Bewusstseinskatalysator" russisches Proletariat und vor allem den Bauern angeblich misstrauten.171 Ein Bolschewist zeichnete sich demgegenüber durch die Fähigkeit aus, dass er die Zeichen der Geschichte richtig zu erkennen vermag. Das was ein Mensch ist, definiert sich in diesen Erzählungen weniger über konkrete individuelle Erfahrungen als über das kollektiv durchstandene „Martyrium" und darüber, wer welchem 168

Jaroslavskij, Em.: Avtobiograficeskoe svedenie (undatiert, ca. 1925). F.89, op.l, d.10, 1.5-10,1.6. 169 Jaroslavskij, Em.: Avtobiograficeskoe svedenie, napisannoe dlja Istparta Leningradskogo Gubkoma RKP(b). F.89, op.l, d.10,1.3. Erinnerungen Jaroslavskijs an die Ereignisse in St. Petersburg im Winter 1904/05 (undatiert). F.89, op.8, d.123,1.1-6. 170 Jaroslavskij: O tov. Sergee Ivanovice Martynovskom (1926); Avtobiograficeskoe svedenie Em. Jaroslavskogo, Enciklopediceskij slovar' Granat. F.89, op.l, d.10,1.5-6; Barber. Historians, S. 80-86. 171 Jaroslavskij·. Devjat' let nazad ν Jakutske (1926).

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Kreis bzw. welcher Fraktion angehörte. In dieser Erinnerungsliteratur finden sich schon im Kern die Paradigmen, die in der sich entwickelnden Parteihistoriographie im Zuge der sich verschärfenden innerparteilichen Auseinandersetzungen immer stärker zu Prototypen der „rechten" und „linken" Abweichungen ausgearbeitet werden sollten. c. Erinnerung, Narration und Identität Es wurde schon angedeutet, dass das Bedürfnis nach der Produktion von Erinnerungsliteratur und den entsprechenden Orten der Soziabilität in einem Kontext entstand, der durch Chaos, politischen Machtkampf, den Zerfall und die Neuordnung von Beziehungen gekennzeichnet war. In dieser Situation hielten es Jaroslavskij und seine Mitstreiter offensichtlich fur besonders dringlich, durch biographisches und autobiographisches Schreiben zu definieren, wer sie waren und zu wem sie gehörten, um damit ihren Herrschaftsanspruch zu markieren. Hier soll keinesfalls argumentiert werden, dass mit diesen sehr schematisch anmutenden Lebensbeschreibungen die Komplexität der „realen" individuellen Erfahrungen der historischen Akteure angemessen wiedergegeben werden. Erinnert wird nur dann - das zeigen neuere kognitionswissenschafiliche Arbeiten - , wenn aktuelle Handlungsnotwendigkeiten bestehen. Erinnerung kann demnach, selbst wenn sie mit bester Absicht hervorgebracht wird, niemals Abbildung vergangener Realität sein; sie ist immer aktuelle Sinnproduktion.172 Diese Lebensbeschreibungen haben daher vielmehr den Status von Erzählungen bzw. vom Fiktionen, d.h. die Auswahl und Anordnung dessen, was erzählt wird, wird vor dem Hintergrund aktueller Handlungsnotwendigkeiten durch die zu Verfügung stehenden narrativen Modelle, z.B. den Bildungsroman oder/und eine säkulare Eschatologie, bedingt. In diese Erzählungen ließen sich gerade die Erfahrungen von Zerfall und existentieller Gefährdung nicht integrieren. Sie stellten stattdessen biographische Kontinuität und Kohärenz her. Das bedeutet aber nicht, dass diese Fiktionen keinen Realitätsbezug haben. Auch fiir die Zeitgenossen war es, ausgenommen es bestand die Absicht einer bewussten Manipulation, kaum möglich, zwischen dem „realen" und dem „fiktionalen" Anteil in ihren Lebensbeschreibungen zu unterscheiden, weil 172 Schmidt, Siegfried J.: Gedächtnis - Erzählen - Identität, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. v. Aleida Assmann, Dietrich Harth, Frankfurt a.M. 1993, S. 378-397, hier S. 386. In den neueren kongnitionswissenschaftlichen Modellen wird Gedächtnistätigkeit nicht als Aufbewahrungs-, sondern als Konstruktionsarbeit konzeptualisiert. Walter Benjamin vertritt aus einer kulturphilosophischen Perspektive eine ähnliche Auffassung: In seiner Theorie der Erinnerung macht er deutlich, dass Vergangenheit nicht als ein fixer Punkt zu denken ist, aus dem sich die Gegenwart entwickelt und erklären lässt, sondern dass die Erfahrung von Gegenwart die Voraussetzung für eine spezifische Vergangenheitskonstruktion bildet. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsg. v. Rolf Thiedemann, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1982, S. 1057.

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sie auf die schon beschriebenen Repräsentationsmuster angewiesen waren, die ihre Erfahrungen überformten. Auch wenn kein Zweifel daran bestehen kann, dass die hier diskutierte Erinnerungsproduktion in den 1920er Jahren bewusst manipuliert wurde, so kann doch auch mit einiger Berechtigung angenommen werden, dass diese dominanten narrativen Modelle die rückblickende Identitätskonstruktion und Selbstwahrnehmung von Jaroslavskij und seinen Genossen wesentlich strukturierten. Trotz aller Manipulation wurden diese Erinnerungen von ihren Verfassern nicht als erfundene Lügenmärchen wahrgenommen, sie bildeten vielmehr in ihrer Summe ein Idealbild vom Revolutionär und Bolschewisten und somit den Ehrbegriff Jaroslavskijs und seiner Genossen; insofern hatten diese Konstruktionen auch „reale" Implikationen. Wie wichtig diese Idealbilder nicht nur für die öffentliche Repräsentation, sondern auch für die interne Kommunikation unter Altbolschewisten und für ihr Selbstverständnis waren, lässt sich an einem Brief Jaroslavskijs an Lenins Schwester Marija Ul'janova vom Februar 1929 illustrieren, in dem Jaroslavskij sich gegen deren Vorwurf rechtfertigt, er intrigiere in der PravdaRedaktion gegen Bucharin. Jaroslavskij streitet den Vorwurf der Intrige mit dem Argument ab, dass er in der vorrevolutionären Zeit acht Jahre seine Gefängniszellen mit tausenden Zwangsarbeitern kameradschaftlich geteilt und ihn selbst unter diesen Bedingungen noch niemand eines intriganten Verhaltens bezichtigt habe.173 Welche „reale" Wirkung diese Konstruktionen für Jaroslavskij und andere entfalteten, wird besonders vor dem Hintergrund der 1930er Jahre deutlich, als aus noch auszuführenden Gründen dieser Ehrbegriff brüchig wurde und die Betroffenen ihre Identität, so konstruiert und instrumenten sie auch gewesen sein mag, sehr ernst nahmen und alles daran setzten, sie zu verteidigen. d. Personenkulte Wenn wir uns mit dem Problemfeld Identität und Narration beschäftigen, ist es unerlässlich, die in den biographischen und autobiographischen Texten vermittelte Personenkonzeption zu diskutieren. Insbesondere in den vospominanija und im Nekrolog, aber auch in den avtobiografija fällt auf, dass es sich hier nicht wie in der westeuropäischen Memoiren- bzw. Autobiographietradition der Konfession um den Versuch einer individualpsychologischen Introspektion handelt, in denen die Autorinnen und Autoren ihre inneren Konflikte und Handlungsmotivationen offenlegen'74, sondern dass sich die Autoren selbst oder die, über die sie schreiben, in Beziehung zu bestimmten

173

Schreiben Jaroslavskijs an Ul'janova, 13.2.1929. F.89, op.12, d.4,1.17. Genrebildend fur die westeuropäische Autobiographietradition waren die „Bekenntnisse" von Jean Jacques Rousseau. Siehe hierzu: Kapp: Von der Autobiographie zum Tagebuch. Eine typologische Betrachtung des biographischen bzw. autobiographischen Genres bietet: Ginzburg, Lidija: O psichologiceskoj proze, Moskau 1999. 174

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Orten, Personen und revolutionären Ereignissen setzen. Personen werden durch ihre Rolle in der Geschichte und durch ihre Gruppen- oder Parteizugehörigkeit definiert. Ein wesentliches Strukturmerkmal der entsprechenden biographischen und autobiographischen Narration ist die Bildung von Parteien oder Fraktionen sowie Gegenparteien oder Gegenfraktionen. Dieser dichotomischen Dramatisierung entspricht die hagiographische Darstellung einiger Personen und die Denunziation anderer.175 In einem Nachruf auf den 1926 verstorbenen narodovolec Sergej Martynovskij, der mit dem Marxismus sympathisiert hatte, beschreibt Jaroslavskij seine persönlichen Begegnungen und Auseinandersetzungen mit den Mitgliedern der unterschiedlichen oppositionellen Gruppierungen, die sich 1898 in der Verbannung in Öita befanden. Sein „Bericht" ist angereichert mit Anekdoten, die seinen Status als „Insider" dokumentieren sollen.176 Die Personendarstellungen vermitteln ein so ganzheitliches wie essentialistisches Menschenbild und haben hagiographische Züge: Positiv konnotierte Personen erscheinen in diesen Darstellungen als Träger von Ideen, die selbstlose und kameradschaftliche Beziehungen zu ihren Genossen unterhalten, sich durch vielfaltige geistige, künstlerische und wissenschaftliche Interessen auszeichnen und über bestimmte herausragende Eigenschaften verfugen, die mit Adjektiven wie „außergewöhnlich", „flammend", „heißblütig", „schillernd" „leuchtend" oder „selbstlos" und „diszipliniert" gekennzeichnet werden. Die jeweiligen Zeitgenossen werden so mit einer besonderen Ausstrahlung ausgestattet. Die eigenen Handlungen und die anderer Personen erfahren in diesen Erzählungen selten eine psychologische Begründung. Sie werden stattdessen häufig aus einem Klassenstandpunkt oder den historischen Umständen, aber vor allem aus den persönlichen Eigenschaften der jeweiligen Personen hergeleitet. Aus dieser Form der biographischen und autobiographischen Erzählung, in der hagiographische Personendarstellung mit einer starken Polarisierung von Gruppen und Personen verbunden wird, bildeten sich unter den Bedingungen der innerparteilichen Machtkämpfe der 1920er Jahre feste Regeln heraus, wie bestimmte Personen darzustellen seien. Den Höhepunkt dieser Form der Personendarstellung bieten in den 1920er Jahren auf der einen Seite die Texte über Lenin, in denen dieser radikal idealisiert wird. Diese begründeten neben anderen symbolischen Praktiken den Leninkult. Auf der anderen Seite steht die Dämonisierung Trotzkijs. An der Produktion dieses Kults und des entsprechenden Antikults war Jaroslavskij, wie noch zu zeigen sein wird, maßgeblich beteiligt.177

175 Walker, Barbara: On Reading of Soviet Memoirs: A History of the „Contemporaries" Genre as an Institution of Russian Intelligentsia Culture from the 1790s to the 1970s, in: Russian Review 59 (2000), S. 327-352, hier S. 329-330. 176 Jaroslavskij: O tov. Sergee Ivanovice Martynovskom (1926). >77 Siehe: Kap. IV. 1.a.

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Betrachtet man den Leninkult, den Antikult um Trotzkij und den Stalinkult der 1930er Jahre, so vermittelt sich aus heutiger Perspektive der Eindruck, dass es sich hierbei um künstliche Kulte, also von der Parteiführung organisierte Instrumente der Herrschaft handelte. Benno Ennker übernimmt in seiner Studie über den Leninkult die von Ernst Cassirer getroffene Unterscheidung zwischen „echten Mythen" und „gemachten" bzw. modernen politischen Mythen. Der „echte Mythos" zeichnet sich dadurch aus, dass die Bilder, in denen er lebt, nicht als Bilder wahrgenommen, sondern für Realität gehalten werden. Ennker untersucht die Versuche der bolschewistischen Machthaber, eine sowjetische politische Kultur zu schaffen, sowie die damit verbundenen Praktiken symbolischer Politik. Er legt den Schwerpunkt seiner Arbeit auf den bewusst „gemachten" instrumentellen Charakter des Kults.178 Eine solche Sichtweise setzt mit Recht voraus, dass die fuhrenden Bolschewisten einen bedeutenden Kompetenzunterschied zwischen ihrer Gruppe als Kultproduzenten und den impliziten Kultrezipienten annahmen und daher den Leninkult für ein wirksames Herrschafts- und Mobilisierungsinstrument hielten. Wir möchten eine etwas andere Untersuchungsperspektive ergänzen und am Beispiel Jaroslavskijs fragen, wie weit die Kompetenz der Kultproduzenten tatsächlich reichte. Es geht darum, das Verhältnis zwischen der Instrumentalität und Überzeugung im Denken Jaroslavskijs und seiner Genossen bezüglich der Personenkulte auszuloten. Hierfür muss der Fokus auf die „Bedeutungsgewebe"179 gerichtet werden, in die die Zeitgenossen verstrickt waren. Barbara Walker hat darauf aufmerksam gemacht, dass Personenkulte auch vor 1917 existierten und tief in der intelligencija-Kultur verwurzelt waren. Personenkulte basierten auf der Überzeugung, dass einzelne Menschen über eine außergewöhnliche, nahezu magische Ausstrahlung verfügen und damit Einfluss auf andere Menschen ausüben können. Walker macht am Beispiel eines wichtigen Übertragungsmediums dieser Kulte, des spezifisch russischen und sehr populären biographischen Genres der „Erinnerung an Zeitgenossen", deutlich, dass die instrumentellen Aspekte des Kults nicht von den innersten Überzeugungen der Zeitgenossen getrennt werden können, da Personenkulte bei der Formierung der russischen intelligencija als soziale Gruppe und somit einer intelligencija-Identität eine zentrale Rolle spielten. Nimmt man die Begriffe Cassirers wieder auf, war in diesem Kontext der Kult sowohl „echt" als auch „gemacht". Walker versteht den Begriff intelligencija 178

Ennker, Benno: Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, Köln, Weimar, Wien 1997, S. 8, S. 20-21, S. 333-338, S. 349; Cassirer, E.: Der Mythos des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, (zuerst 1949) Frankfurt a.M. 1955, S. 66. Zu den „unechten Mythen" zählt Cassirer alle Formen des modernen politischen Mythos. Zur Technik der politischen Mythen. Ebenda, S. 360-388. Eine Untersuchung der semiotischen Struktur des Mythos bietet: Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964. 179 Der Begriff stammt von: Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1987, S. 9.

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weniger als soziale Kategorie, sondern als Bezeichnung für eine „imaginierte Gemeinschaft". Sie legt überzeugend dar, dass der Personenkult im Kontext der unterinstitutionalisierten Gesellschaft des Russischen Reichs im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert180 eins der wichtigsten Mittel war, mit dem sich Allianzen wie z.B. die typische /«te///ge«aya-Soziabilitätsform des Zirkels herstellen ließen. Darüberhinaus habe auch die individuelle Zugehörigkeit zu einem Zirkel oder der Anspruch darauf vermittels biographischen Schreibens demonstriert werden können. Durch die Praxis der Kultproduktion konnten einzelne Personen als strukturelle Zentren von Zirkeln bestätigt und damit hierarchische Beziehungen definiert werden. In diesem Sinne war die Produktion von Personenkulten in den „Erinnerungen an Zeitgenossen" auch eine Antwort auf politische und gesellschaftliche Fragmentierung. Begünstigt wurden die Personenkulte zudem durch die Ablehnung von marktwirtschaftlichen Tauschbeziehungen und von formalisierten oder verrechtlichten sozialen Interaktionsformen in weiten Kreisen der intelligencija, wodurch der Austausch von Ressourcen weitgehend abhängig von persönlichen Kontakten war und sich Identitäten nur durch die Hyperbolisierung persönlicher, emotionaler Beziehungen herstellen ließen.18' Auch die Mitglieder der radikalen intelligencija, d.h. auch die russischen Marxisten, praktizierten derartige Formen der Interaktion. Die hier aufgeführten Merkmale finden sich ebenfalls in Jaroslavskijs biographischen und autobiographischen Texten aus den 1920er Jahren wieder. Besonders in seinen Erinnerungen an die Verbannung in Jakutsk präsentiert sich Jaroslavskij immer wieder selbst als Mittelpunkt der dort Exilierten, insbesondere der Sozialdemokraten, fordert so seinen eigenen Kult und positioniert sich durch die Beschreibung seiner Beziehungen zu anderen, so zum Beispiel durch sein enges Verhältnis zu den Bolschewisten Sergo Ordjonikidze, Grigorij Petrovskij und Viktor Nogin, die in den 1920er Jahren über einen erheblichem Einfluss verfügten. Diese Verbindungen beruhen in Jaroslavskijs Erzählungen auf gemeinsamen politischen Ideen und Zielen. Die Ablehnung marktwirtschaftlicher Beziehungen wird in Jaroslavskijs Erinnerungen auch explizit thematisiert. Notleidende Genossen seien durch die von den Verbannten organisierte „Kasse der gegenseitigen Hilfe" unterstützt worden. Einige Verbannte hätten aber ihre „Würde" als Revolutionäre verwirkt, indem sie Handel trieben. So sei selbst der überzeugte Bolschewist N.E. Olejnikov 1914 nicht in die Jakutsker Gruppe der Sozialdemokraten aufgenommen worden, weil er ein Geschäft betrieb, welches er aber später der Partei übereignet habe.182 Jaroslavskij und seine Genossen sind sowohl mit dem Genre der „Erinnerung an Zeitgenossen" als auch mit den politischen und sozialen Praktiken 180 181 182

Siehe hierzu: Kimerling Wirtschafter: Structures of Societies. Walker: Intelligentsia Social Organization, S. 32-49; dies.: Soviet Memoirs. Jaroslavskij: Nakanune fevral'skoj revoljucii (1927), S. 147, 153.

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der vorrevolutionären intelligencija sozialisiert worden; auch sie sahen sich veranlasst, sich immer wieder entweder unter negativen oder positiven Vorzeichen in ihren Beziehungen zu anderen zu positionieren und dadurch ihre Gruppenzugehörigkeit zu demonstrieren. Die Darstellung von Personen war für sie auch nach 1917 Bestandteil einer umfassenden politischen Praxis. Der Druck, Stellung beziehen zu müssen, erhöhte sich nach dem Oktoberumsturz, aber insbesondere im Kontext der innerparteilichen Machtkämpfe der 1920er Jahre sowie der wachsenden Konkurrenz unter den führenden Parteimitgliedern um Statuspositionen. Diese Auseinanderstzungen wurden von den Zeitgenossen als drohende Fragmentierung der bolschewistischen Partei wahrgenommen. Jaroslavskij und seine Genossen reproduzierten und veränderten auf unterschiedlichen Ebenen insbesondere im Umfeld der Traditionsgesellschaften und später in den geschichtswissenschaftlichen Institutionen der Partei die aufgeführten zentralen Mythen und narrativen Muster der Personendarstellung sowie auch die damit verknüpften politischen Praktiken. Die Zeitschriften Katorga i ssylka und Krasnaja letopis ' sowie bedingt auch die unter Aufsicht des Istpart erscheinende Proletarskaja revoljucija setzten die Tradition von Publikationen wie Byloe (Vergangenes) fort, eine Zeitschrift, die ausdrücklich der Erinnerungsproduktion der radikalen intelligencija vorbehalten war und von 1906-1926 in St. Petersburg/Petrograd/Leningrad erschien. Es erscheint auf den ersten Blick erstaunlich, dass die Bolschewiki der Generation Jaroslavskij s sich einerseits als Verfechter einer materialistischen Geschichtstheorie präsentierten und entsprechend ihrem theoretischen Wissen Personenkulte grundsätzlich ablehnten.183 Die von ihnen praktizierte Form der Personendarstellung wurde ausschließlich mit dem didaktischen Argument begründet, dass sich über konkrete Personen und ihre Geschichten revolutionäre Inhalte besser und lebensnaher vermitteln ließen als über abstrakte Theorien. Personendarstellungen sollten sich vor allem durch ihre Vorbildhaftigkeit für die „Massen" auszeichnen. Hieran wird der didaktische Charakter deutlich, der die gesamte bolschewistische öffentliche Textproduktion durchzieht. Der später einsetzende Kult um Stalin war - wie noch zu zeigen sein wird - in seiner realen Ausprägung nicht intendiert, er wurde auch nie und wenn nur unter negativen Vorzeichen als solcher bezeichnet. Andererseits praktizierten diese Akteure aber stark personenbezogene politische, soziale und textuelle Interaktionsformen, deren Folgen sie nicht abschätzen konnten. Wir haben es hier wenn nicht mit einem Widerspruch, so aber doch mit einer Spannung zwischen theoretischem Wissen und vortheoretischen Vorstellungen und Verhaltensformen zu tun, die sich vielleicht am treffendsten mit dem

183

Zur negativen Bedeutung des Begriffs kul't licnosti siehe: Plamper, Jan: The Stalin Cult in the Visual Arts, 1929-1953, Ph.D. diss. University of California, Berkeley 2001, S. 7-10.

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bourdieuschen Habitusbegriff beschreiben lassen.184 Das vortheoretische Wissen bzw. der Habitus Jaroslavskijs und vieler seiner Genossen wurde durch die eben aufgeführten, im Milieu der radikalen intelligencija üblichen Interaktionsformen und textuellen Praktiken geprägt. Im Folgenden soll am Beispiel des Kultproduzenten Jaroslavskij gezeigt werden, dass der Kult sowie der Antikult nicht nur für die Formation von intelligencija-Zukûn und die entsprechende intelligencija-ldentität als soziale Gruppe grundlegend war, sondern, ohne dass sich die Zeitgenossen dessen mit allen Konsequenzen bewusst waren, zum maßgeblichen Strukturelement bolschewistischer Herrschaft und Identität in den 1920er und 1930er Jahren wurde. e. Macht und Emotion oder die Macht der Emotionen? Mit der bisherigen Argumentation ist versucht worden, zwei Bedeutungsaspekte des biographischen bzw. autobiographischen Diskurses miteinander zu verknüpfen. Zum einen konnte gezeigt werden, in welcher Weise Jaroslavskij und seine Genossen auf vorhandene Erzählformen angewiesen waren, um ihre aktuellen Erfahrungen wie auch ihre Erinnerungen zu ordnen und mit Bedeutung zu versehen. Zum anderen wurde aber auch angedeutet, dass die sprachlich konstruierte Identität des „alten Revolutionärs" sowohl eine Funktion in einem spezifischen sozialen Gefüge hatte als auch als Instrument des Handelns und der Machtausübung genutzt werden konnte.185 Am deutlichsten wird der zweite Bedeutungsaspekt der sprachlich konstruierten Identität des Revolutionärs in den schon aufgeführten Statuten der Traditionsgesellschaften, in denen die jüngeren Kommunisten, die erst während des Bürgerkriegs oder danach Mitglieder der Partei oder des Komsomol geworden waren, lediglich als Objekte didaktischer Einwirkung und Herrschaftsausübung konzipiert wurden. Sie sollten zwar am Beispiel der „eisernen Kohorte" lernen: Die entsprechenden Inhalte sollten insbesondere durch Lebensbeschreibungen, d.h. durch das Genre der vospominanie oder, um mit Morrissey zu sprechen, des „Bildungsromans" vermittelt werden. Den jüngeren Kommunisten wurde aber aufgrund der Unwiederbringlichkeit der von „den Alten" gemachten Erfahrungen kein Zugang zu dieser selbsternannten „revolutionären Aris184 Zum Habitusbegriff siehe: S. 27; zum Erwerb und zur Funktion vortheoretischen Wissens siehe: Berger, Peter L JLuckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1970. 185 Pierre Bourdieu setzt denjenigen linguistischen Theorien, die davon ausgehen, dass es außerhalb der Sprache nichts gibt, da die Struktur der Sprachen selbst alle Bedeutungsmöglichkeiten erzeuge, das Argument entgegen, dass die Bedeutung des Sprechens nur im Kontext der Sozialbeziehungen bestimmt werden könne. Im sprachlichen Austausch werden - so Bourdieu - symbolische Machtbeziehungen hergestellt, die die Machtverhältnisse zwischen den Sprechern aktualisieren. Sprache und damit auch sprachlich konstruierte Identitäten können so auch als symbolisches Kapital eingesetzt werden. Bourdieu: Ökonomie des sprachlichen Tauschs, S. 11-17.

2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften

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tokratie" gewährt. Die alten Bolschewisten begründeten ihren Herrschaftsanspruch durch die besondere Form des Bewusstseins, das sie durch eben diese Erfahrungen vorgaben, erworben zu haben. Die Statuten stehen hier nur stellvertretend für einen dominanten pädagogischen Diskurs, an dem auch Jaroslavskij maßgeblich beteiligt war und durch den die jüngeren Kommunisten auf einen ewigen Schülerstatus reduziert wurden. Hiermit wurde eine undurchdringliche Differenz zwischen den Generationen zementiert. Die zentralen Merkmale der Revolutionärsidentität, die die „eiserne Kohorte" von den jüngeren Kommunisten unterschieden, sollen hier noch mal kurz zusammengefasst und auf ihre Beschaffenheit überprüft werden: Die Altbolschewisten stilisierten sich als Gruppe selbstloser, ruheloser und kompromissloser Kämpfer für die Revolution und eine bessere Zukunft der Menschheit. Ihre besondere Befähigung für diesen Kampf erwarben sie durch ihr in den zarischen Gefangnissen, während der Zwangsarbeit und in der Verbannung durchgestandenes Martyrium sowie durch die Aneignung ihres Wissens über den Verlauf der Geschichte. Sie alle erscheinen als herausragende Persönlichkeiten mit einer beeindruckenden Ernsthaftigkeit, Leidensfähigkeit, moralischen Integrität und Strahlkraft (krasocnost '). Aus diesen Facetten setzte sich nicht nur der Ehrbegriff und das Selbstbild von Jaroslavskij und vielen seiner Genossen zusammen; die Organisatoren und Förderer der Erinnerungsproduktion kalkulierten auch mit der emotionalen Kraft derartiger Bilder. Zunächst glaubten die meisten älteren Revolutionäre an die emotionale Überzeugungskraft biographischer Erzählungen, weil es ihrer Erfahrung entsprach: Sie waren schließlich selbst stark durch literarische Vorbilder geprägt worden. Erinnerungen von Revolutionären und an Revolutionäre versprachen durch ihre Anschaulichkeit, eine starke emotionale und moralische Wirkung zu erzielen und somit der Erziehung der Parteimitglieder und deren Identifikation mit der bolschewistischen Partei besonders dienlich zu sein.186 Jaroslavskij hatte in seinen Briefen an Kirsanova immer wieder seine Fähigkeit gerühmt, eine lebensnahe, allen Bevölkerungsschichten leicht zugängliche und emotional ansprechende Sprache zu sprechen sowie eingängige Texte zu schreiben.187 Er sollte später diese besondere Fähigkeit damit begründen, dass er die gesamte Parteigeschichte und die revolutionären Ereignisse im Gegensatz zu den jüngeren, an Universitäten ausgebildeten Professoren persönlich miterlebt habe und die Geschichte daher authentischer erzählen und mit mehr Pathos versehen könne.188 Dass die führenden Propagandisten und Ideologen Emotionen bei der Durchsetzung ihrer didaktischen und politischen Anliegen eine außerordentli186 Siehe hierzu: Heller. Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Institutionen, S. 61-65. 187 Siehe: Kap. Il.e. 188 So z.B. in einen Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 22.1.1936. F.558, op.ll, d.842, 1.13-20.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

che Macht und Eindringlichkeit zuschrieben, soll nicht bedeuten, dass sie dieses Mittel in zynischer Absicht einsetzten. Im Gegenteil, denn das selbstproduzierte Pathos wirkte wieder auf seine Produzenten zurück. Die Erhabenheit des Gefühls ist den autobiographischen und biographischen Texten nicht immanent; sie stellt sich auch für die Produzenten der Texte erst durch eine entsprechende Reaktion bzw. imaginierte Reaktion der Leser oder eines Publikums ein. So äußerte sich Jaroslavskij in einem Brief an Kirsanova im Mai 1922 gerührt darüber, dass die Bergbauarbeiter in Chol'cygino ihrem Schacht seinen Namen gegeben haben und schloss daraus, dass er und seine Biographie ihnen bekannt und vertraut waren. Er beschloss daraufhin, den Arbeitern Samen zu schicken, damit diese ihre Nutzgärten bestellen können.189 Durch den Akt gegenseitiger emotionaler Bestätigung zwischen den arbeitenden „Massen" und ihren „Führern" vollzieht sich für Jaroslavskij bolschewistische Herrschaft. Mit diesem von Jaroslavskij konstruierten Mechanismus der gegenseitigen Bestätigung, die er als unvermittelte Kommunikation seiner Person mit den arbeitenden Massen modelliert, definiert er aber nicht nur die Legitimität seines politischen Auftretens, sondern auch die Legitimität seines Anspruchs auf einen Platz in der Führungsriege der bolschewistischen Partei. Diese durch ein möglicherweise imaginäres Publikum bestätigte Überzeugtheit Jaroslavskij s von der eigenen Rolle, der eigenen Ausstrahlung und den eigenen Fähigkeiten geht auch in Form einer bewussten Selbststilisierung als flammender, den „Massen" naher Propagandist wieder in seine autobiographischen Texte ein190 und erhält auf diese Weise einen instrumenteilen Charakter; denn Jaroslavskij nutzte seine autobiographischen Texte als eine Form von Kapital, um seine Verdienste für die Partei und die Revolution sowie die damit verbundenen Ansprüche auf Statuspositionen zum Gegenstand von öffentlicher Darstellung und Kommunikation zu machen. Diesen Ansprüchen auf einen Posten im Zentralapparat der Partei als führender Propagandist verlieh er im Mai 1922 in einem Parteifragebogen für die Kaderabteilung des ZK vehement Ausdruck: „Ich finde, dass die Partei mich bis zum heutigen Tag nicht in gebotenem Maße für die Arbeit einsetzt, für die ich am meisten geeignet bin: die Organisation und Leitung von Agitation und Propaganda im allergrößten Maßstab, für die Erarbeitung einer ganzen Reihe notwendiger populärer Lehrwerke für die Parteischulen."191

Die breite Publikation der biographischen und autobiographischen Texte hatte jedoch auch die Funktion, die unmittelbare Kommunikation mit den „Mas189

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Novo-Nikolaevsk, 25.5.1922, S. 3. Familienarchiv. Siehe hierzu insbesondere Jaroslavskijs Erinnerungen an seine Tätigkeit in Jaroslavl, wo er im Herbst 1905 an der Organisation eines Streiks beteiligt war. Jaroslavskij: Iz Tuly na Volgu (1922). 191 Anketa ucetno-raspredelitel'nogo otdela CK RKP(b) na Em. Jaroslavskogo, 3.5.1922. F.89, op.l, d.7,1.4. 190

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sen", die für Jaroslavskij und andere Bolschewisten ein revolutionäres Ideal und emotionales Bedürfnis war, aber unter den Bedingungen der Herrschaftsimplementierung nicht mehr realisiert werden konnte, durch eine mittelbare zu ersetzen. Diese Art der personenbezogenen Herrschaftsvermittlung ermöglichte es den selbsternannten Revolutionären offensichtlich, zumindest die Illusion einer unmittelbaren Kommunikation aufrechtzuerhalten. In den Ausführungen zu den 1930er Jahren wird am Beispiel Jaroslavskijs zu zeigen sein, in welchem Maße die in der Memoirenliteratur der 1920er Jahre produzierten Emotionen bzw. das hier konstruierte revolutionäre Gefühl über ihre Produzenten eine derartige Macht erlangten, dass sie davon buchstäblich abhängig wurden und sich gezwungen sahen, dieses Gefühl sowohl in öffentlichen Auftritten als auch in persönlichen Aufzeichnungen immer wieder von Neuem durchzuspielen. Gerade die Merkmale der Revolutionärsbiographie, durch die sich eine emotionale Wirkung erzielen ließ, der Leidensweg, der revolutionäre Kampf und die außergewöhnliche Ausstrahlung und Persönlichkeit der Revolutionäre, sind auch diejenigen, die in den 1930er Jahren von Jaroslavskij beharrlich abgerufen werden. Auch sei hier schon vorweggenommen, dass er seine politische Marginalisierung in den 1930er Jahren überwiegend im Paradigma des Generationenkonflikts verstand und rationalisierte. f . Identitätskonstruktionen

unter

Beschuss

Es wurde in den vorhergehenden Abschnitten gezeigt, welche Bedeutung die Organisatoren der Erinnerungsproduktion den Biographien von Revolutionären bei der Herrschaftskonsolidierung beimaßen. Denn trotz der Anwendung repressiver Maßnahmen und offener Gewalt verstanden sie die Sicherung ihrer Herrschaft vor allem als pädagogische Aufgabe. Hierbei ging es zunächst um die Legitimierung der Herrschaftsansprüche einer sich durch ihre Erfahrungen und Generationszugehörigkeit definierenden Gruppe gegenüber der Bevölkerung und vor allem gegenüber den einfachen Parteimitgliedern. Neben dem pädagogischen Aspekt und dem eben diskutierten Akklamationsbedürfhis vieler Revolutionäre erhalten die biographischen und autobiographischen Texte vor dem Hintergrund der schweren Krankheit Lenins, des damit zusammenhängenden Machtkampfs in der bolschewistischen Partei sowie des Bemühens einzelner Bolschewisten um konkrete Statuspositionen noch eine andere Bedeutung. Es wurde schon angedeutet, dass Jaroslavskij sein Bestreben, sich als einer der führenden Propagandisten und Ideologen der Partei zu positionieren, implizit auch in seinen autobiographischen Schriften verdeutlichte, indem er versuchte, seine diesbezüglichen Fähigkeiten besonders herauszustellen. Sprachlich konstruierte Identitäten wurden hiermit als Mittel im Konkurrenzkampf um bestimmte Statuspositionen in der Parteiführung eingesetzt.

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II. Identität und Identitätskonstruktion

Diese Praxis wurde durch den Umstand begünstigt, dass in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre die politische Position von einzelnen Personen häufig nicht demokratisch legitimiert wurde; sie unterlag auch keinen rechtlich festgelegten Regelungen. Zwar war in den Parteistatuten festgelegt, dass die einzelnen Organe der Partei bis hin zum ZK durch Delegierte aus der jeweils nächstunteren Hierarchieebene zu wählen seien. Jedoch wurde diese Form der demokratischen Legitimierung und insbesondere die Wählbarkeit der lokalen Parteifunktionäre durch die Parteimitglieder schon in der Zeit des Bürgerkriegs sukzessive durch die im Sekretariat und im Orgbüro zentralisierte Delegierung von Parteikadern auf bestimmte Posten unterlaufen. Dieses Verfahren beeinflusste auch die Besetzung anderer Parteiposten, da die lokalen Parteiorganisationen auf der Gouvernement-Ebene die Delegierten wählten, die auf den Parteitagen über die Zusammensetzung der nominell höchststehenden politischen Gremien des Zentralapparats, das ZK und die ZKK, entschieden. Die Mitglieder von ZK und ZKK stimmten wiederum auf den in regelmäßigen Abständen stattfindenden Plena über die Zusammensetzung der operativen Organe, Politbüro, Orgbüro, Sekretariat, und im Falle der ZKK des Präsidiums und des Parteikollegiums ab. Aber auch dieses Wahlverfahren unterlag einer wesentlichen Einschränkung, da für die Wahl der operativen Organe in der Regel Kandidatenlisten vorbereitet wurden, die nur noch bestätigt werden konnten. Zudem behielt das Sekretariat des ZK sich vor, ungeeignete oder nichtkonforme Parteiarbeiter abzusetzen. In den 1920er Jahren konnte Stalin seinen Posten als Generalsekretär nutzen und diese Kaderpolitik steuern, d.h. wesentliche Posten mit Anhängern seiner Fraktion besetzen.192 Vor dem Hintergrund dieser nicht-demokratischen Verfahren der Kaderpolitik und unter den Bedingungen der parteiinternen Machtkämpfe nahm der Zwang, sich zu positionieren, und damit die Bedeutung von Lebensläufen und Fraktionszugehörigkeiten zu. Die in den biographischen und autobiographischen Texten konstruierten revolutionären Identitäten wurden zu einem symbolischen Kapital, das in die Verhandlungen über Positionen und Fraktionszugehörigkeiten eingebracht werden konnte. Nach Lenins Tod, der eine Welle der Erinnerungsproduktion auslöste, versuchten die Beteiligten an den parteiinternen Machtkämpfen, ihr gutes Verhältnis zu dem verstorbenen Parteiführer hervorzuheben, um sich damit als dessen „Schüler" und „Mitstreiter", d.h. als orthodoxe Marxisten-Leninisten darzustellen, und so ihren Herrschafits- und Statusanspruch zu legitimieren.193 Die hier praktizierte Form der 192 Siehe hierzu: Hough/Fainsod: How the Soviet Union is Governed, S. 128-133; Avtorkhanov, Abdurakhman: The Communist Party Apparatus, Chicago 1966; Bazanov: Vospominanija, S. 127-129; Gill, Graeme: Stalinism and Institutionalization: The Nature of Stalin's Regional Support, in: Essays in Revolutionary Culture and Stalinism. Selected Papers from the Third World Congress for Soviet and East European Studies, hrsg. v. John W. Strong, Columbus/Ohio 1990, S. 112-138. 193 Ennker. Anfänge des Leninkults, S. 300-305.

2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften

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Personendarstellung wurde in der Folgezeit zu einem grundlegenden Bestandteil der politischen Praxis. Die auf diese Weise konstruierten Biographien konnten aber auch unter Beschuss geraten, wenn Momente aus dem Lebenslauf einer Person aufgedeckt wurden, die sich nicht in diese makellose Biographie fugten. Diese Erfahrung musste auch Jaroslavskij machen. Jaroslavskij hatte zwei schwarze Flecken in seiner revolutionären Vergangenheit: 1918 und 1919 war er Mitglied der von Bucharin angeführten Linken und Militärischen Oppositionen gewesen, die sich gegen die von Lenin geforderte Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litovsk und gegen den Einsatz zarischer Offiziere in der Roten Armee gewendet hatten."4 Außerdem hatte er während seiner Verbannung in Jakutsk gemeinsam mit dem Bolschewisten Grigorij Petrovskij die dortige sozialdemokratische Organisation geleitet, die sich, wie viele andere sozialdemokratische Organisationen zu dieser Zeit, nicht in eine bolschewistische und eine menschewistische Fraktion gespalten hatte. Hinzu kam, dass diese vereinigte sozialdemokratische Organisation im Anschluss an die Februarrevolution mit den Sozialrevolutionären ein gemeinsames Komitee der öffentlichen Sicherheit, eine Art Krisenregierung, gebildet hatte. Als Vorsitzender des Komitees war Petrovskij gewählt und in dieser Funktion als Bevollmächtigter der Provisorischen Regierung für das Jakutsker Gebiet bestätigt worden.195 Was im Jahr 1917 den jeweiligen Akteuren noch als irrelevant oder zumindest notwendig erschienen sein mag, erhielt vor dem Hintergrund der parteiinternen Macht- und Statuskämpfe in den 1920er Jahren und insbesondere in Folge des Schauprozesses gegen die Sozialrevolutionäre im Jahr 1922 eine andere Bedeutung. Die Bolschewiki hatten diesen Prozess genutzt, um sich von ihren ehemaligen Verbündeten zu distanzieren, indem sie diese als Konterrevolutionäre brandmarkten.196 Jaroslavskij geriet offensichtlich unter Zugzwang, als Aleksandr Sljapnikov, einer der führenden Köpfe der Arbeiteropposition von 1921, in seinem einflussreichen Buch „Das Jahr 1917" Petrovskij als Agenten der Provisorischen Regierung darstellte und ihn weitreichender politischer Fehler, insbesondere der Koalition mit den Sozialrevolutionären, bezichtigte.197 Da Jaroslavskij gemeinsam mit Petrovskij der sozialdemokratischen Organisation in Jakutsk vorgestanden hatte, galt dieser Angriff implizit auch ihm. Jaroslavskij reagierte auf die Vorwürfe Sljapnikovs 194

Siehe hierzu: Egosin: Voenno-politiceskaja dejatel'nost', S. 113-114. Jaroslavskij, Em.: Fevral'skaja revoljucija ν Jakutii (1934), in: ders.: O Jakutii, S. 184— 197, hier S. 195-197. 196 In dem hochmedialisierten Spektakel wurden die zwölf angeklagten Sozialrevolutionäre zum Tode verurteilt, unter dem Druck der internationalen sozialistischen Bewegung wurden die Todesurteile in lebenslängliche Freiheitsstrafen umgewandelt. Die detaillierteste Darstellung des Prozesses gegen die Sozialrevolutionäre bietet: Jansen, Marc: A Show Trial under Lenin: The Trial of the Socialist Revolutionaries, Moscow 1922, The Hague 1982. 197 Sljapnikov, Aleksandr: Semnadcatyj god, t. 2, Moskau 1925. 195

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II. Identität und Identitätskonstruktion

mit einem ausführlichen Artikel „Was vor neun Jahren in Jakutsk passierte", in dem er seine und Petrovskijs „kompromisslerische" Haltung rechtfertigte.198 Dies tat er, indem er die Konflikte zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki in der gemeinsamen Organisation profilierte und in diesem Zusammenhang den Namen Vladimir Vilenskij-Sibirjakovs explizit erwähnte. Vilenskij-Sibiijakov war ein führendes Mitglied des seit 1925 von Jaroslavskij geleiteten „Verbands der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" und bekleidete von 1923 bis 1927 die Position des verantwortlichen Redakteurs der Verbandszeitschrift Katorga i ssylka. Zudem stand er dem verbandseigenen Verlag vor.199 Vilenskij-Sibirjakov war besonders angreifbar, weil er mit den Positionen Trotzkijs sympathisierte. Jaroslavskij stellte in seinem Artikel die Behauptung auf, die Menschewiki hätten unter der Führung Vilenskij-Sibiijakovs nach der Abreise Jaroslavskijs und Petrovskijs aus Jakutsk im Mai 1917 die sozialdemokratische Organisation kompromittiert, indem sie Petrovskij den Bevollmächtigtenstatus der provisorischen Regierung entzogen hätten. Jaroslavskij forderte mit seinem Artikel, der zu Beginn des Jahres 1926 in drei Folgen in der Zeitschrift Proletarskaja revoljucija erschienen war, eine wütende Reaktion Vilenskij-Sibiijakovs heraus, in der er Jaroslavskij und Petrovskij für die „kompromisslerische" Haltung gegenüber den Sozialrevolutionären verantwortlich machte und beide beschuldigte, sie hätten bei der Abreise aus Jakutsk im Frühjahr 1917 dem Sozialrevolutionär V.N. Solov'ev das Amt des Bevollmächtigten der provisorischen Regierung überlassen. Jaroslavskij versuche zwar im Nachhinein, sich als Hüter der bolschewistischen Linie zu stilisieren, habe sich aber zu diesem Zeitpunkt „in diesen politischen Fragen", wie viele andere auch, noch nicht zurechtgefunden.200 Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, den Wahrheitsgehalt von Jaroslavskijs und Vilenskij-Sibiijakovs Darstellungen der Jakutsker Verhältnisse im Frühjahr 1917 zu beurteilen. Am Beispiel dieser Auseinandersetzung lässt sich illustrieren, welche Bedeutung eine einwandfreie revolutionäre Biographie für die bolschewistischen Akteure hatte und auf welche Weise Identitätskonstruktionen diskreditiert werden konnten. Jaroslavskij hatte Mitte der 1920er Jahre genug Macht, um einerseits Vilenskij-Sibiijakov ungestraft öffentlich bloßstellen und andererseits die Veröffentlichung von dessen Artikel verhindern zu können. Er agierte als Repräsentant der Mehrheitsfraktion des ZK und konnte durch seine hervorgehobene Stellung in den Redaktionskollegien der Zeitschriften, u.a. in der Proletarskaja revoljucija, und in den zentralen Kontrollorganen der Partei bestimmen, welche Texte veröffentlicht wurden und welche nicht. Vilenskij-Sibiijakovs Manuskript war zum Druck 198

Jaroslavskij·. Devjat' let nazad ν Jakutske (1926), S. 142. Alatorceva/Udal'cova: Zumal „Katorga i ssylka", S. 100-103. 200 Vilenskij-Sibirjakov, V.D.: Meli Emelja - tvoja nedelja, Mai 1926. GARF, f. 533, op.4, d. 15,1. 1-6. Den Hinweis auf das Manuskript verdanke ich Marc Junge. 199

2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften

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in der Proletarskaja revoljucija vorgesehen, die die Veröffentlichung jedoch „aus Gründen, die nicht von der Redaktion zu verantworten sind" ablehnte. Am unteren Textrand des Manuskripts befindet sich der handschriftliche Vermerk, der sehr wahrscheinlich Jaroslavskij zuzuordnen ist: „Ehrenlose Lüge. Man muss Menschewist sein, um so unverschämt zu lügen wie Vilenskij."201 Im Mai 1927 setzte sich der Konflikt zwischen Jaroslavskij und seinem Kontrahenten fort. Am Ende der Auseinandersetzung stand die Absetzung Vilenskij-Sibiijakovs vom Posten des verantwortlichen Redakteurs der Katorga i ssylka Ende Oktober 1927 und sein Ausschluss aus der Partei, den Jaroslavskij wenn nicht initiiert, so aber zumindest gefordert hatte.202 An die Stelle Vilenskij-Sibiijakovs wurde Feliks Kon203 als neuer leitender Redakteur eingesetzt. Der Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Jaroslavskij und Vilenskij-Sibirjakov dokumentiert eine gängige politische Praxis, mit der sich die Mitglieder der Mehrheitsftaktion im ZK ihrer politischen und persönlichen Gegner entledigten. Die Entlassung Vilenskij-Sibirjakovs wurde auf Geheiß Jaroslavskijs als demokratisches Ausschlussverfahren getarnt. Jaroslavskij hatte in einem Schreiben vom 16. Oktober 1927 den Sekretär der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes", L'vov, aufgefordert, eine dringende außerordentliche Sitzung der kommunistischen Fraktion des Präsidiums der Gesellschaft einzuberufen, um dort die Entfernung Vilenskij-Sibiijakovs vom Posten des verantwortlichen Redakteurs der Katorga i ssylka und von dem des Vorsitzenden des Verlags zu diskutieren.204 Jaroslavskijs Aufforderung zur Einberufung der Sitzung und zur Diskussion ist ein Euphemismus. Tatsächlich handelte es sich um eine konkrete Anweisung zur Entlassung Vilenskij-Sibirjakovs, der sich die kommunistische Fraktion, die sich bis dahin passiv verhalten hatte, nicht widersetzen konnte. Jaroslavskijs Handeln scheint hier durch eine Verflechtung persönlicher Motive mit Fraktionsinteressen, die er auf Grund seiner Position in der ZKK und als Vorsitzender der Gesellschaft vertrat, bedingt worden zu sein. Vilenskij-Sibiijakov hatte, nachdem die Veröffentlichung seines Artikels in der Proletarskaja revoljucija gescheitert war, im Mai 1927 gegen Jaroslavskij gerichtete Texte an mehrere Parteiorganisationen verschickt. In diesen Texten hatte er Jaroslavskij bezichtigt, sich von einem „zoologischen Hass" auf Trotzkij leiten zu lassen, dessen Porträt Jaroslavskij versucht habe, aus einem „Album der Teilnehmer an der Revolution" entfernen zu lassen. Diesen VorMi Ebenda, 1.1,1.6. 202 In Jaroslavskijs Notizen über die „konterrevolutionären Machenschaften der Opposition" findet sich der Vermerk: Maljutin, L. Sosnovskij, Vilenskij-Sibitjakov ausschließen! F.89, op.l 1, d.49,1.1. Siehe auch Jaroslavskijs scharfe Äußerungen gegen Vilenskij-Sibiijakov auf dem ZK-Plenum im Sommer 1927. F.89, op.ll, d.47,1.6. 203 Feliks Jakovlevic Kon (1864-1941) wurde in Warschau geboren und engagierte sich als Student der Warschauer Universität in der revolutionären Bewegung. Er wurde als Zwanzigjähriger zu elf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, von denen er die Jahre 1891-1895 im Jakutsker Gebiet verbrachte. 204 F.89, op.12, d.7,1.51, 51ob.

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fall erwähnt Jaroslavskij allerdings nur in einem mit den Vermerken „persönlich" und „geheim" versehenen Schreiben an die Moskauer Kontrollkommission vom 25. Mai.205 In seinem schon erwähnten Schreiben an L'vov vom 16. Oktober geht er auf diese persönlichen Motive jedoch nicht ein und legitimiert seine Anweisung stattdessen damit, dass Vilenskij-Sibirjakov Trotzkist sei, die oppositionelle Erklärung der 84 unterschrieben206 sowie auf Kosten des Verlags der Gesellschaft eine die Linie des ZK kompromittierende Broschüre über die sowjetische Politik in China veröffentlicht und damit die Parteidisziplin verletzt habe207. Auf die Auseinandersetzung vom Vorjahr rekurriert Jaroslavskij nur insofern, als dass er die kommunistische Fraktion des Präsidiums der Gesellschaft auf Makel in Vilenskij-Sibirjakovs Biographie aufmerksam macht; dieser sei ehemaliger Menschewist und in der Jakutsker Verbannung als den Bolschewisten feindlich gesonnener Sozialdemokrat aufgetreten.208 Am Beispiel der Auseinandersetzung Jaroslavskijs mit Vilenskij-Sibirjakov lassen sich Brüche bzw. Umkodierungen in der biographischen Praxis aufzeigen: Obgleich bis 1917 Parteigrenzen für viele oppositionell eingestellte Zeitgenossen, darunter auch für Jaroslavskij, noch keine große Rolle gespielt haben, erlangten diese Parteigrenzen aber in den Revolutionärsbiographien der 1920er Jahre eine immer größere Bedeutung. Zwar hatte Jaroslavskij schon 1905 an der Konferenz der bolschewistischen Fraktion der RSDRP in Tammerfors teilgenommen, jedoch konnte er noch 1919 in der Pravda schreiben, dass die in Jakutsk Verbannten, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, 205

Nicht fertiggestelltes Schreiben an die kommunistische Fraktion des Präsidiums der „Gesellschaft der ehemaligen Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" vom 25.5.1927. F.89, op.12, d.7,1.55. Schreiben Jaroslavskijs an die MKK vom 25.5.1927. F.89, op.12, d.7,1.56. 206 In den Jahren 1926 und 1927 sah sich die Sowjetunion mit einer Reihe außenpolitischer Krisen konfrontiert, die die bisherige pragmatische außenpolitische Linie einer friedlichen Koexistenz mit den bürgerlichen Staaten gefährdete. Im Mai 1927 legten Trotzkij, Zinov'ev und mehr als achtzig ihrer Anhänger eine ausführliche Stellungnahme vor, in der sie wesentliche Aspekte der sowjetischen Außen- und Innenpolitik kritisierten. Mit dieser „Erklärung der 84" wollten die Unterzeichner die Einberufung einer Plenarsitzung erzwingen, auf der insbesondere die ihrer Auffassung nach verfehlte China-Politik der Mehrheitsfraktion diskutiert werden sollte. Medvedev: Let History Judge, S. 169-170. 207 Von 1925 bis 1927 favorisierten die sowjetische Parteiführung und die Komintern eine „Einheitsfront" von chinesischen Nationalisten und Kommunisten. Selbst als der Führer der nationalistischen Kuomintang Partei, Tschiang Kaischek, im März 1926 mehrere Kommunisten verhaften ließ, um seine eigene Macht auszubauen, und die Kuomintang im April 1927 einen Arbeiteraufstand brutal niederschlug und dabei über 30.000 Menschen tötete sowie Repressionen gegen Kommunisten einleitete, hielt die Mehrheit des Politbüros an der bisherigen Politik fest. Zur sowjetischen China-Politik in den 1920er Jahren siehe: Wilbur, MartinILien-ying How, Julie: Missionaries of Revolution. Soviet Advisers and Nationalist China, 1920-1927, Cambridge 1989. 208 Schreiben Jaroslavskijs an die „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes", Kopie an Stalin, Molotov, an die Presseabteilung des ZK, Gusev, vom 1.6.1927. F.89, op.12, d.7,1.52-53.

2. Bolschewistische Identitätspolitik: die Traditionsgesellschaften

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eine große Familie gewesen seien und lediglich auf unterschiedliche Weise von der gleichen Sache geträumt hätten.209 1927 bemühte er sich hingegen, die Konflikte zwischen Bolschewisten, Menschewisten und Sozialrevolutionären in der Jakutsker Verbanntenkolonie besonders herauszustellen, um damit den Anhänger Trotzkijs Vilenskij-Sibirjakov zu diffamieren und sich selbst als unfehlbaren „Schüler" Lenins zu stilisieren. Der Prozess gegen die Sozialrevolutionäre in den Jahren 1921/22 und schließlich der Tod Lenins im Januar 1924 waren in diesem Zusammenhang wichtige Etappen: Personendarstellungen wurden damit zu einem Instrument im politischen Machtkampf, mit dem man sich entweder ehemaliger Verbündeter entledigen oder die eigene Fraktionszugehörigkeit demonstrieren konnte. 1927 konnte Jaroslavskij die Veröffentlichung von missliebigen Details aus seiner Vergangenheit noch verhindern; in den 1930er Jahren sollten andere über genug Macht verfügen, um die schwarzen Flecken in seinem Lebenslauf zum Gegenstand öffentlicher Kommunikation zu machen. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Bolschewiki zur Absicherung ihrer Herrschaft auf althergebrachte Muster, den kruzok und den Personenkult, zurückgriffen, die jedoch institutionalisiert und formalisiert wurden. Die Revolutionärsbiographie als Ausdruck dieser spezifischen Form der Personendarstellung hatte im Wesentlichen drei Funktionen: Sie diente zunächst als Identifikationsmuster für die Gruppe deijenigen Revolutionäre, die auf eine längere Kampfzeit vor 1917 zurückblicken konnten. Desweiteren versprach man sich von der Veröffentlichung vorbildlicher und emotional ansprechender Lebensgeschichten eine hohe Integrationskraft gegenüber der Bevölkerung. Es wurde gezeigt, dass sich für Jaroslavskij bolschewistische Herrschaft dadurch realisierte, dass die Bevölkerung die Parteiführer kannte. Schließlich diente das Genre der Revolutionärsbiographie den einzelnen hochrangigen Bolschewisten aber auch als Distinktionsmerkmal, mit dem sie unter dem anwachsenden Konkurrenzdruck Anspruch auf Statuspositionen erheben konnten.

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Jaroslavskij, Em.: 1 maja ν Jakutske, Pravda, 1.5.1919, S. 2.

III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion 1. Jaroslavskijs politische Karriere von 1917 bis 1929 Eine zentrale Frage dieser Arbeit, die am Beispiel Jaroslavskijs gestellt wird, ist, wie idealistische Kommunisten zu Apologeten und Trägern des stalinschen Terrorregimes wurden. Es geht darum, an einem konkreten Fall zu zeigen, wie die Herrschaftsform, die in der Sowjetunion der 1930er Jahre entstand, funktionierte und auf die Herrschaftsträger zurückwirkte. Als Voraussetzung für die weitere Analyse ist es notwendig, Jaroslavskijs Rolle in den innerparteilichen Auseinandersetzungen und den Fraktionsbildungen sowie die einzelnen Stationen seines Aufstiegs in der Stalin-Fraktion darzustellen. Jaroslavskijs Weg zu Stalin war keinesfalls vorgezeichnet. Er gehörte vielmehr bis etwa 1921 zu den Bolschewisten, die sich nicht gerade als gewiefte politische Strategen, Pragmatiker oder als Befürworter von autoritären Befehlsstrukturen und gewaltsamen Maßnahmen, sondern durch ihren so inbrünstigen wie utopischen Optimismus und die Ablehnung von Hierarchien auszeichneten. Jaroslavskij glaubte, beflügelt durch den Popularitätszuwachs der Bolschewiki im ersten Jahr der Revolution und durch die Wirkung des eigenen Auftretens auf Versammlungen, dass das Programm der Weltrevolution nur durch die Spontaneität der „Massen", allerdings angeführt durch die revolutionäre Partei, verwirklicht werden könne. Er war während der turbulenten „Massenpolitik" des Jahres 1917 und der ersten Hälfte des Jahres 1918 in seinem Element, zeichnete sich durch leidenschaftliche Reden auf Versammlungen und durch die Fähigkeit aus, leicht verständliche und emotional sehr eingängige Artikel und Pamphlete zu verfassen. Jaroslavskijs revolutionärer Enthusiasmus war allerdings gepaart mit einer weniger strategisch-machtpolitischen als vielmehr einer situativen Vorsicht, die auch, zumindest gemessen an den Vorstellungen der Bolschewiki, als mangelnde Standhaftigkeit und Entschiedenheit in Krisensituationen bezeichnet werden könnte. Diese Kombination aus einem ausgeprägten Populismus einerseits und mangelnder Entschiedenheit andererseits sollte sich auch später als charakteristisch für sein politisches Verhalten erweisen. Als Beispiel für Jaroslavskijs wenig risikobereites und nachgiebiges Verhalten in akuten Krisensituationen mag sein Auftreten während der revolutionären Ereignisse in Moskau im Oktober und November 1917 dienen: Jaroslavskij, der schon von 1905 bis zu seiner Verhaftung 1907 einer der führenden Köpfe einer aus Bolschewisten und linken Sozialrevolutionären zusammengesetzten Kampforganisation gewesen war und von der zarischen Geheimpolizei als besonders gefahrlich eingestuft wurde, gehörte auf dem 6. Parteitag im August 1917 zu den Befürwortern des bewaffneten Aufstands. Er wurde am 25. Oktober 1917 in das neugegründete siebenköpfige „Mos-

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

kauer bolschewistische Militärische Zentrum" gewählt und in das „Moskauer Militärisch-revolutionäre Komitee" kooptiert, in dem sowohl Bolschewisten als auch Menschewisten vertreten waren. Diese militärisch-revolutionären Organisationen hatten die Aufgabe, den Aufstand in Moskau zu organisieren und zu koordinieren. Jaroslavskij wurde zum Kommissar des Kreml ernannt und in dieser Funktion mit der Verteidigung des Kreml und der Ausfuhr von Waffen aus der im Kreml befindlichen Asservatenkammer beauftragt. Er war damit fur die Bewaffnung der Aufständischen verantwortlich. Jaroslavskij hatte aber wie einige andere Bolschewisten darauf gesetzt, die Verteidiger der Provisorischen Regierung auf dem Verhandlungswege zur Kapitulation zu zwingen, um eine bewaffnete Auseinandersetzung und damit Blutvergießen zu vermeiden. Laut der Einschätzung eines russischen Militärhistorikers hatte er gerade durch dieses zögerliche Verhalten, d.h. durch seine Verhandlungsbereitschaft bei der Verteidigung des Kreml gegen die Einheiten der Provisorischen Regierung, in erheblichem Maße dazu beigetragen, dass unnötige Opfer erbracht worden seien und die revolutionären Kräfte einen empfindlichen Rückschlag erlitten hätten.1 Er hatte als begeisterter Befürworter des bewaffneten Aufstands offensichtlich in einer akuten Krisensituation nicht über genügend militärische Kompetenz und Standhaftigkeit verfügt. Jaroslavskij war zwischen 1917 und 1919 sowohl Mitglied des Moskauer städtischen Parteikomitees, das durch moderatere Bolschewisten wie Aleksej Rykov und Viktor Nogin dominiert wurde, als auch des Moskauer Regionalbüros, in dem eine Gruppe junger, radikalerer Bolschewisten, angeführt von Nikolaj Bucharin, den Ton angab. Er arbeitete in den Redaktionen der bolschewistischen Presseorgane Pravda und Social-Demokrat eng mit Bucharin und dem radikalen jungen Bolschewisten Nikolaj Osinskij zusammen, die die bolschewistische Presse in Moskau kontrollierten.2 In seinen politischen Urteilen und seinem revolutionären Eifer neigte Jaroslavskij den letzteren zu. Seit 1917 engagierte er sich als vehementer Verfechter einer Arbeiterdemokratie, indem er sich auf mehreren Versammlungen, unter anderem auf dem 6. Parteitag im Sommer 1917, gegen die Rücknahme der Losung „alle Macht den Räten" einsetzte.3 Lenin hatte im Anschluss an die Juli-Krise, als die Provisorische Regierung Jagd auf die führenden Köpfe der Bolschewiki machte und die Räte drohten, von Sozialrevolutionären und Menschewiki dominiert zu werden, aus taktischen Gründen eine Rücknahme der Losung gefordert. Eine Koalition aus sozialistischen Parteien lehnte er ab, denn der Sozialrevolutionär Kerenskij, der kurz zuvor zum Ministerpräsidenten ernannt 1

Egosin: Voenno-politiceskaja dejatel'nost', S. 92-104. Cohen'. Bukharin and the Bolshevik Revolution, S. 45-51. Im Sommer 1918 schrieb Jaroslavskij an Kirsanova: „Ich gehöre faktisch zur Redaktion der Pravda, die aus Osinskij, Bucharin und mir besteht." Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Moskau (ungenaue Datierung, wahrscheinlich: 31.8.1918). Familienarchiv. 3 Sestoj s-ezd RSDRP (b). Avgust 1917 goda. Protokoly, Moskau 1958, S. 136; Jaroslavskij, E.M.: Nakanune Oktjabija. O VI s-ezde RSDRP (b), Moskau 1932, S. 43. 2

1. Jaroslavskijs politische Karriere von 1917 bis 1929

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Emel 'j an Jaroslavskij 1917

worden war, habe eine „Militärdiktatur" errichtet und die Sowjets zum Handlanger der Konterrevolution gemacht.4 Lenins Forderung wurde gegen den Widerstand einiger Delegierter, so auch Jaroslavskijs, durch den Parteitag angenommen.5 In diesem Zusammenhang hatten Jaroslavskij und einige Moskauer Delegierte auch vehement gegen Stalins Bericht über die politische Lage und insbesondere gegen die darin formulierte leninsche Forderung der Rücknahme der Losung „alle Macht den Räten" protestiert. Jaroslavskijs Positionierung gegen Lenin und Stalin ist an sich ohne größere Bedeutung und bildete in dieser Phase, in der die Bolschewisten noch fern davon waren, eine monolithische Partei zu sein, auch keine Ausnahme. Der Vorfall erhält nur dadurch eine gewisse Brisanz, als dass er 1932 gegen Jaroslavskij verwendet werden sollte.6 Im Januar 1918 gehörte Jaroslavskij zu der von Bucharin und Sokol'nikov angeführten bolschewistischen Delegation in der Verfassunggebenden Versammlung und damit zu den Befürwortern ihrer Auflösung.7 Ebenfalls im 4

Service·. Lenin. Eine Biographie, S. 379, 392-394. Service, Robert: Lenin. A Political Life, Bd. 2, London 1995, S. 201-209. 6 S-ezd boevoj podgotovki k oktjabrju, Pravda, 8.8.1932, S 1; siehe Kap. IV. 8. 7 Als am 5. Januar 1918 die noch unter der Provisorischen Regierung geplante Verfassunggebende Versammlung zusammentrat, verlangte die bolschewistische Delegation die Anerkennung der Räteregierung. Als ihr Antrag von der nichtbolschewistischen Mehrheit abgelehnt wurde, verließen die Bolschewisten die Versammlung. Die Verfassunggebende Versammlung wurde am Tag darauf durch ein Dekret Lenins unter Gewaltandrohung aufgelöst. Service: Lenin. A Political Life, Bd. 2, S. 303-309. Bei den Wahlen zur Verfassungge5

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

Januar schloss er sich der von Bucharin angeführten Gruppe Linker Kommunisten an. Diese Gruppe opponierte gegen Lenins Friedensverhandlungen mit Deutschland und forderte stattdessen die Fortführung eines „revolutionären Kriegs", mit dem sie hoffte, das westeuropäische Proletariat gegen die „bürgerliche Konterrevolution" mobilisieren zu können. Jaroslavskij war davon überzeugt, wie er auf einer gemeinsamen Sitzung des Moskauer Parteikomitees mit dem Regionalen Büro am 11. Januar kundtat, dass das Gelingen der sozialistischen Revolution in Russland von einem Sieg der Revolution in Westeuropa abhinge. Er hielt, motiviert durch Visionen eines revolutionären Heroismus, die Friedensverhandlungen mit Deutschland für Verrat an der internationalen Revolution und verweigerte die Teilnahme am 7. Parteitag im März 1918, auf dem der Friedensvertrag ratifiziert werden sollte.8 Jaroslavskij sollte später zwar seine oppositionelle Haltung gegen Lenin verurteilen, rühmte sich aber noch 1934, dass er nicht lediglich Soldaten habe an die Front schicken wollen, sondern selbst bereit gewesen sei, eine Einheit der Roten Armee zu bilden, um gemeinsam mit dieser in den „revolutionären Krieg" zu ziehen.9 Jaroslavskijs Begeisterung für den „revolutionären Krieg" vermittelt sich in einem Brief vom 18. März an Kirsanova, die ebenfalls als Linke Kommunistin in einer weiteren, von Evgenij Preobrazenskij geleiteten Hochburg der Linken Kommunisten im Ural-Gebiet aktiv war: „Liebe Klavdicka! (...) Ich verspüre eine große Sehnsucht nach dem Ural. Aber es widerstrebt mir, gerade jetzt das Schlachtfeld zu verlassen. Ich bin der Meinung, dass die Parteilinie im Moment sehr schief verläuft, dass man sie begradigen muss und dass das Leben auf unserer Seite steht. Bei der allgemeinen Feigheit (nein, entschuldige, das habe ich zu harsch gesagt), bei aller Zurückhaltung in den Zentren des Kampfs, bei all meinem Verlangen, die Verantwortung abzulegen, halte ich es doch für notwendig, hier zu bleiben. Bei der Perspektive, dass der Kampf an der Front wieder entflammen könnte, fahre ich hier nicht weg, sondern ziehe an die Front. Aber wenn diese tödliche, defätistische Stimmung hier noch länger anhält, muss ich ebenfalls hier bleiben, um dagegen zu kämpfen." 10

Trotz seiner Konfrontation mit der Parteiführung wurde Jaroslavskij im März 1918 zum Kommissar für Militärische Angelegenheiten im Moskauer Gebiet ernannt und hatte in dieser Position die Aufgabe, einen militärischen Verwaltungsapparat aufzubauen und die Mobilisierung für die Rote Armee für den beginnenden Bürgerkrieg zu organisieren. Jaroslavskij trat weiterhin als einer der Wortführer der Linken Kommunisten a u f ' und befürwortete benden Versammlung hatten die Bolschewiki nur 25 Prozent der Stimmen erhalten. Die anderen sozialistischen Parteien bekamen gemeinsam 62 Prozent, die bürgerlichen Parteien 13 Prozent der Stimmen. Hildenneier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staats, München 1998, S. 131. 8 Egosin: Voenno-politiceskaja dejatel'nost', S. 113-114. Zu den parteiinternen Diskussionen über die Friedensverhandlungen mit Deutschland und den Friedensvertrag von BrestLitovsk siehe: Daniels: Gewissen der Revolution, S. 94-105. 9 Aufzeichnungen vom 13. u. 20.12.1934. Familienarchiv. 10 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova vom 18.3.1918. Familienarchiv. 11 Jaroslavskij, Em.: Nam s nimi ne po doroge, Pravda, 3.7.1918.

1. Jaroslavskijs politische Karriere von 1917 bis 1929

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ebenfalls ihre längerfristigen Forderungen nach Arbeiterkontrolle in der Industrie gegen die von Lenin favorisierte Stärkung der betriebsleiterlichen Autorität.12 Nur wenig später, im Frühjahr 1919, schloss er sich erneut einer gegen Lenin opponierenden Gruppierung an; er agierte neben Vladimir Smirnov und Evgenij Preobrazenskij als einer der Wortführer der sogenannten Militärischen Opposition und geriet in diesem Zusammenhang zum ersten Mal in Konflikt mit Trotzkij. Die Militärische Opposition setzte sich überwiegend aus den Mitgliedern der Linken Opposition zusammen. Die von den Linken Kommunisten aufgeworfene Kritik an hierarchisch organisierter Befehlsgewalt in der Industrie wurde hier auf die Organisation der Roten Armee übertragen. Nachdem Trotzkij nach der Beilegung der Brest-Litovsker Krise 1918 zum Volkskommissar für Militärwesen ernannt worden war, hatte er, auf die ihm eigene undiplomatische Art, die Abschaffung der gerade neueingeführten demokratischen Organisationsformen in der Roten Armee durchgesetzt, die z.B. in der Wahl von Offizieren durch ihre Regimenter ihren Ausdruck gefunden hatten. Stattdessen hatte er die Wiedereinführung einer straffen Befehlshierarchie, den Einsatz ehemaliger zarischer Offiziere und die Disziplinierung von Partisanenverbänden verfügt. Die Meinungsverschiedenheiten kulminierten auf dem 8. Parteitag im Frühjahr 1919. Jaroslavskij und seine Mitstreiter bekundeten ihre Sympathie mit den ungeordneten Partisanenverbänden und empörten sich über den Einsatz zarischer Offiziere, die Privilegierung von Offizieren, die Wiedereinführung traditioneller militärischer Organisationsformen und die schlechte Behandlung bis hin zu Erschießungen von Parteifunktionären bei Ungehorsam.13 Diese Fragen wurden im Rahmen einer speziellen militärischen Sektion des Parteitags debattiert. Deren Sitzungen fanden am 20. und 21. März statt und wurden allem Anschein nach von Jaroslavskij als Vorsitzendem geleitet.14 Die Militärische Opposition konnte zwar mit 95 gegen 174 Stimmen nicht die Mehrheit der Delegierten für sich gewinnen, aber doch einen erheblichen Zuspruch erringen. Durch den Einsatz einer Schlichtungskommission, der auch Jaroslavskij angehörte, konnte schließlich ein Kompromiss erzielt werden.15 Zwar trug der Konflikt Stalins und Vorosilovs mit Trotzkij, die sogenannte Carizyner Affäre, nicht unwesentlich zu den trotzkij feindlichen Stimmungen auf dem 8. Parteitag bei. Die Carizyner Gruppe hatte sich im Sommer 1918 12

Zu den Diskussionen über die Industrieverwaltung siehe: Daniels: Gewissen der Revolution, S. 105-113. 13 VIII s-ezd RKP(b). Stenogramma zasedanij voennoj sekcii s-ezda 20-21 marta 1919 i zakrytogo zasedanija s-ezda 21 marta 1919 goda, in: Izvestija CK KPSS, 1989, H. 10, S. 141-142. 14 Izvestija CK KPSS, 1989, H. 9, S. 135; Zajavlenie Em. Jaroslavskogo ν Prezidium VIII s-ezda RKP (b) ot voennoj sekcii, in: Izvestija CK KPSS, 1989, H. 10, S. 182. 15 Egosin: Voenno-politiceskaja dejatel'nost', S. 128-129; Daniels: Gewissen der Revolution, S. 133-135.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

auf die Seite örtlicher Militärs gestellt, die sich dem Einsatz und der Befehlsgewalt zarischer Offiziere in der Roten Armee verweigert und sich so dem militärischen Oberkommando Trotzkijs widersetzt hatten.16 Jedoch gibt es keine Anzeichen dafiir, dass Jaroslavskij schon in diesem Zusammenhang mit Stalin sympathisierte oder gar mit diesem eine Koalition einging. Die Auseinandersetzungen zwischen Jaroslavskij und Trotzkij entwickelten sich unabhängig davon. In einer Versammlung im Anschluss an den 8. Parteitag waren Jaroslavskij und Trotzkij unmittelbar aneinandergeraten. Etwas später hatte sich Jaroslavskij als Redakteur der Zeitschrift des Volkskommissariats für Militärwesen Izvestija Narodnogo komissariata po voennym delam einer Weisung Trotzkijs widersetzt und ist daraufhin sehr wahrscheinlich von diesem von seiner Redakteurstätigkeit entbunden worden.17 Jaroslavskijs spätere ausgeprägte Abneigung gegen Trotzkij scheint aber auch hierdurch noch nicht begründet worden zu sein. Die Auseinandersetzungen wurden zwar heftig gefuhrt, lagen aber im Rahmen der unter den Bolschewiki üblichen Streitkultur. Es ist anzunehmen, dass erst die spätere Erinnerung an diese Unstimmigkeiten in militärischen Fragen neben anderen Faktoren längerfristig Jaroslavskijs Entscheidung, sich der Stalin-Fraktion anzuschließen, erleichterte. Trotz seiner Zugehörigkeit zur Militärischen Opposition wurde Jaroslavskij vom 8. und 9. Parteitag, die jeweils im Frühjahr 1919 und 1920 stattfanden, als Kandidat des ZK gewählt. Im Verlauf des innerparteilichen Streits über die Rolle der Gewerkschaften im Winter 1920/21 gab Jaroslavskij seine linken Positionen auf und wechselte auf die Seite der pragmatischeren Bolschewisten um Lenin. Dieser Gruppe gehörte auch Stalin an. Lenin und seine Anhänger forderten eine stärkere Zentralisierung der Befehlsstrukturen in Partei, Staat und Industrie sowie insbesondere eine schärfere Kontrolle über die lokalen Parteiorgansationen. Demgegenüber stand die von Aleksandra Kollontaj und Aleksandr Sljapnikov angeführte Arbeiteropposition, die vehement ihre arbeiterdemokratischen Grundsätze vertrat.18 Neben der Arbeiteropposition und den Anhängern Lenins bildeten Trotzkij und einige andere Bolschewisten im Frühjahr 1921 auf dem 10. Parteitag eine weitere Plattform. Trotzkij hatte zu Beginn der Diskussionen einen ultrazentralistischen Standpunkt vertreten und sich für eine militärische Organisation der Arbeit ausgesprochen, war aber dann auf eine Position umgeschwenkt, die zwischen der der Lenin-Gruppe und der der Arbeiteropposition lag.19 16

Siehe hierzu: Benvenuti, Francesco: The Bolsheviks and the Red Army, Cambridge 1988, S. 42-52. Jaroslavskij rekapitulierte im Dezember 1924 in persönlichen Aufzeichnungen sein Verhältnis zu Trotzkij, in denen er die aufgeführten Vorfalle schildert. Κ voprosu o roli L.D. Trockogo, 24./27.12.1924. F.89, op.12, d.7,1.33-35. 18 Siehe hierzu: Allen, Barbara: Alexander Shliapnikov and the Origins of the Workers' Opposition, March 1919 - April 1920, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 53 (2005), S. 1-24; Holmes, Larry: For the Revolution Redeemed. The Workers' Opposition in the Bolshevik Party, 1919-1921, Pittsburgh 1990. 19 Zur Gewerkschaftskontroverse siehe: Daniels: Gewissen der Revolution, S. 148-186. 17

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Die Gründe für Jaroslavskijs Metamorphose von einem leidenschaftlichen Befürworter der Arbeiterdemokratie zu einem Anhänger zentralisierter Herrschaftsausübung waren seine angesprochene Wankelmütigkeit in akuten Krisensituationen und vermutlich seine Erfahrungen gesellschaftlicher Marginalisierung. Die drohende Parteispaltung zum Zeitpunkt einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise, die zu Beginn des Jahres 1921 unkontrollierbar schien und durch die viele Bolschewiki ihre gerade errungene Herrschaftsposition bedroht sahen, trug sehr wahrscheinlich dazu bei, dass Jaroslavskij seine arbeiterdemokratischen Prinzipien und seinen utopischen Idealismus zurückstellte und begann, in Lenin den einzigen Garanten des politischen Überlebens und des Fortbestands einer einheitlichen bolschewistischen Partei zu sehen. Er hatte zwar auch Trotzkij und dessen Anhänger während der Gewerkschaftsdiskussion kritisiert, jedoch geht aus seiner Korrespondenz mit Kirsanova über den Verlauf des 10. Parteitags deutlich hervor, dass er vor allem die Arbeiteropposition dafür verantwortlich machte, die Spaltung der Partei zu betreiben. Trotzkij und seine Anhänger werden hingegen nicht erwähnt.20 Jaroslavskij, der im Gegensatz zu vielen Repräsentanten der Arbeiteropposition wie z.B. dem ehemaligen Metallarbeiter Sljapnikov nicht aus einem Arbeitermilieu stammte und nie in der Industrieproduktion gearbeitet hatte, sich selbst als Parteiintellektuellen verstand und auch als solcher wahrgenommen wurde, hegte insbesondere Vorbehalte gegen den weitverbreiteten Antiintellektualismus bei den Anhängern der Arbeiteropposition.21 Diesen warf er vor, die Spaltung der Partei zwischen den Mitgliedern der Intelligenz und den Arbeitern zu betreiben. Interessant ist im Hinblick darauf, was schon über 20

In einem Brief vom 20.3.1921 an Kirsanova, S. 3, kommentierte Jaroslavskij den Verlauf des 10. Parteitags: „Meiner Meinung nach hat der Parteitag die riesige Gefahr der Spaltung abgewendet. In Omsk hat man diese Gefahr wahrscheinlich nicht so gespürt, aber hier fühlte man sie sehr deutlich. Es hat die gesamte Kunst, die gesamte Autorität Il'ics erfordert, um eine Spaltung abzuwenden. (...) Es ist eine ganze Reihe wichtiger Fragen entschieden worden, freundschaftlich, ohne lange Diskussionen, in zwei Abstimmungen. Die kämpfende 'Arbeiteropposition' verhält sich bisher 'sehr gut', obwohl sie in einigen Gegenden noch ein wenig Separiererei betreibt; aber ihre wichtigsten Vertreter haben, zumindest bisher, ihre Arbeit aufgegeben, die die Partei buchstäblich zerrissen hat." Familienarchiv. 21 Die Auseinandersetzungen Lenins und seiner Anhänger mit der Arbeiteropposition sind auf unterschiedliche Art gedeutet worden. Daniels und Schapiro vertreten die Auffassung, dass sich die Kritik der Arbeiteropposition und ihrer Splittergruppen gegen die exzessiven Zentralisierungsbestrebungen der Lenin-Fraktion richtete. Schapiro, Leonard: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Frankfurt a.M. 1961, S. 233-251; Daniels: Gewissen der Revolution, S. 148-186. Fitzpatrick hat hingegen aus sozialgeschichtlicher Perspektive das Argument vorgebracht, die innerparteilichen Diskussionen während der Bürgerkriegszeit seien Ausdruck von Konflikten zwischen der „bolschewistischen Intelligenz" und den „bolschewistischen Proletariern", also eines innerparteilichen Klassenkonflikts. Fitzpatrick: The Bolsheviks' Dilemma, S. 599-613. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch: Allen·. Shliapnikov (2005); dies.: Early Dissent within the Party: Alexander Sliapnikov and the Letter of the Twenty-Two, in: The NEP Era: Soviet Russia 1921-1928 1 (2007), S. 21-54.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

Jaroslavskijs Haltung zu seiner jüdischen Herkunft gesagt wurde, dass er bei seinem Auftritt auf dem Parteitag Pogrom-Bilder benutzte, um die antiintellektuellen Stimmungen in der Arbeiteropposition zu beschreiben, die er mit dem Antisemitismus „rückständiger" Arbeiter und Bauern verglich.22 Jaroslavskij schwenkte noch in einem weiteren Punkt auf die von Lenin und seinen Anhängern propagierte Linie ein, indem er die strategischen Konzessionen, die die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik mit sich brachten, mittrug, während seine Frau sich weiterhin hartnäckig gegen den neuen Kurs sträubte. Jaroslavskijs loyale Haltung zu Lenin in der Gewerkschaftsdiskussion wurde dadurch belohnt, dass er auf dem 10. Parteitag 1921 nicht nur als Vollmitglied des ZK gewählt, sondern auf dem ersten ZK-Plenum nach dem Parteitag gemeinsam mit Molotov und Michajlov als ZK-Sekretär eingesetzt wurde. Die bisherigen ZK-Sekretäre Krestinskij, Preobrazenskij und Serebrjakov hatten alle drei die Plattform Trotzkijs unterstützt und wurden abgesetzt. Um sich die Mehrheit im ZK zu sichern, hatten Lenin und seine Anhänger in der Gewerkschaftskontroverse während einer informellen Zusammenkunft zu Beginn des Parteitags eine Kandidatenliste aufgestellt, die ihnen eine Zweidrittelmehrheit sichern sollte, und die von den lokalen Parteiorganisationen gewählten Delegierten dahingehend bearbeitet, dass diese die aufgestellten Kandidaten auch wählten.23 Die drei neuen ZK-Sekretäre erhielten gleichzeitig einen Sitz im damals achtköpfigen Orgbüro, in dem auch Stalin, Rykov und Tomskij Mitglieder waren. Jeder der drei ZK-Sekretäre war für einen konkreten Bereich zuständig.24 Jaroslavskij übernahm die Leitung der Abteilung für Agitation und Propaganda, die die Aufgabe hatte, die propagandistische Arbeit in den regionalen Parteiorganisationen zu koordinieren. Er konnte diesen Posten, wie an anderer Stelle gezeigt wurde, jedoch aufgrund seiner populistischen Neigungen weder effektiv gestalten, noch zum Ausbau seiner eigenen Position nutzen. Er wurde stattdessen aufgrund mangelnder Eignung schon im Sommer 1921 seines Postens enthoben und als Sekretär des Sibirischen Regionalbüros des ZK nach Novo-Nikolaevsk abkommandiert. Nach Jaroslavskijs Entlassung übernahm Stalin zunächst die Verant-

22

Desjatyj s-ezd RKP(b). Mart 1921. Stenograficeskij otcet, Moskau 1963, S. 105, S. 263. McNeal, Robert (Hrsg.): Resolutions and Decisions of the Communist Party of the Soviet Union, Bd. 2: The Early Soviet Period: 1917-1929, Toronto 1974, S. 116-119; Tucker: Stalin as Revolutionary, S. 296-299; siehe auch die Erinnerungen Mikojans an dieses informelle Treffen: Mikojan, Anastas: Mysli i vospominanija o Lenine, Moskau 1970, S. 135-145. 24 Die drei grundlegenden Abteilungen des ZK, für die jeweils ein Sekretär zuständig war, waren die Abteilung für die Koordination des Parteipersonals (Ucraspred), die Abteilung fur Organisation und Instruktion, die die Verbindung zu den lokalen Parteiorganisationen aufrechterhalten sollte, und die Abteilung für Agitation und Propaganda. 23

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wortung für die ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda, bevor er schließlich im April 1922 zum Generalsekretär ernannt wurde.25 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jaroslavskijs Umorientierung gleichzeitig mit einer allgemeinen Umorientierung in der bolschewistischen Partei in einem Moment der Krise stattfand. In den ersten Jahren nach 1917 war die Partei noch keine monolithische, straff geführte Organisation. Ihre Mitgliederzahl stieg von etwa 24.000 am Vorabend der Februarrevolution bis 1921 um über 700.000 rasant an.26 Viele dieser neuen Mitglieder waren von zweifelhafter Prinzipientreue, kannten die Ziele der Partei kaum, erhofften sich lediglich Vorteile, waren häufig inkompetent und ihren Aufgaben nicht gewachsen. Die einzelnen Mitglieder hatten zudem durchaus unterschiedliche Vorstellungen darüber, was der Bolschewismus sein sollte. Zum einen war die Sowjetmacht in den einzelnen Regionen noch keinesfalls gesichert und die Kontrollmöglichkeiten des ZK über die regionalen Parteiorganisationen noch sehr limitiert.27 Das Sekretariat war noch nicht einmal in der Lage, die Mitglieder zu registrieren, geschweige denn sie gemessen an ihrer Qualifikation in den einzelnen Regionen sinnvoll einzusetzen. Die Machtkämpfe auf allen Ebenen der Parteihierarchie zwischen einzelnen ambitionierten Gruppen waren eine der gößten Bedrohungen für die bolschewistische Herrschaft und eines der größten Probleme bei ihrer Konsolidierung.28 Zum anderen beruhte auch die Autorität der Parteiführung in den Zentren vor allem auf ihrer Fähigkeit zu überzeugen und nicht auf einer zentral und hierarchisch organisierten Führung. Agitation und Propaganda waren die Grundlage für den Führungsanspruch der Partei und einzelner Bolschewisten; viele derjenigen, die wie Jaroslavskij in diesen ersten Jahren der Revolution zu Parteiführern geworden waren, zeichneten sich dadurch aus, dass sie begabte Agitatoren und Propagandisten waren und sich fähig zeigten, insbesondere auf den Massenversammlungen Meinungsbildungsprozesse zu beeinflussen. Die Überzeugungskraft der Revolutionäre ließ jedoch in der Zeit des Bürgerkriegs drastisch nach, als soziales und wirtschaftliches Chaos, Hunger und Elend das Leben der Bevölkerung bestimmten und die Bolschewiki im Interesse ihres Machterhalts begannen, gewaltsam Getreide zu requirieren, Aufstände brutal niederzuschlagen und gegen ihre eigene Basis vorzugehen. Die Angriffe der Arbeiteropposition berührten so die zentrale Frage nach der Legitimität bolschewistischer Herrschaft. Die zunehmenden Zentralisierungs25

Service, Robert: The Bolshevik Party in Revolution, 1917-1923. A Study in Organisational Change, London 1979, S. 176-177. 26 Rigby: Communist Party Membership, S. 7-8, 52, 57-109. 27 Siehe hierzu: Rigby: Provincial Cliques; Fainsod, Merle: How Russia is Ruled, Cambridge 1953, S. 68-69; Daniels, Robert Vincent: The Secretariat and the Local Organizations in the Russian Communist Party, in: The American Slavonic and East European Review 16 (1957), S. 32^49; Gill: Stalinism and Institutionalization. 28 Siehe hierzu: Harris, James: Stalin as General Secretary: the Appointment Process and the Nature of Stalin's Power, in: Stalin. A New History, hrsg. v. Sarah Davies, James Harris, Cambridge 2005, S. 63-82.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

bestrebungen und die Verstärkung des Apparats waren symptomatisch für das abnehmende Vertrauen der Parteiführung in die revolutionäre Kompetenz der „Massen" und eine Folge von Machtkämpfen und sozialen Auseinandersetzungen in der Partei. Die Erfahrung mangelnder Kontrolle über die regionalen Parteiorganisationen und Machtcliquen hat diesen Prozess begünstigt. Jaroslavskij hielt diese Umorientierung offensichtlich für notwendig, um eine Spaltung der Partei zu vermeiden und die wirtschaftliche und soziale Krise zu bewältigen, ohne jedoch, wie am Beispiel seiner missglückten Karriere als ZK-Sekretär deutlich geworden ist, alle Implikationen einer sich konsolidierenden Herrschaft akzeptieren zu wollen oder deren Erfordernissen entsprechen zu können. Er hatte sich für die komplexen administrativen Aufgaben eines ZK-Sekretärs als vollkommen ungeeignet gezeigt. Das von Leopold Haimson so eindrücklich formulierte Dilemma zwischen Spontaneität und Bewusstsein sollte sich für Jaroslavskij Zeit seines Lebens nicht mehr auflösen und bedingte seine weitere Laufbahn als populistischer Apparatschik. In der Forschung ist Stalins Aufstieg häufig damit erklärt worden, dass er seine Stellung im Sekretariat des ZK für die Manipulation der Personalpolitik zu nutzen verstand, indem er seine loyalen Anhänger in verantwortliche Positionen brachte.29 Diese Sichtweise ist auch auf Stalins Verhältnis zu Jaroslavskij übertragen worden. Implizit wird angenommen, Jaroslavskij sei schon bei seiner Ernennung zum ZK-Sekretär Stalins Mann gewesen und habe dementsprechend auch als Sekretär des Sibirischen Regionalbüros des ZK Stalins Interessen vertreten.30 Obwohl Stalin auch schon vor seiner Nominierung zum Generalsekretär im Orgbüro, im Sekretariat und als Volkskommissar eine wichtige Rolle spielte, liefern die Quellen für ein derartiges Argument keine Anhaltspunkte. Die entsprechenden Autoren schließen vielmehr aus Jaroslavskij s späterer Haltung, dieser habe schon zu Beginn der 1920er Jahre im Sinne Stalins agiert. Im Falle Jaroslavskij s (und vermutlich auch im Falle anderer Bolschewisten, die in dieser Zeit Führungspositionen innehatten), scheint es aber eher so, dass er sich erst im Rahmen seiner insgesamt mehr als zweijährigen Tätigkeit als Vertreter des Zentralapparats in Sibirien eindeutig mit den Interessen der Sekretariatsfraktion zu identifizieren begann. Hierfür war aber nicht persönliche Loyalität zu Stalin maßgeblich, sondern vielmehr eine Interessenkoinzidenz, die aufgrund von Jaroslavskijs Aufgaben, seinen Erfahrungen und Schwierigkeiten vor Ort zustandekam.31 Jaroslavskij wurde im August 1921 nach Sibirien abkommandiert, weil er sich dort auskannte. Er war nicht nur in ¿ita aufgewachsen und in Jakutsk 29

Medvedev: Let History Judge, S. 67-65; Hough/Fainsod: How the Soviet Union is Governed, S. 143-146; Tucker: Stalin as Revolutionary, S. 219-222. Graeme Gill vertritt demgegenüber die These, dass nicht so sehr persönliche Loyalitäten für die Nominierung von regionalen Parteiführern entscheidend waren, sondern dass die Nominierung an sich ein Mittel war, um Loyalitäten herzustellen. Gill: Stalinism and Institutionalization. 30 Daniels: Local Organizations, S. 32, S. 45^46; mit Einschränkung auch: Gilt Origins, S. 72. 31 Ähnlich argumentiert auch: Harris: Stalin as General Secretary.

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verbannt, sondern gehörte auch zu den hochrangigen Bolschewisten, die im Auftrag des ZK in Sibirien die Etablierung der Sowjetmacht und des Parteiapparats betrieben hatten. Jaroslavskij war schon von 1919 bis 1920 in Perm Sekretär des Gouvernement-Parteikomitees (Gubkom) gewesen.32 Von 1920 bis 1921 hatte er als Mitglied des Sibirischen revolutionären Komitees (Sibrevkom) und als Sekretär des Sibirischen Regionalbüros des ZK in Omsk gearbeitet.33 Das Sibrevkom wurde im August 1919 als neues außerordentliches staatliches Organ eingerichtet, das die Aufgabe hatte, die Sowjetmacht in Sibirien durchzusetzen.34 Zwischen 1920 und 1921 wurde mit der Gründung von Regionalbüros des ZK eine neue Verwaltungsebene in der Partei eingerichtet, die die Verbindung zwischen dem Zentralapparat und den Gouvernement-Parteikomitees verbessern sollte. Die Mitglieder der Regionalbüros waren hochrangige Parteiarbeiter, die direkt durch das Orgbüro nominiert wurden. Die Einrichtung des Sibirischen Regionalbüros erfolgte 1920 unmittelbar nach dem Sieg über die Weißen Bürgerkriegsarmeen mit dem Ziel, unter zentraler Kontrolle den Parteiapparat in der Region aufzubauen. 35 Es wurde von Beginn an auch während seiner halbjährigen Sekretärstätigkeit in Moskau von Jaroslavskij geleitet. Die Arbeit in Sibirien gestaltete sich besonders schwierig: Sibirien war überwiegend agrarisch geprägt, ethnisch heterogen und durch starke regionalistische Interessen der bäuerlichen Bevölkerung gekennzeichnet. Diese Bevölkerung hatte kein Interesse, die bolschewistische Zentralmacht anzuerkennen, die ihr insbesondere durch die gewaltsame Beschlagnahmung der Ernteerträge und seit 1921 durch das Eintreiben der Naturalsteuer (prodnalog) entgegentrat. Die Jahre 1920 und 1921 bildeten den Höhepunkt von Aufständen, die überwiegend von russischen Bauern, aber auch von Gruppen nationaler Minderheiten (Kasachen, Tataren, Baschkiren, Kirgisen) getragen und von der Roten Armee und der Tscheka gewaltsam niedergeschlagen wurden.36 Arbeiter machten nur einen verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung aus; und auch diese hatten, so lauten interne Berichte, ein eher misstrauisches bis gleichgültiges Verhältnis zu den neuen Machthabern. Die lokalen Parteiorganisationen waren schwach ausgebildet, hatten kaum Personal, und einige von ihnen, insbesondere in Omsk und im Enisej-Gebiet, wurden von lokalen Cliquen dominiert, die ebenfalls nicht gewillt waren, den

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Hierzu: Egosin: Voenno-politiceskaja dejatel'nost', S. 152-189. Anketa ucetno-raspredelitel'nogo otdela CK RKP (b) na Em. Jaroslavskogo, svedenija o ego rabote, dannye ν Sekretariat VCIK. F.89, op.l, d.7,1.3. 34 Shishkin, Vladimir I.: Moscow and Siberia. Center-Periphery Relations, 1917-1930, in: Rediscovering Russia in Asia. Siberia and the Russian Far East, hrsg. v. Stephen Kotkin, David Wolff, New York 1995, S. 75-88, hier S. 79-83. 35 Daniels'. Local Organizations, S. 44—46. 36 Pereira, Norman: Sibir': politika i obscestvo ν grazdanskoj vojne, Moskau 1996; Siskin, Vladimir: Za sovety bez kommunistov. Rrest'janskoe vosstanie vTjumenskoj gubernii, Novosibirsk 2000. 33

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

Vorgaben des Zentrums in Moskau Folge zu leisten.37 Die enormen zu überwindenden Distanzen, der Mangel an Kommunikationsmitteln, Presse und Broschüren, und deren lückenhafte Distribution machten es den wenigen Funktionären schwer, ihre Kunde auch nur an Parteimitglieder und Arbeiter zu vermitteln. Hinzu kam, dass es sich extrem problematisch gestaltete, qualifizierte Parteiarbeiter zu finden, die bereit waren, nach Sibirien zu gehen. 38 Gleichzeitig war die Arbeit in der Region aber besonders wichtig, weil die sibirische Landwirtschaft für die Versorgung der Zentren mit Getreide zentral war. Jaroslavskij machte in Sibirien die Erfahrung, dass er trotz seiner Nominierung als Sekretär des Sibirischen Regionalbüros des ZK erhebliche Schwierigkeiten hatte, sich gegenüber den lokalen Parteiführern durchzusetzen, die hinter seinem Rücken ihre eigene Politik betrieben. Besonders spannungsreich war das Verhältnis zwischen dem Regionalbüro und dem Gouvernement-Parteikomitee in Omsk. Infolge von mehrmonatigen Konflikten und Machtkämpfen (skloki) hatte das Regionalbüro versucht, die Absetzung des örtlichen Parteivorsitzenden zu erwirken. Dieses Vorhaben wurde jedoch durch die Mitglieder des Gouvernement-Komitees sabotiert, die in Briefen an das ZK mit massenhaften Parteiaustritten drohten, sollte ihre Parteiführung abgesetzt werden. Zu diesem Zweck hatten sie basisdemokratische Maßnahmen ergriffen und unter den einfachen Parteimitgliedern Austrittserklärungen gesammelt. Die Auseinandersetzung konnte erst durch drastische Maßnahmen des ZK beendet werden, das das Regionalbüro schließlich autorisierte, die gesamte Parteiorganisation in Omsk zu „säubern" und hochrangige örtliche Parteiführer zu entlassen. 39 Obgleich Jaroslavskij weder zu Stalins kaukasischen Seilschaften noch zu der Carizyner Gruppe gehörte, hatte er mit diesem schon gelegentlich Berührungspunkte gehabt: Sie waren sich auf vorrevolutionären Parteitagen und -kongressen begegnet, hatten während Jaroslavskij s Sekretärstätigkeit in Moskau einige Monate gemeinsam im Orgbüro gesessen und in der Gewerkschaftsdiskussion ähnliche Positionen vertreten. Möglicherweise war auch durch die Vermittlung Ordzonikidzes, der sowohl Jaroslavskij als auch Stalin gut kannte, ein Kontakt zustandegekommen. Es finden sich jedoch in diesem Zeitraum keinerlei Hinweise auf ein besonderes Loyalitätsverhältnis zwi37 Izvestija Sibirskogo bjuro CK RKP(b), ijun 1922, no. 49, S. 24-26; Shishkin: Moscow and Siberia; Rigby. Provincial Cliques, S. 19. 38 Daniels: Local Organizations, S. 45. « Izvestija CK, 1922, no. 42 und no. 44; Izvestija Sibirskogo bjuro CK RKP(b), 1922, no. 49, S. 24-26; Brief Jaroslavskijs an Kirsanova vom 22.10.1922, S. 2-3. Familienarchiv; Daniels'. Local Organizations, S. 46; Rigby: Provincial Cliques, S. 19. Mit derartigen Schwierigkeiten hatten auch andere Parteifiihrer zu kämpfen. So berichtet z.B. Anastas Mikojan in seinen Memoiren, dass er, obwohl er vom ZK als Sekretär des Gebietsparteikomitees in Niznij Novgorod nominiert worden war, fünf Monate benötigt habe, um sich gegenüber den lokalen Parteiführern durchzusetzen. Mikojan, Anastas: Tak bylo. Razmyslenija o minuvsem, Moskau 1999, S. 169-178.

1. Jaroslavskijs politische Karriere von 1917 bis 1929

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sehen Jaroslavskij und Stalin. Im Gegenteil scheint Stalin Jaroslavskij im Vorfeld des 11. Parteitags eher misstraut zu haben. Mikojan berichtet in seinen Erinnerungen über eine angeblich von Lenin initiierte Kampagne im Januar 1922, mit der die Wahl von Trotzkijs Anhängern als Delegierte für den 11. Parteitag habe verhindert werden sollen. In diesem Zusammenhang sei er (Mikojan) von Stalin im Auftrag Lenins nach Sibirien geschickt worden, um ausschließlich mit Michail Lasevic, dem Vorsitzenden des Sibirischen revolutionären Komitees, keinesfalls aber mit Jaroslavskij über die Manipulation der Delegiertenwahl zu sprechen. Stalin habe ihm (Mikojan) eingeschärft, dass Jaroslavskij zwar als derzeitiger Sekretär des Sibirischen Regionalbüros des ZK arbeite und daher für die Organisation des Parteitags verantwortlich sei, dass man aber, obwohl er in der Gewerkschaftskontroverse auf Seiten Lenins gestanden habe, seine aktuelle Position nicht kenne.40 Bei Lasevic, der als Schützling Zinov'evs eine persönliche Abneigung gegen Trotzkij pflegte, war sich Stalin offenbar sicherer. Eine engere Zusammenarbeit zwischen ihnen scheint sich erst während des 11. Parteitags (27. März-2. April 1922) im Rahmen einer Kommission entwickelt zu haben. Jaroslavskij wurde neben Stalin, Dzerzinskij, Kaganovic, Zinov'ev und Kirov in eine Kommission gewählt, die insgesamt aus neunzehn Mitgliedern bestand und sich mit der vermeintlichen Fraktionstätigkeit der Arbeiteropposition auseinandersetzte. Es ist wichtig zu betonen, dass sich diese Gruppe ganz offensichtlich durch ihre Treue zu Lenin verbunden fühlte und sich auch dementsprechend stilisierte. Das daraus resultierende Gruppenbewusstsein war vermutlich ausschlaggebend für die weitere Zusammenarbeit Stalins mit Jaroslavskij.41 Es spricht einiges dafür, dass Jaroslavskij sich im Rahmen der genannten Kommission auf dem 11. Parteitag und durch seine weitere Arbeit in Sibirien für den entstehenden Zentralapparat verdient gemacht und wichtige Beziehungen gepflegt hatte: Auf der 12. Allrussischen Parteikonferenz spielte er schon eine sehr sichtbare Rolle, an der sich sein Status in der Partei ablesen lässt. Die Konferenz fand im August 1922 in Abwesenheit Lenins statt, der im Mai seinen ersten Schlaganfall erlitten hatte. Sie wurde mit einer Rede Kamenevs eröffnet; die Schlussrede hielt Jaroslavskij. Stalin hingegen, der im Mai sein Amt als Generalsekretär angetreten hatte, hielt sich vollkommen zurück. Gewöhnlich hatte Lenin die Eröffnungsrede gehalten, und nach einer Einschätzung Mikojans wäre zu erwarten gewesen, dass Stalin in Lenins Abwesenheit als Generalsekretär entweder die Eröffnungs- oder die Schlussrede gehalten hätte.42 Im Oktober 1922 konnte Jaroslavskij durch eine Beto Mikojan: Tak bylo, S. 198-200. 41

Siehe die Erinnerungen Kaganovics an die Arbeit der „Kommission der 19": Kaganovic, Lazar' Moiseevic: Pamjatnye zapiski raboeego, kommunista-bol'sevika, profsojuznogo, partijnogo i sovetsko-gosudarstvennogo rabotnika, Moskau 1996, S. 314—316; Allen: Early Dissent, S. 44-54. « Mikojan: Tak bylo, S. 212.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

schwerde an die Mitglieder des Politbüros und eventuell mit Unterstützung Stalins eine Versetzung nach Turkestan abwenden.43 Im Winter 1922 avancierte er, der im selben Jahr die schon erwähnte Kommission zur Überprüfung der sowjetischen Vertretungen in Westeuropa geleitet hatte, zu Lenins persönlichem Vertrauten in der Diskussion über den sowjetischen Außenhandel.44 Für eine ausgeprägte Abneigung Jaroslavskijs gegen Trotzkij gibt es bis 1923, als sich der Konflikt zwischen dem Kriegskommissar und dem aus Zinov'ev, Kamenev und Stalin bestehenden Triumvirat zuspitzte, keine Hinweise. Seine Reibereien mit Trotzkij waren bis dahin geringfügig, sie wurden aus der Perspektive der späteren Machtkämpfe von der Parteigeschichtsschreibung und insbesondere von Jaroslavskij selbst stark übertrieben.45 Auf dem 12. Parteitag (17.-25. April 1923) wurde Jaroslavskij schließlich in die ZKK gewählt und musste seine ZK-Mitgliedschaft daher aufgeben. Die Mitgliederzahl der ZKK war auf dem Parteitag von sieben auf fünfzig erhöht worden, um nach der Erfahrung der innerparteilichen Auseinandersetzungen sowie der mangelnden Kontrolle über die regionalen Parteiorganisationen in den ersten Jahren nach der Revolution den Zentralapparat und damit die zentrale Kontrolle sowie die Parteidisziplin zu verstärken.46 In der ZKK bekleidete Jaroslavskij sowohl den Posten des Sekretärs des Präsidiums als auch den Vorsitz des Parteikollegiums, das für die individuelle Überprüfung von Parteimitgliedern zuständig war, die gegen die politische Linie der Mehrheitsfraktion oder gegen kommunistische Verhaltensregeln verstoßen oder Amtsmissbrauch betrieben hatten. Die ZKK war 1920 auf der 9. Parteikonferenz gegründet worden. Sie war formal vom ZK unabhängig und nur dem Parteitag direkt verantwortlich und bekam die Funktion eines Parteigerichts

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Brief Jaroslavskijs an Kirsanova (ungenaue Datierung, Oktober 1922). Familienarchiv. In der Diskussion über das staatliche Außenhandelsmonopol im Herbst 1922 hatte sich Lenin kategorisch für eine Beibehaltung desselben ausgesprochen. G.Ja. Sokol'nikov, G.L. Pjatakov und N.I. Bucharin plädierten hingegen für seine Aufhebung. Zinov'ev, Kamenev und Stalin traten für eine Schwächung des Außenhandelsmonopols ein. Auf einer Sitzung des ZK-Plenums vom 6. Oktober wurde der Beschluss einer längerfristigen Lockerung des staatlichen Außenhandelsmonopols gefasst. Auf das Insistieren Lenins, der mit diesem Beschluss nicht einverstanden war, wurde am 16. Oktober eine Befragung der Mitglieder des ZK durchgeführt und der Vorschlag Lenins angenommen, die Entscheidung über das Außenhandelsmonopol auf das nächste Plenum zu verschieben. Am 14. Dezember führte Lenin mit Jaroslavskij ein längeres Gespräch über das Außenhandelsmonopol. Am 16. Dezember bekam Jaroslavskij in einem konspirativen Telefongespräch von Lenins Sekretärin L.A. Fotieva den Auftrag, den Wortlaut der Reden Bucharins und Pjatakovs aufzuschreiben und an Lenin zu übermitteln. Auf dem Plenum am 18. Dezember wurden einstimmig die Aufhebung der Resolution des vorausgegangenen Plenums und die Beibehaltung des staatlichen Außenhandelmonopols beschlossen. Lenin, V.l.: Polnoe sobranie socinenij, t. 45, mart 1922 - mart 1923, 5. Aufl., Moskau 1970, S. 473. 44

45

So z.B: im vierten Band von Jaroslavskijs Parteigeschichte, in der die Position Trotzkijs in der Gewerkschaftskontroverse scharf kritisiert wird. Jaroslavskij, Em. (Hrsg.): Istorija VKP(b), Bd. 4/1, Moskau, Leningrad 1929, S. 230. 46 Die entsprechende Entscheidung ist abgedruckt in: McNeal (Hrsg.): Resolutions and Decisions, Bd. 2, S. 198-199.

1. Jaroslavskijs politische Karriere von 1917 bis 1929

129

HCpEPEIIllWf

Emel'jan Jaroslavskij (Mitte) als Mitglied des Präsidiums der 8. Orenburger Gouvernements-Parteikonferenz, 10. März 1923

zugewiesen. Sie hatte ursprünglich die Aufgabe, bürokratischen Missbrauch und Korruption in der Partei zu untersuchen und zu ahnden, für die Einhaltung einer strikten Parteidisziplin zu sorgen sowie Beschwerden gegen einzelne Parteimitglieder und Organisationen nachzugehen. Die formale Unabhängigkeit der ZKK wurde aber sehr bald verwässert: Die ZKK und das ZK hielten insbesondere seit 1923 regelmäßig gemeinsame Plenarsitzungen ab. 1925 erhielten die Mitglieder der ZKK, die bis dahin auf den gemeinsamen Sitzungen nur eine beratende Funktion ausgeübt hatten, das volle Abstimmungsrecht. Gleichzeitig bekam das Präsidium der ZKK auch formal das schon vorher praktizierte Recht, drei seiner Mitglieder als ständige Beisitzende zu den Politbürositzungen und fünf Mitglieder zu den Orgbürositzungen zu entsenden. 47 Jaroslavskij, der auch schon vor 1924 als Vorsitzender der sogenannten antireligiösen Kommission des ZK und als Leiter anderer Untersu47

McNeal (Hrsg.): Resolutions and Decisions, Bd. 2, S. 9-15. Allgemein zur ZKK, die seit 1923 mit dem Volkskommissariat der Arbeiter und Bauerninspektion (RKI) zusammengeschlossen war, siehe: Cocks, Paul: Politics of Party Control: the Historical and Institutional Role of Party Control Organs in the CPSU, Ph.D. diss., Harvard University 1968; Rees, Ε. Α.: State Control in Soviet Russia. The Rise and the Fall of the Workers' an Peasants' Inspectorate, London, New York 1984; Getty, J. Arch: Pragmatiste and Puritans: The Rise and the Fall of the Party Control Commission, Pittsburgh 1997 (Carl Beck Papers in Russian and East European Studies, 1208).

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

chungskommissionen relativ regelmäßig bei Politbürositzungen zugegen war, fungierte von 1924 bis 1934 als ständiger Beisitzer der ZKK in den Sitzungen des Politbüros.48 Die Wahl Jaroslavskijs in die ZKK und der damit verbundene Verlust seiner Vollmitgliedschaft im ZK bedeuteten keinen Statusverlust, sondern begünstigten im Gegenteil seinen weiteren Aufstieg. Die ZKK selbst und insbesondere die gemeinsamen Plenarsitzungen entwickelten sich seit 1923 zu einem der wichtigsten Instrumente der jeweiligen Mehrheitsfraktionen im ZK und insbesondere Stalins gegen die oppositionellen Gruppen in der Partei gegen die sogenannte Trotzkistische Opposition in den Jahren 1923 und 1924, gegen die von Zinov'ev und Kamenev angeführte „Linke Opposition" im Jahr 1925, gegen die „Vereinigte Opposition" von Zinov'ev, Kamenev und Trotzkij 1926 und 1927 sowie gegen die durch Bucharin, Rykov und Tomskij repräsentierte „Rechte Abweichung" in den Jahren 1928 und 1929. Die ZKK führte unter Aufsicht Stalins und der jeweiligen Mehrheitsfraktion des ZK die Untersuchungen und die Verhöre durch, konstruierte die Anklagen und trat als Anklägerin auf; sie kontrollierte im Sinne des Sekretariats die lokalen Parteiorganisationen, war maßgeblich an der Planung und Durchführung der regelmäßigen „Parteisäuberungen" (cistki) sowie den „Überprüfungen" (proverki) der Parteimitglieder beteiligt und arbeitete eng mit den Organen der OGPU, der Geheimpolizei, zusammen. Diese Zusammenarbeit wurde u.a. durch personelle Überschneidungen gewährleistet; so waren z.B. die führenden OGPU-Mitarbeiter Jakov Peters, Martyn Lacis und Vasilij Mancev ebenfalls Mitglieder der ZKK.49 Jaroslavskijs Bedeutung in der ZKK und in den innerparteilichen Fraktionskämpfen lässt sich nicht nur an seinen formalen Statuspositionen im Präsidium und Parteikollegium und seinem ständigen Beisitz im Politbüro ablesen. Er gehörte seit dem Sommer 1923 einer sogenannten Kommission für innerparteiliche Angelegenheiten an, die im Verbund mit der OGPU die Untersuchungen gegen einzelne Splittergruppen der Arbeiteropposition, die von Gabriel Mjasnikov angeführte Gruppe „Arbeiterwahrheit" (rabocaja pravda) und die dem Proletkult nahestehende „Arbeitergruppe" (rabocaja gruppo), leitete.50 Noch aussagekräftiger für seinen Status sind aber seine informellen Positionen: Seit 1924 war er regelmäßig bei den konspirativen Zusammenkünften der sogenannten semerka zugegen, einer geheimen, gegen Trotzkij gerichteten Fraktion, an deren Sitzungen mit Ausnahme von Trotzkij alle Mitglieder des Politbüros, Valerian Kujbysev als Vorsitzender der ZKK sowie 48

Protokoll No. 3, Sitzung des PB vom 12.6.1924, Anlage. F. 17, op.3, d.443, 1.21; Abschrift aus dem Protokoll der Sitzung des Präsidiums der ZKK vom 2.1.1926. F.17, op.3, d.537,1.12. 49 Zalesskij, K.A.: Imperija Stalina. Biograficeskij enciklopediôeskij slovar', Moskau 2000, S. 269, 300, 357. 50 Protokoll No. 46, Sitzung des PB vom 15.11.1923. F.17, op.3, d.394, 1.4; Protokoll No. 31, Sitzung des PB vom 4.9.1924. F.17, op.3, d.461,1.4-5; d.464,1.15.

1. Jaroslavskijs politische Karriere von 1917 bis 1929

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Jaroslavskij und Nikolaj Janson, ebenfalls ein führender Funktionär in der ZKK, als Beisitzer teilnahmen.51 Janson und Kujbysev hatten genauso wie Jaroslavskij bis 1922 die Interessen des Moskauer Zentralapparats in den Regionen vertreten: Kujbysev als Vorsitzender des Regionalbüros in Turkestan und Janson als Mitglied des Sibrevkom. Jaroslavskij war bis in die 1930er Jahre hinein an der Seite Stalins aktiv am Kampf gegen die innerparteiliche Opposition und an der regelmäßigen Durchführung von „Parteisäuberungen" beteiligt. Er empfing seine Handlungsanweisungen häufig direkt von Stalin, spielte eine wichtige Rolle bei den Untersuchungen, konstruierte im Auftrag des Generalsekretärs die Anklagen und trat sowohl gegen Trotzkij und gegen die „Vereinigte Opposition" als auch später gegen die sogenannten „Rechten" Bucharin, Rykov und Tomskij als Ankläger auf. Stalins Mitarbeiter im ZK-Sekretariat, Boris Bazanov, beschreibt in seinen Erinnerungen die Zusammenarbeit zwischen dem Sekretariat, der OGPU und der ZKK folgendermaßen: Die OGPU habe die von ihr gesammelten kompromittierenden Informationen über hochrangige Parteiarbeiter in der Regel an Stalins persönliches Sekretariat weitergeleitet. Dieses habe dann Instruktionen an das Parteikollegium der ZKK übermittelt, wie der entsprechende Fall zu entscheiden sei. Das Parteikollegium habe daraufhin die entsprechenden Anklagen konstruiert und die Verhöre inszeniert.52 Zwei Beispiele sollen die Zusammenarbeit Jaroslavskijs mit Stalin und die Rollen, die beide Akteure dabei spielten, illustrieren: Ein Beispiel für die Art und Weise, in der Anklagen konstruiert wurden, bietet die Aufdeckung einer illegalen Versammlung der Opposition im Sommer 1926. Die Versammlung hatte in der Nähe von Moskau stattgefunden und war von den Anhängern Zinov'evs Belen'kij und Lasevic organisiert worden. Jaroslavskij hatte Stalin auf dessen Anfrage hin über diese Versammlung informiert, die von Agenten der ZKK aufgedeckt worden war, und von Stalin als Antwort konkrete Anweisungen erhalten, wie mit den einzelnen Oppositionellen zu verfahren sei. An diesem Fall wird eine typische stalinsche politische Praxis deutlich: Stalin wies Jaroslavskij an, den Fall Belen'kijs und Lasevics dazu zu nutzen, um seinen Rivalen Zinov'ev weiter zu diskreditieren und zu diesem Zweck einen Zusammenhang zwischen Zinov'ev, dem Apparat der Komintern und Belen'kij zu konstruieren.53 Das Präsidium der ZKK erarbeitete daraufhin einen entsprechenden Resolutionsentwurf, der auf dem gemeinsamen Plenum 51

Auf dem gemeinsamen Plenum des ZK und der ZKK im Juni 1926 enthüllte Zinov'ev diese gegen Trotzkij gerichtete Intrige. F. 17, op.2, d.240,1.26. 52 Bazanov. Vospominanija, S. 33-35. 53 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin, 9.6.1926, Antwort Stalins an Jaroslavskij vom 16.6.1926. F.558, op.ll, d.841,1.21-28. Zu Jaroslavskijs direkten Absprachen mit Stalin im Kontext der Auseinandersetzungen der jeweiligen ZK-Mehrheitsfraktion mit den sogenannten Linken und Vereinigten Oppositionen in den Jahren 1925-1927 und den Handlungsanweisungen, die er direkt von Stalin erhielt, siehe außerdem: F.89, op.ll, d.23,1.1-7; 89; f.89, op. 12, d.2,1.54, 57, 64, 71, 73-74; f. 89, op.12, d.7,1.39.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

von ZK und ZKK im Juli 1926 verabschiedet wurde.54 Infolge dieses Beschlusses wurde Zinov'ev aus dem Politbüro entfernt und Lasevic als Kandidat des ZK ausgeschlossen. Jaroslavskij diente in diesem Fall Stalin als bereitwilliges Instrument zur Durchsetzung von dessen Fraktionsinteressen; er hatte Stalin zwar die Informationen geliefert, die vom Generalsekretär vorgeschlagenen Verknüpfungen aber nicht eigenständig hergestellt. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre positionierte sich Jaroslavskij in so offensichtlicher Weise als Mitglied der Stalin-Fraktion, dass Anhänger Zinov'evs während der 22. Leningrader Parteikonferenz im Dezember 1925 Plakate mit sich trugen, auf denen er als Kettenhund Stalins abgebildet war.55 Jaroslavskij nutzte auch seine vor der Revolution und während seiner Zeit als Sekretär des Sibirischen Regionalbüros 1921/22 geknüpften persönlichen, informellen Beziehungen, um die Herrschaftsinteressen Stalins und dessen Anhänger in den Fraktionskämpfen zu unterstützen und die Verhältnisse vor Ort zu beeinflussen. Einige dieser Klienten und Bekannten Jaroslavskijs waren im Laufe der 1920er Jahre als regionale Parteiführer aufgestiegen. Als Beispiel für eine solche Manipulation kann eine Kontaktaufhahme Jaroslavskijs mit Stepan Vasil'ev gelten. Vasil'ev war ein ehemaliger „Schüler" Jaroslavskijs in einem illegalen sozialdemokratischen Zirkel, den Jaroslavskij während seiner Verbannungszeit in Jakutsk gegründet hatte. Vasil'ev bekleidete Mitte der 1920er Jahre eine führende Position in der lokalen Jakutsker Kontrollkommission. Im Sommer 1926 wies Jaroslavskij Vasil'ev implizit an, die Jakutsker Parteiorganisation, die mit der „Vereinigten Opposition" sympathisiert hatte, dazu zu bringen, die Mehrheitsfraktion des ZK zu unterstützen, und stellte Vasil'ev fur seine Dienste implizit einen Posten in der ZKK in Aussicht.56 Vasil'ev wurde für seine Gefälligkeit belohnt und 1927 durch die Vermittlung Jaroslavskijs und Ordzonikidzes Mitglied der ZKK und damit in den Zentralapparat nach Moskau befördert. Jaroslavskij folgte hier einem sich in den 1920er Jahren etablierenden Muster der politischen und sozialen Interaktion, das mit der Herrschaftskonsolidierung einherging. Die einflussreichen bolschewistischen Führer im Zentrum nutzten ihre persönlichen bzw. informellen Beziehungen zu ihren Klienten an der Peripherie im Sinne des Herrschaftsanspruchs ihrer Fraktion. Die Klienten erhielten für ihre Dienste eine Aufwertung ihrer Statusposition. Durch der-

54 Stenographisches Protokoll der gemeinsamen Sitzung des ZK und der ZKK, 20.7.1926. F.17, op.2, d.696, 1.68. Siehe auch die Instruktionen Stalins an „Molotov, Rykov, Bucharin und die anderen Freunde", 25.6.1926. Stalin. Briefe an Molotow, S. 127-129. 55 David-Fox, Michael: Revolution of the Mind. Higher Learning among the Bolsheviks, 1918-1929, Ithaca, London 1997, S. 116. 56 Schreiben Jaroslavskijs an Stepan Vasil'ev, 12.7.1926. F.89, op.3, d.149,1. 13-15.

1. Jaroslavskijs politische Karriere von 1917 bis 1929

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artige Handlungsweisen wurde die Herausbildung einer Patronageoligarchie gefördert.57 Neben den beschriebenen operativen Tätigkeiten übernahm Jaroslavskij zudem in maßgeblicher Weise die Aufgabe, den Machtkampf im Sinne der jeweiligen ZK-Mehrheitsfraktion propagandistisch zu popularisieren und die jeweiligen Mitglieder der oppositionellen Gruppen in der Presse sowie in Broschüren mit hoher Auflagenzahl zu diskreditieren. Hiermit konnte er seinen Einfluss an der „ideologischen Front" seit Mitte der 1920er Jahre parallel zu und in Abhängigkeit vom Kampf der Stalin-Fraktion gegen die innerparteiliche Opposition - kontinuierlich ausdehnen und wurde gegen Ende der 1920er Jahre zu einer Art ideologischem Oberaufseher der StalinFraktion. Seine zunehmende Präsenz in den Redaktionskollegien und den akademischen Institutionen während der 1920er Jahre war zunächst eng mit seinen Aufgaben in der ZKK, der Ausübung ideologischer Führung und Kontrolle im Sinne der jeweiligen Mehrheitsiraktion des ZK, verknüpft. Schon 1923 verdrängte er Trotzkij, der während des sogenannten Konfiskationskonflikts im Jahr 1922 für die Beschlagnahmung von kirchlichen Wertgegenständen verantwortlich war und die antireligiöse Kommission der ZKAbteilung für Agitation und Propaganda leitete58, von seinen Funktionen in der antireligiösen Politik der Partei. Jaroslavskij übernahm entsprechend einem Beschluss des Politbüros Ende Januar 1923 die Leitung einer im Oktober 1922 neugegründeten antireligiösen Kommission, die direkt dem ZK beigeordnet wurde und bis 1929 existierte.59 In seiner Autobiographie beurteilt Trotzkij die Nominierung Jaroslavskijs als eine gegen ihn gerichtete Intrige Stalins.60 Jaroslavskij, der schon seit 1918 regelmäßig in der Prawia-Redaktion gearbeitet hatte, konnte seit Beginn der 1920er Jahre seinen Einfluss im 57

Zur Bedeutung von Netzwerken, Patronage- und Klientelbeziehungen in der Verbindung zwischen den regionalen Parteiorganisationen mit dem Zentrum siehe: Easter: Reconstructing the State, S. 25-40, 67-108; Gill: Stalinism and Institutionalization. 58 Zu Trotzkijs Rolle in der Religionspolitik siehe: Luukkanen: Party of Unbelief, S. 9 6 160, und die Quellensammlung: Archivy kremlja. Politbjuro i cerkov', 1922-1925, 2 Bde., hrsg. v. N.N. Pokrovskij, S.G Petrov, Moskau 1997. 59 Protokoll No. 45, Sitzung des PB vom 25.1.1923. F. 17, op.3, d.331, 1.2; Luukkanen: Party of Unbelief, S. 123-128. Die offizielle Bezeichnung der selbst in offiziellen Dokumenten so genannten Antireligiösen Kommission lautete „Kommission des ZK zur Durchführung der Trennung von Kirche und Staat". Zur Besetzung der Antireligiösen Kommission siehe: Savel'ev, S.N.: Bog i komissary, in: Sociologiceskie issledovanija, 1991, H. 2, S. 34—45. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission sind veröffentlicht in: Partei und Kirche im frühen Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bol'seviki), 1922-1929, hrsg. v. Ludwig Steindorff, Berlin 2007. 60 Trotzki: Mein Leben, S. 437. Für diese Behauptung Trotzkijs finden sich allerdings keine Anhaltspunkte. Steindorff, Ludwig: Zwischen Bürokratie und Ideologie. Die Antireligiöse Kommission beim Zentralkomitee als Koordinator bolschewistischer Religionspolitik in den zwanziger Jahren, in: Kirchliche Zeitgeschichte 12 (1999) H. 1, S. 106-142, hier S. 113, 116.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

Redaktionskollegium kontinuierlich ausdehnen.61 Im Dezember 1924 wurde er vom Politbüro zum Mitglied der Redaktion der maßgeblichen ideologischen Zeitschrift Bol'sevik ernannt62 und bereits im Februar 1925 zum Mitglied der Redaktion der Krasnaja novEtwa 1924 begann auch Jaroslavskijs Karriere als Parteihistoriker. In diesem Zusammenhang war er maßgeblich an der Konstruktion des „Leninismus" beteiligt. Im Zuge der „Reorganisation" des Lenin-Instituts im Mai 1926, bei der der Posten des Leiters, den Lev Kamenev innehatte, durch eine Direktion ersetzt wurde, setzte das Politbüro Jaroslavskij als Mitglied dieser Direktion ein.64 Die harmlos als Reorganisation bezeichnete Umstrukturierung des Lenin-Instituts diente der politischen Diskreditierung Kamenevs.65 Zu Beginn des Jahres 1928 wurde Jaroslavskij als Mitglied des achtzehnköpfigen Rates (Sovet) des Istpart bestätigt und im Juli desselben Jahres in die Kommunistische Akademie berufen.66 Zudem war er Mitglied der von Michail Pokrovskij gegründeten „Gesellschaft marxistischer Historiker", hielt Vorlesungen und Seminare über die Geschichte der VKP(b) und der russischen revolutionären Bewegung an den höheren Bildungseinrichtungen der Partei, so zum Beispiel am Institut der Roten Professur und an der Sverdlov-Universität, und gehörte den Redaktionen der im engeren Sinne geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften Istorikmarksist, Proletarskaja revoljucija, Krasnaja letopis ' und Bor 'ba klassov an. Im August 1931 übernahm er von Vladimir Adoratskij den Rektorenposten des Parteihistorischen Instituts der Roten Professur.67 61

Die Bedeutung Jaroslavskijs für die Mehrheitsfraktion lässt sich daran ablesen, dass, als Jaroslavskij 1924 einen längeren Erholungsurlaub bewilligt bekam, sein Stellvertreter in der fravrfa-Redaktion durch eine außerplanmäßige Befragung der Politbüromitglieder bestimmt wurde. Protokoll No. 31, Sitzung des PB vom 4.9.1924. F.17, op.3, d.461,1.5. " Protokoll No. 40, Sitzung des PB vom 11.12.1924. F.17, op.3, d.480,1.5. « Protokoll No. 47, Sitzung des PB vom 6.2.1925. F.17, op.3, d.487, 1.4. Zur Zeitschrift Krasnaja nov' siehe: Maguire, Robert: Red Virgin Soil. Soviet Literature in the 1920s, Evanston 2000. 64 Neben Jaroslavskij wurden Kamenev, I.I. Skvorcov-Stepanov, A.S. Bubnov und S.I. Gusev zu Direktionsmitgliedern ernannt. Protokoll No. 27, Sitzung des PB vom 20.5.1926. F.17, op.3, d.561,1.7. 65 In einem Schreiben an V.M. Molotov vom 28.5.1926 berichtet Jaroslavskij, Kamenev bestehe auf seinem Recht, die Werke Lenins zu redigieren. Jaroslavskij und die übrigen Direktionsmitglieder lehnten dies ab. Auf dem Dokument befindet sich eine handschriftliche Bemerkung Molotovs: Dieser erklärt Kamenevs Anspruch für ungültig und kündigt seine Unterstützung für die Initiative der Direktion an. F.89, op. 12, d.2, 1.3. Kamenev wurde auf der Sitzung des PB vom 2.12.1926 gänzlich aus der Direktion des Lenin-Instituts ausgeschlossen. Als weitere Mitglieder wurden Molotov, Bucharin und Krupskaja ernannt. F.17, op.3, d.605, 1.5. Skvorcov-Stepanov war der Vorsitzende der Direktion. Jaroslavskijs Status in der Direktion des Lenin-Instituts wird u.a. dadurch deutlich, dass er Skvorcov-Stepanov während seines Urlaubs im Mai 1927 als Vorsitzenden ersetzte. F.17, op.3, d.631,1.4. 66 Entscheidung des PB vom 19.1.1928. F.17, op.3, d.669, 1.7. Protokoll No. 33, Sitzung des PB vom 7.7.1928. Ebenda, d.695,1.2. 67 Protokoll No. 58, Sitzung des PB vom 25.8.1931. F.17, op.3, d.844,1.12. Zur Geschichte des Parteihistorischen Instituts am Institut der Roten Professur siehe: Behrendt, LutzDieter: Vladimir Viktorovic Adoratskij als Direktor des Parteihistorischen Instituts der

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Zwischen 1928 und 1931 befand sich Jaroslavskij auf dem Höhepunkt seiner ideologischen Einflussmöglichkeiten. Durch eine Entscheidung des Politbüros vom 9. Februar 1928 wurde er zum Mitglied des Redaktionskollegiums der Pravda ernannt, in der er sich schon seit Beginn der 1920er Jahre engagiert hatte. Bucharin hatte Jaroslavskij mit dem Argument empfohlen, dass die Verbindung der Pravda mit den Behörden ZKK und RKI gestärkt werden müsste.68 Diese Aufwertung seines Status hatte Jaroslavskij im Vorfeld bewusst gefördert. Das geht aus einer Notiz Ordzonikidzes69 an Bucharin hervor, in der Ordjonikidze Bucharin mitteilt, Jaroslavskij habe den Wunsch geäußert, Mitglied des Redaktionskollegiums der Pravda zu werden. Auf demselben Blatt befindet sich der Vermerk Bucharins, dass er keine Einwände habe.70 Die Unterstützung Jaroslavskijs sollte sich für Bucharin allerdings als Bärendienst erweisen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1928 spitzten sich die Konflikte zwischen Stalin und den sogenannten Rechten, Bucharin, Rykov und Tomskij, über die Wirtschaftspolitik zu. Im Zuge der Abschaffung des Postens des verantwortlichen Redakteurs der Pravda und der damit verbundenen Entlassung Bucharins erfuhr Jaroslavskij noch eine weitere Aufwertung in der Redaktion. Im Juni 1929 wurde er Mitglied des dreiköpfigen Redaktionskollegiums, welches den verantwortlichen Redakteur zu ersetzen hatte. Jaroslavskij stand diesem Kollegium faktisch vor und fungierte so als leitender Redakteur.71 Im April 1929 hatte Marija Ul'janova, zu dem Zeitpunkt Sekretärin der Redaktion, Jaroslavskij vorgeworfen, in der Redaktion gegen Bucharin zu intrigieren, diesen Vorwurf allerdings wieder zurücknehmen müssen.72 Ihr Vorwurf war nicht unbegründet: Jaroslavskij war schon auf einer gemeinsamen Sitzung des Politbüros und des Präsidiums der ZKK am 30. Januar desselben Jahres von Stalin als Mitglied einer Kommission ernannt worden, die einen Beschluss über das vermeintlich antiparteiliche Verhalten Bucharins verabschiedete, insRoten Professur (1929-1931), in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge, Sonderbd. 3, Berlin 1997, S. 329-346. Zu den einzelnen Institutionen siehe: Heller. Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Institutionen. 68 Entscheidung des PB vom 9.2.1928, Vermerk Bucharins. F.17, op.163, d.714,1.43-44. 69 Sergo (Grigorij Konstantinovic) Ordjonikidze (1886-1937) war u.a. seit 1930 Mitglied des Politbüros, 1926-1930 Vorsitzender der ZKK und 1932-1937 Volkskommissar fur Schwerindustrie. Er beging 1937 Selbstmord. Hierzu siehe: Chlevnjuk: Stalin i Ordjonikidze. Jaroslavskij und Ordzonikidze kannten sich aus der Verbannung in Jakutsk und blieben seitdem in freundschaftlichem Kontakt. 70 Notiz Ordzonikidzes an Bucharin. F.85, op.l/c, d.106, 1.5. Jaroslavskijs Ernennung als Mitglied des Redaktionskollegiums fiel wohl nicht zufallig mit einer weitreichenderen Umbesetzung der Redaktion zusammen: Die engen Mitarbeiter Bucharins V.N. Astrov und A.N. Slepkov wurden aus der Redaktion entfernt, dafür aber G l . Krumin und M.A. Savel'ev eingesetzt. F.17, op.3, d.670, 1.3; d.698, 1.7. Bucharin bezeichnete diese als Politkommissare, die zu seiner Überwachung eingesetzt worden seien. 71 Neben Jaroslavskij wurden G.I. Krumin und N.N. Popov Mitglieder des sog. Kollegiums. Entscheidung des PB vom 10.6.1929. F.17, op.3, d.744,1.4. Krumin wurde durch eine Entscheidung des PB vom 20.7.1930 durch M.A. Savel'ev ersetzt. F.17, op.3, d.790,1.11. 72 Briefwechsel Jaroslavskijs mit M.I. Ul'janova vom 12.4.1929. F.89, op. 12, d.4,1.17, 17ob.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

besondere über dessen heimliches Treffen mit Kamenev im Sommer 1928 sowie über Bucharins Weigerung, seine Verpflichtungen als leitender Redakteur der Pravda und in der Komintern wahrzunehmen. Der Kommission gehörten neben Stalin, Bucharin und Jaroslavskij die Gefolgsleute des Generalsekretärs, Kirov, Korotkov, Rudzutak und Molotov, an. In der Resolution wurde Bucharin dazu aufgefordert, seine Fehler anzuerkennen und seine Arbeit in der Pravda und in der Komintern, die er aus Protest niedergelegt hatte, wieder aufzunehmen.73 Auf dem gemeinsamen Plenum des ZK und der ZKK im April 1929 trat Jaroslavskij schließlich neben Stalin als Hauptankläger Bucharins, Rykovs und Tomskijs auf.74 Im November 1929 wurde Bucharin schließlich, nachdem er von seinen Posten in der Pravda und in der Komintern abgesetzt worden war, auch aus dem Politbüro ausgeschlossen, Rykov und Tomskij folgten 1930. Obwohl Jaroslavskij s Auftreten gegen Bucharin und dessen Verbündete, wie noch zu zeigen sein wird, nicht mehr ganz so vorbehaltlos war wie seine Beteiligung an den Kampagnen gegen andere oppositionelle Gruppen und insbesondere gegen Trotzkij, zahlte sich für ihn seine Loyalität zur Sekretariatsfraktion und zu Stalin zumindest vorübergehend aus. Jaroslavskij gehörte zu den dreizehn ausgewählten Autoren, die Stalin im Dezember 1929 aus Anlass von dessen 50. Geburtstag als Sieger über die innerparteiliche Opposition und neuen „Führer" in der Pravda ehrten und sich so als anerkannte Mitglieder der stalinschen Oligarchie präsentieren konnten.75

2. Jaroslavskij und Stalin: gemeinsame Interessen und Politikvorstellungen Im vorausgehenden Abschnitt wurde gezeigt, wie Jaroslavskij sich in den 1920er Jahren in den innerparteilichen Auseinandersetzungen in den Regionen und im Zentrum positionierte und wie er sich auf Seiten der jeweiligen Mehrheitsfraktionen des ZK engagierte, um schließlich einen Platz in Stalins Gefolgschaft einzunehmen. Im Folgenden soll versucht werden, zwei Fragen zu beantworten: Warum begann Jaroslavskij, seine Interessen zumindest weitgehend mit denen der Stalin-Fraktion zu identifizieren, und warum hielt er die eben an zwei Beispielen erläuterten politischen Praktiken für legitim? Hierfür waren drei Faktoren relevant, die sich aber immer wieder gegenseitig überlagern: 1. Jaroslavskijs verfolgte persönliche und Statusinteressen, die

« Kak lomali NEP, t. 4: Ob-edinennyj plenum CK i CKK VKP(b), 16-23 aprelja 1929 g., S. 9-10. 74 Das Plenum wurde mit der Rede Jaroslavskijs eröffnet, in der er die einzelnen Anklagepunkte vortrug. Diese ist abgedruckt in: Kak lomali NEP, t. 4: Ob-edinennyj plenum CK i CKK VKP(b), 16-23 aprelja 1929 g., S. 2 1 ^ 5 . 75 Weitere Autoren waren: Dimitrij Manuilskij, Otto Kuusinen, Kliment Vorosilov, Lazar Kaganovic, Michail Kalinin, Sergo Ordjonikidze, Avel Enukidze, Valerian Kujbysev, Garal'd Krumin, Andrej Bubnov, Nikolaj Popov und Anastas Mikojan. Siehe hierzu: Heizer, James L. The Cult of Stalin, 1929-1939, Ph. D. diss. Univ. of Kentucky, Ann Arbor 1977, S. 81-98.

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sich mit Stalins Interessen vereinbaren ließen. 2. Stalin wirkte auf Jaroslavskij und viele andere Bolschewisten verlässlich, entscheidungsstark und überzeugend. 3. Jaroslavskij s Wahrnehmungsmuster und seine Vorstellungen von den Problemen des Regierens waren mit denen Stalins kompatibel. Jaroslavskij verfolgte unmittelbar nach dem Bürgerkrieg, als er noch überwiegend in Sibirien arbeitete, im Wesentlichen zwei konkrete Ziele: Zum einen wollte er seine missionarischen Bedürfhisse realisieren und strebte entsprechend dieser Neigung danach, sich eine führende Position im entstehenden Propagandaapparat der Partei zu sichern. Sein dahin zielender Ehrgeiz lässt sich in einem im Mai 1922 an die Kaderabteilung des ZK gerichteten Personalfragebogen ablesen, in dem er vehement und selbstbewusst behauptet, in hervorragender Weise für eine Leitungsfunktion im Bereich der Agitation und Propaganda geeignet zu sein.76 In Briefen an Kirsanova vom Herbst 1922 beklagte er sich mehrfach, dass er in Sibirien nicht entsprechend seiner Fähigkeiten eingesetzt werde und keine Zeit finde, seine literarischen Pläne in Form von zwei bis drei „gewichtigen Büchern für die gesamte Arbeiterklasse" zu verwirklichen.77 Er empfand seine Arbeit in Sibirien, wo er sich als Vertreter des Zentrums gegen den Widerstand lokaler Parteiführer durchsetzen musste, als mühsam und unbefriedigend. Jaroslavskij verfugte zwar nicht über eine ausgeprägte Durchsetzungskraft in konkreten Krisenmomenten, in denen Entscheidungsbereitschaft gefragt war. Er musste sich häufig rückversichern, war abhängig von dem Urteil und der Anerkennung anderer und zeigte auch nur begrenzte Fähigkeit oder Bereitschaft zu eigenständiger politischer Machtausübung. Dafür wurde er aber von einem umso größeren intellektuellen und missionarischen Ehrgeiz angetrieben. Neben diesen unmissverständlich formulierten Interessen verfolgte er, insbesondere nach der Geburt des Sohns Volodja, aber auch das Ziel, mit seiner Familie in Moskau zusammenleben zu können. In Moskau war die Versorgungslage besser als in Sibirien, was nach dem Tod des zweiten Kindes für Jaroslavskij ein wichtiges und in den Briefen an Kirsanova vieldiskutiertes Argument war. Es gibt Hinweise darauf, dass er seine zeitweilige Stellung als ZK-Sekretär nutzte, um Kirsanova zu ihrem Posten als stellvertretende Rektorin der Sverdlov-Universität in Moskau zu verhelfen, den sie im Sommer 1921 antrat.78 Dieses Vorhaben ließ sich aber nicht in befriedigender Weise in 76 Anketa ucetno-raspredelitel'nogo otdela CK RKP(b) na Em. Jaroslavskogo, 3.5.1922. F.89, op.l, d.7,1.4. 77 Briefe Jaroslavskij s an Kirsanova aus Berlin, 20.10.1922, S. 2-3, 18.9.1922, S. 4. Familienarchiv. 78 Siehe die Reaktion Jaroslavskijs auf die Anschuldigungen eines gewissen Kobozev, der Jaroslavskij bezichtigt hatte, ihn und andere Mitglieder der Sverdlov-Universität im Sommer 1921 entlassen und dafür Kirsanova eingesetzt zu haben, und das Befragungsprotokoll Kirsanovas, 28.1.1932. F.89, op.5, d.31,1. 2, 2ob., 4 - 9 . Hier folgte Jaroslavskij einer unter den Parteiführern üblichen Praxis. Viele dieser Bolschewisten machten ihre Frauen zu ihren persönlichen Assistentinnen. Das markanteste Beispiel ist Lenin, der sich auf die Unterstützung seiner Frau, N.K. Krupskaja und seiner Schwester Anna Uljanova verlassen

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III. Aufstieg in der Staiin-Fraktion

die Realität umsetzen, da Jaroslavskij selbst im Juli 1921 von seinem Posten als ZK-Sekretär enthoben und als Sekretär des Regionalbüros des ZK nach Sibirien abkommandiert wurde, Kirsanova aber in Moskau blieb. Jaroslavskij versuchte, seine Interessen sowohl über formelle als auch über informelle Wege durchzusetzen. Neben der Forderung an die Kaderabteilung des ZK führte er persönliche Gespräche mit Lenin und Stalin, der als Generalsekretär für Personalfragen zuständig war, um sowohl seine familiären als auch seine Statusinteressen zu vertreten.79 Seine Hartnäckigkeit in diesen Verhandlungen, seine Loyalität zu Lenin und seine Interessenkoinzidenz mit der Sekretariatsfraktion wurden schließlich dadurch belohnt, dass er auf dem 12. Parteitag auf die Kandidatenliste zur Wahl der ZKK gesetzt und auch als Präsidiumsmitglied gewählt wurde und in der Folge dauerhaft in Moskau bleiben konnte. Aber erst die Konstruktion des „Leninismus" als neue Herrschaftsdoktrin, die von den Triumvirn Stalin, Zinov'ev und Kamenev seit 1923 betrieben wurde,80 schuf die Voraussetzung dafür, dass Jaroslavskij seine literarischen Ambitionen, „gewichtige Bücher für die gesamte Arbeiterklasse" zu schreiben, verwirklichen und die Organisation von Agitation und Propaganda im „allergrößten Maßstab" betreiben konnte; der „Leninismus" ermöglichte neben seiner operativen Tätigkeit im Parteiapparat seinen Aufstieg in den 1920er Jahren. Was machte Jaroslavskij aus Stalins Perspektive zu einem geeigneten Mitstreiter? In einem Brief an Molotov hatte der Generalsekretär im September 1929 bemerkt, Jaroslavskij sei „bei all seinen ungewöhnlichen Qualitäten schwach in der politischen Führung".81 Jaroslavskijs „ungewöhnliche Qualitäten" lagen vermutlich zunächst darin, dass er auf eine eifernde Weise loyal war, sich mit der Politik der Sekretariatsfraktion identifizierte und kein ausgeprägtes Interesse an eigenständiger Machtausübung zeigte, aber auch offensichtlich in seiner Fähigkeit, durch seine Reden und Pamphlete die Parteimitglieder zu überzeugen. Jaroslavskij, der sich während seiner Auftritte konnte. Sverdlovs Frau K.T. Novgorodceva war seine wichtigste Assistentin im damals embryonalen ZK-Apparat. Viele dieser Bolschewisten brachten nahestehende Bekannte und Familienmitglieder, insbesondere ihre Frauen, in den neuentstehenden Institutionen unter. Das traf in besonderem Maße für die pädagogischen Einrichtungen zu. Sheila Fitzpatrick hat gezeigt, dass z.B. das Narkompros, das Volkskommissariat fur Bildung, quasi zum zenskij otdel (die ZK-Abteilung für die Arbeit unter Frauen) des ZK mutierte. Auch das Marx- und Engels-Institut entwickelte sich zu einem Arbeitsplatz für Ehefrauen und Schwestern hochgestellter Bolschewisten. Unter diesen waren z.B. die Frauen von Lenin, Trotzkij, L.B. Kamenev, F.E. Dzerzinskij, GM. Krzizanovskij und V.D. Bonc-Bruevic, des weiteren Lenins Schwester Anna Elizarova und die Schwestern V.R. Menzinskijs. Fitzpatrick, Sheila: The Commissariat of Enlightenment. Soviet Organization of Education and the Arts under Lunacharsky, Cambridge 1970, S. 19. 79 Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Berlin, 20.10.1922, S. 3. Das entsprechende Gespräch mit Lenin fand am 14.12.1922 statt. Unvollständiger und undatierter Brief an Kirsanova (Oktober 1922). Familienarchiv. 80 Siehe hierzu: Ennker: Anfange des Leninkults, S. 59-66. 81 Brief Stalins an Molotov, 9.9.1929, abgedruckt in: Stalin. Briefe an Molotow, S. 194.

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vor Publikum in einen rauschhaften Zustand versetzte, den er als religiöses Gefühl beschrieb, der seine emotionale Nähe zu den „Massen" auskostete und selbstbewusst rühmte und der zuweilen beim Verfassen von Texten heiße Tränen vergoss82, schätzte seine Überzeugungskraft offenbar nicht falsch ein. Sein Rednertalent wird auch von seinen Zeitgenossen bestätigt. Schon die Agenten der zarischen Geheimpolizei hatten ihn in ihren Berichten als besonders gefährlichen, fanatischen und heißblütigen Redner beurteilt. Jaroslavskijs hochrangiger Genösse Anastas Mikojan berichtet in seinen Memoiren, dass dieser während der stürmischen Diskussionen mit den Anhängern Trotzkijs an der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) im November 1923 von denjenigen, die die Linie des ZK vertraten, als einziger gut gesprochen habe und sich gegen die feindselige Stimmung habe durchsetzen können.83 Auch der ehemalige Student der MGU und Mitstreiter Trotzkijs Ivan Pavlov vermittelt in seinen Erinnerungen einen Eindruck von Jaroslavskij s durchsetzungsfähigem und mitunter aggressivem Auftreten während der Diskussionen mit den Anhängern der Opposition im Jahr 1927, in deren Verlauf Handgreiflichkeiten an der Tagesordnung gewesen und die Redner mit faulen Tomaten und Eiern beworfen worden seien.84 Stalins herausragende Eigenschaft war Robert Tucker zufolge seine Fähigkeit, die Stärken und Schwächen seiner Mitstreiter und Gegner zu erkennen und sie für seine Belange zu nutzen.85 Jaroslavskijs „ungewöhnliche Qualitäten" waren seine Glaubensvirtuosität, sein polarisierender Eifer und sein inbrünstiges mythisches Vorstellungsvermögen; diesen „Qualitäten" war die Überzeugungskraft seines Auftretens und seiner Texte geschuldet. In den 1920er Jahren bediente sich Stalin Jaroslavskijs populistischer Talente und seiner „Nähe zu den Massen". Jaroslavskijs Einsatz für die Stalin-Fraktion beruhte aber nicht nur auf den eben genannten Interessen, sondern auch auf der wachsenden Überzeugung, dass Stalin am besten in der Lage sei, die Parteieinheit und die Kontrolle über die Parteiorganisationen in den Regionen zu gewährleisten. Stalins Aufstieg zur Macht ist häufig mit seinen außerordentlichen organisatorischen und taktischen Fähigkeiten erklärt worden. Diese hätten es ihm ermöglicht, seine Stellung als Generalsekretär in den Machtkämpfen mit den jeweiligen oppositionellen Gruppen zu nutzen. Er habe seinen Einfluss geltend gemacht, indem er die Kaderpolitik der Partei kontrollierte und indem er die auf den Parteitagen stattfindenden Wahlen der wichtigsten Parteigremien sowohl durch die Vorauswahl der wahlberechtigten Delegierten als auch durch die Aufstellung von Kandidatenlisten für die wichtigsten Parteiämter manipu82

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova aus Moskau, 16.7.1917, S. 1. Familienarchiv. « Mikojan: Tak bylo, S. 248-249. 84 Pavlov, I.V.: 1920-e. Revoljucija i bjurokratija. Zapiski revoljucionera, St. Petersburg 2001, S. 80-92. 85 Tucker. Stalin as Revolutionary, S. 213.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

lierte.86 Auch Jaroslavskij profitierte von Stalins Kaderpolitik. Schon Robert Tucker hat aber zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass diese Erklärung zwar zutreffend, aber nicht ausreichend sei, um das Phänomen von Stalins Aufstieg zu verstehen. Es sei nicht vorrangig Stalins Kaderpolitik gewesen, die seine Mitstreiter überzeugt habe. Die bolschewistische Partei zeichnete sich dadurch aus, dass in ihr über politische Fragen in ideologischer Sprache ausgiebig debattiert und gestritten wurde. In einer solchen Partei habe Stalin nicht nur über eine ausgeklügelte Machttechnik, sondern auch über ein überzeugendes politisches Programm und eine ebenso überzeugende Art verfügen müssen, um sich in den höheren Parteizirkeln durchsetzen zu können. Stalin war 1923/24 noch nicht der Stalin der 1930er Jahre und wurde von seinen Genossen auch nicht so wahrgenommen; die einzelnen Fraktionen waren das wurde auch am Beispiel Jaroslavskij s deutlich - noch lose Gruppierungen, deren Mitglieder zuweilen die Seiten wechselten.87 So war auch Jaroslavskij in den 1920er Jahre zwar ein zumeist bereitwilliger, aber kein willfahriger Helfer Stalins. Das gemeinsame Vorgehen gegen die Fraktionstätigkeit der Arbeiteropposition auf dem 11. Parteitag 1922 führte zwar zu einem Gruppenbewusstsein derer, die sich als Gefolgschaft Lenins verstanden und stilisierten. Jedoch waren auch Jaroslavskij die Konflikte zwischen Lenin und Stalin, insbesondere in der sogenannten Georgischen Affare, nicht verborgen geblieben, die zu Lenins Empfehlung führten, Stalin vom Posten des Generalsekretärs zu entfernen.88 Für Jaroslavskij war der „Leninismus" auch, aber nicht nur ein politisches Instrument, das dazu diente, den jeweiligen politischen Gegner auszuschalten. Er nahm seine Treue zu Lenin und seinen damit zusammenhängenden Identitätsentwurf als Mitglied der „alten leninschen Garde" ernst. 1924 begann Jaroslavskij offensichtlich, Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Vorgehens gegen Trotzkij zu hegen, und fühlte sich veranlasst, sich in seinen persönlichen Aufzeichnungen darüber Rechenschaft abzulegen. Jaroslavskijs Verunsicherung wurde durch ein vertrauliches Gespräch mit dem jungen Literaturkritiker und Trotzkij-Anhänger Lev Averbach ausgelöst, in dessen Verlauf Averbach von einem Gespräch mit Trotzkij berichtet hatte. In diesem Gespräch habe Trotzkij erzählt, dass Lenin Ende 1922 einen „Block" mit ihm 86

Diese Ansicht vertreten insbesondere: HoughlFainsod: How the Soviet Union is Governed, S. 110-146. 87 Tucker. Stalin as Revolutionary, S. 302-304. 88 Ende 1922 hatte Lenin, wenige Monate vor seinem letzten Schlaganfall, ein Schreiben diktiert, das er als Brief an den Parteitag bezeichnete. Darin charakterisierte er einige Mitglieder der obersten Parteiführung. In einem Nachtrag, den er einige Tage später hinzufügte, bezichtigte er Stalin der Grobheit und schlug vor, diesen vom Posten des Generalsekretärs zu entfernen. Nur Lenins Frau, Nadezda Krupskaja, kannte den Inhalt des Dokuments, das sie nach Lenins Tod Anfang 1924 dem ZK übergab. Lenins „Brief' wurde nicht in das offizielle Protokoll des 13. Parteitags aufgenommen, sondern den einzelnen Delegationen vertraulich verlesen. Zu den Auseinandersetzungen zwischen Lenin und Stalin siehe: Lewin, Moshe: Lenin's Last Struggle, New York 1968.

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und Stalin gegen Zinov'ev und Kamenev habe bilden wollen. Zinov'ev und Kamenev, die zum Zeitpunkt von Jaroslavskij s Aufzeichnungen gemeinsam mit Stalin gegen Trotzkij koalierten, sollten auf diese Weise von ihren führenden Funktionen im ZK verdrängt werden. Zudem berichtete Averbach, Trotzkij habe ihm gegenüber erwähnt, dass er sich nach Lenins Tod für den einzigen Verfechter der leninschen Linie gegen ein antileninsches ZK halte. Das Gespräch mit Averbach hatte Jaroslavskij offensichtlich derartig beschäftigt, dass er sich veranlasst sah, Trotzkij s vermeintlichen Anspruch auf die Nachfolge Lenins auf seine Legitimität zu überprüfen. Zwar kommt Jaroslavskij in seinem persönlichen Rechenschaftsbericht durch eine ziemlich konstruierte Argumentation zu dem Ergebnis, dass Lenin Trotzkij mitnichten als seinen Nachfolger auserkoren habe, sondern mit Trotzkij unzufrieden gewesen sei und ihn für einen Menschewisten gehalten habe.89 Aus Jaroslavskij s Aufzeichnungen wird aber auch deutlich, dass Trotzkij s Anspruch als legitim zu betrachten gewesen wäre, hätte Lenin tatsächlich einen „Block" mit diesem angestrebt. Folglich hielt Jaroslavskij zumindest in der Zeit nach Lenins Tod alles für legitim, was durch Lenins Willen sanktioniert war, obwohl Lenins Verhalten, setzt man die Richtigkeit von Averbachs Bericht voraus, selbst nach dessen eigenen Maßstäben als illegale Fraktionstätigkeit bezeichnet werden müsste.90 Das heißt, dass sich Jaroslavskijs Vorstellung von politischer Legitimität nicht mit festgelegten Verfahren, sondern mit einzelnen Personen, mit deren Autorität und deren als legitim erscheinenden Anliegen verbindet. Der Glaube an die Fähigkeiten außerordentlicher Personen hatte schon das politische Denken großer Teile der vorrevolutionären intelligencija ausgezeichnet; dieses personenbezogene Muster wurde durch die unübersichtliche wirtschaftliche und politische Situation in der Zeit nach dem Bürgerkrieg, in der man sich nicht auf funktionierende Institutionen stützen konnte und es auf die Durchsetzungs- und Überzeugungskraft einzelner Personen ankam, noch verschärft. Das eben genannte Beispiel ist aufschlussreich, weil es einerseits die Frage aufwirft, warum Lenins negatives Urteil über Stalin in seinem „Brief an den Parteitag", dessen Inhalt Jaroslavskij schließlich gut bekannt war, Jaroslavskij trotz aller Loyalität so wenig beeindruckte, andererseits aber schon eine mögliche Antwort auf diese Frage bereithält. Lenins Autorität in der Partei war für Jaroslavskij darin begründet, dass dieser über die Fähigkeit verfugte, in schwierigen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen und in ebendiesen Situationen Parteispaltungen zu verhindern. In einem Brief an Kirsanova, in dem er über den Verlauf der Diskussionen auf dem 10. Partei89 Die Aufzeichnungen Jaroslavskijs vom 24. und 27.12.1924 sind mit der Überschrift „Über die Frage der Rolle L.D. Trockijs" versehen. F.89, op.12, d.7,1.29-35. 90 Der Beschluss über die „Einheit der Partei", mit dem jegliche Fraktionstätigkeit unterbunden werden sollte, wurde auf Lenins Initiative auf dem 10. Parteitag im März 1921 verabschiedet. KPSS ν resoljucijach i resenijach s-ezdov, konferencii i plenumov CK, t. 1, 1898-1925, S. 527-528.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

tag im Frühjahr 1921 berichtet, betont Jaroslavskij, dass es „der gesamten Kunst, der gesamten Autorität" Lenins bedurft habe, um in einem Moment der Krise die Parteispaltung abzuwenden.91 Wodurch aber überzeugte Stalin Jaroslavskij und viele andere Bolschewisten? Lars Lih hat in seiner Analyse der Briefe Stalins an Molotov gezeigt, dass das, was wir heute vornehmlich als geschickte politische Taktik sehen, den Zeitgenossen Stalins, die schließlich in Krisenzeiten regieren mussten, durchaus nicht so erschienen sein muss. Aus ihrer Sicht waren Stalins Vorschläge zum Umgang mit den oppositionellen Gruppierungen keine üblen Tricks, sondern legitime Forderungen, die sich aus einer vernünftigen und überzeugenden Situationsanalyse ergaben. Stalin hatte seine politischen Rivalen zwar durch taktische Manöver ausgeschaltet, aber zugleich auf ein Ziel hingearbeitet, das ihm und seinen Genossen nicht nur höchst legitim, sondern auch vordringlich erschienen sei - nämlich eine geeinte Führungsmannschaft zu erhalten und damit die bolschewistische Herrschaft zu sichern. Vor diesem Hintergrund verließen sie sich zunehmend auf Stalins Fähigkeit, Situationen zu analysieren und daraus Handlungsdirektiven abzuleiten.92 Stalins Verbündete, von denen viele wie Jaroslavskij die Erfahrung von Machtkämpfen, Cliquenwirtschaft und Abspaltungsversuchen in den regionalen Parteiorganisationen gemacht hatten, sahen durch ihn ihre Interessen vertreten. Stalin hatte zu Beginn der 1920er Jahre ihre Unterstützung gewonnen, indem er ihre Position in den jeweiligen Parteiorganisationen gestärkt hatte. Die Machtkämpfe im Politbüro nach Lenins Tod ähnelten aus ihrer Perspektive denen in den regionalen Parteiorganisationen, und die Forderungen der unterschiedlichen Oppositionsgruppen nach einer Stärkung der innerparteilichen Demokratie drohten die Konflikte in den Regionen noch zu befördern und ganze Parteiorganisationen zu paralysieren.93 Jaroslavskij zeigte sich wahrscheinlich so wenig beeindruckt von Lenins Kritik an Stalins Vorgehen im Rahmen der „Georgischen Affäre", weil diese in auffalliger Weise seinem eigenen Konflikt mit dem Omsker Parteikomitee im Herbst 1922 ähnelte, in dessen Verlauf er die Unterstützung des ZK-Sekretariats beansprucht hatte. Einige führende Vertreter des georgischen Zentralkomitees hatten eine Entscheidung des georgischen Parteikongresses, mit der im Frühjahr 1922 die Eingliederung Georgiens in eine Föderation der Transkaukasischen Sowjetrepubliken verfugt worden war, boykottiert und damit die schon länger schwelenden Konflikte mit dem von Ordjonikidze geleiteten transkaukasischen Regionalkomitee verschärft. Die georgischen Kommunisten hatten auf ähnliche Weise wie ihre Omsker Genossen versucht, das Regionalkomitee und das ZK in Moskau durch Rücktrittsdrohungen und massenhafte 91

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova, 20.3.1921, S. 3. Familienarchiv. Lih, Lars T.: Einleitung zu: Stalin. Briefe an Molotow, 1925-1926, hrsg. v. dems., Oleg Naumow, Oleg Chlewnjuk, Berlin 1996, S. 32^11. 93 Harris: Stalin as General Secretary, S. 74-80. 92

2. Jaroslavskij und Stalin

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Parteiaustritte unter Druck zu setzen. Ähnlich wie in Sibirien wurde der Konflikt trotz der Vorbehalte Lenins gegen das wenig diplomatische Vorgehen Stalins und Ordzonikidzes, der einem örtlichen Parteiführer eine Ohrfeige verpasst hatte, letztlich zugunsten des Regionalbüros entschieden, indem man die führenden georgischen Oppositionellen ihrer Posten enthob.94 Setzt man zudem voraus, dass Jaroslavskij und seine Genossen formalisierte politische Verfahren traditionell nicht besonders hoch schätzten, so erscheint es umso überzeugender, dass viele von ihnen Stalins politisches Verhalten weder als ungewöhnlich noch als illegitim wahrnahmen. Für Jaroslavskij hatte sich Stalin Mitte der 1920er Jahre gerade durch sein geschicktes und entschiedenes Vorgehen gegen die Opposition als Führer der Partei qualifiziert. In dem schon erwähnten Brief an seinen „Schüler" Stepan Vasil'ev, der ganz offensichtlich Zweifel an der Richtigkeit der stalinschen Politik hegte, brachte Jaroslavskij seine Überzeugung zum Ausdruck, dass gerade Stalin über die Fähigkeit verfüge, das Ideal der kollektiven Führung zu verwirklichen und alle Voraussetzungen mitbringe, um die Partei zu führen (byt' vozdem partii) und vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Die diesem von Lenin vorgeworfene „Grobheit" wertete Jaroslavskij als Ausdruck von Prinzipientreue und Entschiedenheit um.95 Stalin agierte zwar offensichtlich anders als Lenin, erfüllte aber für Jaroslavskij und viele seiner Genossen zunehmend eine ähnliche Funktion. Die in den 1930er Jahre allgegenwärtige Propagandalosung „Stalin ist der Lenin von heute" entbehrte so aus der Perspektive seiner Anhänger nicht jeglicher Grundlage. Stalins Weg zur Macht war die Folge eines Prozesses politischer Willensbildung innerhalb der bolschewistischen Partei. Einige Wissenschaftler wie Robert Daniels und Leonard Schapiro, deren nunmehr klassische Arbeiten noch stark vom Totalitarismusmodell beeinflusst sind, halten Stalin für den Sieger in ideologischen Auseinandersetzungen. Unter Ideologie verstehen sie die kanonischen Texte von Marx, Engels und Lenin. Ihrer Meinung nach siegten die Befürworter einer straff zentralistisch organisierten Kaderpartei über einen demokratischeren Bolschewismus, dessen vermeintliche Vertreter Robert Daniels mit einem eindeutigen moralischen Urteil als „Gewissen der Revolution" bezeichnet hat. Im Zentrum dieser Interpretation stehen die vermeintlich feststehenden, unterschiedlichen inhaltlichen Standpunkte und ideologischen Überzeugungen der Protagonisten.96 Wenn diese Erklärung auf Jaroslavskij und andere Bolschewisten angewendet wird, ergeben sich jedoch Unstimmigkeiten. Zunächst argumentieren diese Autoren implizit aus einer rückblickenden Perspektive, d.h. ausgehend

94

Smith, Jeremy: The Georgian Affair of 1922 - Policy Failure, Personality Clash or Power Struggle?, in: Europe-Asia Studies 50 (1998) H. 3, S. 519-544, hier S. 530-531, 538-539. Schreiben Jaroslavskijs an den Vorsitzenden der Jakutsker Gebiets-KK, Stepan Vasil'ev, 12.7.1926. F.89, op.3, d.149,1.14. 96 Schapiro: Geschichte der Kommunistischen Partei; Daniels: Gewissen der Revolution. 95

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

von der Hochphase stalinscher Machtakkumulation und Gewaltherrschaft in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Die Zeitgenossen verfugten jedoch nicht über hellseherische Fähigkeiten, die sie die Entwicklung der 1930er Jahre hätten voraussehen lassen können. Desweiteren sind die politischen Überzeugungen der einzelnen Bolschewisten nicht so eindeutig zu charakterisieren. Trotzkij verwandelte sich in den 1920er Jahren vom radikalen Verfechter zentralistischer bzw. militärischer Befehlsstrukturen zu einem Kämpfer für die innerparteiliche Demokratie. Jaroslavskij war, wie gezeigt wurde, bis etwa 1920 einer der vehementesten Vertreter arbeiterdemokratischer Forderungen. Diese Haltung und seine Begeisterung für die „Massen" gab er trotz seiner Entscheidung für die Stalin-Fraktion keineswegs auf, sondern behielt sie, allerdings in Gestalt eines destruktiven und, wie wir sehen werden, taktisch nicht immer sehr raffinierten Populismus auch in den 1930er Jahren bei. Seine Vorstellungen von Arbeiterkontrolle ließen sich mit dem Ideal zentraler Kontrolle und dem Vertrauen in die Führung verbinden. Er war ein begeisterter Fürsprecher einer Beteiligung der „Massen" an der Kontrolle der Partei- und Staatsorgane und nahezu versessen darauf, sogenannte Missstände in seiner journalistischen Tätigkeit anzuprangern, um so die „Initiative von unten" zu fordern. In diesen populistischen Praktiken löste sich für Jaroslavskij in den 1920er Jahren auch das für die Legitimation bolschewistischer Herrschaft grundlegende Problem, dass die Identifikation mit den „Massen" während des Bürgerkriegs und der Zeit danach immer problematischer wurde. Hierdurch wurde aus seiner Sicht der „Vertrag" zwischen dem „Proletariat" und seiner „Avantgarde" wiederhergestellt. Jaroslavskij s Vorstellungen von den Problemen des Regierens und den Strategien zur Lösung derselben waren zwar mit denen Stalins nicht identisch, wie sich Anfang der 1930er Jahre zeigen sollte, aber in den 1920er Jahren kompatibel. Er teilte mit dem Generalsekretär ein Wahrnehmungsmuster, das Lars Lih als das „antibürokratische Szenario" und „Sabotage-Theorie" oder Gabor Rittersporn für die 1930er Jahre noch weitreichender als „allgegenwärtige Konspiration" bezeichnet hat.97 Dieses Wahrnehmungsmuster beinhaltet, dass in der Verwaltung, der Industrie und selbst in der Partei übelwollende und selbstsüchtige Karrieristen und Saboteure am Werk sind, die ihre Intrigen spinnen und von der Motivation angetrieben werden, die Bemühungen wohlwollender, aufopferungsvoller Kommunisten zu untergraben. Viele Dysfunktionalitäten des Systems wurden so auf feindliche Tätigkeiten von Einzelpersonen zurückgeführt. Diese aus heutiger Perspektive sicherlich paranoide Weltsicht war nicht gänzlich gegenstandslos; sie speiste sich aus dem Ineinandergreifen von ideologischen Vorurteilen, vortheoretischen per97

Lih: Einleitung, S. 25-32; ders: Bread and Authority, S. 97-104; Rittersporn, Gábor T.: The Omnipresent Conspiracy: On Soviet Imagery of Politics and Social Relations in the 1930s, in: Stalinist Terror: New Perspectives, hrsg. v. J. Arch Getty, Roberta T. Manning, Cambridge 1993, S. 99-116.

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sonalisierten Denkmustern und konkreten Erfahrungen. Die Entwicklung der bolschewistischen Partei von einer kleinen Gruppe eingeschworener Untergrundkämpfer in eine Massenpartei brachte es mit sich, dass viele nur beitraten, um sich Vorteile zu verschaffen. Andere neue Mitglieder verstanden nicht, welche Ziele die Partei verfolgte. Sie waren aufgrund ihrer mangelnden Bildung inkompetent und machten daher Fehler. Den sogenannten bürgerlichen Spezialisten, die sich in den Dienst des sozialistischen Aufbaus stellten und auf deren Fachkompetenz man notgedrungen angewiesen war, misstrauten die Parteiführer ohnehin latent. Jaroslavskij war durch seine Tätigkeit in den Kontrollorganen der Partei nicht nur mit der Konstruktion von Korruptions- und Sabotagefällen sowie dem Kampf gegen oppositionelle Gruppen innerhalb der Partei befasst, sondern war auch, insbesondere bei seinen zahlreichen Inspektionsreisen, mit den allgegenwärtigen Pannen und Dysfunktionalitäten sowie Missbrauch in den Parteiorganisationen, der Industrie und der Verwaltung konfrontiert, die er allerdings durch ein spezifisches Raster wahrnahm und interpretierte. Diese Erfahrungen ließen aus Jaroslavskijs Perspektive Stalins Auffassungen als berechtigt und vernünftig erscheinen. Schon im Herbst 1917 hatte Jaroslavskij diese Sichtweise in einem Pamphlet über die gravierenden Versorgungsprobleme folgendermaßen formuliert: „Die Ursache [der Versorgungsengpässe; S.D.] liegt in der absichtlichen Störung des wirtschaftlichen Lebens durch die Herren Kapitalisten, Fabrikbesitzer, Werksbesitzer, Landbesitzer, Bankdirektoren und ihre Helfershelfer. Die Ursache für die hohen Preise, das Fehlen von Waren und das Fehlen von Brot liegt im absichtlichen Verstecken von Brot und Waren in Lagern und Depots, in der absichtlichen Schließung von Bergwerken und Fabriken. All das wird absichtlich gemacht, so dass die knochige Hand des Hungers die Arbeiterklasse an der Kehle packen wird."98

Derartige gewissenlose Diversanten des wirtschaftlichen Aufbaus fanden sich nach der Auffassung Jaroslavskijs und vieler seiner Genossen aber mitnichten nur unter den „Herren Kapitalisten", sondern auch in der Partei sowie in der sowjetischen Verwaltung und Wirtschaftsführung. In einem Brief an Gor'kij vom Frühjahr 1928, den er während einer Inspektionsreise in der DonbassRegion schrieb," verkündete Jaroslavskij dem Status des Adressaten gemäß 98

Jaroslavskij, Em.: Otèego net tovarov ν derevne, chleba ν gorodach, Moskau 1917, S. 17-19. Jaroslavskij wurde gemeinsam mit Tomskij und Molotov am 15.3.1928 durch einen Beschluss des Politbüros beauftragt, in Verbindung mit der vorher von der OGPU aufgedeckten, angeblichen Verschwörung unter Grubeningenieuren in der Stadt Sachty eine Überprüfung der dortigen Partei-, Gewerkschafts- und Wirtschaftorganisationen vorzunehmen. Den Ingenieuren wurde vorgeworfen, über fünf Jahre systematisch Maschinen zerstört oder unwirtschaftlich eingesetzt, Feuer gelegt, Gruben unter Wasser gesetzt und sich den Arbeitern gegenüber unverantwortlich verhalten zu haben. Jaroslavskij, Molotov und Tomskij brachen am 19.3.1928 in Moskau auf. Protokoll No. 15, Sitzung des PB vom 15.3.1928. F. 17, op.3, d.677,1.5. 99

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

so stolz wie pathetisch und unter Verwendung zahlreicher organischer Metaphern, wie er sich selbst wahrnahm und was er als seine Aufgabe verstand: „Ich trage im Moment die Bürde, eine sehr schwere Arbeit in der Partei zu leisten (...), nämlich die Partei von ihrem schmutzigen Abschaum, von ihrem Abschaum und Sumpf zu reinigen, die alle lebenspendenden Quellen des Kommunismus verschmutzen. Für diese Arbeit benötigt man eine große Festigkeit und Frische der Seele, um nicht zu verhärten. Ich bin davon überzeugt, dass mir die russische Literatur diese Festigkeit und Frische vermittelt hat. (...) Ich hoffe, dass dieser verspätete Gruß (...) Sie an einen Menschen erinnert, dessen Name den Hass und die Bösartigkeit derer hervorruft, die es nicht mit unserer bolschewistischen Unbeugsamkeit und Reinheit aufnehmen, die nicht 'den Traum des Revolutionärs ehren' können." 100

Die gegenüber Gor'kij enthusiastisch gepriesene Inspektionsreise Jaroslavskijs stand in engem Zusammenhang mit der Konstruktion der Anklagen gegen Bergbauingenieure in der Stadt Sachty, denen von Mai bis Juni 1928 ein Prozess gemacht wurde, der über ein Vierteljahr hin die Seiten der sowjetischen Presse beherrschte. Der Sachty-Prozess bildete den Auftakt zur sogenannten Kulturrevolution, mit der die alten Eliten für denunziatorische Praktiken „von unten" freigegeben wurden und dadurch durch junge bolschewistischen Kader ausgetauscht werden sollten.101 Auch wenn Jaroslavskij sicher nicht alle Details der konstruierten Anklagen gegen die Fachleute geglaubt hat, scheint er aber nicht grundsätzlich am unterstellten üblen Willen und an der Schuld der Angeklagten gezweifelt, dafür aber die breite Propagierung von deren vermeintlichen Missetaten für ein nützliches Mittel der Politik gehalten zu haben. Vermutlich war Jaroslavskij aus drei Gründen in besonderem Maße bereit, das „antibürokratische Szenario" und die „Sabotage-Theorie" nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu verinnerlichen. Zum einen kam er aufgrund seiner ausschließlich propagandistischen und kontrollierenden Tätigkeiten nie in Konflikt zwischen einem ergebnisorientierten wirtschaftlichen Pragmatismus und der zunehmend von Stalin diktierten Parteilinie. Solchen Konflikten waren Bolschewisten, die in der Wirtschaftsführung tätig waren, in weit höherem Maße ausgesetzt.102 Jaroslavskijs Kenntnisse von den spezifischen Pro>00 Brief Jaroslavskijs an Gor'kij, 29.3.1928. F.89, op.l, d.104, 1.18. Der Anlass für Jaroslavskijs Grußschreiben an Gor'kij war die - allerdings nur vorübergehende - Rückkehr des Schriftstellers in die Sowjetunion im Frühjahr 1928, die enthusiastisch gefeiert wurde. Mit der Formel „Traum des Revolutionärs" spielt Jaroslavskij auf das Prosapoem Gor'kijs „Das Lied vom Sturmvogel" (Pesnja o burevestnike) an. 101 Zum Sachty-Prozess siehe die Einleitung von V.P. Danilov und Oleg Chlevnjuk in: Kak lomali NEP, t. 1: Ob-edinennyj plenum CK i CKKVKP(b), 6-11 aprelja 1928 g., S. 15-33; Fitzpatrick, Sheila: Stalin and the Making of a New Elite, 1928-1939, in: Slavic Review 38 (1979), S. 377-402; Schattenberg: Stalins Ingenieure, S. 85-91; Kislicyn, S.A.: Sachtinskoe delo: nacalo stalinskich repressii protiv naucno-techniceskoj intelligencii, Rostov a. Don 1993. 102 Beispielhaft steht hierfür Ordjonikidze, der nach seinem Wechsel vom Leiter der ZKK zum Volkskommissar für Schwerindustrie im Jahr 1930 sein Verhältnis zu den Fachleuten grundlegend änderte und zunehmend begann, ihre Interessen im Sinne eines effektiven

2. Jaroslavskij und Stalin

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blemen, Zwängen und Abläufen der Wirtschaftsführung und der industriellen Produktion waren gering, so dass er dazu neigte, die zahlreichen Pannen nicht auf komplexe strukturelle Ursachen, sondern auf das Versagen oder auf den destruktiven Willen einzelner Personen zurückzuführen. Zum anderen konnte er im Kontrast zu denen, die „alle lebenspendenden Quellen des Kommunismus verschmutzen", sein am Beispiel der russischen Literatur geschultes Selbstbild als „reiner", „unbeugsamer" und selbstloser Bolschewist bestätigt sehen, der unerbittlich für das allgemeine Wohl kämpft, und sich dementsprechend nach außen stilisieren. Und schließlich vertrug sich das „antibürokratische Szenario" hervorragend mit Jaroslavskij s Populismus und seiner damit zusammenhängenden Vorstellung, dass Probleme in der Verwaltung und Wirtschaftsführung durch die Festlegung einer richtigen Parteilinie einerseits und die von den Arbeitern und einfachen Parteimitgliedern ausgeübte Kontrolle andererseits bewältigt und schließlich die Lebensbedingungen dadurch verbessert werden könnten.103 Jaroslavskij s Vorstellungen von Arbeiterdemokratie, denen er bis 1920 als Oppositioneller so vehement Ausdruck verliehen hatte, wurden keinesfalls durch ein repressives Regime unterdrückt, sondern ließen sich in das stalinsche „antibürokratische Szenario" integrieren. Jaroslavskij war begeistert von der 1928 initiierten Kampagne, mit der die „Kritik von unten" gefordert werden sollte. Unter anderem sollten der Sachty-Prozess und die breite Berichterstattung darüber diese Losung anschaulich machen und die Bereitschaft der Arbeiter und einfachen Parteimitglieder zur regimetreuen Kritik gegen „Missstände" und zur Aufdeckung von „Schädlingstätigkeit" erhöhen.104 Insbesondere seit dem Sommer 1929, als Jaroslavskij seine leitende Funktion in der Pravda übernahm, setzte er viel Energie daran, um diese „Missstände aufzudecken" und die „Kritik von unten" gegen höhergestellte Funktionäre in der Wirtschaft und der Partei zu fördern.105 Produktionsablaufs zu vertreten. Fitzpatrick, Sheila: Ordzhonikidze's Takeover of Vesenkha: a Case Study in Soviet Bureaucratic Politics, in: Soviet Studies 37 (1985), S. 153-172. 103 Siehe hierzu Jaroslavskijs Redebeitrag auf dem gemeinsamen Plenum des ZK und der ZKK, abgedruckt in: Kak lomali NEP, t. 1 : Ob-edinennyj plenum CK i CKK VKP(b), 6-11 aprelja 1928 g., S. 283-286. 104 Siehe hierzu den Artikel: Jaroslavskij, Em.: Otkuda grozit opasnost' pererozdenija otdel'nych kletocek partijnogo i sovetskogo organizma, in: Bjulleten' CKK VKP(b) i NK RKI SSSR i RSFSR, 1928, no. 4 - 5 , S. 1-6. Zu Kritik und Selbstkritik im bolschewistischen Sprachgebrauch siehe: Erren, Lorenz: „Kritik und Selbstkritik" in der sowjetischen Parteiöffentlichkeit der dreißiger Jahre, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 50 (2002), S. 186-193, hier S. 189-190. 105 Allerdings zeigte sich Jaroslavskij in einem Brief an Ordjonikidze vom September 1930, als sich infolge der Kollektivierung eine Versorgungskrise anbahnte, verhalten über seine Tätigkeit in der Pravda, in der er mehr denn je arbeite. Jaroslavskij hielt sich zugute, dass er gegen die Trägheit und „teilweise echtes Schädlingstum" in der Warenverteilungsstruktur und für billiges Gemüse kämpfe. Brief Jaroslavskijs an Ordzonikidze, 17.9.1930. F.85, op.27, d.267, 1.1—2ob. Diese Aussage Jaroslavskijs ist vermutlich eine Reaktion auf eine von Stalin initiierte Jagd auf Fachleute aus der Lebensmittelindustrie, in deren Folge 48 Fachleute aus der Fleischindustrie nach einem Geheimprozess hingerichtet wurden.

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III. Aufstieg in der Stalin-Fraktion

Es sollte sich aber bald zeigen, dass Stalin und Jaroslavskij unterschiedliche Vorstellungen darüber hatten, wie eine „richtige Kritik" und eine Partizipation „von unten" aussehen sollten, und dass Jaroslavskij aus der Perspektive Stalins über das Ziel hinausschoss. Während Jaroslavskij gegen Ende der 1920er Jahre glaubte, die Interessen der Arbeiter und einfachen Parteimitglieder zu vertreten und für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu kämpfen, und gleichsam davon überzeugt war, sich durch seine Dienste in den Auseinandersetzungen mit der innerparteilichen Opposition einen festen Platz in der stalinschen Führungsriege sowie die damit verbundenen Rechte erworben zu haben, veränderte Stalin gemeinsam mit seinen engsten Mitarbeitern die Spielregeln: Zu Beginn der 1930er Jahre sollten nicht nur „Schädlinge" in der Industrie und unverbesserliche Oppositionelle an den Pranger gestellt und zur „Kritik von unten" freigegeben werden, sondern auch der loyale Stalin-Anhänger und enthusiastische Verfechter einer solchen populistischen Politik Jaroslavskij.

Stalin rügte in diesem Zusammenhang die Trägheit der Presse, die nichts über die „Schädlinge" berichte: Am 13. September schrieb er an Molotov: „Wjatscheslaw! 1) ALLE Aussagen der Schädlinge bei der Versorgung von Fleisch, Fisch, Konserven und Gemüse müssen unverzüglich VERÖFFENTLICHT werden. Warum legen wir sie aufs Eis, wozu die Geheimniskrämerei? Man sollte sie zusammen mit der Mitteilung veröffentlichen, daß das Zentrale Exekutivkomitee oder der Rat der Volkskommissare den Fall an das Kollegium der OGPU zur Untersuchung übergeben hat (das ist bei uns so etwas wie ein Tribunal). Eine Woche später muß dann die Bekanntmachung der OGPU erfolgen, daß ALLE diese Kanaillen erschossen worden sind. Sie müssen alle erschossen werden." Abgedruckt in: Stalin. Briefe an Molotow, S. 231.

IV. Ideologieproduktion als politische Praxis und Spiegel von Vorstellungen 1. Funktionen von Geschichtsschreibung Wie gezeigt wurde, konnte Jaroslavskij sein zu Beginn der 1920er Jahre so vehement formuliertes Anliegen, eine leitende Funktion im Bereich der Agitation und Propaganda zu übernehmen, erfolgreich umsetzen und seinen Einfluss im Bereich der Ideologieproduktion parallel zu seinem Aufstieg in und mit der Stalin-Fraktion in den 1920er Jahren kontinuierlich ausdehnen. Eine wichtige Bedeutung hatte dabei sowohl für Jaroslavskij selbst als auch für das Legitimationsbedürfhis der Stalin-Fraktion die Parteigeschichtsschreibung. Jaroslavskij war eines der Mitglieder der bolschewistischen Führung, die, ohne über eine wissenschaftliche Ausbildung zu verfugen, eng in das akademische Feld der Historiker einbezogen waren. Auf den ersten Blick erscheint dieser Tätigkeitsbereich, vergleicht man ihn mit seiner hervorgehobener Stellung im Zentralapparat der Partei, zwar politisch weniger relevant. Doch konnte er gerade als Historiker und als Akteur im akademischen Milieu, auf lange Dauer betrachtet, einen erheblichen Einfluss ausüben, während seine im engeren Sinne politische Karriere schnell in Vergessenheit geriet. Jaroslavskij schrieb neben seinen administrativen und kontrollierenden Funktionen in den neuentstehenden akademischen Institutionen unzählige kleinere Artikel, Aufsätze und Broschüren, die sich im weitesten Sinne mit der Geschichte der bolschewistischen Partei und der russischen revolutionären Bewegung beschäftigten, sowie mehrere Lehrbücher über Parteigeschichte. Jaroslavskij s populäre Lehrwerke, insbesondere der berüchtigte „Kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU" (Kratkij kurs), an dessen Zustandekommen er maßgeblich beteiligt war und der zu dem ideologischen Werk des Stalinismus werden sollte, prägten noch weit über seinen Tod hinaus das offizielle Geschichtsbild der Sowjetunion. Desweiteren betätigte er sich als Biograph Lenins und Stalins und war einer der sichtbarsten Begründer des Stalinkults. Jaroslavskij s Aktivitäten sowohl im Zentralapparat der Partei als auch im akademischen Milieu sind symptomatisch fur die enge Verflechtung der politischen Sphäre mit dem Bereich der Wissenschaft in der Sowjetunion, das gilt insbesondere für die Geschichtswissenschaft. Die politische Bedeutung von Geschichtsschreibung und der mit ihr beschäftigten Institutionen lässt sich anhand der Tatsache illustrieren, dass das Politbüro, schon in den 1920er Jahren, aber in den 1930er Jahren zunehmend, über die Zusammensetzungen der Redaktionen geschichtswissenschaftlicher Zeitschriften, der Institutionen und selbst über die Ernennung der Autoren und Autorenkollektive von

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Geschichtsbüchern in letzter Instanz entschied und somit die Ideologieproduktion mehr und mehr kontrollierte. „Geschichte" und ihr vermeintlich gesetzmäßiger Verlauf war das zentrale Deutungs- und Legitimationsinstrument bolschewistischer Herrschaft. Die Parteigeschichte hatte aber nicht nur die Funktion, den bolschewistischen Herrschaftsanspruch nach außen zu vermitteln und als legitim erscheinen zu lassen, sondern auch eine erhebliche Bedeutung für die Ideologieproduzenten selbst. Bisherige Forschungen zu Subjektivität in der Vorkriegssowjetunion haben ihren Schwerpunkt auf die Wirkung von Ideologie auf die Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen und die kulturelle Funktion von Ideologie gelegt.' Im Folgenden möchten wir einen Perspektivwechsel vornehmen und am Beispiel der Parteigeschichtsschreibung nach der Bedeutung von Ideologie für die Ideologieproduzenten fragen. Es soll zum einen darum gehen, am Beispiel Jaroslavskijs die Entstehungsprozesse sowie die subjektiven Bezüge in der Ideologieproduktion herauszuarbeiten und die „Autoren", ihre Intentionen sowie die Grundmuster ihres Denkens und Handelns wieder einzubringen. Desweiteren soll gezeigt werden, wie durch die Interaktion der bolschewistischen Historiker und Parteifunktionäre, die mit der Geschichte der Partei und der revolutionären Bewegung befasst waren, also durch spezifische politische Praktiken, teilweise unintendierte MachtefFekte entstanden. Dabei wird zu zeigen sein, dass die sowjetische Historiographie in den 1920er Jahren keine monolithische, zentral gesteuerte Metaerzählung war, obgleich Stalin und seine engeren Mitarbeiter die Geschichtsschreibung und in besonderem Maße die Parteigeschichte immer stärker kontrollierten. Im Gegenteil wurde in den 1920er Jahren noch engagiert über die Geschichte der Partei und der russischen revolutionären Bewegung gestritten. a. Geschichtsschreibung als politisches Instrument: Konstruktion des Leninismus Über Jaroslavskijs erste Schritte als Parteihistoriker erfahren wir erst aus verschiedenen Dokumenten aus dem Jahr 1931, einer Zeit also, als er schon im Kreuzfeuer stand und in der er sich gegen massive Angriffe besonders jüngerer Historiker zur Wehr setzen musste. Dementsprechend defensiv fallen auch seine Darstellungen über den Beginn seiner Historikerkarriere aus. Demnach hatte Jaroslavskij 1924 vom ZK den Auftrag erhalten, einen Lehrgang über Parteigeschichte für Parteiarbeiter zu leiten. Das ZK habe ihn desweiteren beauftragt, ein geeignetes populäres Lehrwerk zu verfassen. Aus den Vorlesungen während des Lehrgangs sei das Projekt des zweibändigen

1

Kotkin: Magnetic Mountain; ders:. Self-Realization in the Stalinist System; Halfm: Student Communist Autobiography; ders.: Class, Consciousness, and Salvation; Schattenberg: Stalins Ingenieure.

1. Funktionen von Geschichtsschreibung

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Kratkij ucebnik entstanden,2 das er „von Anfang bis Ende selbst geschrieben" habe und das in 14 Sprachen übersetzt worden sei. Parallel dazu habe er aus eigener Initiative eine Gruppe junger Historiker um sich versammelt, insgesamt ca. 30 Personen, um eine fünfbändige Parteigeschichte zu erarbeiten.3 Über den Kontext von Jaroslavskijs parteigeschichtlichem Engagement erfahren wir aus diesen Dokumenten nichts. Jaroslavskij spielte jedoch eine wesentlich aktivere Rolle, als es in seiner defensiven Selbstbeschreibung erscheint. Der Beginn seiner Tätigkeit als Parteihistoriker stand in engem Zusammenhang mit der festen Verankerung der Parteigeschichte als verpflichtendes Fach im Curriculum der Höheren Schulen, der sogenannten VUZy, infolge der Auseinandersetzungen der Mehrheitsfraktion des ZK (Stalin, Zinov'ev, Kamenev) mit den Anhängern Trotzkijs im Winter 1923/24.4 Obwohl die Mehrheitsfraktion des ZK den Machtkampf zu Beginn des Jahres 1924 für sich entscheiden konnte, wurde doch deutlich, dass Trotzkij und seine Anhänger unter jüngeren Parteimitgliedern und insbesondere in den höheren Bildungseinrichtungen der Partei über einen überdurchschnittlich starken Rückhalt verfügten. Etwa ein Drittel der Moskauer studentischen Parteizellen hatte offen für die Plattform der Opposition und gegen das ZK votiert.5 Die Etablierung der Parteigeschichte als eigenständige Disziplin war aufs engste mit dem Bedürfnis der Mehrheitsfraktion des ZK verknüpft, diskreditierende Fakten aus Trotzkijs Biographie zu „enthüllen" und die Parteigeschichte entsprechend ihrer Fraktionsinteressen zu instrumentalisieren und zu monopolisieren. In diesem Sinne verabschiedete die 13. Parteikonferenz im Januar 1924 die Resolution „Über die Ergebnisse der Diskussion und über kleinbürgerliche Abweichungen in der Partei", in der die Forderung formuliert wurde, „(...) das Studium der Geschichte der Kommunistischen Partei auf die notwendige Höhe zu erheben; das gilt insbesondere fur die Tatsachen des Kampfs zwischen Bolschewismus und Menschewismus, für die Rolle unterschiedlicher Fraktionen und Richtungen während

2 Gemeint ist hier das Lehrbuch Kratkie ocerki po istorii VKP(b), das 1926 erstmals veröffentlicht und in unterschiedlichen Varianten und unter unterschiedlichen Titeln bis in die 1930er Jahre immer wieder aufgelegt wurde. 3 Schreiben Jaroslavskijs an das Sekretariat des ZK und das Präsidium der ZKK, Stalin, Kaganovic, Postysev und Andreev, vom 25.6.1931. F.89, op.12, d.2,1.193-200, hier 1.195196. Die mehrbändige, von Jaroslavskij herausgegebene Parteigeschichte wurde zunächst auf fünf Bände konzipiert. Zwischen 1926 und 1931 erschienen vier Bände. 1931 wurde das Erscheinen eingestellt. Istorija VKP(b). Ucebnoe posobie dlja vuzov, komvuzov i sovpartskol, pod obscej redakciej Em. Jaroslavskogo, Moskau 1926-1930. Der erste Band erschien 1926, der dritte und vierte 1929, der zweite Band erschien 1930. 4 Zum Zusammenhang zwischen den Diskussionen 1923/24 mit der Etablierung der Parteigeschichte in den VUZy siehe: Fitzpatrick: Education, S. 73-75. Meine Ausführungen hierzu stützen sich im Wesentlichen auf die Darstellung Fitzpatricks. Zur Einführung der Parteigeschichte an den höheren Bildungseinrichtungen siehe auch: Na podchodach k „Kratkomu kursu", in: Sovetskie archivy, 1990, H.4, S. 79-80. 5 Hincks, Darron: Support for the Opposition in Moscow in the Party Discussion of 192324, in: Soviet Studies 44 (1992), S. 137-151, hier S. 141.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

dieses Kampfs und insbesondere für die Rolle deijenigen unkohärenten Fraktionen, die versucht haben, Bolschewisten und Menschewisten zu versöhnen. Das Zentralkomitee muss eine Reihe von Maßnahmen ergreifen, um die Verbreitung von Lehrbüchern über die Geschichte der Allrussischen Kommunistischen Partei zu erleichtern und um das Studium ihrer Geschichte in allen Parteischulen, VUZy, politischen Zirkeln u.s.w. verpflichtend einzuführen."6

Ein gemeinsamer Rundbrief der ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda und der Narkompros-Abteilung für politische Bildung konkretisierte diese Forderungen dahingehend, dass insbesondere Lenins Schriften genutzt werden sollten, „um die intellektuellen Grundlagen des Trotzkismus offenzulegen."7 Einzelne Versuche, mit der Erfindung einer neuen Herrschaftsdoktrin des „Leninismus" das von der Parteiführung nach dem Ausscheiden Lenins aus der aktiven Politik empfundene Autoritätsdefizit zu kompensieren und damit die Einheit sowie die Integrationskraft der Partei zu gewährleisten, hatte es schon seit Anfang des Jahres 1923 gegeben. Seit Beginn der Auseinandersetzungen mit der sogenannten Linken Opposition und deren Führer Trotzkij im Herbst 1923 hatte die Mehrheitsfraktion des ZK die Praxis etabliert, den „Leninismus" gegen ihre politischen Gegner zu instrumentalisieren, um so den eigenen Herrschafts- und Deutungsanspruch durchzusetzen. Trotzkij s „Abweichungen" wurden von den Wortführern der ZK-Mehrheit als logische Folge seiner menschewistischen Vergangenheit und seiner früheren Auseinandersetzungen mit Lenin konstruiert.8 Die Triumvirn und ihre Anhänger, zu denen auch Jaroslavskij gehörte, hingegen präsentierten sich als die wahren „Schüler Lenins", als Hüter des Bolschewismus. Der auf diese Weise gebildete Begriff des Bolschewismus meinte weniger Lenins theoretischen und politischen Nachlass als die mythische Identität von Lenin und der „alten Garde"; er war eine Konstruktion, mit der die Heterogenität des Bolschewismus auf der Ebene der Repräsentation aufgelöst wurde. Der „Leninismus" hatte also nicht lediglich die Funktion einer „Lehre" mit bestimmten Inhalten, er wurde besonders in Krisenzeiten zum Überwachungsinstrument, an dem sich die ungebrochene Loyalität der führenden Bolschewisten zu Lenin erweisen musste.9 Stalin spielte eine zentrale Rolle bei der Einführung des „Leninismus": Schon zwei Monate nach Lenins Tod hielt er an der Sverdlov-Universität in Moskau eine Vorlesung über „Die Grundlagen des Leninismus", die zwischen dem 26. April und dem 18. Mai 1924 in der Pravda veröffentlicht wurde.10 6

Pravda, 19.1.1924, S. 5. Zitiert nach Fitzpatrick·. Education, S. 74. Ebenda. 8 Trotzkij hatte bis 1917 zwischen den Fraktionen der RSDRP geschwankt und sich in diesem Zusammenhang 1904 von Lenin distanziert. Bei seiner Rückkehr nach Russland im Mai 1917 schloss sich Trotzkij den Bolschewisten an. Der 6. Parteitag im Sommer 1917 beschloss seine formale Aufnahme in die Partei. Zu Trotzkijs Auseinandersetzungen mit Lenin siehe: Deutscher: Trotsky, 1879-1921. 9 Ennker: Anfange des Leninkults, S. 59-66. 10 Abgedruckt in: Stalin, I.V.: Socinenija, Bd. 6, Moskau 1953, S. 69-188. 7

1. Funktionen von Geschichtsschreibung

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Im Studienjahr 1924/25 fanden Seminare über „Leninismus" an der Moskauer Universität statt. Im Januar 1925 wies das Sekretariat des ZK schließlich alle „größeren pädagogischen und sozialwissenschaftlichen VUZy" an, Lehrstühle für Parteigeschichte und „Leninismus" einzurichten." Der „Leninismus" bildete die Klammer, mit der die „Lehren Lenins" mit einer spezifischen Konstruktion der Parteigeschichte verbunden wurde. Jaroslavskij war sowohl auf der Ebene der praktischen als auch auf der der symbolischen Politik innerhalb dieses Kontexts aktiv. Durch seine fuhrende Stellung in der ZKK war er mit der Untersuchung des gegen die ZK-Mehrheit gerichteten Wirkens Trotzkijs und seiner Anhänger sowie mit der Beobachtung von ZK-feindlichen Stimmungen in der Partei befasst. In diesem Zusammenhang nahm er 1924 an den Sitzungen der semerka, der erwähnten geheimen, gegen Trotzkij gerichteten Fraktion teil. Als Vertreter der ZKK gehörte er zudem zu den Mitgliedern einer speziellen Kommission des Politbüros, die sich mit der „innerparteilichen Lage" auseinanderzusetzen hatte.12 Diese Tätigkeiten und die damit verbundenen Erfahrungen stärkten Jaroslavskij s Zugehörigkeitsgefühl zu den Triumvirn und ihren Anhängern. Jaroslavskij war von der Angemessenheit der Politik der Mehrheitsfraktion überzeugt. Er sah seine latente Antipathie gegen Trotzkij durch dessen Verhalten bestätigt, welches aus Jaroslavskij s Perspektive in höchstem Maße den Herrschaftsanspruch des ZK gefährdete. Trotzkij hatte in der zweiten Hälfte des Jahres 1923 mehrfach die Organisationspolitik der Partei kritisiert. Er bemängelte insbesondere die Machtkonzentration im Sekretariat des ZK, die durch die Praxis der zentralen Ämterverteilung begünstigt werde.13 Für viele Altbolschewisten, die in Moskau zentrale Funktionen ausübten, war die Praxis der zentralen Ämterverteilung attraktiv, da ihnen hierdurch gewährleistet schien, dass die Partei auch in den einzelnen Regionen die Politik betrieb, die sie für die richtige hielten. Auch Trotzkij störte sich nicht an der Tatsache, dass die lokalen Parteiorganisationen angehalten wurden, zentrale Direktiven auszuführen, sondern vielmehr daran, dass die durch das ZK-Sekretariat zusammengesetzten lokalen Parteiorganisationen die Delegierten wählten, die auf dem Parteitag über die Zusammensetzung des ZK abstimmten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Schreiben Jaroslavskijs an die Mitglieder des Politbüros und der ZKK vom 11. Dezember 1923, in dem er von der Stimmung auf einigen Parteiversammlungen berichtet, die er sowohl während einer Inspektionsreise im Donbass-Gebiet als auch in Moskau besucht hatte. Einige Redner hätten, angestachelt durch Trotzkijs Verlautbarungen, die Wählbarkeit der Ämter - im Gegensatz zur vom Sekretariat des 11

Fitzpatrick'. Education, S. 74. '2 Protokoll No. 46, Sitzung des PB vom 15.11.1923. F.17, op.3, d.394,1.4. 13 Zu Trotzkijs Positionen siehe: Pis'mo L.D. Trockogo clenam CK i CKK RKP(b) ot 8 oktabija 1923, in: Izvestija CK KPSS, 1990, H. 5, S. 165-173; Pis'mo L.D. Trockogo ν Prezidium CKK i Politbjuro CK RKP(b) ot 19 oktjabija 1923, in: Izvestija CK KPSS, 1990, H. 7, S. 174-175.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

ZK und dem Orgbüro gesteuerten zentralistischen Ämterverteilung - auch für die Armee gefordert und versucht, die jüngeren Kommunisten gegen „die alte Garde", d.h. die Mehrheitsfraktion des ZK zu mobilisieren.14 In Jaroslavskijs Schreiben wird deutlich, dass er den Herrschaftsanspruch der „alten Garde" nach Lenins krankheitsbedingtem Ausscheiden aus der aktiven Politik durch Forderungen nach mehr innerparteilicher Demokratie gefährdet sah. Jaroslavskij hatte als Sekretär des Sibirischen Regionalbüros schon die Erfahrung gemacht, dass die Kontrolle über die regionalen Parteiorganisationen durch das ZK nicht ohne Weiteres durchzusetzen war, und wurde auch danach immer wieder mit der Diskrepanz zwischen dem nominellen Herrschaftsanspruch der Mehrheitsfraktion und deren tatsächlicher Autorität in der Partei konfrontiert. Dieser so wahrgenommenen Diskrepanz versuchten die Vertreter der Mehrheitsfraktion sowohl durch direkte interventionistische Maßnahmen, d.h. durch „Überprüfungen" und „Säuberungen" des Parteiapparats, als auch durch ideologische Beeinflussung, insbesondere der Parteijugend, zu begegnen. An der Durchführung beiderlei Maßnahmen war Jaroslavskij beteiligt: Er gehörte neben Aron Sol'c und Matvej Skirjatov zu den Hauptverantwortlichen für die Organisation und Durchführung der 1924 stattfindenden „Säuberung der nichtproletarischen Reihen in der Partei". Direkt im Anschluss an die innerparteilichen Diskussionen hatte das Politbüro auf Antrag des Orgbüros am 20. März den Beschluss gefasst, eine „Überprüfung der nichtproletarischen" Mitglieder der Partei in den Parteizellen der staatlichen Verwaltung und an den VUZy durchzuführen. Als Ziel dieser Maßnahmen wurde die „Säuberung" der Partei von „korrupten" und „sozial-fremden Elementen" angegeben.15 Neuere Forschungsarbeiten zeigen, dass die „Überprüfung" den durch die zahlreiche Anhängerschaft Trotzkijs an den VUZy alarmierten Vertretern der ZK-Mehrheit auch dazu diente, Mitglieder und Sympathisanten der Linken Opposition aus der Partei auszuschließen. Obwohl dieses Ziel in offiziellen Verlautbarungen nicht genannt werden konnte, hatten auch schon einige Zeitgenossen diesen Verdacht geäußert. So hatte Evgenij Preobrazenskij, der ebenfalls eine Erklärung von Trotzkij-Sympathisanten, die sogenannte Erklärung der 46, unterzeichnet hatte, die „Säuberungen" in ei-

14 Schreiben Jaroslavskijs an die Mitglieder des Politbüros und der ZKK vom 11.12.1923. F.89, op.12, d.7, 1.10. Jaroslavskij war am 10.11.1923 aufgrund von Arbeiterunruhen im Donbass vom Politbüro als Vorsitzender einer ZK-Kommission mit einer Inspektionsreise beauftragt worden. F.17, op.3, d.391, 1.6-7. Jaroslavskij spielt in seinem Schreiben auf einen Artikel Trotzkijs an, der am 8. Dezember in der Pravda veröffentlicht worden war. In diesem Artikel hatte Trotzkij die Organisationspolitik der Partei und die Machtkonzentration im ZK-Sekretariat offen angegriffen. Sein Artikel löste starke Reaktionen in einigen Parteiorganisationen gegen die Organisationspolitik des ZK aus. Hough/Fainsod: How the Soviet Union is Governed, S. 132. 15 Protokoll No. 80, Sitzung des PB vom 20.3.1924. F.17, op.3, d.428, 1.5. Entsprechend einer offiziellen Quelle waren 1923/24 15,3 % der Studenten an höheren Bildungseinrichtungen Kinder von Arbeitern, 24,4 % Kinder von Bauern, 36,8 % Kinder von Angestellten und „anderen sozial fremden Elementen". Fitzpatrick·. Education, S. 97.

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nem Schreiben an Jaroslavskij vom 3. April 1924 als den Versuch einer Gruppe bezeichnet, die Mitglieder der Opposition aus der Partei zu entfernen. Jaroslavskij warf er explizit vor, dass sich dieser und andere Repräsentanten der ZKK, deren Kontrollfunktion gerade in deren Unabhängigkeit vom ZK bestehe, in bezug auf die aktuellen Säuberungen von einer Gruppe im ZK korrumpieren ließen.16 Die Auseinandersetzungen mit der Opposition waren nicht nur der Auslöser dafür, dass Jaroslavskij seine literarischen Ambitionen in die Tat umsetzen konnte; sie bestimmten und bestätigten auch seine Vorstellungen von Politik und Parteigeschichte: Fraktionskämpfe waren Jaroslavskij s zentrales Thema, sie erscheinen in seinen Texten als das zentrale Prinzip von Politik und historischer Entwicklung. Symptomatisch sind zunächst die Themen seiner im weitesten Sinne historiographischen Texten: Neben dem schon erwähnten, vom ZK in Auftrag gegebenen allgemeinen Lehrbuch über Parteigeschichte verfasste Jaroslavskij biographische Texte über Lenin, den er radikal idealisierte und dessen Identität mit den Mitgliedern der „alten Garde" - d.h. der jeweiligen Mehrheitsfraktion des ZK - er konstruierte17, und zahlreiche gegen Trotzkij gerichtete Kampfschriften, in denen er diesen zu einem „Anti-Lenin" machte.18 Durch die Gleichsetzung von Lenin, der als Kern bzw. als Substanz des Bolschewismus konzipiert wird, mit der jeweiligen ZK-Mehrheitsfraktion werden die Gegner und Kritiker dieser Mehrheitsfraktion in Jaroslavskij s Konstruktion automatisch zu Gegnern Lenins und zu Feinden der Arbeiterklasse. Jaroslavskijs Texte wurden zwar bewusst als politisches Instrument in den Fraktionskämpfen eingesetzt und entstanden in vielen Fällen 16 Schreiben Preobrazenskijs an Jaroslavskij vom 3.4.1924. F.89, op.12, d.7, 1.3. Zu den Säuberungen an den höheren Bildungseinrichtungen der Partei siehe: David-Fox: Revolution of the Mind, S. 151-160; Fox, Michael: Political Culture, Purges, and Proletarianization at the Institute of Red Professors, 1921-1929, in: Russian Review 52 (1993), S. 20-42, hier S. 31-33; Fitzpatrick: Education, S. 98. Die „Erklärung der 46" ist abgedruckt in: RKP(b). Vnutripartijnaja bor'ba, S. 180-186. 17 Jaroslavskij hatte schon 1917 und 1918 kürzere Texte über Lenin verfasst, darunter die Broschüre: Jaroslavskij, Em.: Velikij vozd' rabocej revoljucii Vladimir Il'ic Ul'janovLenin, Moskau 1918. Weitere biographische Texte erschienen nach Lenins Tod: Jaroslavskij, Em.: Vozd' rabocich i krest'jan, Leningrad 1924; ders:. íizn' i rabota V.l. Lenina. 23.4.1870-21.1.1924, Moskau 1924. Bis 1926 erschienen fünf Auflagen von „Zizn' i rabota V.l. Lenina". Jaroslavskij, E.M.: Biografija Lenina, Moskau 1934. Diese Leninbiographie wurde bis zu Jaroslavskijs Tod in überarbeiteter Form mehrfach wieder aufgelegt (1938, 1940, 1941, 1942). Hierzu siehe: Illerickaja, Natalija V.: Istoriko-partijnoe tvorcestvo E.M. Jaroslavskogo, avtoreferat kand. diss., Moskau 1980, S. 12, 15. 18 Jaroslavskijs gegen Trotzkij gerichtete Schriften: Jaroslavskij, Em.: Za poslednej certoj. Trockistskaja oppozicija posle VX s-ezda (sbornik statej), Moskau, Leningrad 1930; ders:. Protiv oppozicii. Sbornik statej, Moskau, Leningrad 1928; ders:. Novoe i staroe ν „novoj" oppozicii, Moskau 1927; ders:. Novaja oppozicija i Trockizm, Leningrad 1926. Die direkte gegenseitige Bedingtheit von Jaroslavskijs Textproduktion über Lenin und über Trotzkij ist auch sowjetischen Historikern aufgefallen, erfahrt allerdings eine positive Bewertung. Illerickaja: Istoriko-partijnoe tvorcestvo (1980), S. 12, 14, 22; dies: Razrabotka Em. Jaroslavskim biografii V.l. Lenina, in: Istorija i istoriki (1981), Moskau 1985, S. 165-184, hier S. 173, 177, 179.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

aufgrund von konkreten Aufträgen; sie erhielten aber zunehmend eine Qualität, die über diese unmittelbare Funktion hinausging. Der Dualismus zwischen Lenin und Trotzkij bildete zwar seit dem Erscheinen von Jaroslavskijs erstem Lehrbuch zur Parteigeschichte im Jahr 1926 die narrative Grundstruktur seiner historiographischen Texte. Allerdings spitzte er den „Kampf Trotzkij s gegen Lenin" im Laufe der 1920er und 1930er Jahre immer mehr zu und dehnte ihn auf immer größere Bereiche der Parteigeschichte aus. Während sich in der eben genannten ersten Auflage des Lehrbuchs von 1926 die Oppositionellen noch in konkreten Situationen irren, falsche Meinungen vertreten, nicht genügend bolschewistische Standhaftigkeit aufbringen, oder sich von ihren persönlichen Ambitionen leiten lassen, und Trotzkij sogar zuweilen noch als Genösse bezeichnet wird19, geraten dessen menschewistische Vergangenheit vor 1917 und seine Auseinandersetzungen mit Lenin in Jaroslavskijs späteren Texten parallel zu den weiteren Fraktionskämpfen in der bolschewistischen Partei zu einem substantiellen „Anti-Leninismus", zu einer substantiellen Figur der Spaltung, die keiner historischen, kausalen oder psychologischen Begründung bedarf. Trotzkij s Rolle bei der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 und im Bürgerkrieg wird von Jaroslavskij rückwirkend negiert.20 Die Bindung von Geschichtsschreibung an die Machtinteressen einer Gruppe bedingte Jaroslavskijs Konstruktion, in der die „Gegner Lenins" und Lenin, repräsentiert durch die „alte Garde", zu ahistorischen Abstraktionen gemacht werden, die miteinander ringen. Wie aus einem konkreten politischen Problem eine solche Abstraktion gemacht wird, soll an einem Beispiel erläutert werden: Da Trotzkij unter den Studenten der höheren Bildungseinrichtungen über einen besonders starken Rückhalt verfugte, sollten bei der „Säuberung", die 1924 durchgeführt wurde, vordringlich die „nicht-proletarischen Reihen" der Partei überprüft und „sozial fremde Elemente" ausgeschlossen werden. Im Zuge dieser „Säuberung" wurde explizit eine Verknüpfung zwischen der sozialen Herkunft einer Person und deren Bereitschaft zur politischen Abweichung hergestellt, die allerdings in der Praxis der Überprüfung in beide Richtungen realisiert werden konnte. Das bedeutet, dass nicht nur im Sinne einer materialistischen Argumentation aus der sozialen Herkunft eines Menschen bestimmte politische Ansichten hergeleitet werden konnten, sondern dass sich aus einer „politischen Abweichung" auch eine „fremde" soziale Herkunft deduzieren ließ. Diese Form der Verknüpfung findet sich nicht nur in der politischen Praxis der „Parteisäuberung", sondern in konzentrierter Form auch in Jaroslavskijs

19

Jaroslavskij, Em.: Kratkie ocerki po istorii VKP(b), 2 Bde., Moskau, Leningrad 1926. Z.B.: Jaroslavskij, Em: Bol'seviki ν Oktjabre, in: Proletarskaja revoljucija, 1927, no. 10, S. 26-90; ders.: Partija Bol'sevikov ν 1917, Moskau, Leningrad 1927; siehe auch: Illerickaja, N.V.: E.M. Jaroslavskij - istorik Velikogo Oktjabija, in: Istoriceskij opyt Velikogo Oktjabija. Κ 90-letiju akademika I.I. Minea, Moskau 1986, S. 314-322. 20

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historiographischen Texten, insbesondere im Typus des „Doppelzünglers", des dvurusnik, wieder. Jaroslavskij machte Trotzkij nämlich nicht nur zum Gegner Lenins, sondern auch zum Archetypen des dvurusnik, eines abstrakten sozialen Typus, dessen soziale Basis das Kleinbürgertum mit seiner ambivalenten Haltung zur Revolution darstellt: Der „Kleinbürger" zeichnet sich dadurch aus, dass er zwar vom Sozialismus beeinflussbar ist und in revolutionären Situationen auch durchaus als überzeugter Revolutionär auftreten kann, aber in Krisenzeiten nicht genügend Standhaftigkeit aufweist und daher zu Illoyalität und zum Verrat neigt. Diese Neigung ist dem dvurusnik auch unabhängig von böswilligen oder gutwilligen Intentionen substantiell eigen.21 Die Figur des dvurusnik spiegelt das ambivalente Bedürfnis, konkrete politische Probleme und Meinungsverschiedenheiten einerseits einer marxistischen Klassenanalyse zu unterziehen und andererseits auf eine archetypische Metapher zu reduzieren. Jaroslavskij s historiographische Methode entspricht weder der in der Geschichtswissenschaft üblichen Methoden der kausalen Analyse, noch der psychologischen Herleitung menschlichen Verhaltens. Konkrete Meinungsverschiedenheiten zwischen „echten" Menschen, ihre jeweiligen Beweggründe und konkrete politische Entscheidungsprozesse bleiben in Jaroslavskij s „Parteigeschichten" obskur. Vielmehr wird umgekehrt aus gesetzten Tatsachen nach politischen Opportunitätsgesichtspunkten ein Ursprung hergeleitet, auf den sich dann alle weiteren „Abweichungen" zurückführen lassen. Jaroslavskij (re)produziert in seinen Texten eine mythische Struktur, die aber mit soziologischen Kategorien aus der marxistischen Theorie auf der Ebene metaphorischer Zuordnungen gefüllt wird. Sinn entsteht so durch Verfahren, die man als poetische Verfahren bezeichnen könnte, nämlich durch die Konstruktion von ursprünglichen Gegensätzen und Identitäten ohne Berücksichtigung des auf der zeitlichen Achse angeordneten Verhältnisses von Ursache und Wirkung.22 Diese historiographischen Texte gleichen einer arithmetischen Übung: Durch die symmetrische Anordnung einzelner Geschehensmomente unterzieht Jaroslavskij die Parteigeschichte einer radikalen Ästhetisierung und konstruiert daraus ein Drama, in dem standhafte Bolschewisten im Auftrag der „proletarischen Massen" mit Verrätern und Saboteuren kämpfen.

21

Hierzu besonders: Jaroslavskij, Em: O dvurusnicestve voobsce i dvurusnikachtrockistach ν castnosti, in: ders:. Za poslednoj certoj, S. 48-65. Zum Typus des dvurusnik in Jaroslavskijs Parteigeschichten siehe: Enteen: Writing Party History, S. 331. 22 Der Linguist Roman Jakobson hat zwischen zwei Sprachfunktionen unterschieden: der poetischen Sprachfunktion und der referentiellen Sprachfunktion. Die referentielle Sprachfunktion lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand. Ihr Grundprinzip der Sinnkonstitution sind kausale und zeitliche Verknüpfungen auf der syntagmatischen Achse. Die poetische Sprachftinktion lenkt die Aufmerksamkeit auf die Sprache selbst. Ihr Grundprinzip ist die Herstellung von Äquivalenzen und Oppositionen auf der paradigmatischen Achse. Jakobson, Roman: Grundlagen der Sprache, Berlin 1960.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Jaroslavskijs Parteigeschichte entspricht aber ebenfalls nicht den Erfordernissen einer dialektischen Analyse von Klassenkonflikten, obgleich sie als solche ausgegeben wird. Die Oktoberrevolution erscheint als Ereignis jenseits von Raum und Zeit, als dessen unmittelbare Voraussetzung nicht in erster Linie Klassenkonflikte, sondern die Gründung der bolschewistischen Partei, also die Spaltung der RSDRP in eine bolschewistische und eine menschewistische Fraktion, ausgegeben wird.23 Der wichtigste Motor sozialen Wandels sind nicht die Konflikte gesellschaftlicher Klassen untereinander, sondern die Kämpfe in der Partei über die Deutung dieser Konflikte, d.h. der durch Lenin und Stalin repräsentierten „echten" Bolschewisten gegen Saboteure und Doppelzüngler. Die Partei überwindet ihre drohende Degeneration und erreicht eine höhere Entwicklungsstufe dadurch, dass sie diese „Elemente" erkennt und durch „Säuberung" aus ihren Reihen entfernt.24 Die Partei selbst erscheint insbesondere in Jaroslavskijs späteren Texten nicht so sehr als die Summe ihrer Mitglieder, sondern als ein organisches Ganzes oder als substantielles quasi sakrales Subjekt, das in einer tautologischen Konstruktion zugleich passiv und aktiv ist. Es sind nicht die einzelnen Mitglieder der Partei, die etwas fordern, sondern die Partei fordert von ihnen. Symptomatisch hierfür sind Allgemeinplätze wie „Was die Partei von einem Kommunisten fordert?" - so lautet der Titel einer pädagogischen Schrift Jaroslavskijs aus den 1930er Jahren.25 Ebenfalls sind es in den „Säuberungen" nicht die Mitglieder der Partei, die über andere Mitglieder richten; sondern die Partei als Körper richtet über ihre (Mit)Glieder. So ist beispielsweise in einem Artikel Jaroslavskijs aus dem Jahr 1928 zu lesen: „In der letzten Zeit hat die Partei mit der ihr eigenen gnadenlosen Gradlinigkeit einige Eiterherde im Körper des Partei- und Staatsorganismus aufgedeckt (.. ,)."26 Insgesamt spricht die auffällige Verwendung organischer Metaphern (Ursprungs-, Körper-, Krankheits- und Schmutzmetaphern) in Jaroslavskijs Texten über Geschichte dafür, dass er aus der Biologie stammende Evolutionstheorien auf historische Prozesse übertrug, d.h. Geschichte mit Natur gleichsetzte. Diese Evolutionstheorien und ihre Popularisierungen, u.a. die Theorien Darwins, die „monistische bzw. biologische Philosophie" von Ernst Haeckel, aber auch der Monismus Spinozas oder Goethes Transmutationstheorie, wurden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland weit rezipiert und sind auch von Jaroslavskij in den Moskauer und Petersburger

23

Siehe auch: Jaroslavskij: Bol'seviki ν Oktjabre (1927); ders.: Partija Bol'sevikov ν 1917(1927). 24 Enteen: Writing Party History, S. 332-333. 25 Jaroslavskij, Em.: Cego partija trebuet ot kommunista, Moskau, Leningrad 1935. 26 Jaroslavskij: Otkuda grozit opasnost' (1928), S. 1-6, hier S. 1. Jaroslavskijs Texte über die Beschaffenheit der Partei stimmen in einigen Punkten mit Stalins „organischer Theorie der Partei" überein. Hierzu siehe: Ree, Eric van: Stalin's Organic Theorie of the Party, in: Russian Review 52 (1993), S. 43-57.

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Gefangnissen gründlich durchgearbeitet worden.27 Sie bildeten neben anderen kulturellen Schablonen ein wichtiges Paradigma, in welches Jaroslavskij die einzelnen Geschehensmomente der Parteigeschichte einordnete. Alle diese im weitesten Sinne historiographischen Texte hatten schließlich die Funktion, die Gruppenidentität der Mehrheitsfraktion nach innen zu stärken, deren Herrschaftsanspruch zu legitimieren und die Parteimitglieder, insbesondere die offensichtlich wenig vertrauenswürdige Parteijugend, zu überzeugen. Jaroslavskij demonstrierte als Autor dieser Texte zudem die eigene Zugehörigkeit zur Mehrheitsfraktion in der Partei. b. Historiographie als Sinnproduktion und Spiegel von Jaroslavskijs Vorstellungen von Politik und Geschichte Jaroslavskijs historiographische Texte scheinen auf den ersten Blick durch eine primitive, utilitaristische Dialektik gekennzeichnet zu sein und können nach heutigen Maßstäben mit Fug und Recht als Meisterwerke der Geschichtsklitterung bezeichnet werden. Wie verhielt sich aber Jaroslavskij selbst zu seinen Texten? Waren sie für ihn lediglich ein politisches und didaktisches Instrument im Machtkampf, mit dem die einen ausgeschaltet und die anderen überzeugt oder eingeschüchtert werden sollten, sowie ein Vehikel des eigenen Aufstiegs, oder glaubte Jaroslavskij wirklich an das, was er schrieb? Wenn wir diese Fragen stellen, sind wir mit zwei grundlegenden, miteinander verwobenen methodischen Problemen konfrontiert, nämlich inwiefern Wahrnehmungsstrukturen durch Texte abgebildet werden und inwiefern die Intentionen historischer Akteure objektivierbar sind. Der Literaturwissenschaftler Michail Vajskopf hat in seiner interessanten Analyse von Stalins veröffentlichten Texten und Reden, in der er insbesondere das tropologische System, also die Verwendung von Metaphern und Metonymien, untersucht, mehr implizit als explizit zwei Annahmen formuliert: zum ersten, dass das tropologische System der Texte die Wahrnehmungs- und Denkstrukturen (oder das Unterbewusstsein?) Stalins abbildet, und zum zweiten, dass Stalin selbst und seine Weltanschauung lediglich das Produkt georgischer und russischer kultureller Schablonen gewesen ist. Vajskopf bedient sich dabei ebenso unausgesprochen der Glaubenssätze der Psychoanalyse sowie einer rigorosen, durch Foucault inspirierten Diskursanalyse. Er scheint davon überzeugt zu sein, dass kulturelle Paradigmen nicht nur in der Lage sind, Wahrnehmung zu strukturieren, sondern auf unvermittelte Weise politische Resultate zeitigen. Der Terror ist bei Vajskopf, um es etwas überspitzt zu formulieren, eine direkte Folge einer Kombination aus der „binären Struktur", die Lotman und Uspenskij als zentrales Merkmal der russisch-orthodoxen Kultur diagnostiziert haben, und der georgischen Mytho-

27

Zu Jaroslavskijs Lektüre siehe: S. 43, Fn. 33; S. 47.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

logie.28 Für Historiker sind Vajskopfs Darlegungen zwar interessant, bleiben aber letztlich unbefriedigend, weil ungeklärt bleibt, wie sich Vajskopf die Beziehung des „realen Menschen" Stalin zu seinen Texten und Reden eigentlich vorstellt. Hier soll die Auffassung vertreten werden, dass sowohl die Struktur als auch der Inhalt von Jaroslavskijs historiographischen Texten bedeutsam sind, dass diese Bedeutung aber nicht aus einer genuin sprachlichen Logik hergeleitet werden kann, sondern sich nur dann erschließen lässt, wenn man die entsprechenden Texte kontextualisiert und mit anderen Aussagen Jaroslavskijs, die in einem anderen Funktionszusammenhang stehen, in Beziehung setzt. Jaroslavskijs Texte sind das Produkt dreier Faktoren: einer als krisenhaft wahrgenommenen historischen Situation, von neugemachten politischen Erfahrungen und von langwirkenden kulturellen Paradigmen. Es soll an dieser Stelle noch einmal erwähnt werden, dass der Beginn der 1920er Jahre nicht nur durch eine verheerende, durch Arbeiter- und Bauernaufstände begleitete wirtschaftliche Krise gekennzeichnet war, sondern auch durch das Ausbleiben der von den Bolschewiki erhofften Revolution in Westeuropa. Zudem drohten die Krankheit und schließlich der Tod Lenins im Januar 1924 die innerparteilichen Konflikte außer Kontrolle geraten zu lassen. Diese Situation führte zu einer zunehmenden Delegitimierung des bolschewistischen Herrschaftsanspruchs.29 Es wurde desweiteren gezeigt, dass Jaroslavskij auch unabhängig vom Ausbruch des Konflikts zwischen Trotzkij, seinen Anhängern und den Triumvirn ein starkes Interesse an literarischer Arbeit und an der Geschichte der Revolution hatte und zudem ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis sowie eine Neigung zu Sinnstiftung zeigte. Mit seinen im weitesten Sinne parteigeschichtlichen Texten verfolgte er ein ehrgeizigeres Ziel, als lediglich ein politisches Instrument in einer konkreten Konfliktsituation zu bieten. Jaroslavskij machte es sich zur Aufgabe, dem Herrschafìtsbeginn der Bolschewiki, der in vielen Punkten unerwartet verlief und sich kaum in die den russischen Marxisten vertrauten Schemen einordnen ließ, einen historischen Sinn abzuringen. Die Abstraktionsleistungen, die er dabei in seinen Lehrbüchern zur Parteigeschichte im Laufe der 1920er Jahre erbrachte, mögen zwar aus heutiger Perspektive als Vulgärmarxismus und zynische Propaganda erscheinen, beim genaueren Hinsehen weisen diese Texte jedoch eine komplexe Struktur auf. Jaroslavskij verstand seine Texte selbst, wie er später in Briefen und in seinen persönlichen Aufzeichnungen vermerkte, als Ergebnis mühevoller und ernsthafter theoretischer Arbeit, das heißt als Abstraktion von 28

Vajskopf, Michail: Pisatel' Stalin, Moskau 2001. Zur Kritik an solchen rein textuellen Ansätzen siehe: Bourdieu·. Die autorisierte Sprache, in ders:. Ökonomie des sprachlichen Tauschs; für den russischen Kontext: Engelstein: Paradigms. 29 Siehe hierzu: Berezkina, O.S.: Problema legitimacii ν istorii kommunisticeskoj elity (1920-1930-e gg.), in: Politiceskie partii Rossii. Stranicy istorii, Moskau 2000, S. 140-165.

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einer komplexeren und häufig als chaotisch wahrgenommenen Wirklichkeit.30 Theoretische Arbeit bedeutete fiir ihn, die Wirklichkeit von allen Zufälligkeiten zu reinigen und so durch das Studium der historischen Ereignisse ihre Essenz herauszuarbeiten. In diesen Texten spiegeln sich, allerdings ebenfalls in Form von Abstraktionen, Jaroslavskijs Vorstellungen von Geschichte, Politik, von sozialen Beziehungen sowie von den Rollen, die einzelne Gruppen und Personen in der Geschichte spielen. Jaroslavskijs parteihistorische Texte lesen sich wie eine konzentrierte Variante des „antibürokratischen Szenarios", das er in dem schon zitierten Brief an Gor'kij so eindrücklich entfaltet hat3' und von dessen grundsätzlicher Angemessenheit er offensichtlich überzeugt war. Die Partei, bestehend aus unbeugsamen, heroischen Bolschewisten, kämpft im Auftrag der „Massen" gegen eine Phalanx von Karrieristen, Doppelzünglern und Saboteuren, deren feindselige Machenschaften vor den „Massen" enthüllt werden. Die „Massen", deren moralisches Urteilsvermögen, deren Wissen um das allgemeine Wohl und deren tiefe sozialistische Überzeugung als gegeben vorausgesetzt werden, haben in diesem Konstrukt die Funktion, die durch die Parteiführung vollzogenen „Enthüllungen" zu unterstützen und zu akklamieren. In diesem Kampf kristallisieren sich die „richtigen", d.h. die legitimen Parteiführer heraus und beweist sich die Legitimität bolschewistischer Herrschaft.32 Innerhalb dieses Szenarios finden sich wiederum ältere kulturelle Paradigmen wie das des heroischen Martyriums des Revolutionärs, seine Unbestechlichkeit und Reinheit sowie ein spezifisches Bild der „Masse" und der ihr eigenen moralischen Qualität, das an anderer Stelle als intellektuelle Projektion bezeichnet wurde. Auch wenn Jaroslavskij in der politischen Praxis über ein größeres Differenzierungsvermögen verfügte, gegenüber einigen Oppositionellen persönliche Sympathien, Verständnis oder Mitleid empfand, nicht selten Skrupel zeigte und sicherlich nicht an die Richtigkeit alle Details in seinen Texten glaubte, so zweifelte er doch offensichtlich nicht an der grundsätzlichen Gültigkeit des von ihm entworfenen Schemas. Einige seiner inoffiziellen Äußerungen aus den 1930er Jahren deuten daraufhin, dass er viele seiner parteihistorischen Konstruktionen als „Wirklichkeit" wahrnahm. So verkündet Jaroslavskij in Briefen sowie in seinen persönlichen Aufzeichnungen immer wieder die Auffassung, die Parteiführung mit Stalin an der Spitze sei aus den

30

Brief Jaroslavskijs an Ksenija und Sergej Kataev (ohne Datum, Oktober 1926). F.89, op.l, d. 138, 1.66-67; Brief Jaroslavskijs an Kirsanova vom 28.11.1931, F.89, op.l, d.102, 1.3-4ob. 31 Siehe: S. 144-147. 32 Besonders deutlich in: Jaroslavskij, Em.: Sire postavit' izucenie istorii partii, in: Istorik marksist, 1935, no. 41, S. 9-14.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

innerparteilichen Kämpfen historisch gewachsen, kämpfe für das Wohl der gesamten Menschheit und verfolge eine welthistorische Mission.33 Jaroslavskijs parteihistorische Texte mit ihrem emotionalen Pathos und ihrer mythischen Geschlossenheit verfügten zumindest in den oberen Etagen der bolschewistischen Partei über ein erhebliches Maß an Überzeugungskraft. Seine zweibändige Parteigeschichte wurde von 1926 bis in die 1930er Jahre hinein immer wieder in hoher Auflagenzahl gedruckt und, wie Jaroslavskij selbstzufrieden feststellte, in vierzehn Sprachen übersetzt. Die von ihm konzipierten Parteigeschichten hatten für die Bolschewiki in den 1920er Jahre vermutlich eine ähnliche soziale und psychologische Funktion wie die Personenkulte für die russische vonevolutionäre intelligencija. Diese Texte ermöglichten es vielen Bolschewisten zunächst, sich so zu sehen, wie sie sich sehen wollten. Das Bild von den Parteiführern als standhafte Revolutionäre, die für die Interessen der „Massen" kämpfen, diente in höchstem Maße der symbolischen Vergemeinschaftung, dem Bedürfnis nach Sinn und der Selbstvergewisserung einer Gruppe, deren Herrschaftsanspruch sonst jeglicher Legitimation entbehrte. Jaroslavskij und seine Genossen waren nicht nur rationale Akteure in einem politischen Machtkampf, sondern auch Überzeugungstäter. Die Parteigeschichte war ihnen eine psychologische Notwendigkeit, wollten sie sich nicht als zynischen und verbrecherischen Mafiaclan wahrnehmen, der lediglich aus einem sinnlosen Machtstreben heraus handelte und der durch einen Putsch die Macht an sich gerissen hatte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jaroslavskij erstens, begünstigt durch eine spezifische Sozialisation, vor dem Hintergrund einer als konflikthaft und bedrohlich wahrgenommenen Situation seine Parteigeschichte erst konstruierte und dabei bestimmte Verknüpfungen herstellte. Dieser Konstruktionsprozess ging zweitens mit einem Erkenntnisprozess einher. Erfahrung, politische Praxis und Geschichtsschreibung waren dabei aufs engste miteinander verwoben. Es wurde gezeigt, dass Jaroslavskijs Konflikte mit Trotzkij bis 1923 geringfügig waren. Es spricht einiges dafür, dass seine spätere auffallige Abneigung gegen Trotzkij, die von einigen Zeitgenossen als „zoologischer Hass" bezeichnet wurde34, auch ein Ergebnis der Verknüpfungen war, die er während des Schreibprozesses erst herstellte. Umgekehrt ließ sich aber auch das subjektive Gefühl der Antipathie und ein latentes Unrechtsbewusstsein mit Hilfe der Figur des dvurusnik, durch die Trotzkij zum Repräsentanten einer anderen Klasse gemacht wurde, auf eine theoretische Ebene überführen und damit objektivieren bzw. kompensieren. Jaroslavskijs historiographische Konstruktionen zeitigten Folgen, die sich seiner Kontrolle entzogen; sie wurden für ihn und andere wirkungsmächtig, indem sie einen Interpretationsrahmen für die weiteren parteiinternen Frakti33

So z.B. explizit in einem Entwurf eines Schreibens von Jaroslavskij an Ordjonikidze vom 3.12.1934. F.89, op.12, d.2,1.39ob. 34 Siehe: S. 111.

1. Funktionen von Geschichtsschreibung

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onskämpfe der 1920er und frühen 1930er Jahre bereitstellten. Möglicherweise sahen Jaroslavskij und andere diese Sicht bzw. Darstellung der Parteigeschichte gerade durch die Erfahrung der weiteren Fraktionskämpfe, die das Bedürfnis nach monolithischer Einheit der Partei noch verstärkten, bestätigt. Dieser Interpretationsrahmen war offensichtlich effektiv und für die Mehrheit in der Parteiführung überzeugend, denn Jaroslavskij s Geschichtskonstruktionen wurden, wie noch zu zeigen sein wird, nicht nur zum Grundmuster stalinistischer Historiographie, die ihren Ausdruck im „Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU" fand und noch bis in die 1980er Jahre ihre Schatten auf die sowjetischen Historiker werfen sollte,35 sondern erlangten für ihn und andere eine wesentlich existentiellere Bedeutung. Die archetypischen „Sündenfälle" der Rechten und Linken Abweichung sowie die Figur des dvurusnik, die Jaroslavskij in seinen Texten mitkonstruierte, dienten der Kategorisierung realen politischen Verhaltens. Dabei richteten sich die von Jaroslavskij und anderen geschaffenen Zuordnungen in der Zeit der sogenannten Kulturrevolution 1929 bis 1932 auch zunehmend gegen ihre Schöpfer; auch Jaroslavskij wurde zum Opfer der praktischen Umsetzung des Diskurses, den er selbst mitentworfen hatte.36 Das Grundmuster der dichotomischen Zuordnung wurde darüber hinaus konstitutiv für die Konstruktion der Anklagen in den Schauprozessen der Jahre 1936 bis 1938. c. Geschichtsschreibung als Ausdruck von Gruppenidentitäten: die Genealogie des Bolschewismus Drei Kernthemen durchziehen Jaroslavskij s im weitesten Sinne historiographische Arbeiten wie ein roter Faden: die Revolutionen von 1905 und 1917, die Geschichte der innerparteilichen Opposition und die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung vor 1917 und damit verbunden die Genealogie des Bolschewismus. Diese drei Themen werden in Jaroslavskijs historiographischen Konstruktionen immer wieder miteinander verflochten. Dennoch kann man sagen, dass der Beschäftigung mit diesen Schwerpunkten unterschiedliche Motivationen und Bedürfnisse zugrunde liegen. Während die Texte gegen die Opposition eng mit Jaroslavskijs Rolle in der Stalin-Fraktion verknüpft sind, hatte er an der Geschichte der russischen revolutionären Bewegung und der Revolutionen von 1905 und 1917 ein tiefgehendes persönliches Interesse, das, wie auch sein Engagement in den Traditionsgesellschaften, eng mit seiner Sozialisation zusammenhängt. Die Geschichte der revolu35

Die sowjetische Historikerin Natalja Illerickaja hält Jaroslavskij für den einflussreichsten Leninbiographen und bezeichnet Jaroslavskijs Schriften über Lenin als Muster der sowjetischen Leniniana. Die vom Marx-Engels-Lenin-Institut (IMEL) 1960 herausgegebene maßgebliche Leninbiographie orientiere sich wesentlich an den letzten Auflagen von Jaroslavskijs Leninbiographie. Illerickaja·. Istoriko-partijnoe tvorcestvo (1980), S. 15; dies.: Razrabotka, S. 182. Siehe: Kap. IV.5-10.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

tionären Bewegung von den Dekabristen bis zur Formierung der russischen Sozialdemokratie diente Jaroslavskij als Medium, mit dem er seine persönliche Aufstiegserfahrung in bolschewistische Sprache übersetzen und einem großen Lesepublikum mitteilen konnte. Die Bedeutung dieses Themas für Jaroslavskij lässt sich anhand einer Polemik illustrieren, die durch eine vernichtende Besprechung des 1926 erschienenen ersten Bands der von Jaroslavskij herausgegebenen und auf fünf Bände konzipierten Parteigeschichte ausgelöst wurde.37 In diesem ersten Band wird die Vorgeschichte des Bolschewismus behandelt. Der Autor der Besprechung, in deren wenig schmeichelhaftem Titel Jaroslavskij und seine Mitarbeiter als „Verbreiter von Analphabetismus und Unwissenheit" bezeichnet wurden, war Ter Vaganjan.38 Vaganjan war Anhänger Trotzkijs und als Mitgründer der philosophischen Zeitschrift Pod znamenem marksizma (Unter dem Banner des Marxismus) ein profilierter marxistischer Theoretiker.39 Jaroslavskij reagierte auf Vaganjans Provokation mit einer nicht minder scharfen Kritik an dessen Plechanovbiographie, die zwei Jahre zuvor erschienen war.40 Daraufhin veröffentlichte wiederum Vaganjan die polemische Schrift Cío polucaetsja, kogda obyvatel' roetsjα ν istorii (Was passiert, wenn ein Kleinbürger/Spießer in der Geschichte herumwühlt).41 Der inhaltliche Schwerpunkt der Auseinandersetzung zwischen Jaroslavskij und Vaganjan war die Bedeutung des narodnicestvo für den Bolschewismus. Bevor die Positionen Jaroslavskijs und Vaganjans vorgestellt werden, ist es notwendig, den historischen Gegenstand ihrer Auseinandersetzung in knapper Form zu erläutern: Der Begriff narodnicestvo bezeichnet die russische revolutionäre Bewegung in den 1870er Jahren, die von der radikalen intelligencija getragen wurde und die trotz ihrer Heterogenität das gemeinsame Ziel verfolgte, die bäuerliche Bevölkerung aufzuklären und gegen die Autokratie aufzuwiegeln. Uneinigkeit herrschte aber innerhalb der Bewegung schon seit den 1860er Jahren bezüglich der anzustrebenden revolutionären Taktik: Während einige Gruppen und Theoretiker eher auf Aufklärung und Bildung der Bevölkerung setzten, favorisierten andere den Aufbau einer konspirativen zentral gesteuerten Partei und die Desorganisation des autokratischen Staats

37 Jaroslavskij, EmJKramol 'nikov, G/£7-vov, Ή./Rimskij, O.: Istorija VKP(b). Ucebnoe posobie dlja vuzov, komvuzov i sovpartskol, torn 1, vyp. 1, pod obscej red. Em. Jaroslavskogo, Moskau 1926. 38 Vaganjan, V.: Sejateli bezgramotnosti i nevezestva, Moskau 1926. 39 Vaganjan (1893-1936) hatte noch 1917 am Moskauer Wirtschaftsinstitut, dem späteren Plechanov-Institut, studiert. Fitzpatrick: Education, S. 88. Er war Philosoph und Historiker, hatte aktiv an den Revolutionen von 1917 teilgenommen und im Bürgerkrieg gekämpft. Er wurde 1936 im Zuge des Prozesses gegen das „Trotzkistisch-Zinov'evsche Zentrum" zum Tode verurteilt und kurz daraufhingerichtet. Tucker: Stalin in Power, S. 211-212, 368-369. 40 Jaroslavskij, Em.: Otvet tov. Vaganjanu, in: Bol'sevik, 1926, no. 18, S. 80-102; Vaganjan, V.: GV. Plechanov: opyt charakteristiki social'no-politiceskich vozzrenii, Moskau 1924. 41 Vaganjan, V.: Cto polucaetsja, kogda obyvatel' roetsja ν istorii (Otvet t. E. Jaroslavskomu), Moskva 1926.

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durch Terrorakte. Die 1876 gegründete Partei Zemlja i volja (Land und Freiheit) hatte sich entlang dieser Konfliktlinien im Jahre 1879 in zwei Parteien gespalten: die Narodnaja volja (Volksfreiheit), die Konspiration und Terror für die effektivere revolutionäre Taktik hielt, und in die von Georgij Plechanov angeführte Partei des Cernyj peredel (Schwarze Umverteilung). Beide Parteien existierten zwar nur bis 1881, waren aber zentral für die bolschewistische Traditionsbildung. Die führenden Köpfe des Cernyj peredel, so auch Plechanov, wurden schon 1879 zur Emigration nach Westeuropa gezwungen. Hier gründeten sie die Gruppe Osvobozdenie truda (Befreiung der Arbeit), die in der Literatur allgemein als die erste russische marxistische Gruppe bezeichnet wird.42 Jaroslavskij und Vaganjan entwarfen zwei grundlegend unterschiedliche Genealogien des Bolschewismus, die eng mit ihrer jeweiligen politischen Sozialisation zusammenhängen. Der erste Band von Jaroslavskijs Parteigeschichte ist durch eine dualistische Argumentation gekennzeichnet: Er und seine Mitarbeiter betrachten innerhalb eines Argumentationsstrangs zunächst die Geschichte des narodnicestvo und vertreten die Auffassung, der Bolschewismus habe sich in der Tradition der russischen revolutionären Partei der Narodnaja volja entwickelt. Die in Russland operierenden Zirkel der Narodnaja volja seien auf unterschiedliche Weise und unabhängig von der durch Plechanov im Ausland gegründeten Gruppe Ozvobozdenie truda zum Marxismus gekommen. In einem zweiten Argumentationsstrang behandeln Jaroslavskij und seine Mitarbeiter die Art und Weise, wie Lenin und Plechanov das narodnicestvo beurteilt haben, und kommen zu dem Schluss, dass sich aus dieser Diskussion zwischen Plechanov und Lenin zwei Tendenzen innerhalb des russischen Marxismus herausgebildet hätten, die des Menschewismus und die des Bolschewismus. Plechanov habe die von Lenin anerkannte Rolle der russischen Bauern als Verbündete des Proletariats in der Revolution unterschätzt. In dieser plechanovschen Unterschätzung der Bauern lägen die „Wurzeln" {koren") des Menschewismus begründet. Jaroslavskij und seine Mitarbeiter konstruieren folglich zwei Traditionslinien: Eine Linie führt von der Narodnaja volja und ihrer Rezeption der marxistischen Theorie über Lenin zum Bolschewismus; die andere Linie führt über die Gruppe Cernyj peredel und Plechanov zum Menschewismus. Am Ende dieser zweiten Kette steht implizit - dieses Bild ergibt sich, wenn man andere Texte Jaroslavskijs über Parteigeschichte in die Betrachtung einbezieht - Trotzkij. Der „plechanovsche Sündenfall" in der Deutung des narodnicestvo wird in 42

Zur russischen revolutionären Bewegung siehe: Venturi: Roots of Revolution; Pipes, Richard: Narodnichestvo. A Semantic Inquiry, in: Slavic Review 23 (1964), S. 441-468; Wortman, R.: The Crisis of Russian Populism, Cambridge 1967; Kappeler. Charakteristik russischer Terroristen; Borcke, Astrid von: Gewalt und Terror im russischen Narodnicestvo. Die Partei Narodnaja Volja (1879-1883): Zur Entstehung und Typologie des politischen Terrors im Rußland des 19. Jh., Köln 1979; Geifman, Anna: Thou Shalt Kill: Revolutionary Terrorism in Russia, 1894-1917, Princeton 1995.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Jaroslavskijs Geschichtserzählung zum Ausgangspunkt und zur absoluten Essenz der menschewistischen Abweichung vom „Leninismus".43 Die Parteigeschichte entwickelte sich in dieser Konstruktion aus dem Gegensatz zwischen Lenin und Plechanov. Bemerkenswert ist auch hier, dass Jaroslavskij jegliche Chronologie missachtet. Der Hauptvorwurf an Plechanov lautet implizit auch schon für die 1890er Jahre, er habe den Sieg der Bolschewiki in der Oktoberrevolution nicht für möglich gehalten; diese Argumentation ist erstaunlich, denn zu diesem Zeitpunkt gab es weder eine bolschewistische Partei, noch war vorauszusehen, dass im Oktober 1917 ein Aufstand stattfinden sollte. Auch hier stoßen wir wieder auf das dominante sinnstiftende Verfahren in Jaroslavskijs Texten: Durch die häufige Verwendung von Keim-, Quellen- und Wurzelmetaphern (zarodys, istocnik, koren ') wird die referentielle Funktion der Sprache bzw. ihre Geschichtlichkeit geleugnet und Geschichte als Natur ausgegeben oder wahrgenommen. In diesen Metaphern verbindet sich Abstraktion mit einem apokalyptischen Determinismus. Ähnlichkeiten in politischen Ansichten sind in Jaroslavskijs Parteigeschichte nicht lediglich Analogien, sie werden auf die Idee des gemeinsamen Ursprungs zurückgeführt. In dieser kumulativen Kette der Abweichungen hat jede einzelne Abweichung am Ursprung bzw. an ihrer absoluten Essenz teil.44 Vaganjan entwirft eine andere, zwar „historischere", aber nicht minder interessengesteuerte Genealogie: Die revolutionäre Entwicklung des Bolschewismus sei, ausgehend von der Zemlja i volja, über die plechanovsche Abspaltung des Cernyj peredel und schließlich der Exilgruppe Ozvobozdenie truda zum Marxismus hin verlaufen; die Narodnaja volja spiele innerhalb der Entwicklung des revolutionären Denkens keine Rolle.45 Außerhalb der Ozvobozdenie truda sei keine der Gruppen, d.h. auch kein in Russland operierender Zirkel, selbständig ohne die Rezeption der Arbeiten Plechanovs zum Marxismus gelangt.46 Lenin und Plechanov bildeten in den 1890er Jahren keinen Gegensatz, sie hätten sich vielmehr gegenseitig in ihrem Denken beeinflusst.47 Anhand der Polemik Jaroslavskijs mit Vaganjan lassen sich zentrale Konfliktlinien in der bolschewistischen Partei aufzeigen: Zunächst repräsentieren 43

Lenin lehnte ebenso wie Plechanov die Ideologie des revolutionären narodnicestvo, die Idealisierung der obscina sowie den Glauben, man könne den Sozialismus auch ohne das kapitalistische Zwischenstadium erreichen, ab. Lenin betonte aber in stärkerem Maße als Plechanov die Bedeutung der revolutionären Praxis der Narodnaja volja für die Entwicklung des russischen Marxismus. Barber. Historians, S. 81. Plechanovs wichtigste Texte über das narodnicestvo sind Socializm i politiceskaja bor'ba (1883) und Nasi raznoglasija (1885). Zu Lenins Auseinandersetzung mit dem narodnicestvo siehe: Cto taime „druz'ja naroda " i kak oni vojujut protiv social-demokratov? (1894) und Cto delat' (1902). 44 Barthes: Mythen des Alltags, S. 131. 45 Vaganjan: Sejateli, S. 14. 46 Vaganjan: Sejateli, S. 19. 47 Vaganjan: Sejateli, S. 35.

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Vaganjan und Jaroslavskij zwei unterschiedliche Typen des Bolschewisten: Vaganjan waren wissenschaftliche Konventionen und komplexes theoretisches Denken aufgrund seiner Ausbildung bekannt. Jaroslavskij hatte sich seine Kenntnisse ohne die entsprechenden Bildungsvoraussetzungen im Selbststudium aneignen müssen. Die Konstruktion des „Leninismus" mag ihm auch deshalb entgegengekommen sein, da diese „Theorie" ihm eine Absicherung des eigenen Denkens durch Autoritäten ermöglichte und da er auf diese Weise seine Identität als Angehöriger der führenden Gruppe des ZK herstellen konnte. Jaroslavskij s sozialer Aufstieg und soziale Anerkennung waren in einem viel wesentlicheren Maße mit der bolschewistischen Partei und deren Autoritäten verknüpft, als das bei Revolutionären wie Trotzkij oder Vaganjan der Fall war. Symptomatisch für Vaganjans Haltung ist seine Plechanovbiographie, in der er Plechanov nicht lediglich mit der konventionellen Formel des „Vaters des russischen Marxismus" beschreibt, sondern ihn als die dominante Figur des russischen Marxismus sowie als den originellsten russischen marxistischen Denker und Philosophen darstellt.48 Damit verweist er Lenin auf die Rolle des begabten Schülers Plechanovs. Vaganjans Interpretation stellte so einen Affront gegen den von der Mehrheitsfraktion des ZK geförderten „Leninismus" dar. Vaganjan waren auch die „Denkfehler" Jaroslavskijs und seiner Mitarbeiter nicht entgangen: Er bezeichnet Jaroslavskijs Geschichtsdarstellung als mythisch, metaphysisch, subjektiv und emotional. Jaroslavskij sei nicht in der Lage, Fakten auf analytische Art zu Prozessen zu verknüpfen, vielmehr sei das Leitprinzip der Sinnproduktion die Verknüpfung von Fakten nach subjektiven bzw. utilitaristischen Gesichtspunkten. Ebenso seien der Umgang mit Quellen und das zwanghafte Zitieren von „Autoritäten" nicht durch die Kriterien wissenschaftlicher Analyse, sondern durch Erwägungen des persönlichen oder politischen Nutzens bestimmt. Jaroslavskij habe eine ahistorische, essentialistische Vorstellung von Konflikten.49 Bis hierhin kommt Vaganjan in seiner Demontage des ersten Bandes der Istorija VKP(b) zu einem ähnlichen Ergebnis wie unsere Analyse von Jaroslavskijs historiographischen Texten. Dabei beließ Vaganjan es aber nicht. Herausgefordert durch Jaroslavskijs scharfe Kritik an seiner Plechanovbiographie50, veröffentlichte Vaganjan die polemische Schrift Cto polucaetsja, kogda obyvatel ' roetsja ν istorii. Hier führt Vaganjan noch eine psycho-soziale Ebene in die Diskussion ein: Er bringt Jaroslavskijs vermeintliche Defizite mit dessen kleinbürgerlicher Herkunft, d.h. mit einem konkreten sozialen Typus in Verbindung, indem er diese Defizite als unabänderliche Eigenschaften des kleinbürgerlichen Denkens bezeichnet. Der Kleinbürger sei, so Vaganjan, nicht zum theoretischen und 48 49 50

Vaganjan: Plechanov. Vaganjan: Sejateli, S. 31-36. Jaroslavskij: Otvet tov. Vaganjanu (1926).

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

analytischen Denken fáhig, da die kleinbürgerliche Vorstellungswelt ausschließlich durch Nützlichkeitserwägungen bestimmt sei.51 Vaganjan wendet hier auf Jaroslavskij ein Verfahren an, das letzterer auf Trotzkij angewendet hatte. Zwar wurde Jaroslavskij (im Gegensatz zu Trotzkij) als Angehöriger der städtischen Randschichten tatsächlich in den Akten, die die zarische Geheimpolizei über ihn angelegt hatte, als mescanin (Kleinbürger) klassifiziert.52 Eingedenk dessen könnte man der Argumentation Vaganjans, der schließlich Marxist war, einige Berechtigung nicht absprechen. Jedoch ist die Verknüpfung zwischen sozialer Herkunft und einer bestimmten Vörstellungswelt auch bei Vaganjan ambivalent. Der Verlauf der Polemik spricht eher dafür, dass Vaganjan auch unabhängig von Jaroslavskijs sozialer Herkunft mit dem Schlagwort der obyvatel'scina seinen Gegner als Revolutionär, das heißt als legitimen Vertreter der Interessen des Proletariats, zu disqualifizieren beabsichtigte. Um die Relevanz der Auseinandersetzung zwischen Jaroslavskij und Vaganjan im Jahre 1926 zu erfassen, müssen drei Fäden miteinander verknüpft werden: die persönliche revolutionäre Erfahrung der Akteure, der zeitgenössische politische Kontext des Machtkampfs in der bolschwistischen Partei und die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung, des narodnicestvo. Denn auch wenn Vaganjans Charakterisierung von Jaroslavskijs Geschichtsdenken aus heutiger Sicht teilweise überzeugen mag, ging es auch ihm, ebenso wie Jaroslavskij, nicht vordringlich darum, bestimmte wissenschaftliche Kriterien zu verteidigen. Warum hatten diese aus heutiger Perspektive etwas abseitigen und kleinlich geführten Diskussionen - zumal in einer Zeit, in der es wahrlich dringendere Probleme zu lösen gab - eine solche Bedeutung für so hochrangige Bolschewisten wie Jaroslavskij oder Vaganjan? Zunächst ging es beiden darum, eine bestimmte Vorstellung vom „Revolutionär" durchzusetzen und ihre persönliche revolutionäre Erfahrung in der Parteigeschichte zu objektivieren. Jaroslavskij gehörte zu den älteren Bolschewisten, die in der innerrussischen Tradition des narodnicestvo sozialisiert worden waren. In seinen Erinnerungen betont er, dass er in Cita als junger Mann wie auch die gesamte marxistische Jugend in der Bajkal-Region in den politischen Zirkeln der narodniki zum ersten Mal mit dem Marxismus in Kontakt gekommen sei und dass dieser Kontakt bei ihm das Interesse an der revolutionären Theorie des Marxismus ausgelöst habe.53 Für Jaroslavskij und andere überwiegend in Russland sozialisierte Bolschewisten war es notwendig, ihr Verhältnis sowohl zum Marxismus als auch zu den russischen 51

Vaganjan: Obyvatel'. 52 Z.B.: GARF, f. 102, op.d-7, 1904, d.1278,1.7. 53 Jaroslavskij, Em.: Κ tridcatiletiju Sibirskogo sojuza RSDRP (1935), in: Sibirskij sojuz RSDRP, S. 3-8. Hier handelt es sich um ein überarbeitetes Stenogramm des Auftritts Jaroslavskijs auf einem gemeinsam von der Gesellschaft der Altbolschewisten und der Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes organisierten Erinnerungsabend.

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revolutionären Gruppen zu bestimmen. Dabei steckten diese bolschewistischen Historiker in dem Dilemma, dass sie sich einerseits als Marxisten von den politischen Theorien und Praktiken des narodnicestvo distanzieren mussten, andererseits aber aufgrund ihrer Sozialisation das Bedürfnis hatten, zumindest einen Teil der russischen revolutionären Tradition für sich zu beanspruchen.54 Der erste Band von Jaroslavskijs Parteigeschichte hatte desweiteren einen wichtigen Bezugspunkt in den Fraktionskämpfen der 1920er Jahre. Jaroslavskij und seine Mitarbeiter begannen ihre Arbeit im Frühjahr 1924, in einer Zeit also, als die Vertreter der ZK-Mehrheit versuchten, ihren Sieg über die sogenannte Trotzkistische Opposition durch die Konstruktion des „Leninismus" zu festigen. Der erste Band von Jaroslavskijs Parteigeschichte diente der genealogischen Herleitung des „Leninismus", als dessen Hüter sich die jeweilige Mehrheitsfraktion des ZK stilisierte. Für Jaroslavskij bedeutete das Schreiben einer solchen Parteigeschichte eine bewusste Selbstintegration in die ZK-Mehrheitsfraktion. Darüberhinaus konstruierten er und seine Mitarbeiter eine Identität zwischen der ZK-Mehrheitsfraktion und den Bolschewisten, die im revolutionären Untergrund im Russischen Reich sozialisiert worden waren. Jaroslavskijs Parteigeschichte diente aber nicht nur der symbolischen Vergemeinschaftung einer Gruppe im ZK, sondern legitimierte implizit auch deren politisches Programm. Die Profilierung der volkstümlichen und innerrussischen Traditionen des Bolschewismus stellte eine indirekte Rechtfertigung der NEP mit ihren Konzessionen an die bäuerliche Bevölkerung dar und bot eine Begründung für die „Theorie vom Sozialismus in einem Land", die Stalin seit Ende des Jahres 1924 Trotzkijs „Theorie der permanenten Revolution" entgegengestellt hatte.55 Gerade durch die Herstellung solcher Traditionslinien konnte trotz des Ausbleibens der von den russischen Kommunisten erhofften Revolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern 54 Allgemein zu den seit den 1890er Jahren geführten Diskussionen über die Bedeutung des narodnicestvo für den russischen Marxismus siehe: Barber. Historians, S. 80-99. Einen umfassenden, wenn auch etwas veralteten Überblick über die Diskussionen über die Genealogie des Bolschewismus bietet: Frankel·. Party Genealogy, S. 563-603. 55 Die Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 wurde durch die Hoffnung legitimiert, dass das Vorbild der Russischen Revolution die Revolution in entwickelten kapitalistischen Ländern auslösen würde. Diese Hoffnung der Revolutionäre erfüllte sich allerdings nicht. Stalin hatte im Vorwort zu seinem Buch Na put'jach k oktjabrju Trotzkijs „Theorie der permanenten Revolution" seine eigene Theorie vom „Sozialismus in einem Land" gegenübergestellt. Stalin argumentiert hier, dass der Sozialismus in der Sowjetunion auch ohne die Unterstützung von Revolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern aufgebaut werden könne. Trotzkij glaubte hingegen, dass man in der von der bäuerlichen Bevölkerung dominierten Sowjetunion auf diese Unterstützung angewiesen sei. Das eben erwähnte Vorwort Stalins wurde im Dezember 1924 fertiggestellt und im Januar 1925 veröffentlicht. Stalin, I.V.: Oktjabr'skaja revoljucija i taktika russkich kommunistov. Predislovie k knige „Na putjach k Oktjabiju", in: ders.: Socinenija, Bd. 6, Moskau 1953, S. 358-401.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

indirekt auch die Gültigkeit des Oktoberaufstands als sozialistische Revolution und somit der bolschewistische Herrschaftsanspruch legitimiert werden.56 1925 und 1926 war die politische Situation besonders angespannt; Zinov'ev und Kamenev stiegen 1925 aus dem Triumvirat mit Stalin aus, das bis dahin die ZK-Mehrheit für sich beansprucht hatte, und bildeten die sogenannte Linke Opposition, die sich 1926 mit Trotzkij zur sogenannten Vereinigten Opposition zusammenschloss. Die Auseinandersetzungen waren überwiegend machtpolitischer Art, entzündeten sich aber unter anderem an der sogenannten Bauernfrage.57 In diesem aktuellen politischen Kontext ist die Auseinandersetzung des Trotzkij-Anhängers Vaganjan mit Jaroslavskij zu sehen. Jaroslavskij war wie schon 1923/24 auch 1925/26 nicht nur als Ideologieproduzent tätig, sondern durch seine Stellung in der ZKK maßgeblich an der Ausschaltung der Opposition im Sinne der ZK-Mehrheitsfraktion beteiligt, die nun von Stalin und Bucharin dominiert wurde. Das, was vordergründig als parteihistorische Haarspalterei erscheinen mag, war in höchstem Maße mit politischen Bedeutungen aufgeladen. Die Parteigeschichte diente sowohl der eigenen politischen und sozialen Positionierung als auch auf einer grundsätzlichen Ebene der Legitimierung der bolschewistischen Herrschaft. Beide Ebenen bedingten sich gegenseitig: Die von Jaroslavskij konstruierte Genealogie, die den Bolschewismus als eine zwangsläufige und kohärente Entwicklung vom narodnicestvo zu Lenin und schließlich zur zunehmend durch Stalin dominierten ZK-Mehrheitsfraktion erscheinen lässt, ähnelt in ihren einzelnen Etappen in auffälliger Weise Jaroslavskijs persönlicher Aufstiegserfahrung. Diese Genealogie stellt den selbstbewussten Versuch dar, die persönliche revolutionäre Sozialisation im Rahmen der Parteigeschichte kohärent erscheinen zu lassen, um damit letztlich zu definieren, was der Bolschewismus sein sollte und wessen revolutionäre Erfahrungen in diesem Bolschewismus eingeschrieben werden sollten. Die Parteigeschichtsschreibung, so unpersönlich und spröde sie auf einen heutigen Leser auch wirken mag, war für Jaroslavskij in zweifacher Hinsicht eine Selbsttechnik58: Sie war eine Möglichkeit, über sich selbst zu schreiben,

56 Zur legitimatorischen Funktion der Theorie vom „Sozialismus in einem Land" siehe: Berezkina: Problema legitimacii, S. 155-157; zu Trotzkijs Deutungen der Oktoberrevolution und der stalinistischen Herrschaft siehe: McNeal: Trotskyist Interpretations. 57 Siehe hierzu: Wehner, Markus: Bauernpolitik im proletarischen Staat: die Bauernfrage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik, Köln 1998; Hough/Fainsod: How the Soviet Union ist Governed, S. 110-147; immer noch maßgeblich zu den innerparteilichen Auseinandersetzungen: Daniels·. Gewissen der Revolution. 58 Der Begriff der Selbsttechnik ist von Michel Foucault geprägt worden. Foucault meint damit Praktiken, durch die ein Subjekt sich konstituiert bzw. seine Identität konstruiert. Der Begriff scheint in diesem Zusammenhang geeignet, weil Foucault davon ausgeht, dass Menschen sich selbst Formen schaffen, mit denen sie ihre Erfahrungen ordnen und mit denen sie sich als Subjekt konstituieren. Für unser Anliegen ist es produktiv, die Parteigeschichtsschreibung - ebenso wie die Form der Revolutionärsautobiographie, die Memoiren und Nekrologe - als eine solche selbstgeschaffene Form zu begreifen. Hutton, Patrick H.:

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und diente sowohl der Objektivierung des Selbst in der Parteigeschichte als auch der Subjektivierung der Parteigeschichte. Vaganjan allerdings konnte sich 1926 mit seiner Auffassung der Genese des Bolschewismus kein Gehör mehr verschaffen; er wurde auf dem 15. Parteitag im Dezember 1927 als „Trotzkist" aus der Partei ausgeschlossen. d. Was ist Ideologie? In den bisherigen Ausführungen haben wir uns bemüht, den Zusammenhang zwischen sozialer und politischer Praxis, revolutionärer Erfahrung und den Inhalten sowie der tropologischen Struktur von Jaroslavskijs historiographischen Texten zu analysieren. Dabei wurde festgestellt, dass Jaroslavskij wie auch andere Historiker ihre Aufgabe darin sahen, die aktuelle Politik der Bolschewiki zu legitimieren, auch wenn sie sich aufgrund unterschiedlicher Gruppeninteressen und heterogener Sozialisation über die inhaltliche Ausgestaltung nicht einig waren. Muss nun daraus geschlossen werden, dass wir es bei den sowjetischen Historikern, in unserem Fall bei Jaroslavskij, mit zynischen Menschen zu tun haben, die bewusst versuchten, die einfachen Parteimitglieder über die „Realitäten" hinwegzutäuschen, um ihre eigene Herrschaftsposition zu erhalten? Diese Auffassung, die hier etwas überspitzt formuliert ist, wurde insbesondere in der westlichen, vom Totalitarismusmodell inspirierten Sowjetunionforschung vertreten, die sich das Thema Ideologie zum Gegenstand machte. Die Befürworter des Totalitarismusmodells definierten Ideologie in erster Linie als Herrschaftsinstrument, also in bezug auf die zu Beherrschenden. Sie gingen davon aus, dass Ideologie durch die Motivation produziert und aufrechterhalten wird, eine repressive Form von Macht zu unterstützen.59 Ideologie und Propaganda ähneln im Rahmen dieser Konzeption sowjetischer Geschichte einem Theaterstück, dessen Regisseure die Realität genau kennen und ihr Publikum in jeglicher Hinsicht bewusst manipulieren. In Abgrenzung zu einer solchen Sichtweise, die sicher in Teilen ihre Berechtigung hat, zielt unser Erkenntnisinteresse am Beispiel Jaroslavskijs auf das Problem der Subjektivität der Ideologieproduzenten 60 : Wie verstand Foucault, Freud und die Technologien des Selbst, in: Technologien des Selbst, hrsg. v. Luther H. Martin, Huck Gutman, Patrick H. Hutton, Frankfort a.M. 1993, S. 144-167. 59 Maßgeblich fur diese Sichtweise sind: Brzezinski, Zbigniew; Friedrich, Carl J.: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957; Brzezinski, Zbigniew: The Model of Totalitarianism, in: Daniels, Robert Vincent: The Stalin Revolution. Foundations of Soviet Totalitarianism, Lexington 1972, S. 198-213; neuerdings: Malia: Vollstrecker Wahn. 60 Es soll hier angemerkt werden, dass jüngere Autoren, deren Arbeiten in letzter Zeit unter Stalinismusforschem stark diskutiert werden, Ideologie wieder in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen. Sie verstehen Ideologie in Anlehnung an das Werk Michel Foucaults nicht als Konzept, sondern als Diskurs und untersuchen anhand von autobiographischen Texten, wie der ideologische Diskurs von den Menschen rezipiert wurde und wie dieser Diskurs die Subjekte konstituierte. Kotkin: Magnetic Mountain; Hellbeck. Fashioning the Stalinist Soul; ders.: Self-Realization in the Stalinist System; Halfin: Student Communist Autobiography; ders.: Class, Consciousness and Salvation; Schattenberg: Stalins Ingenieure.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Jaroslavskij seine Aufgabe als Parteihistoriker und Ideologieproduzent, und wie verstand er sich selbst als Parteihistoriker? Glaubte Jaroslavskij an seine historiographischen Konstruktionen, und auf welche Weise konnte er daran glauben? Zunächst setzt die Beantwortung dieser Fragen einen anderen Ideologiebegriff voraus, der aus dem Forschungsgegenstand selbst entwickelt werden muss. Da aber schon mit dem Ideologiebegriff operiert wird, soll Ideologie hier vorläufig als „Schnittpunkt von persönlichen Überzeugungen und politischer Macht" definiert werden.61 Wenn man von dem negativen Ideologiebegriff der Totalitarismustheoretiker ausgeht, erscheint es zunächst verwunderlich, dass Jaroslavskij die Ideologizität von Geschichtsschreibung sowohl in seiner internen Korrepondenz als auch in öffentlichen Aussagen mitnichten versuchte zu verdecken, sondern offenlegte. Von einer bewussten Täuschung der einfachen Parteimitglieder kann also nicht die Rede sein. So schrieb er während der Vorbereitungen auf den 25. Jahrestag der Revolution von 1905 an den Direktor des Lenin-Instituts und stellvertretenden Direktor des Istpart Maksimilian Savel'ev, das ZK habe an die Parteihistoriker die Richtlinie ausgegeben, das Jubiläum mit dem Moskauer Dezemberaufstand des Jahres 1905 (d.h. nicht mit den St. Petersburger Räten) zu verknüpfen, um den Parteimitgliedern die richtige politische Orientierung zu geben.62 Gegenüber einem Mitarbeiter des „Instituts fur den Fernunterricht der Massen" betonte Jaroslavskij die besondere Qualität seiner überarbeiteten Parteigeschichte, der als Quellenmaterial ausschließlich die Schriften Lenins und Stalins sowie die Entscheidungen des ZK zugrundelägen, also ausschließlich Direktiven und normative Aussagen, die nicht über das, was war, Auskunft geben, sondern über das, was hatte sein sollen.63 Den „Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU" bezeichnete Jaroslavskij in mehreren Artikeln und öffentlichen Vorträgen in den Jahren 1938 und 1939 explizit als „machtvolle ideelle Waffe des Bolschewismus" und eben nicht als objektive Abbildung der Realität. Auf einer Versammlung von Geschichtslehrern betonte Jaroslavskij, dass es besonders wichtig sei, die weltanschauliche Kohärenz im Denken Lenins und Stalins zu zeigen.64 Ge-

Jaroslavskij war zwar auch Ideologierezipient - dieses Problemfeld soll uns an anderer Stelle beschäftigen - aber im wesentlichen Ideologieproduzent. Daher sind diese Arbeiten in diesem konkreten Zusammenhang nicht sehr hilfreich. 61 Terry Eagleton macht darauf aufmerksam, dass es aufgrund des so umfangreichen und häufig widersprüchlichen Bedeutungsspektrums von Ideologie wenig hilfreich ist, den Begriff umfassend definieren zu wollen. Unser vorläufiger, zugegebenermaßen sehr offener und etwas vager Arbeitsbegriff stammt ebenfalls von Eagleton. Eagleton, Terry: Ideologie. Eine Einfuhrung, Stuttgart, Weimar 2000, S. 7-42, insbesondere S. 13. 62 Schreiben Jaroslavskijs an Savel'ev vom 27.10.1930. F.89, op.7, d.28, 1.1. Zur Bedeutung des Moskauer Dezemberaufstands in der Parteigeschichtsschreibung siehe: Kap. IV.3.b. 63 Schreiben Jaroslavskijs an V. Mozelev vom 20.12.1933. F.89, op.8, d.827,1.7. 64 Jaroslavskij, Em.: Stat'ja „Mogucee idejnoe oruzie bol'sevizma", 9.9.1939. F.89, op.8, d.805; Jaroslavskij, Em.: Vortrag auf der 2. Allunionsberatung der Leiter der Abteilungen

1. Funktionen von Geschichtsschreibung

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schichtsschreibung war für Jaroslavskij in aller Selbstverständlichkeit nicht nur eine Aufgabe empirischer Forschung, sondern vor allem eine Frage der Definition. Die „richtige" Definition ergibt sich aus der „richtigen" Deutung von historischen Wegmarken, d.h. der „richtigen" Verknüpfung aktueller und vergangener politischer Aufgaben mit bestimmten historischen Ereignissen. Die Direktiven aus der Vergangenheit sind in Jaroslavskij s Geschichtserzählungen identisch mit ihrer Verwirklichung in der vergangenen und in der aktuellen Realität. Der Historiographie wurde die Potenz zugeschrieben, der Geschichte selbst zum Sieg zu verhelfen, darin lag in der Vorstellung Jaroslavskij s die Wahrhaftigkeit von Geschichtsschreibung. Die Wahrheit der Idee ist in diesem Denken einer „empirischen Realität" vorgängig. Jaroslavskij und seine Historiker-Genossen nahmen auf diese Weise sowohl eine semiotische Umkehrung des empirizistischen Modells der Abbildung als auch eine Umkehrung des Marxschen Basis-Überbau-Modells vor: Die materiellen Bedingungen generieren in ihren Äußerungen nicht das Bewusstsein bzw. die sprachlichen Zeichen, sondern umgekehrt: das Bewusstsein bzw. die Sprache bringen die materielle Realität erst hervor. In Jaroslavskijs eben genannten Äußerungen über Geschichte und die Vermittlung von Geschichte lässt sich das Grundmuster der hegelschen idealistischen Philosophie und der ihr eigenen Dialektik wiedererkennen, in der die Idee (der Geist) sich selbst realisiert, indem sie ihre Bestimmung, d.h. sich selbst im Studium der historischen Ereignisse und Wegzeichen immer besser erkennt.65 Obwohl die Ideologizität von Geschichtsschreibung offengelegt wird, ist Ideologie für Jaroslavskij aber keine körperlose Idee, sondern spiegelt die Essenz der Realität, die durch beharrliche theoretische Arbeit gewonnen werden kann. Der Zeichencharakter der ideologischen Konstrukte wird auf diese Weise geleugnet und als höhere Form von Realität ausgegeben.66 Die zu Beginn dieses Abschnitts formulierte Frage, ob Jaroslavskij an die empirische Richtigkeit seiner historiographischen Konstruktionen glaubte, ist vielleicht nicht ganz richtig gestellt, da der Glauben an „eine realitätsgemäße Darstellung" auch einen anderen Bezugspunkt hatte. Hiermit soll nicht unterstellt werden, dass Jaroslavskij grundsätzlich nicht über die Fähigkeit verfügte, zwischen empirisch richtig und empirisch falsch zu unterscheiden. Vielmehr

für Marxismus-Leninismus über die Vermittlung der Parteigeschichte im Unterricht (nicht später als 1940). F.89, op.8, d.810,1.17. 65 Hegel, G.W.Fr.: Die Idee der Geschichte und ihre Verwirklichung, in: ders.\ Recht, Staat, Geschichte. Eine Auswahl aus seinen Werken, hrsg. v. Friedrich Bülow, Stuttgart 1955, S. 375-432. 66 Für Roland Barthes begründet sich die Ideologizität des Zeichens gerade darin, dass es die semiotische Arbeit, die es hervorgebracht hat, unterdrückt, d.h. den Zeichencharakter leugnet, und es den potentiellen Rezipienten ermöglicht, es als natürliche Identität wahrzunehmen. Barthes·. Mythen des Alltags, S. 131.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

existierten in seinem Denken zwei Ordnungen von Realität, eine empirische und eine essentielle. Ideologie, verstanden als Essenz von Realität, war für Jaroslavskij und die meisten anderen Bolschewiki der unmittelbare Ausdruck des Bewusstseins einer Klasse. Es wurde schon gezeigt, dass Jaroslavskij sich selbst und die bolschewistische Partei als Repräsentanten der „proletarischen Massen" verstehen wollte, während er Trotzkij zum Repräsentanten eines degenerierten Kleinbürgertums machte. Jaroslavskij maßte sich wie auch viele andere bolschewistische Theoretiker an, das Bewusstsein und die Bedürfhisse der „proletarischen Massen" aufgrund seines Einfühlungsvermögens und seiner vermeintlich höheren analytischen Fähigkeiten besser erfassen und artikulieren zu können als die „proletarischen Massen" selbst. Die Bolschewiki teilten zwar die Marxsche Überzeugung, dass alle Ideologien spezifisch für eine bestimmte Zeit, einen bestimmten Ort, eine bestimmte Gesellschaftsgruppe oder ökonomische Verhältnisse sind, und gingen wie Marx davon aus, dass Ideologien eine Illusion erzeugen, die die unterdrückten Subjekte davon abhält, die Mechanismen ihrer Unterdrückung zu verstehen.67 Sie nahmen sich selbst jedoch davon aus, da sie durch ihre Geschichtsanalyse davon überzeugt waren - und aus Interesse an ihrem Machterhalt, auch davon überzeugt sein mussten - , selbst am Ende dieser Kette zu stehen (also kurz vor der höchstentwickelten gesellschaftlichen Formation) und mit dem sogenannten Marxismus-Leninismus über ein absolut gültiges wissenschaftliches Werkzeug zu verfügen, um diese Vorgänge durchschauen und steuern zu können. Das „Verbot", sich offen mit anderen Ideologien auseinanderzusetzen, ist der Ideologie der Bolschewiki als eingebaute Sicherung inhärent, da alle anderen Ideologien als bewusste Täuschungen seitens einer antagonistischen herrschenden Klasse bzw. als Illusionen der Beherrschten interpretiert wurden. Die einzige Möglichkeit, sich vor Täuschungen und Illusionen zu schützen, war daher die Immunisierung dagegen, d.h. der unerschütterliche Glaube an die absolute Gültigkeit der eigenen Ideologie. Die bolschewistische Ideologie und somit die Parteigeschichtsschreibung wurde von Jaroslavskij und seinen Genossen mit dem „richtigen Bewusstsein" gleichgesetzt und als „ideelle Waffe" (idejnoe oruzie) wahrgenommen, die den weniger erleuchteten Parteimitgliedern als Orientierung dienen sollte. Wenn wir an dieser Stelle noch einmal den Ideologiebegriff der Anhänger des Totalitarismusmodells aufnehmen und diesen mit unserer Analyse verbinden, so können wir feststellen, dass sich die Legitimität des Herrschaftsanspruchs der Bolschewiki in einem historischen Kontext, in dem die internationalen und materiellen Voraussetzungen keinen Anlass zur Hoffnung auf eine baldige Durchsetzung des Kommunismus gaben, nur ideell begründen ließ. Clifford Geertz hat gezeigt, dass Ideologieproduktion und ideologische Kon-

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Zum Marxschen Ideologiebegriff siehe: Eagleton: Ideologie, S. 77-109.

1. Funktionen von Geschichtsschreibung

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trolle in unübersichtlichen politischen Situationen - in einer solchen befanden sich die Bolschewiki - notwendig werden, um „ansonsten unverständliche soziale Situationen bedeutungsvoll zu machen"68. Dennoch war die bolschewistische Ideologie für Jaroslavskij nicht nur ein Herrschaftsinstrument. Sie diente aus seiner Perspektive nicht der bewussten Täuschung der einfachen Parteimitglieder, sondern deren Bewusstmachung und deren Mobilisierung für die aus seiner Sicht legitimen, von der Parteiführung gesteckten Ziele.69 Jaroslavskij s revolutionäre Erfahrung, seine soziale Verankerung in der revolutionären Bewegung und der Partei sowie seine Interessen waren derartig eng mit der Ideologieproduktion verknüpft, dass Distanz dazu nicht möglich war. Er konstruierte eine Weltsicht, in der die Zukunft der Menschheit von der Verwirklichung des bolschewistischen Experiments abhängig war und sich selbst als Teil dieses Experiments. In einem Briefentwurf an Ordjonikidze anlässlich des Mords an Sergej Kirov im Dezember 1934 forderte er ihn dazu auf, auf sich achtzugeben, da das Wohl der gesamten Menschheit von der bolschewistischen Führung abhänge.70 Hier greift ein psychologischer Mechanismus, der persönliche Interessen, die Notwendigkeit der Herrschaftslegitimation mit Glauben bzw. Überzeugung verbindet. Ideologie kann hier in bezug auf das ideologietragende Subjekt als eine Form von Rationalisierung, also als eine psychologische Funktion, begriffen werden, die das eigene Verhalten und das der Gruppe kohärent, moralisch akzeptabel und aussichtsreich erscheinen lässt. Aus einer ideologiekritischen Perspektive müsste man Jaroslavskij und seinen Genossen jedoch einen erheblichen Mangel an Selbstreflexivität bescheinigen. Sie vertraten ideologische Ansichten, nannten diese auch Ideologie, waren sich aber letztlich der Ideologizität dieser Ansichten nicht bewusst. Am Beispiel Jaroslavskij s wird zu zeigen sein, wie diese Ansichten auch für ihre Produzenten immer mehr zu einem Labyrinth bzw. zu einem selbstgebauten Gefängnis wurden, aus dem der Ausweg nicht mehr zu finden war.

68

Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures, New York 1973, S. 219-220. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Peter Kenez über die Bedeutung des Begriffs „Propaganda" für die Bolschewiki: The Birth of the Propaganda State. Soviet Methods of Mass Mobilization, 1917-1929, Cambridge 1995, S. 1-18. 70 „ (...) Wir haben kein Recht, solche Leute [wie Kirov; S.D.] einem Risiko auszusetzen, sie sind die Schönheit, der Stolz, die Kraft unserer Partei. Ich bitte Dich, Stalin, Kaganovic und die anderen: Passt auf euch auf! Ihr werdet von der Menschheit gebraucht, das dürft ihr nicht vergessen. Unsere Partei vollbringt ein großartiges historisches Werk im Interesse der gesamten arbeitenden Menschheit." Entwurf für einen Brief Jaroslavskijs an Ordjonikidze vom 3.12.1934. Es kann nicht nachvollzogen werden, ob der Brief abgeschickt wurde. F.89, op.12, d.2,1.39ob. 69

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

2. Jaroslavskij und die marxistischen Historiker Jaroslavskij war wie viele seiner Genossen sowohl ein Glaubensvirtuose, der sich gern seiner unerschütterlichen Überzeugungen rühmte, als auch ein politischer Akteur mit konkreten Machtinteressen, die er versuchte durchzusetzen. An anderer Stelle wurde schon angemerkt, dass die selbsternannten Revolutionäre nach der Beendigung des Bürgerkriegs und im Zuge ihrer Versuche, die bolschewistische Herrschaft zu konsolidieren und dementsprechend Institutionen zu schaffen, zunehmend in Konkurrenz um konkrete Statuspositionen zueinander gerieten. In der Theorie und auch auf der Ebene der vortheoretischen Überzeugungen hatten solche Konflikte und Machtinteressen jedoch keinen Platz. Denn die Bolschewiki definierten sich als selbstlose Vollstrecker eines von allen aufrechten Revolutionären erkennbaren allgemeinen Wohls. Für den Umgang untereinander kultivierten sie das Ideal aufopferungsvoller Kameradschaft gerade in Abgrenzug zu vermeintlich eigensüchtigen Karrieristen und Konkurrenten. Wie bewegt man sich aber in einem politischen Raum, dessen Institutionen noch nicht gefestigt und in dem persönliche Interessen theoretisch nicht vorgesehen sind oder lediglich als Reflex des Bewusstseins einer Klasse konzeptualisiert werden können? Und wie entsteht Macht in der Interaktion der bolschewistischen Akteure miteinander? Diesen Fragen soll im Folgenden am Beispiel von Jaroslavskijs Agieren im Feld71 der Historiker und - im weiteren Sinne - der Ideologieproduzenten nachgegangen werden. Durch Jaroslavskijs Ambitionen als Parteihistoriker und Sinnstifter sowie durch seine kontrollierenden Funktionen in den höheren Bildungseinrichtungen ergaben sich im Laufe der 1920er Jahre immer mehr Berührungspunkte mit dem Feld der professionellen Historiker, das von Michail Pokrovskij, dem bekanntesten und fachlich ausgewiesensten marxistischen Historiker,

71 Der hier verwendete Begriff des Felds ist an den von Pierre Bourdieu eingeführten Feldbegriff angelehnt. Wir halten die räumliche Metapher für geeignet, um einen Kommunikations- bzw. Interaktionsbereich von historischen Akteuren konzeptionell zu fassen. Wir möchten jedoch eine semantische Modifikation, die der bourdieusche Feldbegriff impliziert, herausnehmen, um ihn für unseren Gegenstand operationalisierbar zu machen. Bourdieu definiert in Anlehnung an Max Webers Konzept der „Ausdifferenzierung der Wertsphären", die dieser als wesentliches Merkmal der modernen bürgerlichen Gesellschaft auffasst, das Feld als autonome Einheit. Wir haben jedoch auf das Problem hingewiesen, dass sich die Sphären von Wissenschaft, Politik und Ideologieproduktion im sowjetischen Kontext nicht voneinander trennen lassen und können also eine Geschlossenheit und Autonomie der einzelnen Bereiche nicht annehmen. Der von uns verwendete Feldbegriff als offener Strukturbegriff entspricht dem von Norbert Elias in seiner Untersuchung der höfischen Gesellschaft verwendeten Begriff der Figuration. Der Begiff des Felds wurde mit den eben genannten Modifikationen dennoch bevorzugt, da wir auch mit dem Bourdieuschen Kapitalbegriff operieren, der mit dem des Felds konzeptionell verknüpft ist. Fritsch, Philippe: Einführung, in: Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 7-29, S. 26-27. Zum Begriff der Figuration: Elias, Norbert: Soziologie und Geschichtswissenschaft, in: ders.: Die höfische Gesellschaft, S. 7-65.

2. Jaroslavskij und die marxistischen Historiker

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den die Bolschewiki aufzuweisen hatten, dominiert wurde. Pokrovskij hatte in den 1920er Jahren einen aggressiven Feldzug g e g e n die nicht-marxistischen Einrichtungen historischer Forschung und Lehre, die zu dieser Zeit noch neben den marxistischen Institutionen existiert hatten, gefuhrt, der mit der A u f l ö s u n g dieser sogenannten bürgerlichen Einrichtungen endete. Pokrovskij konnte so seine ohnehin schon machtvolle Stellung unter den marxistischen Historikern weiter ausbauen und deren Institutionen weitgehend kontrollieren. 72 G e g e n Ende der 1920er Jahre entbrannte ein Konkurrenzkampf z w i s c h e n Jaroslavskij und Pokrovskij u m die Vormachtstellung an der sogenannten historischen Front, an d e m aber auch andere Akteure, die wiederum ihre Interessen vertraten, beteiligt waren. A m Beispiel dieses Konflikts sollen im Folgenden die spezifischen Modi politischer Interaktion aufgezeigt werden, die nicht nur für das Feld der Historiker, sondern für das gesamte politische Feld kennzeichnend waren. Im Sommer 1931 stand Jaroslavskij unter einem erheblichen Rechtfertigungsdruck. Ihm wurden v o n jüngeren marxistischen Historikern, die sich als Fürsprecher Pokrovskij s ausgaben, unzulässiger Klientelismus und ideologische Fehler vorgeworfen. In diesem Zusammenhang, den wir noch intensiver beleuchten werden, sah sich Jaroslavskij z u m ersten Mal gezwungen, über den Beginn seiner Tätigkeit als Parteihistoriker Rechenschaft abzulegen. A u s dieser Stellungnahme, die an die Sekretäre des Z K adressiert war, geht deut72

In den 1920er Jahren herrschte noch eine relative Vielfalt in der akademischen Landschaft. Die für die Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses und die Forschung in den Gesellschaftswissenschaften maßgeblichen neuen Institutionen waren die RANION (Russische Assoziation wissenschaftlicher Forschungsinstitute für Gesellschaftswissenschaften), die Kommunistische Akademie und das Institut der Roten Professur. Pokrovskij stand diesen drei Einrichtungen als Direktor vor. Die RANION beschäftigte sowohl marxistische als auch sogen, bürgerliche Wissenschaftler bzw. Lehrkräfte und hatte die Funktion, kommunistische Studenten auf eine Laufbahn in den Partei- und Staatsorganen und im wissenschaftlichen Betrieb vorzubereiten. Das Institut der Roten Professur hingegen zeichnete sich durch einen militanten marxistischen Charakter aus. Die Studenten, die sogen. Ikapisty, rekrutierten sich zumeist aus jungen, politisch erfahrenen Parteimitgliedern, die in der Regel schon über einen Abschluss an einer Einrichtug für höhere Bildung verfügten. Um das Fehlen eines eigenständigen Zentrums für historische Forschung zu kompensieren, gründeten Pokrovskij und seine Anhänger 1925 die Gesellschaft marxistischer Historiker unter dem Dach der Kommunistischen Akademie. Seit März 1928 lancierten Pokrovskij und seine Anhänger eine Kampagne gegen einzelne nicht-marxistische Historiker sowie seit Beginn des Jahres 1929 gegen die institutionelle Basis dieser sogen, bürgerlichen Historiker, RANION. Die RANION wurde im Laufe der Jahre 1929 und 1930 aufgelöst und die nicht-marxistischen Historiker diskreditiert. Pokrovskij leitete seitdem die drei wichtigsten Zentren marxistischer Geschichtsforschung, die geschichtswissenschaftliche Sektion am Institut der Roten Professur, die Gesellschaft marxistischer Historiker und das im Herbst 1929 gegründete Historische Institut der Kommunistischen Akademie, das das entsprechende Institut der RANION ersetzen sollte. Die wesentlichen Posten in den Institutionen und Zeitschriftenredaktionen, die unter Pokrovskijs Einfluss standen, waren mit seinen Anhängern bzw. Schülern besetzt. Hierzu siehe: Enteen, George: The Soviet ScholarBureaucrat: M.N. Pokrovskij and the Society of Marxist Historians, University Park, London 1978; Heller. Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Institutionen; Barber. Historians, S. 12-41.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

lieh hervor, dass er sein zweibändiges Lehrbuch, das Kratkij ucebnik, aufgrund eines Auftrags des ZK konzipiert und verfasst hatte. Über die entscheidende Frage aber, auf wessen Initiative hin Jaroslavskij das ehrgeizige Projekt einer fünfbändigen Parteigeschichte in Angriff nahm und dafür eine größere Gruppe junger Historiker organisierte, erfahren wir an dieser Stelle nichts. Einige Monate später erläuterte Jaroslavskij in einem Vortrag in der „Gesellschaft der Altbolschewisten" den Anwesenden die vermeintlichen Motive, die ihn dazu geführt hätten, als Historiker aktiv zu werden: Als das zweibändige Lehrbuch vorgelegen habe, hätten viele Lehrer und Propagandisten die Notwendigkeit einer ausführlichen Parteigeschichte beklagt. Daraufhin habe er die Initiative ergriffen und seine Mitarbeiter aus sowjetischen Forschungseinrichtungen ausgewählt.73 Jaroslavskij versuchte hiermit, seine Zuhörer glauben zu machen, dass er auch für seine großangelegte Parteigeschichte zumindest implizit einen Auftrag erhalten habe. Trotz aller vorgetragenen situationsgebundenen Bescheidenheit liegt es nahe, Jaroslavskijs intellektuellen Ehrgeiz und auch die Möglichkeiten, die sich durch die Institutionalisierung der Parteigeschichte an den höheren Bildungseinrichtungen ergaben, als Antrieb für die Aufnahme des Projekts der fünfbändigen Parteigeschichte zu vermuten. Auf einen offiziellen Auftrag zur Erstellung der Parteigeschichte gibt es keine Hinweise. Selbst in einem Brief an Stalin vom 25. November 1931, als Jaroslavskij schon in ernst zu nehmende Schwierigkeiten geraten war, bezeichnete er die von Stalin scharf kritisierte Parteigeschichte noch als „bedeutendste und engagierteste (samaja iniciativnaja) Arbeit auf diesem Gebiet"74 und deutete damit an, dass das Projekt durch seine Initiative zustandegekommen sei. Jaroslavskij hatte die Parteigeschichte als Medium erkannt, das sich zur Profilierung des eigenen Status als führendes Mitglied der siegreichen Mehrheitsfraktion, als führender Parteiintellektueller und Sinnstifter eignete und ihm möglicherweise eine bedeutende Position in den im Entstehen begriffenen parteigeschichtlichen Institutionen versprach. Er verfolgte mit diesem kollektiven Unternehmen das ehrgeizige Ziel, eine definitive Interpretation der Parteigeschichte zu liefern und sich somit eine solide intellektuelle Reputation zu erwerben. In den Jahren 1924 bis 1928 deutete noch nichts auf den sich 1929 anbahnenden Konflikt Jaroslavskijs mit Pokrovskij hin. Weder beteiligte er sich an der von Pokrovskij geleiteten Kampagne gegen die nicht-marxistischen Historiker und ihre Institutionen, noch besteht Grund zu der Annahme, er habe sich auf Kosten Pokrovskij s profilieren und letzterem seine führende Rolle unter den Historikern streitig machen wollen. Es gibt im Gegenteil mehrere Hinweise auf gute Beziehungen zwischen Jaroslavskij und Pokrov73

Rede Jaroslavskijs vor den Mitgliedern der Gesellschaft alter Bolschewisten (15.12.1931). F. 89, op.7, d.66,1.26. 74 Hervorhebung, S.D. Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 25.11.1931. F.558, o p . l l , d.841,1.74. An diese Textstelle setzte Stalin die Randbemerkung: „Net."

2. Jaroslavskij und die marxistischen Historiker

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skij sowie auf gegenseitige Gefälligkeiten. 1924 hatte sich Pokrovskij bei mehreren Instanzen über den Ausschluss von 34 Prozent der Studenten am Institut der Roten Professur im Zuge der von der ZKK geleiteten „Säuberungen" beschwert. Er erinnerte sich zu einem späteren Zeitpunkt, dass Jaroslavskij ihm in dieser Angelegenheit einen persönlichen Gefallen getan habe, indem er ihm half, einige der betroffenen Studenten wieder aufzunehmen. 75 Die Tatsache, dass Jaroslavskij Pokrovskij diesen Gefallen tun konnte, verweist erneut auf Jaroslavskijs weitreichenden politischen Einfluss in der Mitte der 1920er Jahre. Pokrovskij war zwar als stellvertretender Volkskommissar im Narkompros der Leiter einer Kommission des Politbüros, die die Durchführung der unionsweiten „Säuberungen" an den VUZy vorbereiten sollte.76 Doch kollidierte diese Aufgabe offensichtlich mit einer anderen Funktion Pokrovskij s, nämlich der des Direktors des Instituts der Roten Professur. Zwei Jahre später, im Sommer 1926, hatte wiederum Pokrovskij Gelegenheit, Jaroslavskij einen Dienst zu erweisen. Jaroslavskij profitierte hier wiederum von Pokrovskij s intellektueller Reputation als maßgeblicher marxistischer Historiker. Jaroslavskij hatte sich mit der Bitte um eine Beurteilung sowohl des ersten Bandes der auf fünf Bände konzipierten Parteigeschichte als auch des von ihm verfassten zweibändigen Kratkij ucebnik an Pokrovskij gewandt. Der Briefwechsel, der für ein beiderseitiges respektvolles Verhältnis spricht, ist interessant, weil er eine spezifische Form der politischen Interaktion und des Funktionierens von Politik dokumentiert. Jaroslavskij unterstreicht in seinem Brief insbesondere Pokrovskijs Autorität als Historiker. Ihm ging es aber nicht lediglich um eine Beurteilung seiner ersten historiographischen Versuche durch den erfahrenen Historiker. Er forderte Pokrovskij implizit auf, gegen die von Vaganjan verfasste Broschüre „Verbreiter von Analphabetismus und Unwissenheit" (Sejateli bezgramotnosti i nevezestva) die schon erwähnte polemische Besprechung des von Jaroslavskij herausgegebenen ersten Bandes der Istorija VKP(b) - möglichst öffentlich zu intervenieren.77 Jaroslavskij, der zwar eine sehr wichtige Figur im Zentralapparat der Partei war, aber dessen Status als Historiker und Parteiintellektueller 1926 noch nicht gefestigt war, appellierte hier an Pokrovskij, um die eigene Position und Autorität als Historiker durch Pokrovskijs Intervention möglichst öffentlich 75

David-Fox: Revolution of the Mind, S. 156. V central'nuju kontrol'nuju kommissiju (undatiert), AAN, f.1759, op.2, d.22, 1.240; M.N. Pokrovskij, „Vsem sekretarijam CK VKP(b) i tov. Molotovu," 5.2.1931, RGASPI, f.147, op.l, d.33,1.45. Pokrovskijs Haltung zu den „Säuberungen" ist schwer zu ermitteln. Fitzpatrick gibt an, dass das Narkompros, dessen Vertreter Pokrovskij war, sich bemüht habe, die „Säuberungen" einzudämmen. Fitzpatrick: Education, S. 99. 76 Fitzpatrick: Education, S. 154. Protokoll No. 84, Sitzung des PB vom 10.4.1924. F. 17, op.3, d.432,1.5. 77 Schreiben Jaroslavskijs an Pokrovskij, 21.6.1926. F.89, op.7, d.89,1.1.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

absichern zu lassen. Hier offenbart sich zum einen die intellektuelle Unsicherheit, aber auch der intellektuelle Ehrgeiz Jaroslavskijs. Zum anderen manifestiert sich die Bedeutung des Konzepts „Autorität" für die sowjetischen Funktionäre sowie ein typisches Verhaltensmuster in politischen Auseinandersetzungen: die Allianzbildung. Sowohl Jaroslavskij als auch Vaganjan ging es in ihrem Konflikt um Aufrechterhaltung und Diskreditierung von Autorität sowie um das Einschreiben der eigenen revolutionären Vergangenheit in die offizielle Parteigeschichte. Persönliche Autorität und politischer Status konnten - zumindest aus der Sicht des kritisierten Jaroslavskij - nur durch die Intervention einer auf dem betreffenden Gebiet nicht angreifbaren Person sichergestellt werden. Pokrovskij, der auf Jaroslavskijs Gesuch einging und ankündigte, einen Artikel gegen Vaganjan zu schreiben78, konnte diese Funktion aber nur so lange erfüllen, wie das Historikerfeld noch weitgehend autonom war. In den 1930er Jahren wurde Stalin zum Bezugspunkt in solchen Konfliktsituationen. Der Konflikt zwischen Jaroslavskij und Vaganjan führt uns aber auch zu der Frage, entlang welcher Linien sich die Interessen der einzelnen Akteure im Feld der Ideologieproduzenten organisierten. Pokrovskij, der ebenso wie Vaganjan über eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung verfügte, teilte aber nicht dessen Einschätzung, sondern intervenierte zugunsten Jaroslavskijs. Hier scheinen politische, aber auch persönliche Loyalitäten, gemeinsame Erfahrungen, die Erinnerung an gegenseitige Gefälligkeiten und vielleicht auch das Lebensalter eine Rolle gespielt zu haben. In seiner sehr respektvollen Antwort auf Jaroslavskijs Gesuch, die er mit der Anrede „Lieber Genösse Emel'jan" einleitete, verwies Pokrovskij explizit auf ihre lange Bekanntschaft seit 1905. Pokrovskij, der sich 1905 für den Marxismus entschieden hatte und daraufhin Mitglied der bolschewistischen Fraktion der Russischen Sozialdemokratie wurde, hatte Jaroslavskij in Moskau im Rahmen eines Zirkels kennengelernt, der sich u.a. aus Ivan Skvorcov-Stepanov, dem marxistischen Historiker N.A. Rozkov und dem marxistischen Literaturkritiker V.M. Frice zusammensetzte.79 Pokrovskij beanstandete insbesondere den scharfen Ton Vaganjans, den er als „gegenstandsloses Geschrei" bezeichnet, das der ernsthaften Antwort nicht würdig sei und das man auf ebensolche polemische Weise parieren müsse.80 Wichtig erscheinen hier vor allem Fragen der politischen Positionierung - Pokrovskij hatte seit 1922 öffentlich gegen Trotzkijs Interpretation der Revolution polemisiert - , aber auch der Umstand, 78

Aus dem Antwortschreiben Pokrovskijs an Jaroslavskij vom 18.7.1926 geht hervor, dass Pokrovskij in genauer Absprache des Vorgehens gegen Vaganjan mit Jaroslavskij auf dessen Gesuch einging. F. 89, op.7, d.89,1.9. 79 Enteeir. Soviet Scholar-Bureaucrat, S. 16-17. 80 Schreiben Pokrovskijs an Jaroslavskij vom 18.7.1926. F.89, op.7, d.89, 1.7-11. Pokrovskijs Anrede an Jaroslavskij lautet: „Lieber Genösse Emel'jan, erlauben Sie mir bei dieser Gelegenheit, Ihnen das Jahr 1905 in Erinnerung zu rufen, das Jahr, in dem wir uns kennenlernten (...)" Ebenda, 1.7.

2. Jaroslavskij und die marxistischen Historiker

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dass Jaroslavskij und Pokrovskij über eine vergleichbare Menge an Ressourcen bzw. an symbolischem und politischem Kapital verfugten, das sie in ihren Interaktionen einbringen und austauschen konnten. Jaroslavskij hatte durch seine fuhrende Position in der ZKK und durch seine enge Anbindung an das Politbüro einen erheblichen politischen Einfluss, den er 1924 zugunsten Pokrovskij s eingesetzt hatte. Pokrovskij hingegen war der maßgebliche sowjetische Historiker, von dessen intellektueller Reputation Jaroslavskij hoffte, in seinen parteihistorischen Ambitionen zu profitieren. Die Konflikte zwischen Pokrovskij und Jaroslavskij setzten daher auch erst in dem Moment ein, als sich eine Ressourcenverschiebung zugunsten Jaroslavskijs anbahnte. Die Spannungen zwischen Jaroslavskij und Pokrovskij begannen 1927 oder 1928 und lagen vermutlich in einer weiteren institutionellen Aufwertung der Parteigeschichte begründet. Am 10. Oktober 1927 wurde am Institut der Roten Professur, das anfangs nur die Abteilungen für Philosophie, Ökonomie und Geschichte unter seinem Dach vereinte, eine gesonderte Abteilung für Parteigeschichte gegründet. Diese Abteilung hatte die Aufgabe, sowohl Parteihistoriker als auch qualifizierte Parteifunktionäre auszubilden. Im August 1930 wurde die parteihistorische Abteilung zum eigenständigen Institut aufgewertet und dem Lenin-Institut als selbständige Lehr- und Verwaltungseinheit mit eigener Leitung und eigenem Etat angegliedert. Der Direktor des Parteihistorischen Instituts gehörte kraft seines Amtes der Direktion des Lenin-Instituts an. Alle anderen Zweigabteilungen der Roten Professur wurden indessen ebenso wie die RANION mit den verwandten Instituten an der Kommunistischen Akademie verschmolzen.81 Das Parteihistorische Institut wurde im Ergebnis aus dem von Pokrovskij beherrschten System der Kommunistischen Akademie ausgegliedert. Zudem bekleidete Jaroslavskij wichtige Posten in den von Pokrovskij dominierten Institutionen: Er war seit 1928 Mitglied der Kommunistischen Akademie und des ihr angeschlossenen Historischen Instituts sowie in der Gesellschaft marxistischer Historiker und spielte eine wichtige Rolle in der Sektion für Parteigeschichte der Gesellschaft. Pokrovskij hatte sich als Direktor des Instituts der Roten Professur schon im März 1928 vor Studenten seines Geschichtsseminars gegen die Gründung einer gesonderten Abteilung für Parteigeschichte ausgesprochen. Seine Auffassung hatte er mit dem Argument begründet, dass ein Parteihistoriker vor allen Dingen Historiker sei und einer geschichtswissenschaftlichen Ausbildung bedürfe, während die Parteihistorische Abteilung keine wissenschaftliche Abteilung sei, da sie überwiegend Parteifunktionäre ausbilde.82 Jaroslavskij hingegen gehörte seit 1928 dem Lehrkörper der Parteihistorischen Abteilung an; er unterrichtete Parteigeschichte und leitete Lehrveranstaltun81 Zur Geschichte der Parteihistorischen Abteilung bzw. des Parteihistorischen Instituts der Roten Professur siehe, Behrendt: Adoratskij. 82 Behrendt·. Adoratskij, S. 331.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

gen zur Lenin-Biographik. 1930 hatten Jaroslavskij und Vladimir Adoratskij die Aufwertung der Parteihistorischen Abteilung zu einem eigenständigen Institut mit dem Argument befürwortet, dass die Notwendigkeit der Ausarbeitung der Parteigeschichte als selbständige wissenschaftliche Disziplin auch die Gründung eines speziellen Instituts erfordere. 1931 gelang es Jaroslavskij, Adoratskij s Nachfolge als Direktor des Parteihistorischen Instituts anzutreten. Zwar liegen der Verfasserin keine Zeugnisse über einen direkten Zusammenstoß Jaroslavskij s mit Pokrovskij in diesem Zusammenhang vor, doch werden hier die unterschiedlichen Wissenschaftsauffassungen, die im Kontext der Auseinandersetzung Jaroslavskijs mit Vaganjan noch keine Rolle gespielt hatten, und - was noch wichtiger ist - die differierenden institutionellen und Machtinteressen Pokrovskij s und Jaroslavskijs deutlich. Pokrovskij waren durch seine Ausbildung als professioneller Historiker wissenschaftliche Konventionen bekannt, sein Interesse galt der Forschung und der wissenschaftlichen Ausbildung von Historikern. Für den Autodidakten Jaroslavskij diente die Parteigeschichte der Legitimierung der bolschewistischen Herrschaft bzw. der Herrschaft der Sekretariatsfraktion, der Konstruktion einer revolutionären Identität und vor allem der Erziehung bolschewistischer Kader. Diese unterschiedlichen Wissenschaftsauffassungen sind eng mit den institutionellen Interessen der beiden Akteure verwoben: Jaroslavskij konnte sich aufgrund seiner Sozialisation und Ausbildung nur im Rahmen der Parteigeschichte in den wissenschaftlichen Institutionen profilieren. Daran arbeitete er als Autor und Redakteur von Lehrbüchern seit der Einfuhrung der Parteigeschichte in das Curriculum der höheren Lehranstalten. Für Jaroslavskij war somit die Aufwertung der Parteigeschichte als eigenständige Disziplin mit erheblichen Statuschancen verbunden. Als hochrangiger Parteifunktionär war er in der Lage, eine solche Entwicklung aktiv zu fordern. Pokrovskij hingegen musste diesen Prozess als eine Einschränkung seines Einflussbereichs wahrnehmen.

a. Autorität Der Begriff der Autorität (avtoritet), der eben im Rahmen der Beziehung Jaroslavskijs zu Pokrovskij gefallen ist, bedarf einer weiteren Klärung. Autorität ist kein Analysebegriff, den wir von außen auf unseren Gegenstand anwenden, sondern ein zentrales Konzept im Diskurs der 1920er und 1930er Jahre. Der Begriff war so zentral, weil er das wichtige Problem der Herrschaftskonsolidierung und -ausübung in einem historischen Kontext berührte, in dem es weder funktionierende Institutionen und eingespielte Verwaltungsprozeduren noch allgemein anerkannte Rechtsnormen gab und es daher auf die Durchsetzungsfahigkeit einzelner Personen ankam. So hatte z.B. Jaroslavskij an Kirsanova geschrieben, dass es in der Auseinandersetzung mit der Arbeiteropposition „der gesamten Kunst, der gesamten Autorität Lenins"

2. Jaroslavskij und die marxistischen Historiker

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bedurft habe, um eine Parteispaltung abzuwenden.83 Es wurde gezeigt, dass Jaroslavskij insbesondere in Sibirien, aber auch während seiner Inspektionsreise in das Donbass-Gebiet immer wieder mit der Diskrepanz zwischen Herrschaftsanspruch und Autorität, d.h. der Fähigkeit, diesen Herrschaftsanspruch auch durchzusetzen, konfrontiert wurde. Er habe sich, so berichtet er in einem Brief an Kirsanova, in seinen Auftritten vor den hungrigen und ärmlichen Menschen in Sibirien unmittelbar nach dem Bürgerkrieg deren Vertrauen mühsam erwerben müssen, damit diese seine Autorität anerkannten.84 Auch die örtlichen Parteiführer waren nicht ohne weiteres bereit, den Sekretär des Sibirischen Regionalbüros, also den Repräsentanten des Zentralapparats, anzuerkennen.85 Jaroslavskij ist hier kein Einzelfall. Auch Anastas Mikojan legt in seinen Erinnerungen anschaulich dar, dass er, obwohl er im Herbst 1920 vom ZK zum Vorsitzenden des Gouvernement-Parteikomitees von Niznij Novgorod ernannt worden war, nach seiner Ankunft in der Stadt von den örtlichen Bolschewisten nicht als solcher akzeptiert worden sei. Er habe fünf Monate benötigt, bis er die lokalen Parteiführer davon überzeugen konnte, seine Autorität anzuerkennen.86 Im bolschewistischen Sprachgebrauch wird zwischen Autorität und Macht (vlast ") unterschieden. Macht bezieht sich auf staatliche Institutionen, Autorität auf Personen. Der Begriff Autorität ist eng mit dem der Legitimität verknüpft. Eine Person verfügt dann über Autorität, wenn die Legitimität ihres Auftretens bzw. ihrer Handlungen durch andere anerkannt wird.87 Autorität wird also von außen verliehen. In einer revolutionären Situation konnten sich die Bolschewiki Autorität durch überzeugendes Auftreten bei Massenveranstaltungen und auf den Partei Versammlungen erwerben. Autorität wurde in diesem Fall durch Akklamation übertragen. Die Quelle von Autorität konnte - wie im Falle Pokrovskijs - die von einer Gruppe anerkannte professionelle Kompetenz oder intellektuelle Reputation einer Person sein. Vaganjan versuchte, die Autorität Jaroslavskij s als Historiker in Frage zu stellen, indem er ihm gerade diese Professionalität absprach. Autorität ist kein abstrakter Begriff, sondern, wie am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Vaganjan und Jaroslavskij über die Genese des Bolschewismus schon angedeutet wurde, eine Position, die von unterschiedlichen Gruppen, abhängig von ihrer jeweiligen Erfahrung, immer wieder in Frage gestellt und deren Wertigkeit verhandelt werden konnte. Die Beziehungen der Bolschewiki untereinander, 83

Brief Jaroslavskijs an Kirsanova vom 20.3.1921, S. 3. Familienarchiv. Brief Jaroslavskijs an Kirsanova vom 7.11.1921. Familienarchiv. 85 Izvestija Sibirskogo bjuro CK RKP(b), ijun 1922, no. 49, S. 24-26; Shishkin: Moscow and Siberia; Rigby: Provincial Cliques, S. 19. Siehe hierzu ausführlicher Kap. III, 1. 86 Mikojan: Tak bylo, S. 165-186. 87 Theoretische Überlegungen über das Verhältnis zwischen Legitimität und Autorität im sowjetischen Kontext liefern Alain Blum und Martine Mespoulet in ihrer Untersuchung über das Verhältnis zwischen politischer Macht und Verwaltung bzw. Wissenschaft am Bsp. der Zentralen Direktion fur Statistik. Blum, Alain/Mespoulet, Martine: L'anarchie bureaucratique. Statistique et pouvoir sous Staline, Paris 2003, S. 352-356. 84

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

d.h. die sozialen Hierarchien, wurden nicht durch kalkulierbare Formen des Tauschs oder ein verlässliches System von Regeln und Normen strukturiert. In einem solchen schwach institutionalisierten Interaktionsraum, in dem außerdem die offene Äußerung von Machtinteressen als illegitim galt, war Autorität sowohl die höchste Form des Einsatzes, wenn es um die Verteilung von Ressourcen und Statuspositionen ging, als auch das wertvollste zu erwerbende Gut. Die Geschichte des Bolschewismus und die revolutionäre Biographie der einzelnen Akteure spielt hierbei eine wichtige Rolle. Welche Quellen zur Legitimierung des eigenen Auftretens angezapft wurden, war u.a. von der Generationszugehörigkeit eines politischen Akteurs abhängig. Es ist schon angedeutet worden, dass Jaroslavskij seinen Anspruch auf seinen politischen Status mit seinem Martyrium in den zarischen Gefängnissen und in der Verbannung, mit seinen Erfahrungen im bolschewistischen Untergrund, seiner direkten Beteiligung an den Revolutionen von 1905 und 1917 und seiner Zugehörigkeit zur „alten leninschen Garde" legitimierte. Der Bürgerkrieg hatte in diesem Zusammenhang fur ihn nur eine untergeordnete Bedeutung. Jüngere Kommunisten hingegen rechtfertigten ihre Statusansprüche häufig mit ihrer Erfahrung als Bürgerkriegskämpfer oder ihrer theoretischen Ausbildung an den neuen Bildungseinrichtungen der Partei. Es wäre jedoch verkürzt, das so produzierte Selbstbild der Revolutionäre, mit dem sie um Anerkennung warben, auf seine Funktion in den Konkurrenzkämpfen um Statuspositionen zu reduzieren. Der Anspruch der jeweiligen Akteure auf Anerkennung der eigenen Autorität und die Einschätzung dieses Anspruchs durch andere waren auch Inhalt ihres Ehrbegriffs.88 In diesem Kontext erklärt sich beispielsweise auch die wütende Reaktion Jaroslavskij s auf eine Ende des Jahres 1922 in der Zeitung Rabocaja Moskva veröffentlichte Erklärung N.I. Muralovs, P.G. Smidovics und V.N. Jakovlevas. Anlässlich des fünften Jahrestags der Oktoberrevolution waren in der Zeitung die Porträts der Mitglieder des „Moskauer militärisch-revolutionären Komitees" veröffentlicht worden; unter ihnen befand sich auch das Porträt Jaroslavkijs. Muralov, Smidovic und Jakovleva hatten in ihrer Erklärung behauptet, dass Jaroslavskijs Porträt fälschlicherweise abgedruckt wurde, da dieser nicht Mitglied des „Moskauer militärisch-revolutionären Komitees" gewesen sei. Sie hatten ihm damit seine symbolische Präsenz als Revolutionär, d.h. seine Teilhabe an dem aus bolschewistischer Sicht zentralsten der historischen Ereignisse streitig gemacht. Jaroslavskij, der tatsächlich Mitglied dieses Komitees war, forderte nicht nur kategorisch eine Richtigstellung der

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Zum hier verwendeten Ehrbegriff siehe die sich an Bourdieus Begriff des symbolischen Kapitals orientierenden Überlegungen bei: Droste, Heiko: Habitus und Sprache. Kritische Anmerkungen zu Pierre Bourdieu, http://home.t-online.de/heiko.droste/ Bourdieu.htm.

2. Jaroslavskij und die marxistischen Historiker

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Erklärung, sondern beschönigte zudem seine recht zweifelhafte Rolle bei der Verteidigung des Kreml im Oktober 1917.89 Ein weiterer wichtiger Marker für Autorität war die Vielzahl und Prestigeträchtigkeit der Posten, die eine Person anhäufen konnte. Neben seinen schon aufgeführten Posten in den akademischen Institutionen war Jaroslavskij unter anderem gleichzeitig Mitglied des Präsidiums der ZKK, Sekretär des Parteikollegiums der ZKK, Vorsitzender der Antireligiösen Kommission beim ZK, Mitglied des Zentralen Exektivkomitees (ZIK SSSR), Mitglied des Zentralen Exekutivkomitees der Komintern, Vorsitzender des „Verbands der Gottlosen" und der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes", Mitglied des Redaktionskollegiums der Pravda und vieler anderer Redaktionen. Insbesondere in der ersten Hälfte der 1920er Jahre führte Jaroslavskij regelmäßig Buch über die Zahl der von ihm besetzten Ämter sowie über die ihm übertragenen Aufgaben und kommentierte diese Aufzählungen mitunter stolz.90 An der laufenden Arbeit der meisten dieser Einrichtungen beteiligte er sich aber kaum; an den Sitzungen konnte er aufgrund seiner Arbeitsüberlastung nur unregelmäßig teilnehmen. Seine Gegenwart war vielmehr häufig rein symbolischer Natur. J. Arch Getty hat jüngst dargelegt, dass die Bedeutung der Institutionen von Partei und Staat in der Sowjetunion weniger in ihrer Eigenschaft als effektive Verwaltungsorgane lägen, sondern in ihrer Eigenschaft als Autoritätsmarker, hinter der sich eine personale politische Praxis verberge. Die Nominierung für bestimmte Posten und die Mitgliedschaft in den entsprechenden Einrichtungen waren demnach nicht unbedingt ein Hinweis auf die Tätigkeit einer Person, sondern ein Indikator dafür, welchen Platz diese in der politischen Rangtabelle einnahm und damit eine Form von symbolischem Kapital, das die Akteure ermächtigte, mit ihren Handlungen Ergebnisse zu erzielen, andere zu maßregeln, Patronageverhältnisse einzugehen und in Auseinandersetzungen als Schiedsrichter aufzutreten.91 Entscheidend ist jedoch die Frage, wie Autorität, d.h. die Anerkennung der Legitimität dessen, der handelt oder etwas aussagt, vermittelt wird. Zwar konnte auch unter den Bedingungen der Herrschaftskonsolidierung weiterhin die Autorität eines lokalen Parteiführers in seiner Parteiorganisation mit Hilfe unmittelbarer Kommunikation erworben werden, nicht aber die „unionsweite" Autorität eines Mitglieds der Parteiführung im Zentrum. Die Vermittlungsformen lassen sich aus dem zeitgenössischen Verwendungskontext des 89

Schreiben Jaroslavskij s an Muralov, Smidovic und Jakovleva vom 4.1.1923. F.89, op.l, d.60,1.1-3. Jaroslavskij hatte in diesem Schreiben behauptet, er habe die Bedenken einiger Genossen gegen eine entschiedene bewaffnete Vetreidigung des Kreml unterbunden. Aus den Protokollen des „Moskauer militärisch-revolutionären Komitees" vom 28.10.1917 geht allerdings hervor, dass Jaroslavskij ein militärisches Vorgehen gegen die Truppen der Provisorischen Regierung für ausgeschlossen hielt. Egosin: Voenno-politiceskaja dejatel'nost', S. 104-105. 9° F.89, op.l, d.l 1,1.2; d.12,1.1-2. 91 Getty, J. Arch: Stalin as Prime Minister: Power and the Politburo, in: Davies/Harris: Stalin, S. 83-107, hier S. 102-104.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Begriffs Autorität, d.h. aus der am Beispiel der Interaktion zwischen Jaroslavskij, Pokrovskij und Vaganjan beschriebenen sozialen Praxis herleiten. Autorität wurde in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre gewährt und für andere erfahrbar durch eine positive symbolische Präsenz in Form von bestimmten Posten, veröffentlichten Texten oder Bildern. Dem wachsamen Zeitgenossen wurde durch die Tatsache, dass eine Person mit ihren Texten eine bedeutende Präsenz in sowjetischen Presse- und Druckerzeugnissen erzielte, vermittelt, dass diese Texte von der entscheidenden Institution oder Person anerkannt wurden und dass der Verfasser über einen entsprechenden politischen Status verfügte. Wie gezeigt, hatte Jaroslavskij versucht, sich seine Texte über Parteigeschichte von Pokrovskij sanktionieren zu lassen. Doch auch dabei beließ er es nicht. Er wandte sich in dieser Sache ebenfalls an Molotov und Bucharin und drängte mit Erfolg darauf, seine Antwort auf die Broschüre Vaganjans nicht dem Thema der Diskussion entsprechend in der Zeitschrift Proletarskaja revoljucija, sondern im Bol 'sevik zu veröffentlichen, da sie dort ein breiteres Publikum und insbesondere die Jugend erreiche.92 Die symbolische Präsenz eines Verfassers von Texten oder eines politischen Akteurs kann somit als Protokoll seines Integrationsgrads in ein Spezialistenfeld oder in die bolschewistische Partei und folglich seiner Autorität gelesen werden. Eine wichtige Fähigkeit im politischen Umgang war daher, die eigene symbolische Präsenz zu erhalten, nach Möglichkeit auszuweiten und sich über die der anderen auf dem Laufenden zu halten bzw. diese zu kontrollieren. Aleksandr Solzenicyn führt seinen Lesern in dem Roman „Die Krebsstation", dessen Handlung im Jahr 1955 angesiedelt ist, den pathologischen Charakter einer solchen politischen Praxis eindringlich vor Augen, indem er den Handlungsrahmen seiner Romanfigur dekontextualisiert: Der Funktionär Pavel Nikolaevic Rusanov hat selbst als Patient der Krebsstation, also außerhalb des politischen Spiels, nichts Besseres zu tun, als die in der Presse auftauchenden Namen zu zählen und daraus seine Schlüsse über den politischen Status, d.h. die Autorität, der jeweiligen Personen zu ziehen.93 Die Krebsstation ist so eine Metapher für einen pathologischen politischen Interaktionsraum. Kontextualisiert man aber dieses Handlungsmuster, so scheint es weit weniger absurd und irrational, sondern in der Struktur der sowjetischen Herrschaftsbeziehungen angelegt. Die besonders in den 1930er Jahren verbreitete Praxis der Retuschen, d.h. das Entfernen von Personen aus bildlichen Darstellungen oder das Streichen von Namen aus Texten, kann als Radikalisierung dieses Handlungsmusters interpretiert werden; die Retusche

92

Schreiben Jaroslavskijs an Molotov und Bucharin (ohne Datum, 1926). F.89, op.12, d.2,1.4. Solschenizyn, Alexander: Krebsstation, aus dem Russischen von Christiane Auras, mit einem Vorwort von Heinrich Boll, Neuwied o.J., S. 302-303. 93

2. Jaroslavskij und die marxistischen Historiker

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erscheint so als absolute Verweigerung der symbolischen Präsenz.94 Diese Handlungsmuster und die ständige Sehnsucht vieler Revolutionäre nach direkter, personengebundener Vermittlung von Herrschaft stellen den strukturellen und psychologischen Hintergrund für das Entstehen von Personenkulten dar. Diese Mechanismen wurden durch die Traditionen der sozialdemokratischen Untergrundpresse begünstigt, die das wichtigste Band und die wichtigste Informationsquelle der verstreuten russischen Sozialdemokratie darstellte. Im revolutionären Untergrund hatte die Presse vor allem die Funktion, die Kommunikation und den Zusammenhalt der Bewegung zu gewährleisten; sie war also vor allem ein „Ort" der Vergemeinschaftung und das Lesen an sich eine politische Handlung, durch die sich eine Gruppe konstituierte. Diese Funktion wurde für die Mitglieder und Sympathisanten in dem Maße wichtiger, in dem die Bewegung durch Fraktionsstreitigkeiten instabil wurde. Die Leser, die - nimmt man ihre Erinnerungen ernst - das Eintreffen der Zeitungen, insbesondere der Iskra, vor Spannung kaum erwarten konnten, hatten die Aufgabe zu bewältigen, anhand der Lektüre die unterschiedlichen politischen und theoretischen Positionen und - noch wichtiger - deren Träger zu identifizieren, um für die eine oder andere Richtung bzw. Person Partei zu ergreifen und so ihre Zugehörigkeit zu definieren.95 Die sozialdemokratische Untergrundpresse nimmt einen sehr prominenten Platz in der bolschewistischen Erinnerungskultur ein. Der Zugang zu und die Lektüre von bestimmten Texten werden als wichtiges Ereignis modelliert. Die insbesondere um die sogenannte Leninsche Iskra produzierten Erzählungen sind zwar sicherlich nicht dazu geeignet, um ein faktisch zutreffendes Bild der Geschichte der Iskra zu entwerfen, sondern dienen vielmehr dazu, den Eindruck einer kohärenten bolschewistischen Bewegung zu erwecken. Jedoch erscheint es legitim, aus der Redundanz dieser Erzählungen auf die Bedeutung zu schließen, die einzelne Organe der Untergrundpresse für die politische Sozialisation der meisten Bolschewiki hatten. Für Jaroslavskij hatte auch später die sowjetische Presse nicht nur wegen seines professionellen Interesses als Propagandist einen erheblichen Stellenwert. Er nahm auch die dort vermittelten Inhalte sehr ernst, was aus heutiger Perspektive merkwürdig erscheinen mag, da uns diese auf zynische Weise manipuliert, unwahr, teilweise sogar unsinnig und auf jeden Fall redundant

94

Siehe hierzu, King, David: Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulation in der Sowjetunion. Mit einem Vorwort von Stephen F. Cohen, Hamburg 1997. 95 Zu vergleichbaren Formen des sozialen Zusammenhalts in der russischen intelligencija siehe: Walker: Intelligentsia Social Organization; speziell zur Bedeutung von Zeitungen und Zeitschriften als Repräsentationsmöglichkeit für „imagined communities": Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1998, S. 24-26.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

vorkommen.96 Jaroslavskij hatte aber wie die meisten führenden Bolschewiki ein Informationsbedürfhis, das sich wesentlich von dem eines heutigen Lesers unterscheidet. Die Presse sowie jede andere Form von Druckerzeugnissen mussten für ihn und seine Genossen im Wesentlichen zwei Funktionen erfüllen. An erster Stelle hatte die Presse der Bevölkerung gegenüber didaktische und mobilisierende Aufgaben wahrzunehmen. Für Parteimitglieder hatte die bolschewistische Presse auch in der sowjetischen Zeit die Funktion, den Zusammenhalt der Partei bzw. der jeweiligen Mehrheitsfraktion zu gewährleisten, indem sie die „richtige" Linie und deren Träger vermittelte.97 Aus diesem Zusammenhang erklärt sich die Besessenheit Jaroslavskij s, ständig symbolische Präsenz zu zeigen, d.h. zu den Trägern der „richtigen" Linie bzw. zu den Bolschewisten mit Autorität zu gehören, und somit auch die Bedeutung des zeitgenössischen Begriffs von Autorität. Das sozialisationsbedingte Informationsbedürfhis der Bolschewiki prägte nachhaltig sowohl deren Vorstellungen vom politischen Handeln als auch deren politische Interaktionsformen, die in erheblichem Maße auf einer symbolischen Ebene realisiert wurden. Die Texte und die Praktiken sind so aufs Engste miteinander verknüpft.98 b. Funktionsmechanismus

des Felds: Patronage,

Allianz- und

Klientelbildung

Jaroslavskij nutzte Pokrovskijs professionellen und intellektuellen Status als maßgeblicher sowjetischer marxistischer Historiker, um seine eigene Autorität in seinem neuen Betätigungsfeld, d.h. auf dem Gebiet der Parteigeschichte, abzusichern. Diese Form des Austausche von immateriellen Gütern bzw. Machtmitteln ist von Bruce Mazlish als „economy of power" bezeichnet worden.99 Pierre Bourdieu hat den ökonomischen Kapitalbegriff durch andere austauschbare Ressourcen, die er symbolisches, soziales und kulturelles Kapital nennt, ergänzt. Er geht davon aus, dass die Akteure in einem sozialen 96

Besonders in den Urlaubszeiten las Jaroslavskij die bolschewistische Presse und kommentierte seine Eindrücke und Deutungen in Briefen und persönlichen Aufzeichnungen. 97 Siehe hierzu: Lenoe, Matthew: Agitation, Propaganda, and the Stalinization of the Soviet Press, 1925-1933, Pittsburgh 1998 (Carl Beck Papers in Russian and East European Studies, 1305); ders.: Closer to the Masses. Stalinist Culture, Social Revolution, and Soviet Newspapers, Cambridge 2004; Brooks, Jeffrey: Thank You Comrade Stalin! Soviet Public Culture from Revolution to Cold War, Princeton 2000; Kenez: Propaganda State, S. 25-34. 98 An diesem Beispiel zeigt sich, dass das Lesen nicht, wie die klassische Geistesgeschichte annimmt, lediglich „eine abstrakte Operation des Geistes" ist, sondern, wie Roger Chartier formuliert, eine körperliche Aktion, „es [das Lesen] schreibt sich in einen Raum ein, beinhaltet ein Verhältnis zu sich oder zu einem anderen. Deshalb muß jene spezifische Art des Lesens rekonstruiert werden, die jeder Gemeinschaft von Lesern, jeder dieser interpretive communities (...) eigen sind." Chartier, Roger: Die Welt als Repräsentation, in: Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten, hrsg. v. Matthias Middell, Steffen Sammler, Leipzig 1994, S. 320-347, S. 334. 99 Mazlish, Bruce: Invisible Ties: From Patronage to Networks, in: Theorie, Culture and Society 17 (2000), S. 1-20, S. 3.

2. Jaroslavskij und die marxistischen Historiker

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Raum, dem Feld, durch den Austausch dieser Kapitalformen versuchen, ihre jeweilige Machtposition zu verbessern.100 Bourdieus erweiterter Kapitalbegriff stellt ein geeignetes begriffliches Instrumentarium dar, um die Beziehungsformen in unserem Kontext zu beschreiben. Es wurde dargelegt, dass Jaroslavskij mit dem Projekt einer mehrbändigen Parteigeschichte im Wesentlichen zwei Ziele verfolgte: die Legitimierung der von der Mehrheitsfraktion des ZK postulierten Herrschaftsansprüche und eine Steigerung seiner eigenen intellektuellen Autorität. Obwohl es für einen Bolschewisten als nicht opportun galt, konkrete Statusinteressen zu äußern, folgte Jaroslavskij doch mit dem Projekt der mehrbändigen Parteigeschichte einem typischen Muster von Machtpolitik auf der Mikroebene: der Klientelbildung. Zur Verwirklichung seines Projekts versammelte er einen Mitarbeiterstab von etwa 30 Personen. Diese rekrutierten sich überwiegend aus Studenten oder Absolventen des Instituts der Roten Professur, an dem Jaroslavskij Lehrveranstaltungen über Parteigeschichte und Leninbiographik abhielt. Teilweise waren sie ihm von Pokrovskij empfohlen worden.101 Jaroslavskij sah sich sogar, um dem Anspruch des ehrgeizigen Projekts Nachdruck zu verleihen, genötigt, explizit in der Einleitung des ersten Bands der zweiten Auflage zu erwähnen, seine Mitarbeiter seien Schüler Pokrovskijs.102 Zwei seiner Mitarbeiter, G.I. Kramol'nikov (Prigornyj) und K.A. Popov, kannte Jaroslavskij schon aus Sibirien. Kramol'nikov war seit den 1890er Jahren ein enger Freund Jaroslavskijs, den er im Milieu der Gymnasiasten und Studenten in Cita kennengelernt hatte.103 K.A. Popov war Mitglied des Sibirischen Regionalbüros des ZK, dem Jaroslavskij als Sekretär zu Beginn der 1920er Jahre vorgestanden hatte.104 Im Unterschied zu Jaroslavskijs Beziehung zu dem etwa gleichrangigen Pokrovskij ist die Beziehung zwischen einem Patron und seinen Klienten durch eine ungleiche bzw. hierarchische Ressourcenverteilung gekennzeichnet.105 Die zumeist jüngeren Historiker profitierten von der Zusammenarbeit 100

Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. Unvollständige Listen der Mitarbeiter und ihrer Aufgaben in der Istorija VKP(b), 2. Aufl., befinden sich in: F.89, op.7, d.84. Folgende Mitarbeiter konnten namentlich identifiziert werden: N. Rubinstejn, S.A. Piontkovskij, D.A. Baevskij, V. Rachmetov, N. El'vov, Taskarov, D.Ja. Kin, G.I. Kramol'nikov, O. Rimskij, I.I. Mine, A.V. Sestakov, Ponomarov, N.N. Vanag, A.L. Sidorov, E.B. Genkina, Prager, Kuznecov, A. Ross, N. Nikitin, B.B. Grave, G.I. Vaks, Berezin, Majorskij, Bronin, S. Bantke und K.A. Popov. Knappe Lebensläufe einiger Historiker befinden sich in den Kaderakten der Kommunistischen Akademie. Archiv AN, f.350, op.3. Zur Rekrutierung und Zusammensetzung der Studenten am Institut der Roten Professur siehe: Behrendt, Lutz-Dieter: Die Institute der Roten Professur: Kaderschmiede der sowjetischen Parteiintelligenz (1921-1938), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997), S. 597-621, hier S. 606-609. 102 Hierüber mokierte sich Vaganjan: Sejateli, S. 36. 103 Siehe hierzu Jaroslavskijs Erinnerungen an die 1890er Jahre in Cita. F.89, op.8, d.4,1.29. 104 F.89, op.l, d.84,1.22. 105 Über Patronage, Klientelismus und personale Netzwerke gibt es eine umfassende Literatur. Siehe z.B.: Schmidt, Steifen W.¡Guasti, Laura u.a. (Hrsg.): Friends, Followers and 101

190

IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

mit dem hochrangigen Parteifunktionär Jaroslavskij auf mehreren Ebenen; sie konnten durch die langjährige Arbeit am Projekt der ffinfbändigen Parteigeschichte ihre Reputation aufwerten, erhielten durch den Kontakt zu Jaroslavskij Zugang zu wichtigen Ressourcen, die v o n einer Wohnung in Moskau bis hin zu Veröffentlichungsmöglichkeiten reichten. Z u d e m eröffnete die Beziehung zu Jaroslavskij für einige Mitglieder dieser Gruppe die Möglichkeit, sich eine spezifische Identität zuzulegen, indem sie sich als Mitglieder der „Jaroslavskij-Schule" im Gegensatz zur „Pokrovskij-Schule" positionieren konnten. Jaroslavskij konnte durch seine Rolle als Patron zunächst durch diese jungen Historiker seinen Einfluss und Status im geschichtswissenschaftlichen Feld erheblich aufwerten, denn einige von ihnen besetzten relevante Positionen in den Institutionen und den Redaktionskollegien der Fachzeitschriften. Jaroslavskij s Autorität vermittelte sich durch die Anzahl und die Reputation seiner Mitarbeiter und durch sein Vermögen, diese für sein Projekt rekrutieren zu können. Im Wesentlichen verhalfen ihm seine Mitarbeiter dazu, seinen Anspruch auf die Manipulation der Weltsicht durch ihre anerkannte Fachkompetenz zu legitimieren. 106 Jaroslavskij leitete neben den Historikern noch eine Gruppe junger atheistischer Aktivisten; die meisten von ihnen waren Factions. A Reader in Polititcal Clientelism, Berkeley 1977; Gellner, Ernest/Waterburry, John (Hrsg.): Patrons and Clients in Mediterranean Societies, London 1977; Mazlish: Invisible Ties. Für den russischen bzw. sowjetischen Kontext siehe: Rigby, T.H./Harasymiv Bohdan (Hrsg.): Leadership Selection and Patron-Client Relations in the USSR and Yugoslavia, London 1983; Willerton, John: Patronage and Politics in the USSR, Cambridge 1992; Ledeneva, Alena: Russia's Economy of Favours: Blat, Networking and Informal Exchange, Cambridge 1998. Folgende Arbeiten beschäftigen sich mit dem Verhältnis des politischen Zentrums zu regionalen personalen Netzwerken: Gill: Origins; Easter. Reconstructing the State. Zu Patronage im Bereich der Kultur siehe: Fitzpatrick, Sheila: Intelligentsia and Power. Client-Patron Relations in Stalin's Russia, in: Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, hrsg. v. Manfred Hildermeier, München 1998, S. 35-54, und die Beiträge im Sonderheft: Patronage, Personal Networks and the Party State, Contemporary European History 11 (2002): David-Fox, Michael: From Illusory 'Society' to Intellectual 'Public': VOKS, International Travel and Party-Intelligentsia Relations in the Internar Period, ebenda, S. 7-32; Tomoff, Kiril: 'Most Respected Comrade ...': Patrons, Clients, Brokers and Unofficial Networks in the Stalinist Music World, ebenda, S. 33-66; Tölz, Vera: 'Cultural Bosses' as Patrons and Clients: the Functioning of the Soviet Creative Unions in the Postwar Period, ebenda, S. 87-106; Walker, Barbara: Kruzhok Culture: the Meaning of Patronage in the Early Soviet Literary World, ebenda, S. 107-124. Zu Patronage im wissenschaftlichen Bereich siehe: Krementsov, N.: Stalinist Science, Princeton 1997; Aleksandrov, D.A.: The Historical Anthropology of Science in Russia, in: Russian Studies in History 34 (1995), S. 62-91. 106 Sheila Fitzpatrick hat in ihrer Arbeit über die Patronagebeziehungen zwischen Mitgliedern der stalinistischen Führung und Mitgliedern der intelligencija bemerkt, dass das Prinzip des gegenseitigen Nutzens in diesen Beziehungen, das in der vergleichenden Literatur über Patronage als ein wesentliches Merkmal von Patronagebeziehungen bezeichnet wird, nicht eindeutig auf den sowjetischen Fall zu übertragen sei. Sie betont, dass der Patron in diesem Kontext keinen eindeutigen Nutzen von seinen intelligencija-KMenten habe ziehen können. Fitzpatrick: Intelligentsia and Power, S. 37, 40, 44, 50. Im Falle Jaroslavskijs ist der Nutzen, den er aus seinen jungen Mitarbeiter am Projekt der Istorija VKP(b) zu ziehen hoffte, relativ offensichtlich.

2. Jaroslavskij und die marxistischen Historiker

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junge Philosophen, die sich in einem von ihm organisierten „Zirkel zum Studium der Religionen" 1923 an der Sverdlov-Universität zusammengefunden hatten.107 Die sozialen Beziehungen und auch die praktische Zusammenarbeit zwischen Jaroslavskij und seinen „Schülern" gestalteten sich auf ähnliche Weise wie in einem klassischen kruzok, der typischen Soziabilitätsform der intelligencija. Die Zusammenarbeit ging über eine Arbeitsbeziehung hinaus. Jaroslavskij schrieb zwar tatsächlich viele, aber nicht alle unter seinem Namen veröffentlichten Texte selbst. Seine Mitarbeiter stellten für ihn das Quellenmaterial zusammen und unterstützten ihn beim Verfassen und Redigieren von Texten; die Zusammenkünfte und Redaktionssitzungen fanden nicht selten bei Jaroslavskij zu Hause oder auf der Datscha am Stadtrand von Moskau, also in einem verhältnismäßig inoffiziellen Rahmen, statt. Jaroslavskij war nicht der einzige, der eine „Gruppe" um sich scharte. Klientelbildung war eine gängige politische Praxis. Die höheren Bildungseinrichtungen und insbesondere das Institut der Roten Professur, an dem viele hochrangige Bolschewisten regelmäßig verkehrten und dort Lehrveranstaltungen abhielten, waren ein so üblicher wie geeigneter Ort, um dies zu tun. Das Institut galt als die Kaderschmiede der Partei. Die Studentenschaft rekrutierte sich überwiegend aus jungen Kommunisten, die in ihrer überwiegenden Zahl um 1900 geboren worden waren. Die meisten von ihnen waren zwischen 1917 und 1919 in die Partei eingetreten, hatten im Bürgerkrieg gekämpft und politische Aufgaben in der Roten Armee übernommen. Die meisten von ihnen besaßen schon vor Studienantritt eine zumindest rudimentäre akademische Ausbildung.108 Ihre spezifische Sozialisation bedingte das militante Ethos und den aggressiven Debattierstil dieser jüngeren Kommunisten. Die prominenteste „Gruppe" war die Bucharins, deren Mitglieder sich teilweise aus seinen ehemaligen Studenten am Institut der Roten Professur zusammensetzten und von denen einige in seinem persönlichen Sekretariat arbeiteten.109 Es gibt Hinweise darauf, dass auch Stalin versuchte, eine „Gruppe" um sich zu versammeln.110 Auch Pokrovskij war der Kopf einer solchen „Gruppe". In den 1920er Jahren beherrschten er und seine „Schüler" die marxistische Geschichtswissenschaft und die entsprechenden Institutionen, die bis zur Zerschlagung der alten Akademie der Wissenschaften und der 107 Sovel'ev: Propagandist marksistskogo ateizma, S. 31-36. Siehe auch die Erinnerungen M.M. Sejnmans, der diesem Zirkel angehörte: Istoriki ucastniki Oktjabr'skoj revoljucii. Emel'jan Michajlovic Jaroslavskij, in: Istorija SSSR, 1967, H. 5, S. 130-138. 108 Siehe zum Profil der Studenten und des Lehrkörpers: Behrendt: Institute der Roten Professur. 109 Mitglieder dieser Gruppe waren u.a. Ivan Adamovic Kravaev, Dimitrij Petrovic Mareckij, Grigorij Petrovic Mareckij, David Petrovic Rozit, Vasilij Nikolaevic Slepkov, Aleksandr' Nikolaevic Slepkov, Jan Ernestovic Sten, Aleksandr Jakovlevic Troickij und Aleksej Ivanovic Steckij. Zur Rolle von Bucharins „Schülern" in den innerparteilichen Auseinandersetzungen siehe: David-Fox·. Revolution of the Mind, S. 183-185; Ferdinand, C.I.P.: The Bucharin Group of Political Theoreticians, Ph.D. diss, Oxford 1984. 110 Fitzpatrick: Cultural Revolution Revisited, S. 203-204.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

RANION im Jahr 1929 noch mit der „bürgerlichen Geschichtsforschung" koexistiert hatten. Pokrovskijs „Schüler" besetzten alle wichtigen Posten in den Institutionen, in denen sein Einfluss dominant war.111 Jaroslavskij konnte zunächst von diesem Einfluss profitieren. Trotz der Vorteile der Klientelbildung für Jaroslavskij waren diese Beziehungen doch auch durch eine erhebliche Unkalkulierbarkeit und potentielle Instabilität gekennzeichnet. Zunächst war die Bewertung solcher Klientelbildungen unter den Zeitgenossen ambivalent: Einerseits gehörte die Fähigkeit, „Schüler" an sich zu binden, unter führenden Bolschewisten, und besonders unter denen, die sich im akademischen Milieu engagierten, zu einem erfolgreichen Auftreten. So äußerte sich Jaroslavskij despektierlich darüber, dass der Historiker Vladimir Ivanovic Nevskij nicht in der Lage sei, „Schüler" zu rekrutieren, und legte diese vermeintlich mangelnde Fähigkeit als Schwäche, mangelnde Autorität und Sektierertum aus. Andererseits konnte diese Fähigkeit in politischen Auseinandersetzungen umgedeutet werden. Klientelbildung wurde dann negativ gewendet und als semejstvo (Vetternwirtschaft) oder gruppovscina (Cliquenwirtschaft) bezeichnet. Beiden Begriffen haftete ein Beiklang von Korruption, Konspiration, Fraktionsbildung, Machtmissbrauch und organisiertem Verstoß gegen die Parteilinie an. Diejenigen, die Klientelbildung praktizierten, befanden sich folglich in einer labilen Situation."2 Zudem war der Autoritätsgewinn im Feld der Historiker für Jaroslavskij nur eine Seite der Medaille, denn einige seiner Mitarbeiter, die Jaroslavskij als ihren Mentor betrachteten, instrumentalisierten seinen Namen, um ihre eigenen fraktionellen Interessen durchzusetzen, die sich zwar teilweise, aber nicht zwingend mit denen Jaroslavskij s deckten. Zwar beruhte die Beziehung zwischen Jaroslavskij und seinen Mitarbeitern auf einer ungleichen Ressourcenverteilung, dennoch hatten die Klienten Jaroslavskij s die Möglichkeit, ihrem Patron zu schaden, da sie nicht nur mit diesem auf der vertikalen Ebene in Beziehung standen, sondern auch auf der horizontalen Ebene Beziehungen unterhielten, Interessen verfolgten und Spannungen ausgesetzt waren. Dieses Beziehungsgeflecht sollte sich für den Patron Jaroslavskij als schwer steuerbar erweisen. Bis gegen Ende der 1920er Jahre herrschte zwischen den Mitarbeitern Jaroslavskijs und denen Pokrovskijs, d.h. im Lager der marxistischen Historiker, noch eine relative Konfliktfreiheit; beide „Gruppen" überschnitten sich weitgehend personell. Die schon angedeuteten Spannungen im Historikerfeld und die auch außerhalb des engeren Spezialistenkreises vorhandenen Unzu111 Einige besonders hervorzuhebende Mitglieder dieser Gruppe waren G.S. Fridljand, P.V. Gorin, N.M. Lukin, A.M. Pankratova, I.L. Tatarov und N.N. Vanag. Ein gemeinsames Merkmal dieser Gruppe war ebenfalls, mit Ausnahme des 1885 geborenen Lukin, ihre Jugend. Ihr Geburtsdatum liegt um 1900. Auch ihre Karrieren folgen einem ähnlichen Muster. Barber: Historians, S. 23-24, 151. Knappe Lebensläufe einiger Historiker befinden sich in den Kaderakten der Kommunistischen Akademie. Archiv AN, f.350, op.3. 112 Hierzu siehe: Fitzpatrick: Intelligentsia and Power.

3. Konflikte an der „historischen Front"

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friedenheiten mit Pokrovskijs hegemonialer Stellung und Deutungshoheit entluden sich an einem polemischen Aufsatz von Ivan Teodorovic, einem Altbolschewisten und Jaroslavskijs Stellvertreter in der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes", über die politische Bedeutung der vorrevolutionären terroristischen Organisation Narodnaja volja. Diese Auseinandersetzungen begannen 1929, das Lager der marxistischen Historiker zu spalten. In der älteren Literatur wurde angenommen, dass das Konfliktpotential im marxistischen Lager durch den Kampf der marxistischen Historiker gegen die sogenannten bürgerlichen Historiker absorbiert wurde. Diese These hat nur insofern eine Berechtigung, als dass Pokrovskij nach der Marginalisierung der bürgerlichen Historiker gegen Ende der 1920er Jahre und nach der Zerschlagung ihrer Institutionen seine führende Stellung noch weiter festigen und die Geschichtsschreibung weitgehend dominieren konnte. Hiermit forderte er andere heraus, die aufgrund persönlicher Erwägungen oder institutioneller Anbindungen diese Monopolisierung der Geschichtsauslegung nicht tolerieren wollten. Zwei der Hauptakteure in den Auseinandersetzungen mit Pokrovskij, Jaroslavskij und Teodorovic, hatten mit der Verdrängung der bürgerlichen Historiker nichts zu tun. Sie standen außerhalb der engeren Historikerzunft. Der Konflikt Pokrovskijs mit Teodorovic hat Bezüge, die nicht im Spezialistenfeld begründet liegen. Auch Jaroslavskij verfolgte in den 1920er Jahren nicht so sehr das Interesse, sich eine bedeutende Stellung im engeren Spezialistenfeld der Historiker zu verschaffen und die bürgerliche Konkurrenz auszuschalten. Das soll nicht heißen, dass Jaroslavskij nicht machtbewusst handelte. Er konzentrierte sich im Kontext der innerparteilichen Auseinandersetzungen aus konkreten politischen bzw. herrschaftslegitimatorischen Gründen ausschließlich auf die Geschichte und die Vorgeschichte der bolschewistischen Partei und setzte sich das ehrgeizige Ziel, eine verbindliche Interpretation der Parteigeschichte zu liefern. Möglicherweise aber erfüllte Jaroslavskij durch den Konflikt mit Pokrovskij unfreiwillig eine Ventilfunktion für unterschiedliche Spannungen unter den jüngeren professionellen Historikern, da er sich ihnen als politisch einflussreicher Patron und neue Identifikationsmöglichkeit anbot. Die jüngeren Historiker mussten aufgrund der spezifischen Funktionsweise des Feldes und der darin herrschenden Regeln der Interaktion solche Verbindungen mit anerkannten Autoritäten eingehen, wollten sie sich selbst im Feld positionieren und ihre Interessen vertreten.

3. Konflikte an der „historischen Front" Zwei inhaltlich voneinander unabhängige Konflikte, die sich aber semantisch gegenseitig aufluden, bestimmten die marxistische Historikerzunft an der

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Wende von den 1920er zu den 1930er Jahren: die Auseinandersetzungen über die politische Bedeutung der Narodnaja volja für den Bolschewismus und über die erste Russische Revolution von 1905.113 Diese Konflikte und ihre Dynamik sollen mit dem Fokus auf Jaroslavskij kurz dargestellt werden. Dabei interessieren uns sowohl die inhaltlichen Aspekte dieser Diskussionen als auch die Modi der politischen Auseinandersetzung. a. Das Narodnicestvo Einer der ersten Konflikte unter den marxistischen Historikern, in den Jaroslavskij direkt involviert war, war der 1929 ausbrechende Streit über die politische Bedeutung der Narodnaja volja. Dass die Geschichte des russischen Populismus für die russischen Marxisten aus mehreren Gründen bedeutsam war, ist am Beispiel des Konflikts, den Jaroslavskij und Vaganjan 1926 ausgetragen hatten, gezeigt worden. Zudem haben wir gesehen, dass die Interpretation der Parteigeschichte von der jeweiligen politischen Situation abhängig war. Diese war im Jahr 1929 besonders angespannt. Im Herbst 1929 bildete das Präsidium der Kommunistischen Akademie eine Kommission, die mit der Aufgabe betraut wurde, den fünfzigsten Jahrestag der Gründung der Narodnaja volja vorzubereiten. Die Kommission setzte sich aus hochrangigen Mitgliedern zusammen. Jaroslavskij übernahm in seiner Funktion als Vorsitzender der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" die Leitung. Viele Mitglieder der Gesellschaft waren ehemalige Narodovol 'cy oder sind im Umfeld der Narodnaja volja politisch sozialisiert worden. Weitere Mitglieder der Jubiläumskommission waren Nadezda Krupskaja, Pokrovskij, David Rjazanov, Pavel Gorin und Vladimir Malachovskij.114 Die Kommission hatte die schwierige Aufgabe, die Interessen der „Gesellschaft marxistischer Historiker" und von Pokrovskij s neugegründetem Historischen Institut, des vorgeblichen Hüters einer marxistisch-leninistischen Orthodoxie, mit den Interessen der heterogenen „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" bei der Ausgestaltung des Jubiläums zu koordinieren. In der Zusammensetzung der Kommission waren die folgenden Auseinandersetzungen schon angelegt. Zudem machte die politische Situation im letzten Viertel des Jahres 1929 die Vorbereitungen auf das Jubiläum und die damit verbundenen Diskussionen über die politischen Theorien der Narodnaja volja, in denen den Bauern eine zentrale Rolle beim Aufbau des Sozialismus beigemessen wird, zu einer 1,3 Zu den Konflikten an der „historischen Front" siehe: Enteen, George: Marxist Historians during the Cultural Revolution: A Case Study of Professional In-fighting, in: Cultural Revolution in Russia, 1928-1931, hrsg. v. Sheila Fitzpatrick, Bloomington, London 1978, S. 154-168; Barber. Historians, S. 80-106. Alatorceva, A.I.: Sovetskaja istoriceskaja periodika, 1917 - seredina 1930-ch godov, Moskau 1989, S. 202-225. 114 Barber. Historians, S. 87.

3. Konflikte an der „historischen Front"

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besonders heiklen Angelegenheit. Dessen waren sich die Kommissionsmitglieder bewusst. 1928 hatte die Parteiführung ihre Politik gegenüber den Bauern verschärft. 1927 und 1928 war eine schwere Versorgungskrise eingetreten, auf die Stalin und seine Anhänger reagierten, indem sie Getreidebeschlagnahmungen anordneten. Für die Versorgungsengpässe, die zu einem guten Teil durch wirtschaftspolitische Fehler ausgelöst worden waren, wurden die „Kulaken" verantwortlich gemacht.115 Die Getreidebeschaffungskampagne hatte im Oktober 1929 zu Chaos und zu unkontrollierbaren Bauernaufständen geführt. Die bolschewistische Führung reagierte mit einer Flucht nach vorn, indem sie die geplante Reorganisation der Landwirtschaft drastisch beschleunigte. Am 7. November erhob Stalin die vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft zum Programm. Nur einige Monate später wurde die Kollektivierung der Hälfte der bäuerlichen Haushalte verkündet. Durchgeführt wurden diese Maßnahmen unter höchster Gewaltanwendung, durch massenhafte Verhaftungen, Deportationen, Beschlagnahmungen und Hinrichtungen widerständiger Bauern.116 Die Auseinandersetzungen im Politbüro über die Politik gegenüber den Bauern endeten ebenfalls im November 1929 mit einer Niederlage der sogenannten Rechten Opposition. Diese Konflikte wurden auf die zeitlich darauffolgenden Diskussionen der Historiker über die politische Bedeutung der Narodnaja volja projiziert. Der unmittelbare Auslöser für diese Auseinandersetzungen war der erwähnte Artikel Ivan Teodorovics über die historische Bedeutung der Narodnaja volja, den er Ende des Jahres 1929 in der Zeitschrift der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" Katorga i ssylka veröffentlichte.117 Teodorovic war zu diesem Zeitpunkt leitender Redakteur der Zeitschrift. Er vertrat in seinem Artikel eine Position, die in vielen Punkten deijenigen Jaroslavskijs entspricht, die dieser im ersten Band der Istorija VKP(b) vertreten und vehement gegen Vaganjan verteidigt hatte. Teodorovics Artikel war ein engagiertes Plädoyer für die Anerkennung der Narodnaja volja als revolutionäre Partei, in deren Tradition sich der Bolschewismus entwickelt habe. Ähnlich wie Jaroslavskij und seine Mitarbeiter, aber in radikalerer Weise, stellte Teodorovic eine Kontinuitätslinie zwischen der Narod115

Suny: Soviet Experiment, S. 158-159. Siehe hierzu: Baberowski, Jörg: Stalinismus „von oben". Kulakendeportation in der Sowjetunion 1929-1933, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998), S. 572-591; Viola, Lynne (Hrsg.): The Tragedy of the Soviet Countryside, Bd.l: The War against the Peasantry, 1927-1930, New Haven 2005. 117 Teodorovic, I.A.: Istoriceskoe znacenie partii Narodnoj Voli, in: Katorga i ssylka, no. 8 9, 1929, S. 7-53. Die Zeitschrift sollte regulär im September 1929 erscheinen. Da die ersten Reaktionen auf diesen Artikel erst Ende Dezember erfolgten, ist davon auszugehen, dass die für September vorgesehene Ausgabe frühestens Ende November erschien. Dies entspricht den für russische Zeitschriften in den 1920er und 1930er Jahren üblichen Verzögerungen. Etwas später bekräftigte Teodorovic seine Auffassung in einer Monographie: ders. : Istoriceskoe znacenie partii Narodnoj voli, Moskau 1930. Zur Auseinandersetzung zwischen Teodorovic und Pokrovskij siehe: Enteen: Marxist Historians, S. 158-161. 116

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naja volja und dem Bolschewismus her, indem er die Rezeption der Narodnaja volja durch Lenin und Plechanov thematisierte. Im Namen Lenins erklärte er die sogenannte plechanovsche Konzeption der Geschichte, die auch Vaganjan vertreten hatte, nämlich dass sich der russische Marxismus in der Tradition der von Plechanov gegründeten Gruppen Cernyj peredel und Ozvobozdenie truda entwickelt habe, für falsch.118 Lenin habe zwischen den revolutionären Narodniki der 1870er Jahre und ihren bürgerlichen Epigonen der 1890er Jahre unterschieden; in der politischen Theorie und Praxis der ersteren seien bereits Elemente des Bolschewismus angelegt gewesen.119 Trotz der inhaltlichen Ähnlichkeit ihrer Interpretationen verfolgten Teodorovic und Jaroslavskij zunächst graduell unterschiedliche Ziele. Während es Jaroslavskij um den innerparteilichen Machtkampf und um die Konstruktion einer Kontinuitätslinie ging, die Plechanov mit dem Menschewismus und dem sogenannten Trotzkismus verbindet, war Teodorovics Artikel ein offener Angriff gegen Pokrovskij, den er als führenden Vertreter der plechanovschen Konzeption bezeichnete. So stellte Teodorovic die rhetorische Frage, wer in seiner Beurteilung der politischen Bedeutung der Narodnaja volja wohl recht habe, Lenin oder Pokrovskij? 120 In einem dem Artikel vorangestellten Kommentar der Redaktion wurden Pokrovskij und seine Anhänger in provozierendem Ton aufgefordert, „ihre Meinung über die vom Genossen Teodorovic vorgebrachte Darstellung der Frage zu äußern."121 So „antileninistisch" wie Teodorovic Pokrovskij s Position darstellte, war diese jedoch nicht: Pokrovskij vertrat wie Plechanov und Lenin die Auffassung, dass die Gruppe Ozvobozdenie truda für die Entwicklung des russischen Marxismus maßgeblich war, hielt aber die Narodnaja volja für eine bürgerliche Partei.122 Pokrovskij hatte in dieser Hinsicht sicherlich die orthodoxere Position inne. Was veranlasste Teodorovic dazu, Pokrovskij derartig herauszufordern? Teodorovics vehementer Versuch, die Narodnaja volja und deren revolutionäres Erbe zu rehabilitieren, lag sowohl in seiner revolutionären Erfahrung als auch in seiner institutionellen Verankerung begründet. Teodorovic war in der Tradition des narodnicestvo sozialisiert worden123 und hatte sich auf dem Wege der politischen Praxis die marxistische Theorie angeeignet. Zudem war er Jaroslavskij s Stellvertreter in der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes". Viele der dort vertretenen älteren Bolschewisten, ehemaligen Anarchisten, Narodovol'cy, Sozialrevolutionäre und Menschewisten mussten sich wie Teodorovic durch den militanten Anspruch 118 Eine gute Zusammenfassung von Teodorovics Theorie befindet sich in: Barber. Historians, S. 88-89. 119 Teodorovic: Istoriceskoe znacenie (1929), S. 17. 120 Teodorovic: Istoriceskoe znacenie (1929), S. 11. 121 Katorga i ssylka, no. 8-9, 1929, S. 7. 122 Barber: Historians, S. 83. 123 Enteen: Marxist Historians, S. 159.

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Pokrovskijs und besonders seiner jüngeren Anhänger, die Geschichte der russischen revolutionären Bewegungen als Geschichte bolschewistischer Unfehlbarkeit und nicht-bolschewistischer Irrtümer zu schreiben und diese Geschichte als einzige legitime orthodox-marxistisch-leninistische Interpretation zu monopolisieren, d.h. durch die Abwertung ihrer revolutionären Erfahrung herausgefordert fühlen.124 Teodorovics selbsterklärtes Ziel war, „der Jugend beizubringen, die Verdienste der alten Revolutionäre wertzuschätzen."125 Die Bedeutung der von Teodorovic provozierten Auseinandersetzung ging daher weit über den eigentlichen Gegenstand der Debatte hinaus. Es ging um die Frage der legitimen Konstruktion von Erinnerung und darum, wessen Erfahrungen in dieser Erinnerungsproduktion ihren Platz haben sollten. Für Pokrovskij, dessen theoretische Aneignungsprozesse aufgrund seiner Ausbildung und seiner wissenschaftlichen Tätigkeit mit seiner praktischen Erfahrung relativ identisch waren, und für seine an den höheren Bildungseinrichtungen der Partei ausgebildeten jüngeren Anhänger spielten die heterogenen Erfahrungen vieler alten Revolutionäre keine Rolle. Der Ton der folgenden Auseinandersetzung wurde wesentlich durch den Umstand bestimmt, dass Teodorovic zu diesem Zeitpunkt politisch bereits vollständig diskreditiert war. Er war als stellvertretender Volkskommissar für Landwirtschaft und überzeugter Befürworter der NEP in den 1920er Jahren für eine gemäßigte Politik den Bauern gegenüber eingetreten und im Zuge der Radikalisierung der Landwirtschaftspolitik im Vorfeld der Kollektivierung gemeinsam mit dem Volkskommissar für Landwirtschaft, Aleksandr Smirnov im Februar 1928 von seinem Posten entlassen worden.126 1930 bekam Teodorovic ernsthafte Schwierigkeiten: Stalin verdächtigte ihn als Mitverschwörer in einem weitverzweigten Netz konterrevolutionärer Organisationen, u.a. in der von der OGPU konstruierten „antisowjetischen Bauernpartei", die angeblich von dem ehemaligen Sozialrevolutionär und angesehenen Wirtschaftsfachmann Nikolaj Kondrat'ev geleitet worden sein soll.127 Zu den inhaltlichen Differenzen zwischen Pokrovskij und Teodorovic über die Genese des Bolschewismus kam verschärfend hinzu, dass insbesondere Pokrovskijs jüngere Anhänger in der „Gesellschaft marxistischer Historiker" hier sind insbesondere GS. Fridljand, I.L. Tatarov und P.V. Gorin zu nen-

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Barber. Historians, S. 90. Barber: Historians, S. 89; Istorik-marksist, 1930, no. 15, S. 138. Zur Ausschaltung der Leiter des Narkomzem siehe: Wehner: Bauernpolitik, S. 374-382. 127 Stalin schrieb am 30.8.1930 an Molotov: „Ich denke, dass wir die Strafverfolgung der Angelegenheit Kondrat'ev-Groman-Sadyrin sehr gründlich und in aller Ruhe fuhren sollten. Alle Dokumente über diese Angelegenheit müssen an die Mitglieder des ZK und der ZKK ausgegeben werden. Ich zweifle nicht daran, dass wir eine direkte Verbindung (über Sokol'nikov und Teodorovic) zu diesen Herren der rechten Opposition (Buchfarin], Rykov, Tomskij) aufdecken. Kondrat'ev, Groman und ein paar andere Schufte müssen unbedingt erschossen werden." Pis'ma I.V. Stahna V.M. Molotovu, hrsg. v. L. Koseleva, V. Lel'cuk, V. Naumov u.a., Moskau 1995, S. 194. 125

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nen128 - im Verlaufe der Diskussion versuchten, Teodorovic einen Zusammenhang zwischen seinen politischen und seinen historischen Ansichten zu unterstellen, d.h. ihn als Verfechter eines bäuerlichen Sozialismus zu brandmarken und seine Theorie als „rechtsopportunistisch" zu etikettieren.129 Damit übertrugen sie die Debatte von einem historischen in einen politischen Kontext. In Teodorovics Aufsatz finden sich hingegen keine Hinweise, die eine solche Unterstellung rechtfertigen würden. Dieser bediente sich jedoch derselben Methode, um seinen Argumenten zu einer größeren politischen Schlagkraft zu verhelfen, indem er Pokrovskijs Konzeption der Narodnaja volja als menschewistischen Irrtum bezeichnete.130 Der an einem schweren Krebsleiden erkrankte Pokrovskij, der sich zum Zeitpunkt des Erscheinens von Teodorovics Artikel zur Genesung in Berlin aufhielt, verhielt sich nicht weniger agressiv als seine Anhänger. Gorin berichtet in einem 1933 veröffentlichten Nachruf auf Pokrovskij, Pokrovskij habe ihn als Reaktion auf Teodorovics Herausforderung instruiert, alle Schriften Lenins auf Aussagen über die Narodovol 'cy durchzuarbeiten und diese gegen seinen Gegner zu verwenden.131 Die Debatte wurde sowohl in der Presse als auch in Diskussionsveranstaltungen ausgetragen und zog sich bis Ende des Jahres 1930 hin. Sie erfuhr parallel zu den Ereignissen auf der großen politischen Bühne eine zunehmende Radikalisierung. Jaroslavskij hatte sich am 30. Januar 1930 mit einem Artikel in der Pravda mit dem Titel „Marx und Engels über die Narodnaja volja" zum ersten Mal namentlich in die Debatte eingemischt, ohne allerdings explizit Stellung zu den aufgeheizten Auseinandersetzungen zu beziehen.132 Implizit stützte er jedoch Teodorovic, indem er die positive Haltung von Marx und Engels gegenüber der Narodnaja volja hervorhob und die menschewistische Vernach128 Fridljand war Präsidiumsmitglied in der „Gesellschaft marxistischer Historiker" und Leiter der Abteilung für ausländische Geschichte an der Sverdlov-Universität. Tatarov war der Redaktionssekretär der Zeitschrift Istorik-marksist und Gorin der Sekretär der „Gesellschaft marxistischer Historiker". 129 Siehe die Beiträge Tatarovs, Fridljands und Gorins in einer Debatte über die Narodnaja volja der „Gesellschaft marxistischer Historiker", die am 16. und 25. Januar sowie am 4. Februar 1930 in der Kommunistischen Akademie stattfand. Ein Bericht über diese Diskussion wurde in der Zeitschrift Istorik-marksist veröffentlicht. Diskussija o Narodnoj Vole ν obscestve istorikov-marksistov, in: Istorik-marksist, 1930, no. 15, S. 86-143. Die entsprechenden Beiträge Tatarovs, Fridljands und Gorins, S. 126, 137. Gorin, P.: Klassovaja bor'ba ν sovetskoj istoriceskoj nauke, in: Izvestija, 24.1.1930. Siehe auch die von D. Kin verfassten Thesen, die die Ergebnisse der „Ersten Allunionskonferenz über die Probleme der Vermittlung des Leninismus im Unterricht" zusammenfassen, die ebenfalls in der ersten Februarhälfte stattgefunden hatte. In diesen Thesen betont Kin die Notwendigkeit, alle Versuche, den Bolschewismus aus „kleinbürgerlichen Tendenzen" herzuleiten, zu unterbinden. Als Vertreter dieser „Tendenzen" wird Teodorovic explizit genannt. Zitiert in: Teodorovic·. Istoriceskoe znacenie (1930), S. 244. 130

Teodorovic, I.A.: Pobol'se istoriceskoj ob-ektivnosti, in: Pravda, 26.12.1929. Gorin, P.: M.N. Pokrovskij: bol'sevik-istorik, Minsk 1933, S. 102. 132 Jaroslavskij, Em.: Marks, Engel's i Lenin o „Narodnoj Vole" (k pjatidesjatiletiju „Narodnoj Voli"), in: Pravda, 30.1.1930. 131

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lässigung dieses Erbes betonte. Hinter den Kulissen hatte Jaroslavskij aber schon vorher als leitender Redakteur der dreiköpfigen Praw&z-Redaktion seinen Einfluss zum Vorteil Teodorovics geltend gemacht. Eine erste kritische Reaktion auf Teodorovics umstrittenen Artikel war am 20. Dezember 1929 in der Pravda erschienen.133 Der Autor, Vladimir Malachovskij, der wie Jaroslavskij der erwähnten Jubiläumskommission angehörte, äußerte den Standpunkt, dass Teodorovic die Bedeutung der Narodnaja volja überbewerte. Auf diese Kritik antwortete Teodorovic sechs Tage später ebenfalls in der Pravda.'34 Die am 27. Dezember folgende Antwort Malachovskijs war mit einem vorsichtigen Kommentar der Pravcfo-Redaktion versehen, in dem sie, ohne Pokrovskij zu erwähnen, die Kritik Teodorovics an der plechanovschen Beurteilung der Narodnaja volja ausdrücklich würdigt, aber gleichzeitig Malachovskijs Einschätzung unterstützt, dass Teodorovic die Bedeutung der Narodnaja volja überbewerte. Betrachtet man Jaroslavskij s Auseinandersetzung mit Vaganjan im Jahr 1926, in der Jaroslavskij das „plechanovsche Erbe" nahezu negierte, und den weiteren Verlauf der Debatte, so ist die Vermutung naheliegend, dass Jaroslavskij für diesen Kommentar verantwortlich zeichnete. Die zweite, wesentlich agressivere Reaktion auf Teodorovics ursprünglichen Artikel erfolgte am 27. Dezember in den Izvestija. Der Autor, Tatarov, einer der wichtigsten Fürsprecher Pokrovskijs und wissenschaftlicher Sekretär in der Redaktion des Istorik-marksist, hatte es offensichtlich nicht vermocht, seinen Text in der Pravda unterzubringen. Ein Artikel Gorins, in dem dieser Teodorovics Auffassungen als Revision der Parteilinie bezeichnet, erschien am 24. Januar 1930 ebenfalls in den Izvestijani, nachdem er von der Pravifa-Redaktion abgelehnt worden war.136 Die Situation eskalierte, als Teodorovic auf der „Ersten Allunionskonferenz über Fragen der Geschichte der bolschewistischen Partei und der Komintern im Unterricht", die vom 9. bis zum 13. Februar 1930 stattfand, das Ende von Pokrovskijs Autorität als Historiker prophezeite. Teodorovics Rede wurde immer wieder durch Tumulte unterbrochen, so dass der Vorsitzende Savel'ev sich veranlasst sah, Teodorovic zum Schweigen zu zwingen.137 In der insgesamt angespannten Stimmung wurde die Auseinandersetzung über die politische Bedeutung der Narodnaja volja von einigen der Beteiligten als Fortführung des Klassenkampfs an der „historischen Front" wahrgenommen. S.E. Sef, Tatarov und Gorin verteidigten die Position des abwesenden Pokrovskij und traten gegen Teodorovic auf. Ihnen gelang es, die überwiegende Mehrheit der Stimmen der Teilnehmer für einen Beschluss

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Malachovskij, Vladimir: Ojubilejnom slavoslovie, in: Pravda, 20.12.1929. Teodorovic: Pobol'se istoriceskoj ob-ektivnosti (1929). Gorin: Klassovaja bor'ba. Davon berichtet Teodorovic: Istoriceskoe znacenie (1930), S. 242. Barber. Historians, S. 95. Teodorovic: Istoriceskoe znacenie (1930), S. 192.

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zu gewinnen, in dem Teodorovic namentlich der Idealisierung des narodnicestvo bezichtigt wurde.138 Aus dem Besucherbuch Stalins geht hervor, dass Jaroslavskij am 14. Februar, also einen Tag nach der Verabschiedung des gegen Teodorovic gerichteten Beschlusses, ein über einstündiges Gespräch mit Stalin führte.139 Zwar sind Inhalt und Auslöser des Gesprächs unbekannt, jedoch wissen wir aus einem Brief Jaroslavskij s an Stalin aus dem Jahr 1936, der sich sehr wahrscheinlich auf das erwähnte Gespräch bezieht, dass es auch um die Situation in der „Gesellschaft marxistischer Historiker" ging und dass Stalin Jaroslavskij zumindest indirekt dazu ermunterte, seine Kritik an Pokrovskij und dessen Schülern fortzufuhren140, ohne dass aber eine öffentliche Kampagne gegen Pokrovskij eingeleitet worden wäre. Jaroslavskij, der vermutlich in der Krankheit Pokrovskij s eine Möglichkeit sah, die eigene Position auszubauen, wollte sich durch eine Absprache mit Stalin sein weiteres Vorgehen absichern lassen. Stalin hatte aber offensichtlich zu diesem Zeitpunkt kein Interesse daran, den Konflikt im Sinne der einen oder anderen Gruppe zu entschärfen. Ende Februar 1930 verteidigte Teodorovic in der Zeitschrift Bol'sevik, in deren Redaktion Jaroslavskij ebenfalls Mitglied war und einen erheblichen Einfluss ausübte, ein weiteres Mal seine Konzeption der Narodnaja volja und reagierte hiermit auf Jaroslavskij s oben genannten Artikel in der Pravda,141 In Jaroslavskij s Antwort, die in derselben Nummer des Bol'sevik erschien, sind in konzentrierter Form die Argumente enthalten, die er im Verlauf der Diskussion vorgebracht hatte und in denen sich seine ambivalente Situation spiegelt.142 Jaroslavskij bezeichnet zwar Teodorovics Konzeption der Narodnaja volja als irrtümlich - deren Organisationsform, kleinbürgerliche Ideologie und politische Praxis seien genau das Gegenteil des Bolschewismus. Jaroslavskij leugnet hiermit auch die Genealogie, die er in der Polemik mit Vaganjan so vehement verteidigt hatte. Seine dort vertretene Position war vier Jahre später offenbar nicht mehr opportun, da sich die Partei in einem „Krieg" gegen die Bauern befand und der „Bauernsozialismus" der Narodovol'cy nicht mehr als traditionswürdig galt. Im Zentrum von Jaroslavskij s Kritik steht daher auch nicht so sehr der ideologische Standpunkt Teodorovics, sondern das Diskussionsverhalten und die Dominanz der jüngeren Fürsprecher Pokrovskij s. Diese ignorierten die positiven Aspekte von Teodoro-

138 Bericht und Resolution der Konferenz, in: Vestnik Komakademii 1930, no. 37-38, S. 131-144. 139 Istoriceskij archiv, 1994, H. 6, S. 19. 140 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 22.1.1936. F.558, o p . l l , d.842, 1.13. In diesem Brief erinnert Jaroslavskij Stalin an ein Gespräch, das beide während eines Spaziergangs im Kreml im Frühjahr 1930 geführt hätten. Im Verlauf des Gesprächs habe Stalin bemerkt, dass er Pokrovskij nicht für einen richtigen marxistischen Historiker halte. 141 Teodorovic, I.A.: Nado rassejat' nedorazumenie, in: Bol'sevik, 1930, no. 3-4, S. 116-121. 142 Jaroslavskij, Em.: Nedorazumenie Ii?, in: Bol'sevik, 1930, no. 3^1, S. 121-122.

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vics Arbeit und verhinderten damit die berechtigte Kritik an anderen Historikern. Ohne Pokrovskij direkt anzugreifen, platziert Jaroslavskij hiermit eine versteckte Kritik an dessen vermeintlicher plechanovschen Konzeption der revolutionären Bewegung. Desweiteren kritisiert Jaroslavskij die Praxis, abweichende Meinungen mit politischen Etiketten zu belegen, d.h. Teodorovic des „rechten Revisionismus" zu beschuldigen, und plädiert für eine offenere Diskussion über ungeklärte Probleme der Geschichte der russischen revolutionären Bewegung. Was bewog Jaroslavskij, abgesehen von seiner Absprache mit Stalin und von seiner Mitgliedschaft in der Jubiläumskommission, dazu, sich in die Diskussionen über die Bedeutung der Narodnaja volja einzuschalten und sich in einer politisch so heiklen Situation immer wieder für den politisch vollständig diskreditierten Teodorovic einzusetzen? Jaroslavskij musste als überzeugtes Mitglied der Stalin-Fraktion und führender Ideologe ein Interesse daran haben, sich nicht als Verfechter eines bäuerlichen Sozialismus bzw. der „rechten Abweichung" verdächtig zu machen. Diesem Interesse tat er Genüge, indem er Teodorovics Konzeption der Narodnaja volja kritisierte. Zum anderen verfolgte Jaroslavskij, das wurde in seiner Auseinandersetzung mit Vaganjan deutlich, wie Teodorovic das Ziel, Plechanov als marxistische Autorität abzuwerten. Für Jaroslavskij war die Diskreditierung Plechanovs ein wesentliches Element seiner Konstruktion des Leninismus als stalinistische Herrschaftsideologie im Kontext der innerparteilichen Machtkämpfe. Er war aber im Gegensatz zu Teodorovic nicht daran interessiert, Pokrovskij als Verfechter der plechanovschen Konzeption zu überführen und äußerte keine direkte Kritik an diesem. Pokrovskij hatte Jaroslavskij schließlich in dessen Polemik mit Vaganjan unterstützt. Offensichtlich hatte sich Jaroslavskij erst durch die Art und Weise, wie Teodorovic von Pokrovskijs jüngeren Anhängern angegriffen wurde, zur Reaktion herausgefordert gefühlt. Zudem hatte Jaroslavskij schon aufgrund seiner Funktion als Vorsitzender der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" eine engere Beziehung zu seinem Stellvertreter und dem leitenden Redakteur der Verbandszeitschrift Teodorovic. Jaroslavskij sah sich ganz offensichtlich als dessen Patron. Aus den Quellen geht hervor, dass das Verhältnis zwischen beiden sehr respektvoll war. Ende Februar 1930 sah sich Jaroslavskij noch einmal gezwungen, Teodorovic zu verteidigen. In den von der „Gesellschaft marxistischer Historiker" anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums von Tatarov verfassten „Thesen" über die Narodnaja volja, die den Anspruch erhoben, eine definitive Interpretation der Bewegung zu liefern, sowie in einer Resolution des Instituts der Roten Professur war Teodorovic erneut als „rechter Revisionist" bezeichnet worden. Daraufhin wendete sich Jaroslavskij am 25. Februar mit einem privaten Brief an Pokrovskij, in dem er zwar Fehler Teodorovics einräumte, Pokrovskij aber bat, einen alten Bolschewisten nicht zu demütigen,

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Teodorovics revolutionäre Vergangenheit und Verdienste zu berücksichtigen, dem Eifer seiner jugendlichen Anhänger Einhalt zu gebieten und darauf hinzuwirken, dass diejenigen Stellen in den Thesen und der Resolution, in denen Teodorovic als „rechter Revisionist" diffamiert werde, gestrichen würden.143 Jaroslavskij appellierte gegenüber Pokrovskij eindringlich an die Solidarität unter alten Bolschewisten144 und hoffte, den Konflikt auf inoffiziellem Wege bereinigen zu können. In seiner Antwort vom 27. Februar 1930 vertrat Pokrovskij eine ambivalente Postion. Er sei gegen die Verabschiedung der Resolution gegen Teodorovic gewesen, da er der Auffassung sei, dass dieser seine Fehler selbst eingestehen müsse. Die Stimmung auf der Sitzung der bolschewistischen Fraktion der „Gesellschaft marxistischer Historiker", die die „Thesen" verabschiedet habe, sei jedoch so aufgeheizt gewesen, dass er sich entschieden habe, diesen Punkt nicht zur Abstimmung zu stellen, umso mehr, als es ihm unmöglich sei, die inhaltlichen Positionen Teodorovics, der sich als unbelehrbar zeige, zu verteidigen. Pokrovskij schlug Jaroslavskij vor, den Konflikt vom ZK entscheiden zu lassen, lehnte es aber ab, persönlich gegen die Kritiker Teodorovics vorzugehen (zazat ' samokritiku).Hi Ein Brief Pokrovskij s an Molotov vom 3. März 1930 lässt jedoch an der gegenüber Jaroslavskij demonstrierten Neutralität zweifeln.146 Mit der Hinwendung an Molotov, versuchte Pokrovskij, den Konflikt über das schon erreichte Maß hinaus zu politisieren. Keines der Mitglieder der obersten bolschewistischen Führung hatte sich bis dahin in die Auseinandersetzungen der marxistischen Historiker aus eigener Initiative eingemischt. Pokrovskij machte gegenüber Molotov insbesondere politische Argumente geltend: Angesichts der aktuellen politischen Lage des sich verschärfenden „Klassenkampfs auf dem Dorf' müsse er auf Teodorovics Provokation in Form von „Thesen" reagieren, befürchte aber, dass seine „Thesen" von der Pravda-Redaktion abgelehnt werden könnten. Die Redaktion der Pravda und Jaroslavskij verträten eine uneindeutige Position gegenüber Teodorovic und dem von diesem propagierten „Bauernsozialismus". Pokrovskij bat Molotov, im Namen der ZK-Sekretäre die Veröffentlichung seiner „Thesen" in der Pravda zu verfugen.147 Die „Thesen" über das fünfzigjährige Jubiläum der Narodnaja volja firmierten zwar unter der anonymen Autorenschaft der Abteilung für Kultur und Propaganda des ZK, sind aber von seinem „Schüler" Tatarov ver143 Schreiben Jaroslavskij s an Pokrovskij vom 25.2.1930. F.89, op.8, d.39, 1.1. Aus dem Schreiben geht hervor, dass sich A.S. Bubnov und N.N. Popov auf Jaroslavskijs Seite gestellt hatten. 144 „Wir, die alten Bolschewisten, kennen die Vergangenheit des Genossen Teodorovic; leider vergessen einige Genossen wie der Genösse Tatarov diese Vergangenheit (...)." Ebenda. 145 Schreiben Pokrovskijs an Jaroslavskij vom 27.2.1930. F.89, op.8, d.39,1.3. 146 Molotov war seit Januar 1926 für die Leitung der ZK-Abteilungen für Presse, Information und Parteigeschichte verantwortlich: Watson: Molotov, S. 52. 147 Schreiben Pokrovskijs an Molotov vom 3.3.1930. F.147, op.l, d.36,1.58.

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fasst worden und repräsentierten daher durchaus Pokrovskijs Position.148 Offensichtlich hatte Pokrovskij Molotov von seinem Anliegen überzeugen können: Aufgrund einer Entscheidung des ZK erschienen die „Thesen" schließlich am 9. April in der Pravda. Hiermit hatte Jaroslavskij eine empfindliche Niederlage erlitten. Pokrovskij forderte Jaroslavskij noch ein weiteres Mal heraus: Während der Diskussionen über die Aufstellung der Kandidaten für das Präsidium der „Gesellschaft marxistischer Historiker" am 19. März 1930, an denen sowohl die Mitglieder der Parteifraktion des Rats der Gesellschaft als auch Vertreter der Parteifraktion des Instituts der Roten Professur teilnahmen, konnte sich Pokrovskij mit Hilfe des Leiters der ZK-Abteilung für Kultur und Propaganda, Aleksej Steckij, gegen den Widerstand der Vertreter des Instituts der Roten Professur durchsetzen. Diese hatten sich gegen die Kandidaturen von Pokrovskijs Anhängern, Fridljand und Gorin, ausgesprochen und dafür den Schützling Jaroslavskij s, Isaak Mine, vorgeschlagen. Pokrovskij hatte auf der Versammlung gedroht, dass er, falls sein Listenvorschlag nicht angenommen würde, seine Arbeit in der Gesellschaft niederlegen werde. Pokrovskijs Listenvorschlag für das Präsidium der Gesellschaft, in dem Fridljand und Gorin, aber weder Mine noch Jaroslavskij figurierten, wurde durch die ZKAbteilung für Kultur und Propaganda bestätigt. Der Historiker S.A. Piontkovskij kommentierte diesen Vorfall in seinem Tagebuch: „Jedem ist klar, dass die Bestätigung der Liste ohne Jaroslavskij durch die ZK-Abteilung für Kultur und Propaganda einen Schlag gegen Jaroslavskij darstellt."149 Trotz Pokrovskijs Triumph zeugt die Tatsache, dass einige seiner ehemaligen Schüler wie z.B. Malachovskij und Mine gegen ihn auftraten und er sich offensichtlich nicht aufgrund seiner professionellen Autorität, sei es gegen Teodorovic und Jaroslavskij, sei es gegen seine eigenen radikalen Mitstreiter durchsetzen konnte, sondern stattdessen versuchte, eine Intervention Molotovs zu provozieren, zunächst von seinem zunehmenden Autoritätsverlust im Feld der Historiker, der möglicherweise durch seine schwere Krankheit begünstigt wurde. In seinem Schreiben an Jaroslavskij vom 27. Februar 1930 hatte Pokrovskij bemerkt, dass er, selbst wenn er sich für eine Streichung der Teodorovic diskreditierenden Passi in den oben genannten „Thesen" einsetzen wolle, damit zwangsläufig seine Autorität gegenüber den jüngeren Historikern einbüße. Gegenüber Molotov betonte er ebenfalls, die Jugend erwarte von ihm, dass er sich eindeutig äußere und damit die Auseinandersetzung entscheide. Zu Beginn des Jahres 1931 wurde Pokrovskijs Autorität von drei Mitgliedern des Präsidiums der Kommunistischen Akademie, Dzenis, Ostrovitjanov 148 Jakusin, A.N.: Κ istorii sostavlenija tezisov o pjatidesjatiletii „Narodnoj voli", in: Mir istoenikovedenija. Sbornik ν cest' S.O. Smidta, Moskau, Penza 1994, S. 237-241. 149 Artizov, A.N.: M.N. Pokrovskij: final kar'ery - uspech ili porazenie, in: Otecestvennaja istorija, 1998, H. 2, S. 124-142, hier S. 127.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

und Pasukanis in einer Erklärung offen angezweifelt und eine Überprüfung der „historischen Front" gefordert.150 Pokrovskij sah sich daraufhin durch eine Anfrage Kaganovics gezwungen, dem Sekretariat des ZK einen Bericht über die Konflikte unter den marxistischen Historikern vorzulegen, in dem er unter anderem Jaroslavskij unter besonderer Hervorhebung von dessen Funktion in den Kontrollorganen der Partei als „Schutzschild" bezeichnet, „unter dem sich verschiedene halbe Sozialrevolutionäre und Menschewisten verstecken".151 Den Hort der Abweichungen von der „richtigen Linie" verortete Pokrovskij insbesondere in der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes". Der Erklärung der drei Präsidiumsmitglieder der Kommunistischen Akademie folgte aber keine öffentliche Hätz auf Pokrovskij. Ebensowenig löste Pokrovskijs Bericht eine Maßregelung Jaroslavskijs aus. Trotz Pokrovskijs schwindender Durchsetzungskraft blieb seine herausragende Stellung in der Kommunistischen Akademie durch die Parteiführung unangetastet.152 Am 25. Januar 1931 mussten Dzenis, Ostrovitjanov und Pasukanis ihre Erklärung zurückziehen und sich bei Pokrovskij entschuldigen.153 An Pokrovskijs Fall wird sehr deutlich, dass die Parteiführung um Stalin nicht nur kontrollierte, ob einer Initiative „von unten" stattgegeben oder Einhalt geboten wurde, sondern dass sie die Konkurrenz zwischen dem todkranken Pokrovskij und Jaroslavskij mit den Mitteln einer symbolischen Politik der Ressourcenverteilung auch maßgeblich schürte: Auf der Rednerliste des 16. Parteitags stand Pokrovskij für die abendliche Sitzung des 1. Juli 1931 beinahe direkt vor Jaroslavskij. Die Parteiführung sanktionierte zudem die Wahl Pokrovskijs in die ZKK, in der Jaroslavskij sowohl Mitglied des Präsidiums war, als auch die Funktion des Sekretärs des Parteikollegiums bekleidete. Am 13. Juli wurde Pokrovskij außerdem vom Plenum der ZKK in ihr Präsidium gewählt.154 In dem großangelegten Projekt der Geschichte des Bürgerkriegs wurde Pokrovskijs Autorität als maßgeblicher sowjetischer Historiker bestätigt, indem er entsprechend einem Beschluss des ZK an die erste Stelle des Herausgebergremiums gesetzt wurde; er firmierte so vor 150

Schreiben Pokrovskijs an das Präsidium der Kommunistischen Akademie vom 16.1.1931. F.147, op.l, d.33,1.34-35. John Barber vermutet, die Erklärung Dzenis', Ostrovitjanovs und Pasukanis' sei von Kaganovic entworfen worden. Barber: Historians, S. 124. 151 Schreiben Pokrovskijs an Kaganovic vom 3.2.1931. F.147, op.l, d.37,1.26. Bericht Pokrovskijs an die Sekretäre des ZK, Molotov und den Leiter der Abteilung für Kultur und Propaganda, Steckij, vom 5.2.1931. F.147, op.l, d.42, 1.31-38. Zu Pokrovskijs Autoritätsverlust siehe Barber. Historians, S. 122-125. 152 In einem Schreiben vom 16.9.1931 teilte Kaganovic Stalin mit, dass sich die Kommunistische Akademie in einem Zustand der Auflösung befinde und die ihr von Stalin in seiner Rede auf der Konferenz der marxistischen Agrarwissenschaftler (27.12.1929) gestellten Aufgaben nicht erfülle. Trotz dieser Mängel plädiert Kaganovic in seinem Vorschlag für die Neubesetzung der Führungsriege der Kommunistischen Akademie für die Beibehaltung Pokrovskijs als Vorsitzenden der Akademie. Stalin i Kaganovic. Perepiska, S. 107. 153 Istoriceskij archiv, 1993, H. 4, S. 215-216. 154 Artizov: M.N. Pokrovskij: final kar'ery, S. 129-130.

3. Konflikte an der „historischen Front"

205

Andrej Bubnov, dem Volkskommissar für Volksbildung, Gor'kij und Jaroslavskij. Die Parteiführung hatte ganz offensichtlich, obwohl aufgrund von Pokrovskijs schwerer Krankheit ein Führungswechsel im Feld der Historiker unausweichlich war, kein Interesse an einer Schlichtung des Konflikts zwischen Pokrovskij und Jaroslavskij. Im Gegenteil: Durch die Gleichstellung bzw. Hierarchisierung Pokrovskijs und Jaroslavskijs setzte sie die beiden Akteure nicht nur einer direkten Konkurrenz aus, sie manipulierte auch deren symbolische Präsenz, sendete undeutliche Signale an die Parteiöffentlichkeit, aus denen die Parteimitglieder deuten sollten, wie Jaroslavskij und Pokrovskij zu behandeln seien, und setzte die beiden Konkurrenten so unter Beobachtung und einer Bewährungsprobe aus. Diese uneindeutige Haltung der Parteiführung gegenüber Jaroslavskij entspricht zwar dem üblichen Handlungsmuster, die Konkurrenten um Statuspositionen gegeneinander auszuspielen und sie auf diese Weise auf die Probe zu stellen. Es stellt sich aber die Frage, wofür konkret Jaroslavskij sich in diesem Zusammenhang bewähren sollte. Es wird noch zu zeigen sein, dass hierfür eine zwischen Stalin und seinen engsten Vertrauten ausgehandelte grundlegende Verschiebung der Machtbalance in der Parteiführung ausschlaggebend war, die schließlich zu einer Lancierung des Stalinkults führte. Die Konflikte der Historiker waren dabei zwar zunächst ein von diesen Entwicklungen in den obersten Sphären der Macht unabhängiger Nebenschauplatz. Die Parteigeschichte war aber gleichsam eines der wichtigsten Medien, mit deren Hilfe Stalin und seine Clique beabsichtigten, ihre Vorstellungen ideologisch zu zementieren. Bei diesem doppelten Spiel ging es vermutlich darum herauszufinden, wer unter den Parteihistorikern am besten für diese zukünftigen Aufgaben geeignet war. An Jaroslavskij Eignung schienen allerdings Zweifel zu bestehen.155 Jaroslavskij, der sich der schwierigen politischen Situation sicher nicht in vollem Umfang bewusst war, hatte versucht, den Konflikt mit Pokrovskij auf inoffiziellem Wege zu entschärfen; er intendierte keine Konfrontation mit Pokrovskij, spekulierte vielmehr auf die Solidarität unter alten Bolschewisten gegenüber den jüngeren Historikern. Die in einer älteren Arbeit aufgestellte These, Jaroslavskij habe in seinem Machtkampf mit Pokrovskij mit seiner Unterstützung Teodorovics lediglich aufs falsche Pferd gesetzt, ist nicht haltbar.156 Teodorovic war ein denkbar ungeeigneter Protégé für ein solches Vorhaben. Von einem von Jaroslavskij intendierten Machtkampf mit Pokrovskij

155

Hierzu siehe: Kapitel IV.5.-7. Frankel·. Party Genealogy, S. 594. In einigen neueren archivgestützten Arbeiten findet sich ebenfalls die Konstruktion eines substantiellen Gegensatzes zwischen Pokrovskij und Jaroslavskij, verbunden mit einer sehr positiven Bewertung Pokrovskijs als Vertreter eines aufgeklärten europäischen Marxismus. Cernobaev, A.A.: „Professor s pikoj", ili tri zizni istorika M.N. Pokrovskogo, Moskau 1992; Alatorceva: Sovetskaja istoriceskaja periodika, S. 208-222. 156

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein. Dies sollte sich aber, wie wir an den nun folgenden Diskussionen sehen werden, ändern. b. Die Revolution von 1905 Der Anlass für eine weitere Auseinandersetzung unter den marxistischen Historikern, an der Jaroslavskij direkt beteiligt war, war der 25-jährige Jahrestag der Revolution von 1905. Die neuerlichen Diskussionen waren eigentlich eine Fortsetzung des oben beschriebenen Konflikts; sie begannen im Oktober 1930 und kulminierten im Mai 1931. Am Beispiel dieses Konflikts lassen sich die soziale Dynamik im Historikerfeld, die Überschneidung unterschiedlicher Konfliktfelder und das Funktionieren von Netzwerken demonstrieren. Das Verhältnis zwischen Jaroslavskij und Pokrovskij hatte sich infolge der Diskussionen über die Bedeutung der Narodnaja volja merklich verschlechtert. Jaroslavskij hatte sich im Herbst 1930 mit einem Pokrovskij diskreditierenden Brief, in dem er angab, Pokrovskij habe die Kulaken als treibende Kraft der Revolution von 1905 dargestellt, direkt an Stalin gewandt und diesen damit implizit aufgefordert, zu seinen Gunsten Stellung zu beziehen.157 Im September und Oktober hatte er zwei negative Beurteilungen über eine von Pokrovskij verfasste Broschüre über die Revolution von 1905 an das Lenin-Institut geschickt, die aber nicht zur Publikation vorgesehen waren.158 Jaroslavskij äußerte sich nur intern, aber nicht öffentlich gegen Pokrovskij und hielt sich damit an die Spielregeln; er wusste offenbar die Kaderpolitik der Parteiführung zu deuten, die die Autorität und den Status Pokrovskij s weiterhin gewährleistete. Eine direkte Konfrontation ergab sich so zunächst nicht mit Pokrovskij selbst, sondern mit dessen Anhänger Gorin im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum 25-jährigen Jubiläum der Revolution von 1905. Gorin, der im Vorfeld gegen Teodoro vie und als Fürsprecher Pokrovskij s aufgetreten war, hatte den Auftrag erhalten, richtungsweisende „Thesen" über dieses Ereignis zu verfassen. Die vom Orgbüro zusammengestellte Kommission zur Erarbeitung der „Thesen" bestand neben Gorin aus Pokrovskij, Savel'ev und Jaroslavskij. Jaroslavskij, dem die Thesen Gorins zur Durchsicht zugestellt worden waren, übte in einem Schreiben an Savel'ev - in dessen Funktion als Vorsitzendem der Kommission - vom 27. Oktober 1930 scharfe Kritik an Gorins Interpretation. Diese sei antileninistisch und antibolschewistisch. Jaroslavskij schlug Savel'ev desweiteren vor, selbst die entsprechenden „The-

157

Artizov. M.N. Pokrovskij: final kar'ery, S. 131. Schreiben Jaroslavskijs an das Lenin-Institut vom 30.9.1930. F.89, op.7, d.106, 1.1. Schreiben Jaroslavskijs an das Lenin-Institut vom 29.10.1930. F.89, op.7, d.107,1.1-3. 158

3. Konflikte an der „historischen Front"

207

sen" zu verfassen.159 In seiner Antwort vom Folgetag wies Gorin die Kritik Jaroslavskijs zurück und bezeichnete dessen „Thesenprojekt" als „Gegenthesen" und somit als gezielte Provokation.160 Eine Zuspitzung erfuhr der Konflikt durch den Umstand, dass Gorin im Protokoll der KommissionsSitzung vom 19. November 1930, auf der beide „Thesenprojekte" zur Revolution von 1905 diskutiert worden waren, seine Rede durch einige Jaroslav skij diskreditierende Beschuldigungen ergänzte, die er während der Sitzung nicht geäußert hatte. Die Sitzung hatte für Gorin einen ungünstigen Verlauf genommen, denn Jaroslavskijs „Gegenthesen", die von N.N. El'vov, Mine und S.A. Piontkovskij vorbereitet worden waren, wurden zwar scharf kritisiert, dann aber von der Kommission akzeptiert und am 10. Dezember in überarbeiteter Form in der Pravda veröffentlicht.161 In seinen Ergänzungen im Protokoll bezichtigte Gorin Jaroslavskij der unkritischen Einstellung gegenüber der Narodnaja volja und zielte damit auf dessen Verhältnis zu Teodorovic.162 Auf einer Tagung der „Gesellschaft marxistischer Historiker", die am 26. November stattfand, ergriff Jaroslavskij daraufhin die Gelegenheit, die jüngst erschienene zweite Auflage von Gorins Monographie „Kurzer Abriss über die Geschichte der Arbeiterräte im Jahr 1905" (Ocerkipo istorii Sovetov rabocich deputatov ν 1905 g.) als menschewistisch eingefarbt zu kritisieren.163 Die nächste Eskalationsstufe wurde erreicht, als die Redaktion der Zeitschrift Istorik-marksist gegen den Widerstand des Redaktionsmitglieds Jaroslavskij im März 1931 eine von Gorin verfasste Rezension des zweiten Bands der von Jaroslavskij herausgegebenen Istorija VKP(b) druckte.164 Die Retourkutsche Jaroslavskijs, der Artikel „Über die Revolution von 1905 (Antwort

159 Schreiben Jaroslavskijs an Savel'ev vom 27.10.1930, Kopie an Nikolaeva und Gorin. F.89, op.7, d.28, 1.1-2. Ebenda, 1.5-20 befinden sich die Thesenprojekte Jaroslavskijs und Gorins. In einem späteren Schreiben Jaroslavskijs stellt er diesen Sachverhalt aus taktischen Gründen anders dar und verleugnet seine Eigeninitiative: Gorins Thesen seien so unannehmbar gewesen, so dass man Jaroslavskij mit einem neuen Thesenprojekt beauftragt habe. F.89, op.7, d.28, 1.164. 160 Schreiben Gorins an Jaroslavskij vom 28.10.1930, Kopie an Savel'ev und Nikolaeva. F.89, op.7, d.28,1.75. 161 John Barber nimmt fälschlicherweise an, Jaroslavskijs Thesen seien von der Kommission verworfen worden. Barber. Historians, S. 102. 162 Zu diesem Vorgang siehe: Schreiben Jaroslavskijs an Savel'ev vom 21.11.1930. F.89, op.7, d.28,1.79. Schreiben Savel'evs an Jaroslavskij vom 22.11.1930. Schreiben Gorins an Savel'ev vom 25.11.1930. F.89, op.7, d.28,1.83. 163 Barber. Historians, S. 102; Jaroslavskij, Em.: Opyt politiceskoj massovoj stacki i vooruzennogo vosstanija pervoj russkoj revoljucii ν svete ucenija Marksa-Lenina, in: Katorga i ssylka, 1930, no. 12, S. 7-68, S. 13. 164 Zu den Vorgängen in der Redaktion des Istorik-marksist siehe: Alatorceva: Sovetskaja istoriceskaja periodika, S. 202-206. Schreiben Jaroslavskijs an die Redaktion des Istorikmarksist vom 23.3.1931. F.89, op.7, d.28, 1.92. Der zweite Band der von Jaroslavskij herausgegebenen Istorija VKP(b) behandelt die Zeit von 1905-1907. Das Buch erschien anlässlich des Jubiläums der Revolution von 1905. Gorin, R: Κ voprosu o Charaktere revoljucii 1905 g., in: Istorik-marksist, 1931, no. 20, S. 164-173.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

an unsere Kritiker)" (O revoljucii 1905 goda. [Otvet nasim kritikam]) erschien in der Zeitschrift Bol 'sevik und nach einiger Verzögerang in der nächsten Nummer des Istorik-marksist.165 Hierin kritisierte Jaroslavskij Gorins Buch und bezichtigte ihn trotzkistischer Tendenzen.166 Die von Jaroslavskij und Gorin vertretenen gegensätzlichen Standpunkte wiederholen sich in den einzelnen Artikeln und Stellungnahmen; sie sollen daher hier nur knapp zusammengefasst und kommentiert werden. Im Verlauf der Diskussion bezichtigten sich Jaroslavskij und Gorin gegenseitig der politischen Abweichung. In seinen öffentlichen Äußerungen und in seinem schon erwähnten Schreiben an den Vorsitzenden der Jubiläumskommission, Savel'ev, warf Jaroslavskij Gorin vor, dieser bewerte die Bedeutung des Dezemberaufstands in Moskau unter, der das zentrale Ereignis der Revolution von 1905 gewesen sei. Zudem habe das ZK explizit die Weisung erteilt, den 25. Jahrestag der Revolution von 1905 mit dem Dezemberaufstand zu identifizieren.167 Diese Maßgabe des ZK verwundert nicht, denn der Dezemberaufstand hatte unter bolschewistischer Führung stattgefunden. Demgegenüber überschätze Gorin die Bedeutung des St. Petersburger Sowjets; die Sowjets seien nicht der entscheidende Faktor der Revolution von 1905 gewesen, sondern die Bolschewiki. Darüberhinaus unterschlage Gorin die Rolle der Bauern, die Lenin als eine der wesentlichen Kräfte in der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1905 bezeichnet habe. Gorin hingegen warf in seiner Polemik gegen den von Jaroslavskij herausgegebenen zweiten Band der Istorija VKP(b) den Autoren vor, sie bezeichneten die Bauern als die revolutionäre Kraft in der Revolution von 1905 und unterschätzten die Rolle des Proletariats, das Lenin als den dynamisierenden Faktor der Revolution gesehen habe. Zudem verstünden die Autoren die revolutionären Motive der Bauern falsch; sie behaupteten, die Bauern seien durch das Eindringen kapitalistischer Produktionsformen in ihre Lebenswelt zur Gegenwehr motiviert worden und hätten für die Beibehaltung der traditionellen bäuerlichen Umverteilungsgemeinde (obscina) gekämpft. Jaroslavskij und seine Mitarbeiter verträten so die opportunistische „Theorie der zwei Revolutionen", einer proletarischen und einer bäuerlichen. Gorin bezeichnete Jaroslavskij und dessen Mitarbeiter somit als Verfechter eines von der Narodnaja volja vertretenen Bauernsozialismus.168 Aufgrund dieser

165 Jaroslavskij, Em.: O revoljucii 1905 goda. (Otvet nasim kritikam), in: Bol'sevik, 1931, no. 7, S. 6 1 - 8 9 ; Istorik-marksist, 1931, no. 21, S. 143-160. Jaroslavskij gibt in einem Brief an Stalin vom 5.4.1931 an, seine Antwort auf Gorins Artikel habe schon gemeinsam mit diesem in der No. 20 des Istorik-marksist erscheinen sollen, doch habe die Redaktion die Situation ausgenutzt, dass er, Jaroslavskij, sich zu diesem Zeitpunkt im Urlaub befunden habe, und den Artikel nicht gedruckt. F.89, op.12, d.2,1.150. 166 An anderer Stelle schreibt Jaroslavskij, in Gorins Monographie seien ganze Textstellen direkt von Trotzkij übernommen worden. F.89, op.7, d.28,1.165. 167 Schreiben Jaroslavskijs an Savel'ev vom 27.10.1930. F.89, op.7, d.28,1.1. 168 Gorin: Κ voprosu o Charaktere revoljucii 1905 g., S. 165-167.

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Auffassungen sei es auch nicht verwunderlich, dass Jaroslavskij den Rechtsabweichler Teodorovic unterstützt habe.169 Der russische Historiker Artizov hat unter Berufung auf George Enteen die These vertreten, dass der Konflikt zwischen Jaroslavskij und Pokrovskij und den jeweiligen Anhängern sich lediglich an der „Oberfläche" abgespielt habe, dass aber unter dieser „Oberfläche", d.h. in grundsätzlichen Vorannahmen über Aufgaben und Eigenschaften von Historiographie „Einigkeit" geherrscht habe. Er stellt fest, dass vor allem die Ambitionen der Beteiligten, der Kampf um die führende Stellung im Feld der marxistischen Historiker und um politischen Status im Vordergrund der Auseinandersetzung gestanden habe.170 Hierin ist Enteen und Artizov prinzipiell zuzustimmen: Das offensichtliche Ziel beider Akteure war, den jeweils anderen der politischen Abweichung zu bezichtigen und dafür das Mandat der Parteiführung oder Stalins zu erlangen, um sich auf diese Weise in der Hierarchie der Partei vorteilhafter zu positionieren. Wir haben auch gesehen, dass die Parteiführung, die die Ressourcenverteilung steuerte, diese Statuskämpfe schürte. Die Auseinandersetzung weist aber auch andere Bezüge und Bedeutungen auf. Hier soll die These vertreten werden, dass - wie schon in der Diskussion über die Bedeutung des narodnicestvo - inhaltliche Fragen durchaus eine bedeutsame Rolle spielten und dass die inhaltlichen Positionen in dem Maße wichtiger wurden, wie sie in den Statuskämpfen angegriffen und ihre Legitimität dadurch gefährdet wurde. Wie schon gezeigt, spielten die Bauern eine wichtige Rolle in Jaroslavskij s Konstruktion des Leninismus im Gegensatz zu der von ihm konstruierten Genealogie der Abweichungen: Plechanov Menschewismus - Trotzkij. Als Motive für diese dualistische Konstruktion hatten wir Jaroslavskij s persönliche Abneigung gegen Trotzkij, die Identifikation mit der jeweiligen Mehrheitsfraktion des ZK in den Auseinandersetzungen mit den „Linken" und „Vereinigten Oppositionen" sowie biographische Bezüge, d.h. Jaroslavskijs innerrussische revolutionäre Sozialisation genannt. Letztere verband ihn mit Teodorovic. Jaroslavskij beabsichtigte mit seiner Konstruktion in wohlverstandenem Eigeninteresse, Stalins Theorie vom „Sozialismus in einem Land" herzuleiten und zu legitimieren. Im Kontext der Zwangskollektivierung und der mit ihr verbundenen Krisen wurde eine solche Konstruktion der Geschichte und Vorgeschichte der Partei, die ursprünglich u.a. dazu gedient hatte, den Herrschaftsanspruch der Mehrheitsfraktion des ZK zu rechtfertigen, jedoch angreifbar, weil sie zumindest aus der Sicht der beteiligten Akteure das Potential besaß, die aktuelle, gegen die Bauern gerichtete Politik der Partei zu delegitimieren. Die von Gorin hergestellte Verbindung von Jaroslavskijs vermeintlichen politischen Abweichungen in der Bauernfrage und Teodorovic erlangte im Herbst 1930 eine besondere 169 Gorin, P.: Protiv nekotorych izkazenii istorii revoljucii 1905 g. (Otvet t. E. Jaroslavskomu), in: Bol'sevik, 1931, no. 8, S. 71-86, S. 73-73; Barber. Historians, S. 105. 170 Artizov: M.N. Pokrovskij: final kar'ery, S. 126.

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Brisanz, weil Teodorovic mit der sogenannten Kondrat'ev-Affäre in Verbindung gebracht und von Stalin als ein Drahtzieher der von der OGPU konstruierten „Konterrevolutionären werktätigen Bauernpartei" verdächtigt wurde.171 Jaroslavskij versuchte seinerseits, Gorin und seine Darstellung der Geschichte der Revolution von 1905, d.h. die vermeintliche Vernachlässigung der Bauern und die Betonung der Sowjets, in die von ihm konstruierte Genealogie der menschewistischen und trotzkistischen Abweichungen einzuordnen. So verglich Jaroslavskij in seiner letzten öffentlichen Replik auf Gorin mehrere Passagen aus dessen Monographie mit entsprechenden Stellen aus Trotzkijs 1922 veröffentlichtem Buch über die Revolution von 1905 und versuchte, deren Wesensgleichheit nachzuweisen.172 Schon 1925, anlässlich des zwanzigsten Jahrestags der Revolution von 1905, hatte Jaroslavskij in einer umfangreichen Broschüre den Dezemberaufstand detailliert behandelt und als Höhepunkt der Revolution von 1905 beschrieben.173 Jaroslavskijs Broschüre war die erste Monographie über den Dezemberaufstand; seine Interpretation ging aber im Kern auf Pokrovskijs Darstellung des Dezemberaufstands zurück174, die wiederum ein Produkt von Pokrovskijs Polemik mit Trotzkij über dessen schon erwähntes Buch „1905" war - Trotzkij hatte 1905 eine wichtige Rolle im St. Petersburger Sowjet gespielt. Jaroslavskijs Buch von 1925 ist im Kontext der Auseinandersetzungen der ZK-Mehrheitsfraktion mit der „Trotzkistischen Opposition" entstanden und diente der Konstruktion des „Leninismus". Vermutlich verteidigte Jaroslavskij sein Konzept der Revolution von 1905 aber noch aus anderen, persönlichen Gründen. Die Revolution von 1905 war für die meisten Bolschewiki auch unabhängig von den parteiinternen Machtkämpfen so bedeutsam, weil sie als wesentlicher Meilenstein auf dem Weg zum Kommunismus gedeutet wurde, d.h. eine zentrale Wegmarke in der bolschewistischen Eschatologie darstellte.175 Diese Deutung war daher auch unabdingbar für die Begründung des bolschewistischen Herrschaftsanspruchs und ein wichtiges Element bolschewistischer Revolutionstheorie, sahen sich doch die Bolschewiki als Instrumente, die der Geschichte zu ihrer Vollendung verhelfen sollten. Jaroslavskij hatte ein so offensichtliches Interesse daran, sich als aktiver Teilnehmer der Ereignisse von 1905 und insbesondere des 171 Stalin. Briefe an Molotow, S. 217, 228. Zur Verfolgung der Leiter und Spezialisten des Volkskommissariats für Landwirtschaft (Narkomzem) und somit auch von Teodorovic siehe: Wehner. Bauernpolitik, S. 374-382. 172 Jaroslavskij: O revoljucii 1905 goda (1931). 173 Jaroslavskij, Em.: Dekabr'skoe vosstanie, Moskau, Leningrad 1925. 174 Pokrovskij, M.N.: Russkaja istorija ν samom szatom ocerke, t. 3, Moskau 1923. 175 Igal Halfin hat den Diskurs, den die russischen Marxisten über Geschichte führten, zutreffend als „Hermeneutik historischer Wegmarken" bezeichnet. Halfin: Class, Consciousness and Salvation, S. 8. Trotzkij legt in seiner Autobiographie darüber Zeugnis ab, wie er im Anschluss an die Ereignisse um die Bedeutung der Revolution von 1905 rang. Trotzki: Mein Leben, S. 165-175.

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Moskauer Dezemberaufstands in das für die russischen Marxisten so bedeutungsvolle Ereignis einzuschreiben, dass er sich bei der Beschreibung seiner Beteiligung am Dezemberaufstand gezwungen sah, etwas zu übertreiben. So hatte er zum Beispiel schon 1922 in einer kurzen veröffentlichten Erinnerung an das Ereignis behauptet, er sei nach seiner Abfahrt von der 1. Allrussischen Konferenz der RSDRP in Tammerfors (Finnland), an der er als Delegierter teilgenommen hatte, in den letzten Tagen des Aufstands in Moskau angekommen. Dort habe er Waffen versteckt und verwundete Genossen versorgt.176 Auch in seiner Replik auf Gorins Monographie versucht Jaroslavskij implizit, sich als Teilnehmer der Ereignisse zu verorten.'77 Diese Selbstdarstellung Jaroslavskijs war durchaus erfolgreich, denn sie wurde bis in die 1980er Jahre hinein von der sowjetischen Parteigeschichtsschreibung immer wieder reproduziert.178 Jaroslavskij kam aber nachweislich erst am 18. Dezember in Moskau an, als der Aufstand schon endgültig niedergeschlagen war.179 Nur durch diese kleine Manipulation konnte er aber seine Beteiligung an einem der beiden zur Auswahl stehenden Hauptereignisse, dem Generalstreik in St. Petersburg, der im Oktober 1905 stattfand, und dem Dezemberaufstand in Moskau, konstruieren. Es soll hier keinesfalls darum gehen, Jaroslavskij des Betrugs zu überfuhren. Seine Manipulation der Tatsachen ist an sich aussagekräftig, da sie die Wichtigkeit, die sich für ihn mit dem Ereignis verband, verdeutlicht: Jaroslavskij wollte in dem Ereignis, in dem sich aus seiner Perspektive die Geschichte verwirklichte, als Instrument der Geschichte symbolisch präsent sein. Auch hier besteht wieder ein Zusammenhang zwischen symbolischer Präsenz und politischer Autorität: In einem Feld, in dem die Interaktionen zwischen Menschen weder durch festgeschriebene Regeln noch durch marktwirtschaftliche Tauschmechanismen geregelt waren, wurden bestimmte Aspekte einer revolutionären Biographie und insbesondere die symbolische Präsenz in Schlüsselereignissen zu einem Faktor, der über den Status einer Person in eben diesem Feld bestimmen konnte. Der Umstand, dass Jaroslavskij sich in bestimmte Kontexte einschrieb und so versuchte, seine revolutionäre Identität zu konstruieren und zum Gegenstand öffentlicher Kommunikation zu machen, war neben den oben genannten Gesichtspunkten dafür verantwortlich, dass er den Dezemberaufstand als das zentrale Ereignis der Revolution von 1905 verteidigte. Es ging ihm darum, die eigene revolutionäre Vergangenheit, d.h. seine subjektiven Erfahrungen in einer maßgeblichen Parteigeschichte, die immer auch den Entwurf einer Revolutionstheorie darstellte, zu objektivieren und als die einzig legitime kanonisieren zu lassen. Die Integra176

Jaroslavskij, Em.: Urok 1905 goda, in: Rabocaja Moskva, 24.12.1922. Jaroslavskij, Em.: Opyt politiceskoj massovoj stacki i vooruzennogo vosstanija pervoj russkoj revoljucii ν svete ucenija Marksa-Lenina, in: Istorik-marksist, 1930, no. 20, S. 3 64, besonders S. 24-29. 178 So zum Bsp. Illerickaja: Istoriko-partijnoe tvorcestvo (1980), S. 16. 179 Egosin: Voenno-politiceskaja dejatel'nost', S. 29. 177

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tion der eigenen Erfahrungen - und dabei ist unerheblich, ob diese tatsächlich gemacht oder lediglich konstruiert sind - in die Geschichte der Partei, die als die Geschichte der Verwirklichung des Kommunismus vorgestellt wurde, war von einer wesentlichen Bedeutung für Jaroslavskijs historiographische Tätigkeit. Die inhaltlichen Positionen Jaroslavskijs waren untrennbar mit seinen Statusinteressen verknüpft. Zwar war er sich wohl mit den meisten an den oben beschriebenen Diskussionen Beteiligten einig, dass Geschichtsschreibung eine zentrale Funktion im „Kampf' der Partei für die „richtige Linie" erfüllen müsse. Jaroslavskij war es aber keinesfalls gleichgültig, was er und seine Mitarbeiter schrieben. Ihm ging es im Gegenteil darum, sein Anrecht auf die „legitime Manipulation der Weltsicht" gegen die jüngeren Historiker zu verteidigen. Der Kampf um die „legitime Manipulation der Weltsicht" wurde aber auch weiterhin nicht nur in den Texten selbst, sondern auch hinter den Kulissen, d.h. in den Redaktionen der Zeitschriften ausgetragen und später durch Intervention von oben vorläufig entschieden. Anhand dieser Konflikte lassen sich die Interessengruppen, ihre personalen Netzwerke und die Modi der politischen Praxis umreißen. Im Vorfeld der Veröffentlichung von Jaroslavskijs Artikel „Über die Revolution von 1905 (Antwort an unsere Kritiker)" hatte eine scharfe Auseinandersetzung zwischen Jaroslavskij und der Redaktion des Istorik-marksist, insbesondere mit deren Redaktionssekretär Tatarov, stattgefunden. Die Redaktion hatte sich mit Jaroslavskijs Bewertung von Gorins Buch nicht einverstanden erklärt und angekündigt, zusammen mit Jaroslavskijs Artikel eine kritische Anmerkung der Redaktion zu veröffentlichen. Drei Redaktionsmitglieder, Sestakov, Kin und Pokrovskij, waren jedoch nicht bereit, die kritische Anmerkung der Redaktion zu Jaroslavskijs Artikel zu unterschreiben. Wegen dieser Unstimmigkeiten hatte Tatarov der Redaktion vorgeschlagen, Jaroslavskijs Antwort auf die Rezension Gorins letztere war in Heft 20 erschienen - nicht, wie auf der Redaktionssitzung vom 26. März 1931 beschlossen, in Heft 21, sondern erst in Heft 22 zu drucken.180 Dieser Vorschlag wurde von den meisten Redaktionsmitgliedern befürwortet.181 Während Tatarov seinen Vorschlag mit technischen und redaktionellen Zwängen begründete - diese Begründung wurde später auch von Pokrovskij gestützt182, interpretierte Jaroslavskij die Verzögerung als gegen

180

Anmerkung der Redaktion des Istorik-marksist zu Jaroslavskijs Artikel „O revoljucii 1905g (otvet nasim kritikam)" vom 29.3.1931. F.89, op.7, d.28,1.96. Schreiben Tatarovs an die Redaktionsmitglieder des Istorik-marksist vom 3.4.1931. F.89, op.7, d.28,1.99. 181 Für eine Verschiebung der Publikation von Jaroslavskijs Artikel votierten Pokrovskij, Lukin, Sestakov und Tatarov. Schreiben Tatarovs an die Redaktion des Istorik-marksist (undatiert, nach dem 5.4.1931). F.89, op.7, d.28,1.104, 104ob. 182 Schreiben Pokrovskijs in seiner Funktion als leitender Redakteur des Istorik-marksist an Jaroslavskij vom 8.4.1931, Kopie an Stalin und Andreev. F.89, op.12, d.2,1.147.

3. Konflikte an der „historischen Front"

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ihn gerichteten politischen Schachzug Tatarovs.183 Diesmal war es Jaroslavskij, der eine Intervention von oben provozierte: Am 4. April 1931 richtete er ein Protestschreiben an die Redaktion des Istorik-marksist und schickte eine Kopie an Stalin und Andreev.184 Jedoch beließ es Jaroslavskij nicht bei dieser noch recht offiziellen Form des Protests, sondern wandte sich am Folgetag, dem 5. April 1931, mit einem Brief direkt an Stalin. In diesem Brief, in dem sich Jaroslavskij s nervöse Verfassung ablesen läßt, versicherte er dem Generalsekretär, dass die Gerüchte über die vermeintliche von ihm, Jaroslavskij, geleitete und gegen Pokrovskij gerichtete gruppovscina nicht zuträfen; er habe zu keinem Zeitpunkt einen Kampf gegen Pokrovskij geführt und mitnichten zu diesem Zweck eine Gruppe um sich versammelt. Jaroslavskij forderte Stalin direkt auf, die Veröffentlichung seines Artikels im Heft No. 21 des Istorik-marksist zu verfügen.185 Noch am selben Abend ging der Befehl Stalins, Jaroslavskijs Artikel sofort zu drucken, in den Redaktionen des Istorik-marksist und des Bol'sevik ein.186 Infolge der durch Jaroslavskij initiierten Intervention Stalins wurde der Artikel in Heft 21 des Istorik-marksist und im Bol 'sevik gedruckt. Beide Redaktionen fügten Jaroslavskijs Artikel einen Kommentar bei, kamen aber zu sehr unterschiedlichen Bewertungen. Während die Herausgeber des Bol 'sevik Gorins Darstellung der Revolution von 1905 als fehlerhaft bewerteten, erklärte die Redaktion des Istorikmarksist ihr Nicht-Einverständnis mit Jaroslavskijs Bewertung von Gorins Monographie.187 Ende April richtete Jaroslavskij eine ausführliche Erklärung an die ZKAbteilung für Kultur und Propaganda, in der er den Konflikt aus seiner Sicht darstellte. Als die wichtigsten Drahtzieher der oben geschilderten Auseinandersetzungen bezeichnete er Gorin, Tatarov und Fridljand, die eine Monopolstellung in den Redaktionen der historischen Zeitschriften und in den Institutionen einnähmen, und forderte einen Kaderwechsel an der „historischen Front".188 Diese Forderung wiederholte er am 25. Juni 1931 in seiner mehrseitigen Reaktion auf eine Erklärung Gorins, die dieser am 21. April 1931 an das Sekretariat des ZK, die Abteilung für Kultur und Propaganda des ZK und Pokrovskij geschickt hatte. Hier beschuldigte Jaroslavskij zudem den Leiter der ZK-Abteilung für Kultur und Propaganda, Steckij, sich mit der Erklärung 183 Schreiben Jaroslavskijs an die Redaktion des Istorik-marksist vom 5.4.1931. F.89, op.7, d.28,1.102. 184 Schreiben Jaroslavskijs an die Redaktion des Istorik-marksist vom 4.4.1931, Kopie an Stalin und Andreev. F.89, op.12, d.2,1.145. 185 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 5.4.1931. F.89, op.12, d.2,1.150. Schreiben Stalins im Namen des ZK vom 5.4.1931. F.89, op.12, d.2, 1.157. Schreiben Pokrovskijs an Jaroslavskij vom 8.4.1931, Kopie an Stalin und Andreev. F.89, op.12, d.2, 1.147. 187 Primecanie redakcii, in: Istorik-marksist, 1931, no. 21, S. 143. 188 Erklärung Jaroslavskijs. F.89, op.7, d.28,1.161-168. In dieser Erklärung verteidigt Jaroslavskij weiterhin Teodorovic und Dubrovskij und beklagt die unberechtigte Diskreditierung des Autorenkollektivs der Istorija VKP(b).

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Gorins solidarisiert zu haben und ihn, Jaroslavskij, zu verdächtigen, den Kampf gegen Opportunisten zu behindern.189 Die Erklärung Gorins thematisierte vordergründig die Auseinandersetzungen unter den marxistischen Historikern, richtete sich jedoch insbesondere gegen Jaroslavskij. Gorin bezeichnete diesen implizit als Zentrum eines „rechts-links Blocks", der die „opportunistischen Elemente" Teodorovic, Dubrovskij, Mine, El'vov, Rachmetov und andere decke und sich in den Auseinandersetzungen unlauterer Methoden wie Täuschung und Manipulation bediene. Jaroslavskij reagierte erst zwei Monate später auf Gorins Erklärung, weil ihm diese erst am 23. Mai 1931 von Pavel Postysev, dem Leiter der Geheimen Abteilung des ZK (Sekretnyj otdel '), auf inoffiziellem Wege zugestellt worden war. Postysev, der Jaroslavskij offensichtlich einen Freundschaftsdienst erwiesen hatte, versicherte diesem, er habe die Erklärung Gorins nicht weitergeleitet. Er habe jedoch in Erfahrung gebracht, dass Gorin selbst, bevor er seine Erklärung an das ZK geschickt habe, Steckij eine Kopie habe zukommen lassen.190 Dieses politisch brisante Dokument hatte jedoch keine Folgen für Jaroslavskij. Die Auseinandersetzung ging im Gegenteil diesmal zu seinen Gunsten aus. Er erfuhr mit Kaganovics Protektion zunächst eine Aufwertung seines Status: Am 8. Juni bereits konnte Jaroslavskij Kaganovic auf dessen Anfrage seine Vorschläge zur Umbesetzung der Redaktionen der Zeitschriften Istorik-marksist, Bor'ba klassov und Proletarskaja revoljucija mitteilen.191 Und schon am 25. Juni konfrontierte Jaroslavskij Pokrovskij mit der Nachricht, dass er als dessen Stellvertreter in der Zeitschrift Bor 'ba klassov Pokrovskij war deren leitender Redakteur - ernannt worden sei, um letzterem „bei der politischen Führung und beim Erhalt der bolschewistischen Parteilichkeit der Zeitschrift zu helfen."192 Dieser Schritt bedeutete eine von Kaganovic geforderte Aufwertung Jaroslavskij s und eine eindeutige Degradierung Pokrovskijs. Durch eine Entscheidung des Politbüros wurde Jaroslavskij außerdem am 25. August 1931 zum Direktor des Parteihistorischen Instituts 189 Schreiben Jaroslavskijs vom 25.6.1931 an das Sekretariat ZK VKP(b), das Präsidium ZKK VKP(b), Stalin, Kaganovic, Postysev und Andreev. F.89, op.12, d.2, 1.193-200. Erklärung Gorins vom 21.4.1931 an das Sekretariat ZK VKP(b), Kopien an: Abteilung für Kultur und Propaganda ZK VKP(b) und Pokrovskij. F.89, op.12, d.2,1.185-192. 190 Schreiben Postysevs an Jaroslavskij vom 23.5.1931. F.89, op.12, d.2, 1.184. Erst am 2.6.1931 schickte Postysev eine Kopie von Gorins Erklärung an Stalin. F.558, o p . l l , d.841, 1.46-54. 191 Schreiben Jaroslavskijs an Kaganovic vom 8.6.1931. F.89, op.7, d.29, 1.15-18. In Jaroslavskijs Vorschlag für die Besetzung der Redaktion des Istorik-marksist figurierte zwar noch Gorin, jedoch nicht mehr Tatarov und Fridljand. 192 Schreiben Jaroslavskijs an Pokrovskij vom 25.6.1931. F.89, op.7, d.35, 1.4. Vom wachsenden Einfluss Jaroslavskijs, der Zusammenarbeit Jaroslavskijs und Kaganovics und der intendierten Degradierung Pokrovskijs zeugt ein Brief vom 29.6.1931, in dem Jaroslavskij Kaganovic bittet, Gönner und Dolin in das Redaktionskollegium der Bor 'ba klassov aufzunehmen, um den „Greis" (starik), Pokrovskij, zufriedenzustellen. F.89, op.12, d. 1,1.46.

4. Konflikt und politische Praxis

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der Roten Professur ernannt.193 In der Folge versuchte er, die strategisch wichtigen Posten mit „seinen Leuten", N.L. Rubinstejn, Mine und Postysev, zu besetzen194, was ihm aber nicht mehr gelang.

4. Konflikt und politische Praxis a. Signale von oben Betrachtet man die beschriebenen Konflikte an der „historischen Front", so stellen sich im wesentlichen zwei Fragen: 1. Warum verliert Jaroslavskij als führender einflussreicher Ideologe angesichts einer vermeintlichen Lapalie, der Veröffentlichung von Gorins Artikel, buchstäblich die Nerven, so dass er sich gezwungen sieht, eine Intervention Stalins zu provozieren? 2. Warum zeigt er sich nicht in der Lage, diese Konflikte allein aufgrund seiner politischen Autorität zu lösen? Bevor die Entscheidung, den Jaroslavskij s Parteigeschichte diskreditierenden Artikel Gorins zu drucken, in der Redaktion des Istorik-marksist fiel, war Jaroslavskij durch einen Beschluss des Politbüros vom 12. Januar 1931 in der Redaktion der Pravda deutlich degradiert worden. Diese Degradierung bedeutete für ihn einen Verlust von symbolischem Kapital, das andere verpflichtete, ihn seinem Status gemäß zu behandeln. Unter dem Deckmantel einer Umstrukturierung wurden die Machtverhältnisse in der Redaktion verschoben. Das leitende dreiköpfige Redaktionskollegium, dem Jaroslavskij faktisch vorstand, wurde durch den Posten eines verantwortlichen Redakteurs ersetzt, den zunächst Savel'ev und etwas später Lev Mechlis erhielt. Jaroslavskij wurde zum einfachen Redaktionsmitglied herabgestuft. 195 Schon im September 1929 hatte sich Stalin in Briefen an Molotov und Ordzonikidze mehrfach negativ über dessen Arbeit in der Pravda geäußert.196 Jaroslavskijs Führungsschwierigkeiten an der „historischen Front", seine Nachgiebigkeiten 193 F.17, op.3, d.844, 1.12. Diesen Posten hatte Jaroslavskij von Adoratskij übernommen, unter dessen Leitung die parteihistorische Abteilung des Instituts der Roten Professur ein selbständiges Institut für Parteigeschichte wurde. Zur Umstrukturierung und Aufwertung des Instituts siehe: Behrendt: Adoratskij. 194 In einem Schreiben vom 8.10.1931 an Steckij schlägt Jaroslavskij vor, Rubinstejn, seinen Mitarbeiter an der Istorija VKP(b), als seinen Stellvertreter am Parteihistorischen Institut zu ernennen. F.89, op.6, d.l, 1.53. Als dieser Vorschlag keine Wirkung zeigte, wandte sich Jaroslavskij am 20.11.1931 direkt an Kaganovic mit dem Vorschlag, Rubinstejn zum stellvertretenden Direktor des Parteihistorischen Instituts, Postysev als Leiter der Abteilung partstroitel 'stvo am selben Institut und Mine zum Redaktionsmitglied der Zeitschrift Bor 'ba klassov zu ernennen. F.89, op.6, d.2,1.12. 195 Entscheidung des Politbüro vom 12.1.1931. F.17, op.3, d.810,1.14. 196 Brief Stalins an Molotov vom 13.9.1929, in: Pis'ma I.V. Stahna V.M. Molotovu, S. 165. Brief Stalins an Molotov vom 9.9.1929, in: ebenda, S. 160-163; Brief N. Alliluevas an Stalin, in: Rodina, 1992, H.10, S. 52, sowie die Telegramme Stalins an Molotov und Ordzonikidze vom 22. bzw. 23.9.1929, in: ebenda, S. 58. Zu den Hintergründen von Stalins Kritik an Jaroslavskij siehe: Kap. IV.5.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

gegenüber einigen Oppositionellen und seine Kumpaneien mit Teodorovic mögen den Ausschlag für seine Degradierung gegeben haben. Savel'ev, der neue leitende Redakteur der Pravda, hingegen war seit 1930 scharf gegen Teodorovic aufgetreten.197 Jaroslavskij hatte bis dahin seinen Posten in der Redaktion der Pravda genutzt, um Teodorovic zu schützen, und zu verhindern gewusst, dass im Zentralorgan der Partei negativ über diesen berichtet wurde. Die Signale, die von seiner Degradierung ausgingen, wusste Jaroslavskij zu deuten. Er selbst hatte von einer solchen „Umstrukturierung" profitiert, als Bucharin 1929 vom Posten des verantwortlichen Redakteurs entlassen und dieser Posten in das dreiköpfige Redaktionskollegium umgewandelt worden war. Jaroslavskij wusste auch, wie diese von der Führungsspitze ausgehenden Signale von seinen Historikerrivalen interpretiert wurden. Diesen Zusammenhang stellte er explizit in einem nichtabgesendeten Brief an Stalin vom 31. April 1931 her, in dem sich mit aller Deutlichkeit sein Bedrohungsgefuhl spiegelt. Die Signale des ZK, so Jaroslavskij, würden von den Parteimitgliedern genau registriert und dahingehend interpretiert, dass man ihn von der Führung ausgeschlossen habe. Sein dadurch entstandener Autoritätsverlust eröffne für Fridljand und Tatarov die Möglichkeit, ihn „in die Mangel zu nehmen". Auch Savel'ev handele in seiner Funktion als Praw/a-Redakteur im Auftrag Steckijs, des Leiters der Abteilung für Kultur und Propaganda des ZK, gegen ihn, da letzterer untersagt habe, in der Pravda gegen Gorin vorzugehen.'98 Jaroslavskijs vermeintliche Gegner - Steckij, Savel'ev, Gorin, Tatarov und Fridljand - nutzten dessen Statusverlust und ihre Stellung in den Institutionen für ihre Fraktionsinteressen, d.h. für die Interessen ihres Netzwerks, genau wie Jaroslavskij dies getan hatte. Handlungsspielraum bzw. Autorität konnte Jaroslavskij erst wieder erlangen, als sein Status durch die Protektion Kaganovics vorübergehend wieder abgesichert wurde. Für Kaganovic wiederum war Jaroslavskij möglicherweise die geeignete Person, um eine Ablösung Pokrovskijs und damit einen Paradigmenwechsel in der offiziellen Geschichtsdarstellung einzuleiten. b. Überschneidung von Konfliktfeldern Nimmt man die Auseinandersetzungen an der „historischen Front" genauer in den Blick, so wird deutlich, dass sich hier mehrere Konfliktfelder, in die Jaroslavskij involviert war, überschnitten. Jaroslavskij war der erste promi197 Siehe z.B. die Beschwerde Teodorovics vom 4.2.1930 an die Mitglieder des Politbüros über das Verhalten Savel'evs während der Diskussion in der Gesellschaft marxistischer Historiker über die Narodnaja volja. F.89, op.8, d.36,1.1-4. 198 Briefentwurf Jaroslavskijs an Stalin vom 31.4.1931 mit dem Vermerk: nicht abgeschickt. F.89, op.12, d.2,1.138-144.

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nente Parteiintellektuelle, der im April 1930 während der Auseinandersetzungen unter den marxistischen Philosophen mit einer Rede vor der Kommunistischen Akademie gegen den das philosophische Feld dominierenden Abram Deborin und seine „Schule" der sogenannten Dialektiker öffentlich auftrat und ihn zum Eingeständnis seiner Fehler aufforderte.199 Im Gegensatz zu seinem Auftreten unter den Historikern stellte er sich hier auf die Seite der jungen radikalen Vertreter der Zunft, Mark Mitin, Pavel Judin, V. Ral'cevic, V.P. Egorsin und Timosko, die sich etwas später als Sprachrohr Stalins ausgaben und deren institutionelle Basis die Kommunistische Akademie und das Institut der Roten Professur waren. Obwohl sich Stalin einige Monate später, im Dezember 1930, in den Konflikt einschaltete, indem er Deborin und seine Anänger im Rahmen eines Interviews am Institut der Roten Professur als menschewistische Idealisten bezeichnete200, gibt es keinen Hinweis darauf, dass Jaroslavskij auf Anweisung von oben handelte.201 Vermutlich verschaffte ihm u.a. seine Stellung als Vorsitzender des „Verbands der militanten Gottlosen" zum einen die Autorität und weckte zum anderen sein Interesse, gegen Deborin aufzutreten. Jaroslavskij kritisierte aber nicht die philosophischen Grundsätze der Dialektiker, die die Möglichkeit dialektischer Entwicklungssprünge einräumten und geistigen Phänomenen eine gewisse Unabhängigkeit zubilligten, während ihre Gegner an der „philosophischen Front", die von Bucharin angeführten „Mechanisten", die Allgemeingültigkeit der naturwissenschaftlichen und historischen Gesetze und somit die absolute Determiniertheit historischer Abläufe vertraten.202 Jaroslavskij, dessen Leidenschaft dem Atheismus und der antireligiösen Propaganda galt, hatte hingegen mehrfach die mangelnde Bereitschaft von Deborin und seinen Anhängern angeprangert, sich auf dem Gebiet des Atheismus und der antireliösen Propaganda zu engagieren.203 Dabei machte er sich gegen Deborin ein Argument zunutze, das den Kern von Stalins erster öffentlicher Intervention in das Feld der Wissenschaft und Kultur, seiner Rede auf der Konferenz der marxistischen Agrarwissenschaftler im Dezember 1929, gebildet hatte, nämlich dass die Theorie der Praxis - und hier meinte Jaroslavskij 199 Zu den Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten, von Deborin repräsentierten Dialektikern mit den Mechanisten siehe: Joravsky, David: Soviet Marxism and Natural Science, 1917-1932, New York 1961. 200 Mitin, M.: Boevye voprosy materialisticeskoj dialektiki, Moskau 1936, S. 43-44. 201 Allerdings gibt Stalins Besucherbuch Hinweise darauf, dass Stalin mit Deborins jungen Herausforderern in einem fur seine Verhältnisse, sei es als Mentor, Schiedsrichter oder Kritiker, relativ engen Kontakt stand. Siehe: Posetiteli kremlevskogo kabineta I.V. Stahna. Zurnaly (tetradi) zapisi lie, prinjatych pervym gensekom, 1924—1953, in: Istoriceskij archiv, 1994, H. 6; 1995, H. 2, 3, 4. 202 Siehe hierzu: Bucharin, N./Deborin, Α.: Kontroverse über dialektischen und mechanistischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1974. 203 Siehe die Rede Jaroslavskijs vom 26.4.1930 über die Lage an der philosophischen Front, gehalten in der Kommunistischen Akademie. Archiv AN, f.350, op.2, d.417, 1.49— 70; sowie f.89, op.8, d.570, 1.28^9, und seinen Beitrag in der Zeitschrift Antireligioznik, 1930, no. 4, S. 127. Hierin wurde er besonders von militanten Atheisten bestärkt.

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die Praxis der antireligiösen Propaganda - hinterherhinke.204 Zudem hatte schon zu Beginn des Jahres 1930, analog zu ähnlichen Praktiken unter den Historikern, eine Gruppe von Mechanisten versucht, Jaroslavskij als ihren Mentor gegen Deborin zu gewinnen. Als Wortführer dieser Gruppe trat Vladimir Sarah'janov auf, der ebenfalls in der Gottlosenbewegung aktiv war. Er gehörte dem atheistischen Zirkel an, den Jaroslavskij 1923 an der SverdlovUniversität gegründet hatte und aus dem sich seine Mitarbeiter auf dem Gebiet der antireligiösen Propaganda rekrutierten.205 Sarab'janov forderte Jaroslavskij auf, seiner Gruppe Publikationsmöglichkeiten zu verschaffen.206 Jaroslavskij ging auf Sarab'janovs Forderung ein, indem er dessen Anliegen in seiner eben erwähnten Rede in der Kommunistischen Akademie als gerechtfertigt erklärte. Pokrovskij und Fridljand ergriffen im Gegensatz zu Jaroslavskij fur Deborin Partei. Möglicherweise war Jaroslavskijs Auftreten gegen Deborin für einige jüngere Historiker aus Pokrovskij s Lager der Auslöser, um zu Jaroslavskij überzulaufen. Vermutlich wurden so die in einem Konfliktfeld bestehenden Animositäten auch auf andere Auseinandersetzungen übertragen. An Jaroslavskijs Verhalten in diesen Konflikten lässt sich kein eindeutiges politisches Muster erkennen. Die Auseinandersetzung mit Deborin scheint im Gegenteil eine interessebedingte Ausnahme zu bilden: An anderen Abschnitten der sogenannten Kulturfront tendierte Jaroslavskij dazu, ältere gemäßigtere Bolschewisten gegen die Angriffe der jüngeren und radikaleren zu verteidigen. Auf dem Zweiten Allunionskongress des „Verbands der Gottlosen", der am 10. Juni 1929 in Moskau stattfand, vertrat Jaroslavskij mit Bucharin, der zu diesem Zeitpunkt bereits der „Rechten Abweichung" beschuldigt wurde und als leitender Redakteur der Pravda entlassen worden war, und mit Anatolij Lunacarskij, der noch im selben Jahr von seinem Posten als Volkskommissar für Volksbildung zurücktreten sollte, die zum Zeitpunkt der Kollektivierung der Landwirtschaft unpopuläre Auffassung, dass das religiöse Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung - und dies betraf insbesondere die bäuerliche Bevölkerung - nur durch geduldige Aufklärung und Propaganda, nicht aber durch gewaltsame „administrative" Maßnahmen zu beeinflussen sei.207 Bucharins Auftritt auf dem Gottlosenkongress wurde 204

Stalin, I.V.: Κ voprosam agrarnoj politiki ν SSSR. Ree' na konferencii agrarnikovmarksistov 27 dekabija 1929 g., in: ders.: Socinenija, Bd. 12, Moskau 1949, S. 141-172. 205 Sovel'ev. Propagandist marksistkogo ateizma, S. 31-36. 206 Schreiben V. Sarab'janovs an Jaroslavskij vom 3.1.1930. F.89, op.8, d.600,1.4-5. 207 Die Redebeiträge auf dem Kongress sind festgehalten in: Stenograficeskij oteet vtorogo vsesojuznogo s-ezda Sojuza voinstvujuscich Bezboznikov, Moskau 1932; siehe insbesondere den Redebeitrag Jaroslavskijs, S. 50-82. Zum Zweiten Allunionskongress des Verbands der militanten Gottlosen siehe: Perris, Daniel: The 1929 Congress of the Godless, in: Soviet Studies 43 (1991), S. 711-732; Plaggenborg, Stefan: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrußland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln 1996, S. 328-334; Dahlke, Sandra: „An der antireligiösen Front." Der Verband der Gottlosen in der Sowjetunion der 1920er Jahre, Hamburg 1998, S. 72-75; zu Jaroslavskijs

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wenig später in einer Entscheidung des Politbüros als verdeckter Kampf gegen das ZK bezeichnet. Hieraus ergab sich auch für Jaroslavskij eine prekäre Situation, da Bucharin in einem Rechtfertigungsschreiben an die Mitglieder des Politbüros angab, er habe mit Jaroslavskij den Entwurf seiner Rede abgesprochen.208 An diesen Beispielen wird deutlich, dass Jaroslavskijs Auftreten an den unterschiedlichen Abschnitten der „Kulturfront" nicht eindeutig war und offenbar stärker durch ein persönliches und an seine Betätigungsfelder gebundenes Interesse bedingt wurde als durch eine kohärente politische Einstellung oder Strategie. Wichtiger für die Zuspitzung der Konflikte an der „historischen Front" erscheinen daher weniger festgefügte politische Einstellungen, sondern vielmehr die soziale Dynamik innerhalb und an den Überschneidungspunkten der einzelnen Felder. Am Beispiel der marxistischen Historiker können wir beobachten, dass einige Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Historikern entweder schon begannen, bevor Jaroslavskij sich dort engagierte, oder dass einige Akteure versuchten, Jaroslavskij zu instrumentalisieren, um ihre Interessen durchzusetzen. Diese Interessen deckten sich zwar häufig, aber nicht zwingend mit denen Jaroslavskijs. Das soll an einem Beispiel erläutert werden: Im Herbst 1931 richtete Stalin einen „Brief' an die Herausgeber der Zeitschrift Proletarskaja revoljucija, in dem er die Arbeit der marxistischen Historiker, u.a. die Jaroslavskijs und seiner Mitarbeiter, kritisierte.209 Diese wurden dadurch gezwungen, sich für ihre „Fehler" zu rechtfertigen. In einer solchen „Reueerklärung" gab z.B. V. Rachmetov, einer von Jaroslavskijs Mitarbeitern, an, dass sich das Autorenkollektiv der mehrbändigen Parteigeschichte bis 1930 nicht an den in der „Gesellschaft marxistischer Historiker" stattfindenden Grabenkämpfen beteiligt habe. Ende des Jahres 1930 hätten allerdings El'vov, Mine, Vanag und S.A. Piontkovskij begonnen, sich als „Gruppe Jaroslavskijs" zu bezeichnen, die es sich zur Aufgabe gemacht habe, gegen eine Reihe von Mitarbeitern der „Gesellschaft marxistischer Historiker" - u.a. Gorin, Kin und Fridljand - vorzugehen (Kin gehörte allerdings zu Jaroslavskijs Schützlingen). El'vov sei der Drahtzieher der gruppovscina gewesen, in die aber auch er selbst, A. Sidorov und Rubinstejn sich hätten

Beschäftigung mit Atheismus und antireligiöser Propaganda: Sovel 'ev: Propagandist marksistskogo ateizma. An Jaroslavskijs moderater Haltung auf dem Gottlosenkongress müssen jedoch Zweifel aufkommen. In einem Brief an Vorosilov von 1929 (undatiert) unterbreitet er diesem den Vorschlag der antireligiösen Kommission des ZK, dass man bei einer Beschlagnahmung der Kirchenglocken zwischen 100.000 und 200.000 Tonnen Bronze gewinnen könne. Diese Maßnahmen würden den Fünflahrplan unterstützen und müssten den Gläubigen durch Propagandakampagnen vermittelt werden. F.74, op.2, d.45,1.114. 208 Entscheidung des PB vom 8.7.1929. F.17, op.3, d.748,1.5. Schreiben Bucharins an alle Mitglieder und Kandidaten des Politbüros vom 22.7.1929. F.17, op.3, d.753, 1.12. Dokumente übersetzt und abgedruckt in: Stalin. Briefe an Molotow, S. 166-167. 209 Auf die Bedeutung von Stalins „Brief' an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija für die marxistischen Historiker im allgemeinen und für Jaroslavskij im besonderen wird in Kapitel IV.6. eingegangen.

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mithineinziehen lassen. Rachmetov hatte Mitte Januar 1931 im Namen einiger selbsterklärter Anhänger Jaroslavskijs ein Schreiben an das ZK gesendet, in dem Gorins Monographie über die Revolution von 1905 scharf kritisiert wurde. In Reaktion auf Rachmetovs Schreiben hatten einige Zweigstellen der „Gesellschaft marxistischer Historiker" gegen Pokrovskij gerichtete Resolutionen erlassen, in denen ein Austausch der Führung der Gesellschaft gefordert wurde.210 Etwa gleichzeitig ging die schon erwähnte Erklärung der Mitglieder der Kommunistischen Akademie, Dzenis, Ostrovitjanov und Pasukanis, im ZK ein, die aber aufgrund der Protektion der Parteiführung keine negativen Folgen für Pokrovskij zeitigte. Jaroslavskij - so Rachmetov später habe sich in diese Auseinandersetzungen nicht hineinziehen lassen wollen, sich auch nicht dafür interessiert und zu einem späteren Zeitpunkt sogar versucht, diese zu unterbinden.2" Schenkt man der schon erwähnten Erklärung Gorins an das Sekretariat des ZK vom 21. April 1931 glauben, so begannen dessen Meinungsverschiedenheiten mit Jaroslavskijs Protégé Mine schon 1928 oder 1929.212 Hier haben wir es aber möglicherweise mit einer nachträglich angewandten Rechtfertigungsstrategie Gorins zu tun. Die Divergenzen zwischen Mine und Gorin traten aber spätestens Anfang 1930 zutage: Mine hatte im März Jaroslavskij brieflich von einem Gespräch mit Gorin berichtet. Gorin habe ihm, obwohl ihr Verhältnis angespannt sei, im Vertrauen erzählt, Jaroslavskij versammele um sich alle „abgehalfterten Elemente", wie z.B. Teodorovic, Dubrovskij und El'vov, und kämpfe mit ihnen gegen die Leitung der „Gesellschaft marxistischer Historiker" und insbesondere gegen Pokrovskij. Gorin habe versucht, ihn, Mine, auf seine Seite zu ziehen. Derartige Kontaktaufhahmen waren eine gängige Strategie der Netzwerkbildung. Das Schreiben an Jaroslavskij hatte für Mine folgende Funktion: Er wählte sich Jaroslavskij als Mentor, indem er diesem im Gegenzug seine Unterstützung in politischen Auseinandersetzungen und Intrigen anbot.213 Offensichtlich erkannte Mine, der im Institut der Roten Professur als enger Mitarbeiter Pokrovskij s tätig war, in Jaroslavskij den geeigneteren Partner, um seinen persönlichen Konflikt mit Gorin und Fridljand erfolgreich auszutragen. Möglicherweise bot sich Jaroslavskij aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Deborin aus der Perspektive Mine' sowie einiger anderer jüngerer Historiker als neuer Patron an. Dieses sich auf persönliche Beziehungen und Netzwerke stützende Interessengemenge konnte zwar einerseits auch von Jaroslavskij zum eigenen Vorteil manipuliert wer-

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'° Archiv AN, f. 1757, op.2, d.16,1. 16-33. Schreiben Rachmetovs an den Vorsitzenden der ZKK AKP, Boglanov, vom 1.2.1932. F.89, op.7, d.80, 1.23-29. Vgl. auch, Stenograficeskij oteet obscebakinskogo partijnogo aktiva, 22.12.1932. Vystuplenie Rachmetova. F.89, op.7, d.80,1.40. 212 F.89, op.12, d.2, 1.185-192, hier 1.186. Zu Mine siehe: MacKinnon, Elaine: Writing History for Stalin. Isaak Izrailevich Mints and the Istorija grazhdanskoj vojny, in: Kritika 6 (2005), S. 5-54. 213 Schreiben Mine' an Jaroslavskij vom 3.3.1930. F.89, op.8, d.600,1.106a. 211

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den, entzog sich aber andererseits aufgrund seiner Vielschichtigkeit seiner Kontrolle. Konflikte konnten so häufig nur durch die Einbeziehung eines Schiedsrichters geschlichtet werden. c. Modi der Auseinandersetzungen An den oben geschilderten Diskussionen der marxistischen Historiker wurde deutlich, dass Jaroslavskij und seine Gegner aller Meinungsverschiedenheiten zum Trotz die grundlegende Überzeugung teilten, dass Geschichtsschreibung als Revolutionstheorie die politische Linie der Partei repräsentieren müsse und dass es auf eine Frage nur eine Antwort geben könne. Sie lehnten die Vorstellung eines Meinungspluralismus grundsätzlich ab. Zwar hatte Jaroslavskij im Zuge der Diffamierungskampagne gegen Teodorovic die Praxis, abweichende Meinungen mit politischen Etiketten zu belegen, kritisiert und für eine offenere Diskussion über ungeklärte Probleme der Geschichte der russischen revolutionären Bewegung plädiert, jedoch war auch er der Auffassung, dass man im Laufe einer Diskussion zu einem eindeutigen Ergebnis kommen müsse.214 Zudem scheint es angesichts von Jaroslavskij s Vorgehen gegen Trotzkij angezeigt, derartige Postulate mit Vorsicht zu genießen. Diese trotz aller Unterschiede gemeinsamen Überzeugungen Jaroslavskij s und anderer Historiker liegen zum einen darin begründet, dass die Ergebnisse geschichtswissenschaftlicher Forschung den einfachen Parteimitgliedern als eindeutige ideologische Orientierung dienen sollten, zum anderen aber auch in einer spezifischen Wissenschaftsauffassung, nämlich der Vorstellung, mit der „Methode" des „Marxismus-Leninismus" über ein absolut gültiges Werkzeug zu verfügen, um historische Vorgänge „richtig" zu deuten. Die bolschewistischen Historiker glaubten an die Kongruenz von Geschichte, d.h. von den angenommenen Gesetzmäßigkeiten des historischen Verlaufs, mit den dialektischen Verfahren der Geschichtswissenschaft. Symptomatisch für das Bestreben, alle Interpretationsunterschiede aufzulösen und damit die maßgebliche Geschichtsdarstellung zu liefern, sind die sogenannten Thesen, die zu jedem Jahrestag bedeutender Ereignisse in der Parteigeschichte angefertig wurden.215 Diese Prämissen bestimmten wesentlich den Verlauf der oben beschriebenen Auseinandersetzungen, denn sie bedingten das zwanghaft wirkende Bedürfnis der Historiker, auf andere Meinungen immer wieder reagieren bzw. sich immer wieder rechtfertigen zu müssen, um der eigenen Auffassung eine hegemoniale Stellung zu verschaffen. Dieses Verhaltensmuster führte häufig zu unlösbaren Pattsituationen. 214

Jaroslavskij: Nedorazumenie Ii? (1930). Alexei Kojevnikov hat die spezifischen Modi wissenschaftlicher Entscheidungsfindung am Beispiel der Philosophie und der Biologie in der Nachkriegssowjetunion untersucht. Kojevnikov, Alexei: Games of Stalinist Democracy. Ideological Discussions in Soviet Sciences, 1947-52, in: Stalinism. New Directions, hrsg. v. Sheila Fitzpatrick, London, New York 2000, S. 142-175, S. 167-168. 215

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Bis etwa 1930 wurden die marxistischen Historiker weder durch eine zentralisierte Zensurbehörde in ihrer Arbeit eingeschränkt, noch ist ein ausgeprägter Wille seitens der obersten bolschewistischen Führung um Stalin zu beobachten, auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung dirigistische Vorgaben zu machen. Die oben beschriebenen Interventionen Molotovs und Stalins sind von Pokrovskij und Jaroslavskij, d.h. von den Historikern selbst provoziert worden. Auch Gorin hatte versucht, eine Intervention von oben zu erzwingen, blieb aber erfolglos. Die Abteilung des ZK für Kultur und Propaganda gab zwar, wie im Falle der Diskussion über die Revolution von 1905, Leitlinien aus; diese Leitlinien oder Thesen zu bestimmten Ereignissen wurden aber auch von Historikern verfasst und diskutiert, so dass hier ohnehin eine Überschneidung der politischen und fachwissenschaftlichen Felder vorliegt. Jaroslavskij und auch Pokrovskij hatten zwar selbst wichtige politische Posten inne und damit die Aufgabe, die Ideologieproduktion zu kontrollieren; jedoch reichte dieser Status aus den schon diskutierten Gründen nicht aus, um Auseinandersetzungen in ihrem Sinne zu beenden. Die marxistischen Historiker waren also selbst dazu aufgerufen, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen und gemäß ihrer oben dargelegten Prämissen zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen. Der Wettbewerb um gültige Interpretationen wurde in den wissenschaftlichen Institutionen, in den Redaktionen der Fachzeitschriften, aber auch in den Parteizellen der jeweiligen wissenschaftlichen Einrichtungen bestritten. Ob ein bestimmter Artikel oder eine Rezension gedruckt oder nicht gedruckt oder mit einer kritischen Anmerkung der Redaktion versehen wurde, wurde in den Redaktionskollegien durch Abstimmung entschieden. Ebenso entschieden eigens zu diesem Zweck in der Regel im Auftrag des ZK gebildete Kommissionen über die Verabschiedung von „Thesenprojekten" oder „Resolutionen". Im Kampf um die legitime Deutung der Geschichte war es demzufolge weniger wichtig, durch inhaltliche Argumente zu überzeugen, sondern vielmehr auf die Zusammensetzung und Entscheidungsfindungsprozesse in den Redaktionen und Kommissionen Einfluss zu nehmen. Wie wir gesehen haben, konnte Jaroslavskij aufgrund seiner leitenden Funktion in der Pravda scharfe Kritik an Teodorovic im Zentralorgan der Partei verhindern und war sogar in der Lage, die Veröffentlichung der von Pokrovskij verfassten Thesen über die Bedeutung der Narodnaja volja zunächst zu blockieren; deren Publikation konnte aber letztlich von Pokrovskij durch die Intervention Molotovs erzwungen werden. Jaroslavskij versuchte, wie auch Pokrovskij und dessen Anhänger, die Zusammensetzung der Redaktionskollegien zu kontrollieren. Er übte vor allem einen erheblichen Einfluss in der Redaktion der maßgeblichen theoretischen Zeitschrift der Partei, des Bol'sevik aus. Auf der anderen Seite dominierten Jaroslavskij s Gegner, die sich als Fürsprecher Pokrovskij s bezeichneten, die „Gesellschaft marxistischer Historiker", das historische

4. Konflikt und politische Praxis

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Institut der Kommunistischen Akademie und die Redaktionskollegien der Zeitschriften Istorik-marksist und Proletarskaja revoljucija. Jaroslavskij nutzte weitgehend dieselben Mittel der politischen Auseinandersetzung wie seine Rivalen. Auch er versuchte, Allianzen zu bilden, Institutionen und Redaktionen mit „seinen Leuten" zu besetzen und Abstimmungsverfahren durch gezielte Interessenpolitik zu manipulieren. Dies geschah in der Regel durch Kontaktaufnahme zu den Stimmberechtigten mit dem Ziel, sich im Vorfeld deren Loyalität zu versichern. So versuchte Jaroslavskij z.B, die Unterstützung Kins und Sestakovs zu gewinnen, um die Publikation einer positiven Besprechung von Gorins Monographie über die Revolution von 1905 zu verhindern216, und setzte sich vehement für die Wiedereinsetzung seines Protégés Mine in die Redaktion des Istorik-marksist ein, aus der Mine ebenfalls aus machtpolitischen Erwägungen auf Beschluss des Präsidiums der Kommunistischen Akademie, die von Pokrovskijs Anhängern dominiert wurde, zuvor ausgeschlossen worden war.217 Wie seine Gegenspieler neigte auch Jaroslavskij trotz teilweise gegenteiliger Postulate dazu, seine Rivalen als Oppositionelle zu brandmarken, und versuchte, die Veröffentlichung ihrer Texte zu verhindern, seine Texte dagegen durch nichtangreifbare Autoritäten - zunächst durch Pokrovskij, dann durch Kaganovic oder Stalin - absichern zu lassen. In dem Maße, in dem Stalin - z.B. durch seine Rede auf dem Kongress der marxistischen Agrarwissenschaftler218 oder durch seine Intervention in die Auseinandersetzungen zwischen Deborin und den Mechanisten - und seine selbsterklärten Sprachrohre in den einzelnen Disziplinen forderten, die einzelnen Wissenschaftszweige hätten sich den Erfordernissen des sozialistischen Aufbaus anzupassen, konnte auch diese Forderung als eine Waffe gegen die eigenen Konkurrenten verwendet werden. So hatte auch Jaroslavskij gegen Deborin argumentiert, die Arbeit an der „philosophischen Front" richte sich mit ihrer Vernachlässigung der antireligiösen Propaganda nicht nach den Erfordernissen der Praxis. Durch diese Verhaltensweisen delegitimierten die an den Auseinandersetzungen beteiligten Akteure und Gruppen, die ja eigentlich um die Hegemonie in ihren Bereichen stritten, die noch in den 1920er Jahren bestehende relative Autonomie ihrer Betätigungsfelder und schränkten somit ungewollt ihre Handlungsfreiheit sowie die Möglichkeit, eine hegemoniale Position zu erobern, zunehmend ein. Neben diesen Gemeinsamkeiten lassen sich aber auch generationsbedingte Unterschiede in der politischen Auseinandersetzung erkennen. Die Praxis des „Durcharbeitens" (prorabatyvat '), der sich Jaroslavskij besonders infolge des Schreiben Jaroslavskijs an Sestakov vom 19.5.1931. F.89, op.7, d.28,1.136. Abschrift aus dem Protokoll No. 31 der Sitzung des Präsidiums der Kommunistischen Akademie vom 21.9.1930 mit dem handschriftlichen Vermerk Jaroslavskijs: „pocemu vyveden Mine?" (Warum ist Mine ausgeschlossen worden?). F.89, op.7, d.29, 1.7. Schreiben Jaroslavskijs an Pokrovskij vom 3.12.1930. F.89, op.7, d.29,1.1a. 218 Stalin: Κ voprosam agrarnoj politiki (1929). 217

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Stalin-„Briefs" an die Redaktion der Proletarskaja revoljucija ausgesetzt sah, war kennzeichnend fur die jüngere Generation und fester Bestandteil der politischen Kultur am Institut der Roten Professur und an anderen höheren Parteischulen.219 Gorin hatte beispielsweise entsprechend einer Information, die Jaroslavskij von einem Sympathisanten zugetragen wurde, angekündigt, er werde Moskau nicht eher verlassen, bis er Jaroslavskij „durchgearbeitet" habe.220 Jemanden „durchzuarbeiten" bedeutete im Jargon der jungen radikalen Kommunisten, den Gegner mit intensiver Kritik derartig „in die Mangel" zu nehmen, bis er seine Fehler eingesteht. Das „Durcharbeiten" kann als eine Methode bzw. Technik bezeichnet werden, die angewendet wurde, um in Auseinandersetzungen die gegnerischen Positionen bloßzustellen und letztlich ein eindeutiges Ergebnis zu erzielen. Diese Technik wurde in den höheren Bildungseinrichtungen kultiviert und bewusst eingeübt. Das „Durcharbeiten" unterschied sich aber insofern von einfachen Auseinandersetzungen, in denen sich die Beteiligten gegenseitig der ideologischen Abweichung bezichtigten, als dass es in der Regel im Vorfeld organisiert und von Gruppen getragen wurde, sich häufig aber gegen einzelne richtete. Die radikalste Form des „Durcharbeitens" bestand in der plötzlichen Einberufung einer „Diskussion" (diskussija) mit dem Ziel, den jeweiligen Gegner zu diskreditieren und ihn des Verstoßes gegen die Parteilinie zu überführen. So hatte z.B. Gorin El'vov beschuldigt, er habe die Diskussion an der MGU (Moskauer Staatliche Universität) über die Revolution von 1905 organisiert, um Gorin „durchzuarbeiten".22' Das heißt, dass der Kampf darum, jemandem ein Fehlergeständnis abzuzwingen, zu einem Identifikationsmoment wurde, über welches sich Gruppenidentitäten und Allianzen herstellen ließen. Die jüngeren Historiker erkannten außer Lenin und Stalin keine Autoritäten an und verstanden sich ungeachtet ihrer Konflikte untereinander - als verlängerter Arm der Parteiführung, der die Parteilichkeit (partijnost') im Feld der Historiker durchsetzte.222 Jaroslavskijs distanziertes Verhältnis gegenüber der Praxis des „Durcharbeitens" äußerte sich darin, dass er in seinen schriftlichen Äußerungen den Begriff „Durcharbeiten" in der Regel in Anfuhrungszeichen setzte. Auch war es offensichtlich der respektlose, radikale Ton bzw. die „Unduldsamkeit" (neterpimost ') der jungen Historiker gegenüber den Altbolschewisten, die Jaroslavski irritierte, wenn er mehr Respekt gegenüber den revolutionären Verdiensten Teodorovics einforderte.223 Jaroslavskij wurde hier, ohne sich dessen bewusst zu sein, zum Opfer der Geister, die er selbst in maßgeblicher Weise mitgeholfen hatte zu rufen. Der 219

David-Fox: Revolution of the Mind, S. 174. Studer/Unfried: Der stalinistische Parteikader, S. 149-266. 220 Schreiben des Studenten A. Vinogradov an Jaroslavskijs Sekretär Lichacev (undatiert). F.89, op.8, d.600,1.106 b. 221 F.89, op.12, d.2,1.190. 222 Barber: Historians, S. 119. 223 Schreiben Jaroslavskijs an Pokrovskij vom 25.2.1930. F.89, op.8, d.39,1.1.

4. Konflikt und politische Praxis

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amerikanische Historiker Michael David-Fox hat gezeigt, dass die Praxis des „Durcharbeitens" in den bolschewistischen Bildungseinrichtungen sowohl dem Modell der Kampagnen folgte, die von der jeweiligen ZK-Mehrheit gegen die „Trotzkistischen" und „Vereinigten Oppositionen" organisiert worden waren, als auch dem Modell der Befragungsprozeduren während der von der ZKK organisierten und durchgeführten „Überprüfungen" bzw. „Säuberungen" der Parteiorganisationen (u.a. an den Vuzy) sowie dem Vorbild der 1928 lancierten Kampagne für die „innerparteiliche Demokratie", deren wesentlicher Bestandteil die Aufforderung zur „Kritik von unten" (kritika snizu) war.224 Jaroslavskij hat in diesen Kampagnen die Rolle eines der wichtigsten Ankläger übernommen und war in dieser Funktion derartig hervorgetreten, dass Anhänger Zinov'evs während einer Demonstration in Leningrad Plakate trugen, auf denen Jaroslavskij als Kettenhund Stalins abgebildet war, und er von Stalin im September 1929 in zynischer Weise im Zusammenhang mit der sogenannten Leningrader Affäre als „Sportsmann der Selbstkritik" bezeichnet wurde225. Darüber hinaus haben auch seine zahlreichen gegen die Opposition gerichteten Schriften dazu beigetragen, die sprachlichen Schablonen zu liefern, die beim „Durcharbeiten" Verwendung fanden. Jaroslavskij war sich der stigmatisierenden Wirkung von sprachlichen Etikettierungen und der damit einhergehenden Mechanismen der Macht durchaus bewusst - zumindest zu dem Zeitpunkt, als er selbst davon betroffen war. Nachdem Stalin Jaroslavskij in seinem „Brief' an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija, dessen konkrete Implikationen im folgenden noch diskutiert werden sollen, öffentlich bloßgestellt hatte, beklagte sich Jaroslavskij bei Stalin darüber, dass die von diesem „gegen die Feinde des Bolschewismus gerichteten Worte" wie „verfaulter Liberalismus" und „trotzkistische Kontrabandisten" missbraucht würden und gegen jeden gerichtet werden könnten.226 Mit J e d e n " meinte Jaroslavskij freilich sich selbst. Er hatte prinzipiell keine Bedenken gegen solche Zuschreibungen, jedoch hielt er sich selbst aus einer paternalistischen Haltung heraus im Gegensatz zu den anderen, meist jüngeren Kommunisten für kompetent, erfahren und aufrichtig genug, um diese Zuschreibungen „richtig" zu verwenden. Seine Kompetenz begründete er mit seiner Zugehörigkeit zur „eisernen leninschen Kohorte", die durch das Martyrium der Revolution und der vorrevolutionären Verfolgung „gestählt" worden sei. Es muss also angenommen werden, dass Jaroslavskij s Forderung nach einem gemäßigteren Umgang nicht prinzipieller Natur, sondern zumindest in weiten Teilen kontext- oder sympathiegebunden war. Jaroslavskij, der sich das Privileg erhalten wollte, kraft seiner Autorität Konflikte im Hintergrund regeln zu können, wurde zum Opfer der „Parteiöffentlichkeit", die er maßgeblich mitgestaltet hatte, bald aber nicht mehr steuern konnte. 224 225 226

David-Fox: Revolution of the Mind, S. 175. Zur „Leningrader Affare" siehe Kap. IV.5. Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 25.11.1931. F.89, op.12, d.2,1. 201-207.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Auch die Tatsache, dass Jaroslavskij den politisch diskreditierten Teodorovic verteidigte, erklärt sich weniger aus Jaroslavskij s taktischer Naivität als aus diesem Generationskonflikt. Jaroslavskij wollte durch das Eintreten für Teodorovic den gemeinsamen Status des Altbolschewisten bzw. des Mitglieds der „eisernen Kohorte der Revolution" sowie das Leidenscharisma des Revolutionärs gegen die Demontage durch Gorin, Fridljand und Tatarov verteidigt wissen. Diese jungen Kommunisten, die um 1900 geboren, im Bürgerkrieg sozialisiert und an den höheren Bildungseinrichtungen der Partei, insbesondere am Institut der Roten Professur, ausgebildet worden waren, hatten wenig Respekt vor den Erfahrungen und den damit verbundenen Mythen der Altbolschewisten. Jaroslavskij galt als Prototyp des Altbolschewisten. Diese Reputation, die er bewusst pflegte und die für ihn Gegenstand eines positiven Ehrbegriffs wurde, war nicht zuletzt das Ergebnis seiner Selbststilisierung. Die Verteidigung Teodorovics war so für Jaroslavskij gewissermaßen auch die Verteidigung der eigenen, sorgsam konstruierten Identität. Somit ging es in den Auseinandersetzungen über Geschichte immer auch darum, die eigene revolutionäre Erfahrung in die Geschichte der Partei einzuschreiben und die eigenen Erfahrungen nach Möglichkeit kanonisieren zu lassen. d. Doppelte Loyalitäten und Statussicherheiten Jaroslavskij waren die Vorwürfe gegen Teodorovic im Zusammenhang mit dessen Enthebung vom Posten des stellvertretenden Volkskommissars für Landwirtschaft durch seine Funktion als Sekretär des Parteikollegiums und Mitglied des Präsidiums der ZKK, die seit 1923 mit dem Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion zusammengeschlossen war, gut bekannt. Zudem ist anzunehmen, dass er spätestens im Sommer 1930 über Stalins extrem negative Haltung gegenüber Teodorovic informiert war. Trotz dieser schwerwiegenden Anschuldigungen setzte sich Jaroslavskij auch außerhalb der Konflikte unter den marxistischen Historikern für Teodorovic ein. Schon im Mai 1929 bat er Avel Enukidze, den Vorsitzenden des Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets (ZEK), Teodorovic bei der Aufstellung der Kandidatenlisten für die Wahl des von diesem geleiteten Exekutivorgans zu berücksichtigen - explizit um Teodorovics Autorität als Vorsitzender der Bauerninternationalen (krestintem) zu stärken.221 Warum schützte Jaroslavskij trotz seiner Loyalität zur Stalin-Fraktion Teodorovic? Wie konnte er diese widersprüchlichen Loyalitäten miteinander vereinbaren, oder schienen sie ihm nicht widersprüchlich? Teilte Jaroslavskij Teodorovics „rechte Positionen" und versuchte, die damit zusammenhängenden inhaltlichen Überzeugungen zu verteidigen? Tatsächlich hatte sich Jaroslavskij im Kontext der Religionspolitik öffentlich auf die Seite der als „rech-

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Schreiben Jaroslavskijs an Avel Enukidze vom 23.5.1929. F.89, op.5, d.233,1.2.

4. Konflikt und politische Praxis

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te Abweichler" bezeichneten Bucharin und Lunacarskij gestellt und - allerdings nicht öffentlich - gegen die Durchführung der Kollektivierung Bedenken geäußert.228 Diese Zweifel bezogen sich aber lediglich auf die Symptome der Politik gegenüber der ländlichen Bevölkerung, auf die schwierige Versorgungslage mit Lebensmitteln, die drohende soziale Katastrophe und auf die mit der Kollektivierung einhergehende Radikalisierung der Religionspolitik.229 Jedoch stellten diese Bedenken seine Loyalität zur Stalin-Fraktion und deren grundsätzlicher Politik nicht in Frage. Jaroslavskij verbanden mit Teodorovic die oben genannten Gemeinsamkeiten, jedoch keine grundsätzlichen „rechten" landwirtschaftspolitischen Überzeugungen, die ihn dazu hätten bringen können, Teodorovic zu schützen. Jaroslavskij vertraute aber offensichtlich auf die Geltung der in den Auseinandersetzungen mit den einzelnen oppositionellen Gruppierungen von ihm errungenen Position als Mitglied der Führungsgruppe um Stalin. In dieser Statussicherheit konnte er sich dadurch bestärkt sehen, dass er zu den ausgewählten Autoren gehörte, die anlässlich von Stalins fünfzigstem Geburtstag im Dezember 1929 den Jubilar in der Pravda feiern und sich als dessen Gefolgschaft präsentieren konnten. Jaroslavskij fühlte sich nicht nur berechtigt, eigene Protektionsverhältnisse zu unterhalten; er sah darüber hinaus die Unterhaltung solcher Verhältnisse als Bestätigung seiner Position in der Machthierarchie um Stalin. Jaroslavskij glaubte offenbar, den „Fall Teodorovic" mit Stalin auf informeller Ebene regeln zu können, wie er auch geglaubt hatte, sich hinter den Kulissen mit Pokrovskij einigen zu können. Diese Sicherheit Jaroslavskijs lässt sich am Beispiel von seinen Verhandlungen mit Stalin über Teodorovics Fehlereingeständnis zeigen, das dieser Ende 1930 gezwungen wurde öffentlich zu leisten. Im November 1930 wurde der Druck auf Teodorovic so hoch, dass er eine Erklärung, in der er seine politischen „Irrtümer" eingestand, zunächst an die kommunistische Fraktion der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" und damit an ihren Vorsitzenden Jaroslavskij schickte. Jaroslavskij verhandelte mit Stalin über den Inhalt von Teodorovics Erklärung und verschärfte diese, um - wie er sich in einem Brief an Teodorovic ausdrückte - die Erklärung besser für die Interessen der Partei einsetzen zu können.230 Jaroslavskij verlangte von Teodorovic kein aufrichtiges Schuldbe228

So äußerte Jaroslavskij z.B. in einem Brief an Ordzonikidze vom 17.9.1930 Bedenken über die schlechte Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska, S. 135. Chlevnjuk, Oleg: Politbjuro. Mechanizmy politiceskoj vlasti ν 1930-e gody, Moskau 1996, S. 20-21. 229 Als Beispiel für Jaroslavskijs relativ gemäßigte Position in der Religionspolitik siehe seine Korrespondenz mit dem Leiter der ukrainischen Sektion des „Verbands der militanten Gottlosen", Ignatjuk, vom 16. und 21.5.1930. F.89, op.12, d.9, 1.29; siehe auch: Savel'ev: Propagandist marksistskogo ateizma, S. 53-54. 230 Erklärung Teodorovics an die kommunistische Fraktion der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" vom 12.11.1930 mit Korrekturen Jaroslavskijs. F.89, op.5, d.59, 1. 1-lob; Schreiben Jaroslavskijs an Sumjackij vom 18.11.1930, ebenda, 1.5; Schreiben Jaroslavskijs an Teodorovic vom 18.11.1930, ebenda, 1. 6-8.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

kenntnis, sondern forderte lediglich eine formale Unterwerfung unter die Parteidisziplin, die eine auch für Stalin befriedigende Außenwirkung erzielen sollte. Zudem gibt es keinen Hinweis darauf, dass Jaroslavskij an Teodorovics Beteiligung an einer vermeintlichen antisowjetischen Verschwörung glaubte. Im Gegenteil können wir ihm sogar mit einiger Berechtigung unterstellen, einige Auffassungen Teodorovics geteilt zu haben. Die Absprachen mit Stalin geschahen - daran kann im Kontext von Jaroslavskij s Verhalten gegenüber Teodorovic kein Zweifel bestehen - aus Sorge um Teodorovic. Jaroslavskij war offensichtlich davon überzeugt, sich mit der Protektion Teodorovics entsprechend der Logik des Feldes zu verhalten, d.h. entsprechend der Logik einer Patronageoligarchie, in der er glaubte, eine feste Position zu besetzen. Jaroslavskij sollte aber bald zu spüren bekommen, dass seine Überzeugung, einen gesicherten Platz in der bolschewistischen Führungsriege um Stalin einzunehmen und damit das Recht zu haben, eigene Protektionsverhältnisse zu unterhalten, eine Illusion war.

5. Veränderung der Spielregeln: Stalins „Brief an die Redaktion der Zeitschrift Proletarskaja revoljucija Im Sommer 1931 deutete alles daraufhin, dass Jaroslavskij die Auseinandersetzungen mit Pokrovskij und dessen Anhängern für sich entscheiden konnte. Seine Statusposition war mit Hilfe Kaganovics stabilisiert worden. Jaroslavskij s Siegeszug wurde sogar durch seine Ernennung zum Direktor des Parteihistorischen Instituts der Roten Professur, einer prestigeträchtigen Position, institutionell beglaubigt. Er schien sein Ziel erreicht zu haben, nicht nur als Revolutionär und hochrangiges Mitglied der Mehrheitsfraktion, sondern auch als einer der maßgeblichen Parteiintellektuellen anerkannt zu werden. Die in der zweiten Hälfte des Jahres 1931 erfolgte Aufwertung war jedoch nicht von langer Dauer. Ende Oktober 1931 schrieb Stalin einen „Brief' an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija, mit dem er die Spielregeln grundlegend veränderte und die verbleibende professionelle Autonomie in den einzelnen akademischen Bereichen aufheben sollte. Der Aufhänger des „Briefs" war ein Artikel des Historikers Anatolij G. Sluckij über die Haltung der Bolschewisten gegenüber der II. Internationalen, der ein Jahr zuvor in der Proletarskaja revoljucija erschienen war und gegen dessen Publikation Stalin heftig polemisierte.231 Stalin prangerte zudem die aus seiner Sicht grundlegenden Missstände an der „historischen Front" an, verwies unter anderem auch auf die schwerwiegenden „Fehler" in der von Jaroslavskij herausgegebenen vierbändigen Parteigeschichte, ohne diese aber konkret zu benennen,

231 Zu den Diskussionen über die II. Internationale und Sluckijs Argumentation siehe: Barben Historians, S. 197-198.

5. Veränderung der Spielregeln

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und bezichtigte Jaroslavskij implizit des „verfaulten Liberalismus". 232 Stalin war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt, dass Jaroslavskij noch am 24. Oktober 1931 die Publikation eines anderen Artikels Sluckijs über die II. Internationale in der Zeitschrift Istorik-marksist zur Veröffentlichung freigegeben hatte.233 Stalins einschneidende Intervention in das Feld der Historiker, die aber in alle akademischen Bereiche ausstrahlte, ist vielfach in der wissenschaftlichen Literatur betrachtet worden234, hier soll sie nur bezüglich ihrer Folgen für Jaroslavskij interessieren. Yves Cohen hat am Beispiel der Briefe Stalins an Kaganovic, die allerdings der Geheimhaltung unterlagen, darauf aufmerksam gemacht, dass diese Briefe einen bedeutenden Modus der stalinschen Politik dokumentieren und dass sie nicht nur aufgrund ihres Inhalts für Historiker von Interesse sind, sondern schon in ihrer materiellen Eigenschaft politische Handlungen darstellen, die eine Kaskade von anderen Handlungen auslösten.235 Dies gilt umso mehr für Stalins veröffentlichte „Briefe", die sich allerdings durch denselben rüden Ton auszeichnen und ebenso wie die „internen" Briefe nicht daran zweifeln lassen, dass Stalin mit aller Selbstverständlichkeit als Hüter des Bolschewismus und des „Leninismus" agierte. Mit seinem „Brief an die Proletarskaja revoljucija definierte Stalin Geschichtsschreibung und insbesondere die Parteigeschichtsschreibung als Bereich oberster politischer Priorität, verschärfte die Konfliktsituation an der „historischen Front", stellte Jaroslavskijs Autorität in Frage und löste den Startschuss für eine Hetzkampagne gegen Jaroslavskij auf Parteiversammlungen und in der bolschewistischen Presse aus, in deren Verlauf dieser zunächst hartnäckig versuchte, sich und seine Mitarbeiter zu verteidigen. Stalins „Brief war nach

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Der Brief Stalins an die Herausgeber der Proletarskaja revoljucija „O nekotorych voprosach istorii bol'sevizma" ging am 26.10.1931 in der Redaktion ein. Archiv AN, f.371, op.l, d.14, 1.235, 243. Am 28.10.1931 wurde das Heft No. 6 der Proletarskaja revoljucija zur Publikation freigegeben. Barber: Historians, S. 174. Zur Chronologie der Ereignisse siehe: Alatorceva: Sovetskaja istoriceskaja periodika, S. 206-209. Der Brief Stalins wurde zusätzlich in einer Reihe anderer Zeitschriften veröffentlicht und ist abgedruckt in: Stalin, I.V.: Socinenija, Bd.13. Moskau 1951, S. 84-102. Der namentliche Angriff" auf Jaroslavskij lautet: „[...] selbst einige unserer Historiker, - ich spreche von Historikern ohne Anführungszeichen, von bolschewistischen Historikern, Historikern unserer Partei - sind nicht frei von Fehlern, die Wasser auf die Mühlen der Sluckijs und Volosevics gießen. Leider bildet hier auch der Genösse Jaroslavskij keine Ausnahme, dessen Bücher, ungeachtet ihrer Verdienste, eine Reihe von Fehlem historischen und prinzipiellen Charakters enthalten." Ebenda, S. 101-102. 233 Schreiben Jaroslavskijs an Tatarov vom 24.10.1931. F.89, op.7, d.24,1.30. 234 Eine detaillierte, auf Archivmaterial beruhende Darstellung bietet: Alatorceva: Sovetskaja istoriceskaja periodika, S. 207-216. Cernobaev: „Professor s pikoj". Siehe auch die kritische Auseinandersetzung mit den Interpretationen Alatorcevas und Cemobaevs: Entin, Dzordz (Enteen, George): Intellektual'nye predposylki utverzdenija stalinizma ν sovetskoj istorigrafn, in: Voprosy istorii, 1995, H. 5-6, S. 149-155. Die nach wie vor informativste Darstellung bietet: Barber: Historians, S. 126-136. 235 Cohen, Yves: Des lettres comme action: Stalin au début des années 1930 vu depuis le fonds de Kaganovic, in: Cahiers du Monde russe 38 (1997), S. 307-346.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Jaroslavskijs schon erwähnter Degradierung in der Pravifa-Redaktion auf den Status eines einfachen Redaktionsmitglieds im Januar 1931 ein zweiter Schritt auf dem Weg der Marginalisierung Jaroslavskijs. Bevor wir uns aber den konkreten Folgen des „Briefs" für Jaroslavskij zuwenden, soll hier die Frage gestellt werden, welche Motive Stalin dazu bewegten, Jaroslavskijs Autorität öffentlich herabzusetzen bzw. was der Vorwurf des „verfaulten Liberalismus" beinhaltete? Jaroslavskij hatte zunächst an der „historischen Front", auch ganz abgesehen von den schon diskutierten Konflikten, aus Stalins Sicht erhebliche Führungsschwächen gezeigt. Am 31. März 1930 hatte er mit Stalin ein Gespräch geführt, in dem Stalin ihm nahegelegt hatte, seinen Mitarbeiter im Projekt der mehrbändigen Parteigeschichte, El'vov, aufgrund von dessen „trotzkistischen Abweichungen" zu entlassen, was Jaroslavskij in der Folge auch tat.236 El'vov, der an der historischen Abteilung des Instituts der Roten Professur studierte, war bis dahin einer der wichtigsten Mitarbeiter Jaroslavskijs gewesen, da er für die Koordination des gesamten Projekts zuständig war. Stalin war auf El'vov aufmerksam geworden, weil dieser mit einem anderen Studenten der historischen Abteilung, Taskarov, der ebenfalls an Jaroslavskijs Projekt mitgearbeitet hatte, eine Broschüre mit dem Titel „Über einen Versuch der Verfälschung des Marxismus-Leninismus" (Ob odtioj popytke iskazenija marksizma leninizmä) verfasst und Taskarov Stalin um eine Beurteilung des Texts gebeten hatte.237 Stalin hatte sich, als die Broschüre allerdings schon publiziert war, in einem „Brief im Sommer 1929 vernichtend darüber geäußert und den beiden Autoren „schwere ideologische Irrtümer trotzkistisch-menschewistischen Charakters" vorgeworfen.238 Aufgrund von Stalins „Brief wurde eine spezielle Kommission am Institut der Roten Professur einberufen, die El'vov aus dem Institut ausschloss. Für Jaroslavskij ergab sich eine unangenehme Situation, weil Taskarov in einem Gespräch mit Stalin behauptet hatte, El'vov habe ihm versichert, dass Jaroslavskij die Broschüre vor ihrer Veröffentlichung gelesen und gutgeheißen habe. El'vov hingegen, der zu Taskarovs Aussage Stellung beziehen musste, stritt dies ab und behauptete seinerseits, Jaroslavskij habe die Broschüre weder gelesen, noch habe er selbst Taskarov davon berichtet. Er räumte aber ein, dass Gerüchte im 236

Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 1.4.1930. F.558, o p . l l , d.814,1.139. In der rechten oberen Ecke des Dokuments befindet sich die Notiz Stalins: „In mein Archiv". 237 Bei El'vovs und Taskarovs Broschüre handelt es sich um eine Polemik gegen einen Text A.F. Ksenofontovs. Ksenofontov soll Stalin beim Verfassen seines 1924 erschienenen Buchs „Grundlagen des Leninismus", das aus einer Vorlesung an der Sverdlov-Universität hervorging, in erheblichen Maße assistiert haben. Ksenofontov veröffentlichte ein Jahr später selbst ein Buch mit dem Titel: Ucenie Lenina o revoljucii i diktature proletariato (Moskau, Leningrad 1925), das schon 1923 geschrieben worden war und auffallige Ähnlichkeiten mit Stalins Text aufweist. Siehe hierzu: Tucker. Stalin as Revolutionary, S. 324-329. 238 Schreiben Stalins an Taskarov, Kopie an: Agitprop ZK - Krinickij, Pravda - N.N. Popov, Bol'sevik - N.N. Popov vom 22.7.1929. F.558, o p . l l , d.814,1.100.

5. Veränderung der Spielregeln

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Lenin-Institut kursierten, wonach Jaroslavskij die Broschüre in Auftrag gegeben habe.239 Die Existenz derartiger Gerüchte wurde auch von dem einflussreichen Historiker Nikolaj N. Popov bestätigt.240 Über den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen soll hier nicht spekuliert werden. Wichtiger ist, dass Jaroslavskij dem Verdacht der „mangelnden Wachsamkeit" bei der Auswahl seiner Mitarbeiter und im Umgang mit ihnen ausgesetzt wurde, der möglicherweise dazu führte, dass sich Stalin oder seine Mitarbeiter bemüßigt fühlten, auch einige Stellen von Jaroslavskij s vierbändiger Parteigeschichte zu überprüfen, an der El'vov schließlich maßgeblich mitgearbeitet hatte. Im Zusammenhang mit der Angelegenheit El'vov-Taskarov befinden sich drei Erklärungen El'vovs an Jaroslavskij in Stalins persönlichem Archiv. Diese Erklärungen hatte Jaroslavskij Stalin am 1. April 1930 gemeinsam mit der Nachricht zugeschickt, er habe El'vov auf Anweisung Stalins entlassen. In diesen Erklärungen schildert El'vov zum einen seinen Konflikt mit Taskarov, zudem verteidigt er sich gegen Verdächtigungen Jaroslavskij s, dass er brisante Dokumente, nämlich die Protokolle der Allrussischen Parteikonferenz der Bolschewisten im März 1917, jedem, der sie habe konsultieren wollen, zugänglich gemacht habe. El'vov rechtfertigte sich damit, dass der Mitarbeiter Jaroslavskij s an der vierbändigen Parteigeschichte, David Ja. Kin, die besagten Dokumente unrechtmäßig entwendet habe.241 An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum El'vov, auch über den Konflikt mit Taskarov hinaus, Rechenschaft ablegen musste und dabei den Historiker Kin anführte. Aus der Darstellung El'vovs lassen sich zwei Interpretationsmöglichkeiten ableiten: Entweder sah sich Jaroslavskij durch das Verschwinden der besagten Dokumente aus dem Archiv des Lenin-Instituts, das der Parteiführung aufgefallen war, dazu veranlasst, von El'vov eine Erklärung zu verlangen. Es ist aber wahrscheinlicher, dass Jaroslavskij dazu aufgefordert wurde, seinen Mitarbeiter zu maßregeln, weil das von Kin verfasste Kapitel im vierten Band von Jaroslavskij s Parteigeschichte die Aufmerksamkeit des Generalsekretärs oder seiner Mitarbeiter erregt hatte. 239

Erklärung El'vovs an das ZK VKP(b) - Stalin, Molotov, Steckij vom 13.2.1930. F.558, op.ll, d.814,1.116-118; Schreiben Taskarovs an Jaroslavskij vom 8.3.1930. Ebenda, 1.122; Schreiben El'vovs an Jaroslavskij (undatiert). Ebenda, 1.123—123ob; Erklärung Taskarovs an Jaroslavskij (undatiert), Kopie an Stalin. Ebenda, 1.124-125; Erklärung El'vovs an Jaroslavskij (undatiert), handschriftlicher Vermerk: Kopie an Stalin. Ebenda, 1.130—130ob. 240 Schreiben N.N. Popovs an Jaroslavskij vom 12.3.1930. F.558, op.ll, d.814, 1.127. Popov war zu diesem Zeitpunkt Leiter der Abteilung fur Agitation und Propaganda des Moskauer Parteikomitees, Mitglied des Redaktionskollegiums der Pravda (Bucharin hatte ihn als Politkommissar bezeichnet) und eine einflussreiche Figur im Lenin-Institut. 241 Schreiben El'vovs an Jaroslavskij (undatiert) und vom 6.4.1930 sowie an Jaroslavskijs Sekretär, Lichacev (undatiert). F.558, op.ll, d.814,1.147, 1.148,1.149. Die Protokolle der Parteikonferenz erschienen 1937 in leicht veränderter Form in Trotsky, Leon: The Stalin School of Falsification (New York 1962), sie wurden aber in der Sowjetunion erstmalig 1962 veröffentlicht. Protokoly vserossijskogo (martovskogo) sovescanija partijnych rabotnikov 27 marta - 2 aprelja 1917 goda", in: Voprosy istorii KPSS, 1962, H. 5, S. 112, H. 6, S. 139-140.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Der vierte Band war 1929 erschienen. Kin war in seinem Kapitel ein besonders schwerwiegendes Missgeschick unterlaufen, dessen Folgen er selbst und Jaroslavskij in vollem Ausmaß allerdings erst im Anschluss an Stalins „Brief an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija zu spüren bekamen: Kin hatte auf Stalins „irrtümliche", d.h. gegen Lenin gerichtete Haltung gegenüber der Provisorischen Regierung im Frühjahr 1917 angespielt. Stalin hatte vor Lenins Ankunft in Russland im Frühjahr 1917, d.h. vor der Verlesung der April-Thesen, im Verbund mit Lev Kamenev und Matvej K. Muranov eine moderate Position gegenüber der Provisorischen Regierung eingenommen, die auf der Auffassung beruhte, dass die bürgerliche Revolution noch nicht vollendet und daher der Umsturz noch kein unmittelbares Ziel der Bolschewiki sei. Zudem hatte sich Stalin auf der Allrussischen Parteikonferenz der Bolschewisten im März 1917, deren Protokolle Kin angeblich unrechtmäßig entwendet hatte, für Verhandlungen mit den Menschewisten ausgesprochen, um eine gemeinsame Plattform für eine lediglich moderate Opposition gegen die Fortführung des Kriegs zu erreichen.242 Dem verantwortlichen Herausgeber Jaroslavskij war dieser „Fehler" Kins offensichtlich nicht als solcher aufgefallen. Das heißt, Jaroslavskij hat Kins Indiskretion zum Zeitpunkt der Redaktion entweder aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit nicht wahrgenommen, oder er hat diese Art der Darstellung für legitim oder zumindest für durchsetzbar gehalten. Das würde bedeuten, dass Jaroslavskij zu diesem Zeitpunkt an der oligarchischen Tradition der Partei festhielt und für ihn die Machtfrage noch nicht geklärt war. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Stalin infolge einer Überprüfung des vierten Bandes nicht erst 1931, sondern schon Anfang 1930 auf Kins „Fehler" und damit auf Jaroslavskijs Versäumnis aufmerksam wurde.243 Die Veröffentlichung von derartigen Details aus Stalins revolutionärer Vergangenheit war in den Augen Stalins und seiner Mitstreiter deshalb so brisant, weil sie in der extrem angespannten politischen Situation der Jahrzehntwende, als die Kollektivierungskampagne zu eskalieren drohte, gegen den Herrschaftsanspruch Stalins und seiner Anhänger verwendet werden konnten. Im März 1930 sah sich Stalin aufgrund der unkontrollierbaren bürgerkriegsähnlichen Zustände gezwungen, mit seinem Artikel „Von Erfolgen von Schwindel befallen" das Kollektivierungstempo zurückzunehmen, und schob damit die Verantwortung für die Eskalation auf die örtlichen Parteifunktio-

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Zu Stalins Position im Frühjahr 1917 und zu seinen Auseinandersetzungen mit Lenin siehe: Tucker. Stalin as Revolutionary, S. 163-180. 243 In der Erklärung Gorins an die Sekretäre des ZK vom 21.4.1931 hatte Stalin die folgende Textstelle unterstrichen: „Allgemein muss angemerkt werden, dass es bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ist, den Band der Parteigeschichte, die von Jaroslavskij herausgegeben wird, einer Überprüfung zu unterziehen. Er [Jaroslavskij] hält diese Arbeit fur eine wissenschaftliche Parteigeschichte, aber in Wirklichkeit enthält sie eine ganze Reihe gröbster Fehler." Artizov: M.N. Pokrovskij: final kar'ery, S. 136.

5. Veränderung der Spielregeln

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näre.244 Insbesondere die von Kin angedeutete Tatsache, dass Stalin im Frühjahr 1917 Bereitschaft gezeigt hatte, mit den Menschewisten zu verhandeln, ließ Stalin und seine strategisch denkenden Anhänger vermutlich befürchten, die 1929 desavouierten Gegner der Zwangskollektivierung könnten sich diese diskreditierenden Informationen zunutze machen. Ob der oben geschilderte Fall nun durch Stalins Lektüre der von El'vov und Taskarov verfassten Broschüre, durch das Verschwinden von Dokumenten oder durch eine Überprüfung von Jaroslavskijs Parteigeschichte ausgelöst wurde, so ist doch offensichtlich, dass den Historikern erst durch diese Vorfälle die Brisanz derartiger Dokumente und ihres Inhalts deutlich gemacht wurde. El'vov selbst bezeichnete zwar die Protokolle gegenüber Jaroslavskij als „Fabrikationen der trotzkistischen Opposition" und verdeutlicht damit indirekt, dass das offene Sprechen über Stalins revolutionäre Vergangenheit ein Tabu darstellte. Das tat er allerding erst, als er deswegen schon in Schwierigkeiten geraten war. Es sieht also so aus, als hätten die meisten Historiker und vielleicht auch Jaroslavskij in den Jahren 1929 und 1930 diese potentiellen politischen Verknüpfungen im Gegensatz zu Stalin und seinen Strategen entweder noch nicht hergestellt oder noch nicht ernst genommen. Offenbar waren sie sich noch nicht bewusst, dass einige Details aus Stalins Vergangenheit einem „Verbot" unterlagen. Denn El'vov erwähnt in seiner Erklärung auch, er habe gehört, dass die besagten Protokolle der Parteikonferenz vom März 1917 zur Publikation in der Proletarskaja revoljucija vorgesehen seien; zudem hätten sie im Archiv des Lenin-Instituts keiner besonderen Geheimhaltung unterlegen. Obwohl Jaroslavskij seine Karriere als Parteihistoriker dem politischen Kampf gegen die innerparteilichen Oppositionen verdankte und auch seine marxistischen Historikergenossen in höchstem Maße politisiert waren, galten für sie offensichtlich noch graduelle Unterschiede zwischen politischer Strategie und Geschichtswissenschaft. Welche der aufgeführten Varianten auch zutrifft, in jedem Fall hatte Jaroslavskij in dieser Angelegenheit aus der Perspektive Stalins gezeigt, dass er seine Mitarbeiter nicht im Griff hatte sowie die von ihnen produzierten Texte nicht in der Lage war, angemessen zu kontrollieren. Für Stalin und dessen Mitarbeiter hatte er hiermit bewiesen, dass es ihm entweder an politischem Feingefühl sowie an strategischem Denken mangelte und er die Grenzen des Sagbaren nicht abschätzen konnte, oder dass er sich der beginnenden Verschiebung des Machtgefüges von einer oligarchischen Parteiherrschaft hin zu einer Herrschaft Stalins und seiner Entourage verweigerte. Zwar hatte sich Stalin nicht nennenswert in die Auseinandersetzungen der Historiker über die

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Zur Eskalation der Gewalt während der Kollektivierung siehe: Viola, Lynne: The Best Sons of the Fatherland: Workers in the Vanguard of Soviet Collectivization, New York, Oxford 1987; dies.: Peasant Rebels under Stalin: Collectivization and the Culture of Peasant Resistance, New York, Oxford 1996; Fitzpatrick, Sheila: Stalin's Peasants: Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization, New York 1994.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Bedeutung der Narodnaja volja und die Revolution von 1905 eingemischt; aber es wird deutlich, dass er schon über ein Jahr vor der Veröffentlichung seines „Briefs" an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija zwar nicht öffentlich - das hätte er in dieser heiklen Angelegenheit auch nicht gekonnt, ohne die eigene Autorität in Frage zu stellen - , aber dennoch massiv in die Arbeit der Historiker um Jaroslavskij eingriff und auf diese Weise die öffentliche Darstellung seiner revolutionären Vergangenheit versuchte zu kontrollieren. Stalin und seine engsten Mitarbeiter konnten die Historiker so effektiv manipulieren, weil diese gegeneinander konkurrierten und ihrerseits versuchten, Stalins Mandat für sich zu gewinnen. Im Hinblick auf die folgenden Ausführungen zum Stalin-Kult lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass Personenkulte zwar in der politischen Kultur der russischen radikalen intelligencija und damit auch der Bolschewiki strukturell angelegt waren, dass es aber akuter politischer Krisensituationen in Verbindung mit einem scharfen Konkurrenzkampf der Akteure untereinander bedurfte, damit sich ein so umfassendes Phänomen wie der Stalinkult entfalten konnte. Aber auch unabhängig von diesen „Fehlern" an der „historischen Front" hatte Stalin seit 1929 genügend Gründe gefunden, sich über Jaroslavskij zu ärgern. Stalin und seinen nächsten Vertrauten war nicht entgangen, dass Jaroslavskij seinen Posten in der /Vavrfa-Redaktion für seine eigenen Interessen und Protektionsverhältnisse genutzt und sich als inoffizieller leitender Redakteur nicht gerade als großer politischer Stratege ausgezeichnet hatte. So hatte z.B. Ordjonikidze Jaroslavskij vorgeworfen, er missbrauche seine Position in der Pravda, um seine eigene Popularität zu erhöhen.245 Aus der Perspektive Stalins hatte sich Jaroslavskij in mehreren Fällen gegenüber vermeintlichen Oppositionellen und Abweichlern als zu nachgiebig gezeigt. Jaroslavskij war zwar auf dem gemeinsamen Plenum des ZK und der ZKK im April 1929 neben Stalin als Hauptankläger gegen Bucharin, Rykov und Tomskij aufgetreten und hatte von Bucharins Entlassung aus der Redaktion der Pravda profitiert, indem er die Leitungsfunktion übernehmen konnte.246 Er geriet aber insbesondere im Falle Bucharins in einen schweren Loyalitätskonflikt. Jaroslavskij hatte trotz seiner Begehrlichkeiten, noch mehr Einfluss in der Pravda zu erwerben, als er ohnehin schon hatte, versucht, in der Redaktion hinter den Kulissen zwischen Bucharin und den von diesem als Politkommissare bezeichneten Garal'd Krumin und Nikolaj Popov zu vermitteln und Bucharin zur Wiederaufnahme seiner Arbeit zu bewegen.247 Immerhin hatte Jaroslavskij seit 1918 nicht nur in der Pravda mit Bucharin zusammengearbeitet, beide hatten eine gemeinsame oppositionelle Vergangenheit. Jaroslavskij hatte 1918

245

Schreiben Jaroslavskijs an Ordzonikidze (undatiert), in dem er sich gegen dessen Vorwurf rechtfertigt. F.85, op.27, d.270,1.1. 246 Siehe: S. 124-126. 247 Schreiben Jaroslavskijs an Bucharin vom 31.1.1929. F.89, op.12, d.7,1.61.

5. Veränderung der Spielregeln

235

zu der von Bucharin angeführten Gruppe Linker Kommunisten gehört. 1919 engagierten sich beide in der Militärischen Opposition. Im Sommer 1929 hatte sich Jaroslavskij ganz offensichtlich nicht im Sinne Stalins an der organisierten Provokation gegen Bucharin beteiligt und sowohl eine Rede Bucharins, die dieser im Auftrag des Politbüros im Namen des ZK auf dem Zweiten Allunionskongress der militanten Gottlosen gehalten hatte, sowie einen längeren Artikel in der Pravda ausdrücklich befürwortet. Am 8. Juli fasste das Politbüro einen Beschluss, in dem sowohl die Rede als auch der Artikel Bucharins als „Kampf gegen die Partei und ihr ZK" bezeichnet wurde.248 Schon im September 1929 leistete sich Jaroslavskij in der Redaktion der Pravda einen neuen schwerwiegenden Fehltritt: Die Pravda hatte ohne Absprache mit Stalin am 1. September Materialien über „die Unterdrückung der Selbstkritik" in der Leningrader Parteiorganisation gedruckt und damit die sogenannte Leningrader Affäre ausgelöst. Seit 1928 hatten die Behörden ZKK-RKI und die Presse eine Reihe von „Skandalen" in der Provinz aufgedeckt. Durch diese „Enthüllungen von Missständen" sollte die „bolschewistische Selbstkritik" bzw. die „Kritik von unten" (samokritika, kritika s nizu) gefordert und die einfachen Parteimitglieder aufgefordert werden, die jeweiligen örtlichen Parteiführungen zu kontrollieren und zu kritisieren. Mit dieser Maßnahme sollte die Kontrolle des Zentralapparats über die regionalen Parteiorganisationen verschärft und die regionalen Cliquen geschwächt werden.249 Es wurde schon gezeigt, dass Jaroslavskij an diesen Kampagnen unmittelbar und mit großer Begeisterung beteiligt war. Er unternahm unter anderem zu Beginn des Jahres 1928 eine Inspektionsreise in die DonbassRegion im Zusammenhang mit der „Sachty-Affare", die häufig als Auslöser der „Kulturrevolution" bezeichnet wird. Die „Enthüllungen" über die Leningrader Parteiorganisation folgten diesem Muster, schössen aber aus der Perspektive Stalins weit über das Ziel hinaus. In wütenden Briefen an Molotov und Ordjonikidze verdächtigte er Jaroslavskij, für diese Eigenmächtigkeit der Redaktion verantwortlich zu sein und bezeichnete ihn zynisch als „Sportsmann der Selbstkritik" (sportsmen oí samokritiki). Jaroslavskij liebe es, sich von plebejischen Stimmungen mitreißen zu lassen, könne nicht zwischen der politischen Bedeutung einer Provinzparteiorganisation wie der von Astrachan und der der Leningrader Organisation unterscheiden und sei zudem aufgrund fehlender politischer Weitsicht, die nicht weiter als die eigene Nase reiche, Opfer des Einflusses Zinov'evs, des ehemaligen Leningrader Parteivorsitzenden, geworden, der sich Jaroslavskij s Schwäche zunutze ma-

248

Bucharins Artikel war am 30.6.1929 in der Pravda erschienen. Schreiben Bucharins an alle Mitglieder und Kandidaten des Politbüros sowie an Jaroslavskij vom 22.7.1929; Beschluss des Politbüros vom 8.7.1929, abgedruckt in: Stalin. Briefe an Molotow, S. 166-167. 249 Hierzu siehe: Gill: Origins, S. 127-134; Rees, E.A.: The Changing Nature of CentreLocal Relations in the USSR, 1928-36, in: Centre-Local Relations in the Stalinist State, 1928-1941, hrsg. v. dems., Houndmills, Basingstoke 2002, S. 9-36, hier S. 12-18.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

che.250 Stalin wertete die öffentliche Bloßstellung der Leningrader Parteiführung als unüberlegten Angriff gegen seine zuverlässigste Stütze im ZK gegen die „rechte Opposition" und befürchtete offensichtlich, dass der „Sportsmann der Selbstkritik" vor lauter populistischem Eifer, „Missstände aufzudecken" und die Partizipation der „Massen" zu fördern, die Autorität des für Stalin wichtigen Leningrader Parteivorsitzenden Sergej Kirov beschädigen könnte. Die populistischen Talente und die „Nähe zu den Massen", die Jaroslavskij einst für Stalin zu einem nützlichen Mitstreiter gemacht hatten, ließen ihn nun zu einem schlecht zu kontrollierenden Verbündeten werden, dem jegliches politisches Augenmaß fehlte. Jaroslavskij hatte sich zudem aus der Perspektive des Generalsekretärs nicht ausreichend an der rigorosen Ausgrenzung Zinov'evs beteiligt und sich so als unzuverlässig in der Verteidigung von Stalins Fraktionsinteressen gezeigt. Wichtig ist jedoch hier, dass Stalin Jaroslavskij zwar politische Naivität, Nachgiebigkeit gegenüber „Oppositionellen" und mangelnde politische Führungsfahigkeiten unterstellte, ihn jedoch selbst nicht als Oppositionellen verdächtigte. Jaroslavskij hatte offensichtlich - seinen Prinzipien treu - geglaubt, die Leningrader Parteiorganisation eigenmächtig, ohne vorherige Abstimmung „von Missständen säubern" und Druck von unten auf die dortige Parteiführung erzeugen zu können. Er war entweder nicht in der Lage oder nicht Willens zu differenzieren, an welchem Beispiel man aus politischtaktischen Gründen ein Exempel statuieren bzw. nicht statuieren konnte. Hier gingen die Auffassungen Stalins und Jaroslavskij s darüber, wie Oppositionelle zu behandeln seien und wie eine „nützliche" Selbstkritik auszusehen habe, weit auseinander. Anfang Dezember 1930 erwies sich Jaroslavskij erneut und ebenfalls in seiner Funktion in der Pravda gegenüber dem bolschewistischen Schriftsteller Dem'jan Bednyj in Stalins Augen als zu nachgiebig, indem er einen Artikel Bednyj s zum Druck zuließ, der ein derartiges Missfallen Stalins erregte, dass die Redaktion der Pravda durch einen Beschluss des Politbüros dazu aufgefordert wurde, die Texte Bednyjs in Zukunft kritischer zu prüfen.251 Dass Stalins Vorwürfe gegen Jaroslavskij zumindest aus seiner Sicht keine unberechtigten Verdächtigungen waren, sondern eine angemessene Einschätzung von dessen „plebejischen Schwächen", zeigt sich in einigen Briefen 250

Schreiben Stalins an Molotov vom 9.9.1929; Schreiben Stalins an Molotov und Ordjonikidze vom 13.9.1929. Stalin. Briefe an Molotow, S. 193-196. Zur Situation in der Redaktion der Pravda im Anschluss an die Veröffentlichung des Materials über die Leningrader Parteiführung siehe: Brief Alliluevas an Stalin, in: Rodina, 1992, H. 10, S. 52, sowie die Telegramme Stalins an Molotov vom 22.9.1929 und an Ordjonikidze vom 23.9.1929, in: ebenda, S. 58. Auf einer Sitzung vom 9. Mai 1929 hatte das Politbüro verfugt, dass Artikel Zinov'evs und Kamenevs nur mit einer ausdrücklichen Sanktionierung des ZK gedruckt werden dürften. Protokoll der Sitzung vom 9.5.1929. F.17, op.3, d.739,1.2. 251 Siehe den Politbürobeschluss vom 6.12.1930, den Brief von Dem'jan Bednyj an Stalin vom 8.12.1930 sowie Stalins Antwort vom 12.12.1930, abgedruckt in: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 131-137.

5. Veränderung der Spielregeln

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Jaroslavskijs an Ordzonikidze, die im Rahmen seiner Arbeit in der ZKK entstanden sind und in denen Jaroslavskijs Verhältnis zu den Mitgliedern der innerparteilichen Opposition sowie seine Einschätzung von Stimmungen unter Arbeitern und einfachen Parteimitgliedern zum Ausdruck kommen. Diese Briefe machen deutlich, dass Jaroslavskij im Umgang mit den „Massen" und Oppositionellen schnell einknickte, sich emotional beeinflussen ließ und entweder noch nicht verstand, was von ihm erwartet wurde, oder aber nicht die uneingeschränkte Bereitschaft zeigte, um jeden Preis die politischen Zielvorgaben durchzusetzen. So schrieb Jaroslavskij am 17. September 1930, als die ersten verheerenden Folgen der Kollektivierungskampagne spürbar wurden und sich die Versorgungslage zunehmend verschlechterte, unter dem Eindruck seiner Gespräche mit Arbeitern im Anschluss an Parteiversammlungen: „Natürlich ist das Bewusstsein gewachsen und der Enthusiasmus unter den fortschrittlichen Arbeitern und den Stoßarbeitern groß, kolossal sind auch die Erfolge der Stoßarbeiter. Aber bei vielen, sehr vielen ist die Stimmung nicht gut. Insbesondere in der Frage der Versorgung ist sie sehr missmutig. Der Arbeiter träumt nicht selten offen von den Bedingungen, die wir vor drei Jahren hatten, als er uneingeschränkt alles zum Fressen (zratva) kaufen konnte. Über das Fressen (und Schuhe, und Kleidung, und allgemein über Gebrauchsgüter) müssen wir ernsthaft nachdenken. (...) Natürlich sollten wir nicht die panischen Vorhaben der Rechten und Trotzkisten befürchten; aber wir müssen diesen Fragen viel mehr Aufmerksamkeit widmen als wir es bisher getan haben."252

Die Vorschläge, die Jaroslavskij gegenüber Ordzonikidze zur Bewältigung der Krise vorbringt, nämlich das kustar '-Gewerbe (Kleingewerbe) zu stärken, erinnern trotz gegenteiliger Beteuerungen und scharfer Wortwahl stark an die Rezepte der NEP und die Auffassungen der „Rechten". Für die Stimmungen und Lebensumstände der als „Kulaken" gebrandmarkten Bauern brachte Jaroslavskij allerdings weitaus weniger Verständnis auf. Auf die Eingabe eines Altbolschewisten, der auf die entsetzlichen Lebensbedingungen der deportierten Bauern aufmerksam machen wollte, an die ZKK antwortete er im Sommer 1931: „Ich möchte Ihnen in diesem Brief aber auch verdeutlichen, dass die eigentliche Maßnahme der Deportation von entkulakisierten Bauern grundsätzlich richtig ist. Nur die, die glauben, dass der Sozialismus in hundert Jahren kommt, können davon träumen, dass es dabei keine Opfer gibt, dass es keinen harten Kampf geben muss. Nur diese können fordern, dass wir Kommunisten mit n i ^ a n d e m streiten dürfen und dass wir sogar mit Klassenfeinden friedlich leben sollen."

Aber auch Jaroslavskijs Briefe über die Opposition aus den Jahren 1927 bis 1929 deuten darauf hin, dass es ihm - mit Ausnahme Trotzkijs - nicht um Ausgrenzung, sondern um eine Harmonisierung der Beziehungen ging. So

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Schreiben Jaroslavskijs an Ordzonikidze vom 17.9.1930. F.85, op.27, d.267,1.2; abgedruckt in: Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska, S. 134—136. Schreiben vom 30.8.1931. F.613, op.3, d.84,1.12.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

plädierte er u.a. für eine möglichst zügige Wiedereingliederung von Zinov'ev, Kamenev, Ivan Smilga, Karl Radek, Preobrazenskij, Mrackovskij und Ivan Smimov in die Parteiarbeit. Jaroslavskij unterhielt gute persönliche Beziehungen zu einigen Mitgliedern der unterschiedlichen Gruppen, von denen er die meisten gut kannte; und sie nutzten ihn als ihre wichtigste Anlaufstation, um sich über die Bedingungen in der Verbannung zu beklagen. Aus den Briefen geht auch hervor, dass sich einige Mitglieder oppositioneller Gruppierungen sogar illegal vom Ort ihrer Verbannung entfernten, um sich in Moskau mit Jaroslavskij zu beraten, und dass sich Jaroslavskij bereitwillig gegenüber der OGPU für ihre Umsiedlung und eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen einsetzte.254 Jaroslavskij brüstete sich sogar stolz damit, dass er der einzige sei, der sich um die Oppositionellen kümmere, und diese vorwiegend zu ihm kämen und nicht zu anderen führenden Funktionären in der ZKK.255 Hieran zeigt sich ein relativ stabiles Verhaltensmuster Jaroslavskij s, das wir schon im Kontext seiner kurzfristigen Tätigkeit als Sekretär des ZK im Jahr 1921 beobachten konnten. Er schien sich durch seine Popularität bei den von Stalin als Oppositionelle gebrandmarkten Bolschewisten in ähnlicher Weise bestätigt sowie im wahrsten Sinne des Wortes ermächtigt zu sehen wie einige Jahre zuvor durch den Zuspruch der notleidenden „Massen" und einfachen Parteimitglieder. Ganz offensichtlich genoss er seine damit verbundenen Einflussmöglichkeiten und versuchte - mit Ausnahme Trotzkijs, die Oppositionellen gerade nicht auszugrenzen, sondern von der Richtigkeit der stalinschen Linie zu überzeugen, und ihre Wiedereingliederung in die Partei zu fördern. In diesem Sinne schrieb er an Ordjonikidze: „Mit der Opposition sieht es so aus. (...) Radek, Smilga, Preobr[azenskij] haben eine Erklärung abgegeben, ohne ihre Unterschriften zu streichen und ihre Fehler zu verurteilen. Dann haben sie sich bereiterklärt, zwei Punkte zu ergänzen. Danach habe ich den so korrigierten Text an Stalin geschickt. Stalin und Molotov haben weitere Korrekturen hinzugefügt. (...) Heute waren Radek und Preobrazenskij bei mir und haben erklärt, dass sie diese neuen Korrekturen nicht unterschreiben können. Auf diese Weise zieht sich die Angelegenheit mit ihnen hin. Ich denke, unnötigerweise. Es besteht keine Notwendigkeit, von ihnen zu fordern, dass sie die uneingeschränkt richtige Politik der Partei und des ZK in den Jahren 1925 bis 1927 anerkennen, denn es gab eine Menge Fehler. Wir verzögern damit den Weggang I.N. Smirnovs [von der Opposition] - er hätte sich schon beinahe ihnen [Radek und Preobrazenskij] angeschlossen. Das ist schlecht, sehr schlecht, hundert bis 254

Schreiben Jaroslavskijs an Ordjonikidze vom 19.7.1928. F.85, op.27, d.255, 1.5-11. Auch in diesem Zusammenhang spielten persönliche Loyalitäten und Sympathien eine wichtige Rolle. Jaroslavskij setzte sich u.a. fur N.I. Muralov ein. Muralov war 1917 wie Jaroslavskij Mitglied des Moskauer militärisch-revolutionären Komitees gewesen und hatte in diesem Zusammenhang eng mit Jaroslavskij zusammengearbeitet. Am 8.10.1928 schrieb Jaroslavskij an Ordjonikidze, Muralov sei zwar eigensinnig und unterhalte persönliche Beziehungen zu Trotzkij. Jedoch sei er ehrlich und ein Arbeitstier, und es bestünde aufgrund seiner praktischen Orientierung keine Gefahr, dass er die Massen beeinflussen könne. Jaroslavskij schlägt vor, ihn als Leiter einer großen Sovchose einzusetzen, und zeigt sich überzeugt, dass man Muralov nur auf diese Art von der Opposition wegreißen könne. F.85, op.27, d.256,1.1-2. 255 Schreiben Jaroslavskijs an Ordjonikidze vom 2.8.1929. F. 85, op.27, d.262,1.1-2.

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zweihundert Leute hätten sich so von den Trotzkisten losgerissen, und nicht die schlechtesten Revolutionäre."256

Für Jaroslavskijs positive und recht vertrauensvolle Einschätzung der revolutionären Qualitäten einiger Oppositioneller scheinen insbesondere alte Loyalitäten und persönliche Sympathien eine Rolle gespielt zu haben. Mit Ivan Nikitic Smirnov, der zwischen 1920 und 1921 der Vorsitzende des Sibirischen Revolutionären Komitees und wie Jaroslavskij Mitglied des Sibirischen Regionalbüros des ZK gewesen war und in eben dieser Zeit gemeinsam mit Jaroslavskij in das ZK gewählt wurde, hatte Jaroslavskij während des Bürgerkriegs in Sibirien sehr eng zusammengearbeitet. In der oben zitierten Passage aus dem Brief Jaroslavskijs an Ordjonikidze deutet sich schon an, dass Stalin und Molotov Jaroslavskijs loyalitätsgebundene und konziliatorische Auffassung nicht teilten. Wie der Generalsekretär die von Jaroslavskij angesprochene Angelegenheit sah, wird in einem Brief an Molotov vom 9. September 1929 deutlich: „Die (neue!) Erklärung Smirnows, Waganjans, Mratschkowskis und anderer muß zurückgewiesen werden, und das nicht nur als unannehmbar (und ob!), sondern auch als ein Dokument unverfrorener Konterrevolutionäre, die die Milde und das Vertrauen Jaroslawskis gegen die Partei ausnutzen. Jaroslawski muß man verbieten, sich mit diesen unverschämten Typen einzulassen, die seine Milde ausnutzen, um ihre konterrevolutionäre Fraktion auf 'neuer', 'statutengerechter' Grundlage zu organisieren. Wir können sie in der Partei nicht gebrauchen. Wieso versteht ihr eine so einfache Sache nicht?"257

Jaroslavskij hatte sich aus Stalins und wahrscheinlich auch Molotovs Perspektive hinsichtlich der Durchsetzung von Stalins Fraktionsinteressen im Kampf gegen die innerparteiliche Opposition sowohl im Feld der Historiker als auch in der Redaktion der Pravda als unzuverlässig, eigensinnig sowie als zu nachgiebig erwiesen und somit in der „stalinschen Bewährungsprobe" versagt. Das meinte Stalin vermutlich mit seiner auf Jaroslavskij angewendeten Chiffre „verfaulter Liberalismus". Molotov vermittelt uns in den 1970er Jahren in seinen Gesprächen mit dem Journalisten Feliks Cuev eine Vorstellung von den Erwartungen, die Stalin an einen führenden Bolschewisten stellte. In den in Druckfassung vorliegenden Interviews bezeichnet er diejenigen Bolschewisten als für Füh256

Schreiben Jaroslavskijs an Ordjonikidze vom 29.6.1929. F.85, op.27, d.261, 1.1-3; abgedruckt in: Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska, S. 81; Hervorhebung im Original. Nach Trotzkijs Abschiebung aus der Sowjetunion im Jahr 1929 gaben viele seiner Anhänger, die sich in der Verbannung befanden, „Reueerklärungen" ab und baten um ihre Wiederaufnahme in die Partei. Darunter waren Ivan Smirnov, V. Ter Vaganjan u.a. Von Juli bis Oktober arbeitete die Smirnov-Gruppe mehrere Erklärungen aus. Anfangs bekannten sie zwar ihre „Fehler", kritisierten aber auch Stalins Politik und forderten Trotzkijs Rückkehr in die Sowjetunion. Nach und nach gaben sie ihre Forderungen auf und schrieben ihre Erklärung so, dass Stalin sie akzeptierte. Der Wortlaut der Erklärung ist abgedruckt in: Izvestija CK KPSS, 1991, H. 6, S. 74-76. Am 30.10.1929 akzeptierte das Politbüro die Erklärung Smirnovs. F. 17, op.3, d.765,1.5. 257 Schreiben Stalins an Molotov vom 29.9.1929, in: Stalin: Briefe an Molotow, S. 194.

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rungsaufgaben besonders geeignet, die über eine „Geschmeidigkeit" (gipkost ") im Denken, ein schnelles Auffassungsvermögen der jeweiligen politischen Situation und eine besondere Fähigkeit zum „Lavieren" im Interesse der stalinschen Führung verfugten.258 Über derartige Qualitäten verfügte der einerseits zu einer penetranten, eifrigen Prinzipientreue und einer gewissen Selbstverliebtheit sowie andererseits zu Nachgiebigkeit und emotionalen Reaktionen neigende Jaroslavskij trotz seiner Treue zu Stalin nicht. Hierin lag der Grund, warum Jaroslavskij Anfang der 1930er Jahre aus dem engeren Führungszirkel entfernt wurde. Robert Tucker hat Stalins Fähigkeit, die Stärken und Schwächen seiner Mitstreiter zu erkennen, als einen wesentlichen Schlüssel für seinen Machtzuwachs und seine politische Durchsetzungskraft bezeichnet. Jaroslavskij war aus der Sicht Stalins und seiner engeren Vertrauten kein verlässlicher politischer Weggefährte mehr, mit dem sich das Projekt der vollständigen Kollektivierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung gegen jeden Widerstand auch aus den eigenen Reihen durchsetzen ließ. Den Zeitgenossen war es offensichtlich zunächst nicht möglich, die Folgen von Stalins „Brief' an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija abzuschätzen. Die Bedeutung dieser Intervention wird erst aus der rückblickenden Perspektive deutlich. Auch Jaroslavskij hatte die Vorwürfe Stalins und ihre Folgen zunächst unterschätzt und offenbar nicht vermutet, dass hiermit eine grundsätzliche Veränderung der Spielregeln erfolgte. Er erlaubte sich sogar, am I. November 1931, also nur zwei Tage nach der Veröffentlichung des „Briefs", für einen Monat in den Urlaub ans Schwarze Meer zu fahren. Hierfür spricht auch, dass seine in Moskau verbliebenen Mitarbeiter auf der am II. November stattfindenden Sitzung der bolschewistischen Fraktion der „Gesellschaft marxistischer Historiker", auf der Stalins „Brief und die daraus zu ziehenden Schlüsse diskutiert wurden, zunächst selbstbewusst in die Offensive gingen. Insbesondere der Auftritt von Jaroslavskijs Protégé Mine löste tumultartige Reaktionen aus. Dieser hatte die „Fehler" in der von Jaroslavskij herausgegebenen vierbändigen Parteigeschichte damit gerechtfertigt, dass die Autoren die historischen Fakten aus der Perspektive der „revolutionären Objektivität" und nicht aus der der „politischen Zweckmäßigkeit" dargestellt hätten.259 Mine' bemerkenswerte Offenheit zeigt zum einen, dass er zu diesem Zeitpunkt Politik und marxistische Geschichtswissenschaft als zumindest begrenzt autonome Bereiche verstand, und zum anderen, dass auch er den Ernst der Lage noch nicht erkannt hatte. Jaroslavskij, der in Batumi schon begonnen hatte, die vierbändige Parteigeschichte zu überarbeiten, wurde von seinen Mitarbeitern Mine und Ponomarev sowie von Kirsanova über die Ereignisse in Moskau informiert. Ponomarev schrieb, dass die Diskussionen solange gemäßigt verlaufen seien, bis 258 259

Cuev, Feliks: Sto sorok besed s Molotovym, Moskau 1991, S. 410-411. Schreiben Mine' an Jaroslavskij vom 28.11.1931. F.89, op.7, d.30,1.5-6.

5. Veränderung der Spielregeln

241

Tatarov den Anwesenden erklärt habe, dass Jaroslavskij die Veröffentlichung eines neuen Artikels Sluckijs über das Verhältnis der Bolschewiki zur II. Internationalen in der Zeitschrift Istorik-marksist befürwortet hatte. Tatarov verschwieg allerdings, dass auch er seine Zustimmung gegeben hatte. Ein anderer Artikel Sluckijs zum selben Thema war der formale Anlass und der thematische Aufhänger von Stalins „Brief an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija gewesen. Die Erklärung Tatarovs, so Ponomarev, habe dazu geführt, dass Jaroslavskij s „Fehler" in Absprache mit der ZK-Abteilung für Kultur und Propaganda als „verfaulter Liberalismus" klassifiziert worden seien. Diese Klassifizierung durch das ZK wurde ganz offensichtlich auch von den Beteiligten als ernstzunehmender Wendepunkt wahrgenommen. Jaroslavskijs Mitarbeiter und seine Frau, Klavdija Kirsanova, empfanden sie als so schwerwiegend, dass Ponomarev und Kirsanova sofort versuchten, mit den ZK-Sekretären, Postysev, Kaganovic, Mechlis und dem Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda des Moskauer Parteikomitees N.N. Popov zu sprechen, um diese Klassifizierung außer Kraft zu setzen.260 Jaroslavskij war sich offensichtlich trotz seiner nervösen Verfassung und trotz der Destruktivität des Etiketts „verfaulter Liberalismus" zu diesem Zeitpunkt Stalins Loyalität und Unterstützung sicher, die er in der Folge immer wieder versuchte einzufordern. Er sah sich als hochkarätiges Mitglied der siegreichen Stalin-Fraktion, die er offensichtlich für stabil hielt, und vertraute auf vermeintlich festgefügte Loyalitäten. Er fühlte sich Stalin und den Mitgliedern des Politbüros ebenbürtig; das zeigt sich beispielsweise in einem Brief an Ordjonikidze vom Februar 1929, mit dem er auf einen Streit mit Ordjonikidze während einer Politbürositzung reagierte. Jaroslavskij beanspruchte in diesem Schreiben selbstbewusst sein Recht, genauso wie Ordjonikidze, Stalin, Molotov und Mikojan während der Politbürositzungen auch ohne Beschluss des ZK seine persönliche Meinung sagen zu können.261 Vermutlich stützte sich Jaroslavskijs Sicherheit aber auch auf ein Gespräch mit Stalin, das uns, im Tagebuch des Historikers S.A. Piontkovskij überliefert ist. Es lohnt sich, einen Ausschnitt aus Piontkovskij s Aufzeichnungen vom 10. November 1931 zu zitieren: „Aus dritter Hand hat man mir erzählt, dass sich Stalin auf dem Plenum mit Jaroslavskij wegen seines Briefs [an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija; S.D.] ausgesprochen habe. Stalin habe Jaroslavskij gefragt, ob er wegen der ihm vorgeworfenen Fehler beleidigt sei. Jaroslavskij hat angeblich gesagt, dass er wegen der Fehler, falls es sie tatsächlich gäbe, nicht beleidigt sei, er aber befürchte, dass nun seine Gegner die Oberhand gewinnen und um seinen Namen einen Hexentanz veranstalten könnten. Darauf habe Stalin geantwortet, dass seine [Jaroslavskijs] Gegner Gorin und Fridljand selbst schuldig seien und von einem Triumph nicht die Rede sein könne. Während des Gesprächs habe sich Stalin erkundigt, wer den Fehler begangen habe darzustellen, dass er während der MärzKonferenz und den Märztagen des Jahres 1917 mit Kamenev eine gemeinsame Position vertreten habe. Jaroslavskij habe geantwortet, dass Kin diesen Teil des vierten Bandes 260 261

Schreiben Ponomarovs an Jaroslavskij vom 23.11.1931. F.89, op.7, d.30,1.3-4ob. Schreiben Jaroslavskijs an Ordjonikidze vom 1.2.1929. F.85, op.27, d.259,1.1-2.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

geschrieben habe. (...) Jaroslavskij solle für das nächste Heft des Bol'sevik einen Brief schreiben, in dem er seine Fehler eingesteht. Dieser Brief sei schon mit Stalin abgestimmt."262

Aus dieser Aufzeichnung geht hervor, dass Jaroslavskij und Stalin sich indirekt darauf einigten, dass Stalin Jaroslavskij s Gegner in Schach hält und somit dessen Autorität schützt und Jaroslavskij ein mit Stalin abgesprochenes öffentliches Fehlereingeständnis leistet. Piontkovskijs Aufzeichnungen stammen zwar, wie er selbst zugibt, „aus dritter Hand"; sie sind aber glaubwürdig, da sich Jaroslavskij in einem Brief an Stalin vom 25. November 1931 auf das von Piontkovskij übermittelte Gespräch während des Plenums bezog und seinen Brief ausdrücklich als Fortsetzung dieses Gesprächs bezeichnete.263 Zu einem späteren Zeitpunkt erinnerte sich Jaroslavskij zudem, dass Stalin in einem anderen Gespräch im Frühjahr 1930, also über ein Jahr zuvor, bemerkt habe, Pokrovskij sei kein Marxist.264 Welche Erwartungen und Ziele verbanden sowohl Jaroslavskij als auch Stalin mit dieser Art von „Vereinbarung"? Jaroslavskij fügte sich zunächst notgedrungen, hoffte aber vermutlich, dass sich aus der „Vereinbarung" mit Stalin eine personelle Neuordnung der „historischen Front" in seinem Sinne und eine Einschränkung des Einflusses Pokrovskijs ergeben würden. Hier hatte sich Jaroslavskij verkalkuliert, denn für Stalin und seine unmittelbare Umgebung standen andere Erwägungen im Vordergrund. Stalin hielt seine Vereinbarung mit Jaroslavskij nicht ein. Jaroslavskij musste zunächst, wie mit Stalin abgesprochen, ein öffentliches Fehlereingeständnis leisten, das am 10. Dezember 1931 in der Pravda und im Bol'sevik veröffentlicht wurde. Damit wurde Jaroslavskij aber nicht rehabilitiert. Im Gegenteil: Durch einen Beschluss des Politbüros vom 16. Dezember wurde die Publikation aller seiner Bücher über Parteigeschichte bis auf weiteres unterbunden und Jaroslavskij vom gerade erst angetretenen Direktorenposten am Parteihistorischen Institut am Institut der Roten Professur entlassen. Die Maßregelung und Degradierung Jaroslavskij s hatte nicht nur fur ihn selbst, sondern auch für seine „Schüler" unter den Parteihistorikern und für seine Frau erhebliche Konsequenzen. Viele von ihnen verloren ihre Posten und mussten Moskau verlassen. Mine musste seine Tätigkeit als Parteisekretär im Institut der Roten Professur aufgeben. El'vov wurde nach Kazan' strafversetzt. Kin erhielt einen scharfen Verweis für seine „trotzkistischen Fehler in der Parteigeschichte" und wurde ebenso wie Arkadij Sidorov nach Chabarovsk im Fernen Osten versetzt. Erst 1934 konnte er nach Moskau zurück262

Central'nyj archiv SFB RF, d.P-8214, t.2, b/n. Zitiert nach: Artizov, A.N.: Sud'by istorikov skoly M.N. Pokrovskogo (seredina 1930-ch godov), in: Voprosy istorii, 1994, H. 7, S. 34-48, S. 44. Artizov konnte im für die meisten Wissenschaftler nach wie vor unzugänglichen ehemaligen KGB-Archiv die Akte des Historikers S.A. Piontkovskij einsehen, in der sich dessen Tagebuch befindet. Piontkovskij wurde am 8.3.1937 erschossen. 2 « F.89, op. 12, d.2,1.201. 264 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 22.1.1936. F.558, o p . l l , d.842,1.13.

6. Politische Pädagogik: Jaroslavskijs „Reueerklärung"

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kehren und seine Arbeit als Historiker wieder aufnehmen.265 Kirsanova, die als Direktorin der Internationalen Leninschule der Komintern nach Auffassung eines russischen Historikers den Drahtseilakt versucht hatte, einerseits die Kritik an ihrem Mann und einigen Lehrkräften ihrer Schule nicht ausufern zu lassen, aber andererseits unter dem Druck stand, ihre „Unbestechlichkeit" beweisen zu müssen, wurde im Dezember 1931 von ihrem Direktorenposten entlassen, aber 1933 wieder eingesetzt.266 Nicht viel anders erging es den Anhängern Pokrovskijs.

6. Politische Pädagogik: Jaroslavskijs „Reueerklärung" Jaroslavskijs öffentliche Demütigung ist über seinen konkreten Fall hinaus bedeutsam, weil mit ihr eine Veränderung der politischen Spielregeln kommuniziert und umgesetzt wurde. Ende des Jahres 1930 hatten Stalin und seine engsten Verbündeten ihre Machtbasis ausbauen und die stalinsche Führerdiktatur endgültig etablieren können. Stalin hatte schon seit dem Herbst energische Maßnahmen eingeleitet, um den Regierungsapparat (Sovnarkom), der bis dahin noch unter der Leitung Aleksej Rykovs stand, zu reorganisieren und stärker an den Parteiapparat, an das ZK, zu binden.267 Rykov, einer der Wortführer der „Rechten Opposition", war schließlich im Dezember seines Postens enthoben und an seiner Statt Molotov eingesetzt worden. Mit diesem politischen Schachzug erreichten Stalin und seine Clique die höchstmögliche Machtkonzentration in ihren Händen268, deren Konsequenzen nun auch an die Parteiöffentlichkeit vermittelt werden sollten. In diesem Zusammenhang wurde Jaroslavskij eine für ihn unangenehme Rolle zugewiesen. Zwar sollte Jaroslavskij wegen seiner Führungsschwächen an der „historischen Front", seiner taktischen Ungeschicklichkeiten und Eigensinnigkeiten im Zusammenhang mit der sogenannten Leningrader Affare, wegen seiner Nachgiebigkeit gegenüber einigen Oppositionellen und seiner Kumpaneien 265

Artizov: Sud'by istorikov, S. 46. Möglicherweise hat auch Gorins „Erklärung" an die ZKAbteilung fur Kultur und Propaganda vom 21.4.1931 zur Suspendierung Kirsanovas beigetragen. Gorin hatte darin behauptet, die Diskussion über die „Geschichte des Westens" sei von Kirsanova an der Internationalen Leninschule genutzt worden, um Pokrovskij und die „Gesellschaft der marxistischen Historiker" zu diskreditieren. F.89, op.12, d.2,1.190. 266 Babicenko, L.G.: Pis'mo Stahna ν „Proletarskuju Revoljuciju" i ego posledstvija, in: Voprosy istorii KPSS, 1990, H. 6, S. 94-108, hier S. 103-104. Kurz nach ihrer Entlassung als Direktorin der Internationalen Leninschule wurde Kirsanova als Leiterin der Frauenabteilung des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) eingesetzt. McLoughlin, Barry: Stalinistische Rituale von Kritik und Selbstkritik in der Internationalen Leninschule, Moskau, 1926-1937, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Berlin 2003, S. 85-112, hier S. 98. 267 Siehe hierzu Stalins Korrespondenz mit Molotov vom 13. und 22.9.1930 in: Stalin. Briefe an Molotow, S. 233-234, 236-237. 268 Hierzu: Chlevnjuk, Oleg: Stalin und das Amt des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare (1930/41). Ein Beitrag zu den Entscheidungsprozessen in der sowjetischen Führung, in: Forum fiir osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 1 (1999), S. 137-158.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

mit Teodorovic sicherlich auch bestraft und gedemütigt werden. In Stalins Augen hatte er durch sein eigenmächtiges Verhalten die Interessen der Partei verletzt und seine Kompetenzen und Entscheidungsbefugnis überschätzt. Er hatte sich angemaßt, eigene Protektionsverhältnisse zu unterhalten und sich als unfähig oder unwillig erwiesen, bestimmte politische Verknüpfungen herzustellen. Jedoch musste Jaroslavskij nur seine Verfehlungen an der „historischen Front" öffentlich bereuen, nicht aber seine anderen mindestens ebenso gravierenden Fehltritte, für die er lediglich in einem nichtöffentlichen Rahmen gerügt wurde. Stalin und seine engere Umgebung beabsichtigten offensichtlich, mit Jaroslavskijs Reueerklärung einen Präzedenzfall zu schaffen, um erstens eine spezifische Form der politischen Kommunikation bzw. eine neue Herrschaftstechnik zu etablieren und zweitens einen Paradigmenwechsel im Bereich der Ideologieproduktion einzuleiten.269 Bis zu Jaroslavskijs Fehlereingeständnis hatte man vor allem von Oppositionellen, d.h. sogenannten Trotzkisten und Rechtsabweichlern, sowie von Parteifunktionären niederen Rangs öffentliche „Reueerklärungen" verlangt. Er selbst hatte sich mit Enthusiasmus an der 1927 angestoßenen Kampagne beteiligt, mit der die „Kritik von unten" an verantwortlichen Parteifunktionären gefordert werden sollte. Insbesondere Jaroslavskij hatte in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Parteikollegiums der ZKK von Oppositionellen, aber auch z.B. von dem Philosophen Abram Deborin immer wieder gefordert, sich durch öffentliche „Reueerklärungen" der Stalin-Fraktion unterzuordnen. Dieser Umstand machte aus seiner Perspektive die eigene öffentliche „Reueerklärung" zu einem besonders demütigenden Prozedere; aus der Perspektive Stalins war Jaroslavskij aber genau deshalb die geeignete Person, um ein möglichst wirksames Exempel zu statuieren. Neu war, dass nun ein ganz offensichtliches Mitglied der Stalin-Fraktion, der „Sportsmann der Selbstkritik" und Vorsitzende des Parteikollegiums der ZKK, der als oberster Hüter der Parteilinie und der Parteimoral galt, öffentlich ein Schuldeingeständnis leisten musste. Jaroslavskijs Fall wurde sowohl als Lehrstück in Sachen „Kritik und Selbstkritik" für andere bolschewistische Intellektuelle als auch als Aufforderung an das Parteiaktiv inszeniert, selbst hochstehende, scheinbar makellose Bolschewisten zu kritisieren. Jaroslavskijs bedingungslose Loyalität zur stalinschen Parteiführung, seine Linientreue und Parteimoral sollten aber offensichtlich zunächst nicht angezweifelt werden. Stalin selbst hatte Jaroslavskij in seinem „Brief an die Redaktion der Proletarskaja revoljucija trotz der harschen Kritik als „Historiker unserer Partei", als „bolschewistischen Historiker" bezeichnet und ihn somit ausdrücklich vom Verdacht der politischen Abweichung ausgenommen. Der Umstand, dass Jaroslavskij dann aber doch der „trotzkistischen Abweichung" beschuldigt wurde, 269

Zu dieser Funktion der „Reueerklärungen" siehe: Kojevnikov, Alexei: Rituals of Stalinist Culture at Work: Science and Games of Intraparty Democracy circa 1948, in: Russian Review 57 (1998), S. 25-52; Getty: Samokritika Rituals, S. 53-54.

6. Politische Pädagogik: Jaroslavskijs „Reueerklärung"

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weist vermutlich auf den improvisierten Charakter der Kampagne hin, deren didaktisches Potential von Stalin und seinen Vertrauten noch nicht gleich erkannt worden war. Im Anschluss an eine Rede Kaganovics, die dieser am 1. Dezember 1931 anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Instituts der Roten Professur gehalten hatte, bekannte Jaroslavskij, wie mit Stalin abgesprochen, öffentlich seine „Fehler".270 Kaganovic hatte in dieser Rede die von Jaroslavskij herausgegebene vierbändige Parteigeschichte als „trotzkistisch eingefarbt" und die Autoren als „trotzkistische Kontrabandisten" qualifiziert.271 Jaroslavskijs ausführliches Schuldeingeständnis wurde am 10. Dezember in der Pravda sowie parallel im Bol'sevik gedruckt und kurz darauf am 16. Dezember durch eine Resolution des Politbüros anerkannt.272 Das von Jaroslavskijs „Reueerklärung" und deren schneller Anerkennung durch das Politbüro ausgehende Signal verfehlte nicht seine Wirkung. Abram Deborin, der schon seit 1930 — unter anderen auch von Jaroslavskij und indirekt sogar durch einen Beschluss des ZK - immer wieder dazu gedrängt wurde, seine „Fehler" einzugestehen, kapitulierte mit einer „Reueerklärung", die am 16. Dezember in der Pravda veröffentlicht wurde. Ebenso „bereuten" im Anschluss an Jaroslavskijs Erklärung andere hochkarätige Genossen wie beispielsweise Lunacarskij und der führende sowjetische Jurist Pasukanis öffentlich.273 Die Angriffe auf Jaroslavskij hörten jedoch auch mit der Resolution des Politbüros keinesfalls auf, und seitens der obersten Parteiführung wurde zunächst nichts unternommen, um die Hetzjagd auf ihn zu unterbinden. Als typisches Beispiel für den Ton dieser Angriffe sollen die Ende Dezember 1931 verabschiedeten Resolutionen der Versammlungen der Parteizellen des Instituts der Roten Professur und der /VaWa-Redaktion dienen; hier wurde Jaroslavskij wegen „mangelnder Wachsamkeit" und der „Deckung linker und trotzkistischer Kontrabandisten", wegen seines „verfaulten Liberalismus" bei der Auswahl der Mitarbeiter und der Redaktion der vierbändigen Geschichte der VKP(b) sowie wegen „Verzerrung der Parteigeschichte" scharf verurteilt. Das von ihm geleistete Fehlereingeständnis wurde in den Resolutionen als ungenügend bezeichnet und eine umfassendere Kritik seiner Fehler gefordert.274 Eine Ausnahme von der einhelligen Kritik bildete lediglich die von der „Gesellschaft der Altbolschewisten" verabschiedete Resolution, in der Jaroslavskijs in der Pravda veröffentlichtes Fehlereingeständnis akzeptiert und 27

° Pravda, 10.12.1931; Bol'sevik, 1931, no. 21, S. 84-86. Kaganovic, L.M.: Za bol'sevistskoe izucenie istorii partii. Ree', proiznesennaja 1. dekabija 1931 g. na sobranii, posvjascennom desjatiletiju Instituta krasnoj professury, Moskau, Leningrad 1931, S. 19-26. Protokoll No. 80 der Sitzung des PB vom 16.12.1931. F. 17, op.3, d.865, 1.4. Pravda, 20.12.1931. 273 Barber: Historians, S. 135. Teoreticeskij Front, 1932, no. 16, S. 3; Vestnik Kommunisticeskoj Akademii, 1932, no. 1-2, S. 54-55. 274 Resolution der allgemeinen Versammlung der Parteizelle der Pravrfa-Redaktion, verabschiedet aufgrund eines Vortrags von N.N. Popov (ohne Datum). F.89, op.7, d.74,1.46-50. 271

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sein Verhalten positiv beurteilt wird.275 Die Parteikonferenz des Moskauer Rajons Zamoskvorec'e bildete gleichermaßen den Höhe- und Wendepunkt der Kritik an Jaroslavskij: Am 13. Januar 1932 hielt Jaroslavskij auf dieser Konferenz eine Rede, die von den Teilnehmern als nicht ausreichend selbstkritisch erachtet wurde.276 Jaroslavskij musste am Folgetag ein zweites Mal auftreten und seinen Standpunkt klären.277 Der Historiker Petr N. Pospelov erinnerte sich später, die Stimmung sei so aufgeheizt gewesen, dass man Jaroslavskij beinahe von der Tribüne gejagt habe.278 Jaroslavskij forderte, abgesehen von der allgemeinen radikalen Stimmung, derartige Reaktionen in besonderem Maße heraus, weil sich viele der jüngeren Kommunisten durch sein mitunter selbstherrliches Auftreten als Hüter einer kommunistischen Moral und durch seine weitreichenden Kontrollmöglichkeiten bevormundet und provoziert fühlten. Als Beispiel hierfür mag sein Umgang mit dem jungen radikalen Literaturkritiker Lev Averbach dienen. Jaroslavskij unterhielt in der ersten Hälfte der 1920er Jahre ein gutes Verhältnis zu Averbach, das vermutlich darin begründet lag, dass Averbach als einer der schärfsten Kritiker Trotzkijs im Bereich der Literaturpolitik auftrat, obwohl es Jaroslavskij fern lag, die radikalen literaturtheoretischen Positionen Averbachs zu teilen. Jedoch hatte Jaroslavskij in seiner Funktion als Redakteur mehrerer Zeitungen und Zeitschriften Averbach in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre mehrfach dazu gezwungen, den Ton seiner Texte zu mäßigen, um weitere Polemiken zu vermeiden.279 Anfang 1931 hatte Jaroslavskij auf einer Konferenz der Arbeiter- und Bauernkorrespondenten die Politik der von Averbach dominierten „Russischen Assoziation proletarischer Schriftsteller" (RAPP) kritisiert. Averbach hatte offensichtlich auf diesen Angriff reagiert, indem er in den weiteren Auseinandersetzungen an der „Kulturfront", wie Jaroslavskij sich ausdrückte, seine „Bande junger Karrieristen" gegen Jaroslavskij mobilisierte, um diesen „durchzuarbeiten".280 Insgesamt hatte die Jagd nach ideologischen Fehlern im Januar 1932 solche Ausmaße erreicht, dass sich selbst der Vestnik (Bote) der Kommunistischen Akademie zu der Klage veranlasst sah, dass in den Monaten Dezember 275

Resolution der allgemeinen Versammlung der Gesellschaft der Altbolschewisten, verabschiedet am 15.12.1931 aufgrund eines Vortrags von V. Knorin. F.89, op.7, d.74,1.56-58. 276 Stenogramma vystuplenija Em. Jaroslavskogo na Zamoskvoreckoj rajpartkonferencii, 13. janvarja 1932. F.89, op.7, d.69,1.3-9. 277 Stenogramma vystuplenija Em. Jaroslavskogo na Zamoskvoreckoj rajpartkonferencii, 14. janvaija 1932. F.89, op.7, d.69,1.10-22. 278 Rudnev, Daniii: Kto pisal „Kratkij kurs", in: Politika (Tallinn), 1991, H. 9, S. 60-68, hier S. 62. 279 Siehe z.B. die Schreiben Jaroslavskijs an Slepkov und Averbach vom 15.3.1926. F.89, op.7, d.43,1.14. 280 Siehe das nichtabgeschickte Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 31.4.1931. F.89, op.12, d.2, 1.138-144. Zum Auftreten der RAPP während der „Kulturrevolution" siehe: Fitzpatrick, Sheila: The Soft Line on Culture and its Enemies, in: The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia, hrsg. v. ders., Ithaca, London 1992, S. 91-115, insbesondere S. 104-115.

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und Januar keinerlei theoretische Arbeit wegen der Diskussionen über Stalins „Brief' an die Proletarskaja revoljucija habe stattfinden können.281 Erst in dieser Situation sah sich die Parteiführung gezwungen einzugreifen. Jaroslavskij hatte trotz der Unzufriedenheit der Parteiaktivisten nach Auffassung der Parteiführung seine Rolle als Präzedenzfall erfolgreich gespielt, denn am letzten Tag der Parteikonferenz des Rajons Zamoskvorec'e, am 17. Januar, trat Kaganovic, der durch seinen Vortrag vom 1. Dezember anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Instituts der Roten Professur die Stimmung noch weiter angestachelt hatte, mit einer beschwichtigenden Rede auf, in der er gleichzeitig den pädagogischen Zweck von „Reueerklärungen" und parteilicher Wachsamkeit erläuterte: „Dieser Brief [Stalins] verpflichtet uns zu großer Wachsamkeit. Nicht alle Parteiorganisationen lösen diese Aufgabe richtig. (...) Man muss einzelne Fehler eines Menschen von seiner systematischen Ansicht unterscheiden können. Natürlich gibt es in den Reihen unserer Partei getarnte Trotzkisten, aber es ist eine Sache, Trotzkisten zu entlarven (...) und sie aus der Partei zu jagen, aber eine andere Sache ist der Fehler dieses oder jenes Genossen, den man auch kritisieren, aber kameradschaftlich kritisieren muss, damit er ihn ausbessern kann. Man muss ihm helfen, den Fehler wiedergutzumachen und dabei gleichzeitig die anderen warnen. Es ist nicht richtig, einen solchen Genossen als Abweichler einzustufen."282 Etwas später hatte Postysev auf der Parteikonferenz des Moskauer Rajons Krasnaja Presnja, auf der Jaroslavkij ebenfalls seine „Fehler" eingestehen musste283, eine ähnliche Rede gehalten: „(...) ich habe gehört, dass auf eurer Konferenz die Delegierten durch ihr Gefühl, ihr bolschewistisches proletarisches Gefühl, im Auftreten eines alten, guten Bolschewisten, den wir alle sehr schätzen, der aber einen Fehler begangen hat, wittern, dass er nicht ganz direkt, nicht mit aller Schärfe, die Bolschewisten zueigen ist, über seinen Fehler sprach, nicht (...) die ungeschminkte Wahrheit sagte, wie ein alter Bolschewist das tun muss. Die Bolschewisten des [Rajons] Zamoskvorec'e haben das gespürt und gesagt, du, Genösse, hast unrecht. Hier muss man so an die Sache herangehen: Wenn ich vor meiner eigenen Partei (rodnaja partija), vor meiner Arbeiterklasse gefehlt habe, dann muss ich herkommen und direkt sagen, ich habe gefehlt, gemeinsam mit euch werde ich diesen Fehler wiedergutmachen. (Applaus) (...). Wenn Menschen einen Fehler begehen und dieser Fehler (...) nicht mit dem Kampf um die Generallinie verbunden ist, sondern wenn dieser (...) Fehler, ein Buch oder ein Auftritt, ein episodenhafter, zufälliger Fehler ist, wie das oft bei vielen Bolschewisten vorkommt, die etwas nicht ganz richtig sagen oder formulieren, dann besteht unsere Aufgabe darin, diese Menschen zu berichtigen, zu korrigieren, und zwar nicht durch Geschrei, sondern durch Erklärung an ihr Bewusstsein zu appellieren und sie zu zwingen, diesen Fehler bewusst einzusehen, und nicht den leichtesten Ausweg zu wählen: Ihn aus der Partei auszuschließen - das ist der leichteste Weg, abgestimmt und ausgeschlossen."284

281

Vestnik Kommunisticeskoj Akademii, 1932, no. 1-2, S. 148. 282 Vystuplenie t. Kaganovica na Zamoskvoreckoj rajonnoj partijnoj konferencii, 17.1.1932. F.83, op.3, d.144,1.192 ff. 283 Vystuplenie Em. Jaroslavskogo na Krasno-Presnenskoj rajonnoj partijnoj konferencii, 9.1.1932. F.89, op.7, d.68,1.14-22. 284 Postysev, P.P.: Pod znamenem Lenina pobedim my ν bojach za Oktjabrskuju revoljuciju, in: Teoreticeskij front, 1932, no. 2 (16), S. 1. Den Hinweis auf die Reden

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Beide Vorträge waren in ihrem didaktischen Ton ebenfalls Bestandteil des inszenierten Lehrstücks, eine Handlungsanweisung an die Parteiaktivisten in Sachen „Wachsamkeit" und „kameradschaftlicher Kritik und Selbskritik". Trotz der didaktischen Ausführungen Kaganovics und Postysevs waren die Berichte in der Presse über Jaroslavskijs Verhalten vernichtend. Als Reaktion auf die negative Berichterstattung über sein Auftreten in der Rabocaja Moskva und in der Pravda wandte sich Jaroslavskij schließlich am 17. Januar an die ZKK285, die ihn in einer Resolution vom 19. Februar 1932 von der vorgebrachten Verdächtigung der „rechten und linken Abweichung" freisprach. Entsprechend der Resolution wurde Jaroslavskij lediglich des „verfaulten Liberalismus" und „mangelnder Wachsamkeit" beschuldigt, seine Treue zur Parteilinie jedoch nicht angezweifelt.286 Die öffentlichen Fehlereingeständnisse wie auch die Veranstaltungen zur „Kritik und Selbstkritik", denen sich Jaroslavskij und andere hochrangige Bolschewisten unterziehen mussten, werden in der neueren Literatur häufig mit Theatermetaphern oder mit dem Ritualbegriff beschrieben.287 Auch in der vorliegenden Untersuchung wird der Begriff der Inszenierung benutzt. Der Historiker Michael David-Fox weist darauf hin, dass die u.a. am Institut der Roten Professur entwickelte Technik des „Durcharbeitens" Analogien zu Formen des revolutionären Theaters, insbesondere zu den Agitations- und Schauprozessen - so z.B. dem öffentlichen Prozess 1922 gegen die Sozialrevolutionäre - aufweist, die ihrerseits schon auf volkskulturelle Formen der öffentlichen Auseinandersetzung mit Rechtsfragen zurückgeführt werden könnten. Die Technik des „Durcharbeitens", die er als Mischung von volkskulturellen Formen und Parteikonventionen begreift, sei im Zuge der „Kritik und Selbstkritik Kampagnen" des Jahres 1928 formalisiert worden. Stalin habe diese Konventionen, wie z.B. durch die Aufforderung an die Philosophen des Instituts der Roten Professur im Dezember 1930, gegen Deborin und seine „Schule" vorzugehen, manipulieren können.288 Wie gezeigt wurde, war auch Jaroslavskijs erzwungene „Reueerklärung" und das darauffolgende Lehrstück in „Kritik und Selbstkritik" bis hin zu der Resolution der ZKK Kaganovics und Postysevs habe ich von Lorenz Erren bekommen, dem ich auch für seine Bereitschaft dankbar bin, seine Erkenntnisse über Selbstkritik mit mir zu teilen. 285 Rabocaja Moskva, 15. und 17.1.1932; Pravda, 16.1.1932. Schreiben Jaroslavskijs an die Mitglieder des Präsidiums und des Parteikollegiums der ZKK vom 17.1.1932. F.89, op.12, d.1,1.53. » Pravda, 20.1.1932. 287 Riegel, Klaus Peter: Öffentliche Schuldbekenntnisse im Marxismus-Leninismus: Die Moskauer Schauprozesse (1936-1938), in: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, hrsg. v. Alois Hahn, Volker Kapp, Frankfurt a.M. 1987, S. 136148; ders:. Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, Graz 1985; Unfried, Berthold: Rituale von Konfession und Selbstkritik: Bilder vom stalinistischen Kader, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2 (1994), S. 148-164. 288 David-Fox: Revolution of the Mind, S. 169-181. Zu den Agitations-Prozessen und ihrer politischen Funktion siehe: Cassiday, Julie Α.: The Enemy on Trial. Early Soviet Courts on Stage and Screen, DeKalb 2000.

6. Politische Pädagogik: Jaroslavskijs „Reueerklärung"

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vom 19. Februar 1932 eine geplante didaktische Inszenierung für die Parteiintellektuellen und das Parteiaktiv, die aber den Eindruck vermitteln sollte, Jaroslavskij sei durch eine Initiative von unten zur Rechenschaft gezogen worden. Das Drehbuch wurde jedoch von der ersten bis zur letzten Seite von Stalin selbst geschrieben und kontrolliert. Die Theatermetapher ist insofern geeignet, als dass Jaroslavskij und andere als unfreiwillige Schauspieler auf einer „Bühne" öffentlich vorgeführt wurden und die Parteiführung versuchte, mit derartigen „Vorführungen" die administrativen und legislativen Schwächen des Systems zu kompensieren und damit ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen; sie wird aber problematisch, wenn sie mit dem Ritualbegriff kombiniert wird. Der Begriff Ritual impliziert einen weitgehend ungesteuerten, nicht-vorsätzlichen Mechanismus - insofern widerspricht er ohnehin den Begriffen des Theaters bzw. der Inszenierung - , bei dem es weniger um Inhalte und Interessen geht als um einen kulturellen Code, den das Individuum immer wieder reproduziert, um sich in eine Gemeinschaft Gleichgesinnter einzuordnen. Durch diese Einordnung vollzieht sich eine symbolische Integration und Bestätigung der „Glaubensgemeinschaft". Das Ritual ist konzeptionell als eine Einheit von Gedanken und Handlung zu verstehen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Ritual und Theater liegt in dem Umstand, dass das transformative Potential des Theaters wie in unserem Fall auf die Zuschauer gerichtet ist. Die Zuschauer sind konzeptionell von den Schauspielern und Regisseuren getrennt. Im Ritual hingegen liegt keine konzeptionelle Unterscheidung zwischen Zuschauern und den Ausübenden vor. Das transformative Potential wirkt direkt auf diejenigen, die das Ritual ausüben. Die Wirkung des Rituals vollzieht sich durch seine unmittelbare Realisierung und nicht durch ein inszeniertes Schauspiel.289 Zwar bewegten sich in unserem Fall sowohl die „Schauspieler" und „Regisseure" als auch das „Publikum" in kulturell bedingten Bedeutungszusammenhängen und Interaktionsformen. Jedoch deutet alles, was wir über Jaroslavskij als Akteur im Feld der Ideologieproduzenten sagen konnten, daraufhin, dass innerhalb dieser Konventionen zumindest noch an der Wende von den 1920er zu den 1930er Jahren vor einem Publikum um unterschiedliche Vorstellungen, Inhalte, Interessen, d.h. um das Vorrecht der „legitimen Manipulation der Weltsicht", gerungen wurde und dass Jaroslavskij der Inszenierungscharakter seiner „Vorführung" sehr bewusst war.290 Erst in der Mitte der 1930er Jahre sollten sich mit einem zunehmenden Disziplinierungs289

Schechner, Richard: Essays in Performance Theory, New York 1988, S. 171. Einen guten Überblick über die sogenannte Performanzforschung bietet: Suydam: Indroduction to Performance Studies. 290 Eine überzeugende Kritik an der Deutungsfigur „Ritual" leistet: Erren: „Kritik und Selbstkritik"; ders.: Zum Ursprung einiger Besonderheiten in der sowjetischen Parteiöffentlichkeit. Der stalinistische Untertan und die „Selbstkritik" in den dreißiger Jahren, in: Gábor T. Rittersporn, Malte Rolf, Jan C. Behrends (Hrsg.): Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs, Frankfurt a.M. 2003, S. 131-165, hier S. 133-135.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

und Selbstdisziplinierungsdruck die Grenzen zwischen Ritual und Theater, die in modernen Gesellschaften in der Regel deutlich wahrgenommen werden, zunehmend auflösen.

7. Konstruktion von Bedeutungen: Politische Kommunikation Jaroslavskijs „Reueerklärung" erfüllte in den Augen Stalins aber noch eine weitere Funktion: Sie diente einer inhaltlichen Präzisierung des „Briefs" Stalins an die Proletarskaja revoljucija - Jaroslavskijs Schuldeingeständnis enthält einen umfangreichen Fehlerkatalog, der ebenso wie Kaganovics Vortrag vom 1. Dezember 1931 die künftige Marschrichtung signalisierte und bis zum Zeitpunkt der Publikation des Kratkij kurs die legitime Bedeutung und Interpretation der Parteigeschichte festlegte. Gleichzeitig wurde aber festgestellt, dass Stalins Angriff auf Jaroslavskij von sehr allgemeiner Art war. Er hatte zwar mit Jaroslavskij auf dem Plenum vereinbart, dass dieser eine Erklärung werde leisten müssen, in seinem „Brief an die Proletarskaja revoljucija aber lediglich bemerkt, dass selbst die Geschichtsbücher des Genossen Jaroslavskij „Fehler prinzipiellen und historischen Charakters" enthielten, und auf Jaroslavskijs wiederholte Anfragen, ihm diese Fehler konkret zu benennen, nicht reagiert. Jaroslavskij befand sich folglich in der verunsichernden Lage, abgesehen von dem schon erwähnten „Fehler" Kins, nicht zu wissen, welche „Fehler" Stalin meinte. Wie kam es dann zu einer inhaltlichen Präzisierung, d.h. zu einer Konkretisierung der Fehler? Anhand der Intervention Stalins in das Feld der professionellen Historiker lässt sich beispielhaft eine spezifische Art der politischen Kommunikation und Produktion von Bedeutung aufzeigen. Sheila Fitzpatrick hat betont, dass, obwohl die stalinsche Parteiführung auf die exakte Ausführung von zentralen Direktiven bestand und viel Energie auf die Durchführungskontrolle verwendete, viele dieser vermeintlichen Direktiven eher vage politische Aussagen oder Provokationen waren als eindeutige Instruktionen. Wichtige Politikänderungen seien vielfach nicht klar formuliert, sondern signalisiert worden.291 Es wurde gezeigt, dass schon in der Zeit vor der Veröffentlichung von Stalins „Brief an die Proletarskaja revoljucija und dem Jaroslavskij abgerungenen Fehlereingeständnis jede Degradierung der Autorität Jaroslavskijs von den Parteimitglieder sofort registriert und als Aufforderung bzw. Erlaubnis verstanden wurde, diesen „durchzuarbeiten". Jaroslavskijs „Reueerklärung" haben wir ebenfalls als Signal gedeutet, mit dem die Parteiführung versuchte, einen Politikwechsel im Bereich von 291

Fitzpatrick·. Everyday Stalinism, S. 26-28. Fitzpatrick führt diese spezifische Art der politischen Kommunikation auf die legislative und administrative Schwäche des stalinistischen Regimes zurück. Hierzu siehe auch: Blum/Mespoulef. L'Anarchie bureaucratique, S. 179-186; Martin, Terry: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923-1939, Ithaca 2001, S. 21-23.

7. Konstruktion von Bedeutungen: Politische Kommunikation

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Wissenschaft und Kultur einzuleiten. Die konkreten Inhalte eines solchen Politikwechsels wurden jedoch nur indirekt kommuniziert. Die inhaltliche Bedeutung von Stalins Kritik an Jaroslavskij wurde in den Parteiversammlungen der betreffenden Institutionen, durch Rezensionen und Beurteilungen von Jaroslavskijs Parteigeschichte in einer Form von Wettbewerb um die Gunst der stalinschen Parteiführung unter hohem Konkurrenzdruck „kollektiv" konstruiert, ohne dass das Ergebnis dieses von oben initiierten kommunikativen Prozesses schon festgestanden hätte. In diesen „Diskussionen" wurden vielmehr Vorschläge produziert, aus denen Stalin und seine Verbündeten auswählen konnten, was ihnen im Hinblick auf ihre Herrschaftsinteressen opportun erschien. Als Beispiel hierfür soll die Entscheidungsfindung über Jaroslavskijs Fehlereingeständnis in der Redaktion der Zeitschrift Bol'sevik näher beleuchtet werden. Jaroslavskij hatte sein Fehlereingeständnis, wie mit Stalin vereinbart, am 31. Oktober 1931 in der Redaktion des Bol 'sevik eingereicht. In dieser kurzen Erklärung, die noch sehr selbstbewusst klingt, räumte Jaroslavskij eher beiläufig einige Auslassungen, Fehler und ungenaue Formulierungen in der von ihm herausgegebenen Parteigeschichte ein, modifizierte dieses Eingeständnis jedoch zu seinen Gunsten, indem er gleichzeitig die Stärken des Lehrbuchs betonte.292 Erst am 6. Dezember fasste die Redaktion nach dem üblichen Verfahren der Diskussion mit darauffolgender Abstimmung den Beschluss, dass Jaroslavskijs Erklärung nicht annehmbar sei, und forderte ihn auf, die in der Resolution genannten Fehler einzugestehen. Am selben Tag verabschiedete die Redaktion der Pravda über Jaroslavskijs dort eingereichte Erklärung einen ähnlich lautenden Beschluss.293 Die auffallige Verzögerung bis zur Entscheidungsfindung in beiden Redaktionen ist wahrscheinlich so zu erklären, dass man zunächst die schon erwähnte richtungsweisende Rede Kaganovics abwarten wollte, um die dort aufgeführten Kritikpunkte in die Resolution aufzunehmen. Der von den Redaktionen aufgestellte Fehlerkatalog ist identisch mit den in Kaganovics Rede aufgeführten „Fehlern". Kaganovics Rede wiederum liest sich wie ein Kondensat aus anderen kritischen Reden, aus Rezensionen in unterschiedlichen Zeitschriften, aus Besprechungen für den internen Gebrauch und Resolutionen von Parteiversammlungen über Jaroslavskijs Parteigeschichte.294 An der Erstellung des Fehlerkatalogs war Stalin, außer durch den Hinweis auf den „Fehler" Kins, unserer Kenntnis nach zwar nicht unmittelbar beteiligt; jedoch befinden sich die Resolutionen der Redaktionen der Pravda und des Bol'sevik in seinem persönlichen

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Erklärung Jaroslavskijs an die Redaktion der Zeitschrift Bol'sevik, 31.10.1931. F.558, op.ll, d.841,1.87-87ob. 293 Resolution des Redaktionskollegiums der Zeitschrift Bol 'sevik, 6.12.1931. F.558, op.ll, d.841,1.86-86ob. Die Resolution der Pravda: Ebenda, 1.79-84. 294 Kaganovic: Za bol'sevistskoe izucenie istorii partii, S. 18-26.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Nachlass, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie Stalin nicht nur bekannt waren, sondern dass er die Entscheidungen der Redaktionen zudem autorisierte. Die endgültige Fassung von Jaroslavskijs Erklärung, die am 10. Dezember in der Pravda und zeitgleich im Bol'sevik veröffentlicht wurde, entspricht dem von Kaganovic und den Redaktionen formulierten Fehlerkatalog. Jaroslavskij musste öffentlich bereuen, dass er die „falsche Darstellung der Haltung der Bolschewiki im Frühjahr 1917" durch seinen Mitarbeiter Kin nicht bemerkt habe - der Name Stalins fallt in diesem Zusammenhang freilich nicht - , dass er der Veröffentlichung des Artikels von Sluckij in der Proletarskaja revoljucija zugestimmt und bei der Auswahl seiner Mitarbeiter, namentlich genannt werden Kin, El'vov und Mine, nicht genügend bolschewistische Wachsamkeit bewiesen habe. Zudem musste Jaroslavskij eingestehen, dass in der von ihm herausgegebenen Parteigeschichte die Bewertung der Revolutionen von 1905 und 1917 durch Lenin und die Bolschewiki falsch dargestellt worden sei. Im dritten Band hatte Jaroslavskijs Mitarbeiter Baevskij die Auffassung vertreten, Lenin habe die Theorie des „Hinüberwachsens" der bürgerlich-demokratischen Revolution in eine sozialistische und damit die Möglichkeit einer Entwicklung des „Sozialismus in einem Land" erst gegen Ende des Kriegs entfaltet. Jaroslavskij selbst hatte diese Auffassung in seiner Polemik mit Gorin, der die These vertrat, Lenin habe diese Theorie schon 1905 entwickelt, immer wieder vehement verteidigt.295 Jaroslavskij musste sich nun notgedrungen Gorins These anschließen. Aus dieser „falschen Darstellung" im dritten Band sei, so Kaganovic, die fehlerhafte und trotzkistische Beurteilung entstanden, Lenin habe vor 1917 die Theorie vertreten, dass sich im Anschluss an die bürgerlich-demokratische Revolution in Russland die sozialistische Revolution nur unter der Bedingung einer vorhergehenden sozialistischen Revolution im Westen vollziehen könne. Die Theorie des „Hinüberwachsens" und die Theorie vom „Sozialismus in einem Land" waren für Stalin und seine Ideologen von einer derartigen Bedeutung, weil hierdurch die Legitimität der Oktoberrevolution als sozialistische Revolution und somit der bolschewistischen Herrschaft auch ohne die Vorraussetzung einer sozialistischen Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern ideologisch abgesichert sowie die Kompetenz und Unfehlbarkeit der bolschewistischen Führung in der Definition der politischen Linie vermittelt werden konnte. Durch den Jaroslavskij abgenötigten Fehlerkatalog wurde bis zur Veröffentlichung des Kratkij kurs im September 1938 implizit festgelegt, welche Interpretation der Parteigeschichte als legitim gelten konnte. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich auch die Bedeutung der hart umkämpften Publikationsform Rezension im Kampf um die „legitime" Auslegung von

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Jaroslavskij: O revoljucii 1905 goda (1931), S. 87-88.

8. Statusillusionen und unvereinbare Loyalitäten

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Geschichte. Es wurde gezeigt, dass Jaroslavskij gegenüber Stalin, Steckij, Mechlis und anderen immer wieder vehement versuchte, die Veröffentlichung von negativen Besprechungen seiner Parteigeschichte zu verhindern und seine Auslegung durchzusetzen; denn zur Publikation autorisierte Rezensionen wurden ebenfalls zum Signal für weitere Reaktionen.296 Dieser kettenreaktionsähnliche Mechanismus von sich gegenseitig auslösenden Signalen konnte nur, wie am Beispiel der beschwichtigenden Reden Kaganovics und Postysevs gezeigt wurde, durch ein gegenläufiges Signal von oben aufgehalten werden. Die so entstehende Ideologie des Stalinismus kann so bedingt als ein sich selbst schreibender Text aufgefasst werden, mit der Einschränkung, dass, wie wir am Beispiel des Falls El'vov, Taskarov und Kin gesehen haben, die obersten Regisseure und insbesondere Stalin, den Text des Drehbuchs zu jeder Zeit kontrollieren konnten. Die am Prozess des Schreibens Beteiligten hatten die Aufgabe, die Vorstellungen der Parteiführung zu erahnen, und die Möglichkeit, sich auf diese Weise zu profilieren. Jaroslavskij hatte hiermit die Verfügungsgewalt über die Inhalte und die Bedeutung der eigenen historiographischen Texte weitgehend eingebüßt.

8. Statusillusionen und unvereinbare Loyalitäten Jaroslavskij hatte die Vorwürfe Stalins in seinen öffentlichen Verlautbarungen anerkannt, konkretisiert und auf diese Weise implizit dessen Recht bestätigt, die Spielregeln und die Bedeutungen festzulegen. Sowohl in seinem in der Pravda veröffentlichten Fehlereingeständnis als auch in seinem Vortrag auf der Parteikonferenz des Moskauer Rajons Zamoskvorec'e bezeichnete Jaroslavskij Stalin als einzigen kompetenten Weiterentwickler und Interpretator der marxistisch-leninistischen Theorie. Hinter den Kulissen jedoch gab er sich nicht so schnell geschlagen. So versuchte die Redaktion der Zeitschrift Bor 'ba klassov, in der Jaroslavskij als stellvertretender leitender Redakteur tätig war, die Veröffentlichung von Stalins „Brief' zunächst zu umgehen, wurde dann aber durch ein an Jaroslavskij adressiertes Schreiben von Mechlis dazu gezwungen.297 In ähnlicher Weise musste Jaroslavskij von eifrigen Genossen dazu veranlasst werden, Stalins „Brief in der von der ZKK herausgegebenen Zeitschrift Za tempy, kacestvo, proverku (Für Tempo, Qualität und Kontrolle), deren Redaktion er ebenfalls leitete, zu veröffentli-

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In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurden Rezensionen und andere Formen der Beurteilung wissenschaftlicher Arbeiten zum Instrument des Terrors; sie waren fester Bestandteil der durch den NKVD und andere Institutionen zusammengestellten Strafverfolgungsakten. Artizov: Sud'by istorikov, S. 35. 297 Schreiben Mechlis' an Jaroslavskij vom 26.11.1931. F.89, op.7, d.36,1.8.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

chen.298 Jaroslavskij weigerte sich auch, die ihm vorgeworfenen Fehler als solche zu akzeptieren, und forderte seine Mitarbeiter auf, sich gemeinsam mit ihm standhaft gegen „ungerechtfertigte Kritik" zu wehren, mit der versucht werde, die historischen Fakten schematischen Dogmen unterzuordnen.299 Seine Fehlereingeständnisse können mitnichten mit den in der westlichen Forschung dominanten Topoi „Konfessionsritual", „innerer Gerichtshof oder gar als inquisitorisches Ritual der „Selbstentäußerung", mit dem sich die symbolische „Reinigung und Läuterung der gesamten revolutionären Glaubensgemeinschaft" vollziehe300, bezeichnet werden. Religiöse Metaphern sowie auch Begriffe wie „Subjektivierung" oder „Identitätsbildung" sind für die Erklärung dieser Vorgänge wenig geeignet.30' Das Jaroslavskij abgenötigte Fehlereingeständnis kann wesentlich adäquater als Bestandteil einer Herrschaftstechniken mit didaktischen Implikationen verstanden werden, im Rahmen von deren Anwendung alle Beteiligten unterschiedliche Interessen vertraten. Jaroslavskij s notgedrungen abgeleistete öffentliche Erklärung ist Bestandteil eines Vertrags zwischen Jaroslavskij und Stalin, bei dem Jaroslavskij die Vertragsbedingungen einhielt und Stalin immer wieder aufforderte, seine Verpflichtung als Patron ebenfalls einzuhalten. In einem Brief an Stalin vom 25. November 1931 bezeichnet er die vierbändige Parteigeschichte immer noch selbstbewusst als die „bedeutendste und engagierteste Arbeit auf diesem Gebiet". Wie fehl er in der offensichtlichen Annahme ging, Stalin werde seine Einschätzung teilen, zeigt sich daran, dass Stalin am Rand neben der zitierten Stelle handschriftlich ein klares „Nein" notierte. Etwas später schrieb Jaroslavskij seiner Frau, Klavdija Kirsanova: „Die Lektüre der Geschichte der VKP(b) bereitete mir eine ebensolche Befriedigung. Wie hat man in ihr nach Fehlern gesucht, aber die Arbeit ist ausgezeichnet und bis zum jetzigen Zeitpunkt einzigartig."302

Auch in einigen seiner öffentlichen Fehlereingeständnisse sträubte sich Jaroslavskij eigensinnig dagegen, die inhaltlichen Aspekte der von ihm herausgegebenen Parteigeschichte als falsch zu akzeptieren, forderte aber stattdessen hartnäckig, dass auch die anderen bolschewistischen Historiker

298

Schreiben Jaroslavskijs an das Präsidium der ZKK, Jan Rudzutak, vom 8.2.1932. F.89, op.3, d.156,1. 1-3. Schreiben des Leiters der Presseabteilung der ZKK, B. Igrickij, an das Präsidium der ZKK, A.I. Krinickij, vom 7.2.1932. F.89, op.3, d.156,1.3 4. 299 Schreiben Jaroslavskijs an Mine und die anderen Mitarbeiter des vierten Bands der Istònja VKP(b) vom 27./28.11.1931. F.89, op.7, d.73,1.14-15. 300 Riegel: Öffentliche Schuldbekenntnisse, S. 139. 301 Riegel·. Konfessionsrituale; Unfried'. Rituale von Konfession und Selbstkritik; Unfried, BertholdASWer, Brigitte: „Das Private ist öffentlich." Mittel und Formen stalinistischer Identitätsbildung, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 83-108; Halfln: Looking into the Oppositionists' Souls. 302 Schreiben Jaroslavskijs an Kirsanova vom 28.11.1931. F.89, op.l, d.102,1.3-4.

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der Kritik unterzogen werden müssten.303 Jaroslavskij beharrte nach wie vor darauf, dass Stalin seiner Verpflichtung als Patron ihm gegenüber nachkomme, und drängte diesen immer wieder zur Einhaltung der auf dem Plenum im Herbst 1931 geschlossenen Vereinbarung: Er bat ihn, den übereifrigen Kritikern Einhalt zu gebieten, ihm die in der Parteigeschichte vorhandenen Fehler konkret zu benennen, und forderte ihn in altbekannter Manier sogar implizit auf, gegen eine negative Rezension eines gewissen Petrov über den vierten Band des Lehrbuchs, die am 18. November 1931 in der Pravda erschienen war, aufzutreten.304 Jaroslavskijs Hartnäckigkeit beruhte offensichtlich auf seiner illusionären Sicherheit, sich einen festen Platz in der stalinschen Oligarchie erworben zu haben. Stalin hielt allerdings als oberster Patron in der Patronagehierarchie seinen Teil der Vereinbarung mit Jaroslavskij nicht ein. Er intervenierte nicht, um der scharfen Kritik an Jaroslavskij Einhalt zu gebieten. Im Gegenteil: Jaroslavskij musste in seiner Erklärung in der Pravda einige der von Petrov aufgeführten „Fehler" eingestehen.305 Erst als die Arbeit der Historiker im Januar 1932 durch die Diskussionen über Stalins „Brief gänzlich zum Erliegen gekommen war und andere führende Parteiintellektuelle Jaroslavskijs Beispiel notgedrungen gefolgt waren, sah sich die Parteiführung veranlasst, die aufgeheizten Stimmungen zu beschwichtigen. Jaroslavskij, der es offensichtlich immer noch für legitim hielt, eigene Protektionsverhältnisse zu unterhalten, fuhr auch weiterhin fort, seine Mitarbeiter zu decken. Obwohl ihm aufgrund der weiter oben diskutierten inoffiziellen Intervention Stalins im Frühjahr 1930 - also schon über ein Jahr vor dem Erscheinen von Stalins „Brief an die Proletarskaja revoljucija - und durch den direkten Hinweis Stalins während des ZK-Plenums die Schwere der „Fehler" seines Mitarbeiters Kin deutlich bewusst gemacht worden war, bat er Stalin, sich ausgerechnet für Kin einzusetzen, dem aufgrund „seiner Feh303

So z.B. in einem Schreiben an Jan Rudzutak vom 20.12.1931. F.89, op.7, d.73,1.24. Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 25.11.1931. F.558, op.ll, d.841,1.72-78. Randbemerkung Stalins, ebenda, 1.74. 305 Zu diesen „Fehlern" gehörte die sogenannte „Theorie der zwei Revolutionen", die Jaroslavskij und seine Mitarbeiter im vierten Band der Istorija VKP(b) vertreten hatten. Diese hatten die These aufgestellt, dass in Russland gleichzeitig zwei Revolutionen mit jeweils unterschiedlichen sozialen Zielsetzungen stattgefunden hätten: eine antifeudale-bürgerliche Revolution der gesamten Bauernschaft auf dem Land und eine sozialistisch-proletarische Revolution der Arbeiter in der Stadt und auf dem Land. In einem Brief an Mine vom 27.11.1931 hatte Jaroslavskij noch selbstbewusst die „Theorie der zwei Revolutionen" verteidigt. Petrov habe die historischen Fakten des dualistischen Prozesses schematischen Dogmen untergeordnet. Offensichtlich hatte aber Petrovs „schematische" Sichtweise den Vorstellungen der Parteiführung und Stalins entsprochen. Die „Theorie der zwei Revolutionen" wurde schließlich aus der offiziellen Parteigeschichte verbannt, weil sie Stalins Theorie vom „Sozialismus in einem Land" fragwürdig erscheinen ließ. Für gültig wurde stattdessen die Theorie des „Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen Revolution in eine sozialistische Revolution" erklärt. Petrov, G.: Ob istorii Oktjabr'skoj revoljucii (Istorija VKP(b), t. IV. Pod obscej redakeii Em. Jaroslavskogo), in: Pravda, 18.11.1931; Schreiben Jaroslavskijs an Mine aus Batumi vom 27./28.11.1931. F.89, op.7, d.73,1.1-2. 304

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1er" der Entzug der Lehrerlaubnis drohe.306 Zur Verteidigung Kins wählte Jaroslavskij zudem eine Argumentationsstrategie, die entweder seine Eigensinnigkeit und eine penetrante Prinzipientreue, oder aber eine gänzlich unangemessene Einschätzung seiner Lage dokumentiert. Er erlaubte sich sogar, Stalin an seine „Irrtümer" im Frühjahr 1917 zu erinnern. In einem Brief an Stalin vom 28. Oktober 1931, also von dem Tag, als dessen „Brief in der Proletarskaja revoljucija veröffentlicht worden war, bestand Jaroslavskij vorsichtig auf der inhaltlichen Richtigkeit von Kins Aussage, denn Stalin habe seine „Fehler" in einer Rede im Jahr 1924 schließlich selbst eingestanden. Kin sei lediglich in der Hinsicht ein Fehler unterlaufen, als dass er seine Darstellung mit der Parteigeschichte Sljapnikovs „Das Jahr 1917" und nicht mit der erwähnten Rede Stalins belegt habe.307 Ähnlich verfuhr Jaroslavskij mit El'vov, den er zwar auf Geheiß Stalins offiziell schon im April 1930 von seiner Koordinatorenstelle im Projekt der vierbändigen Parteigeschichte entlassen hatte, die Zusammenarbeit aber dennoch weiter fortführte. So sind z.B. nur ein halbes Jahr nach El'vovs Entlassung Jaroslavskijs „Gegenthesen" über die Revolution von 1905 im wesentlichen von El'vov vorbereitet worden. Im März 1932 betrieb Jaroslavskij in seiner Eigenschaft als Sekretär des Parteikollegiums der ZKK vorsichtig die Wiederaufnahme in die Partei von Sluckij, El'vov, Rafes und Ponikman, die alle infolge der Diskussionen über Stalins „Brief an die Redaktion der Proletarskaja revoljucija ausgeschlossen worden waren.308 Auch Teodoro vie konnte weiterhin mit Jaroslavskijs Unterstützung rechnen. Jaroslavskij ließ diesem immer wieder diskret Informationen zukommen. So beschwerten sich beispielsweise Boris Tal' und Petr Pospelov in einem Schreiben an das Redaktionskollegium der Zeitschrift Bol 'sevik sowie an das ZK (Kaganovic und Postysev) vom 4. Juli 1932 darüber, dass die Manuskripte des zur Veröffentlichung vorgesehenen Artikels eines gewissen Kostko „Über den verfaulten Liberalismus und die Achillesferse des Genossen Teodorovic" von dem Redaktionsmitglied Jaroslavskij an Teodorovic

306 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 25.11.1931. F.89, op.12, d.2,1.202-203. 307 „Mein [Jaroslavskijs; S.D.] Fehler ist um so schwerwiegender, als dass ich verpflichtet war, den Aufsatz des Genossen Kin fur diesen Band gründlich durchzusehen, denn er hat sich in seiner Charakterisierung dieser Periode auf A. Sljapnikov gestützt, der natürlich kein objektiver, unvoreingenommener Historiker und Zeuge ist, auf den man sich in einem Lehrbuch über die Geschichte der VKP(b) beziehen könnte. Ich hatte um so mehr die Verpflichtung, einen derartigen Verweis auf Sljapnikov nicht zuzulassen, da bzgl. dieser Periode Ihre [Stalins; S.D.] eigene Erklärung über die Fehler vorlag, die zu dieser Zeit vielen Genossen eigen waren." Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 28.10.1931. F.89, op.7, d.72, 1.1. Sljapnikovs mehrbändiges Buch „Das Jahr 1917" wurde durch einen Beschluss des Politbüros vom 3. März 1932 ebenfalls verboten und Sljapnikov gezwungen, eine öffentliche Erklärung abzugeben, in der er sich von seinen Standpunkten distanzieren sollte. Getty/Naumov: Road to Terror, S. 105-106. 308 Schreiben Jaroslavskijs an Rudzutak, Antipov und Skirjatov (ungenaue Datierung; Ende März 1932). F.89, op.12, d.l, 1.52.

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weitergeleitet worden seien.309 Auf der darauf folgenden Sitzung des Redaktionskollegiums der Zeitschrift vom 8. Juli 1932 wurde Jaroslavskijs Verhalten gerügt und eine Resolution gegen ihn erlassen.310 In einem Brief an Aleksandr Krinickij vom 21. August 1932 protestierte Jaroslavskij gegen diese Resolution. Er sei als Vorsitzender der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" verpflichtet gewesen, mit seinem Stellverteter und leitenden Redakteur der Zeitschrift Katorga i ssylka, Teodorovic, über die gegen diesen in Kostkos Artikel erhobenen Vorwürfe zu sprechen. Jaroslavskij hatte ohne Erfolg schon im Vorfeld versucht, Kostko dazu zu bringen, die brisantesten Vorwürfe aus seinem Artikel zu streichen.311 Auffällig ist auch, dass Jaroslavskij den Namen Teodorovics in der Regel nicht in den offiziellen Verteiler im Briefkopf seiner Korrespondenz aufnahm, sondern stattdessen handschriftlich seinen Sekretär beauftragte, eine Kopie an den „Gen. Teodorovic" zu schicken. Anlässlich eines internen Konflikts in der Redaktion der Katorga i ssylka sah sich Jaroslavskij im Sommer 1933 noch einmal gezwungen, zugunsten Teodorovics zu intervenieren. Aufgrund eines Streits mit dem Redaktionssekretär áumjackij drohte Teodorovic mit dem Rücktritt vom Posten des leitenden Redakteurs.312 Die Reaktion Jaroslavskijs auf diese Drohung ist aufschlussreich: „Ich bitte Sie, (...) Ihre Arbeit in der Redaktion nicht aufzugeben. Sie brauchen meine Ratschläge nicht, Sie sind ein erfahrener Mensch. Aber ich möchte Ihnen doch freundschaftlich raten und bitte Sie, diesen falschen Schritt nicht zu tun (...) Zerreißen Sie nicht dieses letzte Fädchen, das Sie noch als Bolschewist ausweist."313

Obwohl Jaroslavskij hier über Teodorovic und nicht unmittelbar über sich selbst spricht, wird an diesem Ausschnitt deutlich, dass für ihn der Rückzug aus der bolschewistischen Partei aufgrund von Meinungsverschiedenheiten keine denkbare Option darstellte und dass ein Ausschluss aus der Gruppe die Zerstörung jeglicher relevanter Bindungen bedeuten würde. Es gab für Jaroslavskij trotz aller Konflikthaftigkeit wie auch für die meisten seiner Genossen keine Alternative zum „Bolschewist-Sein". Die Beziehung Jaroslavskijs zu Teodorovic zeigt aber auch, dass Jaroslavskij noch andere Bindungen hatte als die zu der „Stalin-Gruppe", nämlich zu den „alten Revolutionären", zu der „eisernen Kohorte der Untergrund309 F. 89, op. 7, d. 46,1. 1. 310 Siehe Protokoll No. 7 der Redaktionssitzung des Bol'sevik vom 8.7.1932. F. 89, op. 7, d. 46,1. 8. 311 F. 89, op. 7, d. 46,1. 14-16. 312 Erklärung Teodorovics an die kommunistische Fraktion der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" vom 11.6.1933 mit Kopie an die kommunistische Fraktion der Redaktion der Zeitschrift Katorga i ssylka. F.89, op.5, d.54,1.24. 313 Schreiben Jaroslavskijs an Teodorovic vom 15.6.1933. F.89, op.5, d.54, 1.27. Teodorovic nahm am 20.6.1933 von seiner Rücktrittsandrohung vom Posten des leitenden Redakteurs der Katorga i ssylka Abstand. F.89, op.5, d.54,1.28-29.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

kämpfer" und zu den Traditionen der vorrevolutionären oppositionellen intelligencija, insbesondere zu den Narodovol 'cy, in deren Milieu Jaroslavskij in seiner Jugendzeit in Cita sozialisiert worden war. Er sah sich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Traditionsgesellschaften als Patron der Altbolschewisten und vieler betagter Mitglieder der vorrevolutionären Parteien. Die Identifikation mit diesen revolutionären Traditionen und ihren Repräsentanten stand seit Beginn der 1930er Jahre in einem Spannungsverhältnis zu Jaroslavskij s Parteirolle. Seit Ende der 1920er Jahre sah er sich immer wieder gezwungen, die „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" und ihre Zeitschrift Katorga i ssylka gegen die Angriffe radikaler jüngerer Historiker wie Gorin und Tatarov bzw. gegen den Vorwurf des „Rechtsopportunismus" zu verteidigen.314 Im Sommer 1932 wurden die Diskussionen über die Gesellschaft und ihre Zeitschrift durch einen Leitartikel des jungen Historikers S. Sef für den Istorik-marksist „Für einen entschlossenen Umbau der historischen Front" von neuem entfacht. In dem programmatischen Text, der einen Nachruf auf den im April verstorbenen Pokrovskij darstellt, bezeichnete Sef die Zeitschrift Katorga i ssylka als „rechte Literatur", die „buchstäblich die bolschewistische Geschichte der Zwangsarbeit und Verbannung ignoriert und die 1930-31 eingerissenen opportunistischen Traditionen in der Leitung der Zeitschrift unbeirrt kultiviert".315 In einem Protestschreiben an die Redaktion der Zeitschrift Istorik-marksist vom 21. August 1932 führte Jaroslavskij das Argument ins Feld, das auch sein persönliches Dilemma illustriert: Die Zeitschrift diene als Forum parteiunabhängiger revolutionärer Erfahrung und Erinnerung, müsse aber einer strengen bolschewistischen Kritik unterzogen werden. Falls die Redaktion des Istorik-marksist es für nötig halte, den Charakter der Zeitschrift zu ändern, dann müsse die Frage vom ZK entschieden werden.316 Jaroslavskijs Verfasstheit in den 1930er Jahren sollte sowohl durch diese doppelten Loyalitäten, die zunehmend zu unvereinbaren Loyalitäten wurden, bestimmt werden, als auch durch seine beständigen Versuche, die politischen Verkehrsformen einer Patronageoligarchie aufrechtzuerhalten, die aufgrund 314 1930 hatte schon A. Bur die Zeitschrift Katorga i ssylka beschuldigt, „abseitiges und unzusammenhängendes Quellenmaterial" zu veröffentlichen, „den Terrorismus zu idealisieren" und auf systematische Weise keine feste Linie zu verfolgen. Bur, Α.: Po zurnalam Katorga i ssylka, in: Proletarskaja revoljucija, 1930, no. 9, S. 168-173. Jaroslavskij verteidigte die Zeitschrift in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes". Die Gesellschaft setze sich aus Revolutionären unterschiedlicher sozialistischer Parteien zusammen; daher sei es gerade die Aufgabe der Zeitschrift, heterogenes Quellenmaterial zu veröffentlichen. Jaroslavskij, Em.: Pis'mo ν redakciju: Kakim dolzen byt' i kakov est' zumal Katorga i ssylka, in: Proletarskaja revoljucija, 1930, no. 9, S. 183-187; Barber: Historians, S. 98-99. 315 Sef, S.: Za resitel'nuju perestrojku istoriceskogo franta. F.89, op.7, d.24, 1.63-68ob., hier 1.66. In derselben Ausgabe des Istorik-marksist (no. 3) erschien zudem eine negative Rezension der Katorga i ssylka. 316 Schreiben Jaroslavskijs an die Redaktion des Istorik-marksist vom 21.8.1932. F.89, op.7, d.24,1.72.

9. Degradierung, Desillusionierung und Statusanspruch

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der von Stalin initiierten Veränderung der Spielregeln nicht mehr gültig waren.

9. Degradierung, Desillusionierung und Statusanspruch Trotz der offiziellen Anerkennung seiner „Reueerklärung" durch das Politbüro und die ZKK hatte Stalins „Brief' an die Herausgeber der Proletarskaja revoljucija für Jaroslavskij gravierende Folgen: Der Druck und die erneute Auflage der von ihm verfassten und herausgegebenen Lehrbücher über Parteigeschichte waren schon durch einen Beschluss des Politbüros vom 16. Dezember 1931 bis auf weiteres unterbunden und Jaroslavskij vom Direktorenposten des Parteihistorischen Instituts der Roten Professur entlassen worden. Auf derselben Sitzung des Politbüros fiel die Entscheidung, eine neue Gruppe für die Erarbeitung einer neuen verbindlichen Parteigeschichte zu bilden.317 Die von Jaroslavskij herausgegebenen vier Bände wurden somit für ungültig erklärt. Der letzte Schritt zur Marginalisierung Jaroslavskij s von der Parteispitze erfolgte durch seine definitive Entlassung aus den Redaktionen der Pravda und des Bol'sevik im Sommer 1932, die er einer erneuten taktischen Ungeschicklichkeit zu verdanken hatte. Den konkreten Anlass für seine Entfernung aus den Redaktionen bot sein Artikel „Es muss sofort umgebaut werden" (Perestroit'sja nado nemedlenno) über Arbeiterstreiks in Ivanovo-Voznesensk und die damit verbundene Auswechslung der dortigen Parteiführung. Der Auslöser der Arbeiterunruhen waren die lebensbedrohlichen Versorgungsengpässe, die durch die rücksichtslose Kollektivierungspolitik entstanden waren.318 In diesem Artikel, der am 31. Mai 1932 in der Pravda veröffentlicht worden war, hatte Jaroslavskij diesen Umstand freilich nicht offen thematisiert; er hatte aber die örtlichen Verhältnisse als durchgängig marode und die lokalen Parteifunktionäre als korrupt gegeißelt und sich selbst als Anwalt der streikenden Arbeiter in Szene gesetzt. Sein Text stellte damit eine weitere Variante des „antibürokratischen Szenarios" dar. Stalin, der sich zu der Zeit in Soci befand, reagierte am 5. Juni auf Jaroslavskij s Artikel mit einem wütenden Telegramm an das ZK. Darin bezeichnete er den Text als verantwortungslos, faktisch unrichtig und politisch schädlich und forderte, dass Jaroslavskij zur Verantwortung gezogen werden müsse. Kaganovic schlug daraufhin vor, ihn aus der Redaktion der Pravda zu entfernen. Die nur noch formale

J" Protokoll No. 80 der Sitzung des PB vom 16.12.1931. F. 17, op.3, d.865,1.4. Zu den Streiks in Ivanovo-Voznesensk siehe: Werth, ΝJMoullec, G. (Hrsg.): Rapports secrets soviétiques, Paris 1994, S. 209-216; Rossman, Jeffrey: The Teikovo Cotton Workers' Strike of April 1932: Class, Gender and Identity Politics in Stalin's Russia, in: Russian Review 56 (1997), S. 44-65. 318

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Entscheidung fiel im Politbüro am 7. Juni 1932.319 Jaroslavskij hatte mit seinem Artikel aus der Perspektive Stalins erneut sein mangelndes politisches Gespür und seinen Hang zu einem strategiefernen Populismus demonstriert. Obwohl Stalin die Motive, die seine Wut auf Jaroslavskij auslösten, nicht explizit äußerte, kann davon ausgegangen werden, dass er den Zeitpunkt für die öffentliche Aufdeckung von „Missständen" für denkbar schlecht gewählt hielt. Der offiziellen Rhetorik, die vorgab, die Planziffern des ersten Fünfjahresplans in vier Jahren erreichen zu können, zum Trotz steuerte die Parteiführung 1932 auf eine selbstgemachte wirtschaftliche und humanitäre Katastrophe zu, die auch drohte, die Partei zu destabilisieren, und die die Parteiführung erheblich unter Druck setzte. Die Lebenssituation der Arbeiter und Bauern hatte sich aufgrund der verfehlten Industrialisierungs- und Kollektivierungspolitik erheblich verschlechtert; die Mobilität der Bevölkerung war nicht mehr zu kontrollieren; an mehreren Stellen fanden Bauernaufstände statt; in der Ukraine, in Teilen Südrusslands und im Nordkaukasus herrschte eine verheerende Hungersnot, die bis 1933 zwischen fünf und sechs Millionen Menschen das Leben kosten sollte.320 Die Situation konnte aus Sicht der stalinschen Führung nur durch radikale ordnungspolitische Maßnahmen, nicht aber durch eine populistische und öffentliche Kritik an der Arbeit einzelner Parteiorganisationen wieder unter Kontrolle gebracht werden.321 Nicht umsonst wurden Streiks und Arbeiterunruhen zu Beginn der 1930er Jahre Gegenstand der Geheimhaltungspolitik und entsprechende Themen mit einem Publikationsverbot belegt.322 Jaroslavskij hatte sich in Überschätzung seiner Urteilsfähigkeit und Entscheidungsbefugnis über dieses Publikationsverbot hinweggesetzt, blieb aber trotz mehrfacher Belehrungen uneinsichtig. Auf einer am Tag seiner Entlassung von Kaganovic einberufenen Sitzung der Redaktion weigerte er sich eigensinnig, die ihm unterstellten Fehler einzugestehen. Den Verlauf dieser Sitzung und die Reaktion Jaroslavskij s auf die Vorwürfe schildert Kaganovic in einem Brief an Stalin: „Heute haben wir die Frage über den Artikel Jaroslavskijs diskutiert. Wir haben das Redaktionskollegium einberufen. Er selbst hat trotz unserer Erklärungen seinen Fehler nicht eingesehen, dass er mit seinem Artikel unsere Feinde unterstützt hat (...). Ich glaube, dass wir richtig verfahren haben, ihn von seinem Posten in der Pravda zu befreien und die Pravda von ihm. Er hat seine Funktion als Sekretär der ZKK mit seinen Funktionen als 3,9

Telegramm Stalins an das ZK vom 5.6.1932. F.558, op.ll, d.877, 1.10. Telegramm Kaganovics an Stalin vom 6.6.1932. Ebenda, 1.20. Entscheidung des PB vom 7.6.1932. F. 17, op.3, d.887,1.9. 320 Die Angaben über die Opferzahlen der Hungersnot schwanken zwischen fünf und zehn Millionen Menschen. Unsere Angabe ist entnommen aus: Davies/Harrison/Wheatcroft (Hrsg.): Economic Transformation, S. 74-76; Davies, R.W./Weathcroft, Stephen: The Years of Hunger: Soviet Agriculture, 1931-1933, Basingstoke 2004, S. 415. 321 Über die Panik der Parteiführung gibt Stalins Korrespondenz mit Kaganovic aus dem Jahr 1932 Auskunft. Siehe hierzu: Cohen: Des lettres comme action. 322 Fitzpatrick: Everyday Stalinism, S. 23.

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Mitglied des Redaktionskollegiums vermischt. Er hat in der Pravda als ZKK-ler gearbeitet und in der ZKK als Journalist. Sie haben vollkommen recht, er versteht es nicht, die Waffe der Presse zu benutzen, er hat bis zur letzten Minute seinen politischen Fehler nicht eingesehen." 323

Jaroslavskijs Auffassung von Politik unterschied sich offensichtlich von der Stalins und Kaganovics. Während Jaroslavskij sich von seinen diffusen Vorstellungen von Arbeiterkontrolle und -demokratie leiten ließ, die Kampagne zur Förderung der „Kritik von unten" ernst nahm und nicht willens oder nicht fähig war, unterschiedliche Politikbereiche strategisch miteinander zu verknüpfen, standen für Stalin und Kaganovic konkrete machtpolitische Erwägungen im Vordergrund. Jaroslavskij erfuhr den zunehmenden Verlust seiner Statussicherheit als persönliche Krise. Seine seit 1931 schrittweise erfolgte Isolierung von der Parteiführung, die ihm ihre Protektion entzog, und seine Ersetzung durch jüngere Historiker und Ideologen veranlassten ihn zu panikartigen Reaktionen. An seiner Stelle in der Pravcfo-Redaktion wurde Lev Mechlis, den Jaroslavskij noch in einem Brief an seine Mitarbeiter im Oktober 1931 als wenig standhaften Genossen bezeichnet hatte, als leitender Redakteur eingesetzt. Mechlis hatte von 1924 bis 1930 als persönlicher Mitarbeiter Stalins im ZK-Sekretariat gearbeitet und war seit 1930 Leiter der ZK-Abteilung für Presse- und Verlagswesen. Mechlis' Karriere in der sowjetischen Presse machte einen weiteren Sprung, als er von Stalin am 12. Januar 1931 als Redaktionssekretär der Pravda eingesetzt wurde.324 Mechlis agierte von diesem Zeitpunkt an als einer der skrupellosesten Erfüllungsgehilfen Stalins. Auch die Redaktionen der geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften wurden von nun an weitgehend von Mechlis und dem Leiter der ZK-Abteilung fur Kultur und Propaganda, Steckij, kontrolliert. Mechlis und Steckij verkörperten einen vollständig anderen Typus eines Bolschewisten als Jaroslavskij. Sie waren am Institut der Roten Professur ausgebildet worden, und Mechlis hatte sich zwischen 1927 und 1930 als Mitglied der Parteizelle des Instituts profiliert.325 Zwar waren sich Jaroslavskij und Mechlis einig, dass Geschichtsschreibung parteilich zu sein habe, jedoch lassen sich in ihrer jeweiligen Praxis gravierende Unterschiede beobachten. Anhand von Jaroslavskijs historiographischer Tätigkeit und an seinem eigensinnigen Verhalten wurde deutlich, dass dieser sich autorisiert glaubte, den politischen Prozess und die offizielle Parteiideologie selbständig mitzugestalten. Er nahm sich als gleichberechtigtes Mitglied der „alten lenin323

Schreiben Kaganovics an Stalin vom 7.6.1932. F.558, op.ll, d.740, 1.22-29. Stalin i Kaganovic. Perepiska, S. 147. 324 Die Entscheidung des Politbüros über die Besetzung der /VaWa-Redaktion wurde von Stalin vorformuliert. F.17, op.163, d. 863,1.133. 325 Zu Mechlis siehe: Rubcov, Ju.: Alter ego Stahna. Stranicy politiceskoj biografii L.Z. Mechlisa, Moskau 1999; Bazanov: Vospominanija, S. 132-134.

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sehen Garde" und der stalinschen Führeroligarchie war. Jaroslavskij war aber nicht in erster Linie Stalin als Person verpflichtet, sondern war davon überzeugt, dass die von Stalin angeführte Gruppe, der er sich zugehörig fühlte, das „leninsche Erbe" im Gegensatz zu den anderen Fraktionen schützte und fortführte. Dem Ethos der jüngeren Historiker und Propagandisten wie Mechlis entsprach es, keine anderen Autoritäten außer Lenin und Stalin anzuerkennen; sie verstanden sich als verlängerter Arm der Parteiführung um Stalin und versuchten auf diese Weise, in der Hierarchie der Partei aufzusteigen. Insbesondere Mechlis war zu hundert Prozent ein Geschöpf Stalins. Jaroslavskij wurde durch Mechlis und andere ersetzt, weil Stalin und Kaganovic diese nach ihren Opportunitätsgesichtpunkten für verlässlicher, weniger nachgiebig und eigensinnig hielten.326 Jaroslavskij wurde sich zunehmend bewusst, dass sich die Hierarchien umkehrten. Schon im April 1931, also schon ein halbes Jahr vor der Veröffentlichung von Stalins „Brief', hatte Jaroslavskij ein Hilfegesuch an Stalin entworfen, an dem sich sein Bedrohungsgefühl und seine nervöse Verfassung ablesen lassen: Fridljand, Gorin, Tatarov und Lev Averbach mit dessen „Bande junger Karrieristen" fühlten sich durch seine Degradierung in der /Vaw/a-Redaktion berechtigt, ihn, Jaroslavskij, systematisch zu attackieren. Im Januar 1931 war Jaroslavskij in der Pravda auf den Status eines einfachen Redaktionsmitglieds herabgesetzt worden. Jaroslavskij hatte diesen Entwurf nicht abgeschickt327, wohl weil ihm der panische und ausfallende Ton nicht angemessen erschien und er vermutete, dass dieser ihm als Schwäche ausgelegt werden könnte. Zudem musste er auch annehmen, dass die Umkehrung der Hierarchien von oben gesteuert wurde. In einem Konflikt mit einem Redaktionsmitarbeiter der Pravda und des Bol'sevik, einem gewissen Nazarov im Dezember 1931, also infolge von Stalins „Brief an die Proletarskaja revoljucija, hatte Jaroslavskij schließlich gegenüber Mechlis vollkommen die Selbstbeherrschung verloren. Nazarov hatte Jaroslavskij, obwohl dieser Mitglied beider Redaktionen war, trotz mehrfachen Insistierens die Druckfahnen eines zur Publikation in der Pravda vorgesehenen Leitartikels N.N. Popovs erst zur Durchsicht zukommen lassen, als keine Korrekturen mehr möglich waren. In diesem Leitartikel wurde Jaroslavskij scharf kritisiert. Der Text wurde in der Pravda veröffentlicht und Jaroslavskij s Autorität so ein weiteres Mal öffentlich in Frage gestellt. Jaro-

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Einen guten Einblick über die Zusammenarbeit von Stalin und Kaganovic mit Mechlis, Steckij u.a. gibt die Korrespondenz zwischen Stalin und Kaganovic. Am 6.6.1932 schrieb, um ein Beispiel zu nennen, Kaganovic an Stalin: „Gestern habe ich Mechlis, Popov, Gronskij, Doleckij und Steckij ins ZK einbestellt. Ich habe ihnen Anweisungen bzgl. der Berichterstattung über die deutsche Regierung gegeben, im Geiste Ihres Telegramms. Heute gebe ich noch kategorischere Anweisungen, alles weitere werde ich genau überwachen!" Stalin i Kaganovic. Perepiska, S. 142. 327 Briefentwurf Jaroslavskijs an Stalin vom 31.4.1931. F.89, op.12, d.2, 1.138-144. Der Entwurf ist mit dem Vermerk „neotpravleno" versehen.

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slavskij hatte daraufhin gegenüber Mechlis Sanktionen gegen Nazarov gefordert und Mechlis implizit beschuldigt, ein solches Verhalten zugelassen, wenn nicht sogar gefordert zu haben. Nazarov habe derartig auftreten können, weil er wisse, dass man Jaroslavskij „ungestraft betrügen könne".328 In seiner Antwort, die das Ausmaß von Jaroslavskijs Autoritätsverlust und die Hierarchieverschiebungen in der Redaktion der Pravda deutlich macht, bezeichnet Mechlis Jaroslavskijs Beschwerde als „Resultat psychischer Probleme und nervöser Zustände".329 Jaroslavskij sah sich daraufhin gezwungen, seine Anschuldigungen zurückzunehmen.330 Er hatte gegenüber Mechlis sein Verhalten nicht kontrolliert und eine schmerzhafte Niederlage erlitten. Die Wirkung des Autoritätsverlusts auf Jaroslavskij beschreibt dessen Mitarbeiter S.A. Piontkovskij in einem Tagebucheintrag vom 3. Februar 1932: „Jaroslavskij selbst ist [durch das „Durcharbeiten"; S.D.] in einen solchen Zustand versetzt worden, dass er den Eindruck eines Menschen erweckte, der ein schweres psychisches Trauma erlitten hat, er wirkt nahezu wie ein Wahnsinniger. Und wirklich, es ist absurd und grotesk, dass man diesen Menschen, der im Wesentlichen den Kampf gegen Trotzkij geführt hat, vor der gesamten Partei (...) als trotzkistischen Kontrabandisten bloßstellt. Als ich bei ihm war, saß er in einem leeren Zimmer im Kabinet der ZKK, stützte den Kopf mit der Hand ab und sah mit einem irritierten Gesichtsausdruck aus dem Fenster. Am meisten erschütterte mich, dass er das Geschehene, den Prozess des „Durcharbeitens", nicht in der Lage war, auf eine theoretische Ebene zu heben. Er erklärte sich alles nur damit, dass Stalin aus Motiven persönlicher, nicht prinzipieller Art damit unzufrieden sei, dass ihm in der vierbändigen Parteigeschichte nicht die zentrale Rolle beigemessen werde."331

Piontkovskij s Kommentar ist interessant, weil er über die Wahrnehmung der Ereignisse aus der Perspektive der Zeitgenossen und wahrscheinlich auch über Jaroslavskijs Selbsteinschätzung Auskunft gibt. Demnach erschien ihm Jaroslavskijs Situation unerklärlich und grotesk. Der „Kampf gegen Trotzkij" wird allerdings keineswegs in Frage gestellt. Die Legitimität derartiger politischer Praktiken zweifelten weder Piontkovskij noch Jaroslavskij selbst in einer Situation grundsätzlich an, in der sich die Willkür Stalins und seiner Mitarbeiter nicht gegen vermeintliche politische Gegner, sondern gegen einen loyalen Mitstreiter richtete. Im Gegenteil beurteilte Piontkovskij gerade die Tatsache als besonders demütigend für Jaroslavskij, dass gerade dieser, obwohl er eine wesentliche Rolle bei der Ausschaltung der „Trotzkistischen Opposition" gespielt hat, mit Billigung der obersten Parteiführung als „trotz328 Schreiben Jaroslavskijs an Mechlis vom 29.12.1931. F.89, op.7, d.73,1.39-40. Jaroslavskij beendete seinen Brief mit den Worten: „Genösse Mechlis, ich würde geme denken, dass das lediglich eine Unstimmigkeit im Apparat ist, ein Missverständnis, eine Zufälligkeit. Sie haben mir gesagt, dass sich die Haltung zu mir nicht geändert hat. Das, was vorgefallen ist, kann ich nicht ohne Besorgnis hinnehmen. Ich bin sicher, dass solche Vorfälle in unserer gemeinsamen Arbeit nicht mehr vorkommen werden." (Hervorhebung im Original). 329 Schreiben Mechlis' an Jaroslavskij vom 29.12.1931. F.89, op.7, d.73,1.41. 330 Schreiben Jaroslavskijs an Mechlis vom 2.1.1932. F.89, op.7, d.73,1.42. 331 Central'nyj archiv SFB RF, d.P-8214, t.2, b/n. Zitiert nach: Artizov: M.N. Pokrovskij: final kar'ery, S. 139.

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kistischer Kontrabandist" bloßgestellt wurde. Dies hatte besonders Kaganovic in seiner einflussreichen Rede anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Instituts der Roten Professur getan. Hier zeigt sich, dass sich Jaroslavskij, und diese Einschätzung wurde offensichtlich von Piontkovskij geteilt, in einer Statussicherheit wähnte, die gerade auf seinen „Verdiensten" für die Stalinfraktion im Kampf gegen Trotzkij und seine Anhänger beruhte. Die „trotzkistischen Oppositionellen" gehörten sowohl für Jaroslavskij als auch für Piontkovskij einer anderen Ordnung an, so dass ein Vergleich mit diesen buchstäblich außerhalb des Denkbaren lag. Denn ein Vergleich des eigenen Schicksals mit dem Trotzkijs würde das Eingeständnis implizieren, dass es für Jaroslavskij keinen Platz mehr in der Partei geben könne. Mit den genannten „Verdiensten" begründete Jaroslavskij sowohl seinen Anspruch auf Autorität und Status, den auch Piontkovskij für gerechtfertigt hielt, sowie seinen Ehrbegriff. Seine Demütigung und Verunsicherung bestand nicht darin, dass er durch sein persönliches Missgeschick grundsätzlich an bestimmten politischen Praktiken zu zweifeln begann, sondern darin, dass er sich bewusst wurde, dass seine Überzeugung, sich durch seine „Verdienste" einen festen Platz in der stalinschen Oligarchie erworben zu haben, in der Stalin als der Erste unter Gleichen als Verteidiger des „leninschen Erbes" figurierte und lediglich eine herausgehobene symbolische Funktion bei der Repräsentation der Parteiführung in der Parteiöffentlichkeit und Bevölkerung einnahm, illusionär war. Jaroslavskij hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass Stalin sich eine wesentlich darüber hinausgehende Machtposition sichern konnte, ohne aber die Folgen einer solchen Politik angemessen abschätzen zu können. In der Folgezeit wurde Jaroslavskij beigebracht, dass Stalin und seine nähere Umgebung nach persönlichen Opportunitätsgesichtspunkten entscheiden konnten, an wen sie die wichtige Ressource Autorität verteilten. In der zweiten Hälfte des Jahres 1932 begann Jaroslavskij unter einem erheblichen Disziplinierungsdruck die neuen Spielregeln zu begreifen. Seine Verfasstheit lässt sich anhand eines in sehr emotionalem Ton formulierten Briefs an Ordjonikidze aus dem Sommer 1932 illustrieren. Darin bat er Ordjonikidze, mit dem er seit der gemeinsamen Verbannungszeit in Jakutsk in enger freundschaftlicher Beziehung stand, inständig, das über ihn verhängte Publikationsverbot aufzuheben und die Wiederauflage seines zweibändigen Lehrbuchs, des Kratkij ucebnik, zu ermöglichen. Jaroslavskij hielt die Wiederauflage des Lehrbuchs für ein wichtiges Signal an seine Kritiker, das seine Akzeptanz durch die Parteiführung hätte belegen und seine Autorität wiederherstellen sollen. Den Grund für seine Marginalisierung führte er auch weiterhin nicht auf selbst begangene Fehler zurück, sondern stilisierte sich als Opfer von Intrigen einiger „Karrieristen" - namentlich nennt er Mechlis,

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Krinickij, Tal', Bubnov, Popov und Kostko - , die auf seine Kosten ihren Aufstieg organisiert hätten.332 Mechlis hatte offensichtlich infolge der oben genannten Auseinandersetzung mit Jaroslavskij das Gerücht gestreut, Jaroslavskij leide unter Nervenschwäche und Depressionen und verliere den Mut sowie den Glauben an die Partei. Zudem hatte er den Leitartikel der Pravda vom 8. August 1932 über den 6. Parteitag sanktioniert - der Parteitag war vom 8.-16. August 1917 direkt nach der Niederschlagung des Juli-Aufstands abgehalten worden. In dem Artikel wurde behauptet, Jaroslavskij habe 1917 nicht an das russische Proletariat, an die Möglichkeit einer sozialistischen Revolution und den Sieg der Bolschewiki geglaubt. Auf dem Parteitag sei, so der Autor des Artikels, das Potential für spätere Abweichungen von der Parteilinie schon deutlich hervorgetreten. Jaroslavskij, der gegen Stalin aufgetreten sei, wird in diesem Zusammenhang in einem Atemzug mit den vermeintlichen Prototypen der „rechten" und „linken Abweichung" Bucharin und Preobrazenskij genannt.333 Diese gegen Jaroslavskij gerichteten Behauptungen waren schwerwiegend, denn sie unterstellten ihm nicht lediglich inhaltliche und taktische Fehler, sondern Schwäche und Wankelmütigkeit und stellten damit seine Eignung als Bolschewist sowie seinen Glauben an den Sieg des Kommunismus in Frage. Jaroslavskij war die Bedeutung derartiger Vorwürfe bewusst: Er selbst hatte in einem Artikel über den Selbstmord des populären Weggefahrten Trotzkijs Adol'f Ioffe im Jahr 1927 in ähnlicher Weise einen Zusammenhang zwischen depressiven Zuständen bzw. „Psychosen" und politischer Unentschiedenheit hergestellt. Die „Nervenschwäche" Ioffes erscheint in dieser Argumentation lediglich als Symptom eines vollständigen Verlusts der ideologischen Orientierung und eines hoffnungslosen Pessimismus.334 Mechlis' Behauptungen wirkten zudem allein durch die Tatsache, dass sie ungestraft geäußert werden konnten, als deutliche Signale, dass Jaroslavskij von der Parteiführung ausgeschlossen war. Jaroslavskij s revolutionäre Biographie, die Gegenstand seines Ehrbegriffs war, stand nicht mehr unter dem Schutz der Oligarchen. Ihm wurde hierdurch erneut das symbolische Kapital entzogen, das andere verpflichtete, ihn zu respektieren. Jedoch geht aus dem Brief an Ordzonikidze auch deutlich hervor, dass Jaroslavskij wusste, dass das Verhalten seiner Kritiker von den Mitgliedern des Politbüros seit seinem definitiven Ausschluss aus der PraWa-Redaktion 332

Brief Jaroslavskij s an Ordzonikidze (undatiert, ca. August 1932). F.85, op.29, d.452, 1.1-13. 333 S-ezd boevoj podgotovki k oktjabiju, Pravda, 8.8.1932, S. 1. Jaroslavskij war auf der 6. Parteikonferenz tatsächlich gemeinsam mit anderen Delegierten aus Moskau gegen Stalin aufgetreten. Er hatte Stalins Bericht über die politische Situation kritisiert und insbesondere die darin enthaltene Forderung nach der Rücknahme der Losung „Alle Macht den Sowjets". Jaroslavskij hatte sich auch geweigert, in der Schlichtungskommission mitzuarbeiten. Protokol VI s-ezda RSDRP(b.) 26 iunja - 3 avgusta 1917 goda, Moskau, Leningrad 1954, S. 123-124, 125, 147. 334 Jaroslavskij, Em.: Filosofija upadocnicestva, in: Bol'sevik, 1927, no. 23/24, S. 135-144.

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zumindest zugelassen, wenn nicht sogar gefordert wurde. Auf die möglichen Beweggründe der Politbüro-Mitglieder, die fur seine Marginalisierung relevant sein könnten, ging er jedoch aus wohlverstandenem Eigeninteresse gegenüber Ordjonikidze nicht ein. Aus Piontkovskijs Tagebucheintrag können wir aber entnehmen, dass er im Winter 1931/32 Stalins persönliche Eitelkeit für seine Situation verantwortlich machte. Gegenüber Ordzonikidze versuchte Jaroslavskij, seine drohende Entfernung aus der Parteiführung mit einem Treuebekenntnis abzuwenden, das aber auch sehr deutlich macht, dass er wusste, wer über seine weiteren Geschicke zu entscheiden hatte: „(...) Lasst es nicht zu, dass ich ungerechtfertigt gequält werde, und gebt mir die Möglichkeit zu arbeiten, wie ich bisher gearbeitet habe. Ich habe darüber auch Stalin geschrieben, mit Vorosilov gesprochen und Kaganovic um einen Gesprächstermin gebeten. Ich möchte nicht die kleinste Entfremdung, möchte keine Missverständnisse anhäufen. Ich habe in diesem Jahr mehr gelitten als in vielen anderen Jahren, bin um Jahre gealtert. Aber alles, was mir bleibt, gehört der Partei."335

Jaroslavskijs Bitte, sein zweibändiges Lehrbuch wieder veröffentlichen zu dürfen, wurde am 1. September 1932 durch eine Entscheidung des Politbüros stattgegeben. Schon am Folgetag konnte er Stalin das überarbeitete Manuskript zur Korrektur vorlegen.336 Nach zähen Verhandlungen und unter der Kontrolle einer Kommission des ZK, die sich aus Stalin, Kaganovic, Steckij und Postysev zusammensetzte, ging das Lehrbuch 1933 in den Druck.337

10. Zusammenfassung: Kulturrevolution Die Umbrüche in der Zeit des ersten Fünflahrplans, denen Jaroslavskijs Ambitionen zum Opfer fielen, sind von Stalin und seinen Zeitgenossen als Velikij perelom, als Großer Umbruch, bezeichnet worden. Dieses Konzept einer von der Parteiführung eingeleiteten und kontrollierten Revolution „von oben" ist unter anderen politischen Vorzeichen von den Historikern und Politikwissenschaftlern geteilt worden, die ihre Forschungen am Totalitarismusmodell orientierten. Seit den späten 1970er Jahren sind die Umbrüche von 1928 bis 1932 mit dem von Sheila Fitzpatrick geprägten Begriff „Kulturrevolution" diskutiert worden. Fitzpatrick konzipierte den „Großen Umbruch" als Revolution „von unten" und als relativ abgeschlossene Periode, in der sich die in der bolschewistischen Partei sowie in der Gesellschaft existierenden 335

Brief Jaroslavskijs an Ordzonikidze (undatiert, ca. August 1932). F.85, op.29, d.452, 1.1-13, hier 1.13. 336 Entscheidung des PB vom 1.9.1932. F.17, op.3, d.898, 1.5. Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 2.9.1932. F.89, op.12, d.2,1.227,1.229-230. 337 Schreiben Jaroslavskijs an den Redakteur des Staatsverlags Konjaev vom 4.5.1933. F.89, op.8, d.814, 1.46. Zu den Verhandlungen Jaroslavskijs mit Stalin, Kaganovic und Steckij siehe: F.89, op.8, d.827 u. d.828, 1.24-32. F.89, op.12, d.l, 1.51. Negative Besprechungen des Lehrbuchs. F.89, op.8, d.828,1.24-32.

10. Zusammenfassung: Kulturrevolution

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Spannungen in Form von Generationskonflikten, d.h. als Kampf junger radikaler Kommunisten gegen die älteren „Spezialisten" aber auch gegen ältere Bolschewisten, entluden.338 Dieses Paradigma ist in neueren kulturgeschichtlichen Arbeiten, insbesondere von Katerina Clark, Barbara Walker und Michael David-Fox, aufgrund seiner Eindimensionalität und seines traditionellen Machtbegriffs kritisiert worden. Diese Autoren sehen die Ereignisse, die Fitzpatrick als „Kulturrevolution" bezeichnet, nicht als Bruch, sondern eingebettet in längerfristigen Prozessen, kulturell bedingten sozialen Praktiken und Denkweisen. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch eine relationale Herangehensweise aus, d.h. sie versuchen, soziale und politische Praktiken mit der Vorstellungswelt der historischen Akteure zu verknüpfen. Die Slavistin Katerina Clark konzeptualisiert die zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Etablierung stalinistischer Kultur beobachtbaren Veränderungen als eingebettet in ein komplexes kulturelles System, das sie mit der Metapher des Ökosystems bezeichnet.339 Barbara Walker hält die in den Zirkeln der russischen intelligencija übliche soziale Praxis der Patronage sowohl für das Denken der jeweiligen Akteure, insbesondere für ihre antikapitalistischen Grundhaltung, als auch für das in den 1930er Jahren herrschende Verhältnis zwischen der künstlerischen und literarischen Intelligenz und den bolschewistischen Machthabern für konstitutiv. Michael David-Fox untersucht die Zusammenhänge zwischen dem Aufbau und der Institutionalisierung der bolschewistischen höheren Bildungseinrichtungen und dem bolschewistischen Konzept von „Kulturrevolution" sowie die politische und begriffliche Dynamik, die durch die Interaktion unterschiedlicher Akteursgruppen entstand.340 Eine solche vernetzte, relationale Betrachtungsweise kann dazu beitragen, drei wichtige Erscheinungen der „Kulturrevolution", die von den meisten Kommentatoren als Widerspruch wahrgenommen wurden, besser zu verstehen. Zunächst zu den drei „Widersprüchen": David Joravsky hat die Beobachtung, dass die bolschewistische Führung einerseits „von oben" einen radikalen Aufbruch in die Moderne einleitete, gleichzeitig aber eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft in autonome Wertsphären und funktionale Bereiche delegitimierte, als zentrales Paradoxon der „Kulturrevolution" bezeichnet.341 Dieser Befund orientiert sich an einem idealtypischen Modell von Moderni338

Fitzpatrick entwickelte ihr Konzept der „Kulturrevolution" in ihren beiden Beitragen „Editor's Introduction" und „Cultural Revolution as Class War" für den von ihr herausgegebenen Sammelband: Cultural Revolution in Russia, 1928-1931, Bloomington 1978, S. l^tO, insbesondere S. 2, 8-12. 339 Clark·. Petersburg, S. 1-28. 340 Walker. Intelligentsia Social Organization; dies.'. Kruzkovaja kul'tura; David-Fox: Revolution of the Mind; ders.: What is Cultural Revolution?, in: Russian Review 58 (1999), S. 181-201; Fitzpatrick: Cultural Revolution Revisited; David-Fox, Michael.· Mentalité or Cultural System: A Reply to Sheila Fitzpatrick, in: Russian Review 58 (1999), S. 210-211. 341 Joravsky, David: The Construction of the Stalinist Psyche, in: Cultural Revolution in Russia, 1928-1931, hrsg. v. Sheila Fitzpatrick, Bloomington 1978, S. 105-128, S. 106-107.

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

sierung, das Max Weber am Beispiel westeuropäischer Gesellschaften entwickelt hat. Für Weber war die Ausdifferenzierung in und die Autonomie von Wertsphären ein wesentliches Merkmal für die Entwicklung der bürgerlichen Moderne.342 Auch Pierre Bourdieu versteht den von ihm entwickelten Feldbegriff in Anlehnung an das webersche Modell, interessiert sich aber stärker fur die Exklusionsmechanismen in solchen Ausdifferenzierungsprozessen.343 Der Vorteil eines Vergleichs der sowjetischen Entwicklungen mit einem westlichen idealtypischen Modell ist, dass uns ein solches Verfahren auf eine interessante Differenz aufmerksam macht; ein Nachteil könnte sein, dass wir im sowjetischen Kontext nach am westlichen Modell entwickelten Phänomenen suchen, die dort keine Bedeutung haben und dass das, was uns als Widerspruch erscheint, möglicherweise nur vor dem Hintergrund westlicher Modelle als Widerspruch und möglicherweise auch als defizitäre oder pathologische Entwicklung wahrgenommen wird.344 Der zweite vermeintliche Widerspruch, der in der Forschung konstatiert wurde, den man aber vielleicht eher als Missverhältnis zwischen Intention und Ergebnis auf Seiten der historischen Akteure bezeichnen müsste, besteht darin, dass der virulente Angriff „von unten" auf etablierte Autoritäten und eine Ausweitung der Parteiöffentlichkeit in eine zunehmende Zentralisierung der Macht und schließlich in den Stalinkult mündeten. Ein weiteres erklärungsbedürftiges Missverhältnis soll hier noch ergänzt werden, nämlich dass sich die gemeinschaftsorientierten Vorstellungen von Politik, die Jaroslavskij mit vielen Altbolschewisten teilte, Isolation bzw. „Atomisierung", um einen Begriff aus der Totalitarismusdiskussion zu verwenden, nach sich zogen. Jaroslavskij war zu Beginn der 1930er Jahre zum Opfer von Herrschaftsformen geworden, die er selbst aktiv mitgeschaffen hatte. Es schließt sich die Frage an, warum diese Herrschaftstechniken mit der aktiven Unterstützung Jaroslavskij s entstanden, obwohl ihre Anwendung nicht im Interesse der Akteure lag? Hier soll die These vertreten werden, dass sowohl Jaroslavskij s gemeinschafitsorientierte Vorstellungen von Politik als auch die diesen Vorstellungen zuwiderlaufende Fragmentierung in den personalen Beziehungen begründet liegen, die in dem Feld vorherrschten, in dem Jaroslavskij agierte. Sein drastischer Autoritätsverlust um die Jahrzehntwende kann auf drei Gründe zurückgeführt werden, die aber eng miteinander verknüpft sind. 342

Weber, Max: Vorbemerkung zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, in: ders:. Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Stuttgart 1973, S. 340-356; Weber, Max: Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist, in: Ebenda, S. 357-382. 343 f ritsch, Philippe: Einfuhrung, in: Pierre Bourdieu'. Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 27; Bourdieu: Ebenda, S. 41. 344 Zur Problematik der Übertragung von im westeuropäischen Kontext entwickelten Deutungsfiguren auch in neueren kulturgeschichtlichen Arbeiten zur russischen und sowjetischen Geschichte siehe: Engelstein: Paradigms.

10. Zusammenfassung: Kulturrevolution

269

1. Die personalen Netzwerke und Patronagebeziehungen, in die Jaroslavskij eingebunden war und die er selbst mitaufgebaut hatte, waren in sich labil, weil ihr Zusammenhalt nicht durch formale Regeln, sondern einerseits von emotionalen Gesichtspunkten wie persönlichem Vertrauen und Misstrauen abhing, andererseits aber die Mitglieder der einzelnen Gruppen ihre spezifischen Interessen verfolgten, die eine zentrifugale Wirkung entfalten konnten. Das Eingehen von Allianzen oder Patronagebeziehungen war eine unabdingbare Voraussetzung, wenn eine Person bestimmte Interessen vertreten wollte wie z.B. die Absicherung der eigenen Autorität oder des Zugangs zu Publikationsmöglichkeiten. In den 1920er Jahren verfügte Jaroslavskij noch über eine erhebliche politische Autorität. Das Ausmaß der Autorität einer Person war für andere nicht anhand von Kriterien ökonomischer und formalrechtlicher Art oder anhand einer demokratischen Legitimation zu bestimmen, sondern durch die symbolische Präsenz dieser Person erfahrbar. Die symbolische Präsenz einer Person wurde von den Zeitgenossen als Protokoll ihres Integrationsgrades in die Gruppe gelesen, die über die Verteilung der Ressource Autorität verfugte. Jaroslavskij konnte seine Autorität und seinen politischen Einfluss im Laufe der 1920er erheblich steigern. Ein deutliches Zeichen dafür war, dass er zu den Autoren gehörte, die Stalin anlässlich seines fünfzigsten Geburtstags im Dezember 1929 in der Pravda als neuen Führer vorstellten, und er sich somit als Mitglied von dessen engster Gefolgschaft präsentierten konnte. Jaroslavskij akkumulierte als Mitglied der jeweiligen Mehrheitsfraktionen des ZK unterschiedliche kontrollierende Funktionen im Feld der Ideologieproduzenten; er konnte daher über die symbolische Präsenz und Autorität anderer entscheiden sowie eigene Allianzen und Patronageverhältnisse aufbauen. Im Kontext dieser personalen Beziehungsgeflechte hatte die Parteigeschichte eine wichtige Bedeutung. Wir haben festgestellt, dass Jaroslavskij s Aufstieg in den 1920er Jahren untrennbar mit dem Aufstieg der Stalin-Fraktion verknüpft war, dieser Aufstieg war auch das Thema seiner parteigeschichtlichen Texte. Für Jaroslavskij hatte Historiographie eine doppelte Funktion: Zunächst diente die Konstruktion der Parteigeschichte mit ihren beiden Polen des „Leninismus" und des „Trotzkismus" dazu, den Herrschafitsanspruch der Gruppe, der sich Jaroslavskij aus verschiedenen Gründen zugehörig fühlte, zu legitimieren. Desweiteren war die Parteihistoriographie eine Form des Schreibens über sich selbst, d.h. eine Form der Identitätskonstruktion durch Selbstintegration in bestimmte Ereignisse oder Gruppen. Die Parteigeschichte stellte fur Jaroslavskij ein Medium dar, mit dem er versuchte, seine revolutionäre Erfahrung, die als Form von Kapital aufgefasst werden kann, zu objektivieren. Seine Texte über Parteigeschichte können folglich als Objektivierung des von Jaroslavskij akkumulierten Kapitals bezeichnet werden. In den Kämpfen um die Genealogie des Bolschewismus und um die Bedeutung einzelner revolutionärer Ereignisse ging es den betei-

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IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

ligten Akteuren darum, ihre Vorstellungen von der eigenen revolutionären Vergangenheit als Parteigeschichte kanonisieren zu lassen. Historiographie hatte für Jaroslavskij keinen autonomen Wert: Seine historiographische Tätigkeit war ein Mittel, um sich als Bolschewist und Historiker zu positionieren; sie stellte ein symbolisches Kapital dar, mit dessen Einsatz Jaroslavskij versuchte, die Position des maßgeblichen Parteiintellektuellen in der bolschewistischen Führung einzunehmen, um durch diese Positionierung „Zugang zu den Mitteln der legitimen Manipulation der Weltsicht"345 zu erhalten. 2. Die personalen Beziehungen wurden durch eine Dynamisierung der politischen Verkehrsformen, die Jaroslavskij, ohne sich der Wirkung seines Handelns bewusst zu sein, mitgefördert hatte, noch zusätzlich destabilisiert. Jaroslavskij s historiographische und ideologische Texte waren nicht nur ein Mittel zur Allianzbildung, das den Zusammenhalt der Gruppe fordern sollte, sondern schrieben sich auch mit der Konstruktion des „Trotzkismus" und der Figur des dvurusnik in einen sehr wirksamen Ausschließungsdiskurs und die entsprechenden Praktiken ein. Die so konstruierten Etikettierungen fanden auch in der politischen Praxis des „Durcharbeitens" (prorabatyvat ') Verwendung. Diese politische Praxis folgte sowohl dem Vorbild der in der ZKK im Kontext der Auseinandersetzungen der Stalin-Gruppe mit der innerparteilichen Opposition kultivierten Befragungspraktiken als auch dem Vorbild der von Jaroslavskij mit so großem Eifer geforderten „Kritik und Selbstkritik"Kampagnen, die eine Kritik „von unten" begünstigen sollten. Über diese organisierten Formen der politischen Auseinandersetzung und Kontrolle ließen sich unter negativen Vorzeichen wiederum Allianzen herstellen. Jaroslavskij s Autorität wurde zunehmend von der Parteiöffentlichkeit bedroht, die er selbst gefördert hatte, ohne sie aber auch nur in seinem Wirkungskreis kontrollieren zu können. Nur in diesem konfliktanfalligen Zusammenhang wird verständlich, warum die Signale „von oben" eine solche destruktive Resonanz erfuhren und die einzelnen professionellen Felder keine verlässlichen Funktionsregeln bzw. Schutzmechanismen entwickeln konnten. Die öffentliche Diskreditierung einer Person oder Gruppe konnte die Position einer anderen wesentlich verbessern, wodurch für die einzelnen eine panoptische Situation des Ständig-beobachtet-werdens entstand. Die engere Führungsgruppe um Stalin konnte deswegen ihre Machtposition stärken, weil Interventionen „von oben" immer häufiger „von unten" provoziert wurden und sich so das Privileg der Ressourcenverteilung bzw. der Gewährung und Absicherung von Autorität zunehmend auf Stalin selbst und seine unmittelbare Umgebung konzentrierte. Indem die konfligierenden Gruppen und Personen an Stalin appellierten, stützten sie nicht nur seinen Herrschaftsanspruch, sondern auch sein Recht, als Ankläger aufzutreten.

345

Bourdieu: Das politische Feld, S. 20.

10. Zusammenfassung: Kulturrevolution

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3. Jaroslavskij und Stalin hatten unterschiedliche Vorstellungen von Autorität. Jaroslavskij begründete seinen Anspruch mit seinen Verdiensten als Revolutionär und mit seinem Einsatz für die Stalin-Fraktion in ihrem Machtkampf gegen die innerparteiliche Opposition. Durch diese „Verdienste", die er auch versuchte in seinen parteigeschichtlichen Texten zu dokumentieren und zu objektivieren, glaubte er, eine feste Herrschaftsposition in der bolschewistischen Führung und das Anrecht auf Protektion durch die mächtigsten Personen in der Patronageoligarchie erworben zu haben. Als Mitglied des Präsidiums der ZKK und als Sekretär ihres Parteikollegiums verschaffte ihm sein Rang und die Reputation der von ihm repräsentierten Institution eine illusionäre Statussicherheit. Zudem kultivierte Jaroslavskij die Illusion, in bestimmten Zuständigkeitsbereichen berechtigt zu sein, eigene Regeln aufzustellen sowie eigene Klientelbeziehungen und Protektionsverhältnisse zu unterhalten. Aus der Perspektive Stalins, Kaganovics und Molotovs hatte Jaroslavskij durch seine Eigenmächtigkeiten versäumt, sich ausschließlich nach der Logik des einen politischen Feldes zu verhalten. Die geltende Logik der darin stattfindenden Interaktionen war die eines hierarchischen von Stalin und seiner unmittelbaren Umgebung nach persönlichen Opportunitätsgesichtspunkten gelenkten Kaderpools, der sich vielleicht mit der Metapher eines Fadenbündels beschreiben lässt, da stabile Verknüpfungen auf der horizontalen Ebene gerade unterbunden werden sollten.346 Jaroslavskijs Manövrieren von Beginn der 1930er Jahre an beruhte darauf, dass er diese neuen Regeln nicht verstand und immer wieder versuchte, Protektion „von oben" einzufordern. Seine Krise begann in dem Moment, als ihm klar wurde, dass er auf Stalins und Kaganovics Protektion nicht mehr zählen konnte. Wie diagnostizierte Jaroslavskij seine Situation? Es wurde gezeigt, dass er sein Scheitern mitnichten auf grundsätzliche Funktionsweisen bzw., wenn man es negativ wendet, auf grundsätzliche Dysfunktionalitäten des Systems zurückführte, die uns aus heutiger Sicht so wesentlich erscheinen, sondern auf persönliche Eigenschaften, Verfehlungen oder Charakterschwächen seiner Gegenspieler, die meist einer jüngeren Generation angehörten und daher andere Interessen vertraten, aber auch auf die persönliche Eitelkeit Stalins. Er rationalisierte seine Situation in einer Art und Weise, die ihm die innere Logik des Beziehungsgeflechts, in dem er sich bewegte, nahelegte und dessen Zusammenhalt von persönlichen Beziehungen und emotionalen Kriterien wie Vertrauen oder Misstrauen abhing. An Jaroslavskijs Beispiel kann gezeigt werden, in welchem Maße die in einem bestimmten Milieu geltenden Modi der Interaktion und die dadurch zustandekommenden Erfahrungen auch das Denken der Akteure bestimmten und dieses Denken seinerseits die Modi der Interaktion immer wieder reproduzierte bzw. dynamisierte. Der in unserer 346

Zu Stalins Idealvorstellungen von Organisation siehe: Ree, Erik van: The Political Thought of Joseph Stalin. A Study in Twentieth-Century Revolutionary Patriotism, London, New York 2002, S. 156-157.

272

IV. Ideologieproduktion als politische Praxis

Untersuchung verwendete Kapitalbegriff akzentuiert zwar die Instrumentalit y von Handlungen; anhand von Jaroslavskijs Tätigkeit als Parteihistoriker konnten wir jedoch feststellen, dass Instrumentalität von Handlungen und Überzeugungen häufig kaum trennbar miteinander verwoben waren. In den von ihm verfassten vospominanija und in seinen parteihistorischen Texten reproduzierte Jaroslavskij genau die eben genannten Vorstellungen vom Menschen sowie von sozialen und politischen Beziehungen, von deren grundsätzlicher Angemessenheit er überzeugt war, auch wenn er nicht an die Richtigkeit aller „faktischen" Details seiner Erzählungen glaubte. Jaroslavskij und seine Genossen hatten zwar eine sehr genaue, angelesene Vorstellung von ökonomischen Unterdrückungsmechanismen und nahmen sich selbst als Instrumente der Geschichte wahr; sie hatten aber keine Vorstellungen von sich selbst bzw. von den Mechanismen, die ihre Handlungsfreiheit einschränkten.347 Wir werden sehen, dass das Schreiben in den 1930er Jahren die einzige, wenn auch eingeschränkte Handlungsmöglichkeit war, die Jaroslavskij blieb.

347

David Joravsky macht darauf aufmerksam, dass die führenden russischen marxistischen Theoretiker keine Vorstellung von menschlicher Selbstverwirklichung (self-realisation) und einem „authentischen Mensch-Sein" entwickelten. Joravsky, David: Russian Psychology. A Critical History, Oxford, Cambridge 1989, S. 182-200.

V. Stalinkult und Identität 1. Der Kampf um Stalin Jaroslavskij reagierte auf seine Marginalisierung nach anfänglichen Widerständen mit einer zunehmenden Textproduktion über Stalin. Das Schreiben über Stalin wurde für ihn seit 1933 zur einzigen Handlungsmöglichkeit und zum Mittel, mit dem er versuchte, seine Reintegration in die Parteispitze zu erreichen. Im Laufe der 1930er Jahre sollte er zu einem der eifrigsten und prominentesten Produzenten des Stalinkults werden. In dem Moment, als die von Jaroslavskij vorgestellte Patronageoligarchie aufhörte zu funktionieren und er schutzlos wurde, begann er in seinen Texten eine hyperbolische, ideale Patronageoligarchie mit Stalin an der Spitze zu konstruieren. Mitte der 1930er Jahre sollte er sich schließlich nicht nur als Stalinkultproduzent erweisen, sondern auch mitunter als Zensor, der die öffentliche Darstellung Stalins kontrollierte.1 Jaroslavskij hatte schon 1929 zu den 13 ausgewählten Autoren gehört, die Stalin aus Anlass seines 50. Geburtstags am 21. Dezember in der Pravda huldigten.2 Sein Artikel zeichnet sich jedoch im Vergleich zu denen der anderen Autoren in der Lobpreisung Stalins durch eine relative Zurückhaltung aus; er war neben Nikolaj Popov der einzige, der Stalin nicht als vozd' bezeichnete. Dafür war über die Hälfte seines Beitrags den vermeintlichen verräterischen Machenschaften Trotzkijs gewidmet.3 Das Schreiben über Stalin war zwar auch hier schon ein symbolischer Akt der Statusmarkierung im bolschewistischen Herrschafìtsgefìige, doch agierte Jaroslavskij 1929 noch aus einer Position der Statussicherheit. Durch seine aktive Mitwirkung am Kampf der Stalin-Fraktion gegen die unterschiedlichen oppositionellen Gruppen konnte er sich als legitimes Mitglied der neuen Führungsgruppe wahrnehmen.

1 So hatte z.B. der 1935 verhaftete Altbolschewist Karapetjan in einem Verhör ausgesagt, der Autor der populären Biographie über den kaukasischen bolschewistischen Banditen Kamo, der georgische Altbolschewist V.E. Bibinejsvili sei gezwungen worden, die Parteigeschichte zu verfälschen, indem er einen Zusammenhang zwischen Stalin und Kamo habe herstellen müssen. Kamo hatte 1907 bei einem von Leonid Krasin organisiertem Bankraub in Tiflis 250.000 Rubel erbeutet, die zur Finanzierung der Partei genutzt wurden. Dieser Bankraub machte Kamo zu einer legendären Figur. Die verantwortlichen Zensoren von Bibinejsvilis Buch seien Jaroslavskij, Ordjonikidze und Orachelasvili gewesen. Sucharev, S.V.: Licedejstvo na poprisce istorii (Berija - apologet kul'ta licnosti Stahna), in: Voprosy istorii KPSS, 1990, H. 3, S. 102-11, hier S. 107. 2 Die anderen Beiträge schrieben K. Vorosilov, D. Manuilskij (Komintern), O.V. Kuusinen (Komintern), L. Kaganovic, M. Kalinin, G. Ordzonikidze, A. Enukidze, V. Kujbysev, G. Krumin, A. Bubnov, Ν. Popov, A. Mikojan und V. Adoratskij. Diese Artikel wurden später in einer Festschrift zusammengefasst, die in einer Auflagenhöhe von 300.000 Exemplaren verbreitet wurde. 3 Hierzu siehe: Heizer. Cult of Stalin, S. 81-98.

274

V. Stalinkult und Identität

Die wissenschaftliche Literatur über den Stalinkult kann überzeugend zeigen, dass die Kampagne vom Dezember 1929 in einem anderen Kontext steht und andere Ziele verfolgte als die 1933/34 massiv einsetzende Kultproduktion. Erstere wurde in kurzatmiger Manier erst einige Tage vor Stalins 50. Geburtstag initiiert und diente offensichtlich dazu, den Jubilar, der bis dahin nur selten in der Presse hervorgetreten und der Bevölkerung folglich nicht sehr präsent war, und seine siegreiche Gefolgschaft als neue Führungsmannschaft vorzustellen.4 Bis 1929 gab es keine offiziellen Lobpreisungen Stalins. Möglicherweise war Jaroslavskij als Mitglied des Redaktionskollegiums der Pravda und des Präsidiums der ZKK einer der Initiatoren der Kampagne.5 Der Kampagnencharakter wird auch anhand der Tatsache deutlich, dass die Stalin-Verehrung in der Presse und in anderem publizierten Material unmittelbar nach Stalins 50. Geburtstag aufhörte. 1933/34 setzte eine massive Kultproduktion ein, die bisher, auch nach Öffnung der Archive, weder auf ein bestimmtes Ereignis, noch auf eine zentrale Direktive zurückgeführt werden konnte. Die Tatsache, dass bisher kein solches Dokument gefunden wurde, soll nicht bedeuten, dass es eine solche Direktive nicht gibt. Es ist lediglich zu bezweifeln, ob ein derartiger Fund, d.h. der Beweis dafür, dass der Stalinkult als Herrschaftsinstrument zentral organisiert wurde, unsere Kenntnisse über das Funktionieren stalinistischer Herrschaft erweitern würde. Dass Stalin die strukturelle Machtfunktion im Kultsystem innehatte und jederzeit eingreifen konnte, wenn er es für notwendig hielt, ist z.B. von Jan Plamper in seiner Arbeit über den Stalinkult in der bildenden Kunst auch ohne den Nachweis einer zentrale Direktive gezeigt worden.6 Ein solches zentrales Dokument gäbe zudem keine Auskunft über die Motive und Eingebundenheit in kulturelle Muster deijenigen, die durch ihre schreiberische oder künstlerische Tätigkeit aktiv an der Entfaltung des Kults beteiligt waren. In der vorliegenden Untersuchung sowie in anderen neueren Studien wird der Stalinkult als Ergebnis sozialer Prozesse verstanden, deren Eigenschaft es ist, weder einen absoluten Anfang noch ein absolutes Ende zu haben.7 Die folgenden Ausführungen verstehen sich insofern als

4

Ennker. Politische Henschaftund Stalinkult, S. 162-163; Heizer. Cult of Stalin, S. 99-132. Für eine Beteiligung des Präsidiums der ZKK an der Organisation der Kampagne spricht, dass auf der Politbürositzung vom 20.12.1929 eine „von einer Gruppe von Mitgliedern des Zentralkomitees und des Präsidiums der Zentralen Kontrollkommission" vorgelegte Grußadresse einstimmig angenommen und zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Ennker. Politische Herrschaft und Stalinkult, S. 162. 6 Plamper. Stalin Cult in the Visual Arts, S. 36-70. Jörg Baberowski hat jüngst die Vorstellung, dass der Fund zentraler Dokumente unser Bild vom Stalinismus wesentlich ändern könnte, als Illusion bezeichnet und stattdessen eine größere Kreativität in der Deutung von Archivmaterial und der Entwicklung neuer Fragen und Forschungsmethoden gefordert. Baberowski: Arbeit an der Geschichte, S. 40. 7 Siehe z.B.: Plamper. Stalin Cult in the Visual Arts; £n«fer:„Struggling for Stalin's Soul"; Dahlke: Emelian Iaroslavski. 5

1. Der Kampf um Stalin

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Ergänzung zur Stalinkult-Forschung, als dass sie am Beispiel Jaroslavskij s zu zeigen versuchen, welche Funktion der Kult für die Kultproduzenten hatte. Für die Motive und Verhaltensformen der Kultproduzenten hält die Forschung unterschiedliche Erklärungen bereit. Robert Tucker interpretiert in seinen einflussreichen Arbeiten den Kult psychohistorisch als von Stalin gesteuertes Instrument, mit dem der Diktator versucht habe, sein schwaches Selbstwertgefühl zu kompensieren. Da Tucker sich auf die vermeintlich pathologische Persönlichkeit Stalins konzentriert, werden mögliche Motive der Kultproduzenten in seiner Studie vernachlässigt. Implizit unterstellt er ihnen aber - wie häufig in älteren, nicht auf Archivmaterial fußenden Arbeiten8 - zynisches Machtstreben und Angst vor Repressionen. Reinhard Löhmann leitet die Disposition zu einer „irrationalen Bindung an Führerpersönlichkeiten" aus der bäuerlichen Sozialisation und der mangelnden formalen Bildung her, die er für die meisten Kultproduzenten - auch für Jaroslavskij festzustellen meint.9 Benno Ennker hingegen versucht, die Entstehung des Kults um Stalin im „sozio-kulturellen Milieu seiner Gefolgschaftsgruppe zu ermitteln". Er vertritt die These, Stalin habe durch eine Strategie des Vertrauens und Misstrauens die Bildung von autonomem Interessengruppen unterbinden können und auf diese Weise seine Gefolgsleute in eine Situation versetzt, in der jeder einzelne in einem „Kampf um Stalins Seele" um sein Überleben gekämpft habe. Stalin habe so gegen 1933 die absolute Macht über seine engere Gefolgschaft erlangen können.10 Jan Plamper zeigt in seiner Arbeit über den Stalinkult in der bildenden Kunst, wie der Kult durch die Interaktion der Akteure miteinander entstand und versucht so, den Kult zu demystifizieren und zu historisieren." Das Problem an den Deutungen Tuckers und Löhmanns ist, dass sie den Stalinkult als etwas Irrationales bzw. Psychopathologisches betrachten, das sich einer rationalen Erklärung entzieht. Die Tatsache aber, dass eine Handlung oder ein Verhaltensmuster für den Historiker aus seiner Zeitgebundenheit heraus zunächst nicht gleich verstanden werden, heißt nicht zwingend, dass diese irrational sind. Um sich der Binnenrationalität des Verhaltens und Handelns der Kultproduzenten am Beispiel Jaroslavskij anzunähern, soll hier wie bei Plamper und Ennker eine relationale Perspektive eingenommen werden. Das heißt, Jaroslavskij soll in seinen Beziehungen zu und in seinen Interaktionen mit anderen Personen, die mit Geschichtsschreibung und der 8 Eine gute Zusammenfassung der älteren Literatur über den Stalinkult bietet Heizer. Cult of Stalin, S. 1-15. 9 Löhmann reproduziert in seiner Analyse die soziologischen Kategorien des bolschewistischen Diskurses und verharrt so in den Begrifflichkeiten des Phänomens, das er analysieren möchte. Löhmann, Reinhard: Der Stalinmythos. Studien zur Sozialgeschichte des Personenkultes in der Sowjetunion (1929-1935), Münster 1990, S. 70-78. 10 Ennker. „Struggling for Stalin's Soul". 11 Für einen umfassenderen Forschungsüberblick zum Stalinkult und die entsprechenden Erklärungsmodelle siehe: Plamper. Stalin Cult in the Visual Arts, S. 12-29.

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V. Stalinkult und Identität

Produktion des Stalinkults befasst waren, sowie mit Stalin selbst untersucht werden. Dabei soll auch der Einfluss von langlebigen Mustern der Personendarstellung und habitualisierten sozialen Interaktionsformen, die für die politische Kultur der russischen intelligencija charakteristisch waren12, diskutiert werden. In den vorausgehenden Abschnitten ist gezeigt worden, dass sich die Abhängigkeit Jaroslavskijs (sowie anderer führender Bolschewisten) von Stalin in dem Maße verstärkte, in dem sich das durch persönliche Beziehungen und Netzwerke bestimmte Interessengemenge seiner Kontrolle entzog und sich sein Handlungsspielraum verengte. Stalin bekam so die Rolle eines Schiedsrichters zugewiesen und erhielt auf diesem Wege die zentrale strukturelle Machtposition. Es wurde zudem gezeigt, dass Jaroslavskij Stalins Kritik an der von ihm herausgegebenen Parteigeschichte dahingehend deutete, Stalin habe sich durch Kins Darstellung von Stalins Verhalten im Jahr 1917 persönlich düpiert gefühlt. Der verunsicherte Jaroslavskij musste hieraus erstens ableiten, dass von diesem Zeitpunkt an ein anderer Modus der Stalindarstellung in der Historiographie gefragt war, und zweitens, dass er seine historiographischen Texte mit Stalin oder seinen engsten Mitarbeitern abzustimmen habe.13 Jaroslavskijs Verhaltensänderung war letztlich das Ergebnis einer mehr oder minder direkten Kommunikation mit Stalin, aber auch mit Kaganovic. Erste Anzeichen dafür, dass Jaroslavskij seine Schlussfolgerungen nach ersten Widerständen schließlich doch in die Tat umsetzte, lassen sich schon direkt nach der im Herbst 1932 erfolgten Aufhebung des über ihn verhängten Publikationsverbots beobachten: Im Februar 1933 bat Jaroslavskij Stalin in einem Brief darum, das überarbeitete Manuskript des zweibändigen Lehrbuchs zum Druck freizugeben, und betonte, er habe bei der Überarbeitung „alle von Ihnen und dem Genossen Steckij erteilten Instruktionen beachtet".'4 Es handelt sich hierbei um das Lehrbuch, das im September 1932 unter der Maßgabe wieder zur Veröffentlichung freigegeben worden war, dass die oben schon erwähnte hochkarätige ZK-Kommission, bestehend aus Stalin, Kaganovic, Steckij und Postysev, den Text kontrollierte, und das im Sommer 1933 schließlich publiziert wurde. Offensichtlich hatten die von Jaroslavskij vorgenommenen Änderungen aber zunächst weitere Beanstandungen und konkretere „Instruktionen" evoziert, denn einen Monat später teilte er Kaganovic mit, er habe das Lehrbuch durch zwei neue Kapitel über Stalins 12

Siehe: Kap. Il.l.b. und c; II.2.d. Ein ehemaliger Mitarbeiter der Pravda, Daniii Rudnev, berichtet von einem Gespräch mit dem Historiker P.N. Pospelov im Sommer 1972. In dessen Verlaufhabe Pospelov, der sich wiederum auf ein Gespräch mit Jaroslavskij berief, ihm erzählt, dass Jaroslavskij Stalins Kritik als Warnung und als Aufforderung begriffen habe, seine zukünftige wissenschaftliche Tätigkeit auf die Meinung Stalins abzustimmen. Rudnev. Kto pisal „Kratkij kurs". 14 Zitiert nach: Man'kovskaja, I.LJSaparov, Ju.P.: Kul't licnosti i istorikopartijnaja nauka, in: Voprosy istorii KPSS, 1988, H. 5, S. 57-70, hier S. 65. 13

1. Der Kampf um Stalin

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Rolle im Bürgerkrieg sowie über dessen theoretische Arbeiten ergänzt.15 Zudem wies Jaroslavskij im Juli, als sich das Buch schon im Druck befand, den Staatsverlag an, den Index durch eine Kurzbiographie Stalins zu ergänzen.16 Etwa einen Monat zuvor hatte er von Steckij eine anonyme Beurteilung erhalten, die offensichtlich von der ZK-Abteilung für Kultur und Propaganda in Auftrag gegeben worden war. Hierin wurde Jaroslavskij neben anderen „Vergehen" vorgeworfen, er habe die Rolle Stalins in der Parteigeschichte ignoriert.17 Jaroslavskij s Willfährigkeit, Stalins „Instruktionen" zu folgen, wurde zunächst durch einen erheblichen Disziplinierungsdruck erzwungen. Dieser Disziplinierungsdruck führte Jaroslavskij deutlich vor Augen, dass er ohne das Mandat Stalins über keinerlei politische Autorität mehr verfügte. Dies soll an einem Beispiel illustriert werden: Jaroslavskij hatte im Januar 1932, noch bevor er aus der Pravda-Redaktion ausgeschlossen worden war, versucht, einen Artikel über das 20-jährige Jubiläum der Prager Parteikonferenz in der Pravda zu veröffentlichen. In diesem Artikel hatte er Stalins Rolle während dieser Parteikonferenz überhöht. Dennoch wurde der Artikel von der Redaktion zunächst durch eine kritische Anmerkung über Jaroslavskij s „Fehler" in der vierbändigen Parteigeschichte ergänzt, dann aber insbesondere von Mechlis und Popov doch abgelehnt. In einem Schreiben vom 21. Januar konnte Jaroslavskij Rudzutak und Antipov aber triumphierend mitteilen, dass Stalin die Redaktion angewiesen habe, den Artikel unverzüglich zu drucken, die kritische Anmerkung über Jaroslavskij s Fehler zu streichen, und zudem Mechlis in einem Telefongespräch zu verstehen gegeben habe, dass das „Durcharbeiten" (prorabotka) Jaroslavskijs in der Pravda und im Bol'sevik

15

Schreiben Jaroslavskijs an Kaganovic vom 9.3.1933. F.81, op.3, d.255,1.211. Schreiben Jaroslavskijs an den Staatsverlag vom 16.7.1933. F.89, op.8, d.827, 1.5. Die Kurzbiographie Stalins sollte durch folgenden Passus ergänzt werden: „Unter der Führung des Genossen Stalin hat die Partei nach dem Tode Lenins die gigantische Aufgabe des sozialistischen Umbaus der SSSR bewältigt. Die Lehre Marx' und Lenins ist in einer Reihe von Fragen (Sieg des Sozialismus in einem Land, Kollektivierung der Landwirtschaft, Industrialisierung) von Stalin weiterentwickelt worden." 17 In der anonymen Beurteilung wurde noch eine ganze Reihe anderer schwerwiegender „Fehler" in Jaroslavskijs Lehrbuch aufgeführt: 1. Jaroslavskij behaupte, der Fünfjahrplan sei aufgrund der Kriegsgefahr eingeführt worden und daher lediglich eine Reaktion auf eine äußere Bedrohung. Jaroslavskij negiere so die wohlkalkulierte ideologische Planung der Parteiführung; 2. Jaroslavskij ignoriere den sozialistischen Charakter der Oktoberrevolution; 3. Jaroslavskij verneine die herausragende Rolle der Bolschewiki während der Februarrevolution, indem er deren politische Schwankungen sowie Verbrüderungstendenzen zwischen Bolschewiki und Menschewiki hervorhebe; 4. Jaroslavskij fixiere in aufdringlicher Weise die Aufmerksamkeit der Leser auf seinen persönlichen Kampf mit dem „Trotzkismus". Die Übertreibung der „trotzkistischen Gefahr" lasse das ZK machtlos erscheinen. F.89, op.8, d.828, 1.34—44. Schreiben Jaroslavskijs an Steckij vom 27.6.1933. Ebenda, 1. 24-32. In derselben Akte befinden sich noch weitere vernichtende Gutachten über das Lehrbuch. 16

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V. Stalinkult und Identität

beendet werden müsse.18 Dass zumindest ein Großteil der von Jaroslavskij gemachten Angaben zutrifft, wird durch eine schriftliche Anweisung Stalins an die Prawfo-Redaktion, den betreffenden Artikel sofort zu drucken, belegt.19 Der Artikel erschien schließlich am 22. Januar. Stalin hatte damit das Signal gesetzt, das Jaroslavskij s Autorität vorübergehend wieder absicherte. Anhand dieses Beispiels wird sehr deutlich, warum Jaroslavskij den naheliegenden Schluss zog, dass er Stalin brauchte, um - in welch eingeschränktem Maße auch immer - überhaupt noch handeln zu können. Im Verlauf der 1930er Jahre erinnerte sich Jaroslavskij immer wieder an diesen Vorfall und versuchte durch diese Erinnerung, sein angeschlagenes Selbstwertgefühl auf- und Selbstzweifel abzubauen. Dabei wählte er eine Rationalisierungsstrategie, mit der er seine Niederlage und Disziplinierung durch Stalin in einen Triumph über seine Gegner Mechlis und Popov umdeutete. In diesem Sinne schrieb er am 8. Dezember 1936 in sein Notizbuch: „Ich erinnere mich daran, als ich mich nach diesen 'Durcharbeitungen' (prorabotki) entschied, anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Konferenz einen Artikel für die Pravda zu schreiben und die Redakteure der Pravda über meinem Artikel hemmklügelten und ihre Korrekturen anbrachten. Aber der Genösse Stalin hat alle diese Korrekturen und Vorbehalte durchgestrichen und mit der Bemerkung versehen: Was soll das? Ich erinnere mich an das Gespräch mit ihm über diese Konferenz, als wir im Kreml spazierengingen. Heute schreibe ich mit ruhigem wissenschaftlichen Gewissen und mit ruhigem Gewissen vor der Partei über diese Konferenz in dem Bewusstsein, dass ich von Anfang an auf dem richtigen Weg war, und dass sich die anderen, die mich belehren wollten, geirrt haben."20

Jaroslavskijs noch 1932 gegenüber seinem Mitarbeiter Piontkovskij geäußerte Zweifel an Stalin sollten im Verlauf der 1930er Jahre selbst in nicht für fremde Augen und Ohren bestimmten Texten einem erheblichen Maß an Selbstdisziplinierung zum Opfer fallen.

2. Der „Parteitag der Sieger" Für Jaroslavskij hatte in der ersten Hälfte der 1930er Jahre die Revolution nicht gehalten, was sie versprochen hatte. Sowohl seine persönliche Situation als auch die Beschaffenheit seiner Umwelt entsprachen keinesfalls seinen Vorstellungen. Er befand sich aufgrund seiner Statusunsicherheit in einem konstanten Zustand der Unruhe. Jaroslavskij war sich bewusst, dass sich seine Ansprüche auf einen festen Platz in der stalinschen Führungsgruppe nicht nur als illusionär erwiesen hatten, sondern dass seine Handlungsfreiheit aufs äußerste eingeschränkt war. Seine didaktische Utopie war gescheitert, 18 Schreiben Jaroslavskijs an das SNK, Rudzutak und Antipov vom 21.1.1932. F.89, op.12, d.2,1.226. 19 Anweisung Stalins an die Pravi/a-Redaktion (undatiert). F.558, op.ll, d.200,1.3-4. Der Artikel Jaroslavskijs „K 20-letiju (janvarskoj) prazskoj konferencii 1912 g." mit Korrekturen Stalins. F.558, op.ll, d.201,1.125-131. 20 Aufzeichnung vom 8.12.1936. Familienarchiv.

2. Der „Parteitag der Sieger"

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die organischen Vorstellungen von einer „bolschewistischen Familie" und von „kameradschaftlichen Beziehungen" waren von der Erfahrung seiner Marginalisierung, des Konkurrenzkampfs, des Zerfalls von Loyalitäten und des Generationskonflikts abgelöst worden. Aber auch ganz abgesehen von Jaroslavskijs persönlicher Situation gab die allgemeine innenpolitische Lage keinen Anlass zur Hoffnung, dass sich die Verheißungen der Revolution in naher Zukunft einlösen ließen. Im Gegensatz dazu befand sich die Parteiführung mit der Bevölkerung im Krieg: Die verfehlte Kollektivierungspolitik und der damit verbundene staatliche Terror insbesondere gegen die Bauern, aber auch gegen die Arbeiter hatten vor allem in Südrussland, der Ukraine und in der kasachischen Steppe eine verheerende Hungersnot verursacht, die von 1932 bis 1933 nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen vier und acht Millionen Menschen das Leben kostete.21 Diese Politik hatte nicht nur zu größeren Streiks und Aufständen in der Bevölkerung geführt, sondern auch zu einer Wiederbelebung der Opposition in der Partei gegen die stalinsche „Generallinie"22 sowie zu Widerständen in örtlichen Parteiorganisationen, von denen einige die vom Zentrum geforderten gewaltsamen Getreiderequirierungen verweigerten.23 Die für die wirtschaftliche und soziale Katastrophe verantwortliche Parteiführung um Stalin konnte ihre Herrschaft nur noch durch äußerste Gewaltanwendung aufrechterhalten. Das bolschewistische Regime befand sich in seiner schwersten Krise seit dem Russischen Bürgerkrieg, deren Erfahrung ähnlich einschneidend war und die den politischen Akteuren das Gefühl vermittelte, einer ständigen existentiellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Die meisten Bolschewisten waren sich sehr wohl bewusst, welches Schicksal ihnen im Falle einer Niederlage in diesem selbstangezettelten Bürgerkrieg drohte. Jaroslavskij selbst zeigte sich noch auf einer Sibirienreise im Winter 1933/34 erschüttert über den Schmutz, die Armut und die katastrophale Versorgungslage, die er mit dem aus seiner Sicht relativen Wohlstand in den 1920er Jahren verglich. In seinen persönlichen Aufzeichnungen versuchte er zwar, sich zu mehr Optimismus zu verpflichten, äußerte sich aber dennoch kritisch über die vom Zentrum ausgegebenen Losungen über den wirtschaftlichen Erfolg in der Periode des Zweiten Fünfjahrplans und hegte starke Zweifel daran, dass sich die katastrophalen Zustände in absehbarer Zeit verbessern ließen.24

21

Davies/Harrison/Weathcroft: Economic Transformation, S. 68, 74. Den höchsten Bekanntheitsgrad innerhalb der Opposition gegen die Politik Stalins und seiner Anhänger erlangte die sogenannte Rjutin-Plattform. Der Altbolschewist Martemjan Rjutin hatte versucht, mit einer Schrift „Stalin und die Krise der proletarischen Revolution" und einem Aufruf „An alle Mitglieder der VKP(b)" die Parteimitglieder gegen die stalinsche Politik zu mobilisieren. O dele tak nazyvaemogo „Sojuza marksistov-lenincev", in: Izvestija CK KPSS, 1989, H. 6, S. 103-115; Biograficeskij ocerk o M. Rjutine, in: Izvestija CK KPSS, 1990, H. 3, S. 150-178. 23 Siehe hierzu: Chlevnjuk: Politbjuro, S. 53-62. 24 Aufzeichnungen vom 13. u. 14.1.1934. Familienarchiv. 22

280

V. Stalinkult und Identität

Emel'jan Jaroslavskij etwa Mitte der 1930er Jahre

Erst 1933 entspannte sich die Situation langsam, als sich erste Erfolge der Industrialisierung bemerkbar machten und auch die Ernteerträge für das Jahr 1933 die Erwartungen übertroffen hatten. Trotz seiner persönlichen Verunsicherungen bedeutete der im Januar 1934 stattfindende 17. Parteitag für Jaroslavskij wie auch für wohl die meisten anderen hochrangigen Bolschewisten eine existentielle Erleichterung. Der Parteitag markierte das Ende der durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und durch den Ersten Fünfjahrplan ausgelösten Krisen und ließ auf einen Friedensschluss mit der Bevölkerung hoffen. Nach den Worten Oleg Chlevnjuks glaubten nun viele, das Schlimmste überwunden zu haben. Stalin und seine Anhänger, zu denen sich Jaroslavskij zählte, konnten sich der Parteiöffentlichkeit als Sieger präsentieren. Einige aus der Partei ausgeschlossene Führer der ehemaligen Opposition - Zinov'ev, Kamenev und Preobrazenskij - wurden noch vor dem Parteitag wieder aufgenommen. Sie und andere Oppositionelle, die noch in der Partei verblieben waren, bekamen die Gelegenheit, öffentlich zu bereuen, ihre Treue zur stalinschen Führung zu demonstrieren und sich wieder in die Partei zu integrieren.25 Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass sich das Verhältnis vieler führender Bolschewiki zu Stalin im Umfeld des „Parteitags der Sieger" grundlegend veränderte: Jaroslavskij, der Stalin persönliche Eitelkeit unter25

Chlevnjuk: Politbjuro, S. 99-103.

2. Der „Parteitag der Sieger"

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stellt und sich nur widerwillig der auf ihn ausgeübten Disziplinierung gebeugt hatte, um seiner drohenden Isolierung von der Parteispitze zu entgehen, war sich wie auch die anderen Parteigänger Stalins bewusst, dass ihre Herrschaft insbesondere in den Jahren 1932 und 1933 in höchstem Maße bedroht gewesen war. Im Bewusstsein dieser fuhrenden Bolschewisten war es vor allem Stalins einzigartigen Fähigkeiten und insbesondere seiner Entschlossenheit zu verdanken, dass eine Niederlage mit den entsprechenden Folgen hatte verhindert werden können. Stalin hatte sich in ihren Augen als derjenige legitimiert, der in der Lage war, ihre Herrschaft zu garantieren. Er wurde so zum Garanten des endgültigen Siegs des Sozialismus und zum Symbol der Geschlossenheit der Partei, die auf dem 17. Parteitag immer wieder verkündet wurde. Am Eröffnungstag notierte Jaroslavskij erleichtert in sein Notizbuch: „Um 4.40 Uhr wurde der Parteitag eröffnet. Was für ein prächtiger Saal ist aus diesen beiden Gewölben entstanden! Ich stehe auf der Tribüne des Präsidiums - unten wird der Platz buchstäblich von Menschen überströmt. Über den Köpfen hängen leuchtende Ringe und übergießen sie mit einem matten Licht. Wenn dieser Saal fertig renoviert ist, wie schön wird er dann sein ... (...). M.[olotov] und S.[talin] bereiten den Delegierten einen warmherzigen Empfang. Besonders die Rede Molotovs ist inhaltlich dicht und einfach, es klingt aus ihr Siegesgewissheit. Stalins Vortrag hören alle besonders aufmerksam zu. In seiner Rede ist nicht die geringste Künstlichkeit! Ich stelle mir vor, wieviel Geplänkel Z.[inov'ev] von sich gegeben hätte, wieviele krachende Phrasen T.[rotzkij]! Und hier haben wir Sparsamkeit der Worte, die aber wie immer mit Inhalt gesättigt sind. Es bestehen keine Zweifel mehr an unserem Sieg. (...). Was die Partei angeht: Die Opposition ist besiegt - es gibt keine Abtrünnigen mehr auf diesem Parteitag. Ich analysiere meine Sorgen: Ich fühle nicht die geringste Beunruhigung."26

Trotz dieses enthusiastischen Kommentars war Jaroslavskijs Situation zu Beginn des Jahres 1934 ambivalent, denn der 17. Parteitag markierte für ihn nicht nur den Sieg der stalinschen Parteiführung, sondern war mit weiteren gravierenden Unsicherheiten bezüglich seiner persönlichen politischen Zukunft verbunden. Seine „Beunruhigung", die von der seit 1931 ständig drohenden Entfremdung von Stalin und der Parteispitze ausgelöst worden war, wurde offensichtlich nur kurzfristig von der euphorisierenden Stimmung auf der Eröffnungsveranstaltung und möglicherweise von der beschriebenen eindrücklichen räumlichen Erfahrung überdeckt. Jaroslavskij wurde im Vorfeld des 17. Parteitags zunehmend von der Ungewissheit geplagt, wie sich sein Status im Anschluss an eine geplante, aber nicht explizit definierte Umstrukturierung der Parteikontrollorgane gestalten werde. Die Reorganisation der Kontrollinstanzen war auf einer Sitzung des Politbüros im Vorfeld des 17. Parteitags beschlossen worden. Robert Tucker vertritt die These, Stalin sei mit der Arbeit der Kontrollorgane unzufrieden gewesen, weil diese zu häufig den Eingaben der Beschuldigten

26

Aufzeichnung vom 26.1.1934. Familienarchiv.

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V. Stalinkult und Identität

stattgegeben hätten, und habe deswegen eine Umstrukturierung initiiert.27 Es ist aber wahrscheinlicher, dass der Generalsekretär eine grundsätzliche Neudefinition der durch die Kontrollorgane zu bewältigenden Aufgaben erreichen wollte. Die ZKK hatte in den 1920er Jahren eine wichtige Rolle bei der Ausschaltung der innerparteilichen Opposition gespielt und damit eine Aufgabe übernommen, die in der Einheitseuphorie im Winter 1933/34 nicht mehr für vordringlich gehalten wurde. Eine wichtigere Herausforderung stellte aus der Perspektive Stalins nun vielmehr die Bekämpfung von Korruption und eine Effektivierung der administrativen Strukturen dar. Das neue Kontrollorgan, so Stalin auf dem 17. Parteitag, sollte vor allem effektiv über die Durchführung von ZK-Entscheidungen wachen.28 Die ZKK und das mit ihr zusammengeschlossene Arbeiter und Bauern Inspektorat (RKI) schienen ihm hierfür offensichtlich nicht das geeignete Instrument zu sein. Von einer Umstrukturierung der Kontrollorgane und ihrer personellen Neubesetzung erhoffte er sich eine weitere Machtkonzentration im ZK. Für das Primat der Effektivierung und der Machtkonzentration spricht sowohl, dass Stalin sich schon seit 1930 immer wieder intensiv mit den Problemen der Durchführungskontrolle beschäftigt hatte, als auch, dass sein enger Vertrauter Kaganovic nach dem 17. Parteitag den Vorsitz der Nachfolgeorganisation der ZKK-RKI, der Kommission für Parteikontrolle (KPK), übernahm.29 Jaroslavskij hatte in dieser Angelegenheit keinerlei Handlungsspielraum: Er gehörte zwar zumindest nominell zur engeren Führung der bis dahin aktiven ZKK und war Mitglied der im April 1933 gegründeten hochkarätigen „Säuberungskommission", die mit der unionsweiten Organisation der „Parteisäuberung" betraut wurde.30 Er war aber nicht in die Umstrukturierungspläne eingeweiht und befürchtete, durch die geplante Neuordnung seinen Posten in 27

Tucker. Stalin in Power, S. 252-254. 28 Stalin, I.V.: Socinenija, Bd. 13, Moskau 1951, S. 364-369. 29 Schon im September 1930 hatte Stalin auf der Gründung einer Kommission zur Durchführungskontrolle bestanden, die an den Sovnarkom angeschlossen werden sollte. Schreiben Stalins an Molotov vom 28.9.1930, abgedruckt in: Stalin. Briefe an Molotow, S. 238. Diese Kommission wurde schließlich durch einen Politbürobeschluss vom 23.12.1930 gebildet. Sie setzte sich aus Molotov, Rudzutak, Kujbysev, Andreev, Stalin, Ordjonikidze, Jakovlev, Grin'ko, Vorosilov, Mikojan und Kaganovic zusammen. Stalinskoe Politbjuro, S. 30-31. 30 Das Politbüro hatte am 28.4.1933 die Durchführung einer systematischen „Parteisäuberung" beschlossen. Die „Säuberungskommission" sollte sich aus J. Rudzutak als Vorsitzendem, L. Kaganovic, S. Kirov, Jaroslavskij, M. Skiijatov, N. Ezov, E. Stasova und O. Pjatnickij zusammensetzen. Seit 1918 wurden immer wieder „Parteisäuberungen" durchgeführt, die sich gegen unterschiedliche Kategorien von Parteimitgliedern richteten. In der Regel beinhalteten diese Kategorien in offiziellen Verlautbarungen keine Oppositionellen, sondern vielmehr sogenannte Karrieristen, passive, klassenfremde, korrupte und moralisch degenerierte Elemente und Bürokraten. Mitglieder oppositioneller Gruppierungen figurierten aber dennoch implizit in den Instruktionen zur „Parteisäuberung", so z.B. in dem Beschluss vom 28.4.1933 als „degenerierte Elemente, die sich mit bürgerlichen Elementen verbunden haben und sich weigern, gegen unsere Klassenfeinde und Kulaken zu kämpfen (...)". Der Beschluss des Politbüros, der konkrete Instruktionen für die „Säuberung" enthält, ist abgedruckt in: GettylNaumov: Road to Terror, S. 125-126.

2. Der „Parteitag der Sieger"

283

den Kontrollorganen zu verlieren. Diese Position war für ihn von essentieller Bedeutung, da sie seine einzige noch verbliebene Verankerung im Zentralapparat der Partei und somit in der Parteiführung darstellte. Seine Verunsicherung wurde zudem durch Gerüchte verstärkt, dass er in den Fernen Osten versetzt, d.h. vom Zentrum in die äußerste Provinz abgeschoben werden sollte.31 Auf seiner schon erwähnten Reise durch das östliche Sibirien, die er in seiner Eigenschaft als Sekretär der ZKK im Vorfeld des Parteitags unternahm, um Fälle von Veruntreuung durch die örtlichen Parteiorganisationen zu untersuchen32, kommentierte er seine Lage am 17. Januar folgendermaßen: „Jans [Jan Rudzutak, der damalige Vorsitzende der ZKK; S.D.] Artikel über die Parteikontrolle gibt keine Antwort auf eine ganze Reihe von Fragen. Auch meine Reisebegleiter können diese Fragen nicht beantworten. Das ist nicht gut. Natürlich wird man sich bis zum Parteitag alles das überlegen, aber im Moment wissen wir noch nicht einmal, wie die Kontrolle vor Ort organisiert werden wird. Ungute Erwartungen: Ich sollte mit mir nahestehenden Leuten sprechen. Aber am Abend bewegte sich nichts in bezug auf eine Klärung der Frage, wie sich meine weitere Arbeit gestalten wird. Beängstigt mich das, was mit mir gespielt wird? Nur in einer Hinsicht: Ich habe soviel gearbeitet, ehrlich für das gearbeitet, was die Partei braucht. Für mich gab es nichts außer der Partei, nichts Höheres, nichts Wichtigeres als die Partei. Das habe ich in den letzten 35 Ά Jahren bewiesen. Und dennoch werde ich gezwungen, immer wieder irgend jemandem irgend etwas zu beweisen!"33

Aus dieser Selbstbefragung geht erstens hervor, dass Jaroslavskij wie die anderen Mitarbeiter in den Kontrollorganen keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten hatte, und dass er zweitens vermutete, die geplante Umstrukturierung könne etwas damit zu tun haben, dass er mit seiner Arbeit in der ZKK bestimmte Erwartungen, die er jedoch nicht genauer benannte, nicht hatte erfüllen können. Die Unsicherheit Jaroslavskij s setzte sich auch während des Parteitags fort: Sein Name stand nicht auf dem ersten vorläufigen Listenvorschlag der Kandidaten für die Wahl zur Kommission für Parteikontrolle (KPK), d.h. des Kontrollorgans, welches die formal vom ZK unabhängige ZKK ablösen sollte.34 Erst am 9. Februar, am vorletzten Tag des 17. Parteitags, erhielt er über seine Zukunft Gewissheit. Er war auf der endgültigen Liste als Kandidat für die Wahl zur KPK vetreten und wurde als Mitglied des Präsidiums und des Parteikollegiums des neuen Kontrollorgans bestätigt. Vor dem Hintergrund dieser ambivalenten Situation entwickelte Jaroslavskij die Idee, dem 17. Parteitag die Herausgabe einer Gesamtausgabe von Stalins Schriften vorzuschlagen. Diesbezügliche Überlegungen tauchen erstmalig in seinen persönlichen Aufzeichnungen vom 15. Januar 1934 auf und wurden vermutlich durch einen Artikel Radeks über Stalin als „Baumeister 31

Aufzeichnung vom 10.1.1934. Familienarchiv. Jaroslavskij wurde auf der PB-Sitzung vom 20.12.1933 als Vertreter der ZKK beauftragt, die Parteiorganisationen des östlichen Sibiriens im Hinblick auf Fälle von Veruntreuung zu überprüfen. Seine hochrangigen Reisebegleiter waren Ivan Akulov, der oberste Staatsanwalt der SU, und Daniii Sulimov als Repräsentant des ZK. F.17, op.3, d.936,1.2. 33 Aufzeichnung vom 17.1.1934. Familienarchiv. 34 Aufzeichnung vom 26.1.1934. Familienarchiv. 32

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V. Stalinkult und Identität

des Sozialismus" angeregt, der in der Neujahrsausgabe der Pravda erschienen war. Er äußerte sich in seinen Aufzeichnungen enthusiastisch über Radeks Artikel und bemängelte lediglich, dass die verwendete Sprache für die Masse der Arbeiter nicht verständlich genug sei.35 Jaroslavskij veränderte infolge der überstandenen Krise nicht nur seine Einstellung zu Stalin, sondern kam auch ganz offensichtlich zu der Überzeugung, dass eine breite Popularisierung Stalins notwendig sei. Maßgeblich für seine Begeisterung über Radeks Artikel war vermutlich auch, dass gerade Radek als ehemaliger Oppositioneller mit diesem Artikel öffentlich ein Bekenntnis zur Einheit der Partei leistete und Stalin als denjenigen feierte, der den endgültigen Aufbau des Sozialismus garantierte. Einen ersten Vorstoß wagte Jaroslavskij schon am 19. Januar 1934 in seiner Rede auf der 4. Gebietskonferenz der Moskauer Parteiorganisation, die im Vorfeld des 17. Parteitags stattfand, als er den Delegierten unterbreitete, dass eine vollständige Ausgabe von Stalins Werken im Interesse der Partei vorbereitet und veröffentlicht werden müsse. Zwei Tage zuvor hatte schon Kaganovic auf derselben Konferenz erklärt, dass die Rolle des Genossen Stalin tiefgreifend erforscht werden müsse.36 Aufschlussreich ist die Art und Weise, wie Jaroslavskij seinen Auftritt auf der Moskauer Gebietskonferenz in seinem Tagebuch kommentiert: „Heute Morgen halte ich meine Rede auf der Konferenz. Ich bin in ruhiger Verfassung, weil ich in dem tiefen Bewusstsein meiner vollständigen und tiefen Verschmelzung mit dem gesamten Parteikollektiv auftrete. Was gehen mich jetzt noch die Stiche an, die die Eigenliebe verletzen, diese nichtigen Stiche! All das liegt weit, weit zurück! Wichtig ist das, was ich für die Partei tue. Und dieses Gefühl bemächtigt sich meiner während der gesamten Zeit meiner Rede. Mein Vorschlag, eine Werkausgabe Stalins zu publizieren, wird positiv aufgenommen - denn ich spreche nur das aus, was Tausende Parteimitglieder denken; man muss es aber endlich offen aussprechen."37

In dieser Rede richtete Jaroslavskij seinen Vorschlag an drei Adressaten. Zunächst wandte er sich an die Parteimitglieder, in deren Namen er gleichzeitig vorgab zu sprechen und denen er diese Werkausgabe sowohl als Symbol des endgültigen Sieges der Stalinfraktion, die die schwere Krise der Jahre 1932 und 1933 überwunden und die innerparteiliche Opposition niedergeschlagen hatte, und der Einheit der Partei präsentierte. Der zweite Adressat seiner Rede war er selbst. Bemerkenswert ist, dass sich Jaroslavskij, obwohl es nach wie vor keine Anzeichen dafür gibt, dass er die ihm vorgeworfenen Fehler als Fehler akzeptierte, bereiterklärte, auf seine „Eigenliebe" zu ver35

Aufzeichnung vom 9.1.1934. Familienarchiv. Radeks Artikel wurde später als einzelne Broschüre veröffentlicht. Radek, Karl: Zodcij socialisticeskogo obscestva, Moskau, Leningrad 1934. 36 Brandenberger, David: Stalin as Symbol: a Case Study of the Personality Cult and its Construction, in: Stalin. A New History, hrsg. v. Sarah Davies, James Harris, Cambridge 2005, S. 249-270, hier S. 255-256. 37 Aufzeichnung vom 19.1.1934. Familienarchiv.

2. Der „Parteitag der Sieger"

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ziehten, und den Wunsch äußerte, gerade sein Recht auf Selbstbestimmung aufzugeben, um ganz mit dem imaginierten Kollektivkörper der Partei zu verschmelzen. Er hoffte, sich nach der von ihm durchlittenen Durststrecke durch diesen Vorschlag als Teil dieser Einheit und als Mitglied der siegreichen Parteiführung um Stalin vor einem Publikum präsentieren zu können. Zudem hatte der Akt des Sprechens vor einem Publikum eine erhebliche Bedeutung für Jaroslavskij. Es wurde schon an anderer Stelle dargelegt, dass seine öffentlichen Auftritte nicht auf ihren propagandistischen Charakter, d.h. auf ihre Eigenschaft als bewusste Inszenierung, reduziert werden können, sondern dass diese Redesituationen eine starke Wirkung auf den Redner selbst zeitigten. Dieses Beispiel verdeutlicht einmal mehr, welche Faszination das Reden vor einem Publikum und die imaginierte Übertragung von Emotionen auf Jaroslavskij ausübten. Trotz seiner unsicheren Situation vermittelte sich im Akt des Redens ein Gefühl der Beruhigung und des Einklangs mit dem nun von oppositionellen Stimmungen „gereinigten" gesamten Kollektiv der Parteimitglieder, das ihn sogar die Demütigungen der letzten Jahre zumindest vorübergehend nicht mehr als persönliche Niederlage wahrnehmen ließ. Die Erwähnung Stalins hatte in derartigen Redesituationen für Jaroslavskij eine wichtige Funktion, die an einem anderen Beispiel erläutert werden soll: Im Anschluss an einen anderen Vortrag vor Parteimitgliedern in einer Moskauer Fabrik bemerkte Jaroslavskij ein Jahr nach dem 17. Parteitag im Januar 1935: „Sie [die Zuhörer; S.D.] sind von der Hoffnung und der Gewissheit unseres Sieges erfüllt, meine Worte über den Genossen Stalin rufen jedes Mal Applaus hervor."38

Hier wird deutlich, dass es Jaroslavskij nicht so sehr um die Vermittlung Stalins als konkrete Person ging. Stalin bekommt vielmehr die Funktion eines Mediums zugewiesen, mit dem Jaroslavskij seine Elite- und Revolutionärsidentität bekräftigen konnte und über das sich Siegesgewissheit vermitteln ließ. In diesem Zusammenhang spielen auch die Zuhörer eine wichtige Rolle, die die Aufgabe übertragen bekamen, durch ihre Reaktionen diese Identität zu bestätigen. Das öffentliche Reden über Stalin löste häufig beim Parteipublikum Begeisterung aus. In derartigen Redesituationen und insbesondere während des so bedeutungsvollen 17. Parteitags kalkulierte Jaroslavskij mit diesem Effekt. Die Begeisterung des Publikums übertrug sich auf den Redner und wertete ihn auf. Stalin wurde von Jaroslavskij als Übertragungsfunktion für Emotionen und Macht wahrgenommen. Jaroslavskij partizipierte so an Stalin und an der medialen Vermittlung von Herrschaft. Der dritte Adressat, an den Jaroslavskij seinen Vorschlag zur Veröffentlichung einer Gesamtausgabe von Stalins Werken richtete, war Stalin sowie 38

Aufzeichnung vom 20.1.1935. Familienarchiv.

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V. Stalinkult und Identität

dessen engste Gefolgschaft. Jaroslavskijs Auftritt kommt einem öffentlichen Bekenntnis gleich, in jeder krisenhaften Situation bedingungslos fur Stalin einzustehen. Dieses Versprechen implizierte nicht nur einen Verzicht auf das Recht, eigenständige politische Positionen und Interessen zu vertreten, sondern auch eine vollständige Abgabe jeglicher Form persönlicher Verantwortung. Jaroslavskijs Vorschlag auf der Moskauer Gebietskonferenz war ein pathetischer Akt der politischen Loyalitätsbekundung, mit dem er seine aktive Mitwirkung an der Bildung einer politischen Willensgemeinschaft vor Stalin und dem gesamten Parteiaktiv demonstrierte. Sein Vorstoß fällt zeitlich genau mit den eben beschriebenen Ungewissheiten bezüglich seiner politischen Zukunft zusammen.39 So sehr Jaroslavskij auch gegen seine „Eigenliebe" ankämpfte, so wollte er doch auf diese nicht ganz uneigennützige Weise versuchen, seinem drohenden Statusverlust offensiv zu begegnen. Mit einem solchen Vorschlag hoffte er, sich auch den Delegierten des Parteitags sowohl als Verkünder als auch als Teil der Einheit sowie als Mitglied der siegreichen Parteiführung um Stalin präsentieren zu können. Möglicherweise hoffte er auch, in leitender Funktion an der Edition von Stalins Werkausgabe beteiligt zu werden. Insofern muss Jaroslavskijs Vorstoß auf der 4. Moskauer Gebietskonferenz auch als rhetorische Strategie aufgefasst werden, mit der er vor der Parteiöffentlichkeit, vor Stalin und der engeren Parteispitze seinen Statusanspruch behaupten wollte. Der Parteitag bot für ein solches Vorhaben einen wesentlich geeigneteren Rahmen als eine Gebietskonferenz. Ganz abgesehen von der besonderen Bedeutung des 17. Parteitags als „Parteitag der Sieger" galten die Parteitage zumindest formal als die wichtigsten Ereignisse im Kalender der Bolschewiki. Der Parteitag legte formal die Linie der Partei in der Innen- und Außenpolitik fest, beschloss das Programm und die Statuten der Partei, nahm die Rechenschaftsberichte der zentralen Parteigremien, des ZK und der ZKK, entgegen und wählte bzw. bestätigte deren neue Zusammensetzung. Zu den Parteitagen kamen Delegierte aus dem gesamten Gebiet der Sowjetunion am 17. Parteitag nahmen 1966 Delegierte teil. Die Parteitage waren mit Ausnahme der geschlossenen Sitzungen öffentliche Veranstaltungen, die Wortbeiträge wurden stenographiert und in der Presse publiziert; d.h. die Redebeiträge wurden zumindest in korrigierter Form der Bevölkerung zugänglich gemacht. Viele Beobachter sowjetischer Politik haben zwar zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Parteitage wie auch andere Parteiversammlungen und sogar die geschlossenen ZK-Plena in den 1930er Jahren keine Foren für politische Debatten und Entscheidungen mehr waren, sondern Inszenierungen, in denen in endlosen Reden die schon in anderen politischen Gremien gefallenen Entscheidungen präsentiert wurden und die Delegierten lediglich die Funktion einer Akklamationsinstanz zugewiesen bekamen. Der

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Aufzeichnung vom 15.1.1934. Familienarchiv.

2. Der „Parteitag der Sieger"

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Ort der wichtigen politischen Entscheidungen verengte sich in den 1930er Jahren zunehmend. Das Politbüro verlor als Institution an Einfluss, wichtige politische Entscheidungen wurden in von Stalin selektierten, inoffizielen Gremien gefällt.40 Trotz ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit als Ort politischer Entscheidungen gehörten die Parteitage aber zu den wichtigsten symbolischen Ereignissen. Sie waren Orte symbolischer Interaktionen, die eine wesentliche Bedeutung für den Status und die Identität der Teilnehmer hatten. Wer zu diesem Anlass, wann bzw. in welcher Reihenfolge und über was reden durfte, war von zentraler Bedeutung für die Teilnehmer, da sich hierüber der Status des Redners in der Partei vor der Parteiöffentlichkeit und vor der Bevölkerung definierte. Das Privileg, der gesamten Bevölkerung sein Anliegen mitteilen zu dürfen und sich somit vor ihr als legitimer Sprecher der stalinschen Führungsmannschaft zu zeigen, wurde Jaroslavskij jedoch nicht eingeräumt.41 Er bekam stattdessen zu spüren, dass das öffentliche Reden über Stalin zu einem Privileg gemacht wurde, über dessen Verteilung Stalin selbst oder seine nächste Umgebung entschied. Einen ersten Misserfolg musste Jaroslavskij schon im Anschluss an seine Rede auf der 4. Gebietskonferenz der Moskauer Parteiorganisation hinnehmen. Es wurden zwar Ausschnitte aus seiner Rede am Folgetag in der Pravda gedruckt, sein Vorschlag, eine Werkausgabe Stalins zu veröffentlichen, jedoch nicht erwähnt. Die Unterschlagung seines Vorstoßes diente ihm als Anlass für ein Schreiben an Kaganovic vom 20. Januar 1934, aus dem hervorgeht, dass er am Vortag mit diesem über die Veröffentlichung seines Vorschlags in der Pravda gesprochen und Kaganovic offensichtlich zu diesem Zeitpunkt keine Einwände gegen ein solches Vorgehen geäußert hatte. Das Gespräch mit Kaganovic hatte für Jaroslavskij sicher auch die Funktion, sein Anliegen sanktionieren zu lassen. Zu einem späteren Zeitpunkt aber hatten sich Kaganovic und Mechlis, der leitende Redakteur der Pravda, vermutlich aufgrund einer Anweisung Stalins darauf verständigt, Jaroslavskij s Vorschlag nicht zu veröffentlichen.42 Hieran zeigt sich, wie sehr Jaroslavskij an der Außenwirkung seines Anliegens gelegen war. Er machte sich zudem Sorgen, dass die fehlende Erwähnung seines Vorschlags in der Pravda von den Delegierten der Parteikonferenz als weiterer Autoritätsverlust verstanden werden könnte. Aus Jaroslavskij s privaten Aufzeichnungen erfahren wir weitere Einzelheiten über diesen Vorgang. Hier unterstellt Jaroslavskij in erster Linie Mechlis, seinen Vorschlag vorsätzlich in der Pravda verschwiegen zu haben. Zudem berichtet Jaroslavskij über ein Gespräch mit Kaganovic, in dem dieser sein Vorgehen 40

Siehe die Aufstellung der PB-Sitzungen in den 1930er Jahren bei: Chlevnjut. Politbjuro, S. 287-288. 41 Zum Zusammenhang zwischen Autorität und Sprechen siehe: Bourdieu, Pierre: Sprache und symbolische Macht, in: ders.: Ökonomie des sprachlichen Tauschs, S. 71-114. 42 Schreiben Jaroslavskijs an Kaganovic vom 20.1.1934, in: Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska, S. 266.

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gegenüber Jaroslavskij damit begründet habe, dass die Veröffentlichung von Jaroslavskijs Vorstoß eine überflüssige Welle von Nachahmungen und Glückwünschen auslösen würde und dass ein ernstzunehmender Vorschlag der Herausgabe von Stalins Werken, die Kaganovic für notwendig erachte, dem 17. Parteitag unterbreitet werden müsse.43 Diese Bemerkung Kaganovics hatte Jaroslavskij offensichtlich darauf hoffen lassen, er könne dem Parteitag den Vorschlag unterbreiten. Von diesem Vorhaben wurde ihm jedoch schon im Vorfeld von Kaganovic und anderen Politbüromitgliedern nachdrücklich abgeraten.44 Dennoch hegte Stalin offensichtlich die Befürchtung, dass Jaroslavskij sich zum wiederholten Male eigensinnig diesen eindeutigen Instruktionen widersetzen könnte. Jaroslavskij gibt in seinen persönlichen Aufzeichnungen vom 27. Januar 1934, vom zweiten Tag des Parteitags, detailliert ein nächtliches Telefongespräch mit Stalin wieder, in dem dieser seinen Unmut über Jaroslavskijs eigenmächtiges Vorgehen auf der Moskauer Parteikonferenz geäußert und ihm ausdrücklich untersagt habe, dem Parteitag die Herausgabe von seinem Gesamtwerk vorzuschlagen.45 Das Privileg, öffentlich über Stalin zu sprechen und den eigenen Status in der Partei dadurch aufzuwerten, wurde Jaroslavskij von den Mitgliedern der obersten Parteiführung und von Stalin selbst nicht zugestanden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, auf welche Weise Jaroslavskij sein Anliegen vor sich selbst und in diesem Telefongespräch vor Stalin rechtfertigte. In seiner Aufzeichnung begründet er sein Vorgehen auf der Gebietskonferenz der Moskauer Parteiorganisation mit dem Argument, nur ausgesprochen zu haben, was Tausende Parteimitglieder dächten.46 Gegenüber Stalin führte Jaroslavskij keinesfalls kleinlaut an, dass eine Veröffentlichung von dessen Gesamtwerk im Interesse der Partei unbedingt notwendig sei, und schmeichelte ihm mit dem Argument, dass auch Lenin sich zunächst gegen die Herausgabe seines Gesamtwerks gestellt habe. In seiner Argumentation entpersonalisierte Jaroslavskij Stalin, indem er dessen Verfügungsgewalt über sein Werk den Interessen der Partei versuchte unterzuordnen, und funktionalisierte ihn so als Inkarnation des Willens und der Einheit der Partei. Zwar bescherte der Vorstoß zur Veröffentlichung einer Werkausgabe Stalins für Jaroslavskij selbst keinen Erfolg; es kann aber angenommen werden, dass er damit die offiziell sanktionierten Vorbereitungen einer Werkausgabe entweder auslöste oder zumindest wesentlich dynamisierte. Spätestens 1934 begann Ivan Tovstucha, der schon im Volkskommissariat für Nationalitätenfragen als Stalins persönlicher Sekretär gearbeitet hatte, Stalins Reden und Publikationen systematisch zu sammeln. Er überwachte bis zu seinem 43 44 45 46

Aufzeichnung vom Aufzeichnung vom Aufzeichnung vom Aufzeichnung vom

20.1.1934. 27.1.1934. 27.1.1934. 19.1.1934.

Familienarchiv. Familienarchiv. Familienarchiv. Familienarchiv.

3. Statuskämpfe der Kultproduzenten

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Tod im Sommer 1935 ebenfalls die Übersetzung von Stalins georgischen Schriften. 1936 wurde ein gesonderter, dem ZK untergeordneter Sektor gegründet, der die Vorbereitungen von Stalins Werkausgabe mit einem erheblichen administrativen Aufwand koordinierte und kontrollierte.47 Mitarbeiter des IMEL, die von Jaroslavskij so verachteten jüngeren studierten Historiker, die er verächtlich als „Rote Professoren" bezeichnete, überprüften und kommentierten die Entwürfe jedes einzelnen Bandes.48 Jaroslavskij selbst spielte bei diesen Vorbereitungen keine Rolle. Stalin kontrollierte nicht nur persönlich die Auswahl der zu veröffentlichenden Texte, sondern entfernte auch Namen oder Bezüge auf seine ehemaligen politischen Gegner.49

3. Statuskämpfe der Kultproduzenten Es wurde gezeigt, dass in den 1920er Jahren die Grenzen des Sagbaren und Publizierbaren noch weitgehend in den Redaktionskollegien ausgehandelt wurden. Die Kontrolle über die Inhalte sollte weitgehend dadurch gewährleistet werden, dass sich die Redaktionen überwiegend aus Bolschewisten zusammensetzten. 50 Jaroslavskij selbst war insbesondere durch seine Position in der ZKK mit der ideologischen Überwachung der Presseorgane, in deren Redaktionskollegien er vertreten war, betraut. Seine hervorgehobene Stellung in vielen Redaktionen hatte ihm zwar umfangreiche Einflussmöglichkeiten eröffnet, war aber keine Garantie, dass er seine Anliegen in den Redaktionen auch durchsetzen konnte. Zwischen 1929 und 1932 gelang es Stalin, die sowjetischen Medien und damit die Ideologieproduktion immer stärker zu kontrollieren.51 Mit seinem „Brief' an die Proletarskaja revoljucija demonstrierte er schließlich seine Interventionsmacht. Dieser Prozess führte sowohl zur Bildung mehrerer hochkarätiger außerordentlicher Kommissionen, die, wie im Falle von Jaroslavskij s zweibändigem Lehrbuch zur Parteigeschichte, die Ideologieproduktion direkt überwachten, als auch zu einer institutionellen Aufwertung der Zensurbehörden. Zu Beginn der 1930er Jahre ging die wichtigste Zensurbehörde, Glavlit, dazu über, auch parteiliche Literatur sys-

47 Die Vorbereitungen von Stalins Werkausgabe werden im Bestand (Fond) 71 des Sektor proizvedenij Stahna, 1936-1956, aufbewahrt, der erst kürzlich vom Archiv des Russischen Präsidenten in das RGASPI überführt wurde. 48 F.71, op.10, d.347-380. 49 Hierzu: Rieber, Alfred J.: Stalin, Man of the Borderlands, in: American Historical Review 106 (2001), S. 1651-1691, hier S. 1652-1653. So wurden infolge von Konsultationen mit Stalin einige seiner Texte, die auf die Periode 1910-1917 datiert sind, nicht in die beiden ersten Bände der Werkausgabe aufgenommen. F.71, op.10, d.20,1.917-923. 50 Eine Ausnahme bildete hier lediglich die Zeitschrift der „Gesellschaft der Zwangsarbeiter und Verbannten des Zarenregimes" Katorga i ssylka, in deren Redaktion auch Mitglieder anderer revolutionärer Parteien vertreten waren. 51 Brooks: Thank You, Comrade Stalin!, S. 59-60.

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tematisch zu zensieren52, und begann außerdem, Kriterien zu entwickeln, mit denen die öffentliche Darstellung Stalins reguliert werden sollte.53 Stalins Bestreben, die Dynamik der Kultproduktion und das Sprechen über ihn zu kontrollieren, wurde insbesondere am Beispiel seiner unmittelbaren Intervention deutlich, als er Jaroslavskij untersagte, dem 17. Parteitag die Herausgabe seiner Werke vorzuschlagen. Dieser Anspruch auf Kontrolle wurde schließlich in einem Protokoll der Politbürositzung vom 31. August 1935 kodifiziert, in der der georgischen Parteiorganisation die Veröffentlichung der von Stalin zwischen 1905 und 1910 verfassten Texte ohne die ausdrückliche Genehmigung Stalins verboten wurde. Desweiteren geht aus dem Protokoll hervor, dass das Politbüro die Herausgabe der Werke Stalins für notwendig hielt und mit deren Ausarbeitung das IMEL und die ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda unter der Maßgabe beauftragte, dass Stalin persönlich dieser Ausarbeitung zustimmen muss.54 Diese Politbüroentscheidung markierte einen Übergang von einem sporadischen Eingreifen Stalins zu einer systematischen Regulierung der Kultproduktion durch das Vorschalten eines letzten und maßgeblichen Filters. Das Privileg, über Stalin schreiben und sprechen zu dürfen sowie Zugriff auf die relevanten Dokumente zu erhalten, konnte mit dieser Entscheidung in letzter Instanz nur von Stalin selbst erteilt werden. Stalins strukturelle Machtfunktion wurde so endgültig festgeschrieben. Mit dieser Entscheidung wurde der Zugriff auf die Ressourcen des symbolischen Kapitals endgültig limitiert und sowohl an die Person Stalins, als höchste Kapitalform, gebunden als auch durch Stalin kontrolliert. Der Zugang zu diesen Ressourcen entschied wesentlich darüber, wie sich ein Akteur im Feld positionieren konnte, d.h. ob und in welchem Maße er Statuschancen wahrnehmen konnte. Da Stalin sich selbst und wenigen autorisierten Personen vorbehielt, die Inhalte der entsprechenden Texte und bildlichen Darstellungen als gültig zu erklären und zur Veröffentlichung freizugeben, spielten als Legitimation wissenschaftliche Kriterien der Überprüfbarkeit des Dargestellten keine Rolle mehr. Im folgenden soll am Beispiel Jaroslavskij s gezeigt werden, wie sich diese Praxis sowohl auf die sozialen Beziehungen im politischen Feld als auch auf den Darstellungsmodus, d.h. die Inhalte der Texte über Stalin, auswirkte. Jaroslavskij blieb trotz der Rückschläge, die ihm von Stalin und Kaganovic zugemutet worden waren, hartnäckig. Noch 1934 begann er mit dem Ziel, 52 Zelenov, M.V.: Apparat CK RKP(b): Cenzura i istoriôeskaja nauka ν 1920-e gody, Niznyj Novgorod 2000, S. 303-304, 457. Zwar wurde in allen Redaktionen seit Ende 1927 ein ständiger Repräsentant von Glavlit abgestellt, jedoch hatte der jeweilige verantwortliche Redakteur bis etwa 1930 noch das Recht, den internen Zensor zu überstimmen. Lenoe: Closer to the Masses, S. 19. 53 Bljum, A.V.: Za kulisami „ministerstva pravdy": Tajnaja istoriia sovetskoj cenzury, 1917-1929, St. Petersburg 1994, S. 128. 54 Protokoll der Politbürositzung vom 31.8.1935. Ausschnitt abgedruckt in: Getty/Naumov: Road to Terror, S. 184.

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eine Stalin-Biographie zu verfassen, Material über Stalin zu sammeln.55 Für dieses Vorhaben nutzte er seine offiziellen und persönlichen Kontakte, u.a. wandte er sich direkt an Avel Enukidze, den Vorsitzenden des Zentralen Exekutivkomitees und alten Mitstreiter Stalins aus dem revolutionären Untergrund im Kaukasus, und an die örtlichen Zweigstellen der Traditionsgesellschaften.56 Im Januar 1935 setzte Jaroslavskij Ivan Tovstucha von seinem Vorhaben in Kenntnis und bat ihn um Hilfe bei der Materialbeschaffung.57 Tovstucha, der von 1921 bis 1930 in Stalins persönlichem Sekretariat gearbeitet hatte, war der Autor der ersten Stalin-Biographie, die 1927 veröffentlicht worden war.58 Er bekleidete Mitte der 1930er Jahre den Posten des stellvertretenden Direktors des IMEL. Stalins Mitarbeiter im ZK-Sekretariat Boris Bazanov charakterisiert Tovstucha in seinen Erinnerungen als „tuberkulösen Intelligenzler", als „finsteres Subjekt" und „eifersüchtigen Intrigenspinner", der bereit gewesen sei, die skrupellosesten Aufträge Stalins zu erfüllen.59 Tovstucha selbst hatte Anfang des Jahres 1935 Adoratskij, dem damaligen Direktor des IMEL, vertraulich berichtet, er sei von Steckij aufgefordert worden, eine Stalin-Biographie zu schreiben. David Brandenberger vermutet, Steckij habe mit Stalin kurz nach dessen 55. Geburtstag über die Notwendigkeit einer Stalin-Biographie gesprochen.60 In seiner Antwort auf Jaroslavskijs Anfrage teilte Tovstucha seinem Konkurrenten in rüdem Ton mit, dass er die Erstellung einer Biographie Stalins zwar für notwendig halte, Jaroslavskij jedoch von seinem Plan abrate, da dieser einer solchen Aufgabe nicht gewachsen sei. Tovstucha leugnete gegenüber Jaroslavskij explizit sein eigenes Vorhaben, eine Stalin-Biographie verfassen zu wollen.61 Jaroslavskij zeigte sich in seiner Antwort an Tovstucha wenig beeindruckt. Er verwies darauf, dass er die Unterstützung einiger Mitglieder des Politbüros genieße, bei der Materialbeschaffung auf seine guten Kontakte zu den Zweigstellen der Traditionsgesellschaften zählen könne und daher nicht gedenke, sein Vorhaben aufzugeben.62 Im Kampf um den Zugang zu den Dokumenten ging es den Beteiligten insbesondere um Materialien über Stalins Zeit im Kaukasus, seine Rolle in der dortigen Revolution von 1905 und um die Artikel, die Stalin im revolutio55

Schreiben Jaroslavskijs an Orachelasvili, Nordkaukas. Krajkom, vom 27.10.1934. F.89, op.8, d.65,1.4. 56 Zu Jaroslavskijs Korrespondenz mit den entsprechenden Stellen siehe: F.89, op.8, d.1001. Schreiben Jaroslavskijs an Enukidze vom 27.1.1935. F.89, op.8, d.1001, 1.7. Schreiben Jaroslavskijs an F.E. Macharadze vom 1.2.1935. F.89, op.8, d.1001,1.5. 57 Schreiben Jaroslavskijs an Tovstucha vom 19.1.1935. F.155, op.l, d.88,1.1. 58 Tovstucha, I.P.: Stalin, in: Enciklopediceskij slovar' Granat, Bd. 41, Moskau 1927, S. 107-110. 59 Bazanov. Vospominanija, S. 130-132. 60 Brandenberger, Devid (David): Sostavlenie i publikacija oficial'noj biografii vozdja katechizisa stalinizma, in: Voprosy istorii, 1997, H.12, S. 141-150, hier S. 143. 61 Schreiben Tovstuchas an Jaroslavskij vom 28.1.1935. F.155, op.l, d.89,1.1-2. 62 Schreiben Jaroslavskijs an Tovstucha vom 28.1.1935. F.155, op.l, d.88,1.2.

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nären Untergrund in georgischer Sprache verfasst hatte. Um diese Dokumente bemühte sich auch Jaroslavskij vordringlich. Der Zeitpunkt für ein so spezifisches Interesse war nicht zufallig: Zunächst jährten sich diese Ereignisse zum dreißigsten Mal. Das war aber offensichtlich nicht der einzige Grund: Der russische Historiker Sucharev geht davon aus, dass die wachsende Kritik an Stalins ehemaligem Weggefährten Avel Enukidze63, der mehrere Erinnerungstexte über den revolutionären Untergrund im Kaukasus verfasst hatte, als Signal verstanden wurde, dass eine neue Darstellung Stalins in dieser Periode erfolgen sollte.64 Enukidze wurde direkt nach der erneuten Veröffentlichung seiner Erinnerungen in der Pravda vom 16. Januar 1935 stark unter Druck gesetzt, die darin vermeintlich befindlichen Fehler einzugestehen.65 Damit verschärfte sich der Konkurrenzkampf der Ideologieproduzenten um die entsprechenden Dokumente. Auch Tovstucha, der im Vorfeld dafür gesorgt hatte, dass die im Auftrag Lavrentij Berijas66 in Tiflis gesammelten Dokumente über Stalin in das IMEL überfuhrt wurden67, blieb nicht untätig. Er sah sich besonders zum Handeln veranlasst, als Adoratskij ihm berichtete, dass Jaroslavskij ihn um eine dem IMEL vorliegende Bibliographie der Werke Stalins gebeten hatte.68 Am 14. April 1935 bat Tovstucha, der Adoratskij offensichtlich auf seiner Seite wusste, diesen um den folgenden Gefallen: „Falls Jaroslavskij ahnt, was bei mir vor sich geht (bei Manucar'jan), dann bringen Sie ihn bitte auf entschiedene Art davon ab, bzw. sagen Sie ihm, er soll sich an mich wenden. Insbesondere soll er keinerlei Kenntnis über die aus dem Georgischen übersetzten Artikel [Stalins; S.D.] erhalten."69

Tovstucha verfolgte offenkundig das Ziel, den Zugriff auf die obengenannten Materialien zu monopolisieren. Eine wesentliche Dynamisierung erhielt der Wettstreit der Kultproduzenten durch zwei Veröffentlichungen Berijas, der sowohl Jaroslavskij als auch Tovstucha zuvorgekommen war. Berija war von 1932 bis 1937 erster Sekretär der georgischen Parteiorganisation und arbeitete seit 1932 intensiv an der Entfaltung des Stalinkults. Mitte des Jahres 1934 hatte er in der maßgebli« Avel S. Enukidze (1877-1937) war 1924-1934 Mitglied der ZKK, 1934-1935 des ZK und von 1922-1935 Sekretär und Präsidiumsmitglied des ZEK. 1937 fiel er dem Terror zum Opfer. 64 Sucharev: Licedejstvo, S. 108, 111, 114. 65 Enukidze, A.S.: Bol'sevistskie nelegal'nye tipografii, 3-e izd., Moskau 1934; ders:. Κ voprosu ob istorii Zakavkazskich partijnych organizacij, in: Pravda, 16.1.1935. 66 Zur Rolle Berijas bei der Kultproduktion siehe: Sucharev. Licedejstvo; Knight: Beria, S. 53-64. 67 Hierzu siehe: Brandenberger·. Stalin as Symbol, S. 257. 68 Anfrage Jaroslavskijs an das IMEL unter Berufung auf ein Telefongespräch mit Adoratskij vom 4.3.1935. Aus dieser Anfrage geht hervor, dass Adoratskij Jaroslavskij seine Unterstützung zugesagt und versprochen habe, ihm die genannte Bibliographie zu Verfügung zu stellen. F.89, op.8, d.1001,1.3. 69 Schreiben Tovstuchas an Adoratskij vom 14.4.1935. F.155, op.70, d.l, 1. 34-34ob.

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chen theoretischen Zeitschrift Bol'sevik den Artikel „Die georgischen Bol'seviki in ihrem Kampf für den Sozialismus" publiziert. Im Sommer 1935 erschien der Vorabdruck seines Buchs „Geschichte der bolschewistischen Organisationen im Kaukasus" in der Pravda. Das Buch wurde ausdrücklich vom ZK empfohlen und erschien schon im Jahr 1935 in einer Auflage von 100.000 Exemplaren. Der dem Buch zugrundeliegende Vortragstext wurde im selben Jahr in 35 Millionen Exemplaren in Umlauf gebracht.70 Berijas Buch verfolgte das Ziel, Stalin als den führenden Kopf in der revolutionären Bewegung Georgiens darzustellen, der das Land zu einer Bastion des Bolschewismus gemacht habe. Jaroslavskij würdigte Berijas Text in einer Besprechung mit dem Titel „Eine große Lücke in der Erforschung der Geschichte des Bolschewismus ist geschlossen worden" ausführlich.71 Seine positive Bewertung entsprang aber wohl eher taktischen Überlegungen als aufrichtiger Bewunderung.72 Er war sich offensichtlich Berijas Stellung in der Partei und der Anerkennung von dessen Buch durch das ZK bewusst und hielt sich daher mit öffentlichen kritischen Äußerungen gegenüber seinem Konkurrenten zurück. Zudem war Jaroslavskij s Rezension vor ihrer Publikation von einer Kommission des ZK kontrolliert worden.73 In seinen privaten Aufzeichnungen hingegen übte Jaroslavskij weniger Zurückhaltung und kritisierte Berijas Publikationen zu anderen Fragen der Parteigeschichte scharf: Einen Artikel Berijas über die Prager Parteikonferenz, der am 26. Oktober 1935 in der Pravda erschienen war und in Jaroslavskij s persönlichem Nachlass lagert, versah Jaroslavskij mit einem kritischen Kommentar, in dem er seinem Konkurrenten vorwarf, er verschweige die Tatsache, dass Lenin auf der Prager Konferenz einen Zusammenschluss der bolschewistischen Fraktion mit dem linken Flügel der Menschewiki befürwortet habe.74 Auch in seinem Tagebuch äußerte er sich mehrfach deutlich gegen die Behauptung Berijas, die bolschewistische Partei sei erst 1912 auf der Prager Parteikonferenz entstanden. Jaroslavskij hingegen datierte die Gründung der bolschewistischen Partei auf das Jahr 1903 und führte wiederum Lenin als Gewährsmann für sein Argument an.75

70

Das in hoher Auflage publizierte Buch Berijas, das in Wirklichkeit von E.A. Bedija, dem Leiter des Stalin-Instituts in Tiflis verfasst worden war, wurde vom ZK für die Unterrichtung des Parteiaktivs und der Propagandisten als unabdingbar eingestuft. Die örtlichen Parteiorganisationen wurden verpflichtet, das neue Lehrbuch für die Heranbildung der Parteimitglieder einzusetzen. Sucharev: Licedejstvo, S. 115-116. 71 Jaroslavskij, Em.: Zapolnen bol'soj probel ν izucenii istorii bol'sevizma, in: Zarja Vostoka, 16.11.1935; sowie in: Molodaja Gvardija, 1935, no. 10, S. 136-142. 72 Sucharev: Licedejstvo, S. 116. 73 F.89, op.7, d.115, 1. 5-31. Siehe hierzu: Bettanin, Fabio: La fabbrica del mito, Neapel 1996, S. 144-147. 74 Berija, L.: Κ voprosu o Prazskoj konferencii, in: Pravda, 26.10.1935, mit einer Bemerkung Jaroslavskijs. F.89, op.8, d. 155,1.1. 75 Aufzeichnungen vom 8.12.1936 und 15.1.1937. Familienarchiv.

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Warum war für Jaroslavskij die Interpretation bestimmter historischer Wegmarken, wie zum Beispiel der Prager Parteikonferenz, so wichtig? Die aus heutiger Sicht pedantisch erscheinende Auseinandersetzung Jaroslavskijs mit der Auffassung Berijas, die bolschewistische Partei sei erst 1912 entstanden, hatte für Jaroslavskij und die Konstruktion seiner revolutionären Identität eine ganz wesentliche Bedeutung. Jaroslavskij, der nach eigenen Angaben seit 1898 in der russischen Sozialdemokratie aktiv war, hatte zum einen das Bedürfnis, die Geschichte der bolschewistischen Partei in die eigene revolutionäre Vergangenheit zu integrieren. Er versuchte, eine möglichst lange bolschewistische Tradition nachzuweisen und sich selbst als Teil dieser Tradition zu verorten. Für den neunzehn Jahre jüngeren Berija, der erst 1917 zum bolschewistischen Zweig der russischen Sozialdemokratie stieß, spielten diese Traditionen keine Rolle. Für Jaroslavskij ging es darum, seine Interpretation der Parteigeschichte und die Konstruktion seiner revolutionären Identität zu verteidigen und kanonisieren d.h. als die einzige legitime anerkennen zu lassen. Wichtig ist zudem, dass Jaroslavskij seine Auffassung, die bolschewistische Partei sei 1903 gegründet worden, in mehreren Artikeln kundgetan hatte.76 Seine Interpretation wurde aber dadurch delegitimiert, dass Berijas Texte vom ZK anerkannt und in der Pravda, d.h. im ideologisch maßgeblichen Zentralorgan der Partei, abgedruckt wurden. Das war fur Jaroslavskij besonders schwer zu verkraften, weil er seine Interpretation der Prager Konferenz im Jahr 1932 gegen den Widerstand Mechlis' und Nikolaj Popovs nur mit Mühe und der Unterstützung Stalins hatte durchsetzen können. Die dadurch erhaltene Genugtuung hatte Jaroslavskij als seine Rehabilitierung ausgelegt77, die sich nun im Jahr 1935 durch den Triumph Berijas lediglich als vorübergehend erwies. Stalins Bedeutung während der Prager Parteikonferenz wurde sowohl von Jaroslavskij als auch von Berija, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, überbewertet. Stalin war nach der Prager Parteikonferenz, die im Januar 1912 stattgefunden hatte und bei der er nicht zugegen gewesen war, von dem dort gewählten Zentralkomitee lediglich als Mitglied kooptiert, nicht aber gewählt worden. Jaroslavskij hatte in seinem Artikel anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Prager Parteikonferenz versucht, die Tatsache der Kooption mit der folgenden ungenauen Formulierung zu verschleiern: „Auf der Konferenz wurde ein bolschewistisches Zentralkomitee, bestehend aus den Personen Lenin, Stalin, Zinov'ev, Ordjonikidze, Belostotskij, Svarcman, Goloscekin, Spandarian und I.A. Sverdlov gewählt (einige dieser Genossen wurden später in das Zentralkomitee kooptiert)."78

76

Z.B. Jaroslavskij, Em.: Κ 20-letiju prazskoj (janvar'skoj) konferencii 1912 goda, in: Pravda, 22.1.1932. 77 Siehe: Kap. V.l. 78 Jaroslavskij: Κ 20-letiju prazskoj (janvar'skoj) konferencii (1932); Tucker. Stalin as Revolutionary, S. 144-145; Tucker: Stalin in Power, S. 161.

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Mit dieser Formulierung stellte er den Sachverhalt zwar nicht explizit falsch dar. Es sollte aber offensichtlich der Eindruck erweckt werden, Stalin sei direkt auf der Parteikonferenz als ZK-Mitglied gewählt worden. Berija ging in dem von Jaroslavskij kritisierten Artikel aber noch weiter: Indem er behauptete, die bolschewistische Partei sei auf der Prager Parteikonferenz entstanden, stellte er Stalin implizit als einen der Gründer der Partei dar und verknüpfte damit wesentliche Ereignisse der Parteigeschichte mit Stalins Biographie. In Jaroslavskijs nicht-öffentlich vorgebrachter Kritik an Berija steht das Gründungsdatum der bolschewistischen Partei im Zentrum seines Interesses, nicht aber die damit verbundene Darstellung Stalins. Möglicherweise sah Jaroslavskij aber in der Betonung von Stalins Rolle die einzige Möglichkeit, um seinen Artikel überhaupt platzieren zu können. An dieser Stelle wird noch eine weitere Funktion des Kults für die Kultproduzenten offenbar: Der Generalsekretär erscheint in diesem speziellen Zusammenhang zumindest auch als Vehikel, mit dem die eigenen Interpretationen der Parteigeschichte, die nicht zwingend etwas mit Stalin zu tun haben mussten, am erfolgversprechendsten transportiert werden konnten. Hier äußert sich zudem Jaroslavskijs mangelnde Fähigkeit oder gar seine, zumindest im Vergleich zu Berija, begrenzte Bereitschaft, alle für ihn bedeutsamen Ereignisse in der Parteigeschichte mit der Biographie Stalins zu verknüpfen und Stalin als ausschließliche Verkörperung der Parteigeschichte darzustellen. Es wird noch zu zeigen sein, dass die späteren Kritiker von Jaroslavskijs stalinbiographischen Texten gerade diese vermeintlich mangelhafte Verknüpfungsleistung monierten. Außerdem fiel es Jaroslavskij, der in direktem Kontakt zu Lenin gestanden hatte, ganz offensichtlich weniger leicht als Berija, gegen Lenins Nachlass zu verstoßen. Diese Skrupel sind allerdings ambivalent: Verstöße gegen Lenins Texte gehörten für Jaroslavskij zwar in den Bereich der selbstauferlegten Verbote. Diese Verbote erfüllten so für ihn einerseits die moralische Funktion des Gewissens, ermöglichten ihm aber andererseits, sich zumindest vor sich selbst seiner vermeintlichen moralischen Überlegenheit gegenüber Berija und anderen Konkurrenten zu vergewissern. Zudem ließen sich diese „Verbote" durch Strategien der Selbstüberzeugung umgehen. Jaroslavskij sah sich in den 1930er Jahren immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass seine selbstauferlegte Verpflichtung gegenüber Lenin mit den Maßgaben für die Darstellung Stalins in der Parteigeschichte in Konflikt geriet. Derartige Bedenken kamen Jaroslavskij z.B. bei der Lektüre von Dokumenten über den bekannten Konflikt zwischen Stalin und Lenin in den Jahren 1921/22, die sogenannte Georgische Affare. Zur besseren Verständlichkeit der folgenden Argumentation soll dieser Konflikt kurz geschildert werden: Ordzonikidze hatte in seiner damaligen Funktion als Vorsitzender des Kaukasischen Regionalbüros mit Stalins Unterstützung eine Politik der Zwangseingliederung Georgiens, Armeniens und

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Azerbajdzans in eine „Transkaukasische Föderation" betrieben und war auf den erbitterten Widerstand der georgischen Bolschewisten gestoßen, die um ihre Unabhängigkeit fürchteten und einen eigenständigen Beitritt Georgiens in eine Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken befürworteten. Lenin war grundsätzlich für die Einrichtung einer „Transkaukasischen Föderation", wurde aber offensichtlich durch Stalins und Ordzonikidzes rüden politischen Stil aufgebracht. Lenin hatte seinen Unmut in einem Memorandum formuliert, in dem er Stalin, Ordjonikidze und Feliks Dzerzinskij als „großrussische Chauvinisten" kritisierte. Dieses Memorandum wurde auf dem 12. Parteitag im Frühjahr 1924 nicht, wie Lenin verlangt hatte, der gesamten Partei zugänglich gemacht, sondern in geschlossenen Sitzungen den einzelnen Delegationen verlesen.79 In einem Tagebucheintrag vom 27. Oktober 1936 versuchte Jaroslavskij, seine Skrupel mit einer Strategie der Selbstüberzeugung zu zerstreuen: „Ich lese gerade eine alte Akte über die georgischen Abweichler (...). Es besteht kein Zweifel, dass man Lenin damals in unredlicher Absicht informierte. Vor allem Trotzkij hat ihn damals gegen Stalin, Dzerzinskij und Sergo [Ordzonikidze; S.D.] aufgehetzt, dann auch Z.[inov'ev] und K.[amenev]. Sie waren immer bereit, Stalin zugrunde zu richten. Zweifellos hatten Stalin und Sergo prinzipiell recht! Wenn ich über Stalin in dieser Periode schreibe, muss ich das unbedingt unterstreichen und zeigen, dass Stalin in dieser Frage recht hatte."80

Die Tatsache, dass Jaroslavskij sich in seinem Tagebuch mit den Unstimmigkeiten zwischen Lenin und Stalin beschäftigte, die entsprechend der neuen Maßgaben zur Darstellung Stalins gar nicht hätten existieren dürfen, zeigt, dass er diese zu seinem persönlichen Konflikt machte. Für ihn gab es aber nicht die Option, die Auseinandersetzung zwischen Lenin und Stalin als temporäre Erscheinung einfach zu konstatieren, sondern er stand unter dem Druck, Kohärenz und Eindeutigkeit herstellen zu müssen. Die zitierte Aufzeichnung macht deutlich, dass er seine konfligierenden Loyalitäten nur bewältigen konnte, indem er Trotzkij, Zinov'ev und Kamenev die bewusste Täuschung Lenins unterstellte.81 Die verschärften Repressionen gegen Oppo-

79

Zur „Georgischen Affare" siehe: Smith: The Georgian Affair; Tucker. Stalin as Revolutionary, S. 254-267; Izvestija CK KPSS, 1990, H 9, S. 150-158. Möglicherweise fand Jaroslavskij Stalins und Ordzonikidzes Nationalitätenpolitik zusätzlich zu den in Kapitel III.2. aufgeführten Gründen auch deswegen überzeugend, weil er wie sie seine Erfahrung von sozialem Aufstieg mit dem Eintritt in die russische Kultur verband und daher dazu neigte, den Bolschewismus als russisches Phänomen wahrzunehmen. Mitte der 1920er Jahre hatte sich Jaroslavskij während eines Vortrags auf einem ZK-Plenum gegen die Anwendung der korenizacija-Politik auf die jüdische Bevölkerung in der Ukraine ausgesprochen. Em. Jaroslavskij: Doklad na plenume CK o nacional'noj politiki partii. F.89, op.3, d. 86. Luukkanen: Party of Unbelief, S. 203. 80 Aufzeichnung vom 27.10.1936. Familienarchiv. 81 Lenin, der infolge mehrerer Schlaganfalle nicht mehr aktiv in die Politik eingreifen konnte, hatte Trotzkij damit beauftragt, seine Interessen zu vertreten. Trotzkij hatte aber mitnichten, wie Jaroslavskij behauptete, gegen Stalin und Ordzonikidze intrigiert, sondern

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sitionelle in den 1930er Jahren hatten für Jaroslavskij nicht nur einen bedrohlichen, sondern auch einen produktiven Aspekt: Zinov'ev und Kamenev waren im Sommer 1936 während des Prozesses gegen den „TrotzkistischZinov'evschen konterrevolutionären Block" unter anderem für den Mord am Leningrader Parteivorsitzenden Sergej Kirov verantwortlich gemacht, der Vorbereitung eines Mordanschlags auf Stalin beschuldigt und für diese und andere vermeintliche Vergehen zum Tode verurteilt worden. Jaroslavskij versuchte, die Verurteilung Zinov'evs und Kamenevs in Kapital zu verwandeln, um damit Widersprüche in der Parteigeschichte und sein persönliches Dilemma aufzulösen. Die Diskreditierung der Terror-Opfer war für ihn notwendig, um sich selbst als moralisches Subjekt zu konstituieren. Am deutlichsten lässt sich das gespannte Verhältnis zu Berija, den Jaroslavskij aber nicht direkt angreifen konnte, anhand der Tatsache illustrieren, dass sich Jaroslavskij in seinen fortwährenden Bemühungen, Dokumente über Stalins revolutionäre Tätigkeit in Georgien zu bekommen, an Avel Enukidze, Filipp Macharadze und Mamia Orachelasvili wandte. Alle drei waren von Berija im Vorfeld politisch diskreditiert worden.82 Diese Altbolschewisten waren alle im georgischen revolutionären Untergrund Weggefährten Stalins gewesen und hatten in unterschiedlicher Form Texte über die frühe Geschichte der georgischen Sozialdemokratie verfasst. Ihnen hatte Berija vorgeworfen, Stalins Rolle im revolutionären Untergrund Georgiens nicht ausreichend gewürdigt zu haben. Alle drei wurden auf der georgischen Parteikonferenz im Januar 1934 von Berija als „Geschichtsverdreher" verunglimpft. Der kameradschaftliche Ton der Schreiben Jaroslavskij s legt die Vermutung nahe, dass dieser sich durch den gemeinsamen Status des Altbolschewisten mit den drei georgischen Revolutionären verbunden fühlte und auf deren Aufgebrachtheit gegen Berija zählte. Ein weiterer möglicher Bezugspunkt für diese Verbundenheit ergibt sich daraus, dass alle drei wie Jaroslavskij Mitglieder der ZKK waren. Mit ihnen verkehrte er auch außerhalb seiner unmittelbaren Arbeitszeit während des Erholungsurlaubs freundschaftlich. In Jaroslavskijs Nachlass befindet sich eine Bibliographie in russischer und georgischer Sprache mit dem Titel „Transkaukasische Organisatio-

sich im Gegenteil für einen Ausgleich zugunsten Stalins und Ordzonikidzes eingesetzt. Tucker. Stalin as Revolutionary, S. 263-267. 82 Schreiben Jaroslavskijs an Orachelasvili, nordkaukasisches Krajkom, vom 27.10.1934. F.89, op.8, d.65, 1.4. Schreiben Jaroslavskijs an F. Macharadze vom 1.2.1935. Ebenda, d.1001,1.6. Schreiben Jaroslavskijs an A. Enukidze vom 27.1.1935. Ebenda, 1.8. Mamia D. Orachelasvili (1881-1937) war 1927-1934 ZK-Mitglied, 1931-1934 als Vorgänger Berijas Sekretär der georgischen Parteiorganisation. Er besetzte einige wichtige Posten im Bereich der Wissenschaft und der Propaganda und hatte dort möglicherweise Berührungspunkte mit Jaroslavskij. 1927-1930 war er Mitglied der Redaktion der BSE, 1930 des Redaktionskollegiums der Pravda, 1932-1937 stellvertretender Direktor des IMEL. 1937 fiel er wie Enukidze dem Terror zum Opfer. Filipp I. Macharadze (18681941), der ebenfalls Mitglied der ZKK war (1927-1930), überlebte den Terror. Zu Berijas Angriffen auf Enukidze, Orachelasvili und Macharadze siehe: Knight: Beria, S. 56-64.

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nen der RSDRP im Jahre 1905", die ihm Ende März 1935 von der Tifliser Filiale des IMEL zugeschickt worden war und die darauf hinweist, dass zumindest eine seiner Nachfragen erfolgreich war.83 Hier wird zum einen deutlich, dass Jaroslavskij weiterhin versuchte, seine Kontakte zu nutzen, um seine Vorhaben durchzusetzen, andererseits aber auch, dass der entstehende Stalinkult die sozialen Beziehungen zunehmend strukturierte. Offensichtlich waren aber all diese Versuche, Zugriff auf die Dokumente zu bekommen, nicht in ausreichendem Maße ergiebig, so dass Jaroslavskij nichts anderes übrig blieb, als seinem Anliegen an anderer Stelle Nachdruck zu verleihen. Im März 1935 schrieb er an Steckij, den Leiter der ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda: „Genösse Steckij, (...) ich möchte Ihnen etwas sagen, was mir unangenehm ist, dem Genossen Stalin persönlich zu schreiben. In allen Lehrbüchern muss mehr über Stalin geschrieben werden, über seine Rolle im Aufbau und der Führung der Partei, in der Ausarbeitung ihrer Ideologie, ihrer Organisationsform und Taktik. Sie wissen, dass ich daran arbeite und arbeiten werde, um ein Buch über Stalin zu liefern. Das ist unabdingbar für die gesamte Partei. Die Lehrbücher für Parteigeschichte müssen mit Material über Stalin gesättigt werden und das nicht nur für die Periode nach dem Tod Lenins. (.. .)"84

Da aber auch die Anfrage an Steckij nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatte, wandte sich Jaroslavskij schließlich im Sommer 1935 mit der Bitte an Stalin, das IMEL anzuweisen, ihm Zugang zu den Archivalien für eine StalinBiographie zu ermöglichen, da man ihm diesen bisher verwehrt habe. Diese Kontaktaufnahme wurde durch Jaroslavskij s alten Freund Ordjonikidze vorbereitet. Jaroslavskij selbst hatte zu diesem Zeitpunkt keinen unmittelbaren Zugang mehr zu Stalin. Die Vermittlung Ordzonikidzes diente sicher auch dazu, Stalin mit Jaroslavskij s Vorhaben zu konfrontieren und es auf diesem Wege sanktionieren zu lassen. Stalin erteilte Jaroslavskij aber zunächst eine Absage und machte ihn im selben Zuge auf die Existenz eines weiteren hochkarätigen Konkurrenten aufmerksam: Auch Gor'kij verfolge ein ähnliches Vorhaben und habe um Unterstützung gebeten, doch die Zeit für eine Stalin-Biographie sei noch nicht reif.85 Am Beispiel von Stalins Antwort lässt sich ein wichtiges Steuerungsinstrument erkennen, das er zur Kontrolle der Kultproduktion anwandte: Durch die Erwähnung des berühmten Schriftstellers und ernstzunehmenden Konkurrenten Gor'kij dynamisierte er einerseits die Statuskämpfe, andererseits hielt er Jaroslavskij hin und steigerte damit dessen Begehren, sein Vorhaben zu einem späteren Zeitpunkt durchzusetzen. Nur ein halbes Jahr später machte Jaroslavskij Stalin erneut auf sein Vorhaben aufmerksam, ein Buch über dessen Rolle in der Parteigeschichte

83 F.89, op.8, d.1002. Schreiben Jaroslavskijs an Steckij vom 11.3.1935. F.89, op.l, d.84, 1.15 (Hervorhebung im Original). 85 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 1.8.1935, Resolution Stalins auf demselben Blatt. F.558, op.l 1, d.842,1.11. 84

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schreiben zu wollen, bediente sich hier aber einer anderen Strategie. Die Tatsache, dass sich Stalin selbst gegen dieses Projekt ausgesprochen hatte, wurde von Jaroslavskij dabei geflissentlich ignoriert. Stattdessen beklagte er sich über die mangelnde Unterstützung durch die sowjetischen Historiker und die entsprechenden Institutionen. Diejenigen, die ihm die Unterstützung versagten, identifizierte Jaroslavskij als Schüler Pokrovskijs und „einige Ikapisten", d.h. am Institut der Roten Professur ausgebildete Historiker. In diesem Schreiben unterstellte Jaroslavskij implizit, dass durch diese Personengruppe nicht nur seine, sondern vor allem Stalins Interessen verletzt würden, und versuchte, Stalin als Opfer der „Apparate" darzustellen.86 Warum war der Zugang zu den für Stalins vorrevolutionäre Vergangenheit relevanten Dokumenten für die Akteure so wichtig? Dem außenstehenden Beobachter erscheinen sowjetische historiographische Texte als ideologisch überformt, d.h. als aus herrschaftstechnischen Gründen bewusste Verfälschungen von Geschichte, die einen in höchstem Maße standardisierten und redundanten Darstellungsmodus aufweisen. Für derartige Geschichtsdarstellungen scheint aus heutiger Perspektive das Studium von Dokumenten nicht unbedingt notwendig gewesen zu sein. Stalin selbst hatte im Herbst 1931 in seinem „Brief' an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija diejenigen Historiker, die es seiner Auffassung nach mit dem Studium der Archivalien zu genau nahmen und darüber die politische Zweckmäßigkeit ihrer Texte vergaßen, als „Archivratten" bezeichnet und gemaßregelt. Dennoch verwendeten die Prätendenten viel List und Mühe auf die Jagd nach den Dokumenten für eine Stalin-Biographie und versuchten, den Zugriff darauf möglichst exklusiv zu halten oder vollständig zu monopolisieren. Zunächst können wir z.B. anhand von Jaroslavskijs Kritik an Berijas Darstellung der Prager Parteikonferenz feststellen, dass die Interpretationen der wesentlichen Ereignisse der Parteigeschichte keinesfalls einheitlich waren. Die in den 1930er Jahren verfassten Texte über Parteigeschichte kommen dem heutigen Leser lediglich so einheitlich vor, weil ihm die Wegmarken, d.h. die zentralen Ereignisse, die dort verhandelt werden, nicht relevant erscheinen und diese Interpretationsunterschiede daher häufig nicht wahrgenommen werden.87 Für Jaroslavskij war es aber durchaus von zentraler Bedeutung, ob die bolschewistische Partei 1903 oder, wie Berija behauptete, erst 1912 entstanden war. Der bolschewistische Diskurs über die Parteigeschichte kann, um Igal Halfins Formu-

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Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 22.1.1936. F.558, o p . l l , d.842,1.13-20, hier 1.15. In bezug auf das Kunstwerk hat Pierre Bourdieu festgestellt, dass jede Epoche ihre künstlerischen Darstellungen nach einem bestimmten Gliederungssystem organisiert, welches sie von anderen Epochen unterscheidet. Daher hätten die Individuen Mühe, andere Unterschiede zu bemerken als diejenigen, welche ihnen ihr verfugbares Gliederungssystem festzustellen gestatte. Diese Feststellung lässt sich auch auf die Rezeption von Historiographie übertragen. Die Bedeutung und die Unterschiede lassen sich nur ermitteln, indem man den Bedeutungskontext rekonstruiert. Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen, 5. Aufl, Frankfurt a.M. 1994, S. 174. 87

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lierung aufzunehmen, als „Hermeneutik historischer Wegmarken" bezeichnet werden.88 Die wesentliche Herausforderung für die bolschewistischen Historiker war, diese Wegmarken als Etappen auf dem Weg in eine kommunistische Gesellschaft zu deuten und in einem zweiten Schritt ihre Deutung gegen konkurrierende Interpretationen durchzusetzen. Hieraus ergibt sich auch die Bedeutung von Dokumenten: Ihre unterschiedlichen Interpretationen versuchten die jeweiligen Historiker mit Dokumenten, insbesondere den unangreifbaren Schriften Lenins und Stalins, zu legitimieren.89 So rechtfertigte z.B. Jaroslavskij Anfang des Jahres 1937 - allerdings nur in seinem Tagebuch - seine Interpretation der Prager Parteikonferenz folgendermaßen: „Je intensiver ich die Materialien über die [Prager; S.D.] Konferenz studiere, desto mehr erscheint mir die Behauptung Berijas riskant, die Partei sei 1912 entstanden. In Lenins Schriften steht geschrieben, dass die Prager Konferenz die Partei wiedererrichtet hat. Wiedererrichten kann man nur etwas, was vorher schon existiert hat; entstehen kann die Partei hingegen nur, wenn es sie vorher noch nicht gab. Nein, das ist ihm [Berija; S.D.] nicht gelungen. Diese Formulierung ist falsch und der Genösse L. Berija verteidigt sie umsonst."90

Noch wichtiger war jedoch, dass durch die zunehmende Limitierung des Zugangs zu den Stalin betreffenden Dokumenten der symbolische Wert ebendieser Dokumente wesentlich stieg. Diejenigen, denen der Zugang zu diesen Materialien gewährt wurde, erhielten das legitime Interpretationsmonopol der Schriften Stalins und konnten dementsprechend ihre Statusposition in der Partei verbessern. Über die Vergabe dieses Privilegs wurde auch sichtbar, welcher der Prätendenten das Vertrauen bzw. das Misstrauen Stalins besaß. Am Wettstreit um das Privileg, eine Stalin-Biographie schreiben zu dürfen, beteiligten sich neben den schon genannten Gor'kij, Tovstucha und Berija u.a. auch der Schriftsteller Michail Bulgakov und der georgische Bolschewist M.G. Toroselidze. Jaroslavskij musste sein Vorhaben aufgrund der Absage Stalins zunächst auf Eis legen. Roj Medvedev vermutet, Stalin habe Jaroslavskijs Vorstoß abgelehnt, weil dieser als Autor einer Stalin-Biographie nicht renommiert genug gewesen sei.91 Tovstucha verstarb im August 1935 an Tuberkulose; und auch Gor'kij schrieb keine neue Stalin-Biographie. Anfang des Jahres 1936, im Jahr der Verabschiedung der neuen sowjetischen Verfassung, erschien schließlich die erste umfassende Stalin-Biographie, die aber nicht von einem der sowjetischen Prätendenten verfasst worden war, sondern von dem französischen Schriftsteller Henri Barbusse. Für dieses Buch, das in mehreren Sprachen gleichzeitig erschien, hatte Barbusse der unbelegten Aussage Medvedevs zufolge alle erforderlichen Dokumente direkt vom ZK erhalten. Das Buch war allerdings schon 1937 wieder aus dem Ver88

Halfin: Class, Consciousness, and Salvation, S. 8. Zum Vorgang der Implementierung des „Leninismus" als Herrschaftsdoktrin während Lenins Krankheit und nach seinem Tod siehe: Ennker. Anfange des Leninkults, S. 59-66. 90 Aufzeichnung vom 15.1.1937. Familienarchiv. 91 Medvedev: Let History Judge, S. 817. 89

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kehr gezogen worden, möglicherweise weil in ihm Personen genannt wurden, die schon einige Monate nach dem Erscheinen dem Terror zum Opfer gefallen waren.92 Im September 1938 erschien der Vorabdruck der neuen offiziellen Parteigeschichte, des „Kurzen Lehrgangs der Geschichte der KPdSU" (Kratkij leurs) in der Pravda. Jaroslavskij war an der Erstellung dieses Lehrbuchs maßgeblich beteiligt und konnte hierdurch seine vollständige Rehabilitierung als Parteihistoriker erreichen.93 In Zusammenhang mit dem bevorstehenden 60. Geburtstag Stalins am 21. Dezember 1939 erhielt Jaroslavskij schließlich von mehreren Verlagen und der Redaktion der Malaja Sovetskaja Enciklopedija den Auftrag, einen biographischen Beitrag über Stalin zu schreiben, der als Ergänzung zum Kratkij kurs dienen sollte.94 Aber obwohl Jaroslavskij im Redaktionskollegium der Enzyklopädie den Posten des verantwortlichen Redakteurs für Marxismus-Leninismus und Parteigeschichte bekleidete, musste er sein Manuskript mehrfach überarbeiten. Die Kritik des zuständigen Redakteurs an der Arbeit Jaroslavskij s ähnelt den Bedenken, die Tovstucha schon 1935 geäußert hatte: Der Text sei eher eine Darstellung der Rolle Stalins im Rahmen einer allgemeinen Parteigeschichte, verbunden mit einer Darlegung der Lehre Stalins, aber keine Biographie im engeren Sinne.95 Was der Redakteur mit seiner Kritik meinte, wird deutlich, wenn man sie mit der offiziellen Beurteilung der Stalin-Biographie von Henri Barbusse vergleicht. Barbusses Biographie wurde insbesondere fur ihre Leistung gelobt, die der französische Titel des Buchs „Staline, un monde nouveau à travers un homme" schon nahelegt, nämlich dass Stalin als Verkörperung sowohl der (Welt)Geschichte als auch der sowjetischen Bevölkerung dargestellt sei.96 Diese enge Verknüpfung der Geschichte mit Stalin war Jaroslavskij nach Meinung des Redakteurs nicht gelungen. Da die Vorbereitungen zur Publikation des Texts stagnierten, ließ Jaroslavskij am 25. September 1939 seinen längeren Artikel dem zuständigen ZK-Sekretär Andrej Zdanov in der Hoffnung zukommen, dieser möge zu seinen Gunsten intervenieren. In dem beiliegenden Schreiben betonte Jaroslavskij nachdrücklich die Qualität seiner Stalin-Biographie und die Dringlichkeit ihrer Veröffentlichung. 97 Trotz dieser Bemühungen fiel die Entscheidung gegen ihn. Ob lediglich die Redaktion der Enzyklopädie, oder aber Zdanov bzw. andere Personen aus Stalins unmittelbarer Umgebung, oder Stalin selbst Jaroslavskij s Text ablehnten, konnte nicht ermittelt werden. In

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Medvedev: Let History Judge, S. 817-818; Brandenberger·. Sostavlenie, S. 144. Hierzu ausführlicher in Kap. V.5. 94 Brandenberger: Sostavlenie, S. 146. Korrespondenz Jaroslavskijs über die Veröffentlichung bzw. Übersetzung der für die Malaja Sovetskaja Enciklopedija verfassten StalinBiographie (14.9.1939-5.2.1940). F.89, op.8, d.1017. « F.89, op.8, d.1017,1.2-3. 96 Barbusses Stalin-Biographie wurde auch zum Maßstab für die Darstellung Stalins in der bildenden Kunst, insbesondere im Porträt. Plamper: Stalin Cult in the Visual Arts, S. 160. 97 Schreiben Jaroslavskijs an Zdanov vom 25.9.1939. F.89, op.8, d.1016,1.1. 93

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jedem Fall aber hielt es dieser Personenkreis nicht fur angemessen, eine Veröffentlichung durchzusetzen. Jaroslavskijs Stalin-Biographie wurde nicht in der Malaja Sovetskaja Enciklopedija gedruckt.98 Ihm ist es letztlich nicht gelungen, seinen Text als offiziell anerkannte und maßgebliche StalinBiographie zu veröffentlichen. Im Dezember 1939 ging Jaroslavskij schließlich zu einer anderen Strategie über, indem er das Manuskript Stalin als Geburtstagsgeschenk zukommen ließ. Durch den Akt des Schenkens offenbart sich die enge Verknüpfung von Patronage und Kultproduktion. In dem beiliegenden Gratulationsschreiben betonte Jaroslavskij zum wiederholten Male die Bedeutung und Dringlichkeit einer Veröffentlichung: „Ich bin davon überzeugt, (...), dass der Vortragstext [gemeint ist der von der Malaja Sovetskaja Enciklopedija abgelehnte Text; S.D.] in höchstem Maße notwendig ist, und nicht nur in der SU, sondern auch in anderen Ländern. Ich habe in dieses Manuskript meine gesamte Liebe zur Partei und zu Ihnen, Genösse Stalin, gelegt; und alle spüren das. Ich wäre natürlich sehr glücklich, wenn meine Arbeit eine weite Verbreitung finden würde." 99

Die Rollenverteilung zwischen Stalin und Jaroslavskij ähnelt hier den besonders fur die Frühe Neuzeit typischen Austauschbeziehungen, in denen das Geschenk die Funktion hatte, die Position des Klienten in den Augen seines Patrons aufzuwerten. Mit einem Beispiel kann diese Analogie anschaulicher gemacht werden: Der Historiker Mario Biagioli hat in seinem Buch über die Entwicklung der Wissenschaften im 17. Jahrhundert am Beispiel Galileos das Argument vorgebracht, dass dessen wissenschaftliche Arbeiten als Geschenke betrachtet werden können, die der Mathematiker seinem Patron mit dem Ziel andiente, seine soziale Stellung zu verbessern. Diese Austauschbeziehungen hätten wesentlich zur Dynamisierung der Wissenschaftsentwicklung im 17. Jahrhundert beigetragen.100 Eine ähnliche dynamisierende Wirkung hatte diese Gabenwirtschaft auf die Entwicklung des Stalinkults und die gesamte Ideologieproduktion.

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David Brandenberger vermutet, Jaroslavskijs Stalin-Biographie sei zu kompliziert gewesen und habe vor dem Hintergrund der schwer kalkulierbaren außenpolitischen Situation zu viele mögliche Fallstricke beinhaltet. Jaroslavskij konnte den Text zwar im Dezember 1939 veröffentlichen, musste aber für die zweite Auflage die Passagen über Japan, den Molotov-Ribbentrop-Pakt, über den sowjetischen Einmarsch in Polen, über Finnland und den Sowjetpatriotismus umarbeiten. Brandenberger: Stalin as Symbol, S. 264. 99 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 7.12.1939 und vom 15.12.1939. F.89, op.8, d.1020,1.2, 3. 100 Biagioli, Mario: Etiquette, Interdependence, and Sociability in Seventeenth-Century Science, in: Critical Inquiry 22 (1996), S. 193-238. Die grundlegende Arbeit für das Verständnis der Funktion des „Geschenks" im Kontext von vormodemen emotionalen und ökonomischen Austauschbeziehungen ist: Mauss, Marcel: The Gift: Forms and Functions of Exchange in Archaic Societies, London 1954. Zur rhetorischen Figur des „Geschenks" in der sowjetischen Presse siehe: Brooks: Thank You, Comrade Stalin!

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Jaroslavskij konnte aber lediglich einen Teilerfolg für sich verbuchen. Es gelang ihm zwar tatsächlich, Ende des Jahres 1939 sein Buch „Über den Genossen Stalin" (O tovarisce Staline) anlässlich von Stalins 60. Geburtstag zu publizieren.101 Außerdem konnte er laut einer 1940 veröffentlichten Bibliographie, die insgesamt 750 Titel zu Stalins 60. Geburtstag verzeichnet, mit 16 Titeln die umfangreichste Textproduktion über Stalin aufweisen. 102 Jedoch muss einschränkend hinzugefügt werden, dass Jaroslavskijs Stalin-Biographie lediglich eine Auflage von 200.000 Exemplaren erreichte, während eine zeitgleich von einem Autorenkollektiv des IMEL erstellte Stalin-Biographie im Jahr 1940 eine Auflagenhöhe von 1,2 Millionen verzeichnen konnte. Diese Biographie wurde von Mine, Pospelov, Mark B. Mitin und Georgij F. Aleksandrov mit der Hilfe einiger Mitarbeiter der ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda erstellt; die Vorbereitungen wurden vor Jaroslavskij bewusst geheim gehalten.103 Mine, der langjährige Mitarbeiter und Protégé Jaroslavskijs in den Machtkämpfen während der Zeit der „Kulturrevolution", kündigte hiermit das Patronageverhältnis mit Jaroslavskij. Aber auch Mitin und Pospelov hatten in einer engeren Beziehung zu Jaroslavskij gestanden. In den Auseinandersetzungen an der „philosophischen Front" hatte Jaroslavskij eine Gruppe jüngerer radikaler Philosophen, u.a. Mitin, gegen den das Fach dominierenden Deborin und seine Anhänger verteidigt.104 Pospelov bildete gemeinsam mit Jaroslavskij die zweiköpfige Kommission, die vom ZK den Auftrag erhielt, den späteren Kratkij kurs zu konzipieren.105 Er bezeichnete sich sogar noch in den 1960er Jahren nach Angabe eines Zeitgenossen als „Schüler" Jaroslavskijs.106 An diesem Beispiel lässt sich zeigen, wie sich die Beziehungen der Historiker, Literaten und Ideologen untereinander durch den Stalinkult veränderten. Alte Loyalitäten oder gemeinsame Überzeugungen hörten offensichtlich in dem Maße auf, eine Rolle zu spielen, in dem sich die strukturelle Machtfunktion in der Person Stalins konzentrierte und antiproportional dazu die Autonomie des „Feldes der Ideologieproduzenten" immer stärker eingeschränkt wurde. Die von Stalin kontrollierte Funktionärshierarchie erlaubte es 101

Jaroslavskij, Em.: O tovarisce Staline, Moskau 1939. O Staline: ukazatel' literatury izdannoj k sestidesjatiletiju I.V. Stahna, Moskau 1940; Heizer: Cult of Stalin, S. 160. 103 Brandenberger. Sostavlenie, S. 146; Brandenberger·. Stalin as Symbol, S. 263-264. Das Autorenkollektiv bestand aus M.S. Pozner, P.S. Ceremnych, M.S. Volin und V.D. Molcalov. M.B. Mitin, G.F. Aleksandrov, P.N. Pospelov und I.I. Mine trugen die redaktionelle Verantwortung. Die Biographie mit dem Titel: „Iosif Visarionovic Stalin. Kratkaja biografija" wurde in unveränderter Form 1942, 1944 und 1945 wiederaufgelegt. 1947 erschien eine zweite Auflage. 104 Zu der Gruppe jüngerer Philosophen gehörten neben Mitin auch Judin, Egorsin, Ral'cevic und Timosko. 105 Protokoll der Politbürositzung vom 16.4.1937. F. 17, op.3, d.986, 1.2. Zu dieser Kommission gehörte ursprünglich noch V.G. Rnorin, der noch im selben Jahr Opfer des Terrors wurde. 106 Rudnev: Kto pisal „Kratkij kurs", S. 163. 102

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kaum noch, auf alte Loyalitäten bzw. Patronageverhältnisse und gemeinsame Interessen zu setzen. Selbst die wenigen Loyalitäten, die trotzdem noch funktionierten - wie die Jaroslavskijs zu den georgischen Altbolschewisten - richteten sich zunehmend auf Stalin und die Kultproduktion aus. Zudem ging es im Kampf um Statuschancen, wie oben am Beispiel der nicht-öffentlich geführten Auseinandersetzung Jaroslavskijs mit Berija gezeigt wurde, darum, gerade den eigenen Text als einzig legitime Darstellung kanonisieren zu lassen. Die von Mine, Mitin, Pospelov und Aleksandrov redigierte Biographie und nicht Jaroslavskijs Text wurde in der Malaja Sovetskaja Encyklopedija abgedruckt und somit zur offiziellen Stalin-Biographie aufgewertet.107 Einige Wochen vor der Veröffentlichung am 21. Dezember 1939 wurde die Biographie einigen Parteiführern, unter anderen dem ahnungslosen Jaroslavskij, zur Durchsicht vorgelegt. Dieser reagierte mit einem wütenden, an Mine gerichteten Kommentar auf die vollendeten Tatsachen: „Ich bedauere es zutiefst, dass das IMEL mir gegenüber eine derartige ungerechtfertigte Position eingenommen hat, dass ich erst im letzten Moment, neun Tage vor dem sechzigsten Geburtstag des Genossen Stalin die Möglichkeit erhalten habe, meine Anmerkungen zu machen. Das gilt um so mehr, als dass ich Sie schon vor langem informiert habe, dass ich in diese Richtung arbeite, dass ich bereit sei, bei der Vorbereitung einer Biographie mitzuwirken. Das ist nicht nur eine persönliche Demütigung, denn ich sehe in der Erstellung einer Biographie des Genossen Stalin eine ernsthafte Parteiangelegenheit."108

Eine wesentliche Fähigkeit, über welche die Kultproduzenten verfugen mussten, um sich im Kampf um Statuschancen behaupten zu können, war die Selbstkontrolle beim öffentlichen Sprechen über andere und über die eigenen Vorhaben, die Jaroslavskij nicht immer gut beherrschte. Die Voraussetzung für das „richtige" Sprechen über andere bestand darin, dass die Akteure die Kunst beherrschten, die Autorität von anderen deuten und beurteilen zu können. Die Autorität einer Person ließ sich, wie schon an anderer Stelle ausgeführt, u.a. an ihrem Zugang zu Dokumenten und Veröffentlichungsmöglichkeiten und die dadurch erzielte symbolische Präsenz in Form von durch die Parteiführung sanktionierten publizierten Texten ablesen. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich, warum Jaroslavskij ständig damit befasst war, seine eigene symbolische Präsenz in Konkurrenz zu anderen zu erhöhen. Veröffentlichte Texte wurden von den Zeitgenossen, so auch von Jaroslavskij im Falle Berijas, als von der Zensur beglaubigte Dokumente der Positionierung einer Person im politischen Feld der stalinschen Funktionärshierarchie wahrgenommen. Um diese Positionierung fand ein scharfer Wettbewerb statt. Der Kampf um die Positionierung im Feld, der am wirksamsten mit dem Einsatz der Waffe Stalin geschlagen werden konnte, war dabei gleichzeitig ein Kampf um den „Zugang zu den Mitteln der legitimen Manipulation der Weltsicht"109. 107 108 109

Brandenberger. Sostavlenie, S. 145-147. Zitiert nach Brandenberger·. Sostavlenie, S. 146. Bourdieu: Das politische Feld, S. 20.

4. Emotionalisierung des Sprechens über Stalin

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Die stalinsche Führungsriege ist häufig mit einem Hofstaat verglichen worden, ohne dass die Grundlagen dieses Vergleichs jedoch ausgeführt wurden.110 Aber tatsächlich weisen die Funktionsmechanismen der stalinschen Herrschaft auffällige Parallelen zu den von Norbert Elias untersuchten Funktionsmechanismen der höfischen Gesellschaft auf; insbesondere aber ähnelt die Bedeutung des Stalinkults für die Kultproduzenten der Bedeutung der Etikette für die Adeligen am Hofe Ludwigs XIV. Am Beispiel des „lever du roi", des morgendlichen Aufstehens des Königs, zeigt Elias, dass es sich hier mitnichten um eine merkwürdige Marotte des Königs und seiner Gefolgschaft handelt, sondern dass sich darüber, wem der König das Privileg gewährte, ihm das Hemd zu reichen, die Statusposition der einzelnen Höflinge und somit die Nähe zum König definierte.111 Für die Adeligen hatte dieser Kampf um Statuschancen eine ähnliche Funktion wie der Stalinkult für die Kultproduzenten; und Stalin nahm eine ähnliche hierarchiestrukturierende Machtfunktion ein wie Ludwig XIV. Die Adeligen konnten nur über den Kontakt zum König ihren Status aufrechterhalten und ihre Identität als Adelige affirmieren. Das häufig von Historikern und Politologen aus einer Außenperspektive übernommene, aber aus dem Kontext gerissene Argument Trotzkijs, der Stalinkult sei der Totengräber der revolutionären Avantgarde gewesen, erscheint nur aus einer solchen überzeugend. Aus der Perspektive Jaroslavskijs und vieler anderer war Stalin in den 1930er Jahren das einzige Medium, über das sie ihre Identität als professionelle Revolutionäre und Mitglieder der revolutionären Avantgarde bestätigen konnten.

4. Emotionalisierung des Sprechens über Stalin Zwischen 1929, der ersten nennenswerten Textproduktion über Stalin anlässlich von dessen 50. Geburtstag, und der Jahrzehntwende von den dreißiger zu den vierziger Jahren lässt sich eine starke Emotionalisierung des Sprechens über Stalin feststellen. In den uns schon bekannten internen Diskussionen über die Veröffentlichung einer Werkausgabe Stalins vor und während des 17. Parteitags sowie in Jaroslavskijs Korrespondenz über seine stalinbiographischen Ambitionen bringt Jaroslavskij zwar auch rationale Argumente für die Notwendigkeit des öffentlichen Sprechens über Stalin vor, die die herrschaftstechnischen und pädagogischen, d.h. die auf die einfachen Parteimitglieder und die sowjetische Bevölkerung gerichteten Aspekte des Kults zum Gegenstand haben: So argumentierte er in dem schon erwähnten nächtlichen Telefongespräch mit Stalin am 27. Januar 1934, dass eine Werk-

110 So z.B. explizit die populärwissenschaftliche Darstellung von: Monteflore: Court of the Red Tsar. 111 Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 141-179.

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ausgabe im Interesse der Partei läge.112 Die Formulierung „im Interesse der Partei" klingt zwar diffus, jedoch geht aus dem Zusammenhang hervor, dass Jaroslavskij die Werkausgabe als Manifestation der Parteieinheit begriff und deshalb für ein wichtiges politisches Instrument hielt, um durch das Medium Stalin auch weitere Teile der Bevölkerung zu integrieren. Hierfür spricht auch, dass das Medium Stalin je nach aktuellem politischen Bedarf und abhängig von der jeweiligen Zielgruppe unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte transportierte. Jaroslavskij war aber nicht nur von der herrschaftskonstituierenden und integrativen Wirkung des Kults überzeugt, sondern verstand die Manifestationen des Kults auch als Beweis für eine gelungene Integration, für die enge Verbindung der arbeitenden „Massen" mit ihren Führern. So kommentierte er in seinen persönlichen Aufzeichnungen begeistert einen in der Neujahrsausgabe der Pravda veröffentlichten Brief von Schülern aus dem sibirischen Dorf Bol'saja Uda, aus dem Stalin 1904 aus der Verbannung geflohen war. In diesem Brief hatten die Schüler eine Umbenennung des Dorfs in Stalino gefordert." 3 Ähnlich begeistert äußerte er sich über eine in der Presse abgebildete Photographie, die Stalin inmitten einer Gruppe lachender tadschikischer Baumwollpflückerinnen zeigte.114 An anderer Stelle beklagte er sich darüber, dass über das angeregte Gespräch, das Kaganovic während einer Versammlung mit einem ausgezeichneten Arbeiter geführt habe, nichts in der Presse berichtet worden sei." 5 In einem anderen Zusammenhang betonte Jaroslavskij die Notwendigkeit von Biographien tadelloser Bolschewisten, da sich diese durch ihre Vorbildfunktion insbesondere für die Erziehung der Jugend eigneten.116 Gegenüber Zdanov beharrte er auf der didaktischen Notwendigkeit einer Stalin-Biographie in denjenigen gesellschaftlichen Bereichen, in denen seiner Auffassung nach noch Überzeugungsarbeit zu leisten war: in den im September 1939 „befreiten polnischen Gebieten, in der Armee, den Schulen und den Kolchosen".117 Diese Argumente Jaroslavskij s beziehen sich auf die intendierte symbolische Funktion Stalins als Zentrum der Macht, das je nach dem aktuellen sozialen oder politischen Bedarf mit mehreren inhaltlichen Schwerpunkten und unterschiedlichen Botschaften aufgeladen werden konnte und daher die Funktion zugewiesen bekam, die Randbereiche der Sowjetunion zu integrieren.118 Diese potentielle Vieldeutigkeit Stalins sollte es der Bevölkerung er112

Aufzeichnung vom 27.1.1934. Familienarchiv. Aufzeichnung vom 9.1.1934. Familienarchiv. 114 F.558, op.ll, d.842,1.82. 115 Aufzeichnung vom 14.3.1934. Familienarchiv. 116 Aufzeichnung vom 16.12.1936. Familianarchiv. 117 Schreiben Jaroslavskijs an ¿danov vom 25.9.1939. F.89, op.8, d.1016,1.1. 118 Jaroslavskijs Argumente ähneln - allerdings unter positiven Vorzeichen - der Auffassung Bucharins, die dieser während eines heimlichen Gesprächs gegenüber dem emigrierten Menschewisten Fedor Dan 1933 in Paris geäußert haben soll. Auf die Frage Dans, warum Bucharin und andere einem solchen „Teufel" vertraut hätten, habe Bucharin geantwortet: „Sie verstehen das nicht, es war ganz anders; wir haben ihm nicht vertraut; aber er 113

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möglichen, sich in Stalin repräsentiert zu sehen.119 Jaroslavskij, der eine politische Praxis ablehnte, die durch geregelte Verfahren gekennzeichnet war, kultivierte auch in den 1930er Jahren als Idealvorstellung von politischem Handeln die unmittelbare Kommunikation der bolschewistischen Führer mit den „Massen". Der Stalinkult erfüllte für ihn die Funktion eines Surrogats für diese unmittelbare Kommunikation, die in der Konsolidierungsphase bolschewistischer Herrschaft nicht mehr zu realisieren war. Wenn wir einen modernen Begriff von Politik voraussetzen, dann war der Stalinkult für Jaroslavskij ein Politikersatz. Neben diesen - setzt man den Deutungskontext voraus - rational nachvollziehbaren Argumenten benutzte Jaroslavskij aber - überwiegend in öffentlichen, aber auch in privaten Äußerungen - seit etwa Mitte der 1930er Jahre den Begriff der „Liebe" zur Beschreibung seines Verhältnisses zu Stalin. In einem Brief an Ordjonikidze vom September 1936, in dem sich Jaroslavskij über seine Isolierung von der Parteiführung beklagte, betonte er seine „grenzenlose Liebe zu Stalin", die durch nichts zu zerstören sei.120 In dem Begleitschreiben zu seinem Manuskript der Stalin-Biographie „Über den Genossen Stalin", das Jaroslavskij Stalin als Geschenk zu dessen 60. Geburtstag hatte zukommen lassen, bemerkte er ausdrücklich, dass er seine gesamte Liebe zu Stalin in diesen Text gelegt habe.121 Der Ethnologe Marcel Mauss beschreibt in seiner klassischen Studie den Akt des Schenkens als eine vormoderne Form des Tauschs, durch die nicht nur ökonomische, sondern auch affektive Beziehungen zwischen dem Schenkenden und dem Beschenkten hergestellt oder bestätigt werden.122 Mauss macht hiermit auf die enge Verknüpfung von Patronage und Kult sowie von Emotion und Macht aufmerksam: Jaroslavskij beabsichtigte zunächst, durch sein Geschenk an Stalin, der über die Verteilung der ökonomischen und symbolischen Ressourcen verfügte, eine Aufwertung seiner Autorität zu erreichen. Auffallig ist, dass sich bis 1932 noch Beispiele in den Quellen finden lassen, die belegen, dass sich Jaroslavskijs öffentliches Sprechen über Stalin von privaten Äußerungen über den Generalsekretär durchaus unterschied. So war der Mann, dem die Partei vertraute; so ist das passiert: Er ist das Symbol der Partei, die unteren Ebenen der Partei, die Arbeiter vertrauen ihm. Vielleicht ist das unsere Schuld, aber so ist das passiert, darum wandern wir alle in seinen Rachen (...) und wissen, dass er uns wahrscheinlich schlucken wird." Dan, Lydija: Bucharin o Staline, in: Novyj zumal, 1964, H. 75, S. 182. Zu Stalins Bemühungen, sich als integrierendes Symbol und als symbolisches sowie reales Machtzentrum zu erfinden, siehe: Rieber. Stalin, Man of the Borderlands. 119 Benno Ennker bezeichnet diesen Mechanismus als „Inkarnationsvorgang". Ennker. Politische Herrschaft und Stalinkult, S. 180. 120 Schreiben Jaroslavskijs an Ordjonikidze vom 5.9.1936. Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska. 1928-1941, S. 337. 121 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 7.12.1939 und vom 15.12.1939. F.89, op.8, d.1020,1.2,3. 122 Mauss: The Gift; siehe auch: Medick, Huns/Sabean, David: Interest and Emotion: Essays on the Study of Family and Kinship, Cambridge 1984.

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äußerte er sich ironisch über die „Glorifizierer" Stalins und vermerkte 1929 während einer Sitzung der Pravda-Rzàaktion auf einem Notizzettel: „Stalin ist nicht das ZK. Stalin ist nicht die Partei."123 Mit dieser Bemerkung, die offensichtlich die Unzufriedenheit Jaroslavskijs mit Stalins Auftreten oder mit der Überschätzung von dessen Macht durch andere ausdrückt - der konkrete Kontext dieser Aussage konnte nicht geklärt werden - , ordnete er ausdrücklich Stalin der Entscheidungsgewalt des ZK unter. In einem Schreiben an Mine und die anderen an der vierbändigen Parteigeschichte beteiligten Historiker vom 28. November 1931 bemerkte Jaroslavskij zynisch, dass es nun wohl nötig sei, mehr „warme Worte" über einzelne Akteure der Revolution zu schreiben.124 Sein Mitarbeiter Piontkovskij hatte in seinem Tagebucheintrag vermerkt, Jaroslavskij führe seine Marginalisierung und die erlittenen Demütigungen auf die persönliche Eitelkeit Stalins zurück, der mit seiner Darstellung in der vierbändigen Parteigeschichte nicht zufrieden sei.125 Diese unterschiedlichen Äußerungsweisen legen aber den Schluss nahe, dass bis 1932 trotz aller Loyalität Jaroslavskijs zu Stalin auch ein gewisses Maß an Distanz und Kritik noch möglich war und dass Jaroslavskij das Schreiben über Stalin, wie z.B. 1929 in der Geburtstagsausgabe der Pravda, zu diesem Zeitpunkt noch ausschließlich als bewusst eingesetztes Herrschafitsinstrument, d.h. als politische Notwendigkeit verstand, um den Sieg der Stalin-Fraktion im Kampf gegen die unterschiedlichen oppositionellen Gruppen zu dokumentieren. Solche deutlichen Diskrepanzen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sprechen über Stalin finden sich in den Quellen der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nicht mehr. Ein gradueller Unterschied zwischen diesen beiden Äußerungsformen lässt sich lediglich dahingehend feststellen, dass der Begriff der „Liebe" in öffentlichen Aussagen von Jaroslavskij häufiger benutzt wird als in den privaten, während er sich in nicht-öffentlichen Äußerungen verstärkt über die Wahrhaftigkeit seines Gefühls gegenüber Stalin Rechenschaft ablegt. Wir haben an anderer Stelle die These aufgestellt, dass sich Jaroslavskijs Verhältnis zu Stalin gegen Ende des Jahres 1933, als ein Ende der verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die die Herrschaft der stalinschen Führung akut gefährdeten, absehbar wurde, grundsätzlich geändert hatte. Stalin war im Bewusstsein Jaroslavskijs und anderer seiner Parteigänger nun nicht mehr der erste unter Gleichen, sondern der einzige, der es vermocht hatte, die Partei durch eine derartig schwere Krise zu fuhren. Dieser Umstand erklärt aber nicht hinreichend die Emotionalisierung des Sprechens über Stalin.

'M F.89, op,12,d.4,1.30. 124 Schreiben Jaroslavskijs an Mine vom 27./28.11.1931. F.89, op.7, d.73,1.22. 125 Central'nyj archiv SFB RF, d.P-8214, t.2, b/n. Zitiert nach: Artizov: M.N. Pokrovskij: final kar'ery, S. 139.

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An dieser Stelle ist ein knapper quellenkritischer Exkurs notwendig. Unter öffentlichem Sprechen über Stalin sollen Jaroslavskijs Äußerungen in publizierten Schriften, Vorträgen aber auch in seiner Korrespondenz halbprivater und dienstlicher Art verstanden werden. In diesen Redezusammenhängen kann man in unterschiedlichen Abstufungen von einer starken Selbstkontrolle ausgehen. Wie bereits am Beispiel von Jaroslavskijs Beziehung zu Berija gezeigt wurde, war Offenherzigkeit in einer Zeit zugespitzter Konkurrenzkämpfe und der dadurch verursachten Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens keine erfolgversprechende, dafür aber in hohem Maße selbstgefáhrdende Verhaltensweise. So sah sich Jaroslavskij in seinen Tagebuchaufzeichnungen veranlasst, sich wegen einer unvorsichtigen Äußerung gegenüber dem ihm relativ vertrauten Ordjonikidze selbst zu beruhigen. Jaroslavskij hatte sich in einem Brief an letzteren über seine systematische Benachteiligung durch den leitenden Redakteur der Pravda, Mechlis, und den Vorsitzenden der ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda, Steckij, auf ungehaltene Art beschwert,126 obwohl er wusste, dass diese das Vertrauen der Parteiführung genossen und daher über Autorität verfügten. Unter privaten Äußerungen soll Jaroslavskijs Tagebuch verstanden werden, das sich zumindest in dieser Form nicht an potentielle Rezipienten richtete. Jedoch könnte man auch hier einwenden, dass er sich im Hinblick auf eine mögliche Konfiskation seiner Tagebücher einer Selbstzensur unterwarf und dass der geringe Unterschied zwischen seinem öffentlichen und seinem privaten Sprechen über Stalin auf eben diese Selbstzensur zurückzuführen ist. Ein solcher Einwand impliziert, dass er sich verstellte, d.h. dass er uns nicht mitteilt, was er „in Wirklichkeit" dachte. Auf diese „Wirklichkeit", die hinter den Texten liegt, haben Historiker jedoch keinen Zugriff. Auch wenn die Möglichkeit des Sich-Verstellens nicht ausgeschlossen werden kann, spricht gegen eine solche Einschätzung, dass sich Jaroslavskij in sehr unvorsichtiger Weise über andere autoritative Mitglieder der stalinschen Führung, so zum Beispiel über Berija, Mechlis, Steckij und sogar über Molotov, äußerte. Es erscheint daher überzeugender, das Tagebuch weniger als Ausdruck von Selbstzensur, sondern vielmehr als Mittel der Selbstdisziplinierung und Selbstvergewisserung zu sehen.127 Mit diesem Instrument legte sich Jaroslavskij immer wieder Rechenschaft über seinen bedingungslosen Glauben an die Partei ab, den er durch die genannten Berija, Mechlis und Steckij vor der 126

Aufzeichnung vom 5.9.1936. Familienarchiv. Die Aufzeichnung bezieht sich auf Jaroslavskijs Brief an Ordjonikidze vom selben Tag, in: Sovetskoe rukovodstvo, S. 337-338. 127 Eine ähnliche selbstdisziplinatorische Funktion hatten auch andere Tagebücher und persönliche Aufzeichnungen der Stalinzeit. Siehe hierzu insbesondere die Arbeiten von Hellbeck·. Fashioning the Stalinist Soul; ders.: Laboratories of the Soviet Self: Diaries from the Stalin Era, Ph.D. diss., Columbia University 1998; ders.: Writing the Self in the Time of Stalin: Alexander Afinogenov's Diary of 1937, in: Self and Story, hrsg. v. Laura Engelstein, Stephanie Sandler, Ithaca, London 2000, S. 69-93; ders.: Stalin-Era Autobiographical Texts. Siehe auch: Lahusen: How Life Writes the Book.

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Parteiöffentlichkeit in Frage gestellt sah. In seinen Tagebüchern rationalisierte er die eigene Marginalisierung, die seine Identitätskonstruktion als Mitglied der bolschewistischen Führung brüchig werden ließ, mit dem vermeintlichen Karrierismus seiner Kontrahenten.128 Der Begriff Karrierismus eignete sich zur Diskreditierung von Konkurrenten, da in ihm der Vorwurf der Eigennützigkeit und Unaufrichtigkeit impliziert ist. Jaroslavskij bezeichnete insbesondere Mitglieder der Generation der etwa 20 Jahre jüngeren Bolschewisten als „Karrieristen", denen er jegliche Teilhabe an der Geschichte der Revolution absprach.129 Die Figur des Karrieristen bildete in seiner Vorstellung den Antipoden zum Idealbild des selbstlosen Kameraden. Die quellenkritischen Anmerkungen sind nicht nur als solche notwendig, sondern sie konfrontieren uns mit dem grundsätzlichen Problem, wie die Emotionalisierung des Sprechens über Stalin bewertet werden kann. Können wir aus der relativen UnUnterscheidbarkeit des öffentlichen und privaten Sprechens über Stalin schließen, dass wir es mit authentischen Äußerungen, d.h. mit einer Identität von Denken und Handeln zu tun haben? Sind wir bei der immer wieder geäußerten „Liebe zu Stalin" mit einem authentischen Gefühl oder lediglich mit einer rhetorischen Figur konfrontiert? Und wie lässt sich die Qualität von Emotionen in einer historischen Untersuchung überhaupt bewerten? Im folgenden sollen für beide Möglichkeiten Argumente vorgebracht werden. In den vorausgehenden Abschnitten ist gezeigt worden, dass Jaroslavskij Ende des Jahres 1931 von Stalin und von Kaganovic nahegelegt wurde, dass von diesem Zeitpunkt an ein anderer Modus der Stalindarstellung gefragt war. Daraus konnte abgeleitet werden, dass sich Jaroslavskij der Notwendigkeit, Stalin in einer spezifischen Art darzustellen, vorher entweder nicht bewusst war, oder dass er sich bis dahin für mächtig genug gehalten hatte, solche Andeutungen zu ignorieren. Jaroslavskij s Auseinandersetzung mit Stalin wegen der Broschüre El'vovs und Taskarovs zu Beginn des Jahre 1930 spricht eher für die letztere Variante.130 Da er aber schon 1933, also direkt nach der Aufhebung des Ende 1931 über ihn verhängten Publikationsverbots, sein Lehrbuch zur Parteigeschichte für die Neuauflage durch zwei Kapitel über Stalin ergänzte131, können wir annehmen, dass sich Jaroslavskij zunächst einer von ihm als solche wahrgenommenen Fremddisziplinierung beugte und sich daher auf die neuen Bedingungen einstellte. Seine Eigeninitiative bezüg128 Rationalisierung ist eine psychoanalytische Kategorie, die von J. Laplanche und J.B. Pontalis als „Vorgehen, durch welches das Subjekt versucht, einer Verhaltensweise, einer Handlung, einem Gedanken etc., deren wirkliche Motive nicht erkannt werden, eine logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung zu geben" definiert wird. Eagleton: Ideologie, S. 64; Laplanche, JJPontalis, J.B.: Das Vokabular der Psychoanalyse, 2. Bde., Frankfurt a.M. 1972/73. 129 Siehe: Kap. II.2; Kap. IV.9. 'S" Siehe: Kap. IV.5. 13' Siehe: Kap. V.l.

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lieh der Stalinkultproduktion kann zum ersten Mal im Kontext der Einheitseuphorie zur Zeit des 17. Parteitags im Januar 1934 nachgewiesen werden. Also in einer Zeit, in der Jaroslavskij fürchten musste, noch weiter von der Führungsspitze isoliert zu werden. Sein Eifer steigerte sich weiter, als die Auseinandersetzungen unter den Kultproduzenten um das Privileg, eine Stalinbiographie verfassen zu dürfen, einsetzten. Das, was hier beobachtet wurde, kann als eine Verschiebung von Fremdzu Selbstdisziplinierung bezeichnet werden. Mit anderen Worten könnte man sagen, dass Jaroslavskij mit dem Zeitpunkt seines Eintritts in die Konkurrenzkämpfe vom Objekt von Disziplinierung auch zunehmend zum Subjekt seiner eigenen Disziplinierung wurde, ohne dass allerdings die fremddisziplinatorischen Einwirkungen aufhörten zu existieren. Diese kamen nun aber nicht mehr nur von oben, sondern gewissermaßen von der Seite, d.h. von den Konkurrenten, die mit Jaroslavskij um das Privileg stritten, öffentlich über Stalin sprechen und schreiben zu dürfen. Was hat aber die Emotionalisierung des Sprechens über Stalin mit Disziplinierung zu tun? Dies erscheint zunächst als Widerspruch, wenn man den Begriff der Disziplinierung wie Norbert Elias mit Affektkontrolle, also gerade mit der Unterdrückung von Emotionalität assoziiert.132 Hier soll aber argumentiert werden, dass die Emotionalisierung des Sprechens über Stalin gerade durch eine Verschärfung der Fremd- und der damit verbundenen Selbstzwänge bedingt wurde. Durch die Zuspitzung der Kämpfe um die Positionierung der einzelnen Akteure in der bolschewistischen Führung gerieten alle an diesen Auseinandersetzungen Beteiligten unter Druck, die Authentizität ihres Bekenntnisses, das heißt den bedingungslosen Glauben an Stalin und die Parteiführung beweisen zu müssen. Schon 1926 hatte Molotov in einer Rede auf der 15. Parteikonferenz im Kontext des Kampfs der Stalin-Fraktion gegen die „Linke Opposition" die Notwendigkeit des Glaubens betont, des ,,Glauben[s] an den Sieg, an die eigene Kraft, die ehrliche Überzeugung von der Richtigkeit unserer Linie und feste Entschlossenheit im Kampf, der sich daraus ergibt - das wird für das Ergebnis [unseres Kampfes] entscheidend sein." 1 " Die „Liebe zu Stalin" kann also insofern als rhetorische Figur gewertet werden, als dass sich durch sie und die damit vorgegebene direkte, ungefilterte Emotionalität die Authentizität des Bekenntnisses zu Stalin und eine absolute Distanzlosigkeit am effektivsten vermitteln und in den Statuskämpfen als Strategie einsetzen ließ. Mit der „Liebe zu Stalin" versuchten die einzelnen Prätendenten, ihrem 132 So z.B. bei Elias, der den „Prozess der Zivilisation" zwar als Umwandlung von Zwängen, die Menschen aufeinander ausüben, in Selbstzwänge analysiert, diese Zwänge aber ausdrücklich als Zwänge zur Affektkontrolle beschreibt. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1997, S. 323-347. 133 XV-ja Konferencija, S. 654-675. Zitiert nach Lih: Einleitung, S. 66.

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Anliegen Legitimität zu verleihen. Das „Gefühl" entwickelte sich so als eine Form von symbolischem Kapital zu einem wesentlichen Instrument in den Statuskämpfen. Diese Taktik konnte jedoch auch ebensogut gegen diejenigen verwendet werden, die sich ihrer bedienten, indem gerade die Wahrhaftigkeit ihres Bekenntnisses in Frage gestellt werden konnte. Die rhetorischen Figuren des Karrieristen, des Doppelzünglers (dvurusnik), des Schmeichlers oder des Glorifizierers beinhalten den Vorwurf der Unehrlichkeit, des Sich-Verstellens, der Degeneration, der Distanz zu Stalin sowie zur Partei und eigneten sich dazu, Konkurrenten zu diskreditieren. Diese Mechanismen der Ausgrenzung verdeutlichen die grundsätzliche Unmöglichkeit, innerhalb dieses „Wahrhaftigkeitsdiskurses" die Authentizität eines Bekenntnisses zu beweisen, d.h. Kriterien zu entwickeln, mit denen der „Wahrhaftigkeitsgrad" einer Aussage hätte bewertet werden können. Die Beteiligten agierten in einem Raum von „Sprachspielen", in dem Sprache nicht mehr an eine empirische Realität rückgebunden werden konnte. Diese Mechanismen bedingten die Unkalkulierbarkeit der Situation, in der sich die Kultproduzenten befanden. Die Unberechenbarkeit von Stalins Verhalten verstärkte die labile Position der Akteure noch zusätzlich. Dieser griff in unregelmäßigen Abständen in die Kultproduktion ein und konnte sie entsprechend seiner Interessen manipulieren. Übertriebene Lobeshymnen auf Stalin konnten mitunter von diesem als Karrierismus und mangelnde Loyalität bzw. als Versuch ausgelegt werden, mangelnde Loyalität zu vertuschen.134 Hierbei machte sich Stalin die negative Bedeutung des Begriffs kul't licnosti (Personenkult) zunutze.135 Zwar gehörten Personenkulte schon seit der Machtübernahme der Bolschewiki zu ihren politischen Praktiken, sie wurden aber theoretisch abgelehnt und waren im Rahmen der marxistisch-leninistischen Ideologie nicht zu begründen.136 Personenkulte widersprachen im bolschewistischen Sprachgebrauch dem Ideal der kollektiven Führung.137 Zur Illustration sollen einige Beispiele für Stalins Eingreifen in die Kultproduktion aufgeführt werden: 1933 protestierte er gegen das Vorhaben der „Gesellschaft der Altbolschewisten", deren Vorsitz Jaroslavskij innehatte, einige Texte über Stalin zu veröffentlichen, mit den Worten: „Ich bin dagegen, weil derartige Vorstöße zu einer Verstärkung des 'Personenkults' führen, das ist schädlich und unvereinbar mit dem Geist unserer Partei."138 1934 rügte er den Kinderbuchverlag Detizdat wegen des

134

Brandenberger, Sostavlenie; Löhmann: Stalinmythos, S. 324-325. Zu Stalins Haltung zum Kult um seine Person und zu seiner Rolle als Regulator des Kults siehe: Davies, Sarah: Stalin and the Making of the Leader Cult in the 1930s, in: The Leader Cult in Communist Dictatorships. Stalin and the Eastern Bloc, hrsg. v. Balzázs Apor, Jan C. Behrends, Polly Jones, Houndmills, Basingstoke 2004, S. 29-46. 136 Ree: Political Thought of Joseph Stalin, S. 157-161. 137 Siehe: Kap. II.2.d. Zur Semantik des Begriffs kul't licnosti siehe: Plamper. Stalin Cult in the Visual Arts, S. 7-9. 138 Zitiert nach: Brandenberger: Sostavlenie, S. 145. 135

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Buchs „Erzählungen über die Kindheit Stalins" ( R a s s k a z y o detstve Stahna): Dieses Buch beinhalte eine Reihe von Faktenverdrehungen und unverdienter Glorifizierungen seiner Person. Im selben Atemzug zog Stalin die Aufrichtigkeit der Initiatoren in Zweifel: „Die Autoren sind von den Jägern nach Märchen, leerem Geschwätz (hoffentlich wohlmeinendem Geschwätz) und Liebdienerei in die Irre geführt worden."139 In dem von Jaroslavskij, Knorin und Pospelov 1935 herausgegebenen Lehrbuch über Parteigeschichte, welches Stalin offensichtlich zur Korrektur vorgelegt worden war, notierte dieser am Rand einer Photographie, auf der er am Kopf der bekannten Demonstration in Baku im Jahr 1902 abgebildet war: „? So etwas hat es nicht gegeben."140 Die Begriffe „Instrument", „Taktik", „Strategie" sowie auch „rhetorische Figur" implizieren eine Distanz gegenüber dem Gegenstand, auf den sie angewendet werden, d.h. in unserem Fall eine Distanz zu Stalin und somit auch zum eigenen Verhalten. Inwieweit können wir aber im Falle Jaroslavskijs nach 1933/34 von einer solchen Distanz sprechen? Und inwiefern kann bzw. muss der Widerspruch zwischen „Distanz" und „Distanzlosigkeit" in einer Art stalinistischer Logik aufgelöst werden? An dieser Stelle schließen wir an unsere quellenkritischen Überlegungen an: Die privaten Aufzeichnungen Jaroslavskijs sollen nicht nur als Faktensteinbruch, dessen Glaubwürdigkeit wir durch eine traditionelle Quellenkritik überprüfen können, verwendet, sondern als Transkription von Selbsttechniken betrachtet werden. Jaroslavskij nutzte sein Tagebuch als Medium, um sich mit seinen inneren Widersprüchen und mit seinem Status auseinanderzusetzen. Durch die Verbalisierung dieser Widersprüche trat er in eine hermeneutische Beziehung zu sich selbst.141 Die folgenden Quellenausschnitte weisen eine auffällige dialogische Struktur auf und können nicht auf Eindeutigkeit reduziert werden. Für den 20. Januar 1935 finden wir den Eintrag: „Bucharcik [N.I. Bucharin; S.D.] ist davor zurückgeschreckt, meinen Artikel über Stalin in den Izvestija zu drucken. (...) Aber letztendlich wird der Tag kommen, an dem alle sehen werden, dass ich immer ehrlich und aufrichtig, ohne Schmeichelei und Heuchelei, ein klares Bild dieses besten Leninisten gezeichnet habe, indem ich mit wahrhaftigen Worten über ihn gesprochen habe, während sich andere in heuchlerischer, anbiedernder Schmeichelei geübt haben."142

Am 4. November 1936 vermerkte Jaroslavskij: 139

Ebenda. Der Brief wurde erstmals im November 1953 veröffentlicht. Voprosy istorii, 1953, H. 11, S. 21; siehe auch: Stalin, I.V.: Socinenija, Bd. 1 (14), 1934-1940, hrsg. v. R. Mc Neal, Stanford 1967, S. 274. 140 Zitiert nach: Brandenberger. Sostavlenie, S. 145. 141 Foucault betont die produktive Seite von Disziplinierung, das Verhältnis zwischen Macht und Erkenntnis: Der erste Band von „Histoire de la sexualité", verknüpft die Analyse von Techniken äußerer Kontrolle der Psyche mit der Analyse von Techniken der Selbstkontrolle. Foucault versucht nachzuweisen, dass die Einschärfting einer Disziplin der Selbstkontrolle im Bereich der Sexualität das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis nach sich zog. Foucault, Michel: Histoire de la sexualité, 2 Bde., Paris 1984. 142 Aufzeichnung vom 20.9.1935. Familienarchiv.

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„Ich lobpreise Stalin nicht, aber ich zeige ohne Heuchelei seine Kraft, seine Bedeutung in der Revolution und dieses Bild wirkt stärker als bei vielen anderen Rednern, die sich in einem klanglosen Halleluja-Geschrei verhaspeln."143

Die zitierten Textstellen sind als Zwiegespräch gestaltet: In ihnen ist implizit neben Jaroslavskijs eine zweite, Jaroslavskij gegenüber kritische Stimme vernehmbar. Zudem fällt seine defensive Grundhaltung auf. Wir können diese Aussagen sowohl als Ausdruck seiner beständigen Selbstvergewisserung im festen Glauben an Stalin, der lediglich von anderen angezweifelt wird lesen, aber auch als Ausdruck von Zweifeln an der Richtigkeit des eigenen Verhaltens und als Selbstrechtfertigung deuten. In beiden Beispielen spiegeln sich sowohl die von anderen an Jaroslavskij herangetragenen Vorwürfe der mangelnden Wahrhaftigkeit als auch möglicherweise ein latenter Selbstvorwurf der Heuchelei oder das Bewusstsein des Verstoßes gegen einst vertretene Handlungsmaximen. Der Vorwurf bzw. Selbstvorwurf mangelnder Wahrhaftigkeit in seinem Verhältnis zu Stalin und zur Partei war offensichtlich so zentral, dass er Jaroslavskijs Identitätskonstruktion als bolschewistischer Revolutionär in einer Zeit, in der er zunehmend von der Parteiführung isoliert wurde, stark gefährdete; denn Jaroslavskijs Identität konnte sich nur über den bedingungslosen Glauben an Stalin und die Parteiführung sowie über deren Akzeptanz seiner Person definieren. Diese Identitätskonstruktion versuchte er durch die Anwendung von Selbsttechniken aufrechtzuerhalten. Seine Selbsttechniken funktionierten in zwei Richtungen: Einerseits vergewisserte sich Jaroslavskij immer wieder seines bedingungslosen, wahrhaftigen Glaubens, und andererseits versuchte er, eine Konstitution des Selbst durch den Ausschluss anderer, d.h. durch den Vorwurf der Heuchelei, zu erreichen. Im Zuge der beschriebenen Konkurrenzkämpfe wurde Stalin zum alleinigen Bezugspunkt dieser Selbsttechniken.144 Die äußeren Statuskämpfe transformierten sich für Jaroslavskij so zum inneren Konflikt, zum beständigen Kampf gegen die Gefahr des Zweifels und des Disziplinverlusts. Aus diesem hermetischen Raum war er nicht in der Lage herauszutreten. Aufgrund dieser konflikthaften Distanzlosigkeit erscheint es gerechtfertigt, Jaroslavskijs Äußerungen über Stalin trotz ihres instrumenteilen Charakters auch als authentisch zu bezeichnen. Der Wahrhaftigkeits- bzw. Unehrlichkeitsdiskurs kann im Ergebnis nicht nur als vorsätzliche Strategie Jaroslavskijs in den Statuskämpfen gewertet werden obwohl Jaroslavskij diese Möglichkeit durchaus nutzte; der Diskurs diente auch der Rationalisierung bzw. der Semantisierung von subjektiv erlebtem Verhalten, dessen objektive Bedingungen, nämlich die in den Statuskämpfen zum Ausdruck kommenden sozialen und politischen Praktiken, aufgrund der mangelnden Distanz nicht angemessen reflektiert werden konnten. 143

Aufzeichnung vom 4.11.1936. Familienarchiv. Mikojan reflektiert diesen Mechanismus in seiner Autobiographie. Er hält Kaganovic für den Urheber der Stalin-Huldigungen. Mikojan: Tak bylo, S. 318. 144

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Stalin erfüllte seine Funktion gegenüber Jaroslavskij nicht als Person, sondern als Medium. Stalins persönliche Eigenschaften oder Bedürfnisse spielten für ihn bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Der Begriff Medium ist geeignet, um die Übertragungsfunktion Stalins zu beschreiben. Im engeren Sinne repräsentierte und übertrug Stalin Macht oder vielmehr, wenn man in der Diktion der Zeitgenossen bleibt, Autorität; d.h. er konnte die symbolische Präsenz der an den Statuskämpfen beteiligten Akteure vor der Parteiöffentlichkeit gewährleisten. Diese mediale Funktion übte Stalin auf zwei Ebenen aus: erstens als Gegenstand des Sprechens - diesbezüglich stellte er die höchste Form des symbolischen Kapitals dar, und zweitens als diejenige Instanz, die das Sprechen manipulierte und kontrollierte. Für Jaroslavskij bedeutete dies, dass er das, was er sein wollte, nämlich ein professioneller Revolutionär und anerkanntes Mitglied der bolschewistischen Führung, nur durch diese alles integrierende Vermittlungsfunktion Stalins sein konnte. Die enge Verflechtung von Authentizität und Instrumentalität in Jaroslavskij s Beziehung zu Stalin zeigt sich insbesondere in den Quellen, die seine Verfasstheit in der Zeit kurz vor seinem Tod dokumentieren. Jaroslavskij war Anfang der 1940er Jahre an Magenkrebs erkrankt, an dem er am 4. Dezember 1943 starb. An seinem Lebensende verschärfte sich sein innerer Konflikt, d.h. das Gefühl, trotz des als legitim empfundenen Anspruchs auf den Status eines Führungsmitglieds von Stalins Umgebung ausgegrenzt zu sein. Der durch die zunehmende Marginalisierung entstandene Riss in Jaroslavskij s Identitätskonstruktion konnte nur durch den einzigen Bezugspunkt Stalin wieder zusammengefügt werden. In diesem Sinne schrieb Jaroslavskijs Frau, Klavdija Kirsanova, am 12. Juni 1943 an Stalin: „Verzeihen Sie mir, dass ich mich mit diesem Brief an Sie wende. Aber Genösse Jaroslavskij leidet derartig, dass ich mich entschlossen habe, Ihnen zu schreiben. Wenn Sie einige Worte an ihn richteten, könnte das alle seine Qualen erleichtern oder ihn vielleicht sogar retten. Ich flehe Sie deswegen an. Genösse Jaroslavskij wird in den letzten Jahren von dem Gedanken gemartert und gequält, dass er von Ihnen irgendwie entfremdet bzw. isoliert ist. Und jetzt, da ihm diese riskante Operation bevorsteht, quälen ihn diese Gedanken besonders."145

Stalin war Kirsanovas Bitte offensichtlich nachgekommen, denn diese richtete nach Jaroslavskijs Tod ein Schreiben an Stalin, in dem sie diesem von der Reaktion ihres Mannes auf die Genesungswünsche und Grüße berichtete: „Welch unvergesslicher Tag! Welch unvergessliche Stunde als ich Ihre Stimme hörte! Ich war so aufgeregt, dass ich im Gespräch mit Ihnen die Worte durcheinander brachte; aber das Glücksgefühl überbrachte ich meinem Freund, Ehemann und Genossen. Zu diesem Zeitpunkt war schon bekannt, dass seine schreckliche Krankheit sehr bald zum Tode führen würde. Als ich Ihren Gruß ausrichtete, als ich Ihre Worte überbrachte - ,Wir schicken den Genossen Jaroslavskij ans Meer, an die Sonne, damit er sich dort erholt und an Gewicht zunimmt' - , durch welchen Ausdruck des Glücks wurde da sein Gesicht erhellt. Er streckte mir die Hände entgegen und drückte meine Hände in den seinen, Tränen flössen aus seinen 145

Schreiben Kirsanovas an Stalin vom 12.6.1943. F.558, op.l 1, d.842,1.61-62.

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Augen, fielen in großen Tropfen auf das Kopfkissen, Tränen flössen auch aus meinen Augen. Wir schwiegen, Worte wären grob gewesen, und wir benötigten auch keine Worte. Und erst als er aus dem Fenster sah, auf den abendlichen Himmel, der erleuchtet war von den Strahlen der untergehenden Sonne, sagte er leise, ganz leise - ,ein unvergesslicher Tag'. Ich fragte ihn - ,Denkst du an Stalin?' 'Ja' - antwortete er. 'Geht es dir gut?' 'Ich bin glücklich' - sagte er."146 Jaroslavskij selbst beschreibt diese Begebenheit in einem Brief an Stalin v o m 9. Juli 1943 folgendermaßen: „Die Genossin Kirsanova hat mir Ihre Grüße und Wünsche ausgerichtet, und ich habe glückliche Stunden verlebt, die einem Menschen nicht so häufig gegönnt sind."147 Folgt man der Darstellung Kirsanovas, die sich in ihrer sprachlichen Ausformung und ihrem Pathos stark an den Konventionen der Literatur des Sozialistischen Realismus orientiert, so erfüllte Stalin gegenüber Jaroslavskij die Rolle eines Geistlichen, der dem Sterbenden die letzte Gewissheit seiner „Erlösung" verschafft. Jaroslavskij benötigte Stalins Worte, u m seinen Tod zu einem sinnvollen Ereignis zu machen, u m sicher zu sein, ein sinnvolles Leben als Revolutionär und Bolschewist gelebt zu haben und in den Tempel der bolschewistischen Erinnerung und die offizielle Martyrologie, d.h. in die „spirituelle" U n i o n der lebenden und toten Parteimitglieder einzutreten. 148 Interessant ist aber auch - und an dieser Stelle offenbart sich der instrumentelle Charakter der Korrespondenz - dass Jaroslavskij s Frau explizit den oben behandelten „Wahrhaftigkeitsdiskurs" aufnahm. D e m Brief, den Kirsanova nach Jaroslavskij s Tod an Stalin schickte, hatte sie einige Textstellen aus den Tagebüchern ihres Mannes beigefügt, in denen sich dieser über Stalin geäußert hatte. D i e s e n Anhang kommentierte sie folgendermaßen:

146

Schreiben Kirsanovas an Stalin vom 17.1.1944. F.558, op.l 1, d.842,1.75-76. F.558, op.ll, d.842,1.73. Igal Halfin hat sich mit der Bedeutung des Todes für Kommunisten beschäftigt und besonders auf die „spirituelle" Bedeutung des Todes für das bolschewistische Subjekt, die sich in der endgültigen Kommunion eines Bolschewisten mit der Bruderschaft der von der Geschichte Auserwählten vollziehe, aufmerksam gemacht. Er fuhrt als Belege für sein Argument vor allem Abschiedsbriefe oder Geständnisse ehemaliger hochrangiger Parteifunktionäre wie Bucharin, Tomskij, Zinov'ev und Ezov an, die während des „großen Terrors" als Feinde der Partei „entlarvt" wurden. In diesen Briefen und Geständnissen äußerten die von der baldigen Hinrichtung Bedrohten nicht so sehr ihre Angst vor der physischen Vernichtung, sondern wie auch Jaroslavskij die Befürchtung, als von der Partei Verstoßene sterben zu müssen. Halfln, Igal: Terror in my Soul. Communist Autobiographies on Trial, Cambridge, London 2003, S. 274—284. Halfin widmet sich in seiner Arbeit aber ausschließlich der textuellen Analyse der Briefe und Geständnisse, ohne diese Quellen in den Kontext der materiellen Realität zu stellen. Durch diese Vorgehensweise erscheinen seine aus dem religiösen Kontext stammenden Metaphern zur Beschreibung des Verhaltens dieser Bolschewisten zwar plausibel, jedoch ist es unmöglich, auf diese Weise die Motivationen derjenigen, die Abschiedsbriefe verfassten und die unter hohem Druck und Gewaltanwendung Geständisse ablegen mußten und deren Angehörige in höchstem Maße gefährdet waren, zu objektivieren. 147

148

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„Aus diesen Aufzeichnungen könnte man ein ganzes Buch machen. So viel Reinheit und Aufrichtigkeit liegt in diesen Gefühlen, die [von Jaroslavskij; S.D.] dem Genossen Stalin entgegengebracht werden. Und ich habe doch nur ein winziges Teilchen dessen aufgeführt, was der Genösse Jaroslavskij über den Genossen Stalin geschrieben hat."149

Durch die Beteuerung der Aufrichtigkeit von Jaroslavskijs Glauben an Stalin versuchte Kirsanova möglicherweise nach dem Tod ihres Mannes, ihren Status und den ihrer Kinder zu sichern. Jaroslavskij selbst hatte sich kurz vor seiner Operation schon an Stalin gewandt und diesem noch einmal versichert, „(...), dass es in meinem Leben (...) nichts gibt und nichts gegeben hat, was mir näher, lieber, heiliger, heller und freudespendender war als die bolschewistische Partei und der Kampf für den Kommunismus." 150

Gleichzeitig bat er Stalin eindringlich, im Falle seines Ablebens seine Familie zu unterstützen. Die postulierte Aufrichtigkeit des Glaubens an Stalin und die Partei wird sowohl von Jaroslavskij selbst als auch von Kirsanova im Bewusstsein einer ständigen Gefahrdung der Familie als Währung eingesetzt, für die sie im Gegenzug Fürsorge und Schutz erwarteten. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Jaroslavskij und Kirsanova aufgrund von zahlreichen Beispielen aus ihrer näheren Umgebung seit spätestens Mitte der 1930er Jahre klar war, was der Verlust der Fürsorge durch Stalin und seine engere Gefolgschaft bedeutete. Das Tagebuch Julija Pjatnickajas, die mit ihrer Familie im Sommer 1937 in Jaroslavskijs ehemaliger Datscha untergebracht war, verdeutlicht eindrücklich, inwiefern die Familien von Parteifunktionären in jeglicher Hinsicht vom Wohlwollen Stalins und der höchsten bolschewistischen Führung abhängig waren. Pjatnickaja verlor durch die Verfolgung und Verhaftung ihres Manns, des Altbolschewisten und hohen Funktionärs der Komintern, Osip Pjatnickij, im Sommer 1937 nicht nur jegliche Ansprüche auf Wohnung, Arbeit und materielle Versorgung, sondern erfuhr auch, da nur wenige es noch wagten, mit ihr Kontakt zu halten, eine nahezu vollständige soziale Isolierung, durch die auch jegliche Form von freundschaftlicher, emotionaler und materieller Unterstützung unmöglich wurde. Sie und ihre beiden minderjährigen Söhne wurden 1938 verhaftet. Pjatnickaja starb Anfang der 1940er Jahre in einem Lager, ihre Söhne überlebten.151

149

F.558, o p . l l , d.842,1.85. Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 25.6.1943 aus dem Krankenhaus des Kreml. F.558, o p . l l , d.842,1.70-71. 151 Die Familie Pjatnickijs wurde im Juni 1937 in Jaroslavskijs Datscha in Serebrjanyj bor aufgrund einer Entscheidung der Liegenschaftsabteilung des ZK untergebracht. Jaroslavskij selbst bereitete zu diesem Zeitpunkt seinen Umzug in eine eigens für ihn gebaute Datscha in Nagornoe vor. Ob Jaroslavskij im Sommer 1937 mit der Familie Pjatnickijs in Kontakt stand, ist nicht bekannt. Golgofa. Po materialam archivno-sledstvennogo déla No. 603 na Sokolovu-Pjatnickuju Ju.I., hrsg. v. V.l. Pjatnickij, St. Petersburg 1993. 150

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5. Der „Kurze Lehrgang" Jaroslavskijs beharrliche Versuche, sich in das Zentrum zurückzuschreiben und seine Marginalisierung von der Parteispitze zu überwinden, wurden Ende der 1930er Jahre vorübergehend von Erfolg gekrönt. Im April 1937 wurde er durch einen Beschluss des Politbüros zum Mitglied der dreiköpfigen Kommission ernannt, die den Auftrag erhielt, auf der Grundlage eines von Stalin vorgeschlagenen Gliederungsschemas eine verbindliche Parteigeschichte zu erarbeiten, den späteren Kratkij kurs.152 Die Bedeutung des Kratkij kurs beschränkt sich nicht auf die Geschichte der bolschewistischen Partei, deren endgültigen Sieg er besiegeln und deren Herrschaft er legitimieren sollte. Er war das grundlegende ideologische Werk des Stalinismus, an dem Generationen von sowjetischen und nichtsowjetischen Kommunisten geschult wurden, wie sie zu denken und zu handeln hatten. Er erfuhr zwischen 1938 und 1953 eine Gesamtauflage von 42,816 Millionen Exemplaren und wurde in 67 Sprachen übersetzt.153 Im September 1938 wurde das Lehrbuch zunächst in der Pravda und etwas später in der Zeitschrift Bol'sevik kapitelweise gedruckt und erschien dann als einzelnes Buch. Auf dem Titelblatt werden keine Autoren erwähnt, hier findet sich lediglich der Hinweis, dass das Buch durch eine Kommission des ZK VKP(b) redigiert und vom ZK befürwortet worden sei.154 Durch diese Praxis artikuliert sich die katechismusähnliche Bedeutung des Kratkij kurs. Obwohl das Lehrbuch aufgrund eines Beschlusses des 20. Parteitags 1956 umgearbeitet wurde, wurden viele seiner wesentlichen ideologischen Grundannahmen nicht in Frage gestellt; diese erwiesen sich als sehr zählebig und bestimmten die sowjetischen Geschichtsvorstellungen, Bilder von sozialen Beziehungen und politischem Handeln sowie die Geschichtsschreibung bis in die 1980er Jahre hinein.155 Die Struktur des Kratkij kurs ist, ähnlich wie auch die von Jaroslavskijs anderen Parteigeschichten, mythisch156, aber in einer im Sinne der stalinschen Parteiführung wesentlich effektiveren Weise. Im Kratkij kurs wird die Geschichte als eine nicht nur sinnvolle, sondern auch unaufhaltsame Entwicklung von einer primitiven sozialen Ordnung zum Kommunismus konstruiert. 152 Protokoll der Politbürositzung vom 16.4.1937. F. 17, op.3, d.986,1.2. Die anderen Kommissionsmitglieder waren V.G. Knorin, der noch im selben Jahr Opfer des Terrors wurde, und P.N. Pospelov, der sich später als Schüler Jaroslavskijs bezeichnete. Rudnev: Kto pisal „Kratkij kurs", S. 163. 153 Sovetskaja bibliografija: Sbornik statej i materialov, vyp.l (34), Moskau 1953, S. 224. 154 Im Vorwort der Herausgeber der Werke Stalins zum 1. Band (1946) wird Stalin allein als Verfasser des Kratkij kurs genannt. In der italienischen Übersetzung^ die 1944 in Rom erschienen war, wurden Stalin, Kalinin, Molotov, Vorosilov, Kaganovic, Zdanov und Berija als Autoren aufgeführt. 155 Zu den verheerenden Folgen des Kratkij Kurs für die sowjetischen Geschichts- und Sozialwissenschaften siehe: Maslov. Kratkij kurs (1996), S. 240-273. 15« Vgl. Kap. IV.l.b.

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Diese Vorstellung bildet die Metaerzählung, in die alle im Hinblick auf den Telos (das Erreichen des Kommunismus) fur relevant gehaltenen Ereignisse der Parteigeschichte eingeordnet werden. Die bolschewistische Machtergreifung im Oktoberaufstand wird als genuin proletarische Revolution und somit als die bedeutendste Wegmarke auf dem Weg zum Kommunismus dargestellt. Durch die Deutung des Aufstands als proletarische Revolution erfährt die bolschewistische Herrschaft ihre Legitimierung. Alle vorhergehenden historischen Ereignisse und Entwicklungen bekommen erst im Hinblick auf ihre Funktion für die Oktoberrevolution ihren Sinn. Als wichtigster Auslöser der vermeintlich proletarischen Revolution erscheinen jedoch nicht so sehr die Situation der Arbeiterschaft und die daraus resultierenden sozialen Konflikte, sondern Lenins Gründung der bolschewistischen Partei, die die unmittelbare Voraussetzung für das Entstehen einer Arbeiterbewegung bildet. Der Kratkij kurs konstruiert eine Weltsicht, in der die Verwirklichung des Sozialismus und somit die Zukunft der Menschheit in wesentlichem Maße von der bolschewistischen Partei abhängen, deren Führung durch das theoretische Werkzeug, den Leninismus, über die Fähigkeit verfügt, die Wegmarken der Geschichte angemessen zu deuten und so die Geschichte ihrer teleologischen Erfüllung zuführt.157 Die Bolschewiki werden so als Instrumente der Geschichte dargestellt. Die Geschichte erhält ihre Dynamik erst auf einer untergeordneten Ebene durch Klassenkämpfe, d.h. durch soziale Konflikte in der Bevölkerung, sondern vielmehr durch Auseinandersetzungen innerhalb der revolutionären Bewegung und später durch Fraktionskämpfe in der Partei über die richtige Deutung historischer Wegmarken. Da die Geschichte nur einen richtigen Weg kennt und nur einem Telos zustrebt, ist die Legitimität der Koexistenz unterschiedlicher Deutungen im Kratkij kurs, wie auch in Jaroslavskijs übrigen Parteigeschichten, nicht aussagbar. Handlung und Gegenhandlung zwischen rivalisierenden Fraktionen repräsentieren in diesen Geschichtsdarstellungen sowohl den grundlegenden Mechanismus historischen Wandels als auch den Kern des Politischen, sie sind das Leitprinzip der narrativen Konstruktion. Für die Überwindung dieser Konflikte, das Erreichen der Einheit und der richtigen Deutung ist eine eindeutige Führerschaft der Schlüssel. 157 In den Schlussfolgerungen des Kurzen Lehrgangs wird dies als erster Lehrsatz formuliert: „1. Die Geschichte der Partei lehrt vor allem, daß der Sieg der proletarischen Revolution, der Sieg der Diktatur des Proletariats unmöglich ist ohne eine revolutionäre Partei des Proletariats, eine Partei, die vom Opportunismus frei, gegen Paktierer und Kapitulanten unversöhnlich, gegenüber der Bourgeoisie und ihrer Staatsgewalt revolutionär ist. Die Geschichte der Partei lehrt: das Proletariat ohne eine solche Partei lassen, bedeutet, es ohne revolutionäre Führung lassen, es aber ohne revolutionäre Führung lassen, bedeutet die Sache der proletarischen Revolution zum Scheitern bringen. (...) Eine solche Partei in der Sowjetunion ist die bolschewistische Partei." Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang, unter der Redaktion einer Kommission des Zentralkomitees der KPdSU (B), gebilligt vom ZK der KPdSU, Berlin 1946, S. 427.

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Hiermit kommen wir zu den an den Fraktionskämpfen beteiligten Akteuren und ihren Handlungsmotiven. Die Hauptdarsteller im Drama der Fraktionskämpfe sind auf der einen Seite Lenin und Stalin und auf der anderen Seite die oppositionellen Gruppierungen. Stalin wird als Lenins engster Kampfgenosse dargestellt. Der Status Lenins und Stalins als Führer der bolschewistischen Partei und ihre Deutungshoheit bedürfen keiner kausalen Erklärung. Ihr Status legitimiert sich nicht durch normative Verfahren abstrakter bzw. theoretischer oder demokratischer Art, sondern dadurch, dass sie sich in den Auseinandersetzungen über die richtige Parteilinie, d.h. über das richtige Erkennen der historischen Wegmarken, gegen die oppositionellen Gruppierungen durchgesetzt haben. Die Legitimität ihres Status wird also nicht historisch hergeleitet, sondern gewissermaßen mit der inneren Notwendigkeit der Geschichte selbst begründet und aus den geschaffenen Fakten deduziert. Im Kern ist diese vorgeblich dialektische Beweisführung eigentlich tautologisch. Reduziert man das Argument auf seine Grundelemente, so kommt man zu den folgenden zwei Sätzen: Stalin hat sich in den innerparteilichen Kämpfen durchgesetzt, weil er die historischen Wegmarken am besten deuten konnte. Stalin kann die historischen Wegmarken am besten deuten, weil er sich in den innerparteilichen Kämpfen durchgesetzt hat. Zudem erscheinen die Handlungen der historischen Akteure nicht psychologisch motiviert, sie finden stattdessen in der Realisierung bestimmter Klasseninteressen ihre Begründung. Lenin und Stalin sowie die Repräsentanten der oppositionellen Gruppierungen werden so auf ihre Vermittlungsfunktion reduziert; sie verfolgen selbst keinerlei eigene Interessen. Erstere agieren im Interesse der Arbeiterklasse, letztere im Auftrag der dem Sowjetstaat feindlich gesonnenen bürgerlichen Klassen. Die für politische Rivalen benutzten Zuschreibungen wie z.B. „Karrierist" oder „Doppelzüngler" werden in den historiographischen Texten in ein soziologisches Konzept, in ein Symbol für eine bestimmte soziale Gruppe transformiert, die als Feindin der Geschichte definiert wird. Das Ziel der Opposition ist, die bolschewistische Partei zu spalten, den sozialistischen Aufbau zu sabotieren, um letztlich die bolschewistische Partei und ihre historische Mission zu zerstören. Die spalterische Tätigkeit Trotzkijs und anderer Oppositioneller sowie auch Stalins vermeintliche Tugenden als Parteiführer werden in die vorrevolutionäre Periode zurückdatiert; dieses Verfahren transformiert die historischen Akteure zu ahistorischen Entitäten. Die Parteigeschichte wird sowohl als „Drama der Konspiration" als auch als „rationaler pädagogischer Prozess" konzipiert, in dem die Feinde der bolschewistischen Partei, d.h. gleichsam die Feinde der Geschichte selbst, immer wieder durch die Parteiführung vor der Bevölkerung demaskiert werden. Die Bevölkerung partizipiert ihrerseits als Akklamationsinstanz an der Geschichte. Ihre Loyalitätsbekundungen stellen die Einheit der Partei wieder her.

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Die Erzählung der Parteigeschichte im Kratkij kurs schließt mit der endgültigen Zerstörung der Opposition in den Schauprozessen, der Verabschiedung der sogenannten stalinschen Verfassung im Jahr 1936 und der Wahl zum Obersten Sowjet (in den Jaroslavskij gewählt wurde), bei der „90 Millionen Menschen durch ihre einmütige Abstimmung den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion [bekräftigten]". Der Kratkij kurs kodifiziert, dass die bolschewistische Partei bzw. die Geschichte eine wesentliche Etappe auf dem Weg zur Realisierung des Telos zurückgelegt hat. Die fur die Entstehungsgeschichte des Kratkij kurs relevanten Archivalien legen den Schluss nahe, dass Jaroslavskij unter der Kontrolle Stalins einen wesentlichen Anteil an der Erstellung des Lehrbuchs hatte.158 Aufgrund der Bedeutung des Kratkij kurs als die zentrale ideologische Hinterlassenschaft des Stalinismus drängt sich die Frage auf, wie sich letztlich der Beitrag Jaroslavskij s zu diesem Lehrbuch bewerten lässt und inwiefern darin seine Überzeugungen bzw. seine „auktorialen Intentionen" zum Ausdruck kommen. Der Experte für sowjetische Historiographie, George Enteen, hat Jaroslavskij und dessen „mytho-poetischer Vorstellungskraft" in einem noch vor der Öffnung der sowjetischen Archive erschienenen Aufsatz nicht nur eine bedeutende Rolle in der Produktion des Kratkij kurs, sondern auch einen wesentlichen Einfluss auf das gesamte sowjetische Geschichtsdenken zugeschrieben. Enteen bestreitet zwar nicht Stalins Einfluss, gibt aber aus einer revisionistischen bipolaren Perspektive, die überwiegend mit den Koordinaten Stalin und Jaroslavskij operiert, zu bedenken, dass Stalin umgekehrt in erheblichem Maße von Jaroslavskijs Geschichtsdenken beinflusst worden sei. Enteen führt die von ihm angenommene Überzeugungskraft von Jaroslavskijs Geschichtsdenken auf die mytho-poetischen Eigenschaften dieses Denkens zurück. Der Mythos - so die Definition Enteens - verfüge zwar ebenso wie die Ideologie über orientierungsbildende und didaktische Angebote, unterscheide sich aber auch wesentlich von ihr. Ideologie werde von ihren Trägern gemäß ihren Interessen bewusst eingesetzt, d.h. sie ist handlungsorientiert, und sie ist sich, ergänzt man Enteens Definition, ihrer Ideologizität bewusst. Der Mythos hingegen bediene zusätzlich andere Bedürfnisse, er beziehe sich auf existentielle Probleme, erkläre Ursprungsereignisse und lade die menschliche Existenz mit Sinn auf.159 Enteen lässt allerdings offen, wessen Bedürfnisse durch die Jaroslavskij zugeschriebenen parteihistorischen Texte - insbe158 Siehe hierzu den Briefwechsel Jaroslavskijs mit Stalin bzgl. der Redaktion des „Kurzen Lehrgangs", f.89, op.8, d.800,1.1-15, und die einzelnen Entstehungsschritte des Lehrbuchs mit den Korrekturen Stalins. F.558, op.ll, d. 1203—1219. Siehe auch die kommentierte Dokumentation der Entstehungsgeschichte des „Kurzen Lehrgangs" von: Zelenov, M.V.: I.V. Stalin ν rabote nad „Kratkim kursom istorii VKP(b)", in: Voprosy istorii, 2002, H. 11, S. 3-29; H. 12, S. 3-26; 2003, H. 3, S. 3-23, H. 4, S. 3-25. 159 Enteen: Writing Party History, S. 322.

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sondere durch den Kratkij kurs - bedient werden und wie diese Texte die Bedeutung erzeugen, die diesen Bedürfnissen entspricht. Enteen standen als Quellen lediglich die historiographischen Texte Jaroslavskijs zur Verfügung, die er in überzeugender Weise analysiert. Aufgrund dieser Quellenlage kann er jedoch weder die Entstehungsgeschichte der in Frage stehenden historiographischen Texte rekonstruieren, noch die Übertragungswege des vermuteten Einflusses aufzeigen, noch die politischen Praktiken, die im Kratkij kurs ihren Niederschlag finden, genauer beschreiben. Enteens Hypothesen sollen uns im folgenden als Denkanregung dienen, um das Verhältnis zwischen Repräsentation, d.h. dem historiographischen Text, seiner Entstehungsgeschichte und den politischen Praktiken genauer zu ermitteln. Nachdem die Arbeit an der von Jaroslavskij herausgegebenen vierbändigen Parteigeschichte infolge von Stalins „Brief an die Zeitschrift Proletarskaja revoljucija eingestellt worden war, gab es zwischen 1932 und dem Jahresbeginn 1935 noch Bestrebungen, unter der nominellen Leitung des IMEL eine Neubearbeitung der vierbändigen Parteigeschichte zu erstellen. Das neue Lehrbuch sollte unter der Leitung einer Gruppe, bestehend aus A. Bubnov, V. Knorin, N.N. Popov I. Tovstucha, V.A. Bystrjanskij und Jaroslavskij, von mehreren Historikerbrigaden erarbeitet werden. Die Mitglieder dieser Gruppe hatten die Aufgabe, den Bearbeitungsvorgang zu koordinieren, die Brigaden für ihre jeweiligen Zuständigkeitsbereiche zusammenzustellen, und trugen die Verantwortung für die Inhalte der Texte. Die maßgebliche Redaktion des Lehrbuchs übernahmen die Vertreter der nominell zuständigen Institutionen Steckij (ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda) und Adoratskij (IMEL). Jaroslavskij war für die Bearbeitung der Periode 19051907 zuständig.160 Obwohl Jaroslavskij zu der leitenden Gruppe gehörte, schien er nicht sehr intensiv in die laufenden Arbeiten einbezogen gewesen zu sein, sofern diese überhaupt stattfanden. Dies wird deutlich in einem Brief vom 10. Juli 1933 an Adoratskij, in dem Jaroslavskij sich erkundigte, wie sich die Arbeit an der Parteigeschichte gestalte und welche Zeitpläne und Autoren vorgesehen seien.161 Zu Beginn des Jahres 1935 stand das Projekt der vierbändigen Parteigeschichte noch auf der Tagesordnung des Orgbüros. Zur Vorbereitung auf die entsprechende Sitzung des Orgbüros wurde die leitende Gruppe im Namen des IMEL aufgefordert, am 7. Januar zusammenzukommen, 160 Briefwechsel zwischen den Mitarbeitern an der vierbändigen Parteigeschichte und dem IMEL und die entsprechenden Arbeitspläne. F.89, op.7, d.92, 1.4a, 5-7. In seinem Fehlereingeständnis auf der Parteikonferenz des Rajons Zamoskvorec'e zu Beginn des Jahres 1932 hatte Jaroslavskij von einer ZK-Bestimmung gesprochen, dernach sich die Kommission zur Neubearbeitung des Lehrbuchs aus Knorin, N. Popov, Bubnov, Jaroslavskij, Skrypnik, Bystijanskij und Tovstucha zusammensetzen sollte; die Redaktion sollten demnach Stalin, Postysev, Kaganovic, Molotov, Steckij und Pjatnickij übernehmen. Vystuplenie Em. Jaroslavskogo na Zamoskvoreckoj rajonnoj partijnoj konferencii, 14.1.1932. F.89, op.7, d.69,1.17. 161 Schreiben Jaroslavskijs an das IMEL, Adoratskij vom 10.7.1933. F.89, op.7, d.92,1.5.

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um einen Beschlussvorschlag für das ZK zu erarbeiten.162 Wahrscheinlich ist diese Beschlussvorlage vom ZK nicht akzeptiert worden; das Projekt einer Neubearbeitung der vierbändigen Parteigeschichte wurde in der Folge weder realisiert noch weiter diskutiert, ohne dass aber von dem Vorhaben Abstand genommen worden wäre, eine maßgebliche Parteigeschichte zu erstellen. Nachdem das Projekt aufgegeben worden war, versuchte Jaroslavskij am Ball zu bleiben, indem er Stalin und Steckij im März 1935 neue Vorschläge zur Konzeptualisierung von Lehrbüchern über Parteigeschichte unterbreitete, um auf diesem Wege für die Beteiligung seiner Person an einem solchen potentiellen Vorhaben zu werben. Bei Stalin setzte er sich dafür ein, unterschiedliche Lehrbücher für drei Rezipientengruppen zu entwerfen, und unterbreitete diesem Vorschläge zur Überarbeitung seines 1933 erschienenen zweibändigen Lehrbuchs Istorija VKP(b)\ an Steckij richtete er die schon erwähnte Aufforderung, dass in den Lehrbüchern über Parteigeschichte mehr über Stalin geschrieben werden müsse, insbesondere über Stalins Rolle in der Partei zu Lenins Lebzeiten.163 Den unmittelbaren Anlass für Jaroslavskij s Schreiben an Stalin lieferte eine Beratung (sovescanie) in der ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda, die am 10. März 1935 stattgefunden hatte und auf der die Nützlichkeit der bestehenden Lehrbücher über Parteigeschichte angezweifelt worden war. Sein Lehrbuch - so gibt der beunruhigte Jaroslavskij den Verlauf der Beratung wieder - sei zwar das meistgenutzte, jedoch sei es für Parteiarbeiter mit geringer Vorbildung zu schwierig. Zudem habe Steckij die alarmierende Richtlinie ausgegeben, dass die Darstellung der Parteigeschichte in einem populären Lehrwerk erst mit den 1880er Jahren, d.h. mit der Gründung der ersten russischen marxistischen Gruppe Ozvobozdenie truda (Befreiung der Arbeit) einzusetzen habe und der Schwerpunkt auf die Zeit seit 1917 gelegt werden solle. In seinem Tagebuch verdächtigte Jaroslavskij Steckij, diese Richtlinie selbst aufgestellt, sie aber als Richtlinie Stalins ausgegeben zu haben, und beharrte auf der Notwendigkeit einer ausführlichen Darstellung der revolutionären Bewegungen seit ihren Anfangen. 164 Im Frühjahr 1935 fiel schließlich die Entscheidung, die entsprechend einer Aussage Jaroslavskij s von den ZK-Sekretären getroffen worden war, dass ein neues Lehrbuch für den Massengebrauch entworfen werden müsse. Der unmittelbare Auslöser für diesen neuerlichen Aktivismus der Mitarbeiter im ZK-Apparat waren vermutlich die laufenden Untersuchungen des KirovMords, in deren Verlauf Zinov'ev und Kamenev unter Verdacht gerieten, sowie der im März und April in Moskau stattfindende Prozess gegen die Arbeiteropposition. Die neuerliche Offensive gegen ehemalige Oppositio162 Schreiben im Namen des IMEL an Jaroslavskij, Bubnov, Knorin, N.N. Popov und Bystijanskij vom 31.12.1934. F. 89, op.7, d.92,1.4a. 163 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin u. Steckij vom 11.3.1935. F.89, op.l, d.84,1.11-15. 164 Aufzeichnung vom 10.3.1935. Familienarchiv.

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nelle machte eine andere Darstellung der Parteigeschichte und insbesondere den Ausschluss der betreffenden Personen aus der Parteigeschichte erforderlich. Der Historiker Zelenov vermutet sogar, dass die Entscheidung der ZKSekretäre nicht nur, wie auch schon in den 1920er Jahren üblich, der nachträglichen Legitimierung des Vorgehens der Stalin-Gruppe gegen die Opposition diente, sondern der ideologischen Vorbereitung der sogenannten Kreml-Affare. Anfang Juni 1935 wurden 110 Bedienstete des Kreml angeklagt, einen terroristischen Anschlag auf die Regierung und hochrangige Parteiführer geplant zu haben. In diesem Zusammenhang wurden nicht nur Zinov'ev und Kamenev erstmals der direkten Beteiligung an der Ermordung Kirovs bezichtigt, sondern erstmalig ein loyaler Stalinist, der langjährige Weggefährte Stalins und Vorsitzende des ZEK Avel Enukidze aus der Partei ausgeschlossen.165 In einem Schreiben vom 2. Juni berichtete Jaroslavskij Stalin, dass Steckij ihm die Entscheidung des ZK bezüglich des Lehrbuchs übermittelt habe.166 Aus dieser Mitteilung hatte Jaroslavskij geschlossen, dass sein zweibändiges Lehrbuch, an dem er seit 1924 gearbeitet habe, nicht mehr aufgelegt werde. Jaroslavskij bat Stalin, darauf hinzuwirken, dass sein Lehrbuch in überarbeiteter Form dennoch wieder erscheinen könne. Damit hatte er offensichtlich Erfolg, denn 1936 und 1938 wurde das zweibändige Lehrbuch unter dem Titel Ocerki po istorii VKP(b) wiederaufgelegt. Zudem bot er explizit seine Mitarbeit in dem Projekt eines kollektiven Lehrbuchs an. In seiner Argumentation gegenüber Stalin konstruierte Jaroslavskij eine Differenz zwischen seiner Generation, die den revolutionären Kampf aus eigenem Erleben und nicht nur aus Büchern kenne, und den jungen „Ikapisten", die er offensichtlich von Steckij vertreten sah und von denen er vermutete, dass sie mit der Zusammenstellung des Lehrbuchs beauftragt worden waren. Desweiteren fragte er Stalin um die Erlaubnis, Archivmaterial über dessen Arbeit im bolschewistischen Untergrund für die verbesserte Auflage seines Lehrbuchs nutzen zu dürfen. Dieses Anliegen wurde von Stalin im August 1935 endgültig abgelehnt.167 Zudem bat Jaroslavskij den Generalsekretär inständig, er möge ihm einen Gesprächstermin gewähren und ihm bezüglich einiger Fragen zur Parteigeschichte helfen.' 68 Offensichtlich war sich Jaroslavskij

165 Zelenov, M.V.: I.V. Stalin ν rabote nad „Kratkim kursom istorii VKP(b)", in: Voprosi istorii, 2002, Η. 11, S. 4. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des ZEK war Enukidze formal für die Verwaltung und Sicherheit des Kreml verantwortlich. Zur „Kreml-Affare" siehe: Getty/Naumov: Road to Terror, S. 160-179. Getty und Naumov gehen im Gegensatz zu Zelenov nicht von einer langwierigen ideologischen Vorbereitung der „Kreml-Affare" aus. Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 2.6.1935. F.558, op.ll, d.842,1.7. 167 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 1.8.1935, Resolution Stalins auf demselben Blatt. F.558, op.ll, d.842,1.11. 168 Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 2.6.1935. F.558, op.ll, d.842, 1.7-8. Aus dem Schreiben geht hervor, dass sich Jaroslavskij schon im April um einen Gesprächstermin mit Stalin bzgl. der Parteigeschichte bemüht, aber keine Antwort erhalten hatte.

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nicht sicher, welche Erfordernisse unter den neuen Bedingungen an eine Parteigeschichte gestellt wurden. Dieser Bitte hatte Stalin stattgegeben, denn Jaroslavskij konnte sich in einem Brief an Steckij triumphierend auf ein persönliches Gespräch vom 22. Juni mit Stalin beziehen. Dieses Gespräch, so Jaroslavskij, sei von „grundsätzlicher Bedeutung fur das von uns erstellte Lehrbuch". Stalin habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass in dem erwähnten Lehrbuch nicht auf die negativen Folgen der vom narodnicestvo vertretenen Theorie individueller Terrorakte (edinolicnogo terrora) hingewiesen werde, welche die Bildung einer Arbeiter-Massenbewegung verzögert habe. Die ideelle Demontage des narodnicestvo durch die Bolschewiki sei so die Bedingung für den Aufbau einer Arbeiterpartei gewesen. Berücksichtigt man den Zeitpunkt des genannten Gesprächs, so legt die durch Jaroslavskij übermittelte Anmerkung Stalins die Annahme nahe, dass der Generalsekretär eine Verbindung zwischen dem Mordanschlag auf Kirov, der „Kreml-Affäre" und der durch die Narodnaja volja vertretene Theorie und Praxis des Terrors herstellte und somit eine gesetzmäßige Entwicklung des Terrors implizierte. Noch ein halbes Jahr zuvor hatte Jaroslavskij besorgt in sein Tagebuch notiert, dass er eine solche Analogie für historisch falsch und politisch schädlich halte.169 Vermutlich befürchtete Stalin, dass eine positive Beurteilung der Narodnaja volja in einer offiziellen Parteigeschichte unzufriedene Parteimitglieder ermuntern könnte, sich an der Theorie individueller Terrorakte ein Beispiel zu nehmen und auf Mitglieder der stalinschen Parteiführung anzuwenden. Die Botschaft, die es in einem neu zu konzipierenden Lehrbuch zu übermitteln galt, lautete, dass nicht nur die vermeintliche Demontage des narodnicestvo die bolschewistische Partei als einzige Vertreterin der Arbeiterklasse qualifizierte, sondern dass die von Stalin geführte Partei diesen Kampf gegen Terroristen und Oppositionelle fortsetzte und gerade dadurch ihre exklusive Fähigkeit bestätigte, die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Desweiteren habe Stalin, so Jaroslavskij in seinem Brief an Steckij, die positive Rolle der Gruppe Ozvobozdenie truda und insbesondere Plechanovs im Kampf gegen das narodnicestvo hervorgehoben und damit diejenigen Kritiker in ihre Schranken verwiesen, die Historiker wegen deren positiver Einschätzung der Gruppe Ozvobozdenie truda angriffen.170 Es wird an anderer Stelle darauf einzugehen sein, warum Jaroslavskij, der zu den vehementesten Kritikern der „plechanovschen Geschichtskonzeption" sowie zu den hartnäckigsten Verteidigern des revolutionären narodnicestvo und von dessen noch lebenden Vertretern gehörte, so begeistert auf Stalins Vorgaben reagierte, die bolschewistische Partei in die Tradition der Ozvobozdenie truda zu stellen.171

169

Aufzeichnung vom 23. bzw. 24.12.1934. Familienarchiv. Schreiben Jaroslavskijs an Steckij vom 28.6.1935. F.89, op.7, d.93,1.1. "i Siehe: Kap. IV.I.e. 170

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Wie wir gesehen haben, wurde die Erarbeitung eines neuen maßgeblichen Lehrbuchs über Parteigeschichte schon im Frühjahr 1935 von den ZK-Sekretären entschieden. Offensichtlich sah die Parteiführung aber die Notwendigkeit, ihre Entscheidung durch eine inszenierte Forderung von unten „demokratisch" zu verankern.172 Zu diesem Zweck hatten im Oktober 1935 die ZKAbteilung für Agitation und Propaganda und das Wissenschaftliche Komitee des Zentralen Exekutivkomitees (ZEK) eine Beratung (sovescanie) für Lehrkräfte des Instituts der Roten Professur organisiert, auf der ein neues Lehrbuch über Parteigeschichte gefordert wurde. Diese „Forderung" wurde daraufhin vom ZK befürwortet und in der Folge eine Kommission gebildet, die sich aus Jaroslavskij, Petr N. Pospelov und Vil'gePm G. Knorin zusammensetzte und unter der Leitung Zdanovs das Lehrbuch vorbereiten sollte.173 Zwischen 1935 und 1937 legte die von Jaroslavskij, Pospelov und Knorin geleitete Gruppe von Historikern mehrere Varianten eines Lehrbuchs über Parteigeschichte vor, von denen jedoch keines für geeignet gehalten wurde.174 Nach den Schauprozessen der Jahre 1935/36 war schließlich das FebruarMärz-Plenum 1937, auf dem Bucharin und Rykov als Volksfeinde bezichtigt wurden, der Auslöser dafür, dass das Projekt eines neuen Lehrbuchs aus der Perspektive Stalins und seiner Entourage unumgänglich wurde. Es bestand die Notwendigkeit, den Parteimitgliedern zu erklären, wie ehemals hochgeschätzte Parteiführer zu vermeintlichen Verrätern und Mördern werden konnten. Am 7. April 1937 unterbreitete Stalin der für die Erstellung des Lehrbuchs verantwortlichen Gruppe in dem Schreiben Ob ucebnike istorii VKP(b) (Über da Lehrbuch zur Geschichte der VKP(b)) seine Vorstellungen von einer verbindlichen Parteigeschichte. Stalin forderte diese auf, jedem Kapitel des Lehrbuchs eine allgemeine Einführung zur wirtschaftlichen und politischen Lage voranzustellen, um auf diesem Wege die Geschichte der Partei mit der allgemeinen Geschichte zu verbinden. Desweiteren solle die Geschichte der bolschewistischen Partei als Kampf gegen antibolschewistische Strömungen und Fraktionen und somit für die unbeirrbare Stärkung der bolschewistischen Reihen auf dem Weg zum Kommunismus dargestellt werden. Das Schreiben Stalins beinhaltete zudem ein Gliederungsschema für die zu verfassende Parteigeschichte, das die Geschichte der bolschewistischen Partei in zwölf 172 Jaroslavskij hatte schon am 14.1.1932 während seines öffentlichen Fehlereingeständnisses auf der Parteikonferenz des Rajons Zamoskvorec'e gefordert, dass die Lehrkräfte an den Bildungseinrichtungen in die Konzeptionierung eines neuen maßgeblichen Lehrbuchs zur Parteigeschichte miteinbezogen werden sollten. F.89, op.7, d.69, 1.17. Zum Inszenierungs- und Mobilisierungscharakter sowjetischer Öffentlichkeit siehe die Beiträge von Monica Rüthers, Katja Kucher und Lorrenz Erren in: Rittersporn, Gábor/Rolf, Malte/Behrends, Jan C. (Hrsg.): Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs, Frankfurt a.M. 2003; sowie die Beiträge zum Problemfeld sowjetischer Öffentlichkeit in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 50 (2002). 173 Alatorceva, AJAlekseeva, G.D. (Hrsg.): 50 let sovetskoj istoriceskoj nauki. Chronika naucnoj zizni, 1917-1967, Moskau 1971, S. 198;Maslov: Kratkij kurs (1996), S. 245-246. Maslov: Kratkij kurs (1996), S. 245-246.

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Perioden aufteilte. Dieses Gliederungsschema wurde etwas später auf die Anfrage Jaroslavskijs hin durch ein von der ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda ausgearbeitetes Programm konkretisiert.175 Am 16. April 1937 beauftragte schließlich das Politbüro Jaroslavskij, Knorin und Pospelov, ihrer Arbeit das von Stalin erstellte Projekt sowie das von ihm vorgeschlagene Periodisierungsschema zugrunde zu legen und das Lehrbuch innerhalb von vier Monaten fertigzustellen. Knorin, der zentrale Posten in den geschichtswissenschaftlichen Institutionen, im Propagandaapparat der Partei und der Komintern bekleidete - er hatte seit 1932 als Nachfolger Jaroslavskijs die Leitung des Parteihistorischen Instituts am Institut der Roten Professur inne, war 1932-1934 Redaktionsmitglied der Pravda sowie seit 1935 Steckijs Stellvertreter in der ZK-Abteilung für Agitation und Propaganda - , konnte nur noch wenig Einfluss auf die Erstellung des Lehrbuchs nehmen. Er wurde im Juni 1937 auf dem ZK-Plenum der Spionage beschuldigt und als „Rechtsabweichler" aus dem ZK ausgeschlossen, im September verhaftet und zu Beginn des Jahres 1938 erschossen.176 Parallel zu den Arbeiten am Kratkij kurs versuchte Jaroslavskij, sich von Stalin die Publikation einer gekürzten und überarbeiteten Version seiner zweibändigen Parteigeschichte sanktionieren zu lassen.177 In der Politbürositzung vom 16. April, in der die dreiköpfige Kommission beauftragt worden war, ein neues Lehrbuch zu erstellen, waren Jaroslavskij und Knorin ebenfalls aufgefordert worden, ihre Lehrwerke zu überarbeiten und für einfache Leser zugänglich zu machen.178 Das Manuskript wurde Stalin am 1. Juli 1937

175 Ob izucenii istorii. Sbornik statej, Moskau 1938, S. 28-29; Stalin, I.V.: Ob ucebnike istorii VKP(b). Pis'mo sostaviteljam ucebnika istorii VKP(b), in: Κ izucenii istorii, Moskau 1937, S. 28-31; Maslov: Kratkij kurs (1996), S. 246-247, macht darauf aufmerksam, dass die stalinschen Instruktionen zur Erstellung einer verbindlichen Parteigeschichte nahezu identisch sind mit Kaganovics Darstellung der Parteigeschichte in seiner Rede auf dem zehnjährigen Jubiläum des Instituts der Roten Professur am 1.12.1931. Kaganovic: Za bol'sevistskoe izuòenii istorii partii. Das Programm zur Erstellung der Parteigeschichte wurde am 1.5.1937 in der maßgeblichen theoretischen Zeitschrift Bol'sevik (no. 11) veröffentlicht. Schreiben Jaroslavskijs an Stalin vom 29.8.1937. F.89, op.12, d.2,1.234. 176 Izvestija CK KPSS, 1989, H. 12, S. 90. Auf Jaroslavskijs Verhältnis zu Knorin konnte lediglich ein Hinweis gefunden werden. In sein Tagebuch hatte er am 16. Februar 1935 notiert, dass er Knorin nicht für befähigt halte, das Parteihistorische Institut der Roten Professur zu leiten. Zu dieser Auffassung ist Jaroslavskij möglicherweise auch deshalb gelangt, weil er selbst wegen seiner vermeintlichen Fehler an der „historischen Front" am 16. Dezember 1931 durch einen Beschluss des Politbüros von diesem wichtigen Posten enthoben worden war. Aufzeichnung vom 16.2.1935. Familienarchiv; Protokoll No. 80, Sitzung des PB vom 16.12.1931. F.17, op.3, d.865,1.4. Jaroslavskij war allerdings während des Juni-Plenums 1937 als Gefolgsmann Stalins aufgetreten. Hedeler, Wladislaw: Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung, Berlin 2003, S. 257. 177 Begleitschreiben Jaroslavskijs an Stalin zum Manuskript des Lehrbuchs vom 1.7.1937. F.558, op. 11, d. 1203,1.1. 178 Zelenov. I.V. Stalin ν rabote nad „Kratkim kursom istorii VKP(b)", in: Voprosy istorii, 2002, H. 11, S. 4.

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V. Stalinkult und Identität

vorgelegt und zählt 805 Seiten.179 Nach dem ersten Korrekturdurchgang, den Steckij oder Mitarbeiter seiner Abteilung vorgenommen hatten, wurde Jaroslavskij aufgefordert, den Text zu kürzen und die Geschichte der nichtmarxistischen revolutionären Gruppierungen gänzlich zu streichen.180 Hier hatte Jaroslavskij hartnäckig versucht, sich über die schon erwähnten, im März 1935 von Steckij bzw. Stalin ausgegebenen Richtlinien hinwegzusetzen, in denen festgelegt worden war, die Darstellung der Parteigeschichte lediglich in den 1880er Jahren, d.h. mit der Auseinandersetzung der Gruppe Ozvobozdenie truda mit den Narodniki beginnen zu lassen. Zudem hatte Steckij in seinen Anmerkungen den politisch brisanten Vorwurf gegen Jaroslavskij erhoben, er habe versäumt darzustellen, dass Stalin schon zu Lebzeiten Lenins die marxistisch-leninistische Theorie mit diesem weiterentwickelt habe und nicht, wie Jaroslavskij es dargestellt habe, erst nach dem Tode Lenins. Diese Korrekturen Steckijs sind mehreren Mitgliedern des ZK zugeschickt worden. In einem Brief an Stalin vom 29. August 1937 wies Jaroslavskij selbstbewusst und in polemischem Ton Steckijs Vorwurf zurück, er habe Stalins Leistungen zu Lenins Lebzeiten nicht gewürdigt, im Gegenteil sei das gesamte Buch von diesem Gedanken durchdrungen, und bestand hartnäckig auf der Darstellung der Geschichte der nicht-marxistischen oppositionellen Gruppierungen bis hin zu den Anführern der Bauernrevolten im 17. und 18. Jahrhundert Bolotnikov, Razin und Pugacev. Darüber hinaus bat er Stalin, die ZKMitglieder, die die erwähnten Korrekturvorschläge Steckijs erhalten hätten, mit seinen Einwänden dagegen vertraut zu machen.181 Jaroslavskij konnte sich trotz seiner Hartnäckigkeit mit diesen Forderungen nicht durchsetzen und musste das Lehrbuch umarbeiten. Das überarbeitete und auf 295 Seiten gekürzte Manuskript mit dem Titel „Em. Jaroslavskij: Istorija VKP(b)" ist am 1. März 1938 bei Stalin eingegangen.182 Möglicherweise hat Jaroslavskij das Projekt aber im Frühjahr 1938 aufgegeben, als die Arbeit am Manuskript des Kratkij kurs schwierig wurde.183 Obwohl lediglich vier Monate für die Erstellung des Lehrbuchs vorgesehen waren, legten Jaroslavskij und Pospelov eine erste Variante erst nach über einem Jahr, nämlich Anfang März 1938, vor. Diese erste Textversion führte im Titel Jaroslavskij und Pospelov als verantwortliche Redakteure auf. In einer Rede an der Höheren Parteischule des ZK ( Vyssaja partijnaja skola pri CK VKP(b)) im Dezember 1939 über Stalins Arbeit am Kratkij kurs i " F.558, o p . l l , d.1203-1207. '«ο F.89, op.8, d.807,1.2-3. 181 Schreiben Jaroslavskij s an Stalin vom 29.8.1937. F.89, op.12, d.2,1.234-238. Die Korrekturen Steckijs O neobchodimych ispravlenijach ν ucebnike Istorii VKP(b) t. Jaroslavskogo liegen der Autorin nicht vor. Die Kritikpunkte Steckijs sind aus Jaroslavskijs Brief an Stalin ermittelt worden, ι« F.558, o p . l l , d. 1208. 183 Diesen Hinweis verdanke ich David Brandenberger.

5. Der „Kurze Lehrgang"

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berichtete Jaroslavskij, dass dieser Text vom ZK nicht akzeptiert worden sei und dass man daraufhin beschlossen habe, eine Historikergruppe mit der Überarbeitung des Lehrbuchs zu beauftragen.184 Der Grund für die Ablehnung war vermutlich die Übersättigung mit Fakten, die, so der russische Historiker Zelenov, Pospelov vorgenommen hatte, um heikle theoretische Fragen zu umgehen, und die ausfuhrlichen vorrevolutionären Biographien Stalins und anderer Parteiführer, die auf Jaroslavskij s Initiative in das Lehrbuch aufgenommen worden waren.185 Offenbar hatte diese weitere Verzögerung aber keine negativen Folgen für Jaroslavskij, denn nach Beendigung der Arbeit der Historikerbrigade übernahmen er und Pospelov die Redaktion des Lehrbuchs. Die so erstellte Textvariante weist keine Angabe mehr über die Redakteure auf und wurde in wesentlichem Maße von Stalin bearbeitet. Diese bearbeitete Version lagert im RGASPI in Stalins persönlichem Bestand. An ihr lässt sich das Ausmaß seiner Korrekturen ablesen.186 Stalin hat die von Jaroslavskij eingefugten vorrevolutionären Biographien der Parteiführer sowie die Huldigungen seiner Person gestrichen und ganze Seiten und Absätze neu geschrieben. Den Paragraphen 2 des vierten Kapitels, die Ausführungen über den dialektischen und historischen Materialismus sowie die Abschnitte über die Prager Parteikonferenz (Kap.4; § 5) sind gänzlich von Stalin selbst verfasst worden187; im Kapitel über die Kollektivierung der Landwirtschaft nahm er umfangreiche Streichungen und Ergänzungen vor.188 Die von Stalin redigierten Textteile wurden im August 1938 an die Mitglieder des Politbüros, an einige andere für bestimmte Aspekte der Parteigeschichte als kompetent eingestufte Parteiführer sowie an Jaroslavskij und Pospelov verschickt und von diesen kommentiert oder ergänzt.189 Im Zuge der Vorveröffentlichung des Kratkij kurs in der Pravda kamen Stalin, Molotov, Zdanov, Jaroslavskij und Pospelov schließlich beginnend mit dem 8. September allabendlich für mehrere Stunden in Stalins Arbeitszimmer zusammen, um über die veröffentlichten Textteile zu diskutieren und letzte Veränderungen vorzunehmen.190 Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war nicht zufällig: Die intensive Arbeitsphase an dem neuen Lehrbuch hatte im Frühjahr 1938 zeitgleich mit dem letzten großen Moskauer Schauprozess begonnen, in dessen Verlauf 184

Vortrag des Akademikers Em. Jaroslavskij an der Vyssaja partijnaja skola pri CK VKP(b) am 21.12.1939. F.89, op.8, d.807,1.1-7. Unter anderen waren M.S. Volin, I.I. Mine und B.N. Ponomarov an der Bearbeitung des Kratkij kurs beteiligt. Maslov: Kratkij kurs (1996), S. 256. 185 Zelenov: I.V. Stalin ν rabote nad „Kratkim kursom istorii VKP(b)", in: Voprosy istorii, 2002, H. 11, S. 5, 7. 186 Siehe insbesondere: F.558, op.ll, d.1209-1211. 187 F.89, op.8, d.800,1.4-8. 188 Zu Stalins Arbeit am Kratkij kurs siehe: Zelenov. I.V. Stalin ν rabote nad „Kratkim kursom istorii VKP(b)"; Maslov. Kratkij kurs (1996), S. 249-255. 189 Diese Kommentare und Ergänzungsvorschläge sind abgedruckt in: Zelenov. I.V. Stalin ν rabote nad „Kratkim kursom istorii VKP(b)", in: Voprosy istorii, 2003, H. 3, S. 3-23. 190 Zelenov. I.V. Stalin ν rabote nad „Kratkim kursom istorii VKP(b)", in: Voprosy istorii, 2002, H. 11, S. 6-7.

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V. Stalinkult und Identität

Bucharin, Rykov und Jagoda zum Tode verurteilt wurden. Das Schicksal Knorins zeigt, wie bedrohlich und ambivalent die Arbeiten am Kratkij kurs für die Beteiligten waren: Einerseits ging es darum, den Terror gegen ehemalige Parteiführer zu legitimieren; andererseits konnte jeder selbst zum Opfer werden.191 Die Publikation konnte jedoch erst erfolgen, nachdem Stalin und seine engsten Vertrauten die Entscheidung getroffen hatten, den Terror gegen die Parteielite einzustellen."2 Der Kratkij kurs erfüllte somit die Funktion, ihren endgültigen Sieg über die Opposition zu markieren. Das langjährige Lavieren und Herauszögern der Publikation lag darin begründet, dass der passende Zeitpunkt noch nicht gekommen war. Betrachtet man die oben beschriebene Entstehungsgeschichte des Kratkij kurs, so erscheint Jaroslavskijs auktorialer Anteil an diesem Text trotz der auffälligen Ähnlichkeiten zu seinen vorher entstandenen Parteigeschichten wesentlich geringer als Enteen vermutet. Wenn man den Versuch unternimmt, diesen Anteil genauer zu fassen, so stößt man, selbst wenn der Autor lediglich als schreibendes Individuum konzipiert wird und dessen Intentionen außer acht gelassen werden, auf nahezu unlösbare methodische Probleme. Es besteht zwar die Möglichkeit, die unterschiedlichen Varianten des Texts bis zum Endprodukt genau miteinander zu vergleichen - die Anteile Stalins am Kratkij kurs können auf diese Weise auch relativ genau nachgewiesen werden. Doch verunmöglicht der mindestens vier Jahre andauernde, aber eigentlich schon mit der Institutionalisierung der Parteigeschichte an den höheren Lehreinrichtungen im Jahr 1924 einsetzende Prozess des Schreibens, der Zensur, der - sich häufig widersprechenden oder ungenauen - Instruktionen und Korrekturen sowie des Umarbeitens durch unterschiedliche Historiker und Historikerbrigaden das Ansinnen, einzelne Textteile dem schreibenden Individuum Jaroslavskij zuordnen zu wollen. Die Frage nach dem auktorialen Anteil Jaroslavskijs am Text des Kratkij kurs führt uns folglich in eine Sackgasse. Ihre heuristische Unergiebigkeit liegt offensichtlich darin begründet, dass unsere und Enteens Konzeption des Autors als ein sich äußerndes Individuum der Funktion des Autors in der Sowjetunion des 1930er Jahre nicht mehr entspricht. Um dennoch Jaroslavskijs Anteil an der Produktion der Parteigeschichte und seinem Selbstverständnis auf die Spur zu kommen, erscheint es sinnvoll, am Beispiel der Entstehungsgeschichte des Kratkij kurs statt nach dem Autor selbst nach der Funktion des Autors in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zu fragen. Jaroslavskij, der für den Inhalt des Texts, an dem mehrere Historiker mitschrieben, verantwortlich zeichnete, hatte die unausgesprochene Aufgabe zu erfüllen, die Erwartungen und die sich häufig widersprechenden Instruktionen derer zu deuten und in Sprache zu überführen, die sich ihrerseits in den Auseinandersetzungen um Macht und Bedeutungen das Recht zu 191 192

Zum Schicksal vieler Historiker zwischen 1936 und 1938 siehe: Artizov: Sud'by istorikov. Siehe hierzu: Getty/Naumov: Road to Terror, S. 527-552.

5. Der „Kurze Lehrgang"

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sprechen angeeignet hatten, und die Texte dahingehend zu kontrollieren. Dass die Erwartungen und die häufig widersprüchlichen Signale und Instruktionen der Parteiführung nicht so leicht zu deuten waren, zeigt sich daran, dass die Historikergruppe um Jaroslavskij allein zwischen 1935 und 1937 schon mehrere Lehrbuchvarianten vorgelegt hatte, aber keine davon akzeptiert worden war. Selbst Stalins Instruktionen in seinem Brief an die Kommission Ob ucebnike VKP(b), in dem er seine Vorstellungen zur Parteigeschichte dargelegt hatte, waren Jaroslavskij offenbar so unklar oder so verunsichernd, dass er Steckij um eine Präzisierung bitten musste. Es ist anzunehmen, dass sich auch bei Stalin und seiner unmittelbaren Umgebung die Vorstellung darüber, wie eine ideale Parteigeschichte auszusehen habe, erst durch die Maßgabe der aktuellen politischen Erfordernisse und im Laufe der Lektüre der unterschiedlichen Varianten herausbildete, aus denen dann die effektivste ausgewählt wurde. Jaroslavskij konnte seine Funktion in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nicht deshalb erfüllen, weil ihn die Parteiführung für einen besonders originellen Historiker hielt, oder weil man an seinen individuellen Äußerungen interessiert gewesen wäre, sondern weil man ihn für befähigt hielt, die schon vorhandenen, akzeptierten Muster der Parteigeschichte mit den jeweils aktuellen Erwartungen der Parteiführung zu verknüpfen und diese Muster durch Bündelung, Gruppierung oder Erweiterung zu überbieten bzw. zu effektivieren. So sind die zentralen Axiome, die den Kratkij kurs kennzeichnen, keinesfalls neu. Die in Jaroslavskij s historiographischen Texten sowie im Kratkij kurs dargestellte eschatologische Weltsicht war fest im marxistischen Geschichtsdiskurs verankert.193 Ebenso war die dort präsentierte Erzählung der Oktoberrevolution schon in den 1920er Jahren eine Konvention im bolschewistischen Lager, welches in den Auseinandersetzungen mit dem menschewistischen Zweig der russischen Sozialdemokratie über die Bedeutung des Oktoberaufstands den Sieg errungen hatte.194 Die „richtige" Theorie des Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen Revolution in eine proletarisch-sozialistische war schon im Dezember 1931 von Kaganovic angemahnt und in Jaroslavskij s Fehlereingeständnis formuliert worden.195 Ein wichtiger Prätext des Kratkij kurs war neben Kaganovics im Dezember 1931 gehaltenen Rede anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Instituts der Roten Professur, die unter dem Titel „Für eine bolschewistische Erforschung der 193

Halfln: Class, Consciousness, and Salvation, S. 1-85. Die bolschewistische Interpretation der Oktoberrevolution war von zentraler Bedeutung für die Legitimität des bolschewistischen Herrschaftsanspruchs. Zu den Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen revolutionären Gruppen und Fraktionen über die Bedeutung der Oktoberrevolution siehe: Corney, Frederick C.: Narratives of October and the Issue of Legitimacy, in: Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, hrsg. v. David L. Hoffmann, Yanni Kotsonis, Basingstoke, London 2000, S. 185-203; ders.: Writing October: History, Memory, Identity and the Construction of the Bolshevik Revolution, 1917-1927, Ph.D. diss., Columbia University 1997. 195 Siehe: Kap. IV.7. 194

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Parteigeschichte" sowohl in einigen Zeitschriften als auch als einzelne Broschüre veröffentlicht worden war196, Karl Radeks Artikel „Baumeister des Sozialismus", der im Dezember 1934 in der Neujahrsausgabe der Pravda und als Broschüre erschienen war.197 Kaganovic hatte die Parteigeschichte als die eines Kampfs der bolschewistischen Partei gegen kleinbürgerliche Parteien und innerparteiliche Fraktionen konstruiert.198 Zu dieser Sichtweise hatte jedoch auch Jaroslavskij in seinen gegen Trotzkij und andere Oppositionelle gerichteten, im weitesten Sinne historiographischen Texten beigetragen.199 Radek hatte mit seinem Artikel das Muster vorgelegt, mit dem im Kratkij kurs der Status Lenins und Stalins als „Führer des Proletariats" und damit ihre Deutungshoheit legitimiert wurden.200 Diesen Artikel Radeks hatte Jaroslavskij in seinem Tagebuch begeistert kommentiert.201 Jaroslavskijs im März 1935 an Steckij gerichteter Vorschlag, in den Lehrbüchern über Parteigeschichte Stalins Rolle in der Partei schon zu Lebzeiten Lenins aufzuwerten, die sogenannte Theorie der zwei Führer (teorija dvuch vozdej), kann hingegen als Überbietungsleistung bezeichnet werden, durch die der Diskurs nicht nur neu arrangiert, sondern auch ein Stück vorangetrieben wurde. Die Verknüpfung Stalins mit Lenin war zwar schon seit 1929 ein bekanntes Muster, jedoch wurde Stalin zu diesem Zeitpunkt als treuester Schüler und Nachfolger Lenins inszeniert.202 Jaroslavskij ging noch einen Schritt weiter: Sein Vorschlag implizierte eine schon zu Lenins Lebzeiten existierende Gleichwertigkeit von Lenin und Stalin.203 Mit einem solchen 196

Kaganovic: Za bol'sevistskoe izucenie istorii partii. Radek: Zodcij. 198 In einem zu Beginn des Jahres 1935 erschienenen Artikel bediente sich Jaroslavskij dieser Konstruktion: Jaroslavskij: Sire postavit' izucenie istorii partii (1935), S. 13. i " Siehe: Kap. IV.l.a. 200 „Die politischen Führer kommen an ihren Platz in der Partei und in der Geschichte nicht aufgrund von Wahlen, nicht aufgrund von Ernennungen. (...) Der Führer des Proletariats bildet sich im Ringen um die Kampflinie der Partei, um die Organisierung ihrer kommenden Schlachten heraus." Radek: Zodcij, S. 24-25, zitiert nach Ennker. Politische Herrschaft und Stalinkult, S. 172. 201 Aufzeichnung vom 9.1.1934. Familienarchiv. 202 So z.B. in fast allen Beiträgen in der Pravda vom 12.12.1929, die fast gänzlich Stalins 50. Geburtstag gewidmet war, sowie in der aus diesen Beiträgen entstandenen Festschrift. Heizer. Cult of Stalin, S. 70-71. 203 Daniii Rudnev berichtet aus seinen Gesprächen mit Pospelov, dass letzterer Jaroslavskij für den Urheber der sogenannten teorija dvuch vozdej hielt. Stalin habe diese Theorie lediglich aufgegriffen. Rudnev. Kto pisal „Kratkij kurs", S. 63. Die Theorie der zwei Führer der Oktoberrevolution, Lenin und Stalin, wurde allerdings zumindest implizit auch in anderen 1935 erschienenen Darstellungen des Oktoberaufstandes vertreten, so z.B. in der Istorija grazdanskoj vojnyj ν SSSR, deren Redaktion Jaroslavskij angehörte, und in der Leninbiographie Kerzencevs. In der Istorija grazdanskoj vojny heißt es beispielsweise über die siebte Parteikonferenz der Bolschewiki im April 1917: „In den Vorträgen Lenins und Stalins wurden die Grundfragen der Konferenz erschöpfend dargestellt. Die anderen Reden entwickelten nur die Hauptideen Lenins und Stalins." Istorija grazdanskoj vojny ν SSSR, Bd.l, Moskau 1935, S. 113; Kerzencev, P.: Zizn' Lenina (1870-1924), Moskau 1935. Siehe auch Löhmann\ Stalinmythos, S. 305-307. 197

5. Der „Kurze Lehrgang"

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Vorstoß hoffte er, sich gegen seine Konkurrenten in den Statuskämpfen, die ihrerseits versuchten, die Erwartungen und Instruktionen der engeren Parteiführung zu deuten, durchsetzen zu können. Jaroslavskij war zwar zu Beginn der 1930er Jahre unter einem erheblichen Disziplinierungsdruck dazu veranlasst worden, sich den neuen Bedingungen der stalinistischen Führerdiktatur zu fügen, die er schließlich 1934 weitgehend, aber, wie am Beispiel seiner Meinungsverschiedenheiten mit Berija gezeigt wurde, nicht vollständig akzeptierte. Er musste sich aber nur teilweise notgedrungen in eine solche Praxis fügen; sie entsprach seinem Selbstverständnis als Historiker, der es als seine Aufgabe betrachtete, die Parteiführung zu stärken, und dessen Status und Wohlergehen wesentlich von dieser Parteiführung abhing. Ihm ging es nicht vordringlich darum, eine besonders originelle Interpretation der Parteigeschichte zu liefern, sondern darum, am Puls der Parteiführung zu horchen und näher an diesem Puls zu sein als andere, um sich somit besser positionieren zu können. Nur so erklärt sich beispielsweise Jaroslavskij s triumphales Auftreten, als er Steckij die Stalin in einem Gespräch entlockten Äußerungen über die Rolle der Narodnaja volja in der revolutionären Bewegung mitteilen konnte. Dabei hatte Jaroslavskij, wenn man inhaltlich argumentiert, keinen Grund zu triumphieren. Denn Stalin kritisierte die Überbewertung des narodnicestvo und maßregelte damit insbesondere Jaroslavskij. Es sei daran erinnert, dass Jaroslavskij in den 1920er Jahren, besonders in seiner Auseinandersetzung mit Ter Vaganjan, eine ganz andere Position vertreten hatte als die, die Stalin nun für legitim erklärte. Jaroslavskij hatte gerade die positive Rolle des revolutionären narodnicestvo betont und die sogenannte plechanovsche Konzeption der Geschichte als menschewistische Abweichung bezeichnet.204 Für Jaroslavskij war es aber gegenüber Steckij offensichtlich wichtiger, seine Nähe zu Stalin zu demonstrieren, der ihm schließlich eine Audienz gewährt, seinen Entwurf für ein Lehrbuch kritisiert und ihn persönlich belehrt hatte. In jedem Fall konnte er sich dadurch, dass Stalin ihm persönlich Ratschläge erteilt hatte, aufgewertet fühlen. Jaroslavskijs Bedeutung bzw. sein Einfluss im Prozess der Ideologieproduktion in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre liegt vielleicht eher in seiner Hartnäckigkeit begründet, mit der er immer wieder versuchte, neue Vorschläge zur Parteigeschichte zu machen und seine Beteiligung an diesen Projekten einzufordern, als an den besonderen Qualitäten seines „mytho-poetischen Geschichtsdenkens"205. Durch diesen Eifer wirkte er sowohl auf die Produktion der Texte als auch auf deren inhaltliche Effektivierung im Sinne Stalins und seiner Gefolgschaft als dynamisierender Faktor. Dass der Kratkij kurs und andere Parteigeschichten der 1930er Jahre „Meisterwerke der Geschichtsfälschung" sind, ist sowohl das Ergebnis rationaler didaktischer Erwägungen, 204 205

Siehe: Kap. IV.I.e. Enteen: Writing Party History, S. 322.

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V. Stalinkult und Identität

mit denen das Ziel verfolgt wurde, bestimmte Prinzipien im Bewusstsein der Parteimitglieder zu etablieren, als auch das Ergebnis spezifischer politischer und sozialer Praktiken, des Versuchs der Historiker, sich in der Deutung der häufig unklaren Signale und Instruktionen von oben sowie auch bestimmter historischer Ereignisse gegenseitig zu überbieten und dadurch das Interesse der Parteiführung zu erregen. Wissenschaftliche Beweisführung war im Kontext der ausschließlich um Stalin und seine unmittelbare Umgebung kreisenden Statuskämpfe kein relevantes Kriterium, da nur diese Gruppe imstande war festzulegen, welche Aussagen als legitim und welche als illegitim zu gelten hatten. Anhand der Entstehungsgeschichte des Kratkij kurs wird aber zudem deutlich, dass auch die engere Parteiführung keine präzisen Vorstellungen von einer maßgeblichen Parteigeschichte hatte, sondern dass sich diese Vorstellungen erst in dem oben beschriebenen Prozess herausbildeten. Die Ideologie des Stalinismus erscheint insgesamt sowohl als „work in progress", als Ergebnis der angestrengten Arbeit einer ganzen „Mythenfabrik", um den Ausdruck Fabio Bettanins zu verwenden206, als auch als Ergebnis der sehr konkreten herrschaftslegitimatorischen Absichten Stalins und seiner unmittelbaren Gefolgschaft. 207 Es ging gerade darum, die herrschaftslegitimierende Funktion des Lehrbuchs durch den Wettbewerb der Ideologieproduzenten zu effekti vieren. Trotz der Funktion, die Jaroslavskij erfüllte und auch erfüllen wollte, versuchte er aber auch immer wieder eigensinnig, seinen Spielraum zu nutzen, sein Recht als „Autor" einzufordern und seine Interpretation der Parteigeschichte durchzusetzen und damit kanonisieren zu lassen. Er wehrte sich insbesondere gegen die für die Parteigeschichtsschreibung der 1930er Jahre typische Aufwertung des Bürgerkriegs zuungunsten der russischen revolutionären Bewegung vor 1917. Diese Eigensinnigkeiten Jaroslavskij s lassen sich nicht an den Texten selbst, sondern in der ihre Produktion begleitenden Korrespondenz bzw. in Jaroslavskij s persönlichen Notizen ablesen. Es konnte gezeigt werden, dass er immer wieder hartnäckig versuchte, die nichtmarxistischen oppositionellen Gruppierungen und sogar die Anführer von Bauernrevolten im 17. und 18. Jahrhundert Razin, Bolotnikov und Pugacev in die Par206

Bettanin: Fabbrica del mito. Eine solche Auffassung vertreten u.a. Tucker. Stalin in Power; Malia·. Vollstrecker Wahn, Kap. 7. Wir kommen hier zu einem ähnlichen Ergebnis wie David Brandenberger, der die Entstehungsgeschichte eines weiteren maßgeblichen Lehrbuchs, A.V. Sestakovs Kratkij kurs istorii SSSR, untersucht hat, möchten aber einen anderen Schwerpunkt legen, der sich aber möglicherweise aus der auf eine Person fokussierten Forschungsperspektive ergibt. Brandenberger beschreibt die Verunsicherung und Angst der Historiker ob der widersprüchlichen Instruktionen seitens der Parteiführung, beachtet aber nicht in ausreichendem Maße die Konkurrenzkämpfe der Historiker untereinander, die in unserer Analyse eine wesentliche Bedeutung haben. Brandenberger, David: National Bolshevism. Stalinist Mass Culture and the Formation of Modern Russian National Identity, 1931-1956, Cambridge, London 2002, S. 46-50, 251-260. 207

5. Der „Kurze Lehrgang"

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teigeschichte aufzunehmen208 sowie die revolutionäre Bewegung insgesamt bis zum Dekabristenaufstand zurückzudatieren. Mit diesem Anliegen hatte er sich mehrfach über Stalins und Steckijs Instruktionen hinweggesetzt, musste sich aber schließlich geschlagen geben. So findet im Kratkij kurs nur die Auseinandersetzung Plechanovs und der Gruppe Ozvobozdenie truda mit der Narodnaja volja Erwähnung, die von Stalin in dem schon aufgeführten Gespräch mit Jaroslavskij angemahnt worden war. Jaroslavskij hatte ein biographisch motiviertes Interesse, diese Gruppierungen und somit seine eigene Vergangenheit in die Parteigenealogie hineinzuschreiben.209 Auf diese Weise versuchte er auch, das revolutionäre narodnicestvo gewissermaßen durch die Hintertür wieder in die Parteigeschichte zurückzuholen: Die im Kratkij kurs festgeschriebene und von Stalin vorgegebene negative Bewertung der Narodovol'cy, die durch die Anwendung individuellen Terrors die Entwicklung der Arbeiterbewegung verzögert hätten, wurde von Jaroslavskij in seinen öffentlichen Auftritten nicht nur relativiert, sondern buchstäblich ins Gegenteil verkehrt. So teilte er 1939 seinen Zuhörern auf der „II. Allunionskonferenz der Leiter der Fakultäten für Marxismus-Leninismus" in einem Vortrag über die Verwendung des Kratkij kurs im Unterricht mit, dass erklärt werden müsse, warum die Narodovol 'cy Feinde des Marxismus seien. Der wichtigste Grund dafür sei die rückständige gesellschaftliche Entwicklung und die Schwäche des Proletariats gewesen. Es müsse aber betont werden, dass die fortschrittlichsten Arbeiter gerade aus den Zirkeln der Narodovol 'cy hervorgegangen seien.210 Das Thema der russischen revolutionären Bewegung war für Jaroslavskij so wichtig, dass er parallel zu seiner Arbeit am Kratkij kurs eine größere Monographie darüber plante, für die er mehrere Jahre Arbeit veranschlagte, die er aber nicht realisieren konnte.211 Dieser Teil seiner Interpretation der Parteigeschichte und damit auch ein Teil seiner Identitätskonstruktion wurden aus dem offiziellen Diskurs verbannt. Zudem gelang es ihm letztlich nicht, seine vor allem gegen Berija verteidigte Interpretation der Prager Parteikonferenz trotz seines Teilerfolgs über 208

Es ist unwahrscheinlich, dass Jaroslavskij entgangen war, dass A. Zdanov im Juli 1937 eine Instruktion ausgegeben hatte, die sich gegen eine positive Bewertung der Anführer von Bauernaufständen richtete. Diese Instruktion hatte Zdanov mit dem etwas befremdlichen Argument begründet, dass die Bauernrevolutionäre nicht über ein ausreichendes Bewusstsein verfügt hätten, um eine revolutionäre Tätigkeit im marxistischen Sinne zu entfalten. A.V. Sestakov hatte sich in seinem Lehrbuch Kratkij kurs istorii SSSR an Zdanovs Instruktionen gehalten. Siehe hierzu: Brandenberger·. National Bolshevism, S. 53-54, 283. Die Instruktion Zdanovs ging auf die Initiative Stalins zurück (Diese Information verdanke ich David Brandenberger). Jaroslavskij hingegen versuchte mit dem expliziten Verweis auf Sestakovs Lehrbuch, in dem die Bauernaufstände nicht abgehandelt würden, die Aufnahme Bolotnikovs und Razins in den Kratkij kurs der Parteigeschichte zu erwirken. Schreiben Jaroslavskij s an Stalin vom 29.8.1937. F.89, op.12, d.2,1.263. 2