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German Pages VII, 342 [338] Year 2020
Sven Thiersch Mirja Silkenbeumer Julia Labede Hrsg.
Individualisierte Übergänge Aufstiege, Abstiege und Umstiege im Bildungssystem
Individualisierte Übergänge
Sven Thiersch · Mirja Silkenbeumer · Julia Labede (Hrsg.)
Individualisierte Übergänge Aufstiege, Abstiege und Umstiege im Bildungssystem
Hrsg. Sven Thiersch Ruhr-Universität Bochum Bochum, Deutschland
Mirja Silkenbeumer Goethe-Universität Frankfurt Frankfurt/M., Deutschland
Julia Labede Leibniz Universität Hannover Hannover, Deutschland
ISBN 978-3-658-23166-8 ISBN 978-3-658-23167-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-23167-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung\Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
Individualisierte Übergänge im Kontext von Aufstiegen, Abstiegen und Umstiegen im Bildungssystem. Eine Einleitung. . . . . . . . . 1 Sven Thiersch, Mirja Silkenbeumer und Julia Labede Rahmungen und Diskurse: Strukturelle Fragen Individuelle Bildungswege durch Auf-, Abstieg, Um- und Ausstiege im Schulsystem. Eine strukturelle und empirische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Gabriele Bellenberg Mehr Chancengleichheit durch mehr Durchlässigkeit?. . . . . . . . . . . . . . . 35 Oliver Winkler Meritokratie, Gate-Keeper und Bildungsentscheidungen: Reproduktion von Ungleichheit durch die Herstellung von Übergängen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Andreas Walther orschungsbefunde: Entstehungskontexte individualisierter F Übergänge Übergänge als Abstiege: Orientierungen von Schüler*innen und ihre Positionierung zur Abstufung in der Spanne von Transformation und Reproduktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Mareke Niemann
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Der ‚lange Arm‘ eines kollektiven Verlaufskurvenprozesses von Stigmatisierung im Kontext schulischer Aufstiegskarrieren. . . . . . . . 109 Edina Schneider Bildungsbiografien im Spannungsfeld von Ideal- und Realselbst. Zur familialen Vermittlung von Wehrhaftigkeit. . . . . . . . . . . . 129 Julia Labede Patient werden und Schüler bleiben. Fallstudie zur bildungsbiografischen Bearbeitung von Übergängen im Schnittfeld von Familie, Jugendpsychiatrie und (Klinik-)Schule. . . . . . . . 151 Mirja Silkenbeumer, Julia Becher und Janina Schulmeister Selbstpositionierungen im Bildungsaufstieg – Bildungsselbst, Familiale Dynamiken und adoleszente Transformationsprozesse. . . . . . . 185 Julia Labede, Mirja Silkenbeumer, Sven Thiersch und Andreas Wernet Risikobiografien und negative Individualisierung. Die Bedeutung von institutioneller Diskriminierung und Diskriminierungserfahrungen für Bildungsprozesse bei jungen Flüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Albert Scherr und Helen Breit Lebensgeschichtlich tragende Passungsverhältnisse in der Bildungs- und Erwerbsbiografie von Bildungsaufsteiger*innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Regina Soremski Die Zone of Possibility für Übergänge im Bildungssystem. Möglichkeitsräume durch die Institutionalisierung des Lebenslangen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Johannes Wahl Herausforderungen: Pädagogisches Handeln (Individuelle) Übergänge im Schulsystem begleiten und gestalten – pädagogische Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Grit im Brahm
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Beratung im Übergang in den Systemen von Bildung und Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Marc Weinhardt „…es ist nicht mehr Kindergarten, es ist Schule.“ – Elterliche (Bildungs-) Orientierungen am Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Miriam Lotze Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Individualisierte Übergänge im Kontext von Aufstiegen, Abstiegen und Umstiegen im Bildungssystem. Eine Einleitung Sven Thiersch, Mirja Silkenbeumer und Julia Labede Übergänge sind in den letzten Jahren ein zentrales und disziplinübergreifendes Thema der Erziehungswissenschaft. Über die verschiedenen Subdisziplinen hinweg werden Übergänge als Passagen und Bewegungen diskutiert, an denen sich pädagogisch zu begleitende und zu gestaltende Transformations- und Wandlungsprozesse der sozialen Integration und im individuellen Lebensverlauf vollziehen. Neben der schon länger diskutierten Bedeutung von selektierenden Übergängen für den Statuserwerb und die (Re-)Produktion sozialer Bildungsungleichheit ist die zunehmende Gegenstandsfokussierung und -diskussion Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung, infolge derer in den Institutionen immer mehr Übergangsmöglichkeiten geschaffen und Übergangsstellen integriert werden, wie man es im Bildungssystem in der zunehmenden strukturellen Ausdifferenzierung und Flexibilisierung der Sekundarstufe II und des tertiären und Wir bedanken uns herzlich bei Julia Becher, Janina Schulmeister und Kathrin Weiser für ihre Unterstützung bei der Erstellung und Korrektur des Bandes. Ihre akribische Arbeit war eine sehr große Hilfe zur Fertigstellung des Bandes. S. Thiersch (*) Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Silkenbeumer Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt/M., Deutschland E-Mail: [email protected] J. Labede Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Thiersch et al. (Hrsg.), Individualisierte Übergänge, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23167-5_1
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quartären Bildungsbereichs beobachten kann. Zugleich etablierte sich der Übergangsbegriff in modernisierungstheoretischen Analysen einer Entstandardisierung und Entgrenzung des Lebenslaufs und einer gesteigerten biografischen Flexibilität und Mobilität des Individuums als eine Referenzkategorie für die sozial- und erziehungswissenschaftliche Beobachtung und Reflexion (Scherger 2007; Wahl und Kruse 2014). Die wissenschaftliche Thematisierung von Übergängen wird dabei traditionell eng verbunden mit bildungspraktischen und -politischen Fragen ihrer strukturellen und pädagogischen Ausgestaltung. In diesem Zusammenhang heben etwa von Felden und Schmidt-Lauff (2015, S. 15 f.) für die erwachsenenpädagogische Forschung und Theoriebildung den durch die „spezifische Temporalisierung gesellschaftlicher Lernkulturen und institutioneller und individueller Lernwelten“ entstandenen „Bedarf nach einer relationstheoretischen Gegenstandskonstitution hervor, bei der sich professionelles pädagogisches Handeln nicht mehr als eine externe Vermittlungsinstanz beim Management von vorgegebenen Statuspassagen versteht, sondern nach jenem ‚Denken in Übergängen‘ verlangt, das befähigt, mit der Prozesslogik von Transitionen lernförderlich umzugehen“. Der vorliegende Band stellt nun nicht den Versuch einer weiteren systematischen Bestimmung und eines Überblicks der theoretischen und methodischen Ansätze der Übergangsforschung, der unterschiedlichen Übergänge in und außerhalb des Bildungssystems sowie der pädagogischen Gestaltungsempfehlungen dar, wie sie bereits in zahlreichen Handbüchern und Sammelbändern vorgelegt worden sind (vgl. dazu z. B. Schumacher 2004; Berkemeyer et al. 2012; Bellenberg und Forell 2013; Schröer et al. 2013; Hof et al. 2014; Liegmann et al. 2014). Mit den versammelten Beiträgen begrenzt er sich vielmehr auf zwei Diskurse der erziehungswissenschaftlichen Übergangsforschung: Zum einen wird die Kritik an der empirischen Ausrichtung auf die normierten, linearen und zeitlich fixierten Übergänge im Bildungssystem in der empirischen, insbesondere in der ungleichheitsbezogenen, Bildungsforschung aufgegriffen. Die in diesem Band fokussierte Perspektive auf die Ab-, Auf- und Umstiege im Bildungssystem ist hier lange Zeit mit dem Erkenntnisinteresse an der (Re-)Produktion von sozialer Bildungsungleichheit an den institutionell fest verankerten und für alle vorgesehenen Übergängen (z. B. von der Grundschule an eine weiterführende Schule) vernachlässigt worden. Mit diesem Erkenntnisinteresse wird zum anderen die theoretische Fokussierung auf die Reproduktions- und Passungstheorien der Bildungs- und Lebenslaufsoziologie in der Übergangsforschung der empirischen Bildungsforschung um subjekt- und sozialisationstheoretische Ansätze erweitert. Vor allem im zweiten Teil „Forschungsbefunde“ werden Theorien und methodische Zugänge
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diskutiert, mit denen die Hervorbringung, der Verlauf und die Gestaltung sowie Bearbeitung individualisierter Übergangsformen fallangemessen zu beschreiben und zu verstehen sind. Während in der Sozialpädagogik und Erwachsenbildung der Übergangsbegriff schon länger nicht nur zur Beschreibung eines Rollen- und Statuswechsels in Institutionen verwendet wird und er hier auch „eine fruchtbare Heuristik für individualisierte, reversible und fragmentierte Formen der Vergesellschaftung jenseits linearer Verläufe von Lebenslauf und Biographie“ darstellt (Walther 2015, S. 42), ist die bisherige Beschäftigung mit Übergängen in der empirischen Bildungsforschung und der Schulpädagogik – so eine Kritik von Klaus-Jürgen Tillmann (2013, S. 15) – „zu schulfixiert, zu sorgenvoll und (…) theoretisch wenig ambitioniert“. Übergänge werden in diesem Kontext mit einem zu starken Fokus auf die institutionellen Statuspassagen und die „kollektive Bewältigung standardisierter Anforderungen“ im Bildungssystem erforscht (ebd., S. 25). Die Bedeutung von Übergängen außerhalb des Bildungssystems (z. B. in der Familie) für Bildungskarrieren sind dabei bislang kaum in den Blick geraten (ebd., S. 16 ff.). Die Konzentration auf die objektiven Verlaufsstrukturen in Bildungslaufbahnen findet sich in überwiegend bildungssoziologisch ausgerichteten quantitativen (Längsschnitt-)Studien wieder, die sich theoretisch an der Lebenslaufsoziologie, als eine nach wie vor zentrale Perspektive auf Übergänge im Bildungssystem, orientieren. Der Lebenslauf wird als ein „hoch standardisiertes Dokument“ von „gesellschaftlichen Erwartungs- und Handlungsstrukturen“ aufgefasst (Sackmann 2007, S. 10), der die „Abfolge von Lebensereignissen regelt“ (Tillmann 2013, S. 16). Somit interessiert in dieser Perspektive der Einfluss von Bildungsinstitutionen auf die zeitliche, räumliche und soziale Struktur des individuellen Lebenslaufs. Entlang der Struktur und Organisation des Erziehungs- und Bildungswesens (z. B. Kindergarten, Einschulung, Übergänge in die Sekundarstufe I und II, Übertritt in den Beruf bzw. ins Studium) wird das Wahl- bzw. Entscheidungsverhalten der Nutzerinnen und Nutzer betrachtet. Diese Forschung richtet sich an der selektiven Struktur und der Bewertungslogik des Schulwesens und damit an der Klassifikation und an identifizierbaren Zuschreibungen von erfolgreichen bzw. scheiternden Verläufen aus. Die Bedeutung alltagskultureller und lebensweltlicher Handlungsbefähigungen für die Gestaltung von Übergangs- und Verlaufsstrukturen geraten nicht in den Blick (vgl. Grundmann et al. 2006). Biografietheoretisch fundierte Forschungsansätze − ein zweites Paradigma zur Betrachtung von Übergängen und Bildungsverläufen − zielen dagegen auf eine am Subjekt orientierte rekonstruktive Analyse der Anlässe, Verläufe und Bedingungskonstellationen von Bildungsprozessen. Somit geht es um die Ana-
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lyse der subjektiven Konstruktion und Rekonstruktion der Reflexion über die getroffenen Entscheidungen im Lebenslauf (Kohli 1985, S. 19 ff.; Meulemann 1999, S. 305), wobei die Kategorie Biografie dem Anspruch nach darauf zielt, überindividuelle gesellschaftliche Bedingungen zu rekonstruieren. Im Rückblick erzählen die Akteur*innen zumeist in narrativen Interviews, wie sie Übergänge, Phasen und Stationen ihrer Bildungslaufbahn wahrgenommen, wie sie an diesen Passagen gehandelt haben und welche Bedeutung diese für den weiteren Bildungsverlauf eingenommen haben. In der rekonstruktiven Analyse werden bildungsbezogene Ereignisse und Erfahrungen in den Institutionen des Bildungssystems in einen gesamtbiografischen Kontext eingebettet, wobei gerade das Zusammenspiel der Ebenen Biografie und Institution von Interesse ist. In der Schülerbiografieforschung (vgl. Kramer und Busse 1999; Kramer und Helsper 2000; Helsper 2008, 2015) wird dementsprechend aus unterschiedlichen theoretischen und methodischen Perspektiven das Wechselspiel von den auf Schütze zurückgehenden biografischen Prozessstrukturen und schulischen und familialen Erlebniszusammenhängen (vgl. z. B. Nittel 1992) rekonstruiert oder aus einer strukturalistischen und kulturtheoretischen Perspektive das Passungsverhältnis von Schülerbiografie und Schulkultur untersucht, um somit Biografie- und Institutionen- bzw. Kulturanalyse zu verbinden (Kramer und Busse 1999; Kramer 2002, 2014; Helsper et al. 2009). Insbesondere in den zuletzt genannten Untersuchungen zur Schulkultur und Schülerbiografie ist aufgezeigt worden, dass es sich „bei Bildungseinrichtungen immer um sozialisatorische (Interaktions-) Räume handelt, die mit ihren organisatorischen wie personellen Spezifika sich mit der biografischen Struktur der Akteur*innen amalgamieren“ (Deppe 2020, S. 13), sodass es sich bei Rekonstruktionen bildungsbiografischer Selbstentwürfe und bildungsbezogener Karriereverläufe immer auch um „Rekonstruktionen der Erfahrungen mit und Strukturen dieser Bildungseinrichtungen“ (ebd.) handelt. Allerdings sind die unter dem Dach der Biografieforschung verortbaren Ansätze mit ihrer Orientierung an qualitativ-rekonstruktiven Methoden und insbesondere an dem auto-biografischen Interview und der narrationsstrukturellen Analyse nach Fritz Schütze (1983) bis heute eine retrospektiv ausgerichtete Forschung. Forschungskonzepte zur Analyse der aktuellen Auseinandersetzung mit Laufbahnereignissen und zur Bedeutung dieser Ereignisse für die biografische Ordnungsbildung konnten dagegen erst in der sich in jüngerer Zeit entwickelnden qualitativen biografieorientieren Längsschnittforschung nachgezeichnet werden (z. B. Kramer et al. 2009, 2013; Labede et al. in diesem Band). Die grundlagentheoretische Unterscheidung von Lebenslauf und Biografie findet in der Übergangsforschung in den Forschungsperspektiven und methodischen Ansätzen ihre Entsprechung. Während Untersuchungen
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zu Bildungslaufbahnen auf einer quantitativen und hypothesenüberprüfenden Logik basieren, stützen sich Fallstudien zu Bildungsbiografien auf qualitativ-rekonstruktive Forschungsansätze (vgl. Helsper 2008, S. 927). Neben den Perspektiven der ungleichheitsbezogenen Lebenslauf- und Bildungssoziologie und der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung ist in den letzten Jahren in der neueren und „subjektorientierten“ Übergangsforschung (Stauber et al. 2007; Walther 2015, S. 39 ff.) verstärkt eine Auseinandersetzung mit dem sozialpsychologischen Transitionskonzept (Welzer 1990, 1993) und eine Orientierung an dem sozialpädagogischen Konzept der Lebensbewältigung (Litau et al. 2015) zu beobachten. In der Weiterentwicklung dieser Ansätze wird inzwischen davon ausgegangen, dass Übergänge nicht per se gegeben sind und auf den Lebenslauf wirken, sondern einer gesellschaftlichen und sozialen Konstruktion unterliegen. In Anlehnung an das aus der interaktionistischen Soziologie stammende Konzept des „doing gender“ (West und Fenstermaker 1995) sowie praxistheoretische Perspektivierungen werden Übergänge als „doing transitions“ konzeptualisiert, um die Herstellung und Gestaltung von Übergängen im Lebensverlauf in der Verwobenheit von diskursiven, institutionellen und biografischen Praktiken zu untersuchen (Cuconato und Walther 2015; Walther 2015; Walther und Stauber 2018; Walther in diesem Band). Wurde und wird insbesondere der Übergang von der Grundschule an eine weiterführende Schule problematisiert bzw. erforscht und ist das Wissen zu den „erwartbaren“ Übergängen im Bildungssystem insgesamt recht umfangreich, werden schulische Auf-, Ab- und Umstiege bislang zur Analyse einer fehlenden sozialen Mobilität im Bildungssystem, zumeist zu einer bestehenden Durchlässigkeit „nach unten“, untersucht (vgl. Bellenberg und Forell 2012). Daneben sind in den letzten Jahren Prozesse von Ab-, Auf- und Umstiegen im Bildungssystem in ihrer Bedeutung für die gesamte Bildungsbiografie und die dynamisch zu verstehende Identitätsbildung der betroffenen Personen untersucht worden, wobei gerade auch intergenerative und mehrgenerationale Dynamiken in den Fokus kamen und damit insgesamt ein Desidarat der soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Mobilitätsforschung bearbeitet wurde (vgl. Schmeiser 2003; King et al. 2011; El-Mafaalani 2012). Zu nennen sind weiterhin vereinzelte Forschungsarbeiten, die die Perspektive der ungleichheitsbezogenen Bildungsforschung um die Untersuchung „individueller Schullaufbahnen“ bereichern, indem Einschulungszeitpunkte, Klassenwiederholungen, Auf- und Abstiege sowie Schulformwechsel analysiert werden (vgl. Bellenberg 1999; Bellenberg und Forell 2012). Für die Schule wird in diesen Studien seit längerem belegt, dass Schullaufbahnen von Kindern und Jugendlichen nicht einheitlich und umweglos verlaufen (vgl. schon Kemmler 1976). In diesem Zusammenhang wird
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inzwischen wiederum in Diskursen der Erwachsenbildung (vgl. u. a. Felden und Schmidt-Lauff 2015) und in der Sozialpädagogik darauf hingewiesen, dass es zu einem „Perspektivwechsel von ungleichen Statuspositionen im fordistischen Lebenslaufregime hin zu Risiken der Ausgrenzung aus dem postfordistischen Lebenslaufregime“ und so zu individualisierenden Zuschreibungen und Formen der Bearbeitung gekommen sei (Walther 2015, S. 40). Obwohl Auf-, Ab- und Umstiege im stratifizierten deutschen Bildungssystem nicht selten zu beobachten sind und eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz aufweisen, ist die Forschung zu den Bildungs- und Sozialisationsprozessen in diesen Karrieren und zur Frage, welche Dynamiken und Motive diese Übergänge auslösen, dagegen noch überschaubar. Weil diese Verläufe nicht als eine soziale Reproduktion des Herkunftsmilieus und als ein Durchlaufen einer „Normalschullaufbahn“ gedeutet werden können, sind fallspezifische Bildungs- und Sozialisationsprozesse im und außerhalb des Bildungssystems (z. B. Familie, Peers, Vereine) für diese Übergangsverläufe in den Blick zu nehmen. Während kollektiv vollzogene und erfahrene Übergänge ebenfalls individuell gedeutet und verarbeitet werden, stellen individualisierte Übergänge somit nicht nur Abweichungen von einer institutionell vorgesehenen „Normal(schullauf) bahn“ dar, sie werden vor allem in ihrer Genese, in ihrem Verlauf und in ihrer Bewältigung individualisiert vollzogen. Individualisierte Übergänge sind damit sowohl in ihrer einzigartigen biografischen und sozialisatorischen Einbettung als auch hinsichtlich der Erfahrungen der Akteur*innen und den konkreten Ausgestaltungen zu untersuchen (vgl. Kramer et al. 2009, 2013). Verweisen Normalschullaufbahnen mit Blick auf die institutionelle Ordnung immer auch auf ideale Vorstellungen der Gestaltung von Schullaufbahnen und werden in erster Linie die erreichten Leistungen in erfolgreichen bzw. gescheiterten Laufbahnen betrachtet, sind die davon abweichenden Karrieren in einem engen Zusammenhang mit der sozialisatorischen Interaktion und dem biografischen Gewordensein zu verstehen. Insbesondere bei einem Bildungsaufstieg, für den kein institutioneller Mechanismus existiert, werden ganz eigene Dynamiken, Umsetzungswege und Bearbeitungsstrategien offensichtlich. Die individualisierten Übergänge irritieren damit die lebenslauf- und bildungssoziologischen, auf die Perspektive der Institution bezugnehmenden, Vorstellungen von Normal(schul)laufbahnen. Dabei hat sich nicht nur das Bildungssystem geöffnet, ausdifferenziert und darüber immer mehr Möglichkeiten zu individualisierten Übergängen geschaffen; auch sind die Vorstellungen über eine Standardisierbarkeit des Lebenslaufes brüchig geworden, sodass individualisierte Übergänge in allen Entwicklungs- und Altersphasen über die Forderung zu einer (andauernden) Weiterbildungsbereitschaft und Flexibilisierung der Lebensführung an Relevanz gewinnen.
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Bereits vor mehr als 30 Jahren entwickelte Martin Kohli (1985) in seiner strukturhistorischen Analyse die viel beachtete und diskutierte These, dass der normierte Lebenslauf zu einer Institution für die individuelle Lebensführung in modernisierten westlichen Gesellschaften geworden ist. Übergänge im Bildungssystem sind dementsprechend als zentrale Passagen der Vermittlung zwischen Institution und Person im Lebenslauf und in der Biografie zu kennzeichnen. Schon damals verwies er darauf, dass diese sequenzielle und berechenbare Standardisierung eines Lebenslaufregimes auf der anderen Seite eine „Handlungs- und Deutungsoffenheit als soziale Anforderung im Sinne einer Biographisierung der Lebensführung“ zugleich produziere und erfordere (Kohli 2003, S. 526). Anders formuliert: Mit der zunehmenden Institutionalisierung stehen immer mehr biografische Optionen zur Verfügung, die vom Subjekt ausgewählt und entschieden werden müssen. Die Selektion der Optionen unter Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung einer Lebenspraxis fügt sich somit zu individuellen Pfaden und Pfadabhängigkeiten zusammen (vgl. Oevermann 2009; Garz 2014). Inzwischen geht Kohli (2003, S. 533) von einer reflexiven Institutionalisierung aus, die „sich nicht mehr auf den vorgeordneten Lebenslauf, sondern auf das ordnende Individuum“ beziehe. Für die Handlungs- und Funktionssysteme Familie und Erwerbsarbeit etwa werden Entstandardisierungs- und Deregulierungstendenzen im Lebenslauf und die damit verbundenen individuellen Handlungsmöglichkeiten und neuen Handlungszwänge und -ungewissheiten schon länger diskutiert. Dabei wird darauf hingewiesen, dass sich die Strukturen nicht aufgelöst, sondern lediglich verschoben hätten (ebd., S. 535). Geht man so insgesamt von einer Pluralisierung der Lebensverläufe außerhalb des Bildungssystems aus, bestehen dagegen sehr unterschiedliche Positionen zur Destandardisierung von Bildungsverläufen: Eine gegenläufige Entwicklung für das Bildungssystem wird etwa im Verweis darauf begründet, dass zwar Formen des individualisierten Unterrichtens und Lernens mittlerweile in allen Schulstufen eingeführt worden sind, auf der Ebene des Lebenslaufs aber von „einer Individualisierung von Übergängen keine Rede sein“ kann und die äußere Standardisierung und Altersnormierung von Bildungsverläufen im Zuge der – auch ökonomisch motivierten – Bildungsreformen (z. B. durch die Einführung von Bildungsstandards) im Bildungssystem eher noch zugenommen hat (Tillmann 2013, S. 19). Demgegenüber lassen sich Positionen stellen, in denen betont wird, dass nicht zuletzt aufgrund des Ausbaus des Privatschulwesens und der Ausdifferenzierung von Bildungsgängen sowie damit verbundener paralleler Bildungswege von einer Destandardisierung, besonders im Übergang von der Schule zum Beruf (vgl. Scherger 2007, S. 133 ff.), und von einer „Beschleunigung von Übergängen und Statuswechseln“ sowie
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einer „steigenden Vielfalt von Verlaufsmustern“ auszugehen ist (Konietzka 2010, S. 65). Dabei liegt es nahe, Bildungsverläufe und Übergänge gerade im Zusammenspiel und im Spannungsverhältnis von Standardisierung bzw. Kontinuität und Destandardisierung bzw. Kontingenz zu betrachten (Scherger 2007, 2014; Makrinus et al. 2016). Vor diesem Hintergrund sind in der empirischen Erforschung individualisierter Übergänge gerade auch die Wechselbeziehungen zwischen den institutionell und zeitlich für alle normierten bzw. vorstrukturierten Übergängen und den Übergängen außerhalb des Bildungssystems und damit verbundenen Transformationsund Integrationsanforderungen, die sich in bestimmten lebensgeschichtlichen Phasen in besonderer Weise stellen (etwa der Adoleszenz, vgl. u. a. King und Koller 2006; King et al. 2011; Silkenbeumer et al. 2017)‚ von Interesse. Einen Bezugspunkt in der biografieorientierten Forschung zu Auf-, Ab- und Umstiegen bilden ausgehend von unterschiedlichen theoretisch-methodologischen Konzepten zu den Kategorien Biografie und Identität Analysen zu den Modi der „Arbeit am Selbst“ bzw. biografischen Arbeit (Deppe 2020; vgl. u. a. Schneider 2018 und in diesem Band). Wie Koller (2016, S. 180) aus der Perspektive einer bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung und dem Verständnis von „Bildung als grundlegender Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen“ hervorhebt, besteht eine wichtige Aufgabe im Forschungsprozess darin, diesen „selbst als einen transformatorischen Bildungsprozess der Forscherinnen und Forscher zu gestalten“. Gerade für die rekonstruktive Erforschung der unter dem schillernden und theoriesprachlich noch weiter auszuschärfenden Übergangsbegriff gefassten heterogenen Phänomene und theoretisch-analytischen und methodologischen Bezugnahmen erfordert die Einnahme einer rekonstruktionslogischen Analyseeinstellung nicht nur, die eigenen Begriffe, Konzepte und Vorannahmen zu reflektieren. Es gehe so darum, sich „irritieren zu lassen und nach Begriffen und Konzepten zu suchen, in denen das sich in diesen Texten artikulierende Befremdliche und Unerwartete zur Geltung gebracht“ werden kann (ebd.). Im vorliegenden Band werden aktuelle Forschungserkenntnisse und Theoriepositionen zu Fragen danach, wie individualisierte Bildungsverläufe in verschiedenen Lebensaltern und Entwicklungsphasen biografisch, institutionell und gesellschaftlich bzw. diskursiv eingebettet und konstituiert sind und gestaltet werden, ins Zentrum gestellt. Im Kern geht es in den Beiträgen um die theoretische und empirische Betrachtung der Strukturen und Prozesse, die Sozialisations- und Bildungsverläufen in diesen Übergängen zugrunde liegen, sowie um Fragen nach fördernden Ressourcen bzw. hemmenden Einflüssen und darum, welche Entstehungskontexte und Motivlagen eine Rolle spielen.
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Das Buch führt interdisziplinäre Perspektiven, Forschungen und Ergebnisse zusammen und gibt so einen Einblick in die Theoriebildung, den Forschungsstand sowie die methodologischen und methodischen Zugänge zu individualisierten Übergängen im Bildungssystem. Der Band ist dabei in drei Teile (Rahmungen und Diskurse, Forschungsbefunde und pädagogisches Handeln) untergliedert, in denen die folgenden Themen in den Beiträgen diskutiert werden: Rahmungen und Diskurse: Strukturelle Fragen Gabriele Bellenberg fokussiert mit Blick auf die institutionelle Perspektive „strukturelle Passungsinstrumente“ während der Primar- und Sekundarstufe I, die insbesondere über Klassenwiederholungen und Schulformwechsel von der institutionellen Perspektive abweichende, entstandardisierte und „individuelle Bildungswege“ hervorbringen. Auf der Grundlage der Betrachtung der institutionellen Regelungen sowie der empirisch-quantitativen Datenlage stellt sie fest, dass die Frage der Herstellung einer Passung zwischen dem Lernniveau der Schüler*innen und dem Anspruchsniveau der Schule im Zuge von Inklusion zunehmend innerschulisch bearbeitet wird und die strukturellen Passungsinstrumente damit an Bedeutung verlieren. Daraus wird die Notwendigkeit einer „adäquaten und individuellen Förderung aller Schüler*innen“ durch die schulischen Akteur*innen abgeleitet. Oliver Winkler stellt das sich stetig verändernde bundesrepublikanische, föderalistisch organisierte Bildungswesen ins Zentrum seiner Betrachtung und untersucht, ob dessen institutionelle Ausdifferenzierung einen Beitrag zur Herstellung von Chancengleichheit leisten kann. Er fokussiert dabei auf die Frage nach der Bedeutung „sukzessiver Übergänge“ im Bildungssystem, die im Anschluss an den Erwerb eines Bildungszertifikates erfolgen. Über die vertiefende Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungsständen und Diskursen der sozialen Ungleichheitsforschung kommt er zu dem Schluss, dass sich zwar das Bildungsniveau der Abschlüsse durch die „sukzessiven Übergänge“ erhöht, diese aber eher der Statusreproduktion dienten. Zwar hätten diese „sukzessiven Übergänge“ mehr Bedeutsamkeit erlangt als die Schulformwechsel in der Sekundarstufe I, sie seien in ihrer Wirkmächtigkeit aber beschränkt. Das Verhältnis von Bildung, Ungleichheit und Übergängen im Lebenslauf nimmt ebenfalls Andreas Walther in seinem Beitrag in den Blick. Er hinterfragt dabei aber die lange Zeit bevorzugte Perspektive auf die Verläufe in der Übergangsforschung, die Bildung und Bildungskarrieren entlang sozial normierter und akzeptierter Übergänge für das Zustandekommen ungleicher Lebensverläufe in Betracht zieht und stellt dieser eine Perspektive gegenüber, die danach fragt,
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wie Übergänge in ihrer sozialstrukturierenden Wirkung im Sinne eines „doing transitions“ hergestellt werden. Exemplarisch werden diese Konstruktionsweisen von Übergängen und die darin angelegte Reproduktion von Ungleichheit an Forschungsergebnissen zur Übergangsgestaltung von der Schule in den Beruf aufgezeigt. Forschungsbefunde: Entstehungskontexte individualisierter Übergänge Mareke Niemann untersucht die Perspektive von Schüler*innen, die einen Schulformwechsel in Form eines Abstiegs vollzogen haben, im Längsschnitt mit der Dokumentarischen Methode. Ausgehend von ihren Untersuchungen nimmt sie eine Typisierung von in die Hauptschule wechselnden Schüler*innen vor. Sie zeigt auf, dass der Schulformwechsel und die Stigmatisierungserfahrungen als Hauptschüler*in in ein „Ambivalenzverhältnis“ zwischen positiver Bezogenheit und abgrenzender Distanzierung einmündet, das sich über die Zeit in Abhängigkeit von den schul- und bildungsbezogenen Orientierungen der Schüler*innen verändern kann. Edina Schneider stellt ebenfalls Ergebnisse aus einer qualitativen Längsschnittstudie jedoch zum schulischen Aufstieg und der biografischen Identitätsentwicklung von ehemaligen Hauptschüler*innen vor. Zentral kann in diesem Beitrag herausgearbeitet werden, dass dieser objektive Bildungserfolg für die Schüler*innen nicht nur lange Zeit von einem schulischen Versagens- und Degradierungsprozess, sondern auch von einem kollektiven Verlaufskurvenprozess der Stigmatisierung überlagert wird. Vor diesem Hintergrund wird der Übergang krisenhaft und belastend erlebt und geht der Besuch der Sekundarstufe II mit sozialen und leistungsbezogenen Problemen einher. Die Bedeutung familialer Interaktion für die Konstruktion idealisierter Selbstentwürfe und deren (Re-)Produktion im Kontext unsteter Karriereerfahrungen von Schüler*innen arbeitet Julia Labede heraus. Schulische Adressierungen in diskontinuierlichen Bildungsbiografien werden auf der Grundlage strukturtheoretischer Überlegungen hinsichtlich ihrer subjektiven Bearbeitung und Krisenhaftigkeit in der Familie befragt. An einem Fall wird dabei aufgezeigt, wie schulisch erlebte Negativzuschreibungen in familialen Interaktionen umgedeutet und in einer familialen Charismatisierungsfigur eines besonderen Schülers idealisiert werden. So wird nicht nur eine „Wehrhaftigkeit“ gegenüber schulischen Versagungen (z. B. einer Abstufung) beim Schüler erzeugt, sondern das gesamte Gefüge stabilisiert sich darüber.
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Die bildungsbiografische, familiale und institutionelle Einbettung des Wechsels von der Regelschule in die Klinikschule im Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie untersuchen Mirja Silkenbeumer, Julia Becher und Janina Schulmeister. Im Zentrum des Beitrags steht die Frage, wie sich zu Patienten gewordene Schüler*innen den Raum der Klinikschule aneignen und ob und welche adoleszenten Transformationsprozesse im bildungsbiografischen Selbstentwurf dadurch angestoßen werden. In der Analyse eines Falls wird die These der Klinikschule als ein institutioneller Zwischenraum entfaltet, der aufgrund des absehbaren zeitlichen Aufenthalts nur begrenzte Aneignungsmöglichkeiten aufweist und darüber hinaus strukturelle Integrationsprobleme für die Jugendlichen erzeugt. Julia Labede, Mirja Silkenbeumer, Sven Thiersch und Andreas Wernet fokussieren in ihren Analysen auf den eigenständigen Beitrag familialer Interaktionsprozesse und -dynamiken für Bildungsverläufe in der Adoleszenz. Als Deutungsfolie für Bildungsaufstiege bzw. -abstiege, die nicht mit der sozialen Herkunft zu erklären sind, werden die familialen Beziehungen in der Adoleszenz zwischen Bindung und Abgrenzung auf der einen Seite und die jugendliche Selbstpositionierung zum Bildungsverlauf zwischen einer Integration und Desintegration im Bildungsselbst auf der anderen Seite bestimmt. Im Kontinuum dieser idealtypischen Kategorien werden vier realtypische Integrationsmuster in der intergenerationalen Weitergabe des familialen Erbes dargestellt und daraus allgemeine Erkenntnisse der familialen Hervorbringung und Gestaltung von Bildungsverläufen in der Adoleszenz abgeleitet. Albert Scherr und Helen Breit widmen sich in Abgrenzung zu einem als normal gekennzeichneten, „institutionalisierten Lebenslauf“ biografischen Verläufen junger Geflüchteter. Dabei zeigen sie Problemdimensionen der Lebenslaufgestaltung von jungen Erwachsenen in Deutschland auf, die über kein dauerndes Bleiberecht verfügen. Der Frage nach der Ermöglichung und Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit folgend, heben sie einerseits eine biografisch angeeignete Bereitschaft zur Anpassung hervor, betonen aber andererseits auch die Ambivalenzen, die in institutionellen Kontexten erfahren werden und Ungewissheiten produzieren, sowie das Problem des Erlebens von rassistisch motivierten Degradierungserfahrungen. Als bedeutsam wird vor diesem Hintergrund die Implementierung und Etablierung eines auf Kontinuität angelegten, durch Anerkennung gekennzeichneten professionellen Beziehungsverhältnisses herausgestellt.
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Im Beitrag von Regina Soremski wird die Frage diskutiert, welche biografischen Bildungs- und Sozialisationsprozesse neben den familialen und schulischen Erfahrungen in aufsteigenden Bildungs- und Erwerbsverläufen von Bedeutung sind und in welcher Relation diese zueinander stehen. Als relevante Erfahrungsräume werden das regional-lebensweltliche Milieu und die zivilgesellschaftlichen Organisationen herausgearbeitet. Auf der Grundlage der Rekonstruktionsergebnisse stellt Soremski drei Typen lebensgeschichtlich tragender Passungsverhältnisse von lebensweltlicher und institutioneller Bildung dar. Der Beitrag von Johannes Wahl diskutiert Konzepte, die die zunehmenden Übergangsoptionen und -bewegungen in unterschiedlichen Institutionen des Bildungssystems im Zuge der Institutionalisierung des Lebenslangen Lernens zwischen biografischen Chancen und Zumutungen beschreiben können. Insbesondere wird auf das Modell „Zone of Possibility“ mit seinem Analysefokus des sozialen Kontextes (z. B. auch kollektive Wissensbestände und ihre Vermittlung über Medien) und der sozialen Interaktion eingegangen, die die individualisierten Bewegungen im Bildungssystem zugleich vorstrukturieren und konstruieren. Belegt werden diese konzeptionellen Überlegungen anhand von empirischen Befunden aus der pädagogischen Berufsgruppen- und Organisationsforschung, wobei abschließend auf den Stellenwert der individuellen Übergangsentscheidungen verwiesen wird. Herausforderungen: Pädagogisches Handeln Grit im Brahm stellt in ihrem Beitrag die institutionelle Gestaltung von normativen und non-normativen Übergängen gegenüber und leitet daraus einen Bedarf an Unterstützungsmaßnahmen für individuelle Übergänge ab. Während die institutionell fest verankerten Übergänge sehr gut erforscht sind und schon lange in der schulpädagogischen Diskussion Aufmerksamkeit erhalten, sodass hierfür sehr ausdifferenzierte Konzepte, Programme und Angebote zur pädagogischen Begleitung und Unterstützung vorliegen, sind Schüler*innen und deren Eltern bei der Bewältigung individueller Übergänge bislang überwiegend auf sich gestellt, obwohl paradoxerweise gerade diese Übergänge Beratung und Gestaltung erfordern. Ausgehend von einer systematisierenden Betrachtung bestehender Beratungssettings fragt Marc Weinhardt nach Möglichkeiten der Bearbeitung durch Übergänge erzeugter und sich verstärkender (Reflexions-)Anforderungen an das Subjekt. Hierzu stellt er eine Landkarte von Übergängen und dadurch erzeugten Beratungsanlässe vor, die sich – insbesondere mit Blick auf die Zunahme der
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Gestaltungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten durch das Subjekt – allerdings nicht angemessen über die Konzeption einer Übergangsberatung, die sich auf institutionalisierte und formalisierte Settings beziehe, fassen lasse. Stattdessen sieht er in der Sensibilisierung der Akteur*innen für Übergänge in bereits bestehenden Beratungssettings eine Möglichkeit der Bearbeitung der sich mit Übergängen stellenden Subjektivierungspraxen. Der Beitrag von Miriam Lotze setzt sich dezidiert mit Möglichkeiten der Beratung von Eltern im Übergang von der Kita zur Schule auseinander. Ausgehend von eigenen Forschungsarbeiten betrachtet sie anhand der Interpretation elterlicher Orientierungsrahmen mit der Dokumentarischen Methode unterschiedliche Funktionszuschreibungen von Kindertageseinrichtung und Schule und rekonstruiert zwei kontrastierende Typen elterlichen Engagements: einen beziehungsorientiert-involvierten Typus sowie einen funktional-pragmatischen Typus. Diese Typen weisen nach Lotze nicht nur auf unterschiedliche Adressierungen der pädagogischen Akteur*innen hin, sondern auch auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Eltern. Im Sinne ‚gelingender‘ Beratung erscheint für sie im Anschluss an ihre Einzelfallrekonstruktionen entsprechend eine, an die individuelle Perspektive der betroffenen Akteur*innen anknüpfende, ko-konstruktive Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtung und Grundschule förderlich, die auch sozio-ökonomische Faktoren mitbedenke.
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Rahmungen und Diskurse: Strukturelle Fragen
Individuelle Bildungswege durch Auf-, Abstieg, Um- und Ausstiege im Schulsystem. Eine strukturelle und empirische Bestandsaufnahme Gabriele Bellenberg Zusammenfassung
Der Beitrag gibt einen Überblick über die Anlage und Ausprägung individueller Bildungswege durch das deutsche Schulsystem, wie sie sich durch strukturelle und individuelle Passungsinstrumente sowie die landesspezifischen Schulstrukturen ergeben. Die institutionellen Rahmungen und Regelungen gehen dabei von impliziten Normalitätsvorstellungen aus, die sich bundeslandspezifisch unterscheiden und für das individuelle Durchlaufen des Bildungssystems, wie es sich bildungsstatistisch nachzeichnen lässt, folgenreich sind. Im Zeitverlauf betrachtet wird in vielen Bundesländern die schulstrukturelle Vielfalt in der Sekundarstufe I geringer und individuelle Passungsinstrumente wie Klassenwiederholungen werden tendenziell seltener eingesetzt. Damit rücken zugleich die Einzelschule und der Unterricht stärker in die Verantwortung, die Passung zwischen den individuellen Lernvoraussetzungen und den Leistungsansprüchen der Schule herzustellen. Schlüsselwörter
Bildungswege · Passung · Normalitätsvorstellung · Klassenwiederholung · Abschulung · Schulsystem · Schulformwechsel · Schulformempfehlung
G. Bellenberg (*) Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Thiersch et al. (Hrsg.), Individualisierte Übergänge, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23167-5_2
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Einleitung Alle entwickelten Gesellschaften haben Schulsysteme herausgebildet, mit deren Hilfe die Qualifikation der nachwachsenden Generation gesichert werden soll. Der jeweiligen institutionellen Ausgestaltung von Schulsystemen liegt eine Vorstellung darüber zugrunde, auf welche Weise Schüler*innen die Kette der Bildungsangebote durchlaufen sollen und können. Diese Vorstellung drückt sich sowohl durch das institutionelle Angebot und seine Besonderheiten als auch durch diejenigen Regelungen und Erlasse aus, die die Verfahren für ihr Durchlaufen sowie für Übergänge und Wechsel zwischen den Bildungsinstitutionen festlegen. Für das deutsche Schulsystem gesprochen wären den Normalitätsvorstellungen entsprechende Bildungswege solche, bei denen eine Schülerin bzw. ein Schüler im schulpflichtigen Alter in eine Schule der Primarstufe eintritt, diese ohne zeitliche Verzögerungen, die als Klassenwiederholungen zu werten sind, durchläuft und in eine der angebotenen Schulformen der Sekundarstufe I wechselt und diese wiederum ohne zeitliche Verzögerung und ohne einen Wechsel in eine andere Schulform an ebendieser auch mit einem Schulabschluss oder der Berechtigung für den Besuch der gymnasialen Oberstufe beendet. In der deutschen Tradition wird die Passung in der Sekundarstufe I in der Regel durch eine an Leistung orientierte Verteilung der Schüler*innen auf unterschiedlich anspruchsvolle Schulformen mit der Idee der Leistungshomogenisierung hergestellt. Abb. 1 gibt einen Überblick über Passungsinstrumente, welche die Wege der Schüler*innen durch das Schulsystem regulieren. Deutlich wird, dass gemäß der inhärenten Logik des deutschen Schulsystems die Passung schwerpunktmäßig (für integrierte Schulformen gilt dies nicht) auf der Schülerseite erfolgt.
Abb. 1 Bildungswegrelevante Passungsinstrumente (Eigenentwicklung)
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Am Ende jeden Schuljahres wird die Passung zwischen den institutionellen Leistungsanforderungen und den Leistungsvoraussetzungen bzw. der Leistungserbringung der Schüler*innen formal in Form einer Versetzungsentscheidung geprüft. Eine Versetzung in die nächst höhere Jahrgangsstufe bescheinigt die grundsätzliche Passung, die Zeugnisnoten geben einen Hinweis über den Grad der Erreichung. Da eine Reihe von Schüler*innen den einmal eingeschlagenen Bildungsweg nicht in der zuerst gewählten Schulform und/oder nicht in der vorgegebenen Zeit erfolgreich durchlaufen, existieren Regelungen, einen individuellen Weg durch das Schulsystem zu ermöglichen, in dem z. B. mehr bzw. weniger Zeit zur Verfügung gestellt wird (Klassenwiederholungen oder Überspringen von Jahrgangsstufen, vorzeitige Einschulungen bzw. Zurückstellungen vom Schulbesuch) oder aber das Anspruchsniveau (Schulformwechsel) verändert werden kann. Schließlich beginnt die Primarstufe mit einer Phase größerer zeitlicher Flexibilisierung (flexible Schuleingangsphase), die Sekundarstufe I (in nicht integrierten Schulformen) häufig in vielen Bundesländern mit einer Phase verstärkter Leistungsbewährung, um möglicherweise eine Anpassung des Anspruchsniveaus vornehmen zu können (Orientierungsstufe). Eine Sonderrolle mit Blick auf die Passungsverhältnisse, die in diesem Beitrag nicht weiter gesondert behandelt wird, spielt die Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf. Solche Schüler*innen lernen entweder an Förderschulen (2016: 4,3 % aller Schüler*innen der Primarstufe und Sekundarstufe I mit Vollzeitschulpflicht) oder werden inklusiv an allgemeinen Schulen (2,3 % aller Schüler*innen der Primarstufe und Sekundarstufe I mit Vollzeitschulpflicht) unterrichtet (Klemm 2018, S. 7). Im gemeinsamen Unterricht gelten für diese Schüler*innen nach Förderschwerpunkt unterschiedliche Regelungen, um Passungen zu ermöglichen (z. B. Nachteilausgleich), deren Darstellung den folgenden Beitrag sprengen würden. In der Schulforschung haben sich für die Beschreibung und Wertung von Schulformwechseln die Begriffe Abstieg, Umstieg und Aufstieg eingebürgert. • Als ‚Abstiege‘ werden dabei solche Veränderungen im Bildungsweg beschrieben, die von einer anspruchsvolleren in eine anspruchsniedrigere Schulform führen, also beispielsweise vom Gymnasium in die Realschule. • ‚Umstiege‘ meinen solche Schulformwechsel, bei denen die Bewertung nicht eindeutig ausfällt, also beispielsweise beim Wechsel vom Gymnasium zur Gesamtschule, wenn an beiden Schulformen ein Abitur erworben werden kann. • Ein ‚Aufstieg‘ ist dementsprechend ein Wechsel von einer anspruchsniedrigeren in eine anspruchsvollere Schulform, also beispielsweise von der
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Realschule zum Gymnasium. Diese Wechsel können sich je nach bundeslandspezifischer Regelung mit oder ohne Wiederholung einer Klasse vollziehen. Diese Begrifflichkeiten finden für Schulformwechsel zwischen Förderschulen und anderen Schulformen keine Verwendung. Die quantitativ arbeitende Schulforschung beschreibt aus forschungsökonomischen Gründen in aller Regel keine vollständigen Bildungsverläufe – beispielsweise von der Einschulung bis zum Schulabschluss – sondern beschränkt ihren Blick auf ausgewählte Aspekte individueller Bildungsverläufe. Dies liegt vor allem daran, dass für die Analyse repräsentativer längsschnittlicher Bildungsverläufe kaum regulär anfallende Datenquellen vorliegen. Zukünftig werden entsprechende Analysen mithilfe des nationalen Bildungspanels einfacher möglich sein. Häufiger werden zur Beschreibung individueller Bildungswege Daten der Allgemeinen Schulstatistik ausgewertet, die jährlich bundesweit vorgelegt wird. Mit ihrer Hilfe lässt sich beispielsweise die Häufigkeit von Auf-, Um-, und Abstiegen beschreiben, die sich zwischen zwei Schuljahren vollziehen. Ob die Schulformwechsler des betreffenden Schuljahres zuvor bereits einen Schulformwechsel durchlaufen haben, zu welchem Zeitpunkt sie eingeschult wurden, ob damit eine Klassenwiederholung verbunden war oder nicht, lässt sich hingegen nicht beantworten. Daher bietet die allgemeine Schulstatistik mit ihrer jährlichen Abfrage der Daten bei den Schulen immer nur einen punktuellen Einblick in individuelle Bildungswege. Schulpädagogische Forschung, die zu individuellen Bildungswegen vorliegt, erweitert diese eher deskriptiven Perspektiven von Auswertungen der Allgemeinen Schulstatistik: So liegen beispielsweise Studien vor, welche die individuellen Bewertungen und das Erleben von Schulformwechseln durch die betroffenen Schüler*innen in den Blick nehmen (z. B. Liegmann 2008 und 2011). Die Klassenwiederholungsforschung fragt beispielsweise nach dem Verhältnis zwischen den pädagogischen Zielen dieses Passungsinstruments und seinen leistungsbezogenen, motivationalen und sozialen Wirkungen für die betroffenen Schüler*innen sowie für die verbleibende Jahrgangsklasse (vgl. zusammenfassend Klemm 2009). Zudem wird der Frage nachgegangen, ob und wenn ja, welche Faktoren auf Einzelschulebene den Einsatz von Klassenwiederholungen und/oder Schulformwechseln begünstigt oder eher verhindert (Hillebrand 2014) und interpretiert das Ausmaß des Einsatzes von Klassenwiederholungen und Schulformwechseln vor dem Hintergrund von Schulstrukturen und rechtlichen Regelungen (Bellenberg 2012; Bellenberg und im Brahm 2018; Bellenberg 2018).
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Der folgende Beitrag nähert sich dem Thema der individuellen Bildungswege in zwei unterschiedlichen Perspektiven: In einem ersten Zugang werden für die Primarstufe und die Sekundarstufe I die (bundeslandspezifischen) Passungsinstrumente zwischen den individuellen (Leistungs-)Voraussetzungen der Schüler*innen und den Leistungsansprüchen der Schule vorgestellt und systematisiert. Das zweite Kapitel stellt auf dieser Basis Daten vor, die das Ausmaß individueller Bildungswege bzw. des Einsatzes diesbezüglicher Instrumente insbesondere für die Frage nach Schulformwechseln beschreiben. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion der Befunde.
1 Passung zwischen individuellen Lernvoraussetzungen und leistungsbezogenen Ansprüchen der Schule durch strukturelle und individuelle Instrumente als Kontextbedingungen für individuelle Bildungswege Die 16 deutschen Bundesländer verfügen aufgrund ihrer Bildungshoheit über je eigene institutionelle Schulangebote, deren Ausgestaltung sich in einem durch die KMK festgelegten Rahmen bewegt. Gemeinsam ist ihnen, dass alle Länder über eine für alle Schüler*innen gemeinsame Primarstufe verfügen, deren Dauer auf entweder vier oder sechs Jahre angelegt ist. Die sich anschließenden Sekundarstufen I und II offerieren hingegen unterschiedliche Schulformen, deren Anzahl sich von Bundesland zu Bundesland unterscheidet.
1.1 Strukturelle Passungsinstrumente während der Primarstufe Die Primarstufe umfasst schulische Angebote von Klasse 1 bis Klasse 4 bzw. 6. In aller Regel besuchen alle Grundschüler*innen eine Schule in der Nähe ihres Wohnortes. Mit Eintritt in die Primarstufe beginnt die Schulpflicht, sodass sich ab diesem Zeitpunkt die Passungsfrage zwischen individuellen (Leistungs-)Voraussetzungen und schulischem Angebot stellt. Mit den Einschulungsregelungen gibt es bereits vor Beginn der Schulpflicht in der Primarstufe eine Option, den Beginn der Schulpflicht gegenüber der
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Stichtagsregelung zeitlich vorzuziehen (vorzeitige Einschulung) oder um ein Jahr zu verschieben (verspätete Einschulung). Allgemein gesprochen gibt es in allen Bundesländern die Möglichkeit, vom Einschulungszeitpunkt gegenüber einer landesspezifischen, allgemeinen Stichtagsregelung – viele Länder haben diese in den vergangenen Jahren so verändert, dass jüngere Kinder schulpflichtig werden – abzuweichen. Dabei sind vorzeitige Einschulungen ebenso möglich wie Zurückstellungen. Die Gründe, die in den Bundesländern eine Zurückstellung vom Schulbesuch ermöglichen, sind länderspezifisch unterschiedlich: In einigen Bundesländern ist eine Zurückstellung nur aus (erheblichen) gesundheitlichen Gründen möglich (dazu zählen Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland sowie Schleswig-Holstein), eine zweite Gruppe von Ländern knüpft die Möglichkeit der Zurückstellung an eine antizipierte, nicht erfolgreiche Teilnahme am Unterricht und damit letztlich zugleich implizit an Leistungserwartungen, an denen diese Kinder (aufgrund ihres geistigen und körperlichen Entwicklungsstands vor Beginn der Einschulung) zu Scheitern drohen (dazu gehören die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Sachsen und Thüringen). Das Erfordernis einer spezifischen Förderung der Kinder, welche aufgrund ihres Entwicklungsstandes von einer Zurückstellung betroffen sein können, hebt eine dritte Ländergruppe hervor, welche die Zurückstellung explizit auf Grundlage einer formalisierten Diagnose des Entwicklungsstandes in Verbindung mit einem konkreten Förderauftrag (wahlweise der Kita, einer Vorklasse oder der Grundschule) knüpft (dazu gehören die Länder Berlin, Hamburg, Niedersachsen sowie Sachsen-Anhalt) (Bellenberg und im Brahm 2018, S. 800 ff.). Damit wird deutlich, dass die Länder dieser drei Gruppen unterschiedliche Begründungen, Annahmen und Normalitätsvorstellungen zugrunde legen, unter welchen sie eine Abweichung vom verbindlichen Einschulungszeitpunkt erlauben. In der ersten Gruppe wird die Passungsfrage an die Schule verlagert, die zweite Ländergruppe hingegen beruft sich explizit darauf, dass für eine Gruppe von eigentlich schulpflichtigen Schüler*innen die Passung zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben ist bzw. von der Schule nicht adäquat geleistet werden kann, die dritte Ländergruppe hingegen fühlt sich verpflichtet, in der Zeit, die die zurückgestellten Schüler*innen zusätzlich vor der Schule haben, für die Förderung der Schulfähigkeit zu sorgen. Über diese Einschulungsregelungen hinaus haben viele Bundesländer die ersten beiden Jahrgangsstufen der Grundschule als flexible Schuleingangsphase ausgestaltet, die man innerhalb von einem, zwei oder drei Jahren durchlaufen kann und mit allen drei zeitlichen Varianten einen der impliziten Norm entsprechenden Bildungsweg genommen hat. Anders ausgedrückt: Das dreijährige Verweilen in der Schuleingangsphase wird nicht als Klassenwiederholung
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gewertet, zugleich kann diese ebenfalls in nur einem Jahr erfolgreich durchlaufen werden. Die flexible Schuleingangsphase stellt damit ein weiteres strukturelles Passungsinstrument während der Primarstufe dar.
1.2 Strukturelle Passungsinstrumente während der Sekundarstufe I Der Übergang in die Sekundarstufe I stellt während der Schulpflichtzeit durch seine Entscheidung über das anschließende Leistungsniveau in der gewählten Schulform das zentrale Passungsinstrument zwischen individuellen (Leistungs-) Voraussetzungen und schulformspezifischem Leistungsanspruch dar. Grundsätzlich haben die Eltern das Recht, über die Fortsetzung des Bildungsweges nach der Primarstufe zu entscheiden, dieses Recht wird allerdings länderspezifisch in unterschiedlichem Maße eingeschränkt. Zu den Ländern mit einem hohen Verbindlichkeitsgrad der Grundschulempfehlung gehören Bayern, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, einen vollständigen Verzicht auf eine Schulformempfehlung unter Rückmeldung von Kompetenzen praktizieren die Länder Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein (Bellenberg 2018, S. 47). Den übrigen Ländern ist ein niedriger Verbindlichkeitsgrad gemeinsam. Dieser führt dazu, dass vermehrt Schüler*innen ihren Bildungsweg an einer anspruchsvolleren Schulform fortsetzen als dies von der Schule empfohlen wurde. Darüber hinaus spielt für Bildungswege eine entscheidende Rolle, welche Schulformen landesspezifisch angeboten werden. Der Bildungsbericht 2018 unterscheidet bei der schulstrukturellen Ausprägung zwischen drei Ländergruppen (reine Zweigliedrigkeit, erweiterte Zweigliedrigkeit und erweiterte traditionelle Systeme) und bewertet die Entwicklung in den ersten beiden Ländergruppen als eine Konsolidierung der landesspezifischen Schulangebote in Richtung unterschiedlich akzentuierter Zwei-Säulen-Modelle (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 88 ff.): • Reine Zweigliedrigkeit: In 6 Ländern existiert neben der Förderschule und dem Gymnasium nur noch eine weitere Schulart. In Sachsen umfasst diese Schulart den Haupt- und den Realschulbildungsgang, in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg sowie im Saarland und in Schleswig-Holstein bietet diese Schulart auch die Möglichkeit, im gymnasialen Bildungsgang das Abitur zu erwerben. • Erweiterte Zweigliedrigkeit: In einer zweiten Gruppe von 5 Ländern gibt es (neben Förderschulen) eine Kombination aus Gymnasium und mindestens 2
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parallel angebotenen Schularten mit 2 oder 3 Bildungsgängen (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen). • Erweiterte traditionelle Systeme: Am vielfältigsten sind die Schulstrukturen in den 5 Ländern, in denen das Angebot an Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien fortbesteht (Baden- Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein- Westfalen) und – bis auf Bayern – durch Schulen mit mehreren Bildungsgängen ergänzt wird. Trotz dieser vereinfachenden Systematisierung bleibt die strukturelle Ausgestaltung der Schulsysteme der Bundesländer hoch differenziert: „Unterschiede bestehen nicht nur darin, ob neben dem Haupt- und Realschulbildungsgang an der gleichen Schule auch ein gymnasialer Bildungsgang angeboten wird. Uneinheitlichkeit zeigt sich zudem darin, ob (und ab welcher Jahrgangsstufe) die Schüler*innen in separat organisierten Bildungsgängen auf einen spezifischen Schulabschluss vorbereitet werden („additiv“). Ein gemeinsamer bildungsgangübergreifender Unterricht („integrativ“) ist mit Ausnahme der Integrierten Gesamtschulen und Gemeinschaftsschulen eher selten“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 89). Länder mit mehr als drei Schularten (Ländergruppe 3) verfügen zudem über ein regionalspezifisch sehr unterschiedliches Schulangebot, das auf kleinräumiger Ebene nur selten die gesamte Optionsvielfalt bietet. Insgesamt hat die Entwicklung zu einer deutlichen Verschlankung des Schulartangebots geführt, bei gleichzeitiger Flexibilisierung individueller Bildungsverläufe durch breite Ab- und Anschlussmöglichkeiten in vielen Schulformen. Über die Frage des schulstrukturellen Angebots hinaus haben einige Länder in einigen oder allen Schulformen den Übergang in die Sekundarstufe I in den ersten beiden Jahrgangsstufen (Bayern: nur Klasse 5) unter besonderer Beobachtung der Passung gestellt. Diese besondere Funktion kommt dabei in den Begriffen ‚schulformunabhängige oder in die Schulform integrierte Orientierungsstufe‘ (z. B. Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz) oder ‚Jahrgangsstufen mit Orientierungsfunktion‘ (z. B. Niedersachsen, Sachsen), ‚Beobachtungsstufe‘ (Hamburg), ‚Gelenkklasse 5‘ (Bayern) oder ‚Erprobungsstufe‘ (Nordrhein-Westfalen) zum Ausdruck (Bellenberg und im Brahm 2018). Da die integrierten Schulformen über innerschulische Mechanismen der Passungsherstellung verfügen, stehen die Schüler*innen in dieser Phase dort nicht unter besonderer Beobachtung. In den anderen Schulformen, sowie insbesondere an Gymnasien stellt sich hingegen die Frage nach der Eignung der Schüler*innen für den gewählten Bildungsgang, insbesondere in den Ländern, in denen die Eltern über den schulischen Übergang entscheiden (Bellenberg 2018).
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In diesen Fällen erscheint die Orientierungs – oder im Falle ordrhein-Westfalens – die Erprobungsstufe als eine Phase der Bewährung N im Umgang mit den neuen Anforderungen in der veränderten Lernumgebung der Sekundarstufe I. Am Ende der sechsten Jahrgangsstufe trifft beispielsweise in NRW die Versetzungskonferenz den verbindlichen Entscheid über die schulformspezifische Eignung der Schüler*innen (MSB NRW 2017). Damit ist strukturell am Ende der Erprobungsstufe für die weitere Schullaufbahn eine Korrekturmöglichkeit seitens der Schule eingeräumt. In Bayern hingegen wird der Orientierung und Erprobung mit der Gelenkklasse 5 ein schmaleres Zeitfenster eingeräumt als in anderen Ländern mit gegliederten Systemen; die Entscheidung über einen möglichen Bildungsgangwechsel im Sinne eines Aufstiegs im Anschluss an die Gelenkklasse wird über den Notenspiegel gesteuert: Schüler*innen können am Ende der Gelenkklasse beispielsweise nur dann von der Mitteschule in ein Gymnasium wechseln, wenn sie in den Fächern Deutsch und Mathematik durchschnittlich die Note 2,0 aufweisen und zugleich die Klasse 5 am Gymnasium noch einmal durchlaufen (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2017). In Verbindung mit einem hohen Verbindlichkeitsgrad der Grundschulempfehlung findet damit in Bayern eine starke institutionelle Steuerung von individuellen Bildungswegen statt. In Berlin ist das siebte Schuljahr im Gymnasium – die Grundschule umfasst dort die Jahrgangsklassen 1 bis 6 – als Probeschuljahr festgelegt. Berliner Schüler*innen, die am Gymnasium am Ende der Jahrgangsklasse 7 nicht versetzt werden, müssen zur Integrierten Sekundarschule wechseln und setzen dort nach dem erzwungenen Abstieg ihren Bildungsweg (ohne erzwungene Klassenwiederholung) fort.
1.3 Schul(form)wechsel und Klassenwiederholungen als individuelle Passungsinstrumente Sieht man von den oben genannten strukturellen Passungsinstrumenten ab, so sind es vor allem Klassenwiederholungen und Schulformwechsel, die individualisierte und korrektiv wirkende Bildungswege möglich machen. Ursprüngliche Schulart- oder auch Bildungsgangentscheidungen können bei geringer Passung zwischen individuellen Voraussetzungen und institutionellen Anforderungen auch nachträglich durch Wechsel korrigiert werden. Schulformwechsel im Sinne eines Aufstiegs (von einer anspruchsniedrigeren in eine anspruchsvollere Schulform) sind in vielen Bundesländern an Notenvorgaben gebunden und können mit einer erzwungenen Klassenwiederholung
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verbunden sein. Ein Schulformwechsel im Sinne seines Ab- oder Umstiegs stellt häufig eine Alternative zur Klassenwiederholung dar, hierfür ist auch der Begriff der Querversetzung etabliert, er kann aber auch mit einer Klassenwiederholung einhergehen. Schüler*innen werden in aller Regel in die nächst höhere Jahrgangsstufe versetzt. Wenn ihre schulischen Leistungen allerdings nicht den Anforderungen für diese Versetzung entsprechen, erfolgt die Wiederholung der Jahrgangsklasse, der Schüler bzw. die Schülerin besucht die zuvor besuchte Jahrgangsstufe in seiner bisherigen Schule ein weiteres Mal. An die Stelle einer Klassenwiederholung oder mit dieser verbunden kann auch ein Schulformwechsel einhergehen, diesbezüglich verfügen die Länder über unterschiedliche Regelungen (vgl. Bellenberg 2012). In vielen Bundesländern können Schüler*innen, die von einer Klassenwiederholung bedroht sind, eine Nachprüfung ablegen oder auf Probe vorrücken. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit des freiwilligen Wiederholens, zum Beispiel, um die Chancen für das Erreichen eines Schulabschlusses zu erhöhen oder aber diesen mit besseren Noten abzuschließen.
2 Individuelle Bildungswege in einer empirischen Bestandsaufnahme Aufbauend auf den vorherigen Ausführungen zu den kontextuellen Bedingungen für individuelle Bildungswege im Schulsystem nimmt das folgende Kapitel eine empirische Bestandsaufnahme zum Thema vor.
2.1 Bildungswege in der Primarstufe Durchschnittlich sind in Deutschland im Schuljahr 2016 7,7 % der Erstklässler verspätet eingeschult worden, vorzeitige Einschulungen machten dem gegenüber einen Anteil von bundesweit durchschnittlich nur 2,6 % aus (Statistisches Bundesamt 2017, Tab. 5.1). Analysen zum Ausmaß von Zurückstellungen vom Schulbesuch zeigen, dass die rechtlichen Vorgaben, hinter denen sich unterschiedliche pädagogische Überzeugungen verbergen, mit dem bundeslandspezifischen Ausmaß an Zurückstellungen zusammenhängen (Bellenberg und im Brahm 2018): Es ist eine deutliche Tendenz erkennbar, wonach die Zurückstellungsquoten in Ländern, in denen dies nur bei erheblichen gesundheitlichen Gründen möglich ist, gegenüber dem Bundesdurchschnitt unterdurchschnittlich ausfallen, wohingegen die Quote der Zurückstellungen insbesondere in den Ländern, die
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eine nicht erfolgreiche Teilnahme antizipieren und damit ein Leistungskriterium stark machen, vermehrt über dem Bundesdurchschnitt liegen. Daten zu der Frage, in welchem Umfang die Individualisierung von Bildungswegen durch die flexiblen Verbleibmöglichkeiten in der Schuleingangsphase genutzt wird, stehen nicht zur Verfügung. Der Umfang von Klassenwiederholungen bereits in der Grundschulzeit hingegen lässt sich beziffern: Im Schuljahr 2016/17 haben nur 0,9 % aller Grundschüler*innen der Klassenstufen 3 und 4 eine Jahrgangsklasse wiederholt (Statistisches Bundesamt 2017, Tab. 3.8). Bisherige Forschungen zeigen, dass mit einer Klassenwiederholung während der Grundschulzeit die Wahrscheinlichkeit für einen Übergang in eine anspruchsniedrigere Schulform sowie für einen Dropout steigt (zusammenfassend Klemm 2009).
2.2 Bildungswege in der Sekundarstufe I Nach den Daten des Nationalen Bildungsberichts sind im Schuljahr 2016/17 deutschlandweit 43 % der Fünftklässler auf ein Gymnasium übergewechselt, 19,1 % besuchen eine Integrierte Gesamtschule, 18 % eine Realschule, 11,2 % eine Schulform, die in der Bildungsstatistik unter dem Begriff der ‚Schularten mit mehreren Bildungsgängen‘ zusammengefasst wird, sowie 7,7 % eine Hauptschule (Arbeitsgruppe Bildungsberichterstattung 2018, Tabelle D2-1A). Abhängig vom Verbindlichkeitsgrad der Grundschulempfehlung lernen dabei in bedeutsamem Umfang auch Schüler*innen an den jeweiligen Schulformen, für die diese nicht empfohlen wurden. Dazu liegen bundesweit keine Daten vor, für NRW werden diese allerdings regelmäßig referiert: Für dieses Bundesland zeigt sich für das Schuljahr 2017/18, dass an Gymnasien in NRW 75,3 % der Fünftklässler mit einer uneingeschränkten Gymnasialempfehlung übergegangen sind, weitere 16,7 % verfügen über eine Realschulempfehlung, die eingeschränkt auch den Gymnasialbesuch umfasst, weitere 6,7 % der gymnasialen Fünftklässler in NRW verfügen über eine reine Realschulempfehlung (MSB NRW 2018, Tab. 2.9.1). Wenngleich solche Schüler*innen, dies zeigen bisherige Forschungsbefunde zum Thema, welche allerdings nicht aus NRW stammen, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, das Gymnasium wieder verlassen zu müssen, also einen Abstieg zu erleben, verbleibt die Mehrheit auf der entgegen des Grundschulgutachtens gewählten anspruchsvolleren Schulform Gymnasium (Scharenberg et al. 2010; Bos et al. 2009; Albrecht et al. 2017). Insbesondere für den Bildungsgang des Gymnasiums gelten die in Kap. 1 referierten Bewährungsmöglichkeiten am Ende der Orientierungsstufe, denn
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rechtlich wird für diese Schulform die Eignung vorausgesetzt (Bellenberg 2018). An Gymnasien in NRW wirkt sich das Ende der Erprobungsstufe für gut 4 % der Schüler*innen, welche die sechste Jahrgangsstufe an einem Gymnasium absolviert haben, selektiv im Sinne eines Abstiegs aus, die meisten Schulformwechsler verlassen das Gymnasium in Richtung Realschule (73 %) bzw. Integrierte Gesamtschule (16 %), seltener erfolgt ein Wechsel zur Sekundarschule (7 %) oder zur Hauptschule (4 %). Andere Praktiken sind an den integrierten Schulformen des Landes feststellbar: Nur knapp 0,6 % der Gesamtschüler*innen wechseln nach der Erprobungsstufe auf eine andere Schulform (eigene Berechnungen nach MSB NRW 2018). Gut 6 % der Schüler*innen, welche in der Erprobungsstufe an einer Realschule gelernt haben, haben diese am Ende der Klasse 6 verlassen, schwerpunktmäßig in Sinne eines Abstiegs in Richtung Hauptschule (71 %), eines Wechsels zu einer Integrierten Gesamtschule (13 %) oder zur Sekundarschule (9 %). Einen Aufstieg zum Gymnasium absolvieren am Ende der Orientierungsstufe knapp 7 % der Schulformwechsler der Realschule (eigene Berechnungen auf Grundlage von MSB NRW 2018). Aus der BERLIN-Studie, welche die Berliner Strukturreform zur Zweigliedrigkeit (Gymnasium und Integrierte Sekundarschule) wissenschaftlich begleitet, liegen Analysen zu der Frage vor, welche Schüler*innen am Ende des in Berlin vorgesehenen Probejahres in Klasse 7 (vgl. Kap. 1) das Gymnasium verlassen müssen (Albrecht et al. 2017, S. 446). Die erzwungenen Absteiger vom Gymnasium in die Integrierte Gesamtschule weisen in ihrer durch die Grundschule ausgestellten Förderprognose einen signifikant schlechteren Notendurchschnitt auf als die verbleibenden Gymnasiastinnen und Gymnasiasten (2,58 zu 1,92) und rund 60 % dieser Gruppe sind entgegen der Empfehlung der Grundschule auf ein Gymnasium übergegangen. Etwa 80 % der Absteiger vom Gymnasium sind Schüler*innen mit Migrationshintergrund (Albrecht et al. 2017, S. 462). Die jährliche Quote der Schulformwechsler lag im Schuljahr 2016/17 deutschlandweit gemittelt über die Jahrgangsstufen 7 bis 9 bei 2,4 %. Dass sich diese Schulformwechslerquote seit dem Jahr 2000 von 3,8 % aller Schüler*innen in Jahrgangsstufe 7 bis 9 verringert hat, wird im Nationalen Bildungsbericht auf den Ausbau von Schulen mit mehreren Bildungsgängen zurückgeführt (S. 95). Als Beleg kann zudem auf die insgesamt niedrigeren Wechselquoten in den zweigliedrigen Systemen hingewiesen werden. Inwiefern dort die Mobilität zwischen den Bildungsgängen innerhalb einer Schulart dafür stärker ausgeprägt ist und es so am Ende doch für einen größeren Teil der Schüler*innen zu Korrekturen ursprünglicher (Bildungsgang-) Entscheidungen kommt, wird nach wie vor statistisch nicht ausgewiesen. Die Analysen des nationalen Bildungs-
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berichts verweisen zudem auf einen Zusammenhang zwischen Schulstruktur und Schulformwechseln: Es zeigt sich, dass in zweigliedrigen Schulsystemen mehr Wechsel zum Gymnasium (Aufstiege bzw. Umstiege) zu beobachten sind als in den (erweitert) traditionellen Systemen (Autorengruppe 2018). In Ländern mit (erweitert) traditioneller Schulstruktur gehen nicht nur insgesamt weniger Kinder nach der Grundschule ins Gymnasium über, sondern es wechseln zudem – mit Ausnahme Baden-Württembergs – mehr Schüler*innen im Anschluss auf eine niedriger qualifizierende Schulart als in den meisten anderen Ländern. Die Auswertung der Schulformwechsel des Schuljahres 2016/17 zwischen den Jahrgangsstufen 7 und 10 für das Bundesland Berlin – Zweigliedrige Struktur mit Gymnasium und Integrierte Sekundarschule, ergänzt um Förderschulen – zeigt, dass nur sehr wenigen Schüler*innen der Aufstiegsweg von der Integrierten Sekundarschule zum Gymnasium gelingt. Es handelt sich um insgesamt 63 Schüler*innen. Deutlich häufiger ist der Abstieg von der Integrierten Gesamtschule zum Gymnasium, dieser betrifft insgesamt 985 Schüler*innen. Die meisten wechseln (zwangsweise) am Ende der Klasse 7 zum Gymnasium, diese Gruppe macht dort 3,5 % der Achtklässler aus. In den übrigen Jahrgangsstufen beträgt der Anteil dieser Absteiger zwischen einem und zwei Prozent der Schülerschaft (eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt 2017, Tab. 3.7). Eine kleine Gruppe von Schüler*innen wechselt während der Sekundarstufe I von einer Förderschule zur Integrierten Sekundarschule (insgesamt 201 Schüler*innen). Zugleich haben 159 ehemalige Schüler*innen der Integrierten Sekundarschule zu einer Förderschule gewechselt. Bundesweit betrachtet wechseln im Schuljahr 2016/17 gut dreimal so viele Schüler*innen zwischen den Jahrgangsstufen 6 und 10 zu einer Förderschule wie diese in Richtung einer allgemeinen Schule verlassen (8088 zu 2627). Diese 8088 Schulformwechsler an eine Förderschule machen durchschnittlich 6,6 % der Schülerschaft der Förderschule je Jahrgangsstufe aus, 35 % dieser Gruppe haben zuvor eine Hauptschule besucht, 17 % eine Integrierte Gesamtschule, 15 % eine Schulart mit mehreren Bildungsgängen, 14 % eine Realschule, weitere 10 % eine Freie Waldorfschule bzw. 8,5 % ein Gymnasium (eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt 2017, Tab. 3.7). Im Vergleich dazu sind nur 2627 Schüler*innen von einer Förderschule auf eine andere Schulform gewechselt (0,1 % der Schülerschaft an den aufnehmenden Schulformen). Die meisten Schüler*innen wechseln dabei auf eine Hauptschule (38,5 %), auf eine Schulart mit mehreren Bildungsgängen (28,2 %) oder eine Integrierte Gesamtschule (24,4 %) (eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt 2017, Tab. 3.7). „Nachdem Klassenwiederholungen lange Zeit als ein Instrument zur nachträglichen Anpassung zwischen Leistungsvoraussetzungen und -anforderungen
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praktiziert wurden, werden sie in den letzten beiden Jahrzehnten kritischer hinsichtlich ihres zeitlichen und finanziellen Mehraufwands, sowie ihrer psychosozialen Folgen bei allenfalls geringen Leistungsverbesserungen diskutiert“ (Autorengruppe Bildungsbericht 2018, S. 96; auch Klemm 2009). Inzwischen wurde die durch die Schule erzwungene Wiederholung in fünf Ländern vollständig abgeschafft. Entsprechend deutlich fällt in den letzten Jahren der Rückgang der Wiederholerquote in der Sekundarstufe I von 3,6 % in 2006 auf 2,7 % in 2016 aus. Im Ländervergleich reicht 2016 der Anteil an Schüler*innen, die eine Klasse wiederholen, von 0,7 % in Hamburg bis zu 4,9 % in Bayern (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 96 ff.). Abgesehen von Baden-Württemberg liegen auch in den übrigen Ländern mit (erweitert) traditioneller oder zweigliedrig (erweiterter) Schulstruktur die Wiederholerquoten durchweg über jenen der zweigliedrigen Schulsysteme. In der letztgenannten Gruppe von Ländern sind die Quoten am stärksten gesunken. Schulformspezifisch findet sich die höchste Wiederholerquote im Schuljahr 2016/17 an der Hauptschule mit 4,7 %, gefolgt von der Realschule mit 4,3 %. Die niedrigsten Wiederholerquoten weisen mit 1,3 % die Integrierten Sekundarschulen auf (Statistisches Bundesamt 2017, Tab. 3.8). Die höchsten Wiederholerquoten findet man in den Jahrgangsstufen 8 und 9. Länderspezifische Analysen wie z. B. der Bayrische Bildungsbericht von 2015 weisen zudem darauf hin, dass in kreisfreien Städten, die über einen höheren Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund verfügen, an allen Schularten häufiger wiederholt wird als in Landkreisen und, dass Jungen häufiger von Klassenwiederholungen betroffen sind als Mädchen (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2017).
3 Individuelle Bildungswege durch die Schule Individuelle Bildungswege (aus der Perspektive des institutionellen Angebots) ergeben sich durch das Durchlaufen des Schulsystems, welches durch Schulformen mit unterschiedlichem Bildungsauftrag, durch Übergänge zwischen Schulstufen, durch strukturelle und individuelle Passungsinstrumente hierfür entsprechende Rahmungen bietet. Eine ausführliche Analyse zum Umfang von Ab-, Auf- und Umstiegen hat die die Autorin 2012 für alle Bundesländer vorgelegt. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich seitdem zweigliedrige Schulsysteme weiterverbreitet haben, der Verbindlichkeitsgrad der Grundschulempfehlung in vielen Ländern abgenommen hat, sowie der Einsatz individualisierender Instrumente wie Klassenwiederholungen
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und Schulformwechsel zurückgegangen ist, ist diese umfangreiche Schau für den hier vorliegenden Beitrag nicht repliziert worden. Gleichwohl machen die zusammengetragenen Regelungen wie die referierten Daten deutlich, dass das deutsche Schulsystem auf dem Weg zu sein scheint, die Passungsfrage zwischen Leistungsvoraussetzungen und -ansprüchen sukzessive auf die Schule selbst und den Unterricht zu verlagern, denn die Daten sprechen, wenn man längere Zeiträume vergleichend in den Blick nimmt, für einen Rückgang des Einsatzes dieser Passungsinstrumente. Zu dieser Entwicklung gibt es zugleich widersprüchliche oder zumindest Beharrungstendenzen (z. B. bei der gymnasialen Eignungsprüfung). Die Auseinandersetzungen um die Umsetzung der Inklusion geben Hinweise, wie schwierig diese Umstellung vom Schulsystem bewältigt wird. Vor dem Hintergrund der pädagogischen Herausforderungen, die mit der Inklusion und auch der (Flucht)migration verbunden sind, ist diese Entwicklung zu begrüßen. Zumindest dann, wenn an die Stelle der Passungsinstrumente eine adäquate und individuelle Förderung aller Schüler*innen in der Schule tritt. Wenn es zukünftig auf diese Weise zudem noch gelingen könnte, die seit vielen Jahren in etwa konstante Quote derjenigen zu verringern, die ihren Bildungsweg abschließen ohne einen formalen Abschluss zu erlangen (seit Jahren konstant etwa 6 % eines Altersjahrgangs), wäre dies ein großer pädagogischer wie gesellschaftlicher Fortschritt.
Literatur Albrecht, R., Neumann, M., Jansen, M., Becker, J., Maaz, M., & Baumert, J. (2017). Der Schulformwechsel vom Gymnasium auf die Integrierte Sekundarschule im zweigliedrigen Berliner Schulsystem. In M. Neumann, M. Becker, J. Baumert, K. Maaz, & O. Köller (Hrsg.), Zweigliedrigkeit im deutschen Schulsystem. Potentiale und Herausforderungen in Berlin (S. 425–468). Münster & New York: Waxmann. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.). (2018). Bildung in Deutschland 2018, Bielefeld: Bertelsmann. https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/ bildungsbericht-2018/pdf-bildungsbericht-2018/bildungsbericht-2018.pdf. Zugegriffen: 23. Juli 2018. Bellenberg, G. (2018). Rechtliche Situation der Übergangsempfehlung in den Bundesländern. In R. Porsch (Hrsg.), Der Übergang von der Grundschule auf weiterführende Schulen. Grundlagen für die Lehrerausbildung, Fortbildung und die Praxis (S. 41–58). Stuttgart: UTB. Bellenberg, G., & im Brahm, G. (2018). Abbau von Übergangsschwellen und Verlagerung der pädagogischen Verantwortung auf die Einzelschule. In G. Quenzel, & K. Hurrelmann (Hrsg.), Handbuch Bildungsarmut (S. 799–824). Wiesbaden: Springer VS.
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Bellenberg, G. (2012). Schulformwechsel in Deutschland. Durchlässigkeit und Selektion in den 16 Schulsystemen der Bundesländer innerhalb der Sekundarstufe I. Gütersloh: Bertelsmann. http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/ GrauePublikationen/GP_Schulformwechsel_in_Deutschland.pdf. Zugegriffen: 26. Juli 2018. Bos, W., Bonsen, M., & Gröhlich, C. (Hrsg.). (2009). KESS 7. Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern an Hamburger Schulen zu Beginn der Jahrgangsstufe 7. Münster: Waxmann. Hillebrand, A. (2014). Selektion am Gymnasium. Eine Ursachenanalyse auf Grundlage amtlicher schulstatistischer Daten und einer Lehrerbefragung. Münster & New York: Waxmann. Klemm, K. (2009). Klassenwiederholungen – teuer und unwirksam. Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh: Bertelsmann. Klemm, K. (2018). Unterwegs zur inklusiven Schule. Lagebericht 2018 aus bildungsstatistischer Perspektive. Gütersloh: Bertelsmann. Liegmann, A. (2008). Schulformwechsel. Perspektiven auf schulische Selektionsprozesse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Liegmann, A. (2011). „Ich war sehr traurig. Ich wollte ja nicht wechseln!“ Was Schüler über ihren Schulformwechsel denken. In G. Bellenberg, K. Höhmann, & E. Röbe, Friedrich Jahresheft XXIX „Übergänge“. (S. 40–41). MSB NRW = Ministerium für Schule und Bildung NRW (2018). Das Schulwesen in NRW aus quantitativer Sicht. Schuljahr 2017/18. https://www.schulministerium.nrw.de/ docs/bp/Ministerium/Service/Schulstatistik/Amtliche-Schuldaten/Quantita_2017.pdf. Zugegriffen: 22. August 2018. MSB NRW = Ministerium für Schule und Bildung (2017). Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen. https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulrecht/ Schulgesetz/Schulgesetz.pdf. Zugegriffen: 22. August 2018. Scharenberg, K., Gröhlich, C., Guill, K., & Bos, W. (2010). Schulformwechsel und prognostische Validität der Schullaufbahnempfehlung in der Jahrgangsstufe 4. In W. Bos, & C. Gröhlich (Hrsg.), KESS 8. Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern am Ende der Jahrgangsstufe 8 (S. 119–142). Münster u.a.: Waxmann. Statistisches Bundesamt (2017). Bildung und Kultur. Allgemein bildende Schulen, Schuljahr 2016/17, ohne Ort. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/BildungForschungKultur/Schulen/ AllgemeinbildendeSchulen2110100177004.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 26. Juli 2018. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (2017). Die Gelenkklasse – individuelle Förderung in der Jahrgangsstufe 5 aller weiterführenden Schularten (Haupt-/Mittelschule, Realschule, Gymnasium), http://www.foerdern-individuell.de/ index.php?Seite=5206. Zugegriffen: 23. Juli 2018.
Mehr Chancengleichheit durch mehr Durchlässigkeit? Oliver Winkler
Zusammenfassung
Der Zugang zu den Schulformen des gegliederten Sekundarschulsystems verläuft hochgradig sozial selektiv und beeinträchtigt Abiturchancen von Kindern aus nicht-akademischen Herkunftsmilieus frühzeitig. Dieser Kritik am deutschen Bildungssystem wurde entgegengehalten, dass die Starrheit abgenommen habe, weil in erheblichem Maß durchlässige Bildungsstrukturen etabliert wurden. So weisen Realschulen inzwischen eine Doppelfunktion auf, indem sie sowohl auf berufliche Bildung als auch auf die gymnasiale Oberstufe vorbereiten. Entsprechend sei gegenwärtig eine „Entkopplung von Schulart und Schulabschluss“ zu beobachten. Der Beitrag stellt die Frage, ob sich die Ungleichheit nach der sozialen Herkunft beim Erreichen des Abiturs durch sukzessiven Zertifikaterwerb verringert hat. Anhand aktueller Studien wird gezeigt, dass sich soziale Ungleichheit an nachträglichen Bildungsübergängen sowie auch bei den Abiturquoten im Zeitverlauf lediglich leicht verringert hat. Im nachfolgenden Bildungsverlauf finden sich weitere Unterschiede zwischen denjenigen, die das Abitur nachträglich oder auf dem regulären Pfad erworben haben. Darüber hinaus gibt es Hinweise für ethnische Ungleichheiten beim Zugang zu nachträglichen Bildungsoptionen. Abschließend werden alternative Instrumente zur Steigerung von Chancengleichheit diskutiert.
O. Winkler (*) Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Thiersch et al. (Hrsg.), Individualisierte Übergänge, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23167-5_3
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Schlüsselwörter
Soziale Ungleichheit · Sukzessive Übergänge · Nachträgliche Bildung · Schulformwechsel · Kohortenstudie · Öffnung · Konditionale Übergangsrate · Soziale Herkunft · Lebensverlauf · Bildungsreform
1 Einleitung „Das Recht auf schulische Bildung ist dann verwirklicht, wenn Gleichheit der Bildungschancen besteht […]. Kein Bildungsgang darf in einer Sackgasse enden. Das Bildungswesen muss so eingerichtet sein, daß der Lernende früher gefällte Entscheidungen für dieses oder jenes Bildungsziel korrigieren kann.“
So lautete die Empfehlung der Bildungskommission im Jahr 1970 (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 30–38). Der Beginn der Debatte um die Verbesserung von Chancengleichheit durch die Einrichtung von mehr Durchlässigkeit im deutschen Bildungssystem fällt historisch mit der Diskussion um den „Bildungsnotstand“ (Picht 1964) und die strukturelle Benachteiligung niedrigerer Sozialschichten im Bildungssystem zusammen (Dahrendorf 1965).1 Das Aufschließen der „Begabungsreserve“ in allen Sozialschichten durch Höherqualifizierung wurde als wichtiger Baustein gesehen, um einem befürchteten Wirtschaftsabschwung durch die Bereitstellung eines qualifizierten Arbeitskräfteangebots entgegenzuwirken. Für die Bildungsadressat*innen ergab sich jedoch auch ein Druck zur Beteiligung in höheren Bildungsgängen aufgrund des berufsstrukturellen Wandels und der gewachsenen Anforderungen beim Zugang zu beruflichen Positionen zum Erhalt der familialen Statusposition. Daneben erstarkten liberale Forderungen, wonach ein chancengleicher Zugang zu Bildung „Bürgerrecht“ (ebd.) sei und überhaupt erst die Voraussetzung für einen meritokratisch legitimierten Wettbewerb um soziale Mobilität liefere. Die Öffnung von höheren Schulzweigen zur Verbesserung von Chancengleichheit wurde bereits früh als Instrument erkannt (Schelsky 1956) und mit der Einrichtung verschiedener Institutionen anvisiert. Historisch sollte Durchlässigkeit in erster Linie über die flächendeckende Einrichtung der Gesamtschule erzielt werden, die mit der radikalen Idee verbunden war, alle anderen Schulformen abzulösen
1Ich bedanke mich bei Steffen Schindler, Reinhold Sackmann und den Kolleg*innen des Lehrstuhls für Sozialstrukturanalyse moderner Gesellschaften für wertvolle Hinweise und Kommentare.
Mehr Chancengleichheit durch mehr Durchlässigkeit?
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(Friedeburg 1989). Auf einer „Nebenlinie“ der Bildungsreform wurden Wechsel von Schultypen in der Sekundarstufe I und Aufstiege z. B. in allgemeine oder berufliche Gymnasien nach vorherigem Abschluss der Realschule ermöglicht, die das gegliederte Schulsystem weitaus weniger infrage stellten als Gesamtschulen. Während sich die Gesamtschule als einzige oder zumindest dominante Schulform nicht durchsetzen konnte, sind die „nicht-linearen“ Ausbildungswege im Schulverlauf institutionell inzwischen in allen Bundesländern eingerichtet worden (Helbig und Nikolai 2015). Sie haben das Schulsystem nachhaltig verändert, indem sie an der „Entkopplung von Schulart und Schulabschluss“ mitwirken (Schuchart 2006). Will man heute, knapp 50 Jahre nach dem Strukturplan für das Bildungswesen, beurteilen, wie sich Durchlässigkeit im Sinne von Schulformwechseln und nachgeholten Bildungsabschlüssen auf soziale Chancengleichheit – insbesondere bei der sozialen Herkunft – ausgewirkt hat, so ist dies kein leichtes Unterfangen. Ein Teil der Forschung betont, dass Schulformwechsel vor allem Abwärtsbewegungen in niedrigere Schulformen darstellen (Bellenberg 2012), die hochgradig sozial selektiv sind (Schneider 2008; Schümer et al. 2002; Stamm 2010; Winkler 2017). Auch bei Wechseln in höhere Schulformen während der Sekundarstufe I und bei Übertritten in die nächsthöhere Schulform nach vorherigem erfolgreichen Abschluss einer niedrigeren Schulform wird eine Reproduktion sozialer Ungleichheit festgestellt (Buchholz und Schier 2015; Henz 1997a, b; Hillmert und Jacob 2005b; Jacob und Tieben 2010; Kurz und Böhner-Taute 2016; Schuchart 2006). Ein Effekt von verstärkter Durchlässigkeit zur Verbesserung von Chancengleichheit im Bildungsverlauf wird dennoch erwartet (Fend 2009, S. 69). Die Beantwortung der Frage ist auch von methodischen Aspekten abhängig. Zuletzt wurden vermehrt Vorbehalte gegen Schulformwechsel als Indikator zur Messung von Durchlässigkeit geäußert, da durch Aus- und Entdifferenzierungsprozesse Bildungssysteme sowohl zwischen Bundesländern als auch über die Zeit nur schwer vergleichbar seien (Baumert et al. 2003; Berkemeyer et al. 2017).2 Ferner scheint die Beantwortung der Frage,
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der amtlichen Statistik werden Schulformwechsel gezählt, indem die aktuelle und die im Vorjahr besuchte Schulform angegeben werden. Mit zunehmender Differenzierung des Bildungssystems, vor allem durch die Einführung von Schulen mit mehreren Bildungsgängen und die Umstellungen zwischen G9 und G8, ist die schulische Herkunft alles andere als einfach messbar, sodass schulische Auf- und Abstiege nicht einfach zu identifizieren sind. Berkemeyer und andere (2017) kritisieren außerdem, dass, wenn zwei Schularten zum Abitur führen, Schulartwechsel als Indikator für Durchlässigkeit unbrauchbar werde. Vergleiche im Längsschnitt sind durch den Systemwandel ebenfalls problematisch. Eine mögliche Lösung wäre die Verschiebung des Fokus auf Bildungsgänge.
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ob sich Chancengleichheit durch Durchlässigkeit in der Kohortenabfolge verbessert hat, stark davon abzuhängen, ob Übergangsraten während des Schulverlaufs oder ob Anteile des höchsten nachträglich erworbenen Schulabschlusses am Ende des Bildungsverlaufs untersucht werden (W. Müller und Pollak 2016; Schindler 2015). Der Beitrag versucht, die Frage erhöhter Chancengleichheit durch mehr Durchlässigkeit anhand von Ergebnissen der inzwischen sehr umfangreichen Forschungsliteratur zu beantworten. Zunächst wird besprochen, wie durchlässige Bildungsstrukturen versuchen, soziale Selektivität nach der ersten Aufteilung in das mehrgliedrige Schulsystem zu kompensieren und warum sie theoretisch zu mehr Chancengleichheit führen könnten. Im Anschluss wird der empirische Effekt durchlässiger Bildungsstrukturen auf Chancengleichheit untersucht und gibt dazu einen Überblick über die aktuellen Forschungsergebnisse. Abschließend wird der Stellenwert von Durchlässigkeit für die Verbesserung von Chancengleichheit beurteilt. Gegenwärtige Herausforderungen an das durchlässige Bildungssystem werden diskutiert und mögliche Alternativen erörtert.
2 Durchlässigkeitsstrukturen im Bildungssystem Der Zugang zu hierarchisch geordneten sozialen Positionen ist in modernen Gesellschaften durch individuelle Leistungen legitimiert. Bildungsleistungen sind Voraussetzungen für den Zugang zu Chancen, Ressourcen und Gütern auf dem Arbeitsmarkt, die einen sozialen Status zuweisen. Wenn der Zugang zu Lebenschancen auf leistungsbezogenen Merkmalen beruht, so wird von meritokratischen Gesellschaften gesprochen: Ungleichheiten verschwinden nicht, sind aber über Meriten (Verdienste) legitimiert. Untersuchungen zur Chancengleichheit an der ersten wichtigen Sortierstelle im Bildungsverlauf – nämlich am Grundschulübergang – haben jedoch empirisch gezeigt, dass Übergangschancen nach sozialem Hintergrund alles andere als gleichverteilt sind (Baumert et al. 2006; Becker 2003; Ditton und Krüsken 2006; Maaz et al. 2010a, b; Paulus und Blossfeld 2007; Relikowski et al. 2010; Stocké 2007). An dieser ersten Selektionsstufe bestimmen nicht nur erbrachte Bildungsleistungen der Schüler*innen, sondern auch Übergangsempfehlungen der Lehrer*innen (Ditton 2016) und der Elternwille über den weiteren Schulverlauf. Alle drei Faktoren sind eng mit sozialer Herkunft verknüpft. Schullaufbahnempfehlungen sind in den meisten Bundesländern entweder nicht mehr bindend oder unter Stärkung des Elternwillens eingeschränkt worden. Unverbindliche Übergangsempfehlungen stehen jedoch im Verdacht, dass sie stärker mit sozialer Ungleichheit einhergehen, weil Eltern aus
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niedrigeren Sozialschichten dazu neigen können, die Kosten aus dem Besuch einer höheren Schulform zu überschätzen und sich auch bei guten schulischen Leistungen des Kindes seltener für den Gymnasialbesuch entscheiden (Boudon 1974; Esser 1999). Während einige Studien diese Annahme bestätigen können (Gresch et al. 2010; Neugebauer 2010), finden sich teilweise gegenteilige Effekte in anderen Untersuchungen (Jähnen und Helbig 2015). Die Schulform, in die das Kind nach der Grundschule eintritt, ist für die späteren Zugangschancen im Erwerbssystem umso entscheidender, je starrer das Bildungssystem ist, weil Korrekturen und „Richtungswechsel“ erschwert sind. Die frühe Aufteilung auf Schulformen begünstigt ferner, dass der Übergang sozial ungleich verläuft. Ansätze der deutschen Bildungspolitik sind dieser Problematik mit der Schaffung durchlässiger Schulstrukturen begegnet. Ungleiche Chancen am Grundschulübergang bleiben damit zwar bestehen, weil an der frühen Selektion und dem mehrgliedrigen System festgehalten wird, aber indem weitere Übergänge für Aufstiege im Schulverlauf eingerichtet sind, werden Möglichkeiten zum „Aufholen“ im Wettlauf um Positionen geschaffen. Wenn in der Literatur von Durchlässigkeit oder (formeller) Offenheit des Bildungssystems die Rede ist, sind damit in der Regel Institutionen gemeint, die den sukzessiven Erwerb von Bildungsabschlüssen oder den Wechsel von Ausbildungspfaden bzw. Schulformen erlauben. Geschehen Übergänge innerhalb eines eingrenzbaren Ausbildungsabschnitts (z. B. während der Sekundarstufe I), so wird hier teilweise der Begriff „horizontale Mobilität“ verwendet. Übergänge in höhere Schulformen im Anschluss an einen erfolgreich beendeten Ausbildungspfad werden als „vertikale Mobilität“ bezeichnet (Trautwein et al. 2011). Die Charakterisierung der Bewegungen von Schüler*innen zwischen den gegliederten Schulformen des Bildungssystems als „vertikale und horizontale Mobilität“ ist begrifflich problematisch, weil sie in der Sozialstrukturanalyse Wechsel sozialer Statuspositionen (z. B. Auf-/Abstiege zwischen sozialen Schichten vs. Berufswechsel innerhalb der gleichen sozialen Schicht) bezeichnen. Um Missverständnisse zu vermeiden, werden nachfolgend die Begriffe „sukzessive Übergänge“ (W. Müller und Haun 1994) und „Schulformwechsel in der Sekundarstufe I“ (Ditton 2013) benutzt. Mit sukzessiven Übergängen verbindet sich der Wunsch, dass Bildungsabschlüsse über den Zugang in einen fortsetzenden oder alternativen Bildungsweg erreicht werden können. Dazu wird ein weiterer institutionalisierter Übergang für den Zugang in die Sekundarstufe II geschaffen. Der Übergang in die Oberstufe des Gymnasiums zum Erwerb der allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung (HZB) ist z. B. nach Abschluss der Sekundarstufe mit einem mittleren Abschluss möglich. Im berufsbildenden System können die allgemeine und fachgebundene
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HZB in den beruflichen bzw. Fachgymnasien erlangt werden. Die Fachhochschulreife wird in höheren Berufsfachschulen (HBF) und Fachoberschulen (FOS) erworben. Alle drei Abschlüsse werden zudem in Berufsoberschulen (BOS) und Oberstufenzentren (OSZ) angeboten. Über den Zweiten Bildungsweg ist der nachträgliche Erwerb der allgemeinen HZB in Abendgymnasien oder Kollegs möglich.3 Sukzessive Übergänge wurden insbesondere durch curriculare Anpassungen an die gymnasialen Lerninhalte am Ende der Realschule erleichtert. Bildungsaufstiege von der Realschule in das Gymnasium während der Sekundarstufe I sind Übergänge nach jedem Schuljahr, deren Institutionalisierung und auch Standardisierung zwischen den Bundesländern allerdings stark variiert. Sie sind im Vergleich zu sukzessiven Übergängen bedeutend schwieriger, und zwar nicht nur, weil der Einstieg in das Curriculum des Gymnasiums nicht vorbereitet ist, sondern auch weil es institutionelle Hürden wie beispielsweise Mindestnoten, Empfehlungen der abgebenden Schule oder Aufnahmetests gibt. In Thüringen sind Aufstiege ins Gymnasium während der Sekundarstufe I sogar gänzlich ausgeschlossen (Helbig und Nikolai 2015). Schulformwechsel in das Gymnasium während der Sekundarstufe I treten vergleichsweise selten auf (Winkler 2017) und sind im Vergleich zu sukzessiven Übergängen von geringer Bedeutung für die nachträgliche Erhöhung des formalen Bildungsniveaus: Im Schuljahr 2016/2017 wechselten ca. 5611 Schüler*innen in den Jahrgangsstufen 7 bis 9 zum Gymnasium (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Im Vergleich dazu traten im selben Schuljahr allein ca. 15.555 Schüler*innen mit nicht-gymnasialer schulischer Herkunft in die Einführungsphase des Gymnasiums (gymnasiale Sekundarstufe II) ein (Statistisches Bundesamt 2017). Nicht eingerechnet sind hier die zusätzlichen Übertritte in den Sekundarbereich II der beruflichen Schulen (z. B. Fachgymnasien), die zur HZB führen. Bildungsabstiege, die in allen Bundesländern existieren, kommen ebenfalls weitaus häufiger vor als Schulformwechsel in Aufwärtsrichtung (Bellenberg 2012). Auch sie sind regulative Elemente im Bildungsverlauf bzw. Korrekturmechanismen von Bildungsentscheidungen. Sie bieten die Chance, durch die Reduzierung von Leistungsansprüchen demotivierende Misserfolgskarrieren zu beenden. Sie werden aber auch als Sanktionsinstrument verwendet (Cortina 2003).
3Laut
Ulbricht (2016, S. 39) ist gerade den alternativen Wegen zur HZB traditionell ein „Besonderheitenethos“ inhärent, der die übermäßige Begabung bzw. den Fleiß derjenigen betont, die ihr Bildungsinteresse mit „biografischer Verspätung“ entdecken. Durchlässigkeit, die die Besonderheit des Übergangs hervorhebt, ließe sich demnach nicht als Mittel der Abschaffung oder Verringerung der frühen Selektion im Bildungssystem deuten, sondern lediglich als ergänzender Weg, der nur von wenigen beschritten werden kann.
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Die Hoffnung, Chancengleichheit durch den Einsatz durchlässiger Schulstrukturen zu verbessern, verbindet sich demnach vor allem mit den sukzessiven Bildungsaufstiegen nach der Sekundarstufe I. Ob Chancengleichheit erhöht wird, lässt sich auf zwei Arten ablesen. Erstens: am Übergang selbst, d. h. für diejenigen Schüler*innen, die at risk sind, den interessierenden Übergang zu erleben (konditionale Übergangschancen). Zweitens: am höchsten erreichten Bildungsabschluss aller Personen (unkonditionale Übergangschancen) (Breen et al. 2009; Hillmert und Jacob 2005a; W. Müller und Pollak 2016; Schindler 2015). Die erste Sichtweise nimmt nur jene Personen in den Blick, die nach der Grundschule nicht ins Gymnasium übergegangen sind (z. B. Realschüler*innen) und betrachtet ihre Zugangschancen für sukzessiven Bildungserwerb oder Schulformwechsel. In der zweiten Sichtweise werden gewissermaßen Chancengleichheiten in den Bildungsergebnissen analysiert, weil z. B. gefragt wird, welcher Schulabschluss von allen Schüler*innen erreicht wurde, unabhängig über welchen Bildungspfad. Ungleiche Entscheidungen am sukzessiven Bildungsübergang (konditional) können zu divergenten Bildungsergebnissen bzw. -verteilungen (unkonditional) führen (Hillmert und Jacob 2005a; Schindler 2015). Angenommen, die indirekten Übergänge in die gymnasiale Oberstufe aus der Realschule sind weniger sozial selektiv als die direkten Übergänge aus dem Gymnasium, sodass beim nachholenden Erwerb häufiger niedrigere Sozialschichten und bei den direkten Wegen häufiger höhere Schichten vertreten sind. In diesem Fall wird die Ungleichheit beim direkten Weg in die gymnasiale Oberstufe durch eine geringere Ungleichheit beim nachholenden Erwerb ausgeglichen, sodass sich die unkonditionale Ungleichheit insgesamt verringert. Eine Verminderung der unkonditionalen Ungleichheit kann jedoch auch auftreten, wenn eine Ungleichheit beim Besuch der gymnasialen Oberstufe über indirekte Wege besteht. Die Quote nachträglichen Bildungserwerbs hängt nämlich auch davon ab, wie groß der Anteil von Schüler*innen aus einer Herkunftsgruppe ist, die den indirekten Pfad in die gymnasiale Oberstufe noch betreten können. Ist dieser Anteil in den niedrigen Sozialschichten sehr viel größer als in den höheren, kann es sein, dass bei sozialer Ungleichheit im nachträglichen Bildungserwerb trotzdem die unkonditionale Ungleichheit insgesamt kleiner ist. Dieser Effekt ist auch bei der Veränderung von Ungleichheit innerhalb des Bildungsverlaufs möglich (Schindler 2015). Für den Übergang ins Gymnasium lassen sich Ungleichheitsverhältnisse nach sozialer Herkunft am Übergang und im Bestand von Gymnasiast*innen vs. Nicht-Gymnasiast*innen in der 5. Klasse betrachten. Angenommen, diese Ungleichheit ist beim Übergang und im Bestand identisch. Nach der 10. Klasse können Ungleichheitsverhältnisse erneut am Übergang und im Bestand der gymnasialen Oberstufe bestimmt werden. Angenommen, die Ungleichheit am
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Übergang ist zwischen beiden Zeitpunkten konstant geblieben. Je nach Größe der Ausgangspopulation und Übergangsraten ist es jedoch möglich, dass die Ungleichheit im Bestand abnimmt, wächst oder konstant bleibt.
3 Durchlässigkeit und soziale Ungleichheit Mithilfe verschiedener theoretischer Ansätze lassen sich Hypothesen bilden, wie sich Unterschiede in der sozialen Herkunft bei den nachträglichen Bildungsübergängen oder in den Bildungsergebnissen verändern. Bislang dominieren Ansätze, die eine Stabilität oder Veränderung sozialer Ungleichheit durch mehr Durchlässigkeit aus der konditionalen Perspektive erklären. Eine Positivselektion niedriger Sozialschichten bei den sukzessiven Übergängen kann institutionell begründet sein: Ein Bildungssystem, das früh selektiert, produziert eine größere Gruppe von Personen, die unter ihren Möglichkeiten bleibt. Es handelt sich um Personen, die ein entsprechendes Leistungsvermögen besitzen, aber durch sekundäre Herkunftseffekte (Boudon 1974) zu „verhinderten“ Aufsteiger*innen werden. Für sie kann der spätere Aufstieg ins Gymnasium die Korrektur dafür sein, dass die Selektion in einen mittleren Bildungsgang im Kindesalter aufgrund einer schichtspezifischen Bildungswahl zustande kam.4 Unter den späten Aufsteiger*innen sind vermutlich vor allem Personen aus mittleren Sozialschichten, die während der Realschulzeit gute schulische Leistungen erzielen. Sie profitieren als „leicht“ Privilegierte von der Öffnung des Bildungssystems. Der Rückgang von Ungleichheit in den sekundären Herkunftseffekten wird an Bildungsübergängen erwartet, sodass beim nachholenden Übergang größere Chancen für niedrigere Sozialschichten vermutet werden. Gegen diese Annahme spricht, dass elterliche Ressourcen auch bei den nachträglichen Bildungsentscheidungen relevant bleiben können (Bernardi 2014). Jugendliche aus höheren Sozialschichten, die in das Gymnasium erst nachträglich eintreten, sind womöglich late bloomers und haben vermutlich aufgrund ihrer Herkunft „verspätete“
4Ein
alternativer Mechanismus besagt, dass ein Bewusstwerden auch auftreten kann, wenn Jugendliche älter werden und durch Autonomiezuwächse unabhängiger von den Ressourcen der Eltern werden (Blossfeld und Shavit 1993). Sie orientieren sich dann weniger an den Aspirationen der Eltern und stärker an eigenen Bedürfnissen und Wünschen zur Gestaltung des Bildungsverlaufs (Meulemann, 1985). Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass die schichtspezifischen Bildungsaspirationen der Eltern auch in späteren Phasen der Bildungslaufbahn „treibende Kraft“ bleiben (Fend 2014).
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kumulative Vorteile (O’Rand 2002). Darüber hinaus wirkt der drohende Verlust des sozialen Status in der Herkunftsfamilie, der mit dem bisherigen Bildungsverlauf noch nicht erreicht wurde, motivierend, ihn über nachträgliche Bildung zu erlangen (Esser 1999). Ein zweites Gegenargument besagt, dass sekundäre Herkunftseffekte umso deutlicher hervortreten, je mehr Entscheidungspunkte es im Schulverlauf gibt (Boudon 1974; Mare 1980). Die Schaffung weiterer Übergänge durch mehr Durchlässigkeit würde dadurch soziale Ungleichheit fördern. In einer Simulation kann Boudon zeigen, dass Kinder mit ähnlichen schulischen Leistungen aber verschiedener sozialer Herkunft ungleiche Übergangswahrscheinlichkeiten bei acht Übergängen im Bildungsverlauf besitzen. Die soziale Ungleichheit würde sukzessiv größer, auch wenn sie sich weniger auf primäre Herkunftseffekte zurückführen ließe. Diesem „Standardeinwand“ des „Mare-Boudon-Modells“ kann jedoch entgegengehalten werden, dass er die institutionelle Differenzierung des deutschen Bildungssystems vernachlässigt und ein institutioneller Wandel der mittleren Schulform Chancengleichheit begünstigt haben könnte. Durch die Schaffung durchlässiger Schulstrukturen erhält die Realschule eine „neue“ Doppelfunktion. Die Realschule war institutionell zunächst nur als Vorbereitung für den Übergang in die berufliche Ausbildung konzipiert. Durchlässigkeit eröffnet nun eine weitere Funktion, die darin besteht, den Übergang in das Gymnasium zu bahnen. Diese Doppelfunktion erlaubt, dass die Entscheidung, welcher Bildungsweg nach der Grundschule eingeschlagen werden soll, verlegt oder aufgeschoben werden kann. Aufschieben und Verlegen des Übergangs ist attraktiv, wenn man davon ausgeht, dass in allen sozialen Schichten eine Risikoaversion gegen Abstiegsmobilität in der Sozialstruktur relativ zur eigenen Position besteht (Breen und Goldthorpe 1997). Eltern verfolgen für ihre Kinder solche Bildungsstrategien, die den Erhalt der sozialen Position im Statusgefüge garantieren. Den mittleren Sozialschichten kann dies beispielsweise mit einem mittleren Abschluss möglich sein. Nach Erhalt dieses Schulabschlusses hat sich das Risiko eines sozialen Abstiegs stark verringert. Die Fortsetzung der Schullaufbahn erlaubt nun, dass Positionen erreicht werden können, die sogar über denen der Eltern liegen. Zwar wird heute in allen Bundesländern die mittlere Reife am Ende der Sekundarstufe I des Gymnasiums vergeben, sodass auch ein direkter Übergang in das Gymnasium nach der Primarstufe in Betracht käme. Wenn das Ziel jedoch das Erreichen eines mittleren Abschlusses zum Statuserhalt ist, dann ist hierfür die Realschule attraktiver, weil das Anspruchsniveau im auf das Abitur vorbereitenden Gymnasium höher ist. Weil Fähigkeiten der Schüler*innen am Ende der Grundschule noch eine hohe Plastizität haben, sind Erfolgswahrscheinlichkeiten in einem höheren Bildungsgang schwer vorherzusagen. Deshalb eignet
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sich das (vorläufige) Einschlagen der Schullaufbahn in eine mittlere Schulform, um Risiken des Scheiterns im Gymnasium zu verringern. Zu einem späteren Zeitpunkt im Bildungsverlauf der Schüler*innen lässt sich dann die Bildungsentscheidung auf eine vergleichsweise sicherere Basis stellen. Die Anreize für nachträgliche Übergänge in höhere Schulformen ergeben sich auch im Hinblick auf veränderte Arbeitsmarktstrukturen, die höhere Abschlüsse erforderlich machen. Der Weg in eine Berufsausbildung über den „Umweg“ Abitur ist für die Realschulabsolvent*innen eine strategische Lebenslaufentscheidung. Dieses weitere spezifische Muster der Bildungsexpansion, nämlich das Abitur zu erwerben, um danach eine Berufsausbildung zu beginnen, ist Ausdruck von gewachsenen Ansprüchen an die Berufsausbildung. Ein Teil der „alten“ Berufsausbildungen u. a. in den Versicherungs- und Bankberufen rekrutiert stärker aus Abiturienten und monopolisiert diese tendenziell (Konietzka 2007). Teile der „neuen“ Ausbildungsberufe setzen das Abitur sogar formal voraus (u. a. im Verwaltungswesen bzw. öffentlichen Dienst). Die größere bildungsbezogene Schließung der vorteilhaftesten Berufspositionen setzt für ihren Zugang zunehmend höhere Bildung voraus (W. Müller 2001). Das Abitur wird zum Erreichen der höher qualifizierten mittleren Berufsposition dahingehend zum Erfordernis für die gestiegenen Anforderungen der Statusreproduktion in den mittleren Sozialschichten. Die Nutzung von Durchlässigkeit ist somit für Realschulabsolvent*innen ein garantierender Schritt zum Statuserhalt, aber zugleich auch ein vorsichtiger Schritt in Richtung Aufstiegsmobilität, weil der nachträgliche Erwerb des Abiturs auch akademische Aufstiege in die Hochschule eröffnet. Diese Sichtweise geht ebenfalls von einer sich vermindernden Ungleichheit beim nachträglichen Übergang ins Gymnasium aus. Ein Ansatz, der sowohl die Übergangs- als auch Bestandsperspektive in den Blick nimmt, wurde mit der „maximally-maintained-inequality“-Hypothese von Raftery und Hout (Raftery and Hout 1993) entwickelt. Die Vermehrung von Bildungsplätzen durch die Bildungsexpansion (W. Müller und Haun 1994) und der Ausbau durchlässiger Bildungswege, die einen Zustrom in gymnasiale Bildungspfade ermöglichen, geht mit einer gesteigerten Nachfrage höherer Bildungsabschlüsse einher, die alle Sozialschichten anstreben. Eine Sättigung höherer Bildung wird schneller von höheren Sozialschichten erreicht, d. h. ihre Übergangsrate nähert sich einem Schwellenwert, nach welchem kaum noch zusätzliche Gewinne aus weiterer Bildung erzielt werden (ceilingEffekt). Die zusätzlichen Gewinne aus den Übergangsraten von Personen aus höheren Schichten, die früher am Bildungsziel ankommen, sind kleiner als diejenigen Gewinne von Personen aus niedrigeren Schichten, die später an das gleiche Bildungsziel gelangen (Blossfeld et al. 2016). Im Ergebnis wird das
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Chancenverhältnis für das Erreichen höherer Bildung zwischen den beiden sozialen Schichten ähnlicher: Die statistische Assoziation von sozialer Herkunft und höchstem erreichten Bildungsabschluss nimmt ab. Der Ansatz geht davon aus, dass zunächst Ungleichheitsverhältnisse bei nachträglichen Übergängen und in den Beständen formaler Bildungsniveaus herrschen. Durch vermehrte Übergänge kommt es zu Saturation im Bildungsergebnis einer Gruppe; durch Aufholprozesse der anderen Gruppe (via nachträglichen Bildungsentscheidungen) nimmt die Ungleichheit in der Bestandsperspektive schließlich ab (Hillmert und Jacob 2005a).
4 Forschungslage Studien zur Analyse der Verbesserung von Chancengleichheit durch mehr Durchlässigkeit haben in der Vergangenheit insbesondere Sekundärdatensätze der Lebensverlaufsstudie, des Nationalen Bildungspanels, des sozio-ökonomischen Panels, der Übergangsstudie des Bundesinstituts für Berufsbildung oder bundeslandspezifische Datensätze (z. B. TOSCA-Studie für Baden-Württemberg) ausgewertet. In der Regel dominieren zwei Designs, die entweder einzeln oder in einer Kombination verfolgt werden: 1) konditionale Analysen zu nachträglichen Bildungsentscheidungen im Kohortenvergleich und 2) unkonditionale Analysen für ein oder mehrere aufeinanderfolgende Bildungsergebnisse im Bildungsverlauf (z. B. Erreichen des Gymnasiums, der gymnasialen Oberstufe, des Abiturs) im Kohortenvergleich. Zur Operationalisierung der sozialen Herkunft wird der Bildungshintergrund oder die Berufsklasse der Eltern verwendet. In der konditionalen Perspektive liegen zahlreiche Studien zum sukzessiven Übergang von Realschulabsolvent*innen in die höheren Klassen des Gymnasiums vor.5 Hier finden sich zwar soziale Ungleichheiten im beruflichen Status (Schindler 2015) und im formalen Bildungshintergrund der Eltern (Trautwein et al. 2011, S. 457), allerdings hat sich die konditionale Ungleichheit über
5Für
Wechsel während der Sekundarstufe I in höhere Schulformen insgesamt (von der Hauptschule in die Realschule oder von der Realschule ins Gymnasium) beobachten Jacob und Tieben (2010, S. 171 f.) soziale Herkunftseffekte für die Übergangschance. Die relative Elternbildung (Statuserhaltmotiv) erhöht die Neigung für Aufstiege ins Gymnasium während der Sekundarstufe I. Im Kohortenvergleich hat sich der absolute Effekt des höchsten Bildungsabschlusses der Eltern (Ressourcen im Herkunftsmilieu) reduziert. Jedoch scheint sich der relative Effekt der Elternbildung in späteren Kohorten verstärkt zu haben. Siehe auch Ditton (2013).
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die Kohortenabfolge reduziert (Blossfeld et al. 2015; W. Müller und Haun 1994; Winkler 2017). Auch im Schulverlauf nimmt die konditionale Ungleichheit an verschiedenen Bildungsübergängen der gleichen Geburtskohorte ab (Schindler 2015). Henz (1997a, S. 63) sowie Kurz und Böhner-Taute (2016, S. 444 f.) trennen in ihren Analysen nicht danach, ob Aufstiege ins Gymnasium während der Sekundarstufe I oder nach Erwerb der mittleren Reife stattfinden, bestätigen aber ungleiche Übergangschancen nach dem beruflichen Status der Eltern bzw. nach dem Bildungsabschluss im Elternhaus. Buchholz und Schier (2015) betrachten den Erwerb eines höheren Schulabschlusses (Mittlere Reife oder Abitur) nach dem vorherigen Erwerb eines niedrigeren Schulabschlusses (Hauptschulabschluss oder Mittlere Reife). Sie finden, dass die Chance für den nachholenden Erwerb höherer Schulabschlüsse sowohl vom absoluten formalen Bildungsniveau der Eltern abhängt als auch vom relativen. D. h. vorhandenes Kulturkapital im Herkunftsmilieu und größere Kosten aufgrund des Statuserhaltmotivs beeinflussen positiv, dass höhere Schulabschlüsse nachgeholt werden. In einer weiteren Studie vergleichen Buchholz und Pratter (2017, S. 422 f.) zusätzlich Geburtskohorten. Die Wahrscheinlichkeit von Haupt- und Realschulabsolvent*innen, das (Fach-) Abitur nachzuholen, ist entsprechend des formalen Bildungshintergrunds ihrer Eltern ungleich; diese Ungleichheit bleibt über die Kohorten hinweg stabil. In der Bestandsperspektive (unkonditionale Ungleichheit), bei der die erreichten Bildungsergebnisse unabhängig vom beschrittenen Pfad betrachtet werden, zeigt Schindler (2015), dass bei verschiedenen Bildungsergebnissen im Bildungsverlauf die soziale Ungleichheit zwischen Kohorten abgenommen hat. Nur bei der Kohorte 1964/65 bis 1974 findet ein Anstieg der sozialen Ungleichheit statt, der auch schon in anderen Studien berichtet wurde (Hillmert und Jacob 2005a, b; Jacob und Weiss 2010). Schindler führt dies darauf zurück, dass zunächst die höheren Sozialschichten dieser Kohorte besonders von der neu etablierten Durchlässigkeit im Schulsystem profitiert haben bzw. übermäßig genutzt haben. Buchholz und Pratter (2017) untersuchen die Wahrscheinlichkeit, die allgemeine und fachgebundene HZB als höchsten Abschluss erworben zu haben, und vergleichen dabei den direkten Weg des Erwerbs (nur Gymnasium) mit den zusammengenommenen direkten und indirekten Wegen (Gymnasium und alle alternativen Wege). Sie berichten, dass die Ungleichheit beim direkten Weg zur allgemeinen HZB nach dem formalen Bildungshintergrund der Eltern über die Kohorten ansteigt. Nimmt man alle indirekten Wege dazu, nimmt das Niveau sogar zu. Sie schlussfolgern, dass die Zunahme von Ungleichheit beim Abitur durch nachträgliche Bildungsmöglichkeiten zustande kommt. Beim Fachabitur reduziert sich Ungleichheit durch alternative Bildungswege. Die Ergebnisse von Buchholz und Pratter sind nicht ohne weiteres mit anderen Studien vergleichbar,
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weil sie als erste ausschließlich den Bildungshintergrund zwischen Kohorten vergleichen und keine Odds Ratios, sondern marginale Effekte betrachten. Insgesamt scheint eine soziale Ungleichheit in der konditionalen Ungleichheit zu bestehen, wonach Herkunftseffekte an den Übergängen für einen nachträglichen Bildungserwerb wirksam bleiben. Dieser Befund spiegelt sich auch in der unkonditionalen Ungleichheit wider, wonach die soziale Ungleichheit in den Abiturquoten – unabhängig über welchen Bildungspfad das Abitur erworben wurde – weiterhin besteht. Die Möglichkeit, das Abitur nachträglich zu erwerben, scheint offenbar nicht dazu geführt zu haben, dass die Assoziation von sozialer Herkunft und Bildungserfolg verschwindet. Betrachtet man Unterschiede zwischen Kohorten, findet man jedoch, dass konditionale und unkonditionale Ungleichheiten an den verschiedenen Bildungsetappen leicht abgenommen haben – allerdings nur, wenn Ungleichheit entlang des beruflichen Status der Eltern betrachtet wird. Ob diese leichte Reduktion unkonditionaler Ungleichheit im Kohortenvergleich darauf zurückzuführen ist, dass die soziale Ungleichheit beim nachträglichen Bildungserwerb abgenommen hat, kann nicht gesichert beantwortet werden. Ein Grund, der dagegensprechen würde, lautet, dass der Rückgang der Ungleichheit schon zu früheren Zeitpunkten im Bildungsverlauf (z. B. am Grundschulübergang bzw. in der Beteiligung in der Sekundarstufe I des Gymnasiums) auftritt. Für jene Ungleichheitsreduktionen wurde bereits eine Vielzahl möglicher Ursachen diskutiert (Klein et al. 2009; W. Müller und Haun 1994).
5 Herausforderungen Im abschließenden Kapitel dieses Beitrags werden Herausforderungen und Probleme für die Verbesserung von Chancengleichheit durch mehr Durchlässigkeit diskutiert. Drei Punkte sind hierzu von besonderem Interesse: 5.1) Tragen durchlässige Bildungsstrukturen dazu bei, dass Unterschiede zwischen Aufsteiger*innen und regulären Gymnasiast*innen bei ihren weiteren Ausbildungswegen bestehen bleiben? Inwieweit hängen diese Unterschiede mit sozialer Herkunft zusammen? Mit dem nachträglich erworbenen Abitur eine duale Ausbildung zu beginnen und nicht zu studieren, verhilft mittleren Schichten zur Statusreproduktion in der Familie. Wegen dieser relativ sicheren Möglichkeit des Statuserhalts werden mittlere Sozialschichten aber vermutlich häufiger von langfristig mehr Erfolg versprechenden akademischen Ausbildungswegen abgelenkt (W. Müller und Pollak 2016). Betrachtet man Studienanfänger*innen, kann die horizontale und vertikale Differenzierung im Hochschulsystem dazu führen, dass mittlere Schichten, die eine allgemeine HZB nachträglich erworben
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haben, herkunftsspezifisch Einrichtungen und Studienfächer anwählen, die einen stärkeren beruflichen Praxisbezug haben oder weniger Prestige besitzen. Etwas zugespitzter ausgedrückt: Die institutionelle Differenzierung kann das Risiko nachträglicher Abiturient*innen erhöhen, im Hochschulsystem zu „intern Ausgegrenzten“ (Bourdieu 1998) zu werden. 5.2) Die Diskussion um die Wirksamkeit von Durchlässigkeit wird in der Forschung stark von Fragen der Verbesserung von Chancen zwischen Sozialschichten (vertikale Ungleichheit) dominiert. Horizontale Ungleichheit z. B. nach dem Zuwanderungshintergrund ist bislang kaum betrachtet worden. Die Bildungsbeteiligung von Schüler*innen mit türkischem Zuwanderungshintergrund in niedrigeren Bildungsgängen ist in Deutschland verhältnismäßig hoch, sodass Durchlässigkeit für diese Gruppe äußerst wichtig wird, um eine Bildungsintegration über die Möglichkeit von Bildungsaufstiegen zu fördern. 5.3) Durchlässige Bildungsstrukturen fördern die Komplexitätssteigerung des Bildungssystems, sodass schichtspezifische Informationsvorsprünge zu Vorteilen beim nachträglichen Bildungserwerb werden. Ein solches System wäre ineffizient für die Reduktion von Ungleichheit. Sind aus diesem Grund Alternativen zu Durchlässigkeit in Sicht?
5.1 Durchlässigkeit und Ungleichheit bei der Studienwahl Studien zur schichtspezifischen Ausbildungswahl zwischen Aufsteiger*innen und regulären Abiturient*innen liegen bislang in geringer Zahl vor. Eine konditionale Analyse von Bildungsverläufen von Realschüler*innen ergab, dass nur ein kleinerer Verlaufstyp (ca. 5 % aller Verläufe) klar durch akademische Aufstiege gekennzeichnet ist, d. h. Abitur und anschließendem Hochschulbesuch. Fast doppelt so häufig werden sogenannte „Doppelqualifikationen“ (ca. 11 %) verfolgt, d. h. Abitur mit anschließender Berufsausbildung (Winkler 2017). Werden Nachholer*innen und reguläre Abiturient*innen miteinander verglichen, zeigen sich in einer Studie für Baden-Württemberg keine Unterschiede in der Studienintention zwischen Absolvent*innen der allgemeinen und beruflichen Gymnasien. Trotz unterschiedlicher sozialer Zusammensetzung beider Schulformen werden keine ungleichen Studienintentionsquoten berichtet (Watermann und Maaz 2006). Für den Übergang in die Hochschule lässt sich feststellen, dass etwa 77,1 % der Absolvent*innen vom allgemeinen Gymnasium ein Studium wählen, während sich dafür nur 69,8 % der Schüler*innen vom beruflichen Gymnasium entscheiden.
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Unter Kontrolle der Sozialschichtzugehörigkeit bleiben schulformspezifische Unterschiede in der Chance, ein Studium aufzunehmen, bestehen (Maaz 2006, S. 216). Mit Daten ihrer sächsischen Schülerbefragung bestätigen Becker und Hecken (2008) ebenfalls, dass unter Kontrolle von Determinanten, die die Studienwahl herkunftsspezifisch erklären, Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit, sich für ein Universitätsstudium oder eine berufliche Lehre zu entscheiden, zwischen Absolvent*innen der beiden Schulformen noch in geringem Umfang bestehen. Studienanfänger*innen aus dem beruflichen Gymnasium haben ferner eine größere Orientierung für die praxisnahen Studiengänge der Fachhochschulen und Berufsakademien (Becker und Hecken 2008; Maaz 2006; Trautwein et al. 2006). Berufliche Gymnasien, die allgemeine und berufliche Lerninhalte vermitteln, scheinen dahingehend Aspirationen ihrer Schüler*innen zu kanalisieren. Waterman und Maaz (2006) zeigen auch, dass deutliche Unterschiede in den schulischen Leistungen in Mathematik und Englisch zwischen den Schulformen bestehen. Auch die erreichte Abiturnote am beruflichen Gymnasium ist um ca. 0,3 Punkte niedriger. Ungleiche Kompetenzstände in diesen Fächern werden zwischen beiden Schulformen auch für Schleswig-Holstein berichtet (Leucht et al. 2016). Die durchschnittlich schlechtere schulische Leistung am beruflichen Gymnasium kann die Absolvent*innen in der Wahl selektiverer Studienfächer an den Universitäten einschränken. Biewen und Tapalaga (2017, S. 88) bestätigen die größere Praxisorientierung nachträglicher Aufsteiger*innen. Zwar entscheiden sich die nachträglichen Aufsteiger*innen nicht signifikant seltener für ein Studium als ihre Peers, die das Gymnasium direkt durchlaufen haben. Allerdings studiert die erstgenannte Gruppe signifikant häufiger an Fachhochschulen als an Universitäten. Für horizontale Differenzierung im Hochschulfeld werden folglich unterschiedliche Studienwahlen zwischen Nachholer*innen und regulären Abiturient*innen berichtet. In Bezug auf vertikale Differenzierung finden Weiss und Schindler (2017, S. 86) mit Daten der DZHW-Studienanfängerbefragung und des CHE-Ranking, dass sich nachträgliche und traditionelle Abiturient*innen unter Kontrolle sozialer Herkunft signifikant darin unterscheiden, ob sie in einem Studienprogramm einer Hochschule eingeschrieben sind, die von Studierenden ein hohes Rating erhielt. Die bisherigen Ergebnisse sprechen dafür, dass sich die Intentionen für ein Studium zwar nicht zwischen Nachholer*innen und den direkt zum Abitur gelangten Schüler*innen unterscheiden, allerdings entscheiden sich die Aufsteiger*innen etwas seltener für ein Studium und studieren häufiger an Berufsakademien oder Fachhochschulen. Diese Effekte scheinen sozialen Herkunftsunterschieden zwischen den Schüler*innenschaften geschuldet zu sein. Trotz allgemeiner HZB, die die nachträglichen Abiturient*innen mithilfe durchlässiger
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Bildungsstrukturen erwerben konnten, bleiben Unterschiede beim Übergang in die Berufsausbildung und in das institutionell differenzierte Hochschulsystem bestehen. Inwieweit diese Ungleichheit auf Selbst- oder Fremdselektion beruhen, ist abschließend nicht geklärt.
5.2 Durchlässigkeit und horizontale Ungleichheit Chancenungleichheit ist in Deutschland nicht nur nach sozialer Herkunft, sondern insbesondere auch entlang der ethnischen Herkunft festzustellen. In den alten Bundesländern lernen vor allem Schüler*innen mit türkischem Zuwanderungshintergrund bedeutend häufiger an Hauptschulen als Schüler*innen ohne Zuwanderungshintergrund und erreichen seltener höhere Bildungsabschlüsse (Kristen 2002; A. G. Müller und Stanat 2006). Aufgrund einer oftmals nachteiligen sozialen Herkunft, die am Grundschulübergang auf ein frühes Selektionssystem trifft, gelangen sie überproportional oft in niedrige Bildungsgänge, weisen deshalb ein größeres Risiko für Marginalisierung auf und sind daher mit weniger Lebenschancen im Lebenslauf ausgestattet. Das Erreichen des Hauptschulabschlusses erweist sich in der Folge als Hemmnis für die Lehrstellensuche und erschwert den Einstieg in den Arbeitsmarkt (Protsch 2014; Solga 2005). Durchlässigen Schulstrukturen kann für die Bildungsintegration Heranwachsender mit Zuwanderungsgeschichte eine wichtige Rolle zukommen. Eulenberger (2013) zeigt, dass die Mehrheit von Hauptschulabsolvent*innen mit Zuwanderungshintergrund den Übergang an der ersten Schwelle erfolgreich bewältigt. Sie setzen den Bildungserwerb an weiterführenden Schulen entweder unmittelbar oder nach einjährigem Verbleib im Übergangssystem fort. Kurz und Böhner-Taute (2016) bestätigen, dass Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund tatsächlich häufiger als ihre Peers ohne Zuwanderungshintergrund nachträgliche Bildungsoptionen am Gymnasium nach Ende der Sekundarstufe I nutzen – allerdings nur, wenn man den Bildungshintergrund der Eltern berücksichtigt. Ihre höhere nachträgliche Bildungsbeteiligung wird demnach nur beobachtet, wenn die familialen Bildungsressourcen zwischen Heranwachsenden mit und ohne Zuwanderungshintergrund vergleichbar sind. Insgesamt scheinen durchlässige Bildungsstrukturen für Schüler*innen mit Zuwanderungshintergrund zwar Aufstiegspotentiale zu eröffnen, allerdings scheinen Effekte der sozialen Herkunft darauf einen Einfluss zu nehmen. Genauere Analysen fehlen nach derzeitigem Stand.
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5.3 Alternativen zu Durchlässigkeit Durch die weiterhin bestehende soziale Selektivität am Grundschulübergang sind Angehörige unterer und mittlerer Sozialschichten auf durchlässige Bildungsstrukturen angewiesen, um die Hochschulreife doch noch zu erreichen. Institutionell gesehen lassen sich alternative Wege zum Abitur daher als ein Kompromiss interpretieren, bei dem an früher Selektion und Verteilung auf Schulformen festgehalten wird, aber nachträgliche Richtungswechsel möglich bleiben (Winkler 2017). Die Erweiterung der Wege zur Hochschulreife stellt insofern zwar eine Modernisierung bzw. Transformation des Bildungssystems dar, ist aber vor allem eine institutionelle Ergänzung zur Ausschöpfung von Begabungsreserven (Henz 1997c; Köller et al. 2013), die das sozial selektive Zuweisungssystem ins gegliederte Schulsystem nach der Grundschulzeit beibehält. Ob ein solches System, das ein großes Risiko für Fehlallokationen trägt, überhaupt wirksam Selektionen mit Hilfe von Durchlässigkeit korrigieren kann, wurde von Dustmann und anderen (2017) untersucht. Sie machen sich eine Quasi-Randomisierung der Zuteilung von Schüler*innen in Bildungsgänge zunutze: Diejenigen, deren Geburtstag nah am Stichtag für die Einschulung liegt, werden entweder früher (wenn ihr Geburtstag im Juni liegt) oder später (wenn ihr Geburtstag im Juli liegt) eingeschult. Am Ende der Grundschule sind die früher eingeschulten Kinder deutlich jünger (ca. 9 Jahre) als die später eingeschulten (ca. 10 Jahre). Beim Grundschulübergang ist die Wahrscheinlichkeit, in einen niedrigeren Bildungsgang zu kommen, für die früher eingeschulten Kinder größer, weil das Einschulungsalter mit schulischer Leistung korreliert. Das Einschulungsalter und damit die Leistung sind durch das Studiendesign nur vom Geburtsmonat abhängig und in diesem Fall nicht von der sozialen Herkunft. Dies bestätigt die Untersuchung empirisch. Im Erwachsenenalter finden sich für diese beiden kleinen Gruppen schließlich keine ungleichen Effekte im erreichten Lohnniveau, in der beruflichen Stellung oder für Arbeitslosigkeit. Die Studie begründet dies damit, dass sukzessive Übergangsmöglichkeiten am Ende der Sekundarstufe I die hohe Wahrscheinlichkeit von Fehlallokationen in Bildungsgänge bei früher Einschulung langfristig kompensieren. Wäre also die Zuteilung streng meritokratisch und wären Leistungen nicht sozial ungleich verteilt, gleicht ein durchlässiges Schulsystem offenbar die Unterschiede zu Beginn des Bildungsverlaufs langfristig aus und zementiert diese nicht. Durchlässigkeit als Instrument zur Steigerung von Chancengleichheit kann sich dennoch als ineffizient erweisen. Die geschaffenen indirekten Wege zur
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Hochschulreife sind enorm vielfältig und schwer zu überblicken: sie umfassen Schulformwechsel, sukzessiven Zertifikaterwerb, sowohl im allgemeinbildenden als auch berufsbildenden Schulsystem, für das im jeweiligen Bundesland spezifische Bildungseinrichtungen geschaffen wurden, und schließlich auch den Zweiten Bildungsweg und seine Institutionen. Für das Beibehalten des mehrgliedrigen Schulsystems mit früher Selektion wird mit der Aufblähung und Komplexitätssteigerung des Systems durch die Schaffung von Korrekturmöglichkeiten ein hoher Preis gezahlt. Die Bildungsforschung argumentiert, dass bei der Bildungswahl Informationen über das Bildungssystem eine wichtige Determinante darstellen, deren Verfügbarkeit jedoch schichtspezifisch variiert (Becker 2000; Kristen 1999). Verschiedene Reformvorschläge, die das Bildungssystem durchlässiger machen können, aber nicht an einer Komplexitätssteigerung mittels alternativer Bildungswege ansetzen, werden in der Literatur diskutiert. So werden z. B. integrierte Schulformen oder Gemeinschaftsschulen als Institutionen vorgeschlagen (Ruep 2014), die das mehrgliedrige System in Teilen entdifferenzieren. Daneben finden sich Vorschläge zur Stärkung des Elternwillens beim Grundschulübergang (Schuchart 2006) oder zur Erhöhung der Gymnasialquote (Trautwein et al. 2011). In Abschn. 2 wurde bereits diskutiert, dass gemischte Befunde zum Effekt des Elternwillens am Grundschulübergang vorliegen. Teilweise werden sogar bessere Chancen für den Übergang ins Gymnasium für Kinder aus niedrigeren Sozialschichten berichtet, wenn die bindende Kraft von Empfehlungen gestärkt wird (Dollmann 2011). Vorstöße zur Erhöhung der Gymnasialquote setzen quasi an der Fortsetzung der Bildungsexpansion an, indem Bildungsniveaus der Eltern gesteigert werden, wodurch die Kindergeneration profitiert. Allerdings werden Effekte erst langfristig auftreten und die erhofften Ergebnisse können nicht mit absoluter Sicherheit antizipiert werden (Becker und Schuchart 2010). Evaluationen zur Umstellung auf ein zweigliedriges System mit Gymnasium und integrierter Sekundarschule (ISS) in Berlin ergaben, dass der Übergang in geringem Umfang durch sekundäre Herkunftseffekte gekennzeichnet ist, aber vor allem auf sozial ungleichen Leistungen beruht (Dumont et al. 2013). Bei nachträglichen Schulformwechseln zwischen ISS und Gymnasium, die als nachträgliche Selektion fungieren können, wird beobachtet, dass nach Kontrolle von schulischen Leistungen keine Effekte der sozialen Herkunft verbleiben (Albrecht et al. 2018). Dies deutet insgesamt auf das Vorhandensein von primären Herkunftseffekten hin. Ob Zweigliedrigkeit zu einer Verbesserung der Startchancen beiträgt, bleibt angesichts dieser Ergebnisse weiterhin fraglich.
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6 Schluss Der Beitrag untersuchte, ob durchlässige Bildungsstrukturen zu einer Verbesserung von Chancengleichheit geführt haben. Aufgrund der aktuellen Studienlage kann diese Frage am besten für Ungleichheit nach sozialer Herkunft betrachtet werden. Bei der Entwicklung durchlässiger Bildungsstrukturen haben vor allem die sukzessiven Bildungsübergänge, d. h. jene Bildungsentscheidungen nach vorherigem Erwerb eines Schulabschlusses, größere Bedeutung erlangt als Schulformwechsel während der Sekundarstufe I. Deshalb ist die Untersuchung der Veränderung sozialer Ungleichheit vor allem vor dem Hintergrund sukzessiver Übergänge zentral. In der konditionalen Perspektive, d. h. am nachträglichen Übergang selbst, haben zahlreiche Studien ein Bestehen sozialer Ungleichheit festgestellt, der sich jedoch über den Verlauf von Schüler*innenkohorten leicht vermindert hat. In der Bestandsperspektive ist die Befundlage insgesamt ähnlich, was jedoch zuletzt durch eine Studie mit anderem Untersuchungsdesign angezweifelt wurde. Die Tatsache, dass sich Chancenungleichheit an Bildungsübergängen und -ergebnissen nur leicht verbessert hat, wird in einem großen Teil der Literatur als Beleg gesehen, dass die Wirkung durchlässiger Bildungsstrukturen für den Abbau sozialer Ungleichheit eingeschränkt ist. Durchlässigkeit scheint in mittleren Sozialschichten vor allem zur Sicherung des Sozialstatus eine entscheidende Rolle zu spielen und weniger für Aufstiege im sozialen Statusgefüge mithilfe akademischer Bildung. Der Realschule kommt dabei eine neue Rolle zu, da sie für diese Sozialschichten Pfade zum Abitur bahnt, welches für einen wachsenden Teil nichtakademischer Berufsausbildungen erforderlich ist. Für sukzessive Übergänge, die Wege in Hochschulbildung einleiten, werden Folgeprobleme hinsichtlich sozialer Ungleichheit beobachtet. So haben insbesondere nachträgliche Abiturient*innen die größere Wahrscheinlichkeit, vom Studium an einer Universität „abgelenkt“ zu werden und stattdessen an einer Fachhochschule oder Berufsakademie zu studieren. Dieser Effekt wird von der sozialen Herkunft der Schüler*innen beeinflusst. Insgesamt hat der Literaturüberblick ergeben, dass sich im gegenwärtigen deutschen Bildungssystem kein Königsweg ausmachen lässt, der zu einer substantiellen Reduktion von Chancenungleichheit beiträgt. Durchlässigkeit ist dennoch alles andere als zu verwerfen. Sie hat zu einer unbestrittenen Erhöhung des formalen Bildungsniveaus in der Bevölkerung beigetragen, Übergangsentscheidungen flexibilisiert und liberalisiert und so zu einer bemerkenswerten Entkopplung von Bildungsweg und Bildungsabschluss beigetragen. Tatsächlich wurde durch die Modernisierung des Bildungssystems ein eingeschlagener Bildungsgang nicht zu einer Sackgasse.
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Meritokratie, Gate-Keeper und Bildungsentscheidungen: Reproduktion von Ungleichheit durch die Herstellung von Übergängen Andreas Walther Zusammenfassung
Dass Bildungsübergänge für die Reproduktion ungleicher Gesellschaften eine hohe Funktionalität haben, hat schon Goffman, (Psychiatry, 15(4):451– 463, 1952) unter dem Begriff ‚Cooling Out‘ analysiert. Sowohl die aus einer bildungssoziologisch orientierten Lebensverlaufsforschung hervorgegangene als auch die eher biografieanalytische Übergangsforschung gehen dabei von Übergängen als selbstverständlichen ‚sozialen Tatsachen‘ aus. In diesem Beitrag soll es darum gehen, das Verhältnis von Bildung, Ungleichheit und Übergängen im Lebenslauf zu beleuchten, indem danach gefragt wird, wie im Zuge der Hervorbringung von Übergängen im Lebenslauf im Allgemeinen und von der Schule in den Beruf im Besonderen Strukturen und Prozesse sozialer Ungleichheit reproduziert werden. Dazu wird die Entwicklung der Übergangsforschung sowie die Durchsetzung einer primär verlaufsorientierten Perspektive auf Übergänge rekonstruiert und mit einem Ansatz des ‚Doing Transitions‘ kontrastiert, wonach Übergänge im Zuge ihrer Gestaltung in Wechselbeziehungen zwischen diskursiven, institutionellen und individuellen Modi ständig neu hergestellt werden. Diese Perspektive wird mittels aktueller Forschungsbefunde zur Gestaltung und Herstellung von Übergängen von der Schule in den Beruf konkretisiert.
A. Walther (*) Goethe-Universität Frankfurt a.M., Frankfurt a.M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Thiersch et al. (Hrsg.), Individualisierte Übergänge, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23167-5_4
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Schlüsselwörter
Cooling out · Doing Transitions · Übergang Schule-Beruf · Diskurs · Institution · Individuum · Berufsorientierung · Soziale Ungleichheit
Einleitung Übergänge in und zwischen Bildungseinrichtungen sowie aus dem Bildungssystem ins Erwerbssystem gelten seit langem als ‚Sollbruchstellen‘ in Lebensläufen, weil sie Einfluss auf den weiteren Lebensverlauf bzw. die gesellschaftliche Positionierung haben, weil sie darin gelingen oder scheitern können und weil darüber soziale Ungleichheit reproduziert und legitimiert wird. Dass Bildungsübergänge für die Reproduktion ungleicher Gesellschaften eine hohe Funktionalität haben, hat schon Goffman (1952) unter dem Begriff ‚Cooling Out‘ analysiert und nicht zufällig ist die Übergangsforschung der letzten Jahrzehnte aus einer bildungssoziologisch orientierten Lebensverlaufsforschung hervorgegangen (siehe unten). Dementsprechend fragt Übergangsforschung in erster Linie, wer bestehende Übergänge wie bewältigt und wie sich dies jeweils im Lebensverlauf niederschlägt. Auf der einen Seite hat sie, nicht zuletzt durch den lange Zeit ausschließlichen Fokus auf den Übergang Jugendlicher von der Schule in den Beruf, vielfältige Erkenntnisse zur Bedeutung des Bildungsabschlusses für die Positionierung auf dem Arbeitsmarkt hervorgebracht. Auf der anderen Seite thematisieren Studien inzwischen auch Übergänge als biografische Wendepunkte und als Anlass für biografische Bildung. Dabei haben sich weder die Bildungsnoch die Übergangsforschung systematisch theoretische Gedanken gemacht, was Übergänge sind bzw. wie und durch wen sie zustande kommen. Fragen etwa, was Institutionen des Bildungs- und Wohlfahrtssystems oder der Arbeitsmarktpolitik tun, wenn sie Übergangsmaßnahmen einrichten und durchführen; was Jugendliche tun, wenn sie Übergänge bewältigen, wenn sie dies erfolgreich tun oder scheitern; wie es zu Vorstellungen von Erfolg und Scheitern kommt; was Forschung tut, wie sie den Gegenstand Übergänge konstituiert, wenn sie Übergangsforschung betreibt; und inwieweit sich mit dem Vollzug von Übergängen Gesellschaft vollzieht. Schröer (2015) attestiert der Übergangsforschung einen „methodologischen Institutionalismus“, weil sie institutionalisierte und normativ aufgeladene – das heißt konstruierte und damit kontingente – Übergänge im Lebenslauf als quasinatürliche Gegebenheiten bzw. im Durkheim’schen Sinne als ‚soziale Tatsachen‘ betrachtet. In diesem Beitrag soll es darum gehen, das komplexe Verhältnis von Bildung, Ungleichheit und Übergängen im Lebenslauf in vier Schritten zu beleuchten. Der
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erste Abschnitt klärt Verständnisse von Übergängen und rekonstruiert die Entwicklung der Übergangsforschung sowie die Durchsetzung einer primär verlaufsorientierten Perspektive auf Übergänge, in der Bildung als Lebenslaufinstanz und Faktor ungleicher Lebensverläufe thematisiert wird. Der zweite Abschnitt skizziert kontrastierend dazu eine Perspektive, die danach fragt, wie Übergänge zustande kommen, sodass sie eine solche sozialstrukturierende Wirkung haben können. Es wird argumentiert, dass Übergänge im Zuge ihrer Gestaltung ständig neu hergestellt werden und dass hierbei Wechselbeziehungen zwischen diskursiven, institutionellen und individuellen Ebenen und Modi eine zentrale Rolle spielen. Diese Perspektive wird mittels aktueller Forschungsbefunde zur Gestaltung und Herstellung von Übergängen von der Schule in den Beruf konkretisiert. Abschließend werden zentrale Aspekte des Verhältnisses von Bildung, Ungleichheit und Übergängen zusammengefasst und offene Forschungsfragen skizziert.
1 Die Entwicklung der Übergangsforschung: von der Anthropologie über die Soziologie zur Pädagogik Der Begriff ‚Übergang‘ wird alltagssprachlich vor allem für eine Bewegung zwischen zwei fest definierten Punkten benutzt, für Ortswechsel des (Hin) Übergehens, Überquerens, Eintretens oder Weggehens (z. B. Grenzübergang, Bahnübergang). Das darin enthaltene ‚Dazwischen‘ ist durch aktive Bewegung (‚gehen‘) zu ‚überwinden und weil darin potenzielle Risiken enthalten sind, sind Übergänge geregelt, d. h. an bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen geknüpft. Der sozialwissenschaftliche Übergangsbegriff hat eine doppelte Bedeutung: zum einen als Synonym sozialen Wandels zwischen gesellschaftlichen Formationen, zum anderen und vor allem als sozialer Zustandswechsel in individuellen Lebensverläufen. In der zeitlichen Perspektive des Lebenslaufs bzw. der Lebensspanne bezeichnen Übergänge Wechsel zwischen aufeinander folgenden Rollen, Lebensaltersphasen und Statuspositionen, aber auch zwischen Zuständen innerhalb von Lebensaltern wie etwa zwischen unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit, zwischen Alleine-, in Beziehung- oder in Familie-Leben, zwischen Krankheit und Gesundheit usw. (vgl. Schröer et al. 2013). Dabei wird auch (im Anschluss an Bronfenbrenner 1981) zwischen sogenannten normativen Übergängen, die im Rahmen des institutionalisierten Lebenslaufs zu bewältigen sind, und nicht-normativen Übergängen unterschieden, die nicht vorhergesehen sind und
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sich erst aus den Wechselfällen des Lebens ergeben. In der Übergangsforschung finden sich unterschiedliche Begriffe für Übergänge in unterschiedlichen historisch-gesellschaftlichen wie auch disziplinären Kontexten, die im Zuge einer kurzen Rekonstruktion der Geschichte der Übergangsforschung verortet werden. Die Wurzeln der Übergangsforschung liegen in der Anthropologie, die seit dem 16. Jahrhundert Initiationsriten als Zugang zum Verständnis fremder Gesellschaften untersuchte, wobei wissenschaftliche und (kolonial)politische Erkenntnisinteressen von Anfang an eng verknüpft und in dieser Verknüpfung wenig transparent waren (vgl. Matthes 1992). Klassische Versuche einer allgemeinen Bestimmung von Übergängen definierten Übergänge als Universalie menschlicher Entwicklung und Vergesellschaftung, so etwa van Gennep (1986, S. 15): „In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums darin, nacheinander von einer Altersstufe zur nächsten und von einer Tätigkeit zur anderen überzuwechseln. Wo immer zwischen Alters- und Tätigkeitsgruppen unterschieden wird, ist der Übergang von einer Gruppe zur anderen von speziellen Handlungen begleitet … Es ist das Leben selbst, das die Übergänge von einer Gruppe zur anderen und von einer sozialen Situation zur anderen notwendig macht.“ Anhand von Übergängen werden Entwicklungsstadien unterschieden und Menschen unterschiedliche Bedürfnisse und Fähigkeiten zugeschrieben, unterschiedliche Rollen im Prozess gesellschaftlicher Arbeitsteilung zugewiesen und unterschiedliche Statuspositionen zuerkannt. Sie sind damit Konstitutionsbedingung eines institutionalisierten Lebenslaufs und erfüllen so individuelle, gemeinschaftsbezogene und gesellschaftliche Funktion, Individuen auf neue Rollen vorzubereiten. Van Gennep (1986) unterschied dabei eine Trennungsphase vom alten Status, charakterisiert durch Ablösungsriten, eine Schwellenphase mit Riten der Ab- oder Aussonderung und eine Phase der Angliederung an den neuen Status, symbolisiert durch Einsetzungsriten. Turner (1969) spricht von einer Dialektik von Struktur und Anti-Struktur von Übergängen. Zum einen dient die Separierung der Übergangssubjekte in der Schwellenphase der Organisation impliziter oder expliziter Lern- und Erziehungsprozesse. Diese vollziehen sich außerhalb etablierter sozialer Positionen, sind dabei doch auf diese bezogen (Eisenstadt 1956). Zinnecker (2000) hat dies in Bezug auf den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter als „Bildungsmoratorium“ charakterisiert. Zum anderen führt die Separierung vor allem dort, wo sie sich im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung und dementsprechend steigenden Anforderungen der Vorbereitung auf neue Lebensphasen über immer längere Zeiträume erstreckt, zur Bildung von Gruppen Gleichaltriger und ihrer provisorischen Vergemeinschaftung als Gleichbetroffene.
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Formen solcher Vergemeinschaftung oder ‚comunitas‘ in der Schwellenphase von Übergängen (Turner 1969) sind etwa Jugendkulturen als Indikatoren der Ausdifferenzierung einer eigenständigen Jugendphase. Aus der skizzierten Dialektik von Struktur und Anti-Struktur ergibt sich, dass Übergänge Momente der Unsicherheit und Ungewissheit im Vergesellschaftungsprozess darstellen: unsicher, weil sie sich in Zwischenräumen zwischen gesellschaftlich abgesicherten Positionen vollziehen; gleichzeitig ist aus institutioneller Perspektive ungewiss, ob die Übergangssubjekte die zugewiesenen Rollen entsprechend der jeweils herrschenden Normalität annehmen, aus individueller Perspektive, wohin es mit den Übergängen geht – und ob und wie es gelingen wird neue Rollen und Aufgaben in das eigene Selbst zu integrieren. Diese Ungewissheit und Unsicherheit hat sich in ritualisierten und institutionalisierten Verfahren der Gestaltung von Übergängen wie Markern, Abläufen und Akteur*innen niedergeschlagen. Übergänge „… sind bestimmt von klaren Regeln bezüglich des Zeitpunktes, zu dem der Statuswechsel vollzogen werden sollte, von wem und durch wessen Vermittlung. Darüber hinaus existieren vorgeschriebene Sequenzen einzelner Schritte … sowie regulierte Handlungen …, damit die Passage als bewältigt gilt.“ (Glaser und Strauss 1971, S. 3). Die neuere Übergangsforschung seit Mitte der 1980er knüpft weniger an diese anthropologische und ethnomethodologische Tradition als an die soziologische Bildungs- und Lebenslaufforschung an (Elder 1985; Kohli 1985; Beck 1986; Blossfeld und Mayer 1988; Heinz 1991, 2000). Sie ist sowohl Ausdruck der Frage nach Chancen und Grenzen sozialer Mobilität im Lebensverlauf als auch nach der Stabilität oder dem Wandel des standardisierten Normallebenslaufes. Dieses „Lebenslaufregime“ (Kohli 1985) wurde in der Moderne als Drei-Phasen-Modell basierend auf Schulpflicht und der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung von Erwerbsverläufen institutionalisiert und durch typisierende Normalitätsdiskurse kulturell legitimiert. Seine Hochphase war die ökonomische, soziale und sozialpolitische Konstellation des Fordismus mit den geschlechterdifferenzierten Lebensläufen des Facharbeiters und – komplementär hierzu – der Hausfrau als erreichbar geltenden Prototypen des ‚guten Lebens‘. Vergleichende Studien haben gleichzeitig die Varianz und Kontextabhängigkeit solcher Normallebensläufe von Wohlfahrts-, Bildungs- und Arbeitsmarktstrukturen gezeigt (vgl. Lessenich 1995; Walther 2011). Das Ende der fordistischen Konstellation bedeutete auch die Abnahme der Erreichbarkeit und Gültigkeit dieses Normallebenslaufs. Flexibilisierung von Erwerbsarbeit, Grenzen des Wohlfahrtsstaats, aber auch soziokulturelle Emanzipationsbewegungen, erhöhte Bildungsabschlüsse und Erwerbsansprüche
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quer zu den Geschlechterrollen trugen sukzessive zur Individualisierung und Entstandardisierung des Lebenslaufes bei. Unsicherheit und Ungewissheit, die während des fordistischen „kurzen Traums immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) verdrängt waren, kamen wieder zum Vorschein. Erster zentraler Gegenstand dieser neuen, eher lebensverlaufsbezogenen Thematisierung von Übergängen war – angetrieben durch nationale wohlfahrtsstaatliche Institutionen und internationale Organisationen wie OECD und Europäische Kommission – das Phänomen Jugendarbeitslosigkeit. Es entwickelte sich eine „Übergangsforschung“ (Brock 1991), die vor allem danach fragt(e), wer bzw. welche Jugendlichen in welchen sozioökonomischen, wohlfahrtsstaatlichen und Bildungskontexten den höchsten Ausgrenzungsrisiken ausgesetzt sind und welche strukturpolitischen und/oder pädagogischen Maßnahmen diese am wirksamsten kompensieren (vgl. Europäische Kommission 2012). Damit konstituierte sie sich als Wissensproduzentin für eine wohlfahrtsstaatliche und bildungspolitische Aktivierung von Individuen als Humankapital und Arbeitskraftunternehmer/-innen durch Programme, die eine oft schwer zu dechiffrierende Mischung aus Restandardisierung und fortschreitender Destandardisierung des Normallebenslaufs darstellen; zum Beispiel Absicherung des Systems dualer Berufsausbildung und Unterscheidung von U25 und Ü25 im Jobcenter versus das Unterlaufen von aus dem Berufsprinzip abgeleiteten standardisierten Zumutsbarkeitskriterien im Falle von Langzeitarbeitslosigkeit (vgl. Ludwig-Mayerhofer 2014). Politisch relevante institutionelle Indikatoren wie Raten von Jugendarbeitslosigkeit und neuerdings ‚Early School Leaving‘ bestimmen seitdem weitgehend, ob Übergänge als riskant und unterstützungsbedürftig adressiert und untersucht werden (vgl. Walther 2011). In der Fokussierung der neueren Übergangsforschung auf das ‚Unterkommen‘ in Arbeit dokumentiert sich die Deutungsmacht eines hegemonialen arbeitsmarktbezogenen Diskurses, Schröer (2015) spricht von einem „methodologischen Institutionalismus“. Dies bedeutet gleichzeitig eine dreifache Reduktion von Übergängen: erstens auf Jugend, zweitens auf Arbeit und drittens auf Probleme, d. h. auf vor dem Hintergrund der Normalitätsannahme linearer Lebensläufe als riskant markierte Verläufe. Dies zeigt sich auch noch im Begriff des ‚Übergangssystems‘ (bzw. ‚Übergangsbereichs‘), der nur den Bereich kompensatorischer Maßnahmen für Jugendliche ohne Ausbildung bezeichnet (siehe Autorengemeinschaft Bildungsberichterstattung 2008). Die Funktion der Übergangsforschung lässt sich damit – ähnlich wie die der Jugendforschung (vgl. Hornstein 1999) – ideologiekritisch als Stellvertreterdiskurs deuten, der gesellschaftliche Konflikte und Integrationsprobleme lebensaltersspezifisch zuschreibt, pädagogisiert und so die Fiktion eines gültigen, linearen Normallebenslaufes mit einem
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e rreichbaren, durch volle Teilhabe gekennzeichneten Erwachsenenalter aufrechterhält. Dieser durch institutionelle Indikatoren reproduzierte Fokus macht die Übergangsforschung zu einer politischen und normativen Angelegenheit. Sie reproduziert Zuschreibungen von Differenzen und Defiziten und legitimiert so eine Pädagogisierung riskanter Übergänge durch individualisierende und kompensatorische Formen der Bearbeitung (vgl. Galuske 2005; Pohl 2015). Dieser Diskurs enthält gleichzeitig eine neue Thematisierung der Reproduktion sozialer Ungleichheit: Die Konjunktur des Begriffs ‚benachteiligte Jugendliche‘ seit den 1980er Jahren beinhaltet einen Perspektivwechsel von ungleichen Statuspositionen im fordistischen Lebenslaufregime hin zu Risiken der Ausgrenzung aus dem postfordistischen Lebenslaufregime, innerhalb dessen Übergänge zu Kristallisationsmomenten eines individualisierten Wettlaufs um knapper werdende Positionen vollständiger gesellschaftlicher Teilhabe werden (vgl. Castel 2000). Inzwischen haben sich die unter dem Begriff ‚Übergangsforschung‘ subsumierten Forschungsfelder – ausdifferenziert und durch die Integration komplementärer Forschungsperspektiven, die den skizzierten methodologischen Institutionalismus relativieren, an Reflexivität gewonnen: • Die sozial- und erziehungswissenschaftliche Biografieforschung analysiert Prozesse der Vergesellschaftung im Lebenslaufregime konsequent aus der Subjektperspektive als Wechselverhältnis zwischen den Lebenslaufinstitutionen als „Stichwortgebern“ und deren Aktualisierung durch die Individuen. Konzepte wie Biografisierung, Biografizität und Prozessstrukturen des Lebenslaufs sensibilisieren dafür, dass subjektive Lebensgeschichten zwar nicht unabhängig von, aber anders verlaufen als ‚normale‘ Lebenslaufskripts und legen dabei transformative Bildungsprozesse frei (vgl. Schütze 1983; Alheit und Dausien 2000). • Die sozial- und entwicklungspsychologische Transitionsforschung entwickelte sich parallel zur Übergangsforschung (vgl. Welzer 1993). Sie fragt stärker nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten persönlicher Entwicklungsprozesse, ohne das Wechselverhältnis mit der Außenwelt des Lebenslaufs aus dem Blick zu verlieren. • Forschung aus einer Perspektive auf Lebensbewältigung hat ermöglicht, als abweichend etikettierte Handlungsweisen wie etwa Bildungsabbrüche Jugendlicher als Versuche des Erhalts, der Wiedergewinnung oder Erweiterung biografischer Handlungsfähigkeit angesichts der abnehmenden Erreichbarkeit des wohlfahrtsstaatlichen Normallebenslaufs zu deuten (Böhnisch und Schefold 1985; Böhnisch 2009; Walther 2016).
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• Differenzierungskritische Analysen haben die Rolle institutioneller Segmentierung und Diskriminierung in Bildung, Ausbildung und Übergangshilfen herausgearbeitet (Lex et al. 1997; Gomolla und Radtke 2002; Scherr 2015). Diese weitgehend unabhängig voneinander entwickelten Perspektiven ermöglichten es, die vorherrschende verlaufsorientierte, normalisierende und defizitorientierte Übergangsforschung zu erweitern. So ergänzte die Subjektorientierte Übergangsforschung (Stauber et al. 2007) die Analyse von Übergängen junger Frauen und Männer in Arbeit um Fragen ihrer subjektiver Relevanz und Vereinbarkeit mit anderen Lebensbereichen und Teilübergängen. Besonders in Studien zur wohlfahrtsstaatlich übergangenen und vor allem durch die Fragmentierung und Verlängerung des Übergangs ins Erwachsensein charakterisierten Lebenslage Junge Erwachsene (Stauber und Walther 2013) kamen sukzessive auch Übergänge in anderen Lebens- und Vergesellschaftungsbereichen in den Blick wie etwa Wohnübergänge (Meuth 2018), Familiengründung (Stauber 2011; Hof 2014), Übergänge ins Studium (von Felden und Schiener 2010). Inzwischen werden auch soziale Zustandswechsel in anderen Lebensaltern wie der frühen Kindheit (Cloos et al. 2013), im Erwachsenenalter (Schmidt-Lauff et al. 2015) oder im höheren Alter (Oswald und Franke 2014) als Übergänge thematisiert und erforscht. Übergänge bieten offensichtlich einen plausiblen Zugang zu unterschiedlichen Themen und Forschungsgegenständen, auch wenn sie dabei ganz unterschiedlich definiert werden. Umso wichtiger erscheint es gerade bei der Frage nach dem Verhältnis von Bildung, Übergängen und Ungleichheit eine Forschungsperspektive zu vermeiden, die sich darauf beschränkt zu fragen, wer welche Übergänge unter welchen Bedingungen schafft (oder nicht), die Bildung auf einen Inputfaktor sowie auf die institutionelle Rahmung von Übergängen reduziert und Übergänge als quasi-natürliche Gegebenheiten reifiziert. Der Übergangsbegriff ist deshalb zuallererst eine fruchtbare Heuristik für individualisierte, reversible und fragmentierte Formen der Vergesellschaftung jenseits linearer Lebensverläufe (Stauber und Walther 2013).
2 „Doing Transitions“: Zur Herstellung von Übergängen im Zuge ihrer Gestaltung Im Folgenden sollen Umrisse einer reflexiven Übergangsforschung entworfen werden, die Übergänge nicht als selbstverständlich gegeben ansieht. Zu ihrem Programm gehört es die Konstruktion von Übergängen selbst zum
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orschungsgegenstand zu machen. Diese Perspektive setzt sich dezidiert von F einem punktuellen, linearen auf eine Perspektive des Ankommens reduzierten Übergangsbegriff ab. Statt einer Fokussierung auf die Outcomes von Übergängen, nimmt sie deren praktischen Vollzug, die Gestaltung und damit die Herstellung, die Prozesse der Hervorbringung von Übergängen in den Blick. Dies beinhaltet auch Anschlussstellen für eine Bildungsforschung, die über formalen Bildungserfolg hinausgeht und stärker auch Bildungsprozesse untersucht (vgl. Koller 2012; Ahmed et al. 2013; Grundmann und Wiezorek 2013). Mit Blick auf die Geschichte der Übergangsforschung heißt dies, einen Schritt zurück zu gehen: von der (eher soziologischen) Analyse der Wirkungen von Übergängen auf den Lebensverlauf zur (eher anthropologischen) Frage danach, wie es überhaupt zu diesen Übergängen kommt, wie diese Übergänge gestaltet und darüber überhaupt erst gesellschaftlich hergestellt werden. In Bezug auf das Verhältnis von Übergängen und Bildung heißt dies, Bildung nicht nur in Form des Bildungssystems als Rahmen, Ausgangs- und Zielpunkt von Übergängen und/oder als Einflussfaktor für die – entsprechend institutionalisierter Normalitätsannahmen – erfolgreiche Bewältigung von Übergängen zu sehen, sondern auch als Transformationsprozess, der an der Gestaltung von Übergängen selbst beteiligt ist. In Anlehnung an das Konzept „doing difference“ (West und Fenstermaker 1995) und praxistheoretische Perspektiven lässt sich die gesellschaftliche Herstellung von Übergängen im Sinne „sozialer Vollzugswirklichkeiten“ (Hirschauer 2004) als „doing transitions“ konzipieren. Das Forschungsprogramm des gleichnamigen Graduiertenkollegs an den Universitäten Frankfurt und Tübingen unterscheidet diesbezüglich analytisch drei Modi der Gestaltung von Übergängen (Walther et al. 2020): • die diskursive Gestaltung und Herstellung von Übergängen durch Thematisieren, Artikulieren und Ordnen von Wissen; • die institutionelle Gestaltung und Herstellung durch Regulierung, Normierung und Koordinierung, aber auch durch Symbolisierung und Ritualisierung; • die individuelle Gestaltung und Herstellung durch Lebensbewältigung, Lernen und Integration in die subjektive Lebensgeschichte (oder auch Bildung). Mit diskursiver Gestaltung von Übergängen ist zuallererst gemeint, dass soziale Situationen als Übergänge bezeichnet und problematisiert werden und übergangsspezifisches gesellschaftliches Wissen aktualisiert und produziert wird (vgl. Foucault 1981). Dass Übergänge dabei auch hergestellt werden, zeigt sich aktuell daran, dass zunehmend mehr Zustands-, Rollen- und Statuswechsel im Lebensverlauf als Übergänge adressiert werden – vom Übergang in die Kita bis
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zum Übergang ins Pflegeheim. Indem Situationen oder Lebenslagen als Übergänge bezeichnet werden, werden sie verzeitlicht im Sinne eines „nicht mehr … (jugendlich), aber noch nicht …(erwachsen)“, sie werden individualisiert, der oder die Einzelne ist im Übergang, und als individuell und institutionell gestaltbar dargestellt. Diskurse lassen sich auf der einen Seite als diskursive Praktiken verstehen, wobei Wrana (2015) folgende unterscheidet: • Gegenstandskonstruktionen, etwa von sozialen Situationen als Übergänge anstatt als kontinuierliche Entwicklungsprozesse; • Unterscheidungen, etwa zwischen Erfolg und Scheitern; • Begründungen, etwa von berufsvorbereitenden Maßnahmen, wo das Scheitern beim Übergang in Ausbildung fehlender Ausbildungsreife zugeschrieben wird; • sowie Adressierungen und Subjektpositionierungen, wo etwa Jugendlichen potenziell zugetraut und zugemutet wird, sich ‚realistisch‘ zu orientieren und ‚richtig‘ zu entscheiden. Damit lassen sich diskursive Praktiken auch als Praktiken der Normalisierung beschreiben. Diskursive Ordnungen des Sichtbaren oder Sagbaren bzw. Normalitäten (Link 2006) strukturieren typisierendes Wissen zu Jugend, Arbeit und Lebenslauf und ermöglichen, Abweichungen in „zu früh“ (Early School Leavers) oder „zu spät“ zu übersetzen, wenn man mit 20 immer noch nicht in Ausbildung – oder mit 30 immer noch nicht mit dem Studium fertig ist. Mit der diskursiven Herstellung von Übergängen findet deshalb auch eine Re-Thematisierung und Re-Normalisierung von Lebensaltern statt. Dies sieht man aktuell deutlich an der Kindheit: Kinder werden als aktive Lernende adressiert, gleichzeitig ist von einer Verdichtung der Kindheit die Rede. Dagegen erscheint das Alter, hier wird zunehmend zwischen drittem und viertem Lebensalter differenziert, zwischen der Adressierung von alten Menschen als Ehrenamtlichen, Großeltern, lebenslangen Lerner*innen bzw. Konsument*innen oder als altersarmen, pflegebedürftigen bzw. dementen Adressat*innen des Wohlfahrtsstaats, (noch) als gestaltungsoffene Diskursarena (vgl. van Dyk und Lessenich 2010). Folgt man dem 15. Kinder- undJugendbericht, schlägt aktuell die Adressierung von Jugend als ‚eigenständiger Lebensphase‘ wieder in Richtung auf die Vorbereitung aufs Erwachsenensein um. Nur Übergänge im Erwachsenenalter werden fast ausschließlich im Kontext von Lebenskrisen oder Scheitern wie Wohnungslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit, Verschuldung und Armut, Trennung oder Scheidung, Krankheit oder Sucht thematisiert. Die Vorstellung eines stabilen (und erreichbaren) Erwachsenenstatus ist funktional für die Ideologie eines linearen Normallebenslaufes im Kontext einer ungleichen Arbeitsgesellschaft (vgl. Schröer und Stiehler 2008).
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Institutionen bilden eine intermediäre Ebene der Gestaltung von Übergängen, innerhalb derer sich individuelle Übergänge vollziehen. Die Doing Transitions-Perspektive setzt einen weiten und dynamischen Institutionenbegriff voraus, der nicht nur Organisationen wie Schule oder die Agentur für Arbeit, sondern auch Ritualisierungen wie etwa die Jugendweihe erfasst. Dies ist anschlussfähig an das wissenssoziologische und neo-institutionalistische Verständnis von Institutionen als Typisierung und Habitualisierung von Handlungen (Berger und Luckmann 1969) oder von übergreifenden Erwartungszusammenhängen sowie Prozessen der Institutionalisierung, De- oder Re-Institutionalisierung zur Legitimation von Handlungen (Hasse und Krücken 2005, S. 64 ff.). Bei der institutionellen Gestaltung und Herstellung von Übergängen kommen in erster Linie Markierungen wie Altersgrenzen, Abläufe und Verfahren sowie die sogenannten Gate-Keeper (Behrens und Rabe-Kleberg 2000) in den Blick. Letztere sind für die Einhaltung der Abläufe, die Überprüfung der Voraussetzungen sowie den Vollzug von Übergängen verantwortlich bzw. in den Begriffen van Genneps (1986): sie koordinieren die Phasen der Ablösung, Aussonderung und Angliederung. Dabei gibt es formale Gate-Keeper, d. h. institutionelle Funktions- und Rollenträger*innen wie in Personalabteilungen von Betrieben, die Bewerber*innen für bestimmte Beschäftigungspositionen und Laufbahnchancen auswählen, oder Fachkräfte in sozialen und pädagogischen Einrichtungen, die Individuen für bestimmte Positionen vorbereiten, Anspruchsberechtigungen überprüfen und vergeben oder auch kompensatorische bzw. „sekundäre Normalisierung“ vermitteln, wo gesellschaftliche Übergangsanforderungen nicht erfüllt werden, etwa durch Sonderbeschulung oder geschützte Beschäftigungsverhältnisse (vgl. Böhnisch 2009). Sie folgen in der Steuerung von Übergängen häufig einer klinischen Logik wie sie in Begriffen wie (Ausbildungs-) ‚Reife‘ und (Schul- oder Beschäftigungs-)‚Fähigkeit‘ angedeutet ist (vgl. Stone 1992). Daraus abgeleitete Prozesse der Diagnostik, Förderung und Beratung enthalten in ungleichen Gesellschaften notwendigerweise Mechanismen des Cooling Out, der institutionell vermittelten Reduktion individueller Teilhabeansprüche: Adressaten und Adressatinnen sollen wollen, was sie sollen. Jugendliche sollen Berufswünsche entwickeln, die auf lokalen Ausbildungsmärkten verfügbar sind und für die es keine Bewerber mit höheren Bildungsabschlüssen gibt. Sie sollen akzeptieren, dass das, was sie sollen, gut und realistisch für sie ist, weil es zu ihnen passt – bzw. zu ihrem im Bildungssystem her- und festgestellten Leistungsvermögen (vgl. Goffman 1952; Walther 2014). Daneben gibt es aber auch informelle Gate-Keeper, deren Relevanz regelmäßig unterschätzt wird bzw. die als Störung institutioneller Abläufe gelten, obwohl es aus Sicht der Übergangssubjekte häufig sie sind, die eine biografische Aneignung gesellschaftlicher Übergangserwartungen
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und -zumutungen erst ermöglichen, indem sie ihnen eine lebensweltliche Relevanz zuweisen; etwa Eltern, die Anforderungen des Bildungssystems legitimieren und in der Familie umsetzen, um soziale Mobilität zu ermöglichen, oder Peers, die ein Überschreiten des soziokulturellen Milieus durch Bildungsentscheidungen durch Ausschluss sanktionieren (vgl. Behrens und Rabe-Kleberg 2000). Darin zeigt sich ein pädagogischer Kern institutioneller Herstellung und Gestaltung (vgl. Hof et al. 2014), der sich keineswegs nur in organisationalen und professionellen Standards, sondern auch in traditionellen oder neuen Ritualen wie der Schultüte, der Jugendweihe oder dem Junggesell*innenabschied ausdrückt. Rituale vermitteln Vergemeinschaftung und darüber Identifikation, ohne die pädagogische Vermittlung nicht subjektiv angeeignet werden kann (vgl. Prescher und Walther 2018). Schließlich sind auch Individuen an der Gestaltung und Herstellung von Übergängen beteiligt, und zwar im Modus der subjektiven Bewältigung. Bewältigung ist hier weniger vom Resultat – im normativen Sinne des Gelingens oder Scheiterns an Übergängen –, sondern von der Funktion und vom Prozess des Handels her gedacht: das Wie eines aktiven individuellen Umgangs mit sozial strukturierten Übergangslagen, um biografische Handlungsfähigkeit im Lebensverlauf zu erlangen, aufrechtzuerhalten oder zu erweitern. Bewältigung umfasst Lernprozesse, das Sich-Einlassen auf formales Lernen genauso wie informelles biografisches Lernen, und Versuche der Herstellung biografischer Passung wie die Integration der Übergangserwartung bzw. der Adressierung als ‚nicht mehr, aber noch nicht‘ in die subjektive Biografie. Lebensbewältigung verweist darauf, dass Situationen so gedeutet bzw. umgedeutet werden, dass subjektiv Sinn, Kontinuität und Kohärenz, kurz: das Gefühl von Handlungsfähigkeit erhalten bleibt. Besonders unter Bedingungen entstandardisierter Lebensläufe werden Übergangssituationen mittels Fragen danach angeeignet, was die jeweiligen Anforderungen und Zumutungen mit einem ‚zu tun haben‘ und inwieweit man noch der/dieselbe sein wird, wenn man sich auf sie einlässt, und biografisiert. Bewältigung ist also nicht nur, wenn Jugendliche in Ausbildung unterkommen, sondern auch, wenn sie die Aufforderung, die Adressierung als ‚nicht mehr Schüler*in, aber noch nicht erwerbstätig‘, zurückweisen, auf weiterführendem Schulbesuch bestehen (siehe unten) oder sagen: „ich wird eh Hartz 4“ (vgl. Walther 2014). Dabei heißt Herstellung biografischer Passung nicht notwendig, von einem vorgängig bestehenden, abgrenzbaren, handlungsfähigen Subjekt auszugehen, sondern von Prozessen der Subjektivierung im Übergang. Mit der Adressierung von Individuen als potenzielle Subjekte sind Zuschreibungen und Zumutungen verbunden, die sie sich aneignen müssen, um als Subjekt handlungsfähig zu sein. Übergangssubjekte werden in der Interaktion zwischen Diskursen, Institutionen und Individuen hervorgebracht, z. B. als Jugendliche mit
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bestimmten Berufsperspektiven und Handlungsmöglichkeiten. Dabei vollziehen sich Übergänge aus einer entwicklungspsychologischen Transitionsperspektive (Welzer 1993) nicht nur in Reaktion auf externe Anstöße eines Rollenwechsels, sondern können auch selbst initiiert sein, wenn eine durch persönliche Entwicklungsprozesse – oder spontane Bildungsprozesse (Nohl 2013) – entstandene Diskrepanz im Selbst-Welt-Verhältnis durch das Verlassen einer als nicht mehr angemessen empfundenen (Lebensalters)Rolle bewältigt wird; oder subjektivierungstheoretisch gesprochen: wenn sich die Identifikation mit der Adressierung ‚als‘ (Schüler*in, (Ehe)Partner*in, Inhaber*in einer Berufsrolle, Angehörig*r einer Szene) etwas ‚verschiebt‘ (vgl. Rose 2012; Thon 2016). Im Durchgang durch die drei Ebenen wird deutlich, dass diskursive, institutionelle und individuelle Praktiken der Gestaltung und Herstellung von Übergängen nicht isoliert sind, sondern in Wechselbeziehungen zueinander stehen – als Adressierungen, Regulierungen und Identifizierungen von Individuen als ‚nicht mehr‘ im bisherigen sozialen Zustand, ‚aber noch nicht‘ im neuen. Das gilt auch für Phänomene, die scheinbar eindeutig individuell oder institutionell zugeschrieben werden. So müssen Entscheidungen an Übergängen individuell verantwortet werden, auch wenn sie institutionell gefordert, mit mehr oder weniger Alternativen ausgestattet, diskursiv als vernünftig oder unvernünftig gerahmt sind und wenn sie von vielen formalen und informellen Gatekeepern beeinflusst werden (vgl. Miethe et al. 2014; Cuconato und Walther 2015). Genauso werden Selektionen an Übergängen in vereindeutigender Weise institutionellen Zugangsregulierungen und ihrer Umsetzung durch Gate-Keeper zugeschrieben. Eine defizitorientierte Sichtweise auf Adressat*innen gilt als wichtiger Faktor dafür, dass Individuen an Übergängen Ansprüche bezüglich ihrer Statusposition nach Vollzug des Übergangs absenken (müssen). Solche Cooling Out-Prozesse vollziehen sich aber selten ohne die Vermittlung informeller Gatekeeper und die Ratifizierung seitens der Individuen selbst. Solange sie sich eine Umorientierung nicht zu eigen machen und feststellen, dass die verfügbare Statusposition das ist, was sie ‚eigentlich‘ wollen und was zu ihnen ‚passt‘, bleibt das Cooling Out unabgeschlossen (vgl. Goffman 1952; Walther 2014). Schließlich zeigen sich solche offensichtlichen Vereindeutigungen auch im internationalen Vergleich: Unterschiedliche Quoten von Early School Leaving werden als individuelle Outcomes, unterschiedliche Schul- und Ausbildungssysteme als institutionelle Inputs essentialisiert, während sich entsprechend qualitativer Mehrebenenanalysen angelegte internationale Vergleiche durchaus dazu eignen die unterschiedliche Gewordenheit und gleichzeitig das komplexe und wirkmächtige Ineinandergreifen unterschiedlicher Modi der Gestaltung von Übergängen zu rekonstruieren und sichtbar zu machen (Walther 2011; Walther et al. 2016).
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3 Doing Übergang Schule – Beruf Im Folgenden soll nun die Perspektive Doing Transitions auf Übergänge im Bildungssystem, genauer zwischen der allgemeinbildenden Schule und der beruflichen Bildung, angelegt werden, um so zu zeigen, wie sie in ihrer Gestaltung ständig neu hergestellt und die in ihnen angelegte Reproduktion von Ungleichheit kontinuierlich erneuert wird. Dazu wird auf Befunde aus einer Reihe abgeschlossener und noch laufender Projekte zurückgegriffen: • Das DFG-Projekt Transition Processing (2015–2018) untersuchte an fünf Standorten (Flensburg, Frankfurt am Main, Hildesheim, Luxemburg und Tübingen), welche Rationalitäten pädagogischen Dienstleistungen am Übergang in Arbeit zugrunde liegen. Dabei wurden zu Berufsorientierung in der Schule, Maßnahmen für Schulabbrecher*innen, Berufsberatung, Transfergesellschaften sowie Coaching mittels Teilnehmenden Beobachtungen, Gesprächsanalysen, Expert*inneninterviews mit Fachkräften und biografischen Interviews mit Nutzer*innen Fallstudien durchgeführt (vgl. Chyle et al. 2019). • Die Evaluation der Sozialpädagogischen Förderung an Beruflichen Schulen in Frankfurt war eine qualitative Evaluation (2014–2015), die mittels qualitativer Interviews mit Schüler*innen berufsvorbereitender und allgemeiner Bildungsgänge (Berufsfachschule) sowie Expert*inneninterviews Nutzungsweisen der sozialpädagogischen Angebote Schulsozialarbeit und Berufsorientierung untersuchte (Verlage et al. 2018) • Das europäische HORIZON 2020-Projekt Policies Supporting Young People in their Life Course (YOUNG_ADULLLT) untersucht pädagogische Maßnahmen für junge Erwachsene am Übergang in den Arbeitsmarkt in Bezug auf das Wechselverhältnis von Diskurs, Governance und Lebenslauf (2016–2019). Das Design besteht aus einem Mapping von Maßnahmen, Sekundäranalysen statistischer Daten, qualitativen Interviews mit Jugendlichen und Expert*innen, Regionalanalysen zum Verhältnis von Kompetenznachfrage und -angebot sowie Fallstudien zu einzelnen Maßnahmen in ihrem regionalen Kontext (Parreira do Amaral et al. 2020).1 Entsprechend des heuristischen Modells einer qualitativen Mehrebenenanalyse (Helsper et al. 2010) werden ausgewählte Befunde erst einmal für sich v orgestellt
1Das Projekt wird von der Universität Münster koordiniert. Für zusätzliche Informationen siehe www.young-adulllt.eu.
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und interpretiert und dann in einem zweiten Schritt aufeinander bezogen. Da sie unterschiedlichen Projekten entspringen, ist der Erklärungsanspruch dieser Relationierung begrenzt und zielt in erster Linie darauf, anzudeuten, dass und wie auch scheinbar bekannte und gut erforschte Übergänge durch diskursive, institutionelle und individuell zugeschriebene Praktiken ständig neugestaltet und hergestellt werden – und sich dabei wandeln.
3.1 Diskurse zum Übergang Schule-Beruf: Ausbildungsreife und Fachkräftemangel Eine diskursive Figur, die Übergänge von der Schule in den Beruf in den letzten zwei Jahrzehnten nachhaltig verändert hat, ist der Begriff der Ausbildungsreife – oder besser: die Zuschreibung fehlender Ausbildungsreife an Schulabgänger*innen aus den unteren Bildungsgängen. Der Begriff wurde in den 1990er Jahren durch die Arbeitgeber*innen eingeführt, um den – eigentlich durch Veränderungen der Produktions- und Personalorganisation bedingten – dramatischen Rückgang an Ausbildungsstellen im Kontext des korporatistischen erwerbsarbeitszentrierten Übergangsregimes zu legitimieren, und zwar dahingehend, dass die Voraussetzungen der Ausbildungsbewerber*innen immer weniger den gestiegenen Anforderungen modernisierter Ausbildungen entsprächen. Politisch aufgenommen wurde das Konzept 1998 im Zuge des Sofortprogramms ‚JUMP‘ der Regierung Schröder. Für den Umfang dieses Programmes (eine Milliarde Euro) erwies sich der bislang den Zugang in Übergangsmaßnahmen regulierende Benachteiligungsbegriff (siehe oben) als rechtlich zu eng. ‚Fehlende Ausbildungsreife‘ konnte dagegen problemlos auf alle angewendet werden, die, warum auch immer, noch nicht in eine Ausbildung eingemündet waren. 2006 wies eine Studie des Bundesinstitutes für berufliche Bildung (Eberhard 2006) noch auf den Konstruktcharakter des Konzeptes und seine uneinheitliche Verwendung und Interpretation durch die Akteur*innen hin. Unter Federführung der Bundesagentur für Arbeit (2006) arbeiteten korporatistische Akteure des Übergangssystems jedoch einen ‚Kriterienkatalog Ausbildungsreife‘ aus, in dem es heißt: „Eine Person kann als ausbildungsreif bezeichnet werden, wenn sie die allgemeinen Merkmale der Bildungs- und Arbeitsfähigkeit erfüllt und die Mindestvoraussetzungen für den Einstieg in die berufliche Ausbildung mitbringt. (…) Fehlende Ausbildungsreife zu einem gegebenen Zeitpunkt schließt nicht aus, dass diese zu einem späteren Zeitpunkt erreicht werden kann.“ (ebd., S. 13).
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Hierin drückt sich aus, dass das Konzept durch die Bündelung scheinbar objektiver Indikatoren den Status einer quasi-klinischen Diagnose erlangt hat, die gleichzeitig pädagogische Bearbeitbarkeit suggeriert und legitimiert (vgl. Stone 1992). Ausbildungsreife ist nicht mehr nur unhinterfragtes Bildungsziel von Übergangsmaßnahmen, sondern auch der unteren schulischen Bildungsgänge (vgl. Autorengemeinschaft Bildungsbericht 2016, S. 101) und neuerdings von Maßnahmen zur Integration Geflüchteter (vgl. BIBB 2017). Im Projekt „YOUNG_ADULLLT“ hat sich gezeigt, dass sich die Diskursarena jedoch noch verkompliziert hat. Die gleichzeitige Rede vom drohenden Fachkräftemangel, der sich laut BIBB (ebd., S. 97 ff.) zumindest in den Handwerksberufen auch schon statistisch niederschlägt, hat dazu geführt, dass zum Beispiel die hessische Landesregierung 2013 ein ‚Gesamtkonzept Fachkräftesicherung‘ verabschiedet hat, das bis 2018 eine Fachkräftelücke von fast 100.000 Arbeitskräften, davon 70.000 mit einer Berufsausbildung prognostiziert. Um Nachteile für den Wirtschaftsstandort Hessen zu vermeiden, müsse „das Entstehen dieser Lücke durch die Ausschöpfung und Erschließung aller zur Verfügung stehenden Potenziale verhindert werden“ (Hessisches Gesamtkonzept Fachkräftesicherung 2013: Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung 2014, S. 9). Die Rede vom Fachkräftemangel erscheint angesichts eines anhaltenden Überhangs von Ausbildungsbewerber*innen auf den ersten Blick widersprüchlich (BIBB 2017, S. 14 ff.), auch wenn berücksichtigt werden muss, dass Allokationsprozesse auf dem Arbeitsmarkt komplexer sind als der rein quantitative Ausgleich zwischen Ausbildungsplätzen und -bewerber*innen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch teilweise auf, wenn man sich den Umgang mit der diskursiven Figur des Fachkräftemangels und ihre Folgen anschaut. Vor allem in der Kombination mit der Zuschreibung von fehlender Ausbildungsreife individualisiert sie das Passungsproblem im Übergang, macht es zu einem in erster Linie pädagogisch zu bearbeitenden Problem: die Ausbildungsplätze sind da, es liegt an den Jugendlichen, die nicht über die notwendigen Kompetenzen und realistischen Berufsvorstellungen verfügen (vgl. Walther 2014). Die strukturelle Passungsfähigkeit der Berufsbildung, v. a. die geringe strukturelle Attraktivität von Ausbildungsberufen, aufgrund derer viele Jugendliche über weiterführenden Schulbesuch versuchen, ihre Wahlmöglichkeiten zu verbessern, werden im Vergleich dazu wenig infrage gestellt. Eine diskursive Formation wie die aus fehlender Ausbildungsreife und Fachkräftemangel ist aber auch typisch für und in dieser Form strukturell nur in einem durch Beruf, standardisierte Berufsbildung und selektive Berufsvorbereitung strukturierten Übergangsregime möglich (vgl. Walther 2011).
Meritokratie, Gate-Keeper und Bildungsentscheidungen …
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3.2 Institutionelle Regulierung durch pädagogische Beratung und Berufsorientierung Der Diskurs um Ausbildungsreife geht institutionell mit einer sukzessiven Vorver lagerung von Übergängen in Arbeit im Lebenslauf und damit in die Schule einher. Zumindest in den nicht-gymnasialen Bildungsgängen beginnt die ‚Vertiefte Berufsorientierung‘ in der Regel in Klasse 7 mit Verfahren der Kompetenzfeststellung, die einzelfallorientierte ‚Berufseinstiegsbegleitung‘ setzt bereits in der Vorabgangsklasse an. Diese Angebote werden in der Regel von externen Trägerorganisationen durchgeführt, sodass in der Schule immer mehr außerschulische Akteur*innen immer mehr pädagogische Handlungsmuster außerhalb des Unterrichts vollziehen (z. B. Praktika und Beratung). Ein Fokus des Projekts „Transition Processing“ lag darauf, wie in der Schule im Rahmen der Berufsorientierung Übergänge durch Beratung prozessiert werden. Ein zentraler Befund ist die schulische Überformung von sozialpädagogischer Beratung (vgl. Dittrich und Walther 2019), die sich etwa in der folgenden Situation ausdrückt, die in einem Beobachtungsprotokoll wie folgt festgehalten wurde: „Die Sozialpädagogin … lächelt die beiden Mädchen an und fragt, ob sie denn ihre Lebensläufe dabei hätten. Die Schülerinnen schauen sich kurz an … Schülerin2 presst die Lippen aufeinander und sagt, dass sie ihren Lebenslauf nicht dabei habe … Die Sozialpädagogin steht auf und blickt nun auf die Schülerinnen herab. Sie schüttelt den Kopf und … erhöht ihre Stimme leicht, lächelt aber immer noch. Sie sagt den Schülerinnen, dass das Hausaufgaben gewesen seien, die sie nun nicht erbracht hätten. Die Schülerinnen blicken zu Boden.“ (Beobachtungsprotokoll).
Berufsorientierung wird durch Hausaufgaben kontrolliert und durch körperliche Performanz als asymmetrische Expertin-Adressatinnen-Beziehung inszeniert und durchgesetzt. Diese Asymmetrie wird jedoch immer wieder eingefangen durch vertrauensbildende Maßnahmen wie etwa in der folgenden Situation: „Der Sozialpädagoge fragt den Schüler, was er denn werden möchte. Darauf der Schüler: ‚Ingenieur‘. Der Sozialpädagoge lehnt sich zurück, nickt und wirkt leicht überrascht. Er fragt den Schüler, warum er den Beruf machen wolle. Dieser antwortet wieder einsilbig, dass es ihn interessiere. Der Sozialpädagoge lehnt sich wieder nach vorne und fragt weiter, ob er sich denn schon für eine bestimmte Richtung entschieden habe und was er denke, was ein Ingenieur tue. Diese Fragen kann der Schüler nicht beantworten, er senkt den Kopf und starrt vor sich auf den Tisch … Der Sozialpädagoge erklärt, dass man dafür studieren müsse und es doch
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A. Walther erstmal besser sei, einen Beruf auszuwählen, der leichter zu erreichen sei wie beispielsweise Mechaniker … Der Schüler sitzt weiterhin mit hängenden Schultern da und zieht die Mundwinkel nach unten. Er sagt nur, dass er noch nicht genau wisse, welche Richtung er einschlagen möchte. Der Sozialpädagoge lächelt den Schüler an und sagt, ‚dass musst du ja jetzt auch noch nicht‘.“ (Beobachtungsprotokoll)
Die Reaktion der Fachkraft signalisiert, dass die Antwort des Schülers nicht den institutionalisierten Erwartungen und Zuschreibungen entspricht, sondern vielmehr erklärungs- und legitimationsbedürftig ist, bevor weitere Schritte eingeleitet werden können. Seine mäeutischen Fragen zielen – wie in einer mündlichen Prüfung – darauf, Wissenslücken und damit das Legitimationsdefizit des Schülers offenzulegen. Nachdem diese vom Schüler validiert sind, erscheint eine unmittelbare Sanktionierung des Nichtwissens nicht nötig, sondern es wird ein vertrauensbasierter Raum eröffnet, in dem sich weitere Schritte, jedoch in einem eingeschränkten Spektrum von Optionen, vollziehen können. Berufsorientierung in der Schule orientiert sich dabei häufig eher an einem Absenken von Ansprüchen als an einer Erweiterung des Entscheidungsspielraums, um den Zugang von Schulabgänger*innen ins duale System so hoch wie möglich zu halten (vgl. Faulstich-Wieland et al. 2017). Beratung trägt dazu bei, Berufsorientierung unterstützt durch Artefakte wie Computer, Internet und Lebensläufe sowie körperliche Dominanz- und Unterwerfungsgesten, als Informationsproblem und als Prozess der Responsibilisierung zu inszenieren und eine Berufswahlentscheidung vorzubereiten, die individuell zugeschrieben werden kann und verantwortet werden muss.
3.3 Individuell zugeschriebene Bildungsentscheidungen Auch auf der Ebene individuell zugeschriebener Bewältigungspraktiken lassen sich Veränderungen beobachten, die zu einer Transformation des Übergangsgeschehens beitragen. Weiter zur Schule zu gehen, statt direkt in eine Ausbildung einzumünden, die häufig weder den eigenen Interessen entspricht noch einen anerkannten Status genießt, ist inzwischen für einen Großteil von Schulabgänger*innen mit Haupt- oder Realschulabschluss die bevorzugte Anschlussperspektive. In den Statistiken bildet sich dies jedoch nur bedingt ab. Der BIBB-Datenreport dokumentiert zwischen 2005 und 2016 Verschiebungen von drei bis sieben Prozentpunkten zwischen Studium, Ausbildung, weiterführender Schule sowie Übergangssystem (siehe Abb. 1).
Meritokratie, Gate-Keeper und Bildungsentscheidungen … 37.38%
25.36%
21.12%
79
34.75%
25.17%
22.98% 18.52% 14.72%
Ausbildung
Übergangsbereich
weiterführende Schule
Studium
Abb. 1 Verteilung der Jugendlichen auf die Sektoren „im Ausbildungsgeschehen“ 2005– 2016. (Quelle: BIBB 2017, eigene Berechnung)
Dass sich diese Verschiebung in den Präferenzen statistisch nur geringfügig zeigt, liegt in erster Linie daran, dass besonders für Hauptschulabgänger*innen ein höherer Schulabschluss fast nur über die beruflichen Schulen möglich ist, dies jedoch institutionell eher als Ausnahme denn als Regel vorgesehen ist und es deshalb, gemessen an der gestiegenen Nachfrage nicht genug Klassen und Plätze gibt. Dieser Trend zeigt sich umso deutlicher in Interviews sowohl mit Jugendlichen als auch mit Expert*innen (Verlage et al. 2018), etwa im folgenden Ausschnitt aus einem problemzentrierten Interview mit einem Jugendlichen, der eine berufsschulische Berufsvorbereitungsmaßnahme besucht (BzB) und im Rahmen der Evaluationsstudie zu Schulsozialarbeit an beruflichen Schulen interviewt wurde: „In der fünften Klasse war ich eigentlich noch gut … Dann, wo ich gehört hab, ja, geh Hauptkurs [Hauptschulabschlusskurs, d.A.] und so … hatt‘ ich gar keinen Bock mehr … Da hab ich erst … angefangen Scheiße zu bau‘n … Schule war mir alles egal … Nach der Hauptschule wusst‘ ich nicht, was ich machen soll, haben die mir Angebot gegeben für diese Schule, bin ich halt hergekommen, ich dacht die Schule hilft mir, … damit ich noch mein Real machen kann … Aber die [Lehrkräfte und Fachkräfte für Berufsorientierung, d.A.] unterstützen nich‘ beim Wechsel, die unterstützen nich‘ meine Ziele. Ich will Realschule weiter machen, das is‘ mein Ziel …
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A. Walther Ich weiß, dass es einen Weg gibt, den ich noch nich‘ erklärt bekommen hab, die verweigern das hier … Der [BO-Fachkraft] meint ‚jaja schön, aber du musst jetzt erstmal Ausbildung machen‘. Ganze Zeit. Der lenkt ab. Immer auf das Ausbildungsding … Ich bewerbe mich überall, in jeder Schule … Wenn ich Realschule schaffe, dann sind meine Sorgen wirklich weg …, aber die Schulen müssen mich nicht nehmen …“ (Interview BzB-Schüler, männlich)
Die Sequenz zeigt deutlich einen Widerstand gegen eine Ratifizierung des Cooling Out-Mechanismus, seinen Wunsch der Höherqualifizierung durch eine Einmündung in eine verfügbare Ausbildung zu ersetzen. Dies bedeutet nicht, dass der Jugendliche über die Macht verfügt, seine Ansprüche durchzusetzen, dass der Verlauf des Aushandlungsprozess aber von seiner Mitwirkung abhängig und es nicht von vornherein gesichert ist, wie er seinen Part ausfüllen wird.
3.4 Wechselbeziehungen im Doing Übergang Schule Beruf Direkt oder indirekt drücken sich in den exemplarisch skizzierten Befunden komplexe Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Modi und Ebenen der Gestaltung von Übergängen aus (wobei die ‚Ebenen‘ explizit analytisch verstanden sind), die man mit einer gewissen Dramatisierung als Kampf um realistische Berufs- und Anschlussperspektiven bezeichnen könnte (Walther 2014). Politik und Wirtschaft üben den „Schulterschluss“ (Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung 2014). Fachkräfte in Schule und Übergangsbereich bilden einen ‚Kordon‘, damit Jugendliche aus den unteren Bildungsgängen nicht in die weiterführende Schule ausweichen: „Die, die den Hauptschulabschluss haben, kriegen gesagt, ‚weiterführende Schule ist nicht‘, BzB heißt Bildungsgang zur Berufsvorbereitung nicht zur Schulvorbereitung“ (Fachkraft Berufsorientierung, (siehe auch Walther 2014, S. 121 ff.). Manche Jugendlichen fügen sich in das Cooling Out und machen die Option zweiter Wahl zu ihrer eigenen Entscheidung, andere – die außerhalb der Schule über soziales Kapital verfügen, das sie in ihrer Haltung bestärkt – weisen es eher zurück, was ihnen jedoch wiederum als Indiz mangelnder Ausbildungsreife zugeschrieben wird. Ihre Präferenz weiterführenden Schulbesuchs könnte man als Versuch deuten, der Reproduktion von Ungleichheit zu entkommen. Berufsbildung und Arbeitsmarktpolitik vollziehen diese Bewegung aber nach bzw. versuchen ihr zuvorzukommen und schränken die Zugänge zur zweijährigen Berufsfachschule ein – u. a. begründet durch den Fachkräftemangel.
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4 Schluss Die Übergangsforschung hat in den letzten drei Jahrzehnten ein immenses Instrumentarium an Konzepten und Methoden entwickelt und verfeinert, die darauf hinweisen und belegen, dass an Übergängen – vor allem am Übergang SchuleBeruf – Ungleichheit reproduziert, wenn nicht sogar verschärft wird, und zwar entlang unterschiedlichster Differenzlinien; und dass Ungewissheit und Unsicherheit trotz aller Maßnahmen nicht abnehmen. Allerdings besteht über die Bestätigung dieses Sachverhaltes wenig Kenntnis darüber, wie sich diese Reproduktion vollzieht. Ein Grund hierfür unter anderen ist der „methodologische Institutionalismus“ der Übergangsforschung (Schröer 2015), der dazu beiträgt, dass Übergänge in der bestehenden Form als soziale Gegebenheiten akzeptiert werden. Übergangsforschung konzentriert sich weitestgehend auf die Untersuchung von Verläufen und Effekten, und übernimmt dabei meistens institutionalisierte Unterscheidungen zwischen gelingenden und scheiternden Übergängen. Dabei – das hat dieser Beitrag versucht zu zeigen – sind diese Unterscheidungen Teil der Ungleichheitsstruktur, die sich hier reproduziert. Die skizzierten Befunde dokumentieren einen immensen diskursiven, institutionellen und pädagogischen sowie individuellen Aufwand. Eine hypothetische Schlussfolgerung ist, dass es dabei nicht nur, aber auch darum geht, die zu einem großen Teil der Verknüpfung einer selektiven Schule, einer standardisierten Berufsausbildung und eines segmentierten Arbeitsmarktes entspringende Reproduktion sozialer Ungleichheit weiter individuell zuschreiben zu können (Walther 2014). Die Forschungsperspektive Doing Transitions (Walther et al. 2020) ist einer neben anderen möglichen Wegen zu einer reflexiven Übergangsforschung, weil sie die Verschränkung diskursiver, institutioneller und biografischer Praktiken in der Gestaltung und Herstellung von (ungleichen und ‚ungleich machenden‘) Übergängen ins Blickfeld rückt.
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Forschungsbefunde: Entstehungskontexte individualisierter Übergänge
Übergänge als Abstiege: Orientierungen von Schüler*innen und ihre Positionierung zur Abstufung in der Spanne von Transformation und Reproduktion Mareke Niemann Zusammenfassung
Das deutsche Schulsystem ist durchlässig konzipiert und ermöglicht so, die nach der Grundschule getroffene Wahl der Schulform zu korrigieren. Die hohe gesellschaftliche Relevanz von Schulerfolg lässt eine Abstufung in eine niedrigere Schulform – insbesondere in die Hauptschule – zu einer brisanten schülerbiografischen Erfahrung werden. Der vorliegende Artikel rekonstruiert die Perspektive der Schüler*innen. Wie deuten und verarbeiten sie die Abstufung und ihr Hauptschüler*insein? Hierzu wird der individuelle Fall und seine subjektive Deutung mittels der dokumentarischen Rekonstruktion des individuellen schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmens im Längsschnitt analysiert. Ermittelt wird, wie sich die impliziten, habituellen Wissensbestände der Schüler*innen im Verlauf des Besuchs der Hauptschule transformieren oder reproduzieren. Herausgearbeitet wird, dass der Abstieg in die Hauptschule für die untersuchten Jugendlichen eine ambivalente Erfahrung darstellt und mit spezifischen Orientierungsproblematiken verbunden ist, die die Schüler*innen individuell bearbeiten. Abhängig von ihren Orientierungen und deren Passung zur Hauptschule verschärft, stagniert oder verringert sich das ambivalente Verhältnis zur Abstufung und zum Hauptschüler*insein.
M. Niemann (*) Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Thiersch et al. (Hrsg.), Individualisierte Übergänge, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23167-5_5
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Schlüsselwörter
Schulformabstufung · Hauptschule · Schüler*innenbiografie · Dokumentarische Methode · Individueller schul- und bildungsbezogener Orientierungsrahmen · Längsschnitt
1 Einleitung Schulkarrieren verlaufen nicht immer gradlinig. Im deutschen Schulsystem bestehen verschiedene Möglichkeiten, die nach der Grundschule eingeschlagene Bildungslaufbahn zu korrigieren und bei einer Veränderung des kindlichen Leistungsverhaltens die Schulformzugehörigkeit anzupassen. Erfüllen die Schüler*innen in der Sekundarstufe I die schulischen Ansprüche nicht mehr, kann bei einer Nichtversetzung und zwingend bei einer wiederholten Nichtversetzung der Wechsel in eine anspruchsniedrigere Schulform erfolgen (vgl. KMK 2011, S. 6; Bellenberg 1999, S. 55 f.; Bellenberg et al. 2004, S. 62).1 Die hohe gesellschaftliche Relevanz von Schulerfolg macht Schulversagen und gerade eine Abstufung in niedrigere Schulformen – insbesondere in die Hauptschule – brisant; handelt es sich hierbei doch um eine Schulform mit mehreren Strukturproblemen (vgl. ausführlich Niemann 2015, Abschn. 3.2; Schneider 2018, Abschn. 2.3; Völcker 2014). Mit dem gegenüber anderen Abschlüssen geringer qualifizierenden Hauptschulabschluss gehen Einschränkungen der Bildungsmöglichkeiten und damit auch der Zukunftschancen einher (vgl. Leschinsky 2008; Kölzer 2014). Das gesellschaftliche Bild, welches mit der Hauptschule verbunden ist, fällt negativ auf: Ihr Ansehen ist gering, geht mit dem Ruf der „Restschule“ einher und der Besuch der Hauptschule ist auf diese Weise mit gesellschaftlicher Stigmatisierung verbunden (vgl. Rekurs et al. 1998; Rösner 2007; Völcker und Hansen-Schaberg 2016). Sie wird von Eltern und Kindern gemieden. Hinsichtlich des Schulwahlverhaltens sowie der demographischen Entwicklung verliert die Hauptschule kontinuierlich an Schülerzahlen (vgl. Schneider 2018, S. 18). Die Schülerschaft an Hauptschulen ist einerseits in ihren Schul- und Leistungsbezügen sehr heterogen (vgl. z. B. Schneider 2018), anderseits sozial homogen, da sich in der Hauptschule Schüler*innen mit durch Versagenserfahrungen gekennzeichneten Schulkarrieren, mit Migrationshintergründen und aus sozialökonomisch benachteiligten und
1Die Versetzungsregeln unterscheiden sich in den Bundesländern (vgl. Bellenberg 2004, S. 62 ff.).
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problembelasteten Familien sammeln. Damit einhergeht, dass ein ungünstiges Lern- und Entwicklungsmilieu entsteht (vgl. Schümer 2004; Trautwein et al. 2007). Demnach gehen mit dem Abstieg in die Hauptschule nicht nur das Erleben von Leistungsversagen und Schulformwechsel, sondern auch der Verlust von Anschlussoptionen sowie die Erfahrung von gesellschaftlicher Stigmatisierung einher. Der vorliegende Beitrag richtet sein Augenmerk nun auf die Perspektive der Schüler*innen, die einen Abstieg in die Hauptschule erlebt haben und rückt der schülerbiografischen Forschung folgend den individuellen Fall und seine subjektive Deutung schulischer Erfahrung in den Mittelpunkt der Analyse. Weiterhin beziehe ich mich auf Bourdieus praxeologische Theorie, im Anschluss an Helsper und Kramer, wonach die Passung zwischen dem primären, familiären Habitus des Jugendlichen und dem sekundären, institutionellen Habitus der Schule relevant für den Schulerfolg ist (vgl. Kramer und Helsper 2010). Fokussiert wird die Frage, wie sich Schüler*innen auf ihre Abstufung im Verlauf des Besuchs der Hauptschule orientieren und auf diese Weise danach gefragt, vor welchem Horizont und auf Grundlage welcher impliziten Wissensbestände sie die Erfahrung von Schulformabstieg und Hauptschulbesuch deuten und bearbeiten und inwieweit sich ihre Haltungen transformieren und reproduzieren. Angelehnt wird sich mit dieser Fragestellung an die von Kramer et al. (2009) in Auseinandersetzung mit Bohnsacks „dokumentarischer Methode der Interpretation“ und Bourdieus Habitustheorie entwickelte Konzeption des individuellen Orientierungsrahmens. Der individuelle Orientierungsrahmen fasst die milieuspezifisch generierten grundlegenden Haltungen und impliziten Wissensbestände der Schüler*innen, auf deren Grundlage sie ihre schulischen Erfahrungen wahrnehmen und deuten. Der Orientierungsrahmen beschreibt den modus operandi der Handlungspraxis, welcher sich in den konjunktiven Bedeutungen, sowie in den positiven und negativen Gegenhorizonten, sowie dem Potential zur Enaktierung der positiven Gegenhorizonte zeigt. Die impliziten Wissensbestände werden im Konzept des individuellen Orientierungsrahmens, auch wenn sie von den sozialen Bedingungen abhängen, zunächst als individuell geprägt aufgefasst. Prinzipiell ist der Orientierungsrahmen dynamisch zu denken, dieser kann sich ganz oder in Teilen transformieren. Zu einem Transformationsdruck kommt es, wenn Erfahrungen zwar dem Orientierungsrahmen widersprechen, sie diesen aber noch nicht verändert haben (vgl. Kramer et al. 2009; Bourdieu 1993; Bohnsack 2013; Winter et al. 2019). Kramer et al. rekonstruieren den individuellen Orientierungsrahmen nicht in Gänze, sondern nehmen vorrangig die grundlegenden Haltungen gegenüber Schule und Bildung in den Blick (vgl. Kramer et al. 2009, S. 51). Im vorliegenden Artikel fokussiere ich auf die grundlegenden Orientierungen und Enaktierungen der Jugendlichen gegenüber
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der Schulformabstufung und deren Transformation und Reproduktion im Verlauf des Hauptschulbesuches: Welche Bedeutung besitzt der Abstieg in die Hauptschule im individuellen schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen der untersuchten Schüler*innen und welche Aspekte spielen dabei eine Rolle? Hierzu wird auf Rekonstruktionen zurückgegriffen, welche ich im Rahmen meiner Dissertation zu den schul- und bildungsbezogenen Orientierungen von Jugendlichen mit absteigender Schulkarriere im Verlauf des Hauptschulbesuches angefertigt habe (vgl. Niemann 2013). Rekonstruiert wurde, welche Bedeutung und welche Rolle Schule und Leistung im individuellen Orientierungsrahmen der Jugendlichen haben. Angelegt war die Studie als qualitativer Längsschnitt mit zwei Erhebungszeitpunkten. Im Rahmen des Forschungsprojektes „Erfolg und Versagen in der Schulkarriere – Ein qualitativer Längsschnitt zur biographischen Verarbeitung schulischer Selektionsereignisse“2 wurden narrative, auf die Schüler*innenbiografie fokussierte Interviews mit elf Jugendlichen im Alter von 13–16 Jahren geführt, die in einer Großstadt in Nordrhein-Westfalen entweder von einem Gymnasium oder einer Real- oder Gesamtschule auf eine Hauptschule gewechselt waren. Interviewt wurden die Jugendlichen das erste Mal circa ein halbes Jahr nach ihrer Abstufung. Nachdem sie circa eineinhalb Jahre auf der Hauptschule waren, führte ich mit ihnen ein zweites Interview. Für die Auswertung wurden vier kontrastierende Eckfälle ausgewählt: Jurij3, Sara, Oliver und Sunny. Jurij wechselte vom Gymnasium auf die Hauptschule, Sara und Oliver von der Realschule und Sunny von der Gesamtschule. Jurij ist zum ersten Interviewzeitpunkt in der achten, Oliver, Sunny und Sara in der siebten Klasse (vgl. Niemann 2015, Kap. 5). Im vorliegenden Beitrag werden die Orientierungen der Schüler*innen kontrastierend mit Blick auf die Abstufung zum Zeitpunkt ihres Ankommens auf der Hauptschule und deren Entwicklung nach ca. eineinhalb Jahren dargestellt. Die Kontrastierung wurde auf Grundlage der dokumentarischen Interpretation (vgl. Bohnsack 2003; Kramer et al. 2009) der zwei Schülerinterviews erarbeitet. Auf diese Weise wird die schülerbiografische Bedeutung der Schulformabstufung vor dem Hintergrund der Erfahrung des Besuchs der Hauptschule aus einer praxeologischen wissenssoziologischen Herangehensweise rekonstruiert (vgl. Bohnsack 2013; Kramer et al. 2009).
2Das
Projekt wurde im Zeitraum von April 2005 bis August 2011 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und war am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) angesiedelt. Die Projektleitung lag bei Prof. Dr. Werner Helsper und Prof. Dr. Rolf-Torsten Kramer (vgl. Kramer et al. 2009, 2013). 3Alle im Folgenden genannten Namen und Ortsangaben sind anonymisiert.
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2 Forschungsstand zur Schulformabstufung in die Hauptschule4 Belegt ist, dass im deutschen Bildungssystem deutlich mehr Schüler*innen von einem anspruchsvollen in einen anspruchsniedrigeren Bildungsgang wechseln als dies umgekehrt der Fall ist. Ein Wechsel über zwei Schulformen hinweg kommt dabei selten vor. Die Schulformabstufung erfolgt in den meisten Fällen in der sechsten und siebten Klasse (vgl. Bellenberg 1999, 2012; Schneider 2018). Betroffen sind insbesondere Kinder, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss haben (vgl. Henz 1997; Hillmert und Jakob 2005, S. 165 f.) und Kinder, deren Eltern über einen Migrationshintergrund verfügen (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, S. 152). Die Studie von Artamonova (2016) rekonstruiert aus einer ethnographischen Perspektive in Verbindung mit einer Konversationsanalyse, wie in der Hauptschule die Kategorie Ethnie hervorgebracht wird und wie die schulischen Akteur*innen mit der sprachlichen, ethnischen und kulturellen Heterogenität umgehen. Zu der Frage, wie sich die Abstufung auf die Leistungsentwicklung auswirkt, gibt es kaum Studien (vgl. Liegmann 2008, S. 37). Die Untersuchung von Roeder und Schmitz (1995) belegt nur eine kurzfristige Leistungserholung nach dem Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule. Tillmann und Meier (2001) verweisen im Rahmen der PISA-Studie dagegen auf einen Leistungsvorsprung für Schulabsteiger. Im Zuge der veränderten Leistungsgruppierung kann es zwar im Kontext des Big-Fisch-Little-Pond-Effekts zu einer Leistungserholung kommen (vgl. Baumert et al. 2006, S. 154), dieser wird aber durch die mit dem Abstieg auf die Hauptschule erlebte Degradierung eingeschränkt (vgl. Knigge 2009; Schneider 2018, S. 391). Eine Reihe von Studien untersucht die subjektive Perspektive der Schüler*innen auf ihren schulischen Misserfolg und wie sie diesen verarbeiten (vgl. Hurrelmann und Wolf 1986; Nittel 1992; Sandring 2013; Kramer et al. 2009, 2013; Wiezorek 2005). Diese Studien zeigen die gravierenden Einflüsse schulischen Versagens auf die Biografie. Ersichtlich wird hier außerdem, wie die Biografie der Schüler*innen mit der Schule, dem Elternhaus und der Peer-Kultur verwoben ist. Die inhaltsanalytische Studie von Liegmann (2008) präsentiert eine Typologie unterschiedlicher Varianten der subjektiven Deutung von Auf- und Abstiegen.
4Vgl.
ausführlicher Kap. 4 Forschungsansätze zum Schulformaufstieg und Hauptschulbesuch in Niemann 2015.
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Diese zeigt, dass die Wahrnehmung der Schüler*innen neben ihrer Eigenperspektive maßgeblich von inner- und außerschulischen Einflüssen und dem Umgang auf der Ebene der Peers und der Familie geprägt ist. Beim Abstieg in die Hauptschule werden insbesondere das Stigmaerleben und Zukunftsängste relevant (vgl. Liegmann 2008). Die ethnographischen Studien von Völcker (2014) und Wellgraf (2012), die quantitative Studie von Knigge (2009) und auch die narrationsstrukturelle Analyse von Schneider (2018) befassen sich mit der kollektiven Selbstattribuierung im Zusammenhang mit dem Besuch der Hauptschule. Ihre Ergebnisse belegen die von der schulischen Institution produzierten Effekte der Identitätsverletzung und der schulformbezogenen Stigmaerfahrung der Schüler*innen (vgl. Völcker und Hansen-Schadberg 2016). Dies geht für sie mit erheblichen Belastungen einher. Die Studien zeigen, dass sie die systembedingte Zuschreibung, auch gespiegelt von ihrer sozialen Umwelt, als selbstverschuldet wahrnehmen. Die Jugendlichen nehmen die Stigmatisierung aber nicht passiv hin, sondern stellen ihr eine relativierende individuelle Perspektive entgegen (vgl. Völcker und Hansen-Schadberg 2016; Wellgraf 2012). Die qualitativen Rekonstruktionen zur pädagogischen Kultur an Hauptschulen von Helsper und Wiezorek (2006) weisen darauf hin, dass es einigen Hauptschulen gelingt, eine Schulkultur zu entwickeln, in der die Schüler*innen Anerkennung erfahren. Der Blick auf den Forschungsstand zeigt, dass der Schulabstieg in die Hauptschule eine einschneidende und weitreichende Erfahrung in der Biografie der Schüler*innen ist. Daran anschließend nimmt die folgende Fallkontrastierung die subjektive Verarbeitung des Abstiegs in die Hauptschule im Längsschnitt in den Blick und veranschaulicht, wie die Jugendlichen den Abstieg im Verlauf des Besuchs der Hauptschule vor dem Hintergrund ihrer Lern- und Bildungserfahrungen deuten.
3 Die Orientierungen der Schüler*innen auf die Abstufung im Verlauf des Hauptschulbesuches5 Die untersuchten Schüler*innen eint die Erfahrung von Leistungsversagen auf der höheren Schulform und dem darauffolgenden Wechsel auf die Hauptschule. Sie machen negative und positive Aspekte aus und binden den Schulformabstieg auf diese Weise in ein Ambivalenzverhältnis ein. Dieses ist unterschiedlich stark
5Grundlegend
für die Überlegungen in diesem Kapitel sind die Fallkontrastierungen in Niemann 2013, Abschn. 6.2.
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ausgeprägt und steht damit in Zusammenhang, inwieweit die Jugendlichen an die Hauptschule anknüpfen und ihre Orientierungen im Raum der Hauptschule realisieren können und damit passförmig zur Schulkultur der neuen Schule sind (vgl. Kramer und Helsper 2010), oder sie ihre positiven Gegenhorizonte weiterhin nicht enaktieren können und sich damit der Transformationsdruck auf ihren individuellen schul- und bildungsbezogenen Orientierungsrahmen fortsetzt. Die Schülerin Sara und der Schüler Jurij können zwar positive Aspekte ausmachen, aber ihre zentralen Bezüge auf Schule sind nach dem Wechsel nicht mehr umsetzbar. Im Kontrast dazu beziehen sich Sunny und Oliver vornehmlich positiv auf ihr Ankommen in der Hauptschule.6 Nach circa eineinhalb Jahren gestaltet sich das Ambivalenzverhältnis, in welches die untersuchten Schüler*innen die Abstufung in die Hauptschule eingeordnet haben, differenzierter. Anhand der Verläufe lassen sich drei verschiedene Formen beschreiben.
3.1 Entschärfung des Ambivalenzverhältnisses und Verringerung des Transformationsdrucks Die Schülerin Sara verhandelt die Abstufung von der Realschule auf die Hauptschule im Rahmen einer Fremdheitserfahrung, bei der sie zwar eine Leistungsverbesserung erfährt, sich ihre weiteren schulischen Anknüpfungspunkte aber minimieren. Sara nimmt gegenüber dem gestiegenen Anforderungsniveau auf der Realschule eine passive Haltung ein. Sie befürchtet, diesem nicht gewachsen zu sein, und rechnet damit, abgestuft zu werden. Die Abstufung selbst erfährt Sara fremdbestimmt als Automatismus gesetzter institutioneller Versetzungsregeln: „und dann hatte ich ein schlechtes zeugnis und dann bin ich geflogen auf e-schule“7 (I. Sara, in Niemann 2015, S. 213). Die Verantwortung für ihren Leistungsabfall verortet die Interviewte dabei allein bei sich: „ja meine mutter war nicht gerade begeistert davon //mmh //aber was soll se daran ändern // mmh //war ja meine leistung“ (I. Sara, in Niemann 2015, S. 215). Sara nimmt den Abstieg als unausweichlich wahr. Relevant sind hierbei für sie insbesondere die Unsicherheiten und Ungewissheiten, die mit dem Wechsel des schulischen Sozialraums einhergehen: „ja ich hab mich natürlich überhaupt nicht gefreut
6vgl.
ausführlicher zu den Fällen Kap. 6 in Niemann 2015. s. Niemann 2015, S. 337.
7Transkriptionsregeln
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[…]. ich hab mir erst mal gedacht jetzt muss ich wieder auf ne andern schule und //mmh //wies da wohl is“ (I. Sara, in Niemann 2015, S. 213). Ihren Eintritt in die Hauptschule nimmt Sara als unerwartete Ankunft in einem fremden Erfahrungsraum wahr: „ich habs mir hier eigentlich ganz anders vorgestellt […] ich dachte das ist so ähnlich wie auf realschule aber //mmh // total das gegenteil“ (I. Sara, in Niemann 2013, S. 241). Relevant ist für sie der gesellschaftliche Prestigeverlust, eine leistungsniedrigere und damit gesellschaftlich weniger anerkannte Schulform zu besuchen. Sara hält an ihrem Wunsch fest, den Realschulabschluss zu machen. Während sie in der Realschule beim Theaterspielen die positive Erfahrung gemacht hat, gut auswendig lernen zu können, hat sie auf der Hauptschule keine Möglichkeit mehr, Theater zu spielen. Zudem kann Sara ihre zentrale Orientierung auf Schule als Peerraum nicht mehr realisieren. Ihre anfänglich guten Kontakte zu ihren Mitschüler*innen verschlechtern sich zunehmend und sie bezieht sich darauf, eine Außenseiterposition einzunehmen. Ein positiver – für Sara aber weniger relevanter – Anknüpfungspunkt ist, dass ihr der Unterricht und die Aufgaben leichter fallen und sich ihre Noten deutlich verbessern. Diese Verbesserung wird aber nicht von schulbezogenen Aktivitäten ihrerseits begleitet, für diese fehlen ihr weiterhin die Anknüpfungspunkte. Im zweiten Interview kommt es zu einer positiven Hinwendung Saras zur Hauptschule. Sie kann an neue institutionelle Angebote anschließen. Außerdem verbessert ihre Integration in das schulische Peergefüge das Erleben der Hauptschule nachdrücklich: „ich fand halt doof dass ich von realschule gegangen ‚bin‘ (betont), aber ich find hier ähm […] ich find die hauptschule ist auch so besser so als realschule.. auch so von den freunden her“ (I. Sara, in Niemann 2015, S. 225). Gegenüber der Zunahme von Anschlussmöglichkeiten reproduzieren sich jedoch die Differenzen. Abgesehen von der Peerintegration liegen die Anschlussoptionen, die Sara entwirft, größtenteils in der Zukunft. Zudem verschlechtern sich ihre Leistungen stark. Im Kernbereich von Schule eröffnen sich demnach gerade keine neuen Anschlussmöglichkeiten: „so von alleine kriege ich das nicht auf die reihe“ (I. Sara, in Niemann 2015, S. 231). Trotz dieser negativen Bezugnahme von Statusverlust und Leistungsversagen überwiegen im zweiten Interview die positiven Anschlussmöglichkeiten. Eine Transformation von Saras impliziten schulischen Wissensbeständen findet jedoch nicht statt, sondern die Veränderung der Rahmenbedingungen ermöglicht es ihr, die Schule anders zu erleben.
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3.2 Verschärfung des Ambivalenzverhältnisses und Erhöhung des Transformationsdrucks Im Fall Jurij konstituiert sich das Spannungsverhältnis zum ersten Erhebungszeitpunkt zwischen der Orientierung auf die Abstufung als Schicksalsschlag und dem Versuch der Reorientierung am schulischen Leistungsraum. Sein Abstieg vom Gymnasium zur Hauptschule ist für Jurij ein ungelöstes biographisches Rätsel. Die Suche nach einer Erklärung dominiert seine Erzählung. Erst die Versetzungsgefährdung macht Jurij deutlich, dass die für ihn relevante gesellschaftliche Anerkennung als Gymnasiast8 gefährdet ist. Als Wendepunkt macht er die Wahl von Französisch als zweiter Fremdsprache aus: „aber naja in der siebten Klasse musste ich wählen zwischen latein und ‚französisch‘ (betont), und dort hab ich französisch genommen was mir auch zum verhängnis wurde“ (I. Jurij, in Niemann 2015, S. 109). Jurij bezieht sich auf die Verweigerung institutioneller Anerkennung im Kontext der Problematik mit seinem Französischlehrer, der ihm die versetzungsrelevante Note Sechs erteilte. Jurij erfährt die Konfliktsituation hoch emotional und fühlt sich der Entwicklung ausgeliefert. Er arbeitet dabei jedoch nicht mit sicheren Schuldzuweisungen, sondern argumentiert mit Vermutungen und Unsicherheitsbekundungen. Die Versagenserfahrungen entfalten eine umfassende Wirkung und erodieren seine positiven Schulbezüge: „jetzt ist schule egal hab dann, äh als ich wiederholt habe die siebte klasse dort liefs.. rund herum sozusagen dar war hab viel mist gebaut auch weiß ich nicht manchmal nicht zur schule gegangen“ (I. Jurij, in Niemann 2015, S 114). Jurijs Versuch, an eine Gesamt- oder Realschule zu wechseln, schlägt fehl, die Schulleiter begründen dies ihm gegenüber mit der Überfüllung ihrer Schule. Auf dem Gymnasium erreicht Jurij erneut das Klassenziel nicht und seine Erfahrung von Ablehnung wiederholt sich. Entsprechend passiv nimmt er seine Platzierung auf der Hauptschule als fremdbestimmt hin: […] mm ging ja nicht sitzenbleiben oder so ich wollte da weg auf jeden fall taja bin ‚wieder mal zur realschule gegangen‘ (betont) und die haben mich ‚wieder nicht angenommen‘ (betont) w-schule war immer noch überfüllt tsch genau so die anderen gesamtschulen (tiefes einatmen) jaa dann bin ich auf die e-schule gekommen“ (I. Jurij, in Niemann 2015, S. 116).
8„[…]
ich wollte aufs gymnasium […] weil ich hab auch schon sehr viel gehört auch so dort lernen die besten und ja hat mich der ehrgeiz angetrieben […]“ (I. Jurij, in Niemann 2015, S. 107).
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Jurij nimmt eine ambivalente Haltung gegenüber der Hauptschule ein: einerseits bezieht er sich auf die erfahrene gesellschaftliche Abwertung, andererseits arrangiert er sich mit dem erzwungenen Bildungsort und entwickelt einen schulischen Handlungsentwurf, weiterzukommen: „jetzt hab ich mir halt so vorgenommen […] dass ich auch weiterkomme auch wenns hauptschule ist ist mir ‚egal‘ (betont)“ (I. Jurij, in Niemann 2015, S. 116). Die Hauptschule hat in seinem Fall die zwiespältige Bedeutung eines erzwungenen, aber Handlungschancen generierenden Ortes. Jurij orientiert sich dabei daran, grundlegender schulischer Investition, wie dem Besuch des Unterrichts, nachzukommen. Im zweiten Interview verhandelt Jurij den Übergang weiterhin als ungelöstes biographisches Rätsel. Sein ambivalentes Verhältnis zur Hauptschule verschärft sich im Verlauf des Schulbesuches und damit nimmt auch der Transformationsdruck auf seinen Selbstentwurf, ein leistungsorientierter Schüler zu sein, zu. Jurij wird weiterhin seinen Leistungsansprüchen nicht gerecht. „wenn ich vom gymnasium komme das hier ist ne hautpschule da dachte ich auch ne es geht hier //mmh// ganz leicht zu aber. (stockung) ja, war eigentlich auch so letztes jahr äh fiel mir alles äh noch nicht so schwer wie dieses jahr aber naja mal schauen (lachen)“ (I. Jurij, in Niemann 2015, S. 136).
Der Stellenwert der Hauptschule als oktroyiertem Bildungsort reproduziert sich. Dort zu sein konfrontiert Jurij stetig mit der Zuschreibung des stigmatisierten und leistungsschwachen Schülers, von der er sich zu distanzieren versucht: „die leute denken dass hautpschüler schlecht sind […] ich meine schöner wärs natürlich wenn wenns äh manchen leuten auch äh klar wird so dass es die halt auch vielleicht mal auch was äh tun könnten“ (I. Jurij unveröffentlicht). In der Folge gerät jedoch sein positiver Bezug auf die Beziehung zu seinen Mitschüler*innen unter Druck. Der Besuch der Hauptschule führt in Jurijs Fall also nicht dazu, dass sich andere Orientierungen entwickeln, sondern der Schüler an seinen bisherigen festhält und diese somit verstärkt unter Transformationsdruck geraten.
3.3 Stagnation des Ambivalenzverhältnisses und leichter Transformationsdruck Die Schülerin Sunny erlebt zwar die Abstufung fremdbestimmt, aber sie hat auf der Hauptschule auch Erfolge auf der Leistungs- und Peerebene. Sunny thematisiert ihr Leistungsversagen auf der Gesamtschule im Kontext von Revidieren und Resignieren. Sie reflektiert die Ursache ihres Leistungsversagens
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darin, dass sie sich stärker auf ihre Freunde als auf die Schule konzentriert hat. Die Abstufung erfährt Sunny fremdbestimmt, als Entscheidung ihres Vaters und ihres Klassenlehrers. Diese Erfahrung kompensiert Sunny, indem sie die Hauptschule zur besseren Alternative umdeutet. Dazu bedarf es der stetigen Vergewisserung, dass es ihr nun besser geht. Auf der Hauptschule integriert Sunny sich schnell. Neben der Peerebene ist ihre starke Leistungsverbesserung bedeutsam. Die Lernpraxis ihrer Freundin regt Sunny dazu an, freiwillig und selbstständig zu lernen und sie wird dabei von den Lehrkräften unterstützt: „und ich so da hab ich auch gedacht ob ich auch besser werden kann und dann habe ich immer gelernt und dann hatte ich immer ne ‚zwei‘ (betont) und immer eine note besser und dann wieder drei//mmh//. also lernen ist besser“ (I. Sunny, in Niemann 2013, S. 204). Jedoch hebt die Entdeckung des Zusammenhangs von Lernen und Schulerfolg das Spannungsfeld von Peer- und Schulorientierung nicht auf. Im zweiten Interview bezieht sich Sunny weiterhin auf die Hauptschule im Spannungsfeld von Fremdbestimmung und Leistungserfolg. Der Schülerin gelingt es, in dem für sie wichtigen Leistungs- und Peerbereich Erfahrungen von Anerkennung zu sammeln und in diesen Feldern gestaltend zu wirken. Allerdings besteht das Spannungsfeld zwischen Peer- und Leistungsorientierung fort. In der Beziehung zu ihren Mitschüler*innen muss Sunny die Balance wahren, sich als leistungsstärker und disziplinierter zu entwerfen, ohne die anderen abzuwerten.9 Auch arbeitet Sunny weiterhin daran, das niedrig qualifizierende Bildungszertifikat zu kompensieren: „ich sag immer wenn ich jetzt nen hauptschulabschluss hab sag ich nen guten hauptschulabschluss anstatt so nen schlechten realabschluss“ (I. Sunny, in Niemann 2015, S. 197). Darüber hinaus wird das Mädchen auch auf der Hauptschule mit der Fremdbestimmung und Reglementierung durch Schule konfrontiert. Jedoch führen die stützenden Rahmenbedingungen und die erreichten Erfolge dazu, dass trotz der Reproduktion des ambivalenten Verhältnisses zur Abstufung nur ein leichter Transformationsdruck entsteht. Der Fall Oliver ist ebenfalls der Variante der Stagnation des Ambivalenzverhältnisses bei einem leichten Transformationsdruck zuzuordnen. Für Oliver ist der Übergang auf die Hauptschule im Ambivalenzverhältnis der Krisensituation
9„und
also dann wurds halt immer ein bisschen schlechter also ich, frau paul das liegt an meinem umgang also mit den mitschülern weil die alle so ich will nicht sagen dass die schlecht sind aber die sind halt nicht so gut und ich hab mir das halt abgeguckt so zu sagen ja guck mal das interessiert mich jetzt nicht //mmh// das habe ich mir irgendwie wieder angewöhnt aber ich habe es mir auch wieder abgewöhnt also jetzt pass ich wieder mehr auf und 'lern' (betont) auch zuhause damit ich meine träume auch erreichen kann meine zukunft //mmh// das ist ja nur mein ziel“ (I. Sunny, in Niemann 2015, S. 201).
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des Leistungsversagens auf der Realschule und der Hauptschule als Erlösung davon zu verorten. Schulerfolg ist für diesen Schüler von hohem Stellenwert und die Situation, von den schulischen Anforderungen vereinnahmt zu werden, belastet Oliver stark. In seiner Suche nach Ursachen orientiert Oliver sich auf das von ihm als ungerecht empfundene Verhalten der Lehrkräfte der Realschule. Die Abstufung wird zur Möglichkeit, dem Veränderungsdruck von Leistungsüberforderung auszuweichen und Passförmigkeit zwischen seinen Orientierungen und der schulischen Anforderungsstruktur, sowie der Lern- und Unterrichtskultur der Hauptschule herzustellen: „bei der realschule da äh war man sofort unter druck man musste äh jeden tag hundertprozentige leistung geben //mmh// und äh ja das hat mein körper auch äh nicht geschafft bin […], auf der e-schule ist jetzt viel ruhiger (räuspern)“ (I. Oliver, in Niemann 2015, S. 157).
Vor dem Erleben der starken Krisen- und Leidenssituation des Schulversagens orientiert sich Oliver uneingeschränkt positiv auf die Hauptschule und thematisiert diese im Kontext von Entsprechung. Bedeutsam ist hierbei, dass er die Eingewöhnung und den Schulerfolg als selbstständig geleistete Arbeit wahrnimmt. Auf der Hauptschule kann er die für ihn zentralen Orientierungen von autonomer Zeitbestimmung und Schulerfolg enaktieren. In seinem Fall entdramatisiert und harmonisiert die Übereinstimmung von Fremd- und Selbstplatzierung den Wechsel, sodass die fremde Schule zum vertrauten Ort wird, an dem er sich wohlfühlt. Im zweiten Interview stabilisiert sich zwar seine positive Haltung zur Hauptschule, es treten nun jedoch ansatzweise Spannungsmomente auf. Relevant ist für ihn weiterhin insbesondere die Abwesenheit der für ihne belastenden Faktoren von Stress, Problemen und Druck gegenüber dem Vorhandensein von Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung, Wohlbefinden sowie Schulerfolg. Eingetreten sind Gewöhnung, Kontinuität und Integration in eine ihm ähnliche Peergroup. Aber auch in diesem Fall zeichnen sich Einschränkungen ab. Das Ankommen auf der Hauptschule wird verstärkt als Eintritt in einen fremden Erfahrungsraum thematisiert und auf die von ihm zu leistende Umstellung verwiesen, er musste sich in der Hauptschule neue Freunde suchen und sich an eine andere Art und Weise des Lernens gewöhnen, auch sind einige Unterrichtsthemen nicht anschlussfähig an seine Interessen. Außerdem arbeitet Oliver daran, sich mit dem erreichbaren Hauptschulabschluss zu arrangieren und diesen als angemessen für sich anzunehmen.
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„wenn ich auf ne andere realschule gegangen wäre wärs anders gewesen. weiß nicht. hätte wenn und aber. aber jetzt, mit den guten noten und so, mit nem realschulabschluss ich meine schon ein gutes gefühl. ich mein ich hatte vorgehabt äh wo ich klein war noch ‚abitur‘ (betont) dass wär ja was ‚aber‘ (betont) ne ist dann doch am ende nicht mein fall mit abitur“ (I. Oliver, Niemann 2015, S. 167).
Die adäquaten Rahmenbedingungen, das Zusammenspiel von Lehrkräften, Peers und Enaktierung ermöglichen Oliver, sich positiv auf die Hauptschule zu beziehen: „kann ganz befreit lernen“ (I. Oliver, in Niemann 2015, S. 175). Allerdings muss auch Oliver den Wechsel auf die Hauptschule weiterhin durch Relativierung und Normalisierung bearbeiten.
3.4 Der Schulabstieg auf die Hauptschule zwischen Abgrenzung und Anknüpfung Die Kontrastierung der Orientierungen der untersuchten Schüler*innen verdeutlicht, dass der Übergang auf die Hauptschule den negativen Gegenhorizont bildet, wenn die zentralen Bezüge auf Schule nicht mehr realisiert werden können und der Abstieg auf diese Weise eine stetige Konfrontation damit nach sich zieht. Demgegenüber kann der Wechsel aber auch dazu führen, dass die Schüler*innen ihre schulischen Bezüge wieder realisieren können. Das Leistungsversagen und die fremdbestimmte Abstufung sowie der Statusverlust werden als belastend erfahren, jedoch können sich die Schüler*innen auf die Hauptschule als Ort beziehen, an dem sie erfolgreich sind und von Lehrkräften und Mitschüler*innen angenommen werden und Anerkennung erfahren. Damit können sie die Hauptschule als einen Ort erleben, an dem sie sich wohlfühlen. Abschließend fasst die Abb. 1 den Stellenwert, den die Abschulung im Verlauf des Besuchs der Hauptschule zum Zeitpunkt des ersten und zweiten Interviews hat, zusammen und zeichnet die Entwicklung nach. Die Zusammenfassung verdeutlicht, dass die Orientierung der Jugendlichen auf den Abstieg in die Hauptschule zwischen dem ersten und zweiten Erhebungszeitpunkt variiert. Im Verlauf kann sich in Abhängigkeit von der Ausgestaltung der schul- und bildungsbezogenen Orientierungen und ihrer Passung zur Hauptschule das Ambivalenzverhältnis, in welches der Abstieg zur Hauptschule eingeordnet ist, verschärfen, stagnieren oder verringern.
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Erster Erhebungszeitpunkt Abgrenzung von der Hauptschule
Zweiter Erhebungszeitpunkt Abgrenzung von der Hauptschule
Sara: Verlust schulischer
Jurij: Prestigeorientierung vs.
Anknüpfungspunkte vs.
Leistungsversagen im
Leistungserfolg
statusarmen‘ Bildungsort
Verschärfung des Ambivalenzverhältnisses und Erhöhung des Transformationsdrucks
‘
Sunny: Leistungs-, BildungsJurij: Schicksalsschlag vs.
und Sozialraum vs. niedrigem
Reorientierung
Bildungszertifikat und Fremdbestimmung Stagnation des Ambivalenzverhältnisses und leichter Transformationsdruck
Sunny: Fremdbestimmung
Oliver: Schulerfolg vs.
vs. Leistungserfolg
Arrangement mit dem Erreichbaren
Oliver: Krisensituation vs. Erlösung
Sara: Peer- und Interessenraum vs. Statusabstieg und
Entschärfung des Ambivalenzverhältnisses und Verringerung des Transformationsdrucks
Leistungsversagen
Anknüpfung an die Hauptschule
Anknüpfung an die Hauptschule
Abb. 1 Die Orientierung der Schüler*innen auf die Abstufung im Verlauf des Besuchs der Hauptschule (vgl. Niemann 2013, S. 301)
4 Fazit Zusammenfassend wird deutlich, dass die Schüler*innen die Situation im Kontext des Leistungsversagens an der höheren Schulform als belastend wahrnehmen. Mit dem Leistungsabfall verlieren sie die Anerkennung, gute Schüler*innen zu sein und werden als schlechte Schüler*innen adressiert. Zwischen den eigenen Bestrebungen und dem Leistungsversagen eine Diskrepanz wahrzunehmen, erleben die Jugendlichen als krisenhafte Veränderung. Die Relevanz, welche die schulische Leistungsbewertung und das Notensystem für die Jugendlichen haben, lässt für sie eine Bedrohungssituation entstehen, auf die sie mit einem Rückzug von der Schule reagieren (vgl. Niemann 2013, S. 290). Das Versagen lässt sich im Spannungsfeld zwischen Leistungsbezug und Orientierungsdilemma verorten. Mit dem Leistungsversagen geht die Krisensituation einher, Heteronomie zu erfahren, sich nicht mehr als handlungsmächtig wahrzunehmen und den eigenen Handlungen sowie Rahmenbedingungen ausgeliefert zu sein. Die schulischen Misserfolgserlebnisse und die Erfahrung fehlgeschlagener bzw. unterlassener schulischer Aktivität schichten sich zirkulär auf. In der Situation des Leistungsversagens und der Schulformabstufung überwiegt
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so das Gefühl der Machtlosigkeit. Die Schüler*innen sind in dieser Situation vornehmlich auf sich allein gestellt. Es entstehen familiäre Konflikte und Verstimmungen in der Beziehung zwischen Lehrkräften und den Schüler*innen sowie zwischen den Eltern und den Lehrkräften (ebd., S. 291). In meiner Studie rekonstruierte ich für die untersuchten Schulabsteiger*innen einen Schülerhabitus10 in der Spannung zwischen Leistungsorientierung und Schuldistanz. Auf der einen Seite verfügt ihr Schülerhabitus über Nähe zu Schule und Bildung, auf der anderen Seite weist ihr Habitus aber zu viel Distanz zu und zu wenig Vertrautheit mit Schule und Bildung auf, um den Abstieg vermeiden zu können. Innerhalb des Untersuchungszeitraumes wandeln sich die dominanten Bezüge der Schüler*innen auf Schule und Bildung nicht umfassend. Das ambivalente Verhältnis der Jugendlichen zur Schule löst sich durch den Schulabstieg nicht auf, aber dessen Ausprägung verändert sich. Einerseits kommt es zu einer Verfestigung, andererseits zu einer Ausbalancierung (vgl. Niemann 2015, S. 305 f.). Gegenüber dem Ankommen auf der Hauptschule nehmen die Jugendlichen eine fremdbestimmte und passive Haltung ein. Keine Schülerin, kein Schüler nimmt es von sich aus in Angriff, in die Hauptschule einzutreten. Im Gegenteil wird die Einmündung als institutionelle Aufforderung erfahren (vgl. Niemann 2013, S. 292). Die Abstufung löst bei allen Fällen zu beiden Interviewzeitpunkten Reflexionen aus. Zentral ist es für alle Befragten, eine Ursache für den Abstieg auszumachen und den Prozess für sich aufzuschließen. Die Erklärung wird argumentativ ausgeführt und mit Fragen der Begründung und Legitimierung verbunden. Den Darstellungen gemeinsam ist, dass bei der Ursachensuche für den Schulabstieg nicht ein Konglomerat verschiedener Erklärungsmuster erörtert wird, sondern jeweils ein spezifischer Punkt in den externen oder internen Rahmenbedingungen fokussiert wird. Frühere und gegenwärtige Schulerfahrungen werden dabei miteinander verglichen (vgl. Niemann 2014, S. 364). Unsicherheiten in den Erklärungsmustern ergeben sich daraus, dass die Schüler*innen mit den Regularien, internen Spielregeln des Schulsystems und seinen Prozessen nicht vertraut sind, sondern diese ihnen häufig fremd und unverständlich sind. In der Notwendigkeit der biographischen Bearbeitung des Abstiegs finden sich Anschlüsse an die Untersuchung von Schneider (2018). Diese nimmt quasi das Pendant in den Blick und untersucht mit einer narrationsstrukturellen Analyse im Längsschnitt die Prozessverlaufsformen von Hauptschüler*innen, die in eine höhere Schulform aufsteigen. In ihrer Analyse arbeitet sie heraus, dass neben dem
10vgl.
zum Konzept des Schülerhabitus Kramer et al. (2009, 2013)
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Zusammenhang der schülerbiografischen Verläufe mit den familiären Prozessen und Milieustrukturen für den Aufstieg die Erarbeitung eines biographischen Handlungsschemas im Kontext partieller Wandlungsprozesse notwendig ist. Demzufolge scheint es sowohl für aufsteigende wie für absteigende Schüler*innen relevant, um ihre Schulkarriere erfolgreich fortführen zu können, in Anlehnung an Schütze (2009) „biographische Arbeit“ zu leisten, indem sie die Entwicklung und Verwicklungen ihrer Schulkariere reflektieren (vgl. Schneider 2018, S. 398). Des Weiteren zeigt sich in beiden Untersuchungen, dass für die Umsetzung der Bildungsorientierung signifikante Andere hoch relevant sind. Die abgestiegenen Schüler*innen verfügen in der Situation des Leistungsversagens auf der höheren Schulform nicht über signifikante Andere, die ihnen die Situation aufschließen, sie rechtzeitig auf die Gefährdung ihrer Schulkarriere hinweisen und sie darin unterstützen ihre Leistungsbezüge umzusetzen. Demgegenüber treffen sie in der Hauptschule teilweise auf Lehrkräfte, die das Zustandekommen des Abstiegs mit ihnen reflektieren und es ihnen ermöglichen, wieder an den schulischen Leistungsraum anzuschließen. Darüber hinaus zeigt sich im Fall von Sunny die Relevanz von Peers als Unterstützer einer schulischen Leistungsorientierung. Die bereits von Völcker (2014), Schneider (2018) und Wellgraf (2012) herausgearbeitete, institutionell bedingte Entwertung und Diskreditierung und die daraus resultierenden Stigmatisierungen erschweren es den Schüler*innen, die Abstufung zu bearbeiten. Die Schüler*innen distanzieren sich einerseits von der Hauptschule als gesellschaftlich entwertetem Bildungsort, anderseits machen sie jeweils individuell unterschiedlich positive Anknüpfungspunkte in ihrem schulischen Alltag aus. Ebenfalls Völcker (2014) rekonstruiert in seiner Analyse von Interviews mit jugendlichen Hauptschülern mit Abstiegserfahrung die Erfahrung der Abschulung als gravierend und emotional belastend, die noch durch die mit der Hauptschulzugehörigkeit in Verbindung gebrachte Stigmatisierung verschlimmert wird. Das zuvor eher aus Distanz getroffene Urteil wird nun zu einem Teil der eigenen Identität. Die Schüler*innen integrieren sich, aber eine „innere Distanz“ oder auch offene Zurückweisung des Hauptschülerseins bleibt bestehen (vgl. Völcker 2014, S. 221). Die jugendlichen Schulabsteiger stehen also vor der Aufgabe, neben dem schulischen Versagen auch noch die Ankunft in einem diskreditierten Bildungsgang bearbeiten zu müssen und einerseits an den neuen Bildungsort anzuschließen, anderseits Formen der Distanzierung zu entwickeln. Zusammengefasst nehmen die Schüler*innen ein ambivalentes Verhältnis zur Abstufung auf die Hauptschule ein, welches im Verlauf des Besuchs der Hauptschule bestehen bleibt. Entwickeln sich für die Schüler*innen neue Anschlussmöglichkeiten, kommt es zu einer Verringerung des Ambivalenzverhältnisses. In
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den Fällen, in denen die schulischen Bezüge weiterhin umsetzbar sind, stagniert das Ambivalenzverhältnis. Sind die Relevanzen jedoch im Verlauf des Hauptschulbesuches weiterhin nicht realisierbar, verschärft sich das Ambivalenzverhältnis. Die Analyse zeigt, dass der Abstieg in die Hauptschule vor allem drei Orientierungsprobleme mit sich bringt, welche die Schüler*innen im Verlauf bearbeiten: Erstens eine Distanzierung von der im Übergang nach der Grundschule in die Sekundarstufe I favorisierten und vom Leistungsstand her als passförmig angesehenen höheren Schulform. Zweitens ist es relevant, biographische Arbeit zu leisten und für sich zu klären, wie es zum Leistungsversagen kommen konnte und den Wechsel für sich nachvollziehbar aufzuschließen. Drittens ist es bedeutsam, dass Balanceverhältnis zu halten, sich einerseits aktiv einen positiven Anschluss an die neue Schule zu erarbeiten, sich andererseits von den negativen, stigmatisierenden Implikationen der Hauptschule zu distanzieren. Die Deutungen der Schüler*innen sind zwiespältig zwischen der Hauptschule als stigmatisiertem Bildungsort und der Erfahrung des Wohlfühlens, weil sie im Rahmen einer pädagogisch stützenden Kultur und peerkultureller Einbindung Anerkennung erfahren. Diese gemeinsame Erfahrungsaufschichtung entwickelt sich in den Fällen jeweils unterschiedlich.
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Der ‚lange Arm‘ eines kollektiven Verlaufskurvenprozesses von Stigmatisierung im Kontext schulischer Aufstiegskarrieren Edina Schneider Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird in einer Längsschnittperspektive anhand biografischer Fallanalysen von Schulaufsteiger*innen von der Hauptschule in die gymnasiale Oberstufe beschrieben, wie einzelne Hauptschüler*innen in ihrer Identitätsentwicklung und in ihren Bildungsbestrebungen, in die Sekundarstufe II überzugehen, um das (Fach-)Abitur zu erwerben, neben einem Erleidensprozess von schulischen Versagen und Degradierung zusätzlich von einem kollektiven Verlaufskurvenprozess von Stigmatisierung massiv beeinträchtigt werden. Vor dem Hintergrund der zutage tretenden Befunde ist der positive Bezugsgruppeneffekt im Zusammenhang mit der Zuweisung zu einer niedrigen Schulform als ein Pro-Argument der frühen Schulselektion in Hinblick auf eine weiterführende Schul- und Bildungskarriere neu zu hinterfragen. Damit muss auch die These der Durchlässigkeit und Aufstiegsmöglichkeit des deutschen mehrgliedrigen Schulsystems stark relativiert werden. Schlüsselwörter
Schülerbiografiestudie · Biografischer Längsschnitt · Schulaufsteiger · Durchlässigkeit des Schulsystems · Soziale Ungleichheit · Stigmatisierung · Kollektive Verlaufskurve · Hauptschule · Schulübergänge
E. Schneider (*) Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Thiersch et al. (Hrsg.), Individualisierte Übergänge, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23167-5_6
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1 Einleitung Eine Hauptschülerin äußert sich im Rahmen eines Interviews, in dem sie zum Erzählen ihrer Lebensgeschichte gebeten wurde, mit folgender Bemerkung über ihre Schule: „ja hmm ich weiß jaja hauptschule halt diesss hat nisch ein schön ruf so sag ich ma //ja// [von Verf. ausgelassen] ja ich weiß nich.. ich man k- kommt sich dumm vor und hauptschüler werden ja sch- ständisch so schlecht gamacht und so alles. //hmm// obwohl das ja nich alles so stimmt. und ähm.. ja. ch- wenn ich n kind hätte würd ich sie auf keinen fall auf die hauptschule schicken so.. nee so. mja wahrscheinlich wegen dem schlechten ruf und alles“ (1. I. Sunay). Aus der Bemerkung des Interviews wird deutlich, dass die Schülerin das Problem hat, sich als Hauptschülerin stigmatisiert zu fühlen. In verschiedenen empirischen Studien wurde bereits auf die stigmatisierende Wirkung des Hauptschulbesuchs hingewiesen (Schneider 2018a; Niemann 2015; Völcker 2014; Wellgraf 2012; Völcker und Hansen-Schaberg 2016; Knigge 2009; Liegemann 2008). Knigge (2009) liefert in seiner quantitativen Studie deutliche Hinweise dafür, dass Hauptschüler*innen im Verlauf ihrer Hauptschulzeit eine immer stärker stigmatisierte soziale Identität entwickeln, die mit einer Motivationsreduktion im schulischen Bereich korrespondiert. Mittels inhaltsanalytisch ausgewerteter Leitfadeninterviews mit Schulformwechsler*innen kann Liegemann (2008) verschiedene Typen ermitteln, die die Perspektiven der Schüler*innen auf den Schulformwechsel beschreiben. Unter dem Perspektiventypus der „Stigmatisierten“ finden sich ausschließlich Schüler*innen, die aus der Hauptschule aufgestiegen oder in die Hauptschule abgestiegen sind und im Zusammenhang mit ihrer aktuellen Hauptschulformzugehörigkeit ein starkes Scham-, Verletzungs- und Enttäuschungserleben beschreiben (ebd., S. 201). Wellgraf (2012) kann mithilfe ethnografischer Untersuchungen zeigen, dass die gesellschaftliche Verachtung von Hauptschüler*innen auf eine so alltägliche und selbstverständliche Weise funktioniert und selbst von denjenigen (z. B. den Hauptschullehrer*innen) fortgeschrieben wird, die den Schüler*innen versuchen zu helfen (ebd., S. 303). Die qualitativen und quantitativen Studien zu Hauptschüler*innen stellen durchgängig ein Stigmatisierungserleben im Zuge des Besuchs einer sozial entwerteten Schulform heraus. Da sie jedoch als Querschnittstudien angelegt sind, nehmen sie das Verhältnis zwischen schulischen Bildungsverläufen, biografischer Identitätsentwicklung und Stigmatisierungserleben nur zu einem Zeitpunkt und nicht unter einer Prozessperspektive in den Blick. Des Weiteren wird nicht erfasst, welche Relevanz und Auswirkungen der Hauptschulbesuch auf die individuell-biografische Identitätsentwicklung,
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den weiteren Schulkarriereverlauf und die Bildungsbestrebungen von Heranwachsenden hat und wie die Stigmatisierungserfahrung von den Betroffenen bearbeitet wird. In folgenden Beitrag möchte ich in einer Längsschnittperspektive anhand biografischer Fallanalysen von Schulaufsteiger*innen von der Hauptschule beschreiben, wie einzelne Hauptschüler*innen in ihrer individuell-biografischen Identitätsentwicklung, sowie in ihren Bildungsbestrebungen, von der Hauptschule in die Sekundarstufe II überzugehen und das (Fach-)Abitur zu erwerben, neben einem schulischen Versagens- und Degradierungsprozess zusätzlich von einem kollektiven Verlaufskurvenprozess von Stigmatisierung massiv beeinträchtigt werden. Zunächst stelle ich dabei kurz die schülerbiografische Längsschnittstudie vor, aus der die Fallbeispiele stammen, sowie ein theoretisches Modell relevanter Prozessstrukturen schulischer Aufsteiger*innen (1). Dabei werde ich die zentralen Bedingungen und Kennzeichen des krisenhaften Übergangs von der Hauptschule in die Sekundarstufe II skizzieren (2). Im Anschluss möchte ich einige theoretische Hinweise und Kennzeichen zum Verlauf sowie den Formen der Bearbeitung der kollektiven Stigmatisierungsverlaufskurve im Rahmen schulischer Aufstiegskarrieren geben (3 und 4). Hierbei dienen die fallbezogenen, biografieanalytischen Arbeiten und Interviewausschnitte vornehmlich dazu, die Merkmale der kollektiven Stigmatisierungsverlaufskurve exemplarisch zu illustrieren.1 Abschließend sollen zentrale Erkenntnisse zu diesem spezifischen Schulübergangsprozess und zu der kollektiven Stigmatisierungsverlaufskurve bei (formal) schulisch aufsteigenden Hauptschüler*innen hervorgehoben und zur Diskussion gestellt werden (5). Das Pro-Argument der frühen Schulselektion und äußeren Leistungsdifferenzierung eines positiven Bezugsgruppeneffektes aufseiten der Hauptschüler*innen durch die Zuweisung zu einer leistungsschwachen Gruppe sowie die These der Durchlässigkeit des mehrgliedrigen Schulsystems werden vor dem Hintergrund der hier dargelegten Befunde relativiert.
1Ein
detailliertes, formalanalytisches Eingehen an Interviewzitaten auf sprachliche Markierer und spezifische Ausdrucksgestalten von biografischen Prozessen ist an dieser Stelle nicht möglich, da die Darstellungsformen spezifischer Erfahrungsqualitäten der verschiedenen Prozessverläufe in Stegreiferzählungen auf komplexe Weise mehrschichtig sind und einer kontextspezifisch-differenzierten Analyseeinstellung der „pragmatischen Brechung“ (Schütze 2005, S. 217–219) bedürfen.
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2 Die schülerbiografische Längsschnittstudie und das theoretische Modell relevanter Prozessstrukturen schulischer Aufsteiger*innen In Anlehnung an einen biografietheoretischen Ansatz (Schütze 2005, 2012, 2014; im Überblick Krüger und Marotzki 2006) mit symbolisch-interaktionistischen und wissenssoziologischen Bezügen (Mead 1968; Polanyi 1985) untersuchte ich an einzelnen Hauptschüler*innen, die über die Entkopplungsmöglichkeit von besuchter Schulform und Schulabschluss an der Hauptschule den mittleren Schulabschluss erwerben, um anschließend an der Oberstufe eines Gymnasiums, einer Gesamtschule, eines Berufskollegs oder einer Fachoberschule das (Fach-)Abitur abzulegen, die für diesen Schulaufstieg relevanten biografischen Prozesse und Ressourcen (Schneider 2018a). Dafür habe ich 2008 autobiografisch-narrative Interviews mit 16 Hauptschüler*innen aus Bayern, Nordrhein-Westfalen und Berlin durchgeführt, die vor dem Erwerb des mittleren Schulabschlusses am Ende der 10. Klasse der Hauptschule und damit kurz vor dem Übergang in die Oberstufe standen. Zweieinhalb Jahre nach den ersten Interviews, als die nun ehemaligen Hauptschüler*innen im zweiten Halbjahr der 12. Klasse waren, habe ich ein zweites narratives Interview mit den Schüler*innen geführt.2 Auf der empirischen Grundlage dieser Erst- und Zweitinterviews, die mit der Narrationsstrukturanalyse (Schütze 2005) interpretiert wurden, zielte ich über einen systematischen Fallvergleich in Orientierung an die Konzeption der Prozessstrukturen des Lebensablaufs (Schütze 1981) – biografische Handlungsschemata, Verlaufskurven des Erleidens, institutionelle Ablaufmuster und biografische Wandlungsprozesse – auf ein theoretisches Modell relevanter Prozessstrukturverläufe schulischer Aufsteiger*innen ab (Schneider 2018a), welches die folgende Abb. 1 zeigt. In der Auseinandersetzung mit der Frage, wie den Hauptschüler*innen die schulische Aufwärtsqualifizierung gelingt, konnte ich aus dem ersten Analyseabschnitt (siehe Abb. 1) – von dem Zeitpunkt, ab dem sich die Schüler*innen erinnern können, bis kurz vor dem Erwerb der mittleren Schulreife an der Hauptschule – vier unterschiedliche Prozessstrukturverläufe rekonstruieren, die für die Herausbildung eines schulischen Aufstiegsschemas relevant sind: (1.1) familiale
2Ein
Teil der interviewten Schüler*innen war zum zweiten Interviewzeitpunkt nicht in der 12. Klasse, sondern wiederholte gerade die 11. Klasse oder musste die Oberstufe aufgrund mangelhafter Schulleistungen verlassen.
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Gruppe 2
Gruppe 1
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Abb. 1 Theoretisches Modell relevanter Prozessstrukturen schulischer Aufsteiger*innen. (Quelle: Schneider 2018a)
Erleidensprozesse von Migration, Destabilisierung und Desorganisation als Barrieren aufsteigender Hauptschulkarrieren, (1.2) (partielle) biografische Wandlungsprozesse als dynamisierendes Element des schulischen Aufstiegs, das (1.3) familial (an-)geleitete Aufstiegsschemata vor dem Hintergrund eines ressourcenstarken Herkunftsmilieus und eine (1.4) kollektive Verlaufskurve von Stigmatisierung durch den Hauptschulbesuch (Schneider 2018a, b, c). Die Untersuchung des zweiten Analyseabschnitts – der die Zeit kurz vor dem Übergang in die Oberstufe bis zur 12. Klasse umfasst und auf die Erfahrungen des Übergangs in die Sekundarstufe II fokussiert – ergab zwei grundlegende Prozessstrukturverlaufsvarianten des Übergangs: die (2.1) Fortsetzung des schulischen Aufstiegsschemas als der „problemlose Übergang“ und den (2.2) Beginn einer schulischen Degradierungs- und Versagensverlaufskurve als der „krisenhafte, leidvolle Übergang“ (ebd.). Während bei der Mehrzahl der Schulaufsteiger*innen die Variante des „leidvollen Übergangs“ herausgearbeitet wurde, zeigte sich der „problemlose Übergang“ lediglich in einem Fall.
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E. Schneider
3 Der krisenhafte Schulübergang von der Hauptschule in die Sekundarstufe II Der krisenhafte, leidvolle Übergangsprozess, welcher von massiven Leistungseinbußen und Statusverlusterfahrungen gekennzeichnet ist, markiert sich als ‚typischer‘ Schulübergangsverlauf von der Hauptschule in die Sekundarstufe II und ist stimmig mit den Befunden anderer Studien, die auf die besonderen „Mühen“ und das hohe Risiko des schulischen Scheiterns dieser Aufstiegsform im Schulsystem hinweisen (Silkenbeumer und Wernet 2012; Trautwein et al. 2007).3 Als zentrale Bedingungen und Kennzeichen für den leidvollen Übergangsprozess von der Hauptschule in die Sekundarstufe II konnten folgende Faktoren identifiziert werden: Zum ersten liegt eine erschwerende institutionelle Konstellation vor, die auf der gravierenden Diskrepanz der Leistungsanforderungen in der Hauptund Sekundarstufe II-Schulform beruhen, verbunden mit der Anforderung, den Wissensvorsprung der Oberstufenschüler*innen in kurzer Zeit aufholen zu müssen, zugleich mit den Anforderungen einer gänzlich neuen, zweiten Fremdsprache konfrontiert zu sein und keine tragfähigen, institutionellen Instanzen der Unterstützung speziell für Quereinsteiger*innen in der Oberstufenschule zu erfahren. Alle interviewten Schüler*innen mussten die Erfahrung machen, dass das in der Hauptschule angeeignete Leistungsniveau für einen nahtlosen Anschluss an die 11. Klasse nicht ausreicht und der Schulaufstieg mit einer nicht mehr kontrollierbaren, nach unten weisenden Leistungsentwicklung einhergeht. Die aufsteigende Schulkarriere nimmt die Form einer „schulischen Versagensverlaufskurve“ an (Nittel 1992). Zudem wird mit der neuen Leistungskategorisierung in der Sekundarstufe II, nicht mehr wie gewohnt zum oberen Leistungsdrittel, sondern nun zum mittleren oder sogar unteren, versetzungsgefährdeten Feld der Klasse zu gehören, der als „Big-Fish-Little-Bond-Effect“ bezeichnete Bezugsgruppeneffekt (Marsh et al. 2001) ausgelöst, der zu einer negativen Einschätzung der eigenen Leistungen und Schwächung der Lernmotivation und des
3Die
These des „krisenhaften Übergangs“ als ‚typischer‘ Schulübergangsverlauf von der Hauptschule in die Sekundarstufe II besitzt natürlich keine verteilungstheoretische Relevanz, sondern ist in Form klassischer Theoriegenerierung aus den qualitativrekonstruktiven Befunden der genannten Schüler*innenbiografiestudie (Schneider 2018a, c) abgeleitet worden. Wie viele Hauptschüler*innen beim Übergang in die Sekundarstufe II einen Erleidensprozess von Versagen und Degradierung durchlaufen, müsste in einer quantitativen Studie überprüft werden.
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Selbstwertgefühls führt. Für einige Schüler*innen wird der rapide schulische Leistungsabfall zu einer regelrechten schockartigen Degradierungs- und Desillusionierungserfahrung („und wurde ich wie aus einem traum weggerissen, seifenblasen blatz- ehm seifenblasen zerplatzt“, 2. I. Sascha). Scheint für die Schüler*innen die Hoffnung auf Erfolg trotz maximal gesteigerter Leistungsbereitschaft zu versagen, setzt ein Entmutigungsmechanismus ein, der zur Resignation und zu depressiven Stimmungen sowie sogar zur Aufgabe des Ziels, das (Fach-)Abitur zu erwerben, führen kann. Es entsteht eine negative Gedankenschleife von verminderten Antrieb, Verlust an Selbstwertgefühl und Leistungsfähigkeit („dann ach scheiße man, hab ich keine lust mehr und häng zwei tage nur rum.. geh nicht mehr raus, auch nicht schule und so, und.. weil, ja. ich schaffs ja sowieso nicht“, 2. I. Sascha). An der Heftigkeit der Degradierungserfahrung, vom ehemaligen Einserschüler zum leistungsbezogenen Problemschüler abzusteigen, sind die tendenziell hohen, zuversichtlichen Erwartungen der Hauptschüler*innen gegenüber der Sekundarstufe II beteiligt, die aus den ersten Interviews herausgearbeitet werden konnten. Die zuversichtlichen Antizipationen, die hohen Schulanforderungen mit einer gesteigerten Leistungsbereitschaft relativ problemlos bewältigen zu können, sind auf den intensiv erlebten Schulerfolg am Ende der Hauptschulzeit zurück zu führen, mit dem Bestehen der zentralen Abschlussprüfungen in der 10. Klasse, die auch für die Real- und Gesamtschulen gelten, „zu den besten der schule, ähm des schuljahrgangs zu gehören“ (2. I. Meik) und werden mit dem Ankommen in der Oberstufe zu einer dramatischen Enttäuschungserfahrung. Durch die Enttäuschungserfahrung kehren sich das Erfolgserleben am Ende der Hauptschulzeit und die überschwängliche Motivation auf die Oberstufe in eine depressive Stimmung und Mutlosigkeit um. Des Weiteren wirken bei einer Mehrzahl der Hauptschüler*innen familiale Problemaufschichtungen wie eine Marginalisierungssituation im Rahmen einer Migrationsfamilie oder Destabilisierungen im Zusammenhang mit prekären Unterschichtslebenssituationen, die die schulische Bewährungssituation zusätzlich belasten. Und schließlich läuft ein Stigmatisierungsprozess durch den Hauptschulbesuch fort, der in reziproker Weise auf den Prozessen des schulischen Versagens und der Degradierung wirkt und den Schulerfolg maßgeblich beeinträchtigt. Im Folgenden soll der fortlaufende, kollektive Stigmatisierungsverlaufskurvenprozess durch den Hauptschulbesuch in seinem Verlauf, seiner Wirkungsweise, sowie die Formen seiner Bearbeitung im Kontext einer schulischen Aufstiegskarriere beschrieben werden.
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4 Merkmale und Verlauf einer kollektiven Stigmatisierungsverlaufskurve Die Analysen der Schüler*innenbiografien aus der vorgestellten Studie zeigen, dass alle Hauptschüler*innen in einer mehr oder weniger starken Weise von einem Prozess der Stigmatisierung durch den Besuch der Hauptschule betroffen sind. Mit der Zugehörigkeit oder Zuschreibung zu einer stigmatisierten Wir-Gruppe der Hauptschüler*innen sind Erfahrungen gesellschaftlicher Anerkennungsverweigerung wie Missachtung und Herabwürdigung verbunden, die zu Identitätsproblemen führen (Mead 1968; Honneth 1992). Die Anerkennungsverweigerung verläuft für die Jugendlichen über negative Fremdzuschreibungen bezüglich der Schulformzugehörigkeit, die über verschiedene Negativetikettierungen aus öffentlichen, politischen und auch wissenschaftlichen Diskursen transportiert werden. Hauptschüler*innen stehen damit einer Positionierungs- und Auseinandersetzungsleistung in Bezug auf die Frage gegenüber, inwieweit sie entsprechend den gesellschaftlich zugeschriebenen, negativen Merkmalen bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur kollektiven Identität der Hauptschüler*innen tatsächlich leistungsschwache, wenig bildungs- und schulinteressierte, faule und versagende Schüler*innen sind und sich selbst als „Bildungsverlierer“ (Knigge 2009) sehen oder nicht. So wie grundlagentheoretisch die konditionellen Ereignisverkettungen einer kollektiven Verlaufskurve nicht auf die Veränderung individueller sozialer Einheiten abzielt (Schütze 1982, S. 585), richtet sich auch der Stigmatisierungsprozess nicht auf einzelne Personen, sondern auf eine spezielle Gruppe von Schüler*innen. Bei der kollektiven Verlaufskurve von Stigmatisierung handelt es sich nicht um das Phänomen der kollektiven Auswirkungen individueller Verlaufskurven, sondern es ist „eine konditionelle Ereignisverkettung, die eine kollektive identitätskonstituierte soziale Einheit“ – in diesem Fall die Gruppe der Hauptschüler – „als solche“ (ebd., S. 584 f.) betrifft. Der Kollektivitätscharakter des im Zuge des Besuches eines sozial entwerteten Bildungsortes in Gang gesetzten Erleidensprozesses repräsentiert sich dabei in den ähnlichen Abwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen der Hauptschüler*innen. An dieser Stelle führt die in der Gesellschaft bestehende Akzeptanz moralischer Herabwürdigungen gegenüber Hauptschüler*innen, zusammen mit einer Verschleierung ihrer strukturellen Ursachen, zu einer individualisierten Wahrnehmung der Abwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen und fließt unweigerlich in die Selbstzuschreibungen der betroffenen Schüler*innen mit ein (vgl. auch Wellgraf 2012). Die negativen Fremdzuschreibungen werden zu belastenden
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elbstzuschreibungen und haben negative Folgen auf das FähigkeitsselbstS konzept der Betroffenen (Schütze 2014). Insbesondere Demütigungen, die mit der Zuschreibung kognitiver Defizite einhergehen (z. B. fehlende Begabung) verletzen das bei vielen Hauptschüler*innen ohnehin schwache Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein zusätzlich. Obgleich die kollektive Stigmatisierungsverlaufskurve in keiner der untersuchten Schüler*innenbiografien die Form einer dominanten Prozessstruktur in der Lebensgeschichte der Schüler*innen annimmt, wird die schulformbezogene, kollektive Identität für die Hauptschüler*innen zu einem „Erleidensraum“ (Schütze 1982, S. 583), der sie in ihrer individuell-biografischen Identitätsentwicklung massiv beeinträchtigt und die schulische Bewährungssituation im Oberstufenkontext zusätzlich belastet. Interessant ist, dass dieser kollektive Erleidensprozess bereits vor dem Ankommen an der Hauptschule wirksam wird, wenn sich im Rahmen des Entscheidungsprozesses des Schulwechsels von der Grundschule in die Sekundarstufe I der Übergang auf die niedrige Schulform abzeichnet. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Grundschüler*innen wissen, wie es um die Reputation ihrer zukünftigen Schule bestellt ist und welche allgemeinen Stereotype über Hauptschüler*innen kursieren. Bereits mit dem Anmeldeund Bewerbungsprozess für die weiterführenden Schulen gehen (negative) Etikettierungen von Schüler*innen einher. Diese werden durch zu wenig umsichtiges und unsensibles Lehrer*innenverhalten verstärkt und führen zu ersten Stigmatisierungserlebnissen von einzelnen Schüler*innen im Fall eines Hauptschulübergangs (oder auch Sonder- bzw. Förderschulübergangs), wenn – wie in einem Schülerinterview – die Zusagen von den Schulen der Sekundarstufe I, welche die Kinder bekommen haben, über ein Plakat für alle sichtbar im Klassenraum visualisiert werden. Der zukünftige Besuch einer Hauptschule (oder auch Sonder- bzw. Förderschule) und damit die eigene Leistungsschwäche und/ oder Förderbedarf der betroffenen Schüler*innen wird auf diese Weise zur Schau gestellt. Des Weiteren wird durch die längsschnittliche Anlage der vorliegenden Schüler*innenbiografiestudie sichtbar, wie der Stigmatisierungsprozess auch nach dem Schulwechsel in der Form weiter verläuft, dass die aufsteigenden Hauptschüler*innen auch von den neuen Mitschüler*innen und auch Lehrer*innen an der Oberstufe negativ gesehen werden. Der Sachverhalt, von der Hauptschule zu kommen, lastet auf den aufsteigenden Hauptschüler*innen wie eine Hypothek. Die betroffenen Schüler*innen gehen zwar davon aus, mit dem Austritt aus dem sozial entwerteten Bildungsort auch das Etikett des*der stigmatisierten Hauptschülers*in abgelegt zu haben und damit nicht mehr Adressat*in
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negativer Fremdzuschreibungen zu sein. Allerdings geht aus den Zweitinterviews hervor, wie die Schulaufsteiger*innen von den Oberstufenschüler*innen und -lehrer*innen als leistungsschwache Hauptschüler*innen wahrgenommen werden, wenn ihnen suggeriert wird, im Oberstufenkontext deplatziert zu sein. Hieran wird die nachhaltige Wirksamkeit negativer Fremdzuschreibungen bezüglich einer doch eigentlich vergangenen, im Sinne faktisch nicht mehr gegebenen Zugehörigkeit zu einer kollektiven Identität einer spezifischen Schüler*innengruppe deutlich. Der Nachhaltigkeitseffekt einer kollektiven Stigmatisierungsverlaufskurve wird zudem durch die massiven Differenz- und Defiziterfahrungen verstärkt, die die ehemaligen Hauptschüler*innen in Bezug auf den eigenen Leistungsstand im gestiegenen Anforderungskontext der Oberstufen erleben, der eben nicht nur für die aufsteigenden Schüler*innen selbst, sondern auch für die Mitschüler*innen und Lehrer*innen sichtbar ist. In dieser Form können auch sogenannte „Anschlussklassen“ stigmatisieren, wie sie beispielsweise in Bayern mit dem Ziel etabliert sind, ehemaligen Hauptund Realschüler*innen auf den durchschnittlichen Wissen- und Kenntnisstand eines*einer gymnasialen Elftklässlers*in zu bringen, um so eine bessere Eingliederung für die Aufsteiger*innen zu ermöglichen. Diese Form institutioneller Vorkehrungen wird allerdings von den betroffenen Schüler*innen als zusätzliche Statusdegradierung und Markierung erlebt, da sie aus dem Unterricht der Regelklasse ausgegliedert werden und ihnen ein zusätzlicher Förderbedarf zugewiesen wird.
5 Formen der Bearbeitung des kollektiven Stigmatisierungsprozesses Aus dem vorliegenden Interviewmaterial konnten verschiedene Formen der Bearbeitung eines kollektiven Stigmatisierungsprozesses herausgearbeitet werden, die sich zwischen dem Grad des Stigmaerlebens, den familiendynamischen Prozessen und der familialen Ressourcenausstattung, sowie den einzelschulspezifischen Rahmenbedingungen aufspannen. Die einzelschulspezifischen Rahmenbedingungen sind dabei im Zusammenhang mit einer regional variierenden Strukturproblematik der Schulform zu sehen (Solga und Wagner 2010; Schümer 2004; Baumert et al. 2006): Je höher die Strukturproblematik der einzelnen Hauptschule ausfällt, umso größer ist der Selektivitätsgrad der Schule und umso mächtiger wirken die strukturell verursachten Ausgrenzungs- und Marginalisierungsmechanismen.
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Zudem geht aus den ersten Schüler*inneninterviews hervor, wie sich die Hauptschüler*innen im Verlauf der Stigmatisierungsverlaufskurve in Hinblick auf ihr eigenes Selbstbild in eine Diskrepanz zwischen der eigenen hohen Leistungsund Aufstiegsorientierung und dem kapitalarmen und anforderungsniedrigen Bildungsort Hauptschule ‚verstricken‘ (Schneider und Wirringa 2011; Schneider 2018a). Dieser schwierige Widerspruch von hoher Bildungsaspiration und sozial entwertetem Bildungsort wird besonders bei Hauptschüler*innen mit einer ausgeprägten Prestigeorientierung relevant und kann sich zu einer Unvereinbarkeit innerhalb der eigenen Identitätsentwicklung entwickeln. Es lassen sich zwei unterschiedliche Bearbeitungsformen differenzieren, die nachstehend anhand je eines empirischen Fallbeispiels illustriert werden: Neben einer a) ausblendenden, (re-)normalisierenden Form der Bearbeitung, bei der die Schüler*innen das eigene Betroffensein der Stigmatisierung sich selbst und/ oder anderen gegenüber ausblenden und nicht bewusst machen, zeigt sich bei einem Großteil der interviewten Hauptschüler*innen, wie sich b) die Betroffenen des eigenen stigmatisierten Hauptschüler*innenstatus bewusst werden und sich kritisch-reflexiv mit den negativen Fremdzuschreibungen auseinandersetzen. Zu a) In der Lebensgeschichte von Martin wird im Umgang mit dem kollektiven Stigmatisierungsprozess ein Ausblendungs- und ( Re-) Normalisierungsmechanismus sichtbar. Die ausblendende Form der Bearbeitung steht im Zusammenhang mit den seine biografische Entwicklung prägenden, destabilisierenden Prozessen seiner materiell und kulturell ressourcenstarken Familie. Die permanenten Veränderungen der Wohnsituation im Zuge der Trennung der Eltern, einer zweiten Familiengründung und der Geburt zweier Halbbrüder gehen für Martin mit schwierigen Verlusterfahrungen einher. Der Junge verliert den täglichen Kontakt zum Vater und erlebt den Auszug aus dem eigenen Haus und damit auch dem Wegfall des eigenen Zimmers als Verlust von eigenem Territorium, Besitz und sozialem Status. Es bildet sich bei Martin eine starke Orientierung an materieller und sozialer Sicherheit aus, die sich in seinem sehr früh ausgerichteten, berufsbiografischen Ziel niederschlägt, „manager zu werden“ oder „ich werd ja die familienfirma übernehmen“ (1. I. Martin). Dieser berufsbiografische Entwurf verspricht Martin zwar eine prestigeträchtige berufliche Position, bei dem allerdings eigene biografische Neigungen, Begabungen und Interessen unberücksichtigt bleiben. Hinzu kommt, dass neben den alltäglichen Kämpfen um Anerkennung innerhalb der 7-köpfigen Mehrkind-Patchworkfamilie Martin angesichts seiner Hauptschulkarriere und einer diagnostizierten Legasthenie den familialen Bildungserwartungen nicht im gleichen Maße entspricht wie seine älteren und jüngeren Brüder, die das Abitur
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haben oder auf ein Gymnasium gewechselt sind. In der Jugendzeit wächst bei Martin verstärkt das Bedürfnis, sich gegenüber anderen (wie seinen Brüdern oder Gleichaltrigen in der Schule und beim Fußball) als besonders zu stilisieren. Damit einher geht die Ausbildung eines ausgereiften (Selbst-)Täuschungs- und Ausblendungsmechanismus, der bei dem Schüler mit zahlreichen verschiedenen positiven Selbstzuschreibungen verbunden ist, die Martin besondere Formen der Anerkennung und Wertschätzung versprechen (wie das Bild des auserwählten Enkels und „omakindes“ (1. I. Martin), der die Familienfirma übernimmt oder des hochbegabten Fußballspielers sowie des erfolgreichen, leistungsstarken und beliebten Schülers „ich war immer einer beliebtesten in meiner klasse“ (1. I. Martin). Martin konstruiert sein Leben als eine Erfolgsgeschichte, in der Erfahrungen des Scheiterns und Misserfolge, wie nach der Grundschule nicht auf ein Gymnasium übergehen zu können, dethematisiert werden. Die verschiedenen positiven Selbstzuschreibungen ermöglichen es dem Schüler, eine kritische Reflexion im Rahmen einer Bearbeitung der eigenen (z. T. schwierigen) biografischen Situation zu umgehen. Vor diesem Hintergrund erscheint für Martin seine Hauptschulkarriere besonders diskrepant, da die Zugehörigkeit zur Gruppe der „Bildungsverlierer“ eine eindeutige Inkonsistenz in Bezug auf seine gewählte Form der Selbstdarstellung einer zweifellosen Erfolgsgeschichte und dem von ihm entwickelten schulischen Selbstbild eines erfolgreichen und intelligenten Schülers darstellt. Um die Inkonsistenz zwischen Selbstpräsentation und formaler Bildungsgeschichte zu bearbeiten und den Sachverhalt, Hauptschüler zu sein, zu entwerten, entwickelt Martin verschiedene Strategien: Zum einen versucht er seine Hauptschule über ihren guten Ruf gegenüber anderen Hauptschulen aufzuwerten, indem er an mehreren Stellen im ersten Interview immer wieder betont, dass es sich bei seiner Schule um eine „katholische hauptschule“ (1. I. Martin) handelt, die „eigentlich n richtich guten ruf“ hat (1. I. Martin).4 Zum zweiten wird der Hauptschulbesuch in den Darstellungen von Martin dethematisiert. In einer Form der Selbstkorrektur „aber in der. äh seit der weiterführenden schule sitz ich eigentlich immer neben dem“ (1. I. Martin) wird deutlich, wie Martin zwar auf eine Rückfrage der Interviewerin nach dem Schulverlauf hin über seine Sekundarschulzeit zu erzählen beabsichtigt, ohne aber explizit zu machen, um welche Schulform es sich handelt. Darüber hinaus zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem prestigearmen Hauptschülerstatus die
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„richtich gute ruf“ bezieht sich vor allem auf den vergleichsweise niedrigen Migrantenanteil innerhalb der Schülerschaft, der sich dadurch erklärt, dass die Hauptschule nur Schüler*innen katholischer Konfession aufnimmt.
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Relevanz von Martins materiell und kulturell kapitalstarkem familialem Hintergrund. Denn schließlich ist es Martins Konstruktion des auserwählten Enkels, der später einmal die Familienfirma übernehmen wird, sowie seine selbstverständliche Teilhabe an den materiellen Gütern der Familie, die ihn vor der Übernahme der negativen Fremdzuschreibung schützen und zur Aufrechterhaltung seines erfolgreichen Schülerbildes beitragen. Auf diese Weise bearbeitet Martin bis zum Zeitpunkt des ersten Interviews den eigenen stigmatisierten Hauptschülerstatus, ohne die Inkonsistenz zwischen Selbstpräsentation und formaler Bildungsgeschichte zu reflektieren. Dass eine Auseinandersetzung mit der kollektiven Identität des stigmatisierten Hauptschülers aber für den Schüler unumgänglich wird, zeigt sich im zweiten Interview. Während Martin im ersten Interview noch versuchte, seine Hauptschulzugehörigkeit zu verschleiern, thematisiert er im zweiten Interview selbstläufig im Rahmen eines Nachgespräches seine Stigmatisierungserfahrungen als Ex-Hauptschüler wie folgt: „und vor allen dingen, wir sind ja nich alle dumm, da- da sind auch viele die intelligent sind, nur einfach keine lust ham //hm// zu faul sind, nicht gefordert werden //hm// gefördert werden .. das find ich halt so“ (2. I. Martin).
Auffällig ist, dass Martin erst nachdem er faktisch nicht mehr zur Schülergruppe der Hauptschüler*innen gehört, damit beginnt, sich selbst die Zugehörigkeit zu diesem Kollektiv bewusst zu machen und versucht, gegen die Stereotypisierungen des Hauptschüler*innenbildes zu argumentieren. In der Oberstufe werden Martin die negativen Folgen seines Hauptschulbesuches in Form massiver Leistungsrückstände, insbesondere in Bezug auf das Fehlen einer zweiten Fremdsprache, klar vor Augen geführt, die bei ihm zu einer Nichtversetzung in die 12. Klasse führen. Über die schlechten Noten und die Nichtversetzung bekommt Martin das Bild eines leistungsschwachen (Ex-Haupt-)Schülers unweigerlich gespiegelt und er wird mit dem Fakt konfrontiert, seine Hauptschulzeit als massive Benachteiligung für den weiteren Verlauf seiner Schulkarriere zu sehen. Gleichzeitig wird deutlich, wie relevant die Auseinandersetzung mit der kollektiven Identität des*der stigmatisierten Hauptschülers*in auch nach dem Verlassen der Hauptschule für die individuelle Identitätsentwicklung der Betroffenen ist. Das Bearbeitungsmuster zum Zeitpunkt des ersten Interviews im Umgang mit dem Stigmatisierungsprozess, die eigene Hauptschulzugehörigkeit quasi zu zu leugnen zu versuchen und gleichzeitig die Inkonsistenzen zwischen eigenem biografischen und schulischen Selbstentwurf und tatsächlichen Bildungskarriereverlauf nicht bewusst zu machen, setzt sich bei Martin auch
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zum zweiten Interviewzeitpunkt im Umgang mit der schulischen Versagensund Degradierungsverlaufskurve fort. Über Strategien der Ausblendung des schulischen Misserfolgs und einer renormalisierenden Stilisierung zum immer noch erfolgreichen Schüler, deutet Martin die Nichtversetzung in die 12. Klasse an der Fachoberschule zu einem selbstinszenierten Schulzweigwechsel (vom Vollabitur- zum Fachabiturzweig) um, der in der Folge zwangsläufig mit einer Klassenwiederholung verbunden ist. In Martins Eigentheorie wird die Klassenwiederholung nicht über eigene Leistungsdefizite erklärt, sondern mit nicht hinreichenden flexiblen institutionellen Strukturen externalisiert. In der selbstverkennenden Ausblendung der Schulkrise ruht allerdings, wie bereits zum Zeitpunkt des ersten Interviews bezogen auf die stigmatisierte Hauptschulzugehörigkeit, eine Bedrohung der weiteren Oberstufenkarriere, da ein Erkennen und damit Transformieren eigener defizitärer Lernverfahren ausbleibt. Zu b) Die Bearbeitungsform einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung der Stigmatisierungsverlaufskurve konnte in der Lebensgeschichte von Sunay herausgearbeitet werden. Sunay gehört zur dritten Generation einer aus der Türkei nach Deutschland immigrierten Familie. Nachdem bereits ihre Mutter nach dem Modell der arrangierten Ehe mit einem Mann aus der Türkei im Sinne des Traditionserhalts verheiratet wurde, wird auch an Sunay, als die älteste Tochter, dieser familienbiografische Entwurf gerichtet, in dem eine hohe (Schul-)Bildung (insbesondere für Mädchen) nur eine geringe Rolle spielt. Neben den niedrigen Bildungsorientierungen der Familie werden in Sunays Biografie weitere familiale Restriktionen deutlich. Im Verlauf Sunays Kindheit verlässt der Vater die Familie, der Großvater begeht Selbstmord, worauf die Mutter in eine anhaltende Depression verfällt. Zudem zieht sich die nun alleinerziehende Mutter sehr stark in ihrer Lebensweise in die alten Traditionen ihres türkischen Herkunftslandes zurück, was für Sunay zu einer marginalisierten Lebenssituation (siehe „Marginal Man“ von Stonequist 1961) führt. Um nicht wie ihre Mutter von der Sogkraft der familialen Migrations- und Marginalisierungsverlaufskurve mitgerissen zu werden, versucht Sunay sich von den Zwängen des familialen Milieus abzusetzen. Aus dem Ziel, sich von der Fremdbestimmung der Familie zu lösen, entwickeln sich Ansätze eines biografischen Wandlungsprozesses, der sich erst mit dem Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I zur dominanten Prozessstruktur entfaltet. Im Zuge des Wandlungsprozesses, der immer wieder durch schwierige Prozesse im familialen und Schulkarrierebereich retardiert wird, beginnt Sunay die familial habitualisierten Orientierungen kritisch infrage zu stellen. Obgleich am Ende der Grundschulzeit entsprechend der Lehrer*innenempfehlung ein Übergang auf eine Sekundar- oder Gesamtschule möglich
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gewesen wäre, entscheidet ihre Mutter gegen den Willen ihrer Tochter, dass Sunay auf eine Hauptschule übergeht. Der als familiale Fremdbestimmung und Deplatzierung erlebte Übergang in die Hauptschule konstituiert sich in Sunays Fall zusammen mit den Stigmatisierungserfahrungen durch den Besuch eines sozial entwerteten Bildungsortes zu einer biografischen Krise, die den Anstoß für umfassende Leistungen biografischer Arbeit gibt. Dabei erkennt Sunay die Obligationsmacht, die von den Restriktionen ihrer türkisch-traditionellen Migrantenfamilie und den negativen Fremdzuschreibungen gegenüber der Hauptschüler*innengruppe ausgeht. In dem Textbeispiel zu Beginn dieses Beitrages dokumentiert sich exemplarisch dieser biografische, kritisch-reflexive Auseinandersetzungsprozess. Aus diesem Interviewausschnitt geht u. a. hervor, dass über Vergleiche mit anderen Schüler*innengruppen, wie Freunde „die halt ebn studiern oder irgendwie auf realschule oder gymnasium gehen“ (1. I. Sunay), die stigmatisierende Wirkung der Kategorisierungen zur Hauptschüler*innengruppe in der Selbstwahrnehmung der Schülerin verstärkt wird. Sunay versucht sich von den negativen Fremdzuschreibungen (zumindest innerlich) zu distanzieren. Dabei trägt die biografisch-reflexive Auseinandersetzung mit der Obligationsmacht der eigenen türkischen Familie und der Hauptschule zu einer Ausbildung einer Fähigkeit zur fortlaufend kritischen Hinterfragung sozialer Kategorisierungen und Stereotypisierungen kollektiver Identitäten bei. Auf diese Weise lernt Sunay einen kritischen Umgang mit den Annahmen und Vorstellungen von Merkmalen einzelner Wir-Gruppen, denen sie angehört (wie der Hauptschüler*innengruppe oder der Gruppe türkischer Frauen) und schafft es, die negativen Fremdzuschreibungen (z. B. Hauptschüler*innen sind faul, wenig begabt und schuldesinteressiert) nicht zu übernehmen. Durch diese biografische Kollektivitätsarbeit wird der biografische Wandlungsprozess erneut angetrieben und spitzt sich handlungsschematisch zu einem schulischen Aufstiegsschema zu. Die neuen bildungs- und aufstiegsbezogenen Orientierungen gehen bei der Schülerin mit einem hohen Leistungsbestreben und einer distinktiven Haltung gegenüber anderen insbesondere türkischen Hauptschüler*innen einher, die diese Orientierung nicht haben. In Formulierungen wie „hauptschüler sind sowieso alle dumm“, „ich will mit der türkei nichts zu tun haben“ (1. I. Sunay) markiert sich eine distinktive Haltung der Schülerin gegenüber ihrer stigmatisierten Hauptschüler*innenidentität und türkischen Nationalität. Der weitere Schulkarriereverlauf verdeutlicht aber, wie die konditionellen Relevanzen der Stigmatisierung durch den Hauptschulbesuch an Bedeutung behalten. Es zeigt sich exemplarisch an Sunays Fall, wie die kritisch-reflexive
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Auseinandersetzung mit dem Stigmatisierungsprozess durch eine scheinbar unlösbare Ambivalenz gekennzeichnet ist: Einerseits versucht die Schülerin sich gegen die Fremdzuschreibungen gegenüber Hauptschüler*innen zu wehren und missbilligt diese. Andererseits versteht Sunay Schulerfolg als individuelles Leistungsmerkmal und als Ausdruck von Motivation, Intelligenz und Begabung. Durch die Individualisierung der Erfahrungen sozialer Abwertung und Ausgrenzung werden die Kritikfähigkeit an der gesellschaftlichen Produktion von Missachtung und Herabwürdigung erschwert, sowie die Handlungsmöglichkeiten verstellt, welche bei Sunay bereits durch den Mangel an familialen bildungskapitalstarken Ressourcen eingeschränkt sind. In der 8. Klasse nehmen die konditionellen Relevanzen der Stigmatisierungsverlaufskurve so stark zu, dass Sunay ihre schul- und leistungsbezogene Motivation verliert und kurz davor steht, das Ziel einer schulischen Aufwärtsqualifizierung aufzugeben. Es kommt, angestoßen durch eine Hauptschullehrerin, zu einem Wechsel an eine andere Hauptschule mit niedrigerer Strukturproblematik und geringerem Selektionsgrad, an der Sunay ihre Leistungen stabilisieren kann und den Schulaufstieg schafft. Mit dem Übergang in das leistungsbezogen anforderungshöhere Oberstufenmilieu der Gesamtschule setzt auch in Sunays Biografie ein Erleidensprozess von schulischer Degradierung und schulischem Versagen (s. Abb. 1) ein, den sie neben der weiterlaufenden kollektiven Stigmatisierungsverlaufskurve zunächst nur schwer kontrollieren kann. Zugleich gewinnt sie mit dem Eintritt in die Oberstufe auch Anschluss an bildungserfolgreiche, türkische Mitschüler*innen, die für sie zu wichtigen Bezugspersonen im Hinblick auf ihre schulische Aufstiegskarriere werden und ihr ein biografisches Orientierungspotential im Auseinandersetzungsprozess zu Fragen kollektiver Zugehörigkeit und Identität bezüglich ihrer Herkunftsschulform und türkischen Nationalität bieten, welches für Sunay im Kontext der Familie und Hauptschule ausblieb. In der Bearbeitung der schulischen Degradierungs- und Versagensverlaufskurve kann die Schülerin nun auf die bereits eingeübten Strategien des Erkennens, Reflektierens und Transformierens eigener schul- und bildungsbezogener Haltungen sowie eigener defizitärer Wissensbestände und Kompetenzen zurückgreifen und diese für die Stabilisierung ihres weiteren Oberstufenschulkarriereverlaufs nutzen.
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6 Fazit und Diskussion Die Fallanalysen zeigen, dass der Aufstieg von der Hauptschule in die Sekundarstufe II über die Entkopplung von Schulabschluss und besuchter Schulform mit verschiedenen biografischen Erleidensprozessen einhergeht, die nicht nur ein schulisches Scheitern bewirken, sondern für die weitere biografische und Schulkarriereentwicklung eine Verunsicherung der eigenen Bildungsbestrebungen und Identitätsentfaltung bedeuten. Ein mit dem Schulaufstieg einsetzender schulischer Versagens- und Degradierungsprozess sowie eine fortlaufende Stigmatisierung als ehemalige*r Hauptschüler*in im Oberstufenkontext verdeutlichen die doppelte Belastung und Hypothek, die der Hauptschulbesuch für eine weiterführende Schul- und Bildungskarriere impliziert. Neben der Entwicklung neuer Lern- und Organisationsformen des schulischen Arbeitens müssen Schulaufsteiger*innen aus der Hauptschule im anforderungshohen Oberstufenkontext Leistungseinbrüche, damit verbundene Statusabstiegserfahrungen und Stigmatisierungserfahrungen bezogen auf ihren ehemaligen Hauptschulbesuch bearbeiten. Der objektive Statusgewinn, vom bzw. von der sozial entwerteten Hauptschüler*in zum*r Oberstufenschüler*in aufgestiegen zu sein, wird im Erleben und in der Deutung der betroffenen Schüler*innen von der massiven leistungsbezogenen Abstiegserfahrung, aufgrund eigenen Versagens, und der fortlaufenden Stigmatisierung vollkommen überdeckt. Dabei offenbart die Längsschnittperspektive dieses spezifischen Schulübergangsprozesses das Paradoxon der institutionell gegebenen Möglichkeit des Aufstiegs innerhalb des früh selektierenden, mehrgliedrigen Schulsystems: Zwar erleben sich die aufsteigenden Hauptschüler*innen am Ende ihrer Hauptschulzeit zunächst als erfolgreich, wenn sich entsprechend dem Pro-Argument der äußeren Leistungsdifferenzierung die leistungsschwächeren Schüler*innen in Bezug zur Leistungsgruppe der Hauptschüler*innen eher als leistungsstark erleben und vom Leistungsdruck entlastet werden (Gröhlich et al. 2009). Gleichzeitig liefert aber gerade das Durchlaufen der Hauptschule den Schüler*innen die Basis zum Scheitern. Denn der Besuch des Bildungsorts Hauptschule, an welchem sie Erfolg haben, entfernt die Aufsteiger*innen aufgrund der anregungsarmen bzw. problematischen Lern- und Entwicklungsmilieuerfahrungen produzierter Lernund Leistungsdefizite (Schümer 2004; Baumert et al. 2006; Solga und Wagner 2010) davon, was in der Sekundarstufe II erwartet wird, um schulisch auch zukünftig erfolgreich zu sein. Das Pro-Argument der frühen Schulselektion und äußeren Leistungsdifferenzierung basierend auf den positiven Bezugsgruppeneffekt, wenn die frühe Zuteilung zu einer niedrigen Schulform vor selbstwert-
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schädigenden Vergleichen mit leistungsstärkeren Mitschüler*innen schützt und zum Aufbau eines positiven Selbstbildes beiträgt (Marsh et al. 2001; Köller 2004), ist vor dem Hintergrund der Befunde eines krisenhaften Schulübergangs in die Oberstufe und eines kollektiven Stigmatisierungsprozesses im Zuge des Hauptschulbesuchs in Hinblick auf eine weiterführende Schul- und Bildungskarriere deutlich infrage zu stellen. Damit ist auch die These der Durchlässigkeit ‚nach oben‘ des mehrgliedrigen Schulsystems zu relativieren. Des Weiteren machen die Befunde deutlich, dass es sich bei der Stigmatisierung von Hauptschüler*innen um ein Strukturproblem der frühen Segregation im deutschen Schulsystem und der sozial niedrigen Reputation der Hauptschulform handelt. Bedeutsam ist, dass der Stigmatisierungsprozess bereits vor dem Einmünden in die Hauptschule relevant wird und auch nach dem Verlassen der Hauptschule in anderen Schulkontexten fortläuft. Mit dem Befund eines kollektiven Stigmatisierungsprozesses wird eine sozialbiografische Situation von Hauptschüler*innen deutlich, die es nicht nur für die hier fokussierte Gruppe der Schulaufsteiger*innen von der Hauptschule, sondern auch für alle anderen Hauptschüler*innen schwierig macht, sich emotional und leistungsmäßig in neue (Schul-)Kontexte sowie in die Wissens- und Leistungsgesellschaft zu integrieren. Damit zeigt sich ein erhöhter Handlungsbedarf, nach Möglichkeiten und Veränderungen der Verbesserung dieser Schüler*innen zu suchen. An dieser Stelle ist zudem zu beachten, dass trotz der inzwischen zu beobachtenden Abschaffung der Hauptschulform in vielen Bundesländern die pädagogische Herausforderung eines stützenden Umgangs mit Schüler*innen, die diesen individualisierten Schulaufstieg gehen, nicht hinfällig wird. Denn die Problematik der Hauptschule, welche vor allem im Zusammenhang mit der Zusammensetzung ihrer multiproblembelasteten Schüler*innenklientel steht, ist nicht allein mit der Auflösung dieser Schulform gelöst, sondern wird lediglich in andere Schulkontexte (z. B. Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen) verschoben.
Literatur Baumert, J., Stanat, P., & Watermann, R. (2006). Schulstruktur und die Entstehung differentieller Lern- und Entwicklungsmilieus. In J. Baumert, P. Stanat, & R. Watermann (Hrsg.), Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. 1. Aufl. (S. 96–188). Wiesbaden: VS-Verlag. Honneth, A. (1992). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Bildungsbiografien im Spannungsfeld von Ideal- und Realselbst. Zur familialen Vermittlung von Wehrhaftigkeit Julia Labede Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird nach der psychosozialen Dimension von um- bzw. ab- sowie aufsteigenden Bewegungen im Schulsystem gefragt. Im Anschluss an sozialpsychologische und strukturtheoretische Bestimmungen sowie ausgehend von einer exemplarisch vorgestellten objektiv-hermeneutischen Fallrekonstruktion wird die Bearbeitung einer schulisch erfahrenen Kränkung im Kontext familialer Interaktion untersucht und mit Blick auf ein Krisen eröffnendes Spannungsfeld von Ideal- und Realselbst gedeutet. Herausgearbeitet wird, dass die Familie über den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Idealbildern zu einer Wehrhaftigkeit erzeugenden (Selbst-) Charismatisierung beitragen kann. Schlüsselwörter
Schulformwechsel · Bildungsbiografie · Objektive Hermeneutik · Adoleszenz · Familie
J. Labede (*) Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Thiersch et al. (Hrsg.), Individualisierte Übergänge, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23167-5_7
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1 Einleitung Schulformwechsel bzw. schulische Übergänge in der und im Anschluss an die Sekundarstufe I bieten, ideell betrachtet, die Chance einer Korrektur der Schulwahlentscheidung nach Beendigung der Grundschulzeit und die Möglichkeit einer Passungsherstellung zwischen dem Lernniveau bzw. der Leistungsfähigkeit der Heranwachsenden und dem erwarteten Anspruchsniveau einer weiterführenden Schule. Sie versprechen mit Blick auf die institutionelle Struktur des Bildungswesens eine als notwendig erachtete Durchlässigkeit hinsichtlich der sozialen Platzierungsfunktion der Schule (vgl. hierzu u. a. Liegmann 2008, S. 11; Liegmann 2014, S. 35). Dennoch stellt insbesondere ein schulischer Wechsel in der Sekundarstufe I eine erklärungsbedürftige Bewegung dar: Dieser muss durch die handelnden Akteur*innen (durch Lehre*rinnen, durch die Eltern und/oder die Schüler*innen) selbst initiiert und (bezogen auf die Institutionen) legitimiert werden. Sowohl schulische Ab- als auch Aufstiege erscheinen aufgrund eines mit ihnen einhergehenden Statuswechsels als bearbeitungswürdig (vgl. zum Problem der Statusaneignung bei Übergängen Walther und Stauber 2013, S. 31; Silkenbeumer et al. 2017). Äußerlich betrachtet sind es insbesondere schulische Abstiege, die Anlass zu einer Krisendiagnose bieten1. Aktuellere nicht auf den äußeren Verlauf der Schullaufbahn fokussierende Untersuchungen zeigen aber, dass das Erleben eines Schulwechsels (z. B. als „Bruch“) zunächst unabhängig von der Wechselrichtung zu verstehen ist (vgl. hierzu Liegmann 2008, S. 17, 155; Schneider 2018). Es bleibt an die individuelle Erfahrung und Wahrnehmung dieses schulbiografischen Ereignisses und damit an die Perspektive des Subjekts gebunden. Die Frage nach dem Erleben und Erfahren von Schulformwechseln bzw. schulischen Übergängen als krisenhaft erfordert im Anschluss an die professionalisierungs- und schultheoretischen Bestimmungen Oevermanns (u. a. 1996a, 2004) und Wernets (2003) eine Öffnung der Perspektive auf den partikularistischen Handlungsraum der Familie. So begründet sich eine Krisenkonstellation diesen professions- und schultheoretischen Grundlegungen folgend
1Bellenberg
(1999, S. 221–224) konstatiert eine Brüchigkeit von Schullaufbahnen nur mit Blick auf bildungsbiografischen Misserfolg. So stellen sowohl der vorgegebenen Struktur des Bildungswesens folgende Schullaufbahnen (in Orientierung an der Idee der Passungsherstellung) wie auch aufsteigend-lineare Schullaufbahnen (im Kontext schulpädagogischer Deutungsmuster) Idealschullaufbahnen dar (vgl. zur Konzeption von aufsteigend-linearen Schullaufbahnen auch Cortina und Trommer 2005, S. 346, Labede 2019, S. 25 ff.).
Bildungsbiografien im Spannungsfeld …
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über das Relevantwerden der „ganzen Person“ (vgl. hierzu u. a. Oevermann 1996a, S. 110 ff.). Die Frage nach dem Umgang mit den schulisch erlebten sozial-differenzierenden Zuschreibungen und ihrer aktualen aber auch nachhaltigen identitätsstiftenden Wirkung weist dementsprechend über den universalistischen Handlungsraum der Schule hinaus.2 Bei der Bearbeitung und Umdeutung der über schulische Zuschreibungen erfolgenden Statuszuweisungen sind durch die Schüler*innen unweigerlich auch andere identitätsbedeutsame Erfahrungen relevant zu machen, auszubalancieren und in einen sich im Werden befindenden Positions- und Identitätsentwurf zu integrieren (vgl. hierzu Wellendorf 1977, S. 44 ff.; Erikson 1973; Fend 1994; King 2013). Mit Blick auf die Oevermann’sche Konzeption von Krisen können Destabilisierung und Normalisierung sowie Transformation und Reproduktion als zwei Seiten derselben Medaille verstanden werden (vgl. hierzu Labede 2019, S. 107). So hebt Oevermann im Anschluss an bindungs- und entwicklungstheoretische Konzeptionen die psychosoziale Dimension von Krisen hervor (u. a. Oevermann 2014, S. 43 f.) und stellt aus handlungstheoretischer Perspektive die Möglichkeit der „Entstehung des Neuen“ in und durch Krisen heraus (hierzu Oevermann 2004). Dreh- und Angelpunkt der folgenden Betrachtung bildet die, durch den Krisenbegriff eröffnete, psychodynamische Dimension von Schulformwechseln. Im Anschluss an Freud (1923) können innerpsychische Konfliktlagen als Bestandteil einer sich im Sozialisationsprozess ausbildenden Handlungsapparatur verstanden werden, über die nicht nur gesellschaftliche Wertorientierungen Eingang in das Selbst finden, sondern auch Idealvorstellung vom Selbstsein hervorgebracht werden (vgl. hierzu auch Jacobson 1978; Erdheim 1992; Fend 1994). In Anknüpfung an adoleszenztheoretische Betrachtungen eines als typisch zu verstehenden adoleszenten Narzissmus (vgl. hierzu Erdheim 1992) wird entlang einer exemplarischen Fallrekonstruktion gezeigt, dass die Krisenhaftigkeit eines Schulformwechsels aus psychodynamischer Perspektive auf die Kränkung bestehender Besonderheitsvorstellungen hinweist. Diese werden in der wechselseitigen Angleichung von familialen und eigenen Idealisierungen durch die Familie vermittelt und in Interaktion mit der Umwelt modifiziert. Damit wird die Frage nach der Krisenförmigkeit von schulischen Ab-, Um- und Aufstiegen unter der Perspektive betrachtet, welche Bedeutung der Familie bezüglich des Erfahrens und Erlebens der schulbiografischen Ereignisse zukommt. Gezeigt wird hier, dass die
2Diesbezüglich
besonders aufschlussreich ist die schülerbiografische Studie von Nittel (1992, vgl. zusammenfassend auch Labede 2019).
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Familie, wenn sie interaktiv als Stütze der auf das Selbst bezogenen Idealvorstellung in Erscheinung tritt, zur Wehrhaftigkeit gegenüber schulischen Zuweisungen und Zuschreibungen beitragen kann (vgl. hierzu ausführlich Labede 2019).
2 Schulformwechsel und schulische Übergänge als Krisen? Perspektiven der qualitativen Schülerbiografieforschung In der erziehungswissenschaftlichen Schülerbiografieforschung werden schulische Übergänge und Schulformwechsel als potenziell krisenbehaftet und transformationsfördernd beschrieben (vgl. hierzu u. a. Kramer et al. 2009). Als krisenbehaftet erscheinen diese zum einen, weil sie einen Ausnahmezustand im Sinne einer individuell zu bearbeitenden Situation darstellen. Lebenspraktisch betrachtet stehen wechselnde Schüler*innen vor der Aufgabe, sich an einer neuen Schule mit einem anderen Anspruchsniveau kognitiv, emotional und sozial zu situieren (vgl. hierzu z. B. Liegmann 2008). Dieser Umstand stellt diese, den qualitativen Befunden zufolge, vor allem dann vor ein Problem, wenn die eigenen Bildungsorientierungen durch die neue Schule konterkariert werden (vgl. hierzu Niemann 2015; Schneider 2018). In diesem Sinne kann durchaus auch ein Aufstieg als krisenhaftes Ereignis erfahren werden, wenn etwa antizipierte Erwartungen enttäuscht und nicht durch „biografische Arbeit“ aufgefangen werden (Schneider 2018, S. 177 f.) oder diese sich nicht in ein bestehendes Selbst-Welt-Verhältnis integrieren lassen (Labede und Thiersch 2015). Die Krisenförmigkeit von Schulformwechseln ist vor diesem Hintergrund mit Blick auf den adoleszenten Individuationsprozess im Kontext der Bearbeitung familialer Adressierungen zu fassen (vgl. hierzu King 2009; King et al. 2011; Silkenbeumer et al. 2017). Die Bedeutung der Familie für das Erleben schulischer Anforderungsstrukturen ist in der erziehungswissenschaftlichen Schülerbiografieforschung mehrfach herausgearbeitet worden (u. a. Nittel 1992; Wiezorek 2005; Helsper et al. 2009; Sandring 2013). Als zentral für die Bearbeitung als negativ empfundener schulischer Adressierungen stellen Helsper, Sandring und Wiezorek (2005, S. 203) die in der Familie gemachten, primären Anerkennungserfahrungen heraus. Kramer (2002, S. 269) hat das krisenhafte Erfahren der Schule als eine mangelnde Passung zwischen einer „biographischen Fallstruktur“ und einer „symbolischen Ordnung“ der besuchten Schule beschrieben. In Rekurs auf Helsper (1989) verweist er dabei auf die andauernde Bearbeitung familial hervorgebrachter Selbstproblematiken, die als zu bearbeitende Lebensthemen ein problematisches Verhältnis zur Schule erzeugen können (vgl. hierzu Kramer 2002, u. a. S. 164, 190). Die Idee der
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Passung ist schließlich von Kramer und Helsper (2011) im Zuge ungleichheitsbezogener Forschung milieutheoretisch im Anschluss an Bourdieu gewendet worden. Aus dieser Perspektive eröffnet nun eine sich habituell begründende Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdplatzierung ein Krisenpotential, das einen „Transformationsdruck“ erzeugen könne (Kramer et al. 2009, S. 182, vgl. zum Transformationsdruck auch Kramer 2002, S. 280). Mit Blick auf die Schulformwechsel als Statuspassage wird deren bildungsbiografische Relevanz durch die Zuweisung einer neuen, auf hierarchisierte Wertigkeiten verweisenden sozialen Position im Bildungssystem deutlich. Schulformwechsel weisen dementsprechend im besonderem Maße darauf hin, dass das Bildungssystem immer auch Gewinner und Verlierer produziert (vgl. hierzu Liegmann 2008, S. 10). So können Situierungsprobleme an der neuen Schule auf milieutypische und habituelle Orientierungen sowie ein abweichendes Selbstverständnis der Schüler*innen zurückgeführt werden (hierzu u. a. Kramer et al. 2009; Niemann 2015). Im Kontext von Schulformwechseln stellt sich, das zeigen die hier knapp skizzierten Forschungsbefunde, die Frage, wie die Schüler*innen mit den über Zuweisungen zu Schulformen verbundenen Zuschreibungen umgehen. Dabei birgt aber nicht nur die Erfahrung der Abstufung ein Krisenpotential, weil diese (heteronom erfahren) als Herabsetzung verstanden werden kann, die eigenen Bildungsund Leistungsbestrebungen zuwiderläuft (Niemann 2015, u. a. S. 255 f.); auch die Adressierungen nach einem schulischen Aufstieg können dem eigenen Selbstbild entgegenstehen und eine für die Schüler*innen problematische schulische Situation evozieren (vgl. Schneider 2018, u. a. S. 303 f.). Die Befunde verweisen darauf, dass sich für die adoleszenten Schüler*innen, die einen Schulformwechsel vollziehen, das Problem der Ausbildung eines kohärenten und konsistenten Selbst-Welt-Verhältnisses verschärfen kann. Als Möglichkeit der Schließung dieser Krisenhaftigkeit erscheint dabei einerseits eine die Krisensituation zeitweilig auflösende „Selbsttäuschung“ oder eine Nachhaltigkeit produzierende „biografische Arbeit“, die dem „Ausbau von Lern- und Bildungsprozessen“ diene (Schneider 2018, S. 401 f.). Mit Blick auf die Bedeutung, die zum einen der Familie, zum anderen aber auch den bestehenden – aus adoleszenztheoretischer Perspektive durchaus dynamisch zu verstehenden – Selbstbildern der wechselnden Schüler*innen bei der Bearbeitung von sozialen Platzierungen durch Schulformwechsel zugesprochen wird, steht im Folgenden die Frage nach der familialen Vermittlung von idealisierten Selbstvorstellungen im Zentrum. Im Anschluss an psychosoziale Konzeptionen des Selbst wird zu erklären versucht, wie die in der qualitativen Forschung herausgearbeiteten krisenhaft anmutenden Diskrepanzerfahrungen von Selbst und Welt mit Bezug auf die Familie verstanden werden können.
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3 Idealkonstruktionen im Kontext der Familie und adoleszenter Individuierung Vorstellungen darüber, wie man sein möchte und sein sollte, entstehen im Kontext primärer, d. h. in der Regel familialer Erziehung und Sozialisation (vgl. hierzu u. a. Helsper 1989). Nach Buchholz (1990) bilden Eltern bereits vor der Geburt Vorstellungen von den Besonderheiten ihres Kindes aus. Konzeptionell unterscheidet er daher zwischen einem „imaginärem Kind“ und einem „realen Kind“ (vgl. hierzu Buchholz 1990, S. 162). Es steht in diesem Sinne immer ein Idealentwurf vom Kind in Spannung zu einem real erlebten Kind. Elterliche Imaginationen des Kindes wirken sich daher nicht selten konflikthaft auf das Kind aus, wenn sie nicht an das real sich zeigende Kind angepasst bzw. modifiziert werden (vgl. hierzu Richter 1992; Fend 1994, S. 201). Die Idealbildung in der Adoleszenz erfolgt aus psychoanalytischer Perspektive über die Aufrichtung eines Ich-Ideals. Dieses Ich-Ideal nimmt nach Jacobson (1978, S. 198 ff.) und Erdheim (1992, S. 309) eine vermittelnde Funktion zwischen den von Freud (1923) konzipierten innerpsychischen Instanzen Es und Über-Ich ein. Während das Über-Ich auf die Verinnerlichung elterlich-autoritärer aber auch anderer signifikanter Bezugspersonen verweist, stellt das Ich als handlungs- und realitätsbezogene Instanz die Entscheidungen treffende und ausführende sowie widerstrebende Anliegen von Es und Über-Ich ausgleichende Instanz dar (vgl. hierzu Freud 1923). Im psychoanalytischen Diskurs besteht Uneinigkeit darüber, ob das Ich-Ideal als eigene Struktur oder als Bestandteil des Über-Ich’s zu fassen (Helbing-Tietze 2001, S. 56) ist oder ob zwischen einem Idealich und einem Ich-Ideal zu unterscheiden ist (vgl. hierzu zusammenfassend Laplanche und Pontalis 1973, S. 217 f.). Dies soll und kann hier nicht geklärt werden. Entscheidend für den vorliegenden Beitrag erscheint vielmehr, dass das Ich-Ideal im hier gemeinten Sinne auf verinnerlichte (vornehmlich elterliche) Wert- und Handlungsvorstellungen sowie narzisstische Bestrebungen und Idealkonstruktionen des Selbst verweist (vgl. hierzu u. a. Erdheim 1992, S. 306– 309; Jacobson 1978, u. a. S. 107, Laplanche und Pontalis 1973, S. 203). So hält Helbing-Tietze bei der Unterscheidung von Ich-Ideal und Über-Ich fest: „Das Ichideal bringt zum Ausdruck, was man zu sein wünscht; das Über-Ich hingegen, was man zu sein hat“ (Helbing-Tietze 2001, S. 44). Mit Bezug auf die sich aus psychoanalytischer Perspektive vollziehende IchIdealbildung soll hier zum einen betont werden, dass in der Adoleszenz durch die Heranwachsenden zwar eigene Ideale und Idealkonstruktionen hervorzubringen sind, zum anderen aber auch die Fortführung familialer Idealkonstruktionen in den Selbstbetrachtungen der Adoleszenten zum Ausdruck kommen. Die Adoleszenten
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befinden sich in der Situation, familial ausgebildete Idealbilder mit eigenen, neu aufzubauenden Idealkonstruktionen in Einklang zu bringen und ein gefestigtes und beständiges Gefühl von und für sich selbst entwickeln zu müssen (vgl. hierzu u. a. Erikson 1973; Mey 1999; King 2013). Diese familial implizierten und individuell ausgebildeten Idealkonstruktionen verweisen mit Blick auf die Konzeption einer psychischen Apparatur dementsprechend auf das Problem des Übereinbringens eines „idealen“ und eines durch die Welt erfahrenen „realen Selbst“ (vgl. hierzu Fend 1994).3 Im Anschluss an die ausführlich dargelegten psychoanalytischen und psychosozialen Konzeptionen ist eine Spannung zwischen einem Idealselbst, das sich aus familial vermittelten, aber individuell ausgebildeten idealisierten Selbstvorstellungen speist, und einem Realselbst, d. h. dem Selbst, wie es in Anbetracht des Außen in der Welt erscheint und wahrgenommen wird, anzunehmen (vgl. hierzu auch Labede 2019, u. a. S. 77–80, 91 ff.). Die Fokussierung auf eine Spannung zwischen Ideal- und Realselbst ermöglicht es, den Prozess der Weltaneignung und -bearbeitung als dynamisch zu begreifen (ähnlich auch bei Fend 1994, S. 211). Sie verweist darauf, dass die Subjektkonstitution als fortwährende Praxis der Selbststabilisierung zu betrachten ist (vgl. hierzu aus anerkennungstheoretischer Perspektive im Anschluss an Honneth Wiezorek 2005, S. 311 sowie Silkenbeumer und Wernet 2010; Labede 2019, S. 91 ff.). Das Spannungsfeld von Ideal- und Realselbst erzeugt eine, über die Adoleszenz hinausgehende, immer wieder auftretende Aufgabe der Selbstfestigung über nachhaltige Kohärenzstiftungen. Mit Blick auf die Schule wird das Spannungsfeld bereits mit dem Schuleintritt bedeutsam: In dem universalistischen Handlungsraum Schule erleben die Heranwachsenden, dass familial an sie herangetragenen
3Fend (1994, S. 204 ff., 211–214) unterscheidet zwischen einem realen und einem idealen Ich sowie einem realen und idealen Selbst und hebt die Problematik des Übereinbringens eines Ideal- und Real-Ich's sowie eines idealen und realen Selbst sowohl als krisenbehaftet als auch entwicklungstheoretisch bedeutsam hervor. Zudem stellt er ein „Auseinandertreten von Realität und Idealität“ als Charakteristikum der Adoleszenz heraus (Fend 1994, S. 205). Für die Adoleszenten gilt es nach Fend, ein „Ideal-Bild“ herauszubilden, das „Kongruenz zwischen dem eigenen S ein-Wollen und dem eigenen realen Sein-Können“ herzustellen vermag (Fend 1994, S. 195). Bietau, Breyvogel und Helsper (1981, S. 342) thematisieren die „Bruchlinie von Real- und Idealselbst“ mit Blick auf das Selbstwertgefühl. Auch Helsper (1989, S. 277 f.) unterscheidet im Kontext seiner Konzeption (früher) „Selbstkrisen“ und mit Blick auf die Ausbildung des Selbstwertgefühls zwischen einem „Ideal- und Realselbst“ und knüpft dabei an Lacan (1966) an (vgl. an Lacan aus bildungsbiografischer Perspektive anschließend und weiterführend zur Struktur pädagogischer Generationenbeziehungen Helsper et al. 2009, u. a. S. 405; zum Zusammenspiel von Realem, Symbolischem und Imaginärem auch Kramer 2002, u. a. S. 89).
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Besonderheitsvorstellungen keine Bedeutsamkeit zugesprochen wird. Sie sind mit der Situation konfrontiert, familial vermittelte Idealkonstruktionen nun mit schulisch an sie herangetragenen identitätszuweisenden Ansprachen übereinbringen zu müssen.4 Entscheidend für das Erleben von Schulformwechseln als bildungsbiografischen Diskontinuitäten und Krisen erscheint, wie die Spannung zwischen idealisierten Selbstvorstellungen und dem Selbst, wie es in und durch die Welt erfahren wird, zutage tritt (vgl. hierzu Labede 2019, S. 79 f. und 115 f.). Die Problematik des Selbsterlebens wird in der Adoleszenz – verstanden als Phase der psychischen, physischen und kognitiven Veränderung – nach Erdheim (1992, S. 309) über die Reaktivierung „narzisstischer Energien“ bearbeitet. So kann ein verstärkter Selbstbezug in der Adoleszenz, der mit einer Idealisierung des Selbst einhergeht, als notwendiger Schutz vor Verunsicherung in einer Zeit, in der die soziale Position aus eigenem Vermögen zu gestalten und zu festigen ist, verstanden werden. Eine Idealisierung des Selbst aber bedarf, um sich als tragfähig und nicht als „Selbsttäuschung“ (hierzu auch Schneider 2018, S. 401 f.) zu erweisen, auch der Bestätigung in der Realität. Jacobson (1978, S. 103, 199 f.) betont daher auch die Notwendigkeit zur Realitätsprüfung. Ausgehend von den vorliegenden und eigenen empirischen Befunden wird hier davon ausgegangen, dass die Krisenförmigkeit von Schulformwechseln mit Blick auf die Spannung von Ideal- und Realselbst zu verstehen ist (vgl. hierzu Labede 2019). Im Fokus der folgenden Falldarstellung steht daher sowohl die Bedeutung adoleszenter Idealaufrichtung und Realitätsprüfung als auch die Bedeutung familial hervorgebrachter idealisierter Selbstvorstellungen (hierzu u. a. Jacobson 1978; Helsper 1989; Buchholz 1990; Fend 1994). Dabei zeigt sich, dass in familialen Interaktionen über den Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Modifikation von Selbstcharismatisierungsfiguren eine Wehrhaftigkeit5 gegenüber schulischen Zuweisungen und Adressierungen befördert werden kann, die es den Schüler*innen ermöglicht, nach einer Kränkung der idealisierten Selbstvorstellungen durch die Schule an eben diesen festzuhalten.
4Wellendorf (1977, S. 46) verweist in einem ähnlichen Sinne auf das Problem des Übereinbringens einer „persönlichen“, lebensgeschichtliche Aspekte umfassenden Persönlichkeit sowie einer „sozialen“, durch die soziale Rolle strukturierten, Identität. 5Im Anschluss an psychoanalytische aber auch interaktionistische Theorien (Mead 1973) wird Wehrhaftigkeit hier als Positionierung gegen Adressierungen und Zuschreibungen verstanden, die die Personen in ihren Besonderheitsvorstellungen treffen. Wehrhaftigkeit ist im Kontext der Adoleszenz daher vor dem Hintergrund von Autonomisierungsprozessen als „Akt der Behauptung noch im Werden begriffener Besonderheitsvorstellungen“ (Labede 2018, S. 57) zu betrachten.
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4 Der Fall Fynn Haller: Kränkungen und familiale Idealisierungen Die hier auszughaft vorgestellte Forschungsarbeit (Labede 2019) ist im Rahmen des DFG-geförderten Forschungsprojekts „‚Die Mühen des Aufstiegs‘. Fallrekonstruktionen zur familialen und bildungsbiografischen Dynamik ‚erwartungswidriger‘ Schulkarrieren“ (vgl. hierzu Labede et al. in diesem Band) entstanden und richtet sich an dessen Forschungsdesign aus. In diesem wurde jeweils ein Familiengespräch vor einem schulischen Aufstieg in die fachgymnasiale bzw. gymnasiale Oberstufe sowie ein Familiengespräch mit Abschluss der Schullaufbahn erhoben. Außerdem wurden zwei Einzelinterviews mit den Schüler*innen im Laufe der Sekundarstufe II durchgeführt. In einem ersten Schritt wurden die objektiven Daten der Familie in Anlehnung an das Vorgehen einer Genogrammanalyse ausgewertet und zu einer pointierten Falldarstellung verdichtet (hierzu Hildenbrand 2005, 2011). In einem zweiten Schritt wurden objektiv-hermeneutische Sequenzanalysen der Familiengespräche sowie der Einzelinterviews durchgeführt (hierzu Oevermann et al. 1979). Anders als im Forschungsprojekt wird hier nicht die Positionierung zu Bildung über den Begriff des Bildungsselbst hervorgehoben (vgl. u. a. Labede et al. in diesem Band), sondern mit der Hervorhebung des Spannungsfeldes von Idealund Realselbst die adoleszente, sich über die Familie vermittelnde Idealbildung und eine in der Adoleszenz notwendig werdende Realitätsüberprüfung der (idealisierten) Selbstvorstellungen in den Mittelpunkt gestellt.6 Begonnen wird zunächst mit einer kurzen Darstellung der familialen Konstellation im Kontext der Schulformwechsel. Im Anschluss werden Sequenzen aus dem Familiengespräch ergebnisorientiert interpretiert. Gezeigt werden soll hier, dass sich das Krisenpotential von Schulformwechseln wesentlich über die Kränkung idealisierter Selbstvorstellungen entfaltet und dass die mit einem Schulformwechsel verbundene Kränkung über familiale Deutungen, die als Idealisierungen beschrieben werden, bearbeitet werden können.
6Die
Unterscheidung von Ideal- und Realselbst hebt das spannungsreiche Wechselspiel menschlichen Lebens und Handels hervor. Sie verweist aus handlungstheoretischer Perspektive im Anschluss an Oevermann (2004) auf die Annahme, dass sich mit jeder „wirklichen“ Entscheidungssituation eine Praxis der Krisenbewältigung eröffnet, über die sich Subjekt- oder auch Selbstbildung im Rückgriff auf in der Gemeinschaft vermittelte Überzeugungen und über die Inanspruchnahme von Selbstcharismatisierungsfiguren vollzieht (vgl. hierzu auch Oevermann 2003, S. 353; Labede 2019, S. 115 ff.).
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4.1 Familienbiografische Daten im Kontext des Schulformwechsels Fynn Hallers Schullaufbahn hebt sich von den bestehenden Normal- und Idealerwartungen über regulär und linear verlaufende Schullaufbahnen ab und besticht durch ihre Unkonventionalität und Einzigartigkeit: Fynn verlässt die Gesamtschule nach Beendigung der 9. Klasse und wechselt mit einem Notendurchschnitt von 2,5 auf eine Realschule, die er mit 1,6 abschließt. Dann entscheidet er sich für den Besuch eines grundständigen Gymnasiums mit Schwerpunkt Sport. Mit Blick auf die familienbiografischen Daten fällt auf, dass die Schulformwechsel vor dem Hintergrund der Konsolidierung familialer Beziehungsstrukturen stattfinden. Fynn, der nach der Scheidung seiner Eltern zuvor als einziges männliches Familienmitglied im Haushalt der Familie einer Sonderstelle einnahm, vollzieht seinen Wechsel von einer integrierten Gesamt- auf eine Realschule vor dem Hintergrund der Beheimatung des Lebenspartners und baldigen Ehemanns der Mutter im familialen Gefüge7. Die Neustrukturierung familialer Beziehungsverhältnisse und die Auseinandersetzung mit dem neuen „Mann im Haus“ schieben eine Individuierungsbewegung Fynns an (vgl. hierzu ausführlich Labede 2019, S. 120–125, 268 f.). Denn mit dem Schulwechsel weicht er von geschwisterlich vorgegebenen Bildungswegen ab: Während die älteste Schwester bereits ihr Abitur an der Gesamtschule erworben hat, steht die andere ältere, noch im Haushalt der Familie lebende Schwester, kurz davor. Fynns bildungsbiografische Situierung ist im Kontext der Familie damit besondert. Er hat sich, durch den Wechsel auf die Realschule, auf der Gesamtschule, die seine Schwestern erfolgreich besuch(t)en, allerdings auch nicht bewähren können. Der Wechsel von einer integrierten Gesamtschule auf eine Realschule, der äußerlich zunächst eine Chancenreduktion bezüglich des Erwerbs des Abiturs darstellt, kann daher als Abstieg interpretiert werden8. Von der Realschule vollführt Fynn
7Dieser
wird im Folgenden schlicht als Stiefvater bezeichnet, da er bereits im Haushalt der Familie ansässig ist und die Hochzeit im ersten Familiengespräch kurz bevorsteht. Zu Fynns leiblichem Vater besteht nach Aussagen der Familienangehörigen kein bis kaum Kontakt. 8Wechsel von einer Gesamtschule werden häufig schlicht als Umstiege interpretiert. Diese Wechsel erhalten nicht zuletzt im Kontext familien- und individualbiografischer Daten aber eine Bedeutsamkeit, mit der sie sich wieder in das Schema von Ab- und Aufstiegen einordnen lassen. Dies liegt auch daran, dass sie vor der Folie von Normalerwartungen stets die Frage nach bildungsbiografischem Erfolg und Misserfolg aufmachen.
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dann aber einen schulischen Aufstieg in die Sekundarstufe II. Mit dem Gang auf ein grundständiges Gymnasium mit Schwerpunkt Sport zeigt er seine Bereitschaft zur Leistungsträgerschaft. In dieser Spannung zwischen dem nicht-vollendeten Gesamtschulbesuch und der aufsteigenden Bewegung in ein grundständiges Gymnasium werden Fynns institutionelle Bewegungen im Familiengespräch thematisiert und seine institutionellen Bewegungen familial vermittelt.
4.2 Die Bearbeitung des Spannungsfeldes von Ideal- und Realselbst infolge einer Kränkung der Besonderheitsvorstellungen Im Familiengespräch, an dem mit Fynns Mutter, seinem (zukünftig offiziellen) Stiefvater und seiner älteren Schwester, die ihr Abitur auf der Gesamtschule anstrebt, alle im Haushalt lebenden Personen teilnehmen, kommt die familiale Sonderstellung des Adoleszenten hinsichtlich seiner Bildungskarriere deutlich zum Ausdruck. Das Verlassen der Schule der Schwestern, die zugleich die mütterlich favorisierte Schule darstellt, wird im Kontext des Familiengesprächs auf ein Passungsproblem („ja und für Fynn war die schulform eben nich passend“), insbesondere aber auf die Zuschreibungen und Adressierungen einer Lehrerin zurückgeführt. Die als abwertend beschriebenen Zuschreibungen der Lehrerin thematisiert die Mutter als absurde Vorwürfe: „er sollte gefälligst ma reden wie ihm der schnabel gewachsen ist er würde sich zu gewählt ausdrücken“. Die Interviewerin geht im weiteren Verlauf auf diese Narration ein, indem sie danach fragt, ob das Handeln der Lehrerin als Mobbing bezeichnet werden könne: I1: war das dann schon so ne art mobbing durch die lehrerin oder wie hat man dis so /wahrgenommen (?)/ F: /uhm/ (1) ja also äh der dip- ph (deutlich) also äh mit den äh andern schülern hab ich mich eigentlich ziemlich gut verstanden I1: hmhm F: wobei ich so sagen muss auf der schule is die atmosphäre halt ganz anders gewesen jetz auf der schule A [mit sprachlicher Fehlleistung] (.) aber ähm (2) ja so ich glaub mein können und so wurde gar nich von der lehrerin (1) gesehen oder äh berücksichtigt oder richtich bewertet sondern einfach immer tiefer gestuft als als mein können wirklich (1) I1: mhmh F: als es da is
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Fynn thematisiert infolge der Frage nach Mobbingerfahrungen durch die Lehrerin zunächst das Verhältnis zu seinen ehemaligen Mitschüler*innen und kommt erst später mit „aber ähm (2) ja so ich glaub“ explizit auf die von der Mutter angesprochene Lehrperson zu sprechen. Die von ihr entfaltete Problematik deutet er dabei um. Auf einen der Lehrerin in den Mund gelegten Vorwurf, „sich zu gewählt auszudrücken“ und affektiert zu sein, geht er nicht ein. Er bezieht sich inhaltlich nicht auf die mütterliche Geschichte einer ihm aufgrund einer bestehenden distinktiven Haltung negativ gesinnten Lehrerin, sondern fokussiert bei der Betrachtung der Beziehungsstruktur auf das schulische Leistungssegment. Allerdings impliziert sein Sprechakt nun interessanterweise nicht, dass eine objektiv falsche Bewertung durch die Lehrerin vorläge. Resignativ weist er auf ein fehlendes Erkennen seines Könnens und seines Leistungspotentials hin: „ja so ich glaub mein können und so wurde gar nich von der lehrerin (1) gesehen“. Das eingebaute und angeführte „und so“ macht hier darauf aufmerksam, dass die durch die Lehrerin empfundene Nicht-Anerkennung nicht auf die Leistungsebene beschränkt bleibt, sondern auch andere nur diffus fassbare Elemente umfasst. Mit der Formulierung „gar nich von der lehrerin (1) gesehen“ worden zu sein, thematisiert er entsprechend, dass er sich nicht von der Lehrerin wahrgenommen und bemerkt gefühlt hat. Er fühlt sich in Bezug darauf, was er sich zuspricht und wie er sich als Person mit all seinen (verborgenen) Möglichkeiten, d. h. seinen diffusen bestehenden idealisierten Selbstvorstellungen (seinem „können und so“), sieht, nicht anerkannt. Was diffus für ihn vorliegt (sein „können und so“) bringt ihm keine Anerkennung und hilft ihm nicht hinsichtlich der Leistungsbewertung („oder äh berücksichtigt oder richtich bewertet“). Das Problem der fehlenden Berücksichtigung seiner Person und all seiner schlummernden Potentialitäten durch die Lehrerin verweist auf eine durch die unpersönliche Adressierung des universalistischen Handlungsraum Schule erlebte Zurückweisung, die auch mit dem Gefühl der Enttäuschung von Erwartungen einhergeht. Statt als „ganze Person“ gesehen, erkannt oder gar ‚erweckt‘ zu werden, wird auf ihn rational-formal Bezug genommen. Diese Adressierung stellt sich für ihn auch als folgenreich bezüglich der Selektionsfunktion von Schule dar: So thematisiert er inhaltlich mit „sondern einfach immer tiefer gestuft“ worden zu sein, das Problem, sich bezüglich einer als ungerecht empfundenen Einschätzung seiner Leistung auf einer schulischen Abwärtsspirale befunden zu haben. Latent drückt sich aber durch das Voranstellen des „sondern“ auch sein Trotz gegenüber der erlebten Zuschreibung mangelnder Leistungsfähigkeit aus. Aufkommende Zweifel abwehrend hält er daran fest, dass die Lehrerin sein wirkliches Können
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nicht in gebotenem Maße erkannt und anerkannt habe. Was aber nicht anerkannt wurde, war nicht im Sinne der manifesten Thematisierung seine erbrachte Leistung, sondern seine für ihn vorhandene (aber nicht gezeigte) Leistungsfähigkeit („als als mein können wirklich (1) (I1: mhmh) als es da is“). So referiert Fynn auf das Nicht-Erkennen von Etwas, was „da is“, was ihm als Wirklichkeit vorliegt, der Lehrerin aber verborgen geblieben sei. Fynns trotzig anmutendes Beharren verweist auf eine durch die Lehrerin erfahrene Kränkung des Selbst. Diese bezieht sich zunächst auf die Vorstellung, die er von sich und seinem Potential hat. Diese auf das ideale Selbst bezogene Kränkung soll hier als eine narzisstische Kränkung charakterisiert werden. Der Begriff narzisstische Kränkung wird hier verwendet, um auf die Bedeutung der Bearbeitung des Spannungsfeldes von Ideal- und Realselbst in der Adoleszenz hinzuweisen.9 So treffen wir infolge der Zurückweisung des Imaginierten, als Idealkonstruktion bestehenden Potentials, durch die Lehrerin auf eine den Selbstwert berührende Kränkung, die im Sinne des Selbstwerterhalts zu bearbeiten ist.10 Die Kränkung Fynns resultiert dabei aber nicht einfach nur aus einer Missachtung seines Leistungspotentials, d. h. sie ist nicht allein auf die Selektionsfunktion von Schule zurückführen. Fynn fühlt sich auch durch die unpersönliche Adressierung der Lehrerin zurückgewiesen. Statt als „ganze Person“ gesehen oder gar ‚erweckt‘ zu werden, wird auf ihn rational-formal Bezug genommen.
4.3 Krisengeschichten und familiale Idealisierungen Im Folgenden soll es nun darum gehen, wie der Lehrerin zugesprochene Adressierungen Fynns familial bearbeitet und (durchaus auch ambivalent) idealisierend umgedeutet werden:
9Narzissmus
soll hier nicht als pathologische Disposition, sondern im Einklang mit adoleszenztheoretischen Betrachtungen als durchaus auch typisch adoleszent verstanden werden. Nach Erdheim (1992, S. 301) kann dem adoleszenten Narzissmus eine eigene psychosoziale Qualität zugesprochen werden. 10Das Problem einer narzisstischen Kränkung durch die Schule ist aus psychosozialer Perspektive schon öfter thematisiert worden (vgl. hierzu Wellendorf 1977, S. 236). Fend (1997, S. 255) macht darauf aufmerksam, dass es wesentliche Aufgabe der Schüler*innen sei, mit potentiell den „natürlichen Narzissmus“ treffenden bzw. „schwer kränkenden“ Erfahrungen umzugehen.
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J. Labede I 1: mhmh genau (.) und dann hatte er es mit in der schule und dann is da was passiert oder (?) F: ahhh (stöhnt) M: erzähl du (lachend) I1: (lacht) F: was warn da noch mal (?) M: naja d- von wegen naja das is ja klar dass de jetz sowas liest ähh das muss ja auch wieder was besseres sein (lacht) dass de pilot werden willst (.) ne (leiser) I1: mhmh F: weiß ich gar nich ich hab dat alles (M: n-jaja) schon verdrängt (I1 lacht kurz) M: ja des is auch gut so ja am besten (V: das war auch-) jetz deckel drauf (1) /nach vorne/ F: /ich weiß/ nur noch dass da irgendwas dummes (V: ne) //wieder kam// M: //na ja// V: //ja also d-d-der// also der kommentar war unqualifiziert und nich nötich und F: ja V: sollte dir nur eigentlich zeigen dass du machen kannst was de willst sie erkennt es sowieso nich an M: ja V: du hättst auch äh Heinrich Heine lesen können das wäre genauso geendet S: das wär wieder zu hochgestochen wahrscheinlich V: ja natürlich S: (lacht)
Die Interviewerin rekurriert in ihrer einleitenden Frage auf die familiale Andeutung eines Geschehnisses und rahmt die eingeforderte Erzählung als krisenbehaftete ‚Enthüllungsgeschichte‘. Es gilt seitens der Familienmitglieder nun offen zu legen, dass etwas Besonderes „passiert“ sei. Fynns stöhnendes „ahhh“ mag zunächst als eine Zurückweisung des Themas erscheinen, ist aber als eine die Situation überzeichnende und selbstcharismatisierende Reaktion zu interpretieren über die entweder eine lustvolle Erinnerung betont oder die Besonderheit der eigenen Situation als Ausdruck eines individuellen Spleens oder eines interessant machenden Mankos hervorgehoben wird (so könnte zum Beispiel gesagt werden: „ahhh der schlüssel“). Mit dem lachenden „erzähl du“ bringt dann die Mutter ihr eigenes lustvolles Erinnern zum Ausdruck. Die Fynn betreffende Enthüllungsgeschichte wird so zum Quell der Freude an Vergangenem umgedeutet. Statt auf die mütterliche Adressierung als gleichrangigen Gefährten und Bündnisträger einzugehen, fordert er diese mit „was warn da noch mal (?)“ nun aber zum Spiegeln auf. Diese von der Mutter eingeforderte Spiegelung eröffnet das Spannungsfeld von Ideal- und Realselbst. So zeigt sich Fynn zum Nachvollzug einer ihn als Person charakterisierenden Situation bereit, zum anderen verspricht die Situation interaktionslogisch aber
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bereits weitere das Selbst charismatisierende Sprechakte. Über die Imitation der Rede der Lehrerin thematisiert die Mutter nun eine Fynn zugeschriebene Charaktereigenschaft. Dabei zeigt sie sich allerdings auch verunsichert durch Fynn: „naja d- von wegen naja das is ja klar dass de jetz sowas liest ähh das muss ja auch wieder was besseres sein (lacht) dass de pilot werden willst (.) ne (leiser)“. Der der Lehrerin in den Mund gelegten Negativkonstruktion, (wieder) etwas Besseres (sein) zu wollen, widerspricht sie damit nicht. Vielmehr überführt sie diese in der Übernahme der direkten Rede, allerdings nicht ungebrochen, in eine Idealisierung: Etwas Besseres (sein) zu wollen, mag sich zwar negativ anhören und negativ konnotiert sein, im Falle von Fynn erscheint dies aber als durchaus legitim. Hervorgehoben wird dementsprechend auch, dass der Sohn aus der Masse heraussticht. So verbirgt sich in der (vermeintlichen) Reproduktion des Lehrerinnensprechakts zwar durchaus eine Kränkung der Mutter, sie bringt aber dennoch auch ihren Stolz über eine gesehene Besonderheit des Sohnes zum Ausdruck11. Gleichzeitig zeigt sich in dem leiser werden der Mutter und dem abschließenden „ne“ aber auch die Unsicherheit über ihre Thematisierung der in Anschlag gebrachten Negativkonstruktion. Die Freude der Mutter an der Geschichte verpufft aufgrund der Sorge über eine mögliche Fehldarstellung oder auch Kränkung des Sohnes. Fynn reagiert betont gelassen mit einer Schließung des Themas: „weiß ich gar nich ich hab dat alles (M: n-jaja) schon verdrängt (I1 lacht kurz)“. Gedanklich wirkt er mit einer Erklärungssuche bezüglich des vorzeitig abgebrochenen Gesamtschulbesuchs beschäftigt. Die mütterlich geschilderte Geschichte erkennt er dabei als exemplarisch für seine Gesamtschulzeit an. Die zugleich aber erfolgende Distanzierung von der mütterlichen Imagination weist auf eine von ihm selbst in diesem Moment vorgenommene und für ihn nun bedeutsame Realitätsüberprüfung hin. Fynn ermächtigt sich selbst und nimmt für sich in Anspruch, selbst zu sagen, wer er zu sein wünscht, wer er ist und welchen Beruf er ergreifen möchte. Auf Fynns ablehnende Haltung reagiert die Mutter mit „ja des is auch gut so ja am besten (V: das war auch-) jetz deckel drauf (1)/nach vorne/“ entsprechend mit einem eigenen Schließungsversuch, der seinen Sprechakt als Wunsch nach Verdrängung interpretiert. Auf die Beschwichtigung der Mutter reagiert Fynn harmonisierend („/ich weiß/nur noch dass da irgendwas dummes (V: ne)//wieder kam//“). Das mütterlicherseits die Situation nun wiederum
11Tatsächlich
handelte es sich um einen von der Familie thematisierten Kindheitswunsch Fynns Pilot zu werden, den er – in späteren Interviews – dann auch selbst anspricht und wieder aufnimmt.
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öffnende und Differenz reproduzierende „na ja“ wird dann von der Rede des Stiefvaters überdeckt, der nun gleichsam eine Deutung zu Fynns schulischer Situation anbietet, die sich in die mütterliche Konstruktion einfügt und über den sich ein gemeinsamer familialer Mythos darüber entfaltet, dass Fynn aufgrund einer bestehenden distinktiven Haltung, die ihn als besonders gebildet und der profanen Welt enthoben ausweist, in der Gesamtschule auf Ablehnung bei einer Lehrerin traf. Der Stiefvater knüpft zunächst an die mütterliche Paraphrase der Lehrerin an: „//ja also d-d-der//also der kommentar war unqualifiziert und nich nötich und (F: ja) sollte dir nur eigentlich zeigen dass du machen kannst was de willst sie erkennt es sowieso nich an (M: ja) du hättst auch äh Heinrich Heine lesen können das wäre genauso geendet“. Diese dient ihm zur Explikation einer als ungerecht betrachteten Behandlung Fynns in der Schule und hebt auf die Unvermeidbarkeit eines Schulwechsels ab. Dieser entworfenen Legitimationsfigur für den Schulwechsel kann sich die Mutter anschließen („ja“). Mit dem Hinweis auf Heinrich Heine thematisiert der Stiefvater im Kontext der Hervorhebung einer Machtlosigkeit Fynns eine Nicht-Anerkennung seiner Person durch die Lehrerin. Die damit erfolgende Anspielung auf eine besondere (Bildungs-)Haltung Fynns zieht wiederum die Schwester als Erklärung heran: „das wär wieder zu hochgestochen wahrscheinlich“, was den Stiefvater zu einer abschließenden Bestätigung bewegt („ja natürlich“).
4.4 Zusammenfassung Die hier und auch in anderen Interviewstellen zutage tretende Besonderheitskonstruktion Fynns bezieht sich auf eine ihm unterstellte, aber ihn in der Adressierung auch auszeichnende distinktive Haltung, die ihn als in Bildungsfragen versiert und dem Alltäglichen enthoben kennzeichnet. Diese Besonderheitskonstruktion wird von der Mutter vorbereitet und vom Stiefvater und der Schwester weiter ausgebaut. Der Enttraditionalisierung seiner Schullaufbahn wird im Familiengespräch mit einer Emporhebung Fynns begegnet. Schulisch verortete Charakterisierungen („hochgestochen“ zu sein) werden dabei mit einer familialen Charismatisierungsfigur von Fynn („Pilot werden“ zu wollen) übereingebracht. Er wird idealisiert als jemand, der aufgrund bestehender Dispositionen im gymnasialen Segment zu verorten ist. Die Idealisierungen Fynns nehmen auf eine (der Lehrerin zugesprochene) Negativkonstruktion Bezug, treffen aber auf einen familialen Resonanzboden. Diese Umdeutung der Familie ermöglicht es, Fynn nach dem Wechsel von der Gesamtschule auf eine Realschule zu einem als selbstverständlich wahrgenommenen
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schulischen Aufstieg an ein Gymnasium zu verhelfen. Sie zeigen ihm einen Weg auf, mit schulisch erfahrenen Zuschreibungen umzugehen und seine Idealvorstellungen von sich als leistungsfähigem Schüler aufrecht zu erhalten.12 Die familialen Idealisierungen tragen zu einer Individuierung Fynns bei, binden diesen gleichzeitig aber auch an die Familie zurück. So kann die Familie über die gemeinsame Konstruktion von Fynn als Bildungsexoten die Deutungshoheit und ihren exklusiven Anspruch an seine Person behaupten. Die Familie behält sich über die Besonderheitskonstruktion Fynns das Recht vor, diesen mit all seinen Facetten zu deuten und macht ihn sich über diese Deutungen gleichsam wieder zu eigen. Eingefasst sind die Deutungen in den Versuch des Erzählens einer individuellen aber auch familialen Krisengeschichte.13 Beziehungsdynamisch erweist sich dies auch für den Stiefvater als förderlich, der über die Mitarbeit an einem „Bewährungsmythos“ für Fynn auch in das familiale Gefüge integriert wird (zum Begriff des „Bewährungsmythos“ vgl. Oevermann 1996b, 2003; weiterführend hierzu Labede 2019, S. 273 ff.). Die über die Krisengeschichten zum Ausdruck kommenden Idealkonstruktionen (‚Bildungsexot zu sein‘) dienen der Charismatisierung des Schülers – aber auch der Selbstvergewisserung der Familienmitglieder und der Stabilisierung des familialen Gefüges. Über diese werden familiale Positionen sowie Beziehungen verhandelt. Es ist auch der lustvolle Voyeurismus, den die Familienmitglieder gegenüber Fynns Schullaufbahn zeigen und im Sinne der Selbstvergewisserung des familialen Systems betreiben, der es diesem ermöglicht, sich gegenüber schulischen Abstufungsbewegungen (im Kurssystem der Gesamtschule) zu erheben und sich selbst dahingehend zu ermächtigen, dass er den Ort negativ erfahrener schulischer Adressierungen und Zuweisungen verlässt. Die Realschule, die ihm die Möglichkeit des Abiturs anders als die integrierte Gesamtschule nicht bieten kann, erscheint in diesem Zusammenhang als Sprungbrett auf die gymnasiale Oberstufe.
12Diese Zurückweisung ermöglicht es Fynn, sich am Gymnasium zu situieren und dort zu bewähren (vgl. hierzu auch Labede 2019). Vgl. zur Bedeutung des „Durch- und Aufrechterhalten[s] von Standards oder Idealen gegen die Widerständigkeit der Welt“ hinsichtlich eines Bewährens auch Zizek 2014, S. 85, Hervorhebung i. O. 13Nach Hildenbrand (1990, S. 229) kommt dem Geschichte erzählen sowohl eine bewahrend-reproduktive als auch eine transformative Sinnzusammenhänge stiftende Funktion zu.
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5 Fazit Den Befunden meiner Untersuchung zufolge können familiale Idealisierungen in Form von identitätsstiftenden und emporhebenden Ansprachen und Krisengeschichten über die Hervorbringung einer Selbstcharismatisierungsfigur Wehrhaftigkeit gegenüber schulischen Zuweisungen und Zuschreibungen erzeugen. Die damit auch angesprochene Fähigkeit zur Behauptung eigener (idealisierter) Selbstvorstellungen gegenüber schulischen Adressierungen und Zuschreibungen und zur Zurückweisung schulischer Positions- und Identitätszuweisungen ist den obigen Rekonstruktionen zufolge als Resultat eines familienbiografischen Vermittlungsprozesses zu fassen (vgl. hierzu vertiefend Labede 2019).14 Im hier vorliegenden Fall erfolgen die Bezugnahmen der Familienmitglieder in der Logik der Stärkung von Idealkonstruktionen. Die Fallrekonstruktion zu um bzw. ab- und aufsteigenden Bewegungen im Schulsystem verdeutlicht in diesem Sinne exemplarisch die Bedeutung familialer Anerkennungserfahrungen (hierzu Helsper et al. 2005; Sandring 2013; Helsper et al. 2009) für das Erleben und Erfahren eines Schulformwechsels (hierzu Fend 1994, S. 337); sie macht aber auch auf die Problematik der Vermittlung zwischen familialen und schulischen Adressierungen und Zuschreibungen aufmerksam. So können familiale Idealisierungen zum Aufbau einer Wehrhaftigkeit erzeugenden Selbstcharismatisierungsfigur beitragen, sie bieten aber auch bildungsbiografisches Krisenpotential. Nach Fend (1994, S. 201) „arbeiten“ die Eltern immer auch an einem „idealen Selbst“ des Kindes. Wenn diese entgegen den Potentialen, Neigungen und/oder schulischen Erfahrungen des Kindes an bestehenden Wünschen, Vorstellungen und Projektionen festhalten, werden auch folgenreiche psychosoziale Krisen kaum ausgeschlossen werden können (vgl. zur psychosozialen Problematik Richter 1992; Helsper 1989). Die Familie muss sich entsprechend auch zu Umdeutungen oder ggf. Modifikationen der Idealkonstruktionen bereit zeigen,
14Wellendorf (1977, S. 234 f.) stellt mit Blick auf eine mögliche Bedrohung der Ich-Identität durch die Lehrer*innen die Bedeutung der informellen Gruppe, die eine „stützende wie entlastende Funktion“ übernimmt, heraus. In diesem Sinne können auch Peers oder andere signifikante Andere an der Hervorbringung einer Selbstcharismatisierungsfigur mitwirken. Der Familie kommt, als primäre Sozialisationsinstanz, in diesem Kontext aber eine herausgehobene Bedeutung zu.
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um das Problem der Vermittlung zwischen einem Ideal- und einem Realselbst und eine, sich aus diesem Vermittlungsproblem potentiell eröffnende, bildungsbiografische Krisensituation nicht zu verschärfen.15 Die Schule hat sich gegenüber familialen Idealisierungen als indifferent zu erweisen. Über Zuschreibungen und Zuweisungen kann sie daher entscheidend zum Problem der Vermittlung von Ideal- und Realselbst beitragen. Die Familie wiederum kann den Rationalisierungsansprüchen der Schule mit Idealisierungen entgegentreten. Sollten sich diese in Interaktionen und in Rückbindung an Interaktionen mit der Umwelt als tragfähig erweisen, können sie im Kontext von Individuierungsprozessen Wehrhaftigkeit befördern.
Literatur Bellenberg, G. (1999). Individuelle Schullaufbahnen. Eine empirische Untersuchung über Bildungsverläufe von der Einschulung bis zum Abschluß. Weinheim & München: Juventa Verlag. Bietau, A., Breyvogel, W., & Helsper, W. (1981). Zur Selbstkrise Jugendlicher in Schule und Subkultur. Zeitschrift für Pädagogik, 27 (3), S. 339–362. Buchholz, M.B. (1990). Die unbewußte Familie. Psychoanalytische Studien zur Familie in der Moderne. Berlin & Heidelberg: Springer-Verlag. Cortina, K.S., & Trommer, L. (2005). Bildungswege und Bildungsbiographien in der Sekundarstufe I. In K.S. Cortina, J. Baumert, A. Leschinsky, K.U. Mayer, & L. Trommer (Hrsg.), Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick. 2. Aufl. (S. 342–391). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. 15Die
Familie stellt nach Luhmann (2005, S. 199) diejenige Instanz dar, die die Funktion der „gesellschaftliche[n] Inklusion der Vollperson“ übernimmt. Daher sei sie mit der „Problematik des re-entry“ bzw. der Aufgabe konfrontiert „internes und externes Verhalten“ übereinbringen zu müssen (Luhmann 2005, S. 199). Nach Fend kann „eine Annäherung von Ideal- und Real-Ich zum Ruhen in sich und einem Einverständnis mit sich selber führen“ (Fend 1994, S. 204 f.). Er stellt zudem heraus, dass die Ausbildung eines „Authentizitätsbewußtsein[s] […] auf der Grundlage der sich in der Adoleszenz entfaltenden Diskrepanz zwischen realem und idealem Ich und Selbst“ (Fend 1994, S. 213) erfolgt. In Abgrenzung zu seiner Konzeption eines „Authentizitätsbewusstseins“ wird hier auf die sozialisatorische Relevanz des schulischen Leistungsuniversalismus hinsichtlich der Eröffnung eines im Laufe des Lebens stetig zu bearbeitenden Spannungsfeldes von Ideal- und Realselbst hingewiesen. So sind die adoleszenten Schüler*innen nach Erdheim (1992, S. 307) durch das Prinzip der (von der Schule verkörperten) Arbeit vor die Aufgabe gestellt, Allmachtsphantasien und Realität einander anzugleichen (vgl. weiterführend zu diesem Problemkomplex auch Wellendorf 1977, S. 130–135).
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Erdheim, M. (1992). Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. 4. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Erikson, E. H. (1973). Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit. In E. H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Aus dem Englischen von K. Hügel (S. 55–122). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fend, H. (1994). Die Entdeckung des Selbst und die Verarbeitung der Pubertät. Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne. Bd. 3. Bern u. a.: Verlag Hans Huber. Fend, H. (1997). Der Umgang mit der Schule in der Adoleszenz. Aufbau und Verlust von Lernmotivation, Selbstachtung und Empathie (Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne, Bd. 4). Bern u. a.: Verlag Hans Huber. Freud, S. (1923). Das Ich und das Es. In S. Freud (1989), Studienausgabe. Psychologie des Unbewußten (Bd. 3). (S. 273–330). Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag. Helbing-Tietze, B. (2001). Was ist ein „reifes Ichideal“? Ein Beitrag zur Präzisierung des Idealsystems. Gießen: Psychosozial-Verlag. Helsper, W. (1989). Selbstkrise und Individuationsprozeß. Subjekt- und sozialisationstheoretische Entwürfe zum imaginären Selbst der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag. Helsper, W., Sandring, S., & Wiezorek, C. (2005). Anerkennung in pädagogischen Beziehungen. Ein Problemaufriss. In W. Heitmeyer & P. Imbusch (Hrsg.), Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft (S. 179–206). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Helsper, W., Kramer, R.-T., Hummrich, M., & Busse, S. (2009). Jugend zwischen Familie und Schule. Eine Studie zu pädagogischen Generationenbeziehungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hildenbrand, B. (1990). Geschichtenerzählen als Prozeß der Wirklichkeitskonstruktion in Familien. System Familie. Forschung und Therapie, 3, S. 227–236. Hildenbrand, B. (2005). Fallrekonstruktive Familienforschung. Anleitungen für die Praxis 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Hildenbrand, B. (2011). Einführung in die Genogrammarbeit. 3. überarbeitete Aufl. Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Jacobson, E. (1978). Das Selbst und die Welt der Objekte. Aus dem Englischen von K. Kennel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. King, V. (2009). Aufstieg aus der bildungsfernen Familie? Anforderungen in Bildungskarrieren am Beispiel junger Männer mit Migrationshintergrund. In A. Henschel, R. Krüger, C. Schmitt & W. Stange (Hrsg.), Jugendhilfe und Schule. Handbuch für eine gelingende Kooperation. 2. Aufl. (S. 333–346). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. King, V. (2013). Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. King, V., Koller, H.-C., Zölch, J., & Carnicer, J. (2011). Bildungserfolg und adoleszente Ablösung bei Söhnen aus türkischen Migrantenfamilien. Eine Untersuchung aus intergenerationaler Perspektive. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 14 (4), S. 581– 601. Kramer, R.-T. (2002). Schulkultur und Schülerbiographien. Das „schulbiographische Passungsverhältnis“ (Rekonstruktionen zur Schulkultur, Bd. 2). Wiesbaden: Springer VS.
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Patient werden und Schüler bleiben. Fallstudie zur bildungsbiografischen Bearbeitung von Übergängen im Schnittfeld von Familie, Jugendpsychiatrie und (Klinik-)Schule Mirja Silkenbeumer, Julia Becher und Janina Schulmeister Zusammenfassung
Während einer stationären jugendpsychiatrischen Behandlung setzt die gesetzliche Schulpflicht nicht aus und wird zumeist über die Schule für Kranke sichergestellt. Im Zuge des institutionellen Übergangs werden adoleszente Patient*innen im Wechselspiel familialer und institutioneller Dynamiken unterschiedlichen Transformationsanforderungen und -erwartungen ausgesetzt, auch in Bezug auf ihre Rolle als Schüler*in und Patient*in. Vor dem Hintergrund adoleszenter Individuierungsprozesse, familialer Dynamiken und institutioneller Logiken wird im Aufsatz der Frage nachgegangen, welche bildungsbiografischen Selbst- und Neuentwürfe mit dem institutionellen Statuswechsel der Jugendlichen einhergehen. Exemplarisch wird anhand einer biografischen Fallrekonstruktion aufgezeigt, wie bereits ausgebildete Entwürfe eines Bildungsselbst innerhalb des Raums der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Klinikschule vor dem Hintergrund ambivalenter Institutionenlogiken von
M. Silkenbeumer (*) · J. Becher · J. Schulmeister Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Becher E-Mail: [email protected] J. Schulmeister E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Thiersch et al. (Hrsg.), Individualisierte Übergänge, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23167-5_8
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Fürsorge und Anpassung restrukturiert werden und letztlich als desintegriertes Bildungsselbst in der Rekonstruktion zutage treten. Dieses wird mitbedingt durch die strukturell bereits nur begrenzt zu Verfügung stehenden Aneignungsmöglichkeiten eines Raums, der immer schon vor dem Horizont seiner zeitlichen Begrenztheit zu fassen ist. Schlüsselwörter
Psychosoziale Krisen · Bildungsselbst · Klinikschule · Familiendynamiken · Adoleszenz · Schülerpatient · Transformationsanforderungen · Bewährung · Schulformwechsel
1 Einleitung Im Zentrum dieses Beitrags steht der mit einer teil- oder vollstationären Behandlung in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (im Folgenden KJPP) verbundene schulische Übergang in die Schule für Kranke, der nicht unmittelbar an zuvor erbrachte schulische Leistungen, sondern an die Behandlung in der Klinik und somit an die institutionell und rechtlich regulierte Zuweisung der Krankenrolle und die Sicherstellung des Schulbesuchs im Falle von Erkrankungen geknüpft ist.1 Wir betrachten diesen schulischen Übergang aus einer krisentheoretisch fundierten Perspektive im Sinne eines potentiell kriseninduzierenden Geschehens und fassen Übergänge als „raumzeitliche Konstellationen der Bewährung“ (Kramer et al. 2013, S. 275; Oevermann 1991,
1In
den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1998 für den Unterricht für Kranke wird der Anspruch deutlich, der an diesen gestellt wird: „Erziehung und Unterricht sind für kranke Kinder und Jugendliche von besonderer Bedeutung. Der Unterricht bietet den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit trotz ihrer Krankheit mit Erfolg zu lernen; Befürchtungen, in den schulischen Leistungen in Rückstand zu geraten, werden vermindert. Unterricht kann die physische und psychische Situation der kranken Kinder und Jugendlichen erleichtern. Sie können lernen, mit der Krankheit besser umzugehen sowie den Willen zur Genesung stärken.“ (KMK 1998, S. 1). Die Schüler*innen gehören formal während der Beschulung in der Schule für Kranke ihrer „Stammschule“ an, was eine Abstimmung der Lehrkräfte beider Organisationen sowie eine enge Abstimmung mit der kooperierenden Klinik erfordert (vgl. Volk-Moser 2001; Wertgen 2014; Harter-Meyer 1999).
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2004)2. Wie an den Handlungsraum der Schule für Kranke vor dem Hintergrund schulbiografischer Erfahrungen und familialer Dynamiken von psychosozial belasteten und psychisch kranken Jugendlichen angeschlossen wird und wodurch Individuierungsmöglichkeiten im institutionellen Dreieck zwischen (Klinik-)Schule, Familie und Jugendpsychiatrie entstehen oder begrenzt werden, ist bislang nicht untersucht worden. An diesem Punkt setzt der Beitrag im Folgenden an, indem den Fragen nachgegangen wird, welche bildungsbiografischen Selbstentwürfe mit dem institutionell adressierten Statuswechsel der Jugendlichen einhergehen, die vielfach längst vor der Behandlung in der KJPP zu Patient*innen und schließlich zu Klinikschüler*innen geworden sind und wie diese in ihr Bildungsselbst integriert und mit ihren bildungsbiografischen Selbstentwürfen verknüpft werden. Ausgehend von unseren ersten Analysen deuten sich im Wechselspiel familialer und institutioneller Dynamiken Transformationserwartungen und -anforderungen bezogen auf die Rolle als Schüler*in und Patient*in an, die vor dem Hintergrund der entstehenden Biografie und adoleszenter Transmissionsbewegungen sowie der individuellen und familialen Erwartungen, die an den schulischen und therapeutisch-medizinischen Handlungsraum der Klinik gestellt werden, gedeutet werden3. Zudem sind aufgrund der sozialen Positionierung als psychisch oder auch psychosomatisch krank Bedingungen gegeben, die mit spezifischen Verletzungen und Verletzlichkeiten
2Dabei
ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der Krise in diesem Zusammenhang keine normative Konnotation hat: im Anschluss an die strukturtheoretischen Überlegungen Oevermanns (2004) gehen wir davon aus, dass eine Krise aus einer Erfahrung oder Entscheidung resultiert, die bisherige Handlungs- und Deutungsroutinen des Subjekts infrage stellt, wodurch die Lebenspraxis unter Transformationsdruck gerät und Neues aus der Krise hervorgehen kann. 3Wir stützen uns auf erste explorative Analyseergebnisse unseres laufenden Pilotprojekts mit dem Titel „Transformations(an)forderungen im Übergang zwischen Familie, Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und (Klinik-)Schule in der Adoleszenz“ (TRÜBAS). Im Rahmen eines prozessorientierten Designs, in dem zwei bildungsbiografische Interviews mit in der KJPP behandelten Klinikschüler*innen im Alter von zwölf bis neunzehn Jahren und zwei Familiengespräche geführt werden, rekonstruieren wir adoleszente Bildungs- und Entwicklungsprozesse in Hinblick auf biografische und institutionelle Möglichkeiten der Individuierung und mit Blick auf das Positionierungsund Adressierungsgeschehen im und zum psychiatrisch-psychotherapeutischen und klinikschulischen Handlungsraum. Vgl. Hornung und Becher (2019); Becher und Schulmeister (2020).
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(Janssen 2018, S. 154 ff.) sowie Integrationskonflikten einhergehen können. Integration verstehen wir mit Bereswill und Neuber als „eine innere wie äußere Bewegung der sozialen Einbindung in gesellschaftliche Erwartungshorizonte“ (2010, S. 34; siehe Bereswill und Neuber 2012; vgl. ähnlich auch Stauber und Walther 2013). In der Analyse biografischer Rekonstruktionen ist deshalb auch der Raum der Divergenz zwischen äußeren und am Organisationszweck von Jugendpsychiatrie und Schule orientierten Forderungen und den verfügbaren Möglichkeiten für Selbstpositionierungen und Distanzierung sowie Identifikationen und Selbstwahrnehmungen des Subjekts auszuleuchten. Leitend für unseren Zugang ist ein Verständnis von Institutionen als „widersprüchliche Einheit von zwei Qualitäten − die des Ermöglichens von Freiheit und die des Sicherns des gesellschaftlichen Status quo“ (Nittel und Tippelt 2019, S. 29). Aus dieser Perspektive rücken der disziplinierende Charakter der Institution, veränderte Anforderungen an Subjektivität von Schüler*innen und Patient*innen, wie ihr Potential, Bildungs- und Lernprozesse zu ermöglichen, in den Fokus. Auch wenn die Krankenrolle im Zuge der Diagnostizierung und Behandlung jugendlicher Patient*innen in der KJPP in gewissem Maße zuerkannt wird, mit der nach Parsons (1968) strukturell eine auf Zeit gestellte Entlastung von sozialen Rollenerwartungen verbunden ist, geht damit weder eine Entpflichtung von der Schulpflicht noch eine Suspendierung von an die Schülerrolle geknüpften Erwartungen einher. In einer Situation der schüler- und lebensbiografischen Diskontinuität steht aus einer theoretisch-analytischen Perspektive die in unterschiedlichen Organisationsformen realisierte Schule für Kranke im Zeichen der Aufrechterhaltung von Normalität und Kontinuität. Die Schule für Kranke fungiert gewissermaßen als Symbolträger der nur durch den temporären Psychiatrieaufenthalt unterbrochenen Lebenswirklichkeit und agiert in diesem Sinne als Repräsentantin der Verpflichtungserklärung der Patient*innen im Dienste ihrer Gesundung zu handeln und konstituiert und erinnert ein Kontinuum zwischen dem stationären Aufenthalt und dessen Ende. Demgegenüber repräsentiert die Jugendpsychiatrie, und die in diesem Rahmen stattfindende Psychotherapie, tendenziell die moratoriale Entbindung von Verpflichtungen und die Anerkennung der Krankenrolle (Parsons 1968, S. 345), die gegenüber den Ärzt*innen und Therapeut*innen zur Patientenrolle wird. Gerade vor dem Hintergrund, dass Schule in modernen Gesellschaften als zentrale Selektionsinstanz gesellschaftlich anerkannte Bewährungsmöglichkeiten hinsichtlich individueller Leistung eröffnet und reguliert, drängt sich die Frage nach dem Wirksamwerden des universalistischen, leistungsbezogenen Handlungsrahmens des Schulischen (Parsons 1968; Dreeben 1980) und der Orientierung an Leistungsnormen im Zusammenhang mit potentiell spannungsreichen Positionierungen als Kranke*r, Patient*in und Schüler*in und
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damit verbundenen bildungsbiografischen Situierungen auf. Denn das, was zu psychischen Belastungen sowie Formen ihrer Bearbeitung führt − was nicht notwendigerweise in eins fallen muss mit dem, was zum medizinisch-therapeutischen Behandlungsanlass geworden ist −, kann etwa in einer übermäßigen Identifikation mit schulischen Anpassungserwartungen und Leistungsnormen oder auch in einer als leidvoll erlebten Diskrepanz zwischen Bildungsideal und tatsächlicher Entsprechung und einer daraus resultierenden fragilen Identitätsformation ihren Ursprung haben (vgl. u. a. Nittel 1992; Kramer 2002; Kramer et al. 2009). Gestützt auf explorative Ergebnisse einer Einzelfallstudie stellen wir anhand der später folgenden objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion einen Fall vor, in dem leidvolle schulische Misserfolgs- und Abstiegserfahrungen vor dem Hintergrund familialer dichotomer Transmissionsbewegungen eines selbstständigkeitsorientierten Milieus schließlich einer medizinisch-therapeutischen Bearbeitung zugeführt werden. Wir fokussieren in der Analyse auf die sich in dieser lebensgeschichtlichen Krisenproblematik vollziehende Formation des Bildungsselbst und das mit Übergängen zwischen unterschiedlichen Statuspositionen und Institutionen zu bearbeitende Integrationsproblem. Doch zuvor erläutern wir das unseren Überlegungen zugrunde liegende Verständnis von psychischen „Erkrankungen“ als existentielle Krise, die wir als Ausdrucksgestalt der je individuellen Bildungsgeschichte des Subjekts verstehen (Oevermann 1996, S. 127) und deren Verschränkungen mit den mit dem institutionellen Übergang verbundenen Transformationserwartungen und Bewährungsdynamiken.
2 Psychosoziale Krisen, Transformationsdruck und adoleszente Bewährung Wie einleitend bereits erwähnt, ist im Zusammenhang mit dem mehr oder weniger fremdgesetzlich erlebten Eintritt in die Jugendpsychiatrie und die Schule für Kranke bedeutsam, dass primäre Krisendeutungen der Jugendlichen und ihrer Angehörigen, durch an sie herangetragene soziale Klassifikationen und neue Rollenerwartungen, vorgängige identitätsstiftende Narrative, familiale Sinnsetzungen und bildungsbiografische Handlungsorientierungen irritiert bzw. auf die Probe gestellt werden können. Mit dem Eintritt in die Klinik und dem damit verbundenen Übergang in die Schule für Kranke entsteht auf der einen Seite eine durch von außen induzierten Handlungs- und Transformationsdruck charakterisierbare Situation, die zudem mit einer Krise des Selbst und somit in doppelter Hinsicht Transformationsanforderungen verbunden sein kann. Mit dem spätestens mit der Einweisung verbundenen Prozess der Diagnostizierung
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einer psychischen oder auch psychosomatischen (chronischen) Erkrankung4 bzw. ‚Störung‘ entsteht eine „neue soziale Situation“ (Bury [1982] 2009, S. 78, zit. n. Ohlbrecht und Seltrecht 2018, S. 8), wodurch die Strukturierung dieser Erfahrungszusammenhänge und Aneignungsleistungen der werdenden adoleszenten Biograf*innen und ihrer Familien notwendig werden. In diesem Zusammenhang ist mit Hildenbrand (2014) zu bedenken, dass die Möglichkeiten des Umgangs mit der grundlegenden Krisenerfahrung einer Erkrankung und sich darüber potentiell eröffnender Bildungs- und Lernprozesse auch davon abhängen, welche Eigendynamik die Krankheit entwickelt. Dabei können die eigenlogischen Prozesse der Krise den „Krankheitsverlauf“ und seine „soziale Gestaltung“ (ebd., S. 62) unter Transformationsdruck setzen, sodass die Erkrankung als Form der Krise zum Vehikel werden kann, um allererst in die Welt gehen und innere und äußere Beziehungen individuierend umgestalten zu können (vgl. Becher und Schulmeister 2020). Folgen wir dem Oevermannschen Modell von Sozialisation als Prozess der Krisenbewältigung (Oevermann 2004) und der Adoleszenztheorie Kings (2013), ist zu bedenken, dass der Eintritt in die KJPP und damit der temporäre Übergang aus der Familie in die Klinik und aus der Stamm- bzw. Regelschule in die Klinikschule zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem Beziehungen und primäre Bindungen in Bewegung geraten und spannungsreiche Anerkennungserfahrungen Anderer für den adoleszenten Individuierungsprozess in spezifischer Weise bedeutsam werden. Dies betrifft „sowohl die sozialen Beziehungen, Freundschafts- und Liebesbindungen, als auch die neue Bindung an versachlichte Objekte, Projekte, Berufswünsche, Interessen und Betätigungen − an innere Entwürfe von ‚Arbeit‘ im weitesten Sinne“ (King 2013, S. 121). Zwar stellen sich nicht nur in der Phase der Adoleszenz Bewährungsfragen, doch im Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen muss sich das Subjekt nach innen und außen selbst positionieren, weshalb wir
4Psychische
Erkrankungen fassen wir als Ausdruck einer existentiellen Krise und Ausdrucksgestalt der je individuellen Bildungsgeschichte des Subjekts (Oevermann 1996, S. 127). Wir nehmen demnach keine Krankheitsdefinitionen und psychiatrischen Klassifikationen folgende Perspektive ein. Zudem verweist das, was als Devianz, psychische Erkrankung und psychosomatische Symptomatik gefasst wird, nicht nur auf Setzungen, die zu bestimmten Zeitpunkten, in bestimmten Kontexten und durch bestimmte Praktiken und Regelungen darüber entscheiden, welche Phänomene zu medizinisch behandlungsbedürftigen Problemen und mithin als Krankheit definiert werden (Jellen et al. 2018, S. 174). Sondern diese Phänomene selbst verweisen in einem umfassenderen Sinne auf sozial vorgespurte Normalitätskonzeptionen bzw. symbolische Ordnungen im Sinne historisch-kulturell verfügbarer Bearbeitungsfolien von Selbstkrisen und Adoleszenzkonflikten sowie Sozialisationsanforderungen (King 2013, S. 225).
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Adoleszenz als den zentralen Raum der Annäherung an und Auseinandersetzung mit Bewährungsmöglichkeiten betrachten (Oevermann 2009). Die Krisenerfahrung Krankheit − ob von „innen“ kommend oder eher von „außen“ hereinbrechend − impliziert „Irritationen“ für das „Leib-Körper-Identitätsgefühl“ in der Adoleszenz und strukturiert Identitätsbildungs- und mithin Individuationsprozesse in spezifischer Weise, wie Ohlbrecht und Langer (2008, S. 1790) ausgehend von ihren empirischen Befunden interpretativer Fallstudien herausstellen. Deshalb sind in struktureller Hinsicht die damit verbundenen Differenz- und Krisenerfahrungen in ihren Folgen für die Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraums und Bewährungsdynamiken in den Blick zu rücken. Da Adoleszenz im Sinne eines psychosozialen Möglichkeitsraums strukturell eine potentielle Chance zur Entstehung des Neuen (King 2013) zugesprochen werden kann, spielt in diesem Prozess auch die sich vollziehende inter- und mehrgenerationale Umgestaltung primärer Beziehungen und Neupositionierungen zum familialen und sozialen Erbe (Bourdieu 1997) eine bedeutende Rolle. Denn damit verbunden sind mehrgenerational in Interaktionen und beziehungsdynamisch vermittelte Erwartungen der Statusreproduktion und -transformation5, wie dies Bourdieu in Hinblick auf die Beziehung zwischen Vater und Sohn herausgearbeitet hat (vgl. ebd., S. 656; Helsper et al. 2009b; zu einer Mutter-Tochter-Konstellation vgl. Labede und Silkenbeumer 2014). Bedeutsam ist nun, dass das familiale Erbe dem Subjekt nicht nur zur Auseinandersetzung aufgegeben ist, sondern Verlaufsformen von Auf- und Abstiegen im Sinne sozialer Mobilität sowie institutionelle Übergänge im Bildungssystem als intergenerational vermittelt zu begreifen sind. Den Prozessen und Konfliktdynamiken biografischer Identitätsbildung, die sich im Spannungsfeld familialer und sozialer Strukturierungen sowie institutioneller Adressierungen und bildungsgangbezogener Übergänge in der Adoleszenz psychiatrieerfahrener Jugendlicher und Klinikschüler*innen vollziehen, gehen wir deshalb in Anknüpfung
5Siehe
dazu die an das bourdieusche Habitustheorem anschließenden und dieses Konzept erweiternden fallrekonstruktiven Untersuchungen zum Verhältnis von Schülerbiografie, Familie und Schule und insbesondere zu Erfolg und Versagen in der Schulkarriere bzw. damit verbunden zu Übergängen von Kramer 2002; Kramer et al. 2009; Helsper et al. 2007, 2009a; Kramer et al. 2013. Siehe auch Wiezorek 2005 und Sandring 2013 sowie Niemann 2015 in diesem Band. Vgl. auch die adoleszenz- und bildungstheoretisch fundierten Untersuchungen zu bildungsgangbezogenen Übergängen von Jugendlichen im Kontext von Migrationserfahrungen und familialen Statuserwartungen von King und Koller 2015; King et al. 2011. Vgl. insbesondere auch die Fallrekonstruktion „Moritz“ von Helsper (1994), in der er das Zusammenspiel familialer, jugendkultureller und schulischer Anerkennungserfahrungen herausarbeitet und die Folgen der Überanpassung der Familie an die Schule am Beispiel eines vom Gymnasium auf die Hauptschule absteigenden Schülers aufzeigt.
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an strukturtheoretisch fundierte Überlegungen zu einem Konzept biografischer Identität und den an anderer Stelle vorgeschlagenen Begriff des Bildungsselbst (vgl. Silkenbeumer und Wernet 2012; Wernet 2012; Labede et al. in diesem Band) nach. Dieser Begriff hat sich als fruchtbar im Rahmen der Erforschung ‚erwartungswidriger‘ Bildungs- und Schulaufstiege erwiesen, um die sich empirisch zeigenden subjektiven Formierungsprozesse und Selbstpositionierungen zur Schul- und Bildungskarriere, schulischen Anforderungen und Verortungen im Bildungssystem vor dem Hintergrund intergenerationaler familialer Statuserwartungen empirisch aufschließen und theoretisch würdigen zu können. Um den familialen Binnenraum und Beziehungsrelationen verstärkt in den Blick zu bekommen, stützen wir uns auf familiendynamische Modellierungen (Stierlin et al. 1980; Stierlin 1982, 2001; Buchholz 1990, 1993) und betrachten anschließend an strukturtheoretische Ansätze der Familiensoziologie Familie als autonome Lebenspraxis, deren Gefüge eigenlogisch strukturell verfasst ist (vgl. Allert 1998; Oevermann 2004; Hildenbrand 1999; Funcke und Hildenbrand 2018). Von der Bedeutung der sozialen Lage sowie weiterer sozialstruktureller Bedingungen für die Gestaltung von Schulkarrieren, Bildungsauf- und -abstiegen sowie Krankheits- und Patientenverläufen blenden wir mit diesem Zugriff keineswegs ab. Doch folgen wir der These, dass sich Familie als soziales Gebilde in ihrer Eigenständigkeit gegenüber milieubezogenen und institutionellen Einflüssen (wie jenen der Schule oder auch der Jugendpsychiatrie) behaupten und normierte Vorstellungen von sozialer Devianz, psychischer Krankheit sowie Vorstellungen darüber, wie diese zu bearbeiten sind, eigensinnig vor dem Hintergrund familialer Orientierungen gedeutet und (um-)gestaltet werden. In diesem Zusammenhang ist schließlich auf die instruktiven Untersuchungen von Haubl und Liebsch hinzuweisen, in denen herausgearbeitet wird, in welcher Weise Ritalin oder ein verwandtes Psychopharmakolon zu einem „Bedeutungsträger“ mit Folgen für familiale Alltagsgestaltung, Eltern-Kind-Interaktionen und das sich konstituierende Selbstverständnis von ambulant behandelten Jungen mit der Diagnose AD(H)S wird (Haubl und Liebsch 2009, 2010, 2011; Liebsch et al. 2013; Liebsch und Haubl 2018).6 Die Normalisierung eines „medizinischen Blicks auf Kinder“ (Liebsch et al. 2013, S. 174), verstanden als Prozess „der sukzessiven Veralltäglichung und Routinisierung im Umgang mit der diagnostischen Klassifikation“ (ebd., S. 162), kann den Autor*innen folgend 6In
den Bemühungen die Wirkungsweise des Medikaments verstehend zu entschlüsseln, „ist auffällig, dass das Medikament vor allem durch Kategorien von Ordnung, Standards und Funktionieren repräsentiert ist: Das Medikament beruhige die Kinder, es sorge dafür, dass sie besser in der Schule werden, es verhindere, dass sie aus der Reihe tanzen“ (Liebsch und Haubl 2018, S. 599 f.).
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als Ausdruck eines sich entgrenzenden Verhältnisses von Medizin und Erziehung interpretiert werden. Dabei ist herauszustellen, dass die Medikation mit einem Psychopharmakolon von Eltern AD(H)S diagnostizierter Jungen auch deshalb eingesetzt wird, um „ihren Kindern die Anpassung an die gesellschaftlichen Erfolgsbedingungen“ (Haubl 2009, S. 258 f.) zu ebnen.
3 Fallanalyse Philipp Weber Zunächst stellen wir der Fallrekonstruktion die Zusammenfassung einer Analyse voran, in der wir uns am Vorgehen einer in der fallrekonstruktiven Familienforschung verorteten methodischen Konzeption der Genogrammanalyse orientieren (Hildenbrand 1999, 2005, 2018).7 In der Analyse stützen wir uns auf objektive Daten und Angaben aus drei im Zeitraum von zweieinhalb Jahren geführten bildungsbiografischen Interviews sowie aus einem Familiengespräch mit Philipp Weber und seiner Mutter.
3.1
Analyse des ‚Bildungsgenogramms‘8
Philipp, der zu Beginn der Jahrtausendwende geboren wird, wächst bis zum Vorschulalter allein mit seiner Mutter und bis zum elften Lebensjahr gemeinsam mit ihr
7Wir verzichten an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung der Methode sowie der Methodologie der Objektiven Hermeneutik und verweisen auf die exemplarischen Beiträge von Oevermann 1986, 1991; Wernet 2009. Zu deren Anwendung im Kontext der Erforschung von biografischen Identitätsentwürfen vgl. Silkenbeumer und Wernet 2010; Wernet 2012. 8Von einem „Bildungsgenogramm“ (vgl. dazu Labede et al. in diesem Band) sprechen wir, um damit den gewählten Fokus auf die bildungsbezogene familial und sozial strukturierte Chancenstruktur, die über die jeweiligen intergenerationalen Transmissionen und Delegationen den adoleszenten Möglichkeitsraum (King 2013) in Bezug auf die Hervorbringung und Aneignung eines Bildungsselbst gestalten, zu markieren. Mit diesem Zugang lenken wir den Analysefokus auf das Zusammenspiel von sozialer Lage und familialen Beziehungsrelationen und darüber strukturierten Möglichkeiten der Gestaltung und Aneignung schul- und erwerbsbiografischer Werdegänge, um erste Fallstrukturhypothesen zu diesem Zusammenhang zu bilden. Die Darstellung des Falls haben wir so vorgenommen, dass eine Identifizierung der betreffenden Personen durch Dritte nicht möglich ist. Einschränkend müssen wir mit Blick auf die nachfolgende Interpretation darauf hinweisen, dass aufgrund fehlender Daten keine mehrgenerationale Analyse über drei Generationen möglich war und die Darstellung ergebnisorientiert und stark abkürzend erfolgt.
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und ihrem Lebenspartner auf. Trotz der vorgeburtlichen Beziehungsaufkündigung des unverheirateten Elternpaars besteht ein beständiger Kontakt zwischen Vater und Sohn. In der Antwort auf die Frage, woran Philipp in seinem eigenen bildungsbiografischen Entwurf vor dem Hintergrund des familialen und sozialen Erbes seiner Familie anknüpfen kann, entsteht ein kontrastreiches, dichotomes Bild. Sein Vater, der aus einer durch Kontaktabbrüche und Beziehungsaufkündigungen gekennzeichneten Familie stammt, verlässt die Schule mit einem Hauptschulabschluss und nimmt mehrere Berufsausbildungen auf, ohne diese abzuschließen. Er nutzt verschiedene sich ihm eröffnende Möglichkeiten und beteiligt sich als Investor und Gesellschafter an Projekten höchst unterschiedlicher Branchen. Es entsteht ein Bild eines ‚Selfmademan‘, der sich in der Welt der Geschäftsleute bewegt, ohne ambitionierte Ziele auf einer Karriereleiter zu beschreiten und an der Abwesenheit von Außenimperativen orientiert ist. Die Bereitschaft zum Aufbruch und Neubeginn zeigt sich in diesem Lebensentwurf, in dem resigniertes Aufgeben in Phasen des ‚Scheiterns‘ keinen Platz haben. Lokal ist Philipps Vater in der Region verwurzelt und geht eine neue Partnerschaft ein. Seine ökonomische Lage ist abgesichert, während hinsichtlich der Aneignung des sozialen Erbes von einer zwiespältigen Konstellation ausgegangen werden kann.9 Damit verkörpert der Vater von Philipp Weber einen Entwurf des beständigen Aufbruchs, der Risikobereitschaft und des Strebens nach Erfolg, der wohl nur über scheinbar mühelose Umwege und nach wechselnden Phasen der Stagnation gesucht und punktuell erreicht wird. Wir nehmen deshalb an, dass das vom Vater verkörperte Lebensmodell, weder eindeutig als Negativfolie sich angeeignet noch bruchlos an dieses angeknüpft werden kann. In deutlichem Kontrast dazu stehen der berufsbiografische Werdegang und Lebensentwurf von Philipps Mutter, die nach der Scheidung der Paarbeziehung ihrer Eltern mit ihrer Mutter im Alter
9Wir finden in den Interviews mit Philipp Hinweise darauf, dass die Großmutter väterlicherseits finanziell gut abgesichert ist, beruflich ambitionierte Ziele erreicht hat, einige Zeit im Ausland lebte und erfahren von einem auf ein Zerwürfnis hinweisenden mehrjährigen Kontaktabbruch zwischen Philipps Großmutter und ihrem Sohn. Da wir nicht auf Interaktionsprotokolle zurückgreifen können, beziehen wir uns hier lediglich auf die Schilderungen Philipps, wenn wir die Hypothese aufstellen, dass Philipps Vater vor das Strukturproblem der Abwendung des – soziologisch wertfrei gemeinten – ‚sozialen Abstiegs‘ der Familie gestellt ist und zu immer neuen Versuchen der Reparatur und des Anschlusses an eine soziale Positionierung im Herkunftsmilieu aufbricht – dies könnte ein Hinweis auf die Antriebskraft für die getrieben anmutenden Wechsel in der beruflichen Welt darstellen und auf Widersprüche im Projekt des Vaters (vgl. Bourdieu 1997, S. 653) selbst hindeuten.
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von siebzehn Jahren in die Region zieht, in der sie noch heute ansässig ist. Im Anschluss an den Realschulabschluss und eine kaufmännische Ausbildung bleibt sie, trotz mehrfacher Wohnortwechsel (innerhalb der Region), die im Zusammenhang mit dem gescheiterten Versuch der Neugründung einer Familie stehen, dauerhaft in einem Unternehmen tätig. Die Wahl des Ausbildungsberufs und die dauerhafte Anstellung lassen eine Orientierung an einer risikoarmen Sicherung der eigenen Existenz erkennen, die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, auch in ihrer Lebenssituation als ‚alleinerziehende Mutter‘ ermöglicht. Wir können aufgrund dieser knappen Angaben von moderaten Bildungsaspirationen von Frau Weber ausgehen, der eine stabile berufliche Situierung trotz der Wohnortwechsel infolge von Trennungen und neuen Partnerschaften gelingt. Anders als in dem von Philipps Vater verkörperten Entwurf stoßen wir in erster Linie auf das Motiv des Statuserhalts und der Absicherung. Damit kommen wir nun zu Philipps erstem Schulwechsel in der Grundschule. Zu erwähnen ist, dass er während des dritten Schuljahrs die Schule erstmalig aufgrund eines Umzugs in eine etwa 50 km entfernte Kleinstadt wechseln muss und damit vor die Aufgabe des Neuanfangs in einer anderen Grundschule und einem unvertrauten außerfamilialen Umfeld gestellt wird. Dass der Umzug zum Halbjahr und nicht erst zum Schuljahresende vollzogen wird, verweist auf eine vorgenommene Prioritätensetzung seiner Mutter und ihres Lebenspartners, hinter der die Anerkennung der Bedürfnisse des Sohnes nach Einbindung in die vertraute schulkulturelle Welt und jene der Freundschaftsbeziehungen, zurücktritt. Zu Beginn seiner Schulzeit eignet sich Philipp das Schulische so an, dass er eine Übergangsempfehlung für das Gymnasium am Ende der Grundschulzeit erhält. Im Anschluss an die Grundschulzeit besucht er daraufhin für die Dauer eines Schulhalbjahrs ein Gymnasium. Zu Beginn seiner Schulkarriere wird auch unter den Bedingungen der Orts- und Schulwechsel und eines steigenden Anspruchsniveaus ein schulischer Leistungserfolg erreicht. Angesichts des kulturellen Kapitals, der sozialen Lage und der Bildungswege von Philipps Eltern ist weniger von einer habituellen Nähe zum Feld gymnasialer Bildung, jedoch von die familialen Beziehungen strukturierenden Selbständigkeitsorientierungen statusambitionierten Aufstiegserwartungen auszugehen. Dabei zeichnet sich kein klar konturiertes familiales Vermächtnis, welches es weiterzutragen gilt, ab. Aufgrund der Trennung zwischen seiner Mutter und ihrem Lebenspartner und eines damit verbundenen Umzugs in eine andere Stadt, muss Philipp noch im fünften Schuljahr einen erneuten Schulwechsel an ein anderes Gymnasium bewerkstelligen. Seine biografische Entwicklung ist damit in der Frühadoleszenz durch eine weitere familiale Strukturverschiebung gerahmt. In diese durch gesteigerte familiale und schulische Krisendynamiken geprägte
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Zeit, in der eine affektive Stützung nun nicht nur durch die leibliche Elternbeziehung entfällt, sondern auch durch die zerbrochene Paarbeziehung und den gescheiterten Versuch der neuen Familiengründung, fallen die Aufnahme einer ambulanten Kinder- und Jugendpsychotherapie und die Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung, die zur Aufnahme einer psychopharmakologischen Behandlung führt. In zeitlicher Hinsicht wird auch hier eine Dynamik deutlich, in der ein wenig stützender Raum für die innerfamiliale Bearbeitung krisenhafter Erfahrungen zur Verfügung steht. Offenbar wird der Druck, einerseits Konflikte in der Beziehung zwischen Mutter und Sohn zu regulieren, die durch die Scheidung der Paarbeziehung wieder enger aufeinander verwiesen sind, und andererseits schulische Leistungen nicht weiter zu gefährden, so groß, dass auf − vielleicht mit dem Erfolgsversprechen auf rasche − im Blickfeld der Medizin und Psychotherapie liegende Hilfe gesetzt wird. Darauf deutet auch die zunächst sehr hoch dosierte psychopharmakologische Behandlung dieser insbesondere die schulische Leistung betreffenden Symptomatik sowie mehrfache Wechsel von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen hin. Die mit der Diagnose verbundene Defizitzuschreibung manifestiert sich nun leiblich und zwingt zur Deutung und Aneignung. Mag sie auch eine Erklärungsfolie für auftretende schulische Schwierigkeiten darstellen, so kann sie Bezugspunkt für ein Aufflammen schulischer Erfolgserwartungen darstellen und das Medikament zum Bedeutungsträger entsprechender an schulischer Leistung und Anpassung orientierter Erwartungen werden. Der Schulformabstieg auf die Realschule im Verlauf des 6. Schuljahres zeigt, dass Philipp ein Anknüpfen an den Schulerfolg in seiner Grundschulzeit unter der Zuhilfenahme ambulanter psychotherapeutischer und psychopharmakologischer Unterstützung nicht gelingt und die heteronomen Rahmungen des Selbst dominant bleiben. Die Abstufung auf die Realschule könnte zwar durchaus Entlastung hinsichtlich äußerer Leistungsanforderungen ermöglichen, doch auch elterliche projektive Statusambitionen und das eigene Fähigkeitsselbstbild narzisstisch kränken (Labede 2019).10 Mit dieser Selektionserfahrung ist erneut die nicht selbst gewählte und abrupte Herauslösung aus der vertrauten außerfamilialen Umgebung verbunden. Wie gestaltet sich nun das Ankommen an diesem neuen schulischen Ort, vor dem Hintergrund des Bewährungsdrucks, der auf Philipp Weber als ehemaligen Gymnasialschüler lastet? Wiederum ein Halbjahr später, und damit zum Übergang in die 7. Klasse, kommt es zu einem 10Dass
die Rate an Abiturient*innen so stark gestiegen ist, macht die Schulformabstufung als Selektionsinstrument und die institutionelle Zuweisung von schulischem Misserfolg und Versagen umso verletzender.
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weiteren (selbst initiierten) Umstieg in eine andere Realschule im Nachbarort, was deutlich auf Anpassungsprobleme und Konflikte an der Realschule hinweist, die vor dem Hintergrund der wiederholten Notwendigkeit, seine Identitätsentwürfe in unvertrauten Interaktionssystemen darzustellen, weiter eingeordnet werden kann. Im neunten Schuljahr bleibt Philipp knapp zwei Monate der Schule fern, was auf eine Flucht aus der Schule und eine weitere Zuspitzung des Problem- und Anpassungsdrucks, dem er sich dadurch punktuell zu entziehen vermag, hindeutet. Doch damit, so kann mit einiger Plausibilität angenommen werden, verschärfen sich die Autonomiekonflikte in der Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Gegenüber seiner Mutter bringt Philipp damit in einer spannungsvollen Weise seine Handlungsmächtigkeit zum Ausdruck. Ohne die Flucht ins Außerfamiliale anzutreten, zwingt er sie zu einer Stellungnahme, woraufhin schließlich die Einweisung in eine KJPP erfolgt11. Philipp willigt in die Aufnahme einer stationären Behandlung ein, um damit einen von der Mutter angedrohten „Beschluss“, der die Einweisung rechtlich sicherstellen soll, abzuwenden. Dies legt eine Ohnmacht- und Ausstoßungserfahrung nahe, erneut wird auf Hilfe durch im Blickfeld der Medizin und Therapie liegende Interventionen gesetzt, wobei hier nach der Strategie eines ‚Mehr desselben‘ verfahren wird, die eine Zuspitzung durch den Einschluss in die Institution erfährt. Damit trifft die Mutter eine Entscheidung, die seine Entwicklung und Erziehung unter eine spezifische Form institutioneller Kontrolle stellt und die es ihr ermöglicht, sich dem Sohn vorübergehend räumlich zu entziehen und ihn dem psychiatrischpsychotherapeutischen Handlungsraum zu überantworten. Die Jugendpsychiatrie erscheint in dieser Konstellation als ‚rettender‘ und zugleich mächtiger Dritter. Fraglich wird damit, inwieweit die von der Mutter herbeigeführte Trennung potentiell den inneren Ablösungsprozess als Voraussetzung für den Individuierungsprozess bedeuten kann. Was als sozial normierte Form von Devianz ein Bestandteil des Behandlungsanlasses darstellt, ist im Kontext der geschlossenen Institution nun nicht mehr möglich: der Schule fernzubleiben. Nach etwa sechs Monaten wird Philipp tagesklinisch behandelt und nach sieben Monaten entlassen. Zuvor hat er den Hauptschulabschluss in der Schule für Kranke erworben, damit sind zwar seine
11Philipp
und seine Mutter sprechen von einer Depression, die sich durch einen Rückzug aus der familialen und außerfamilialen Welt und psychosomatischen Beschwerden (Kopfund Bauchschmerzen, Gewichtsverlust) äußerte, zudem schilderten sie Nebenwirkungen der Medikation. Die ambulant behandelnde Psychologin habe zudem diesen Schritt in die Klinik nahegelegt.
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Zugangschancen zu bestimmten Ausbildungsberufen und in den Erwerbssektor eingeschränkt, doch damit zeigt sich auch, dass ihm in der Klinik eigenes Tätigsein wieder möglich war. Vor dem Hintergrund der fortbestehenden ADS-Diagnose und Medikation ist zu bedenken, dass auch nach der Therapie die Ungewissheit, ob und in welcher Weise unter dieser Diagnose gefasste Phänomene zu Problemen in spezifischen Anforderungskonstellationen und -situationen führen, sich kaum verflüchtigt haben dürfte. Verfestigt sich das Orientierungsunsicherheit erzeugende Bild an einer ‚Störung‘ zu leiden, die die weitere schulische und berufliche Bewährung beeinträchtigen könnte, drohen erneute Scheiternserfahrungen, die die Entscheidung für den weiteren Schulbesuch wie die Einmündung ins Erwerbsleben rahmen. Nach der Entlassung äußert Philipp den Wunsch, später etwas „in Richtung Psychologie“ zu machen oder Bezugsbetreuer in der Jugendpsychiatrie zu werden, was auf die Bindung an die Institution und den imaginierten Rollenwechsel verweist.12 Philipp besucht für etwa drei Monate eine Berufsschule, setzt dann die Medikamente ab und arbeitet danach etwa ein dreiviertel Jahr als Hilfskoch in einem Restaurant, welches seinem Vater gehört. Nach dem Abbruch der Berufsschule realisiert er damit eine Möglichkeit des ‚Unterschlupfes‘ beim Einstieg ins Erwerbsleben, bei der eine Vater-Sohn-Beziehungskonstellation entsteht, in der sich die Suche nach einer haltgebenden, schützenden Struktur ausdrückt. Im Folgenden wendet er sich nach einer betriebsbedingten Kündigung von der Gastronomiebranche ab und findet erneut für etwa ein Jahr einen ‚Unterschlupf‘ als Arbeiter in einem metallverarbeitenden Betrieb, in dem der neue Lebensgefährte seiner Mutter tätig ist. Die Suche nach einer schützenden Struktur und seine prekäre erwerbsbiografische Situation setzen sich fort. Schließlich meldet sich Philipp für eine zweijährige Weiterbildungsmaßnahme an, um den Realschulabschluss nachzuholen und äußert den Wunsch, vielleicht noch das Abitur
12Nach
der Entlassung besteht für Philipp nicht die Möglichkeit seine vorherige Stammschule wieder zu besuchen, um dort den Realschulabschluss zu machen. Er entscheidet sich schließlich gegen die Empfehlung der Klinik, eine Maßnahme in einem Berufsbildungswerk zu absolvieren, was einen Umzug und den Wechsel in eine therapeutische Wohngruppe bedeutet hätte, und zieht ein letztlich nicht realisiertes Auslandsjahr in Erwägung. Wir interpretieren das angedachte, wenn auch nicht realisierte Auslandsjahr in Nordeuropa in einem Land, in dem seine Großmutter einige Jahre lebte und dort noch Bekannte hat, als weiteren Hinweis auf das kulturelle Kapital der Familie väterlicherseits, welches der Vater selbst nicht reproduzieren konnte. Denn Auslandsaufenthalte versprechen in sozialer Hinsicht Distinktionsgewinne, ebnen eher den Weg zum Abitur oder schließen an dieses an.
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zu machen. Dieser Zukunftsentwurf bringt den Versuch einer Korrekturbewegung hinsichtlich der Schulkarriere zum Ausdruck, der eine Erweiterung bildungsbiografischer Optionen und eine Statuskorrektur verspricht. Zusammenfassend zeigt sich anhand des Bildungsgenogramms vor dem Hintergrund der Eröffnung von Bildungschancen und Bewährungsmöglichkeiten eine dichotome Transmissionsbewegung: Während patrilinear eine strukturell optimistische hohe Risikobereitschaft tradiert und anerkannt wird, wird matrilinear vor allem eine Orientierung an Statussicherheit und ernsthafter Einbindung in ein schulisches und berufliches Ziel weitergegeben. Daraus lässt sich die Hypothese ableiten, dass aus dem Bruch zwischen der mütterlichen und väterlichen Sphäre für Philipp ein spannungsreicher Loyalitätskonflikt entsteht. Durch die familial- und schulbiografischen Diskontinuitätserfahrungen entsteht wiederholt die Notwendigkeit, sich trennen und neu anschließen bzw. sich situieren zu müssen, wodurch eine biografische Konstellation entsteht, in der Philipp in ein Lebensmodell einsozialisiert wird, welches dem Lebensentwurf des Vaters tendenziell ähnlich ist und die Einbindung in außerfamilial erfahrene affektive Solidarität forcieren dürfte. Einen wichtigen Kulminationspunkt dieser Entwicklung stellt die auf vielfache Krisen folgende sukzessiv steigende Intensität medizinischer Behandlung dar, die als Folge dieser Verantwortungsübertragung möglicherweise innerfamiliale Erwartungen erst anfacht. Bildungsbiografische Situierungen vollziehen sich damit angeknüpft an familial vermittelte Aufstiegserwartungen in der Verbindung mit den durch das psychiatrische Handlungssystem und lebensweltlich geprägten Vorstellungen von der eigenen „Krankheit“.
3.2 Fallrekonstruktion: „Ich wusste eigentlich, dass ich insgeheim das Zeug dazu habe“ Den Ausgangspunkt unserer Darstellung bildet der Beginn des ersten Interviews mit dem Fokus darauf, wie sich Philipp Weber zu seiner Schulkarriere, dem Schulischen sowie dem biografischen Einschnitt der siebenmonatigen Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Beschulung in der Klinikschule, die mit dem Erwerb des Hauptschulabschlusses endete, positioniert. Er antwortet auf die Bitte, „etwas über“ sich zu erzählen: Philipp: […] ich bin der Philipp ehm ich bin 16 Jahre alt ehm ich bin theoretisch fertig mit meiner Schule also ich hab jetz n Abschluss ich war ehm vor (.) drei Wochen wurd ich aus der Klinik entlassen ehm ich war da wegen paar familiären Problemen schulischen Problemen das hat sich son bisschen vermischt und ich bin
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nich mehr so richtich klar gekommen in meinem Privatleben aber auch mit meiner Schule nich mehr ehm (.) und ja hat sich aber jetz zum Glück dann alles zum Guten gewendet (.) ja (.)13
Die Orientierung an Spuren institutionalisierter Muster des Lebenslaufs und damit verbundener Normalitätserwartungen durchziehen Philipps Antwort auf die Bitte nach einer Selbstbeschreibung und die Form, in der er einen identitätsbedeutsamen Selbstbezug entwirft. Die Benennung des aktuellen Status wirft dann ein Positionierungsproblem auf, welches auf die Bedeutung von gesellschaftlich und institutionell forcierten Prozessen der sozialen Platzanweisung im nachschulischen Übergang verweist. Auf der latenten Sinnebene wird in dem Sprechakt „ich bin theoretisch fertig mit meiner Schule“ die Ambivalenz deutlich, denn einerseits ist noch etwas zu erfüllen, um tatsächlich etwas zu beenden, andererseits ist das Ziel, sich von der Schule als solcher abwenden zu können, was in dem ‚fertig sein‘ ebenfalls implizit enthalten ist, zum Greifen nahe. Es geht darum, einen Abschluss zu haben, nicht ihn gemacht zu haben bzw. einen bestimmten Schulabschluss erworben zu haben. Zugespitzt formuliert wird eine ambivalente Bezugnahme deutlich, in der ein unausgesprochenes ‚immerhin‘ aufscheint: ‚jetzt‘ in der nachklinischen Zeit nicht mit ‚leeren Händen‘ dazustehen, sich nun jedoch entscheiden und bildungsbiografisch situieren zu müssen, was die Frage nach einem materialen Flucht- und Orientierungspunkt hinsichtlich des weiteren Bildungsgangs aufwirft. In der den Klinikaufenthalt normalisierenden und entdramatisierenden Konstruktion „ehm ich war da wegen paar familiären Problemen schulischen Problemen“ wird die durch die Interviewsituation gerahmte Orientierung an äußeren Erwartungen sichtbar, dabei wird die Frage nach dem Inhalt familiärer und schulischer Probleme ausgespart. Manifest wird das Ausmaß der manifesten Krise relativiert, wenngleich diese Konstruktion der sich „vermischenden“ Probleme aus der familialen und schulischen Welt ein ‚schwaches‘ Motiv für einen Klinikaufenthalt enthält, wird dieser nicht zur zwingenden Intervention. In dem das Ausmaß der Belastung anzeigenden und zugleich relativierenden Sprechakt „und ich bin nich mehr so richtich klargekommen in meinem Privatleben“ spricht Philipp aus einer der privaten Sphäre bereits enthobenen Perspektive an, dass seine Handlungs- und Deutungsroutinen nicht mehr zuverlässig griffen. Sinnstrukturell ist der Krisenbezug hier an die eigene Person gekoppelt. Fragen wir weiter,
13Bei
der Transkription berücksichtigt wurden folgende Richtlinien: Betontes wird durch eine Fettung, Sprechpausen durch (.), sprachlich in die Länge gezogene Silben durch : und Unterbrechungen durch / gekennzeichnet.
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welche Sphären er voneinander abzugrenzen sucht, so wird die Schule zu dem der öffentlichen Sphäre zugeordneten Lebensbereich, zugespitzt: zu seinem ‚Beruf‘. Mit dem Anschluss „aber auch mit meiner Schule nicht mehr“ zeigt sich, in welcher Weise Schule identifikatorisch mit Bedeutung aufgeladen wird, sodass er sich weder von dieser abwenden noch die in diesem Bereich verorteten Schwierigkeiten als marginal ausweisen kann. Ersetzen wir die Äußerung „mit meiner Schule“ durch den Begriff „mit meiner Arbeit“ und berücksichtigen das sprachliche Detail des „aber“, legt dies sinnstrukturell nahe, dass gegen mögliche äußere Zweifel ansprechend das Ausmaß der Krisensituation hervorgehoben wird. Die entstandene psychosoziale Orientierungsunsicherheit entfaltete eine Dynamik, welche die Erfüllung schulischer Anforderungen und Verpflichtungen in einer Weise erschwerte, dass nicht nur schulischer Erfolg gefährdet sein musste, sondern damit auch sein Schülerselbst. Mit dem Narrativ der glücklichen Fügung hinsichtlich der Umwendung der Krisensituation deutet sich eine passive Konstruktion an: Was auf seine aktuelle Lebenssituation bezogen manifest beruhigend klingen soll, verfängt an der Fragilität dieser verschiedene Zeitdimensionen („jetzt“, „dann“) umfassenden Figur. Die von Philipp bemühte Figur, es habe sich etwas zum Guten gewendet, impliziert vielmehr, dass etwas ‚Schlechtes‘ oder auch drohendes Unheil umgewendet wurde, ohne dass er sich hier als handelnder Akteur entwirft. Der erworbene Abschluss, den Philipp zuvor erwähnt, kann kaum manifeste familiale Konfliktpotentiale und Ambitionen dauerhaft stillstellen. Wir ziehen eine weitere Textpassage aus dem ersten bildungsbiografischen Interview mit Philipp heran, in der er das Erzählthema des schulischen Werdegangs entfaltet und schließlich die Zeit in der zuerst besuchten Realschule anspricht. In diesem Zusammenhang stellt Philipp erstmals einen Bezug zur Diagnose ADS her. Daraufhin entfaltet sich in der Interaktion zwischen ihm und seiner Mutter, die eigentlich nicht am Interview teilnimmt, sich aber an dieser Stelle einschaltet, eine verdeckte Auseinandersetzung um die Problemanerkennung. Philipp.: […] dass heißt man hatte ne Haupt und Realschulklasse zusammen dass heißt es war so ne halbe Gesamtschule und die Klassensituation ich mein ich hab adhs und ehm die Klassensituation fand ich unerträglich gerade auch in meinem Zustand weil es war sehr laut wir warn teilweise 35 Kinder in einer Klasse (I.1: hm) was mir zu viel is weil ich schon Probleme hab mich ehm auf einzelne Sachen zu konzentrieren wenn keine Menschen im Raum sind Frau Weber: ((aus dem Nebenraum)) du? Philipp: ja Frau Weber: du hast ads nisch adhs Philipp: Entschuldigung ich hab ads
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Frau Weber: ich weiß nich obs wichtig is (uv) Philipp: ich (.) /glaube Frau Weber: (uv)/ Philipp: ja ich glaube nich also Frau Weber: gut sorry Philipp: is ja jetz nich son riesen Unterschied ich bin nicht so hyperaktiv und neige zu (.) Gefühlsausbrüchen nein oke ich hab ads tschuldigung […]
Die Zusammenlegung einer Haupt- und Realschulklasse interpretiert Philipp als Zusammenlegung differenter Leistungskohorten, er setzt wiederholt in der Beschreibung der sozialen Situation („Klassensituation“) auf der Realschule an, vor die er sich nach der Schulformabstufung gestellt sah. Hier deutet sich ein enttäuschtes Statusmotiv an, zugespitzt formuliert: die Realschule war letztlich keine ‚richtige‘ Realschule mehr, sondern entpuppte sich als ‚halbe‘ Gesamtschule. Betrachten wir den Sprechakt „ich mein ich hab adhs“ so bezieht sich Philipp in einer Weise auf sich selbst und die Diagnose, in der er mögliche Einwände an der Triftigkeit seiner Darstellung der ihn belastendenden schulischen Situation („fand ich unerträglich“) vorwegzunehmen versucht. Das heißt auch, dass er gegen mögliche Einwände, er übertreibe und sei gar nicht so beeinträchtigt, anspricht. Eine Meinung (ich mein, fand ich) steht für einen Positionsbezug in umstrittenen Angelegenheiten, was vom Gegenüber zwar kaum bestritten werden, aber auch als nachvollziehbar qualifiziert werden kann. In dem Sprechakt „gerade auch in meinem Zustand“ markiert Philipp die von ihm als problematisch qualifizierte schulische Situation schließlich als eine Zumutung angesichts einer Situation gesteigerter Belastung, die der Rücksichtnahme bedarf. Er spricht nicht von seiner ‚Krankheit‘ oder ‚Störung‘, doch ordnet er ADHS (das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) auch nicht lediglich als Ausnahmesituation ein, sondern knüpft diese an sein Selbst. Betrachten wir die sich beziehungsdynamisch in der Interaktion entfaltende Konflikthaftigkeit in der Beziehungsstruktur zwischen Mutter und Sohn zeigt sich, dass das von der Mutter (die sich im Nebenraum aufhielt) gerufene „du?“, die damit zugleich kommuniziert, dass sie über die Inhalte des Interviews wacht und auf ihre Richtigkeit hin prüft, als unnötige und übergriffige Einmischung und Zurechtweisung gedeutet werden kann. Diese folgt auf die nachgeschobene Erläuterung Philipps, selbst ohne Anwesenheit anderer Personen die Aufmerksamkeit nur mit Not, auf inhaltlich relativ unbestimmt bleibende „einzelne Sachen“ richten und somit andere ‚Sachen‘ ausblenden zu können. Damit gewinnt die Belastung durch das, was Philipp seinen ‚Zustand‘ nennt, weiteres Gewicht. Die Korrektur der Mutter, er habe ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) und nicht ADHS kann dahingehend interpretiert werden, dass Frau Weber damit latent zum Ausdruck
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bringt ‚übertreib nicht so und versteckt dich nicht hinter ADHS‘. Was Philipp zuvor geschildert hat verweist gerade nicht auf das, was der Symptomdiagnose einer ADHS zugeordnet wird, deshalb gehen wir davon aus, dass die Zurechtweisung eher darauf abzielt, sich nach Außen gemäß des implizit nahegelegten Gefühlsanspruchs ‚richtig‘ zu verorten. Philipps Äußerung „Entschuldigung ich hab ads“ trägt letztlich nicht zur Einnahme einer souveränen Position bei und kann nur knapp den zurückgehaltenen Ärger verbergen, wenn er harmonisierend versucht, eine eigene Position zum Ausdruck zu bringen und sich letztlich doch der nahegelegten formalisierten Logik fügt und die aufscheinende Perspektivendifferenz damit einebnet. Beziehungsdynamisch offenbart diese Interaktion einen Konflikt um die Problemanerkennung. Für Philipp ist deshalb die Frage der Bezeichnung ADHS oder ADS dann auch nicht so wichtig. Es geht ihm um etwas anderes, was er aber hier nicht in einer selbstbemächtigenden Weise in der Auseinandersetzung mit seiner Mutter bearbeitet, etwa durch ein alternativ denkbares ‚stimmt, es heißt ADS, aber es beeinträchtigt mich trotzdem‘. Denn die von ihm beschriebene Problematik ist nichts, was der Vergangenheit angehört, sondern weiterhin wirksam ist und aufseiten der Mutter wie des Sohnes für Anspannungen sorgt. In der von Philipp abschließend gegenüber den Interviewerinnen vorgenommenen Selbstzuordnung grenzt er sich von den mit geringer Selbstkontrolle assoziierten Merkmalen einer ADHS ab und folgt dem nahegelegten Gefühlsanspruch der Rationalität. Die nicht geführte Auseinandersetzung um die Problemanerkennung und das Misslingen der Perspektivübernahme verknüpfen sich mit der Problematik der Zurechenbarkeit bestimmter gerade schulisch relevant werdender Beeinträchtigungen als Ausdruck einer psychosozialen ‚Störung‘. Damit verknüpft deutet sich hier ein tiefer liegender Konflikt in der Beziehung zwischen Philipp und seiner Mutter an, der grundlegend zum Verständnis des sich hier andeutenden Problems der Problemanerkennung beiträgt und zur Frage nach den Gründen für die geschilderten Belastungen und damit verbundener Verantwortung führt. Um diese Konstruktionslogik weiter auszuschärfen wechseln wir zu einer Sequenzstelle, an der Philipp im Anschluss an das zuletzt zitierte Textsegment in einer längeren Narration das Erzählthema seines schulbiografischen Verlaufs weiter entfaltet und auf die durch konfliktträchtige Erfahrungen schulischen Versagens gekennzeichnete Zeit in der Realschule zurück kommt. Philipp ringt darum, die Selbst- und (Fremd-)zuschreibung als potentiell erfolgreicher Schüler aufrechtzuerhalten und selbstwertschützende Erklärungen für Erfahrungen des Versagens in der Schule zu finden. Schließlich unterbricht er sich selbst, um seine bisherige Narration über seinen schulbiografischen Werdegang zu korrigieren:
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Philipp: […] stimmt gar nicht ich erzähl gerade Mist ich war als allererstes ja aufm Gymnasium ich hab das ganz vergessen ich war ich wurde eigentlich wurde ich fürs Gymnasium empfohlen und das war auch noch in dem Haus wo wir gewohnt haben bevor der Trennung genau so war das ehm tschuldigung ehm und zwar bin ich da aufn Gymnasium gegangen dann nach der Grundschule da muss ich sagen erinner ich mich ganz gerne dran […]
Es gibt eine Vorgeschichte des eigentlichen schulbiografischen Verlaufs, doch um diesen verstehen und (vielleicht auch sich selbst) erklären zu können, muss sich Philipp einem früheren Kapitel seiner Schulbiografie zuwenden. Wohlgeformt ist der Sprechakt „stimmt gar nicht ich erzähl gerade Mist“ in Kontexten, in denen der Sprecher auf den ihm unterlaufenen Irrtum in der bisherigen Schilderung hinweist und eine entscheidende Korrekturnotwendigkeit eines dargestellten Sachverhalts ankündigt, ‚eigentlich‘ verhielt es sich nämlich ganz anders wird damit nahegelegt. Der Einschub „ich hab das ganz vergessen“ liest sich in diesem Zusammenhang eher dahingehend, ein bedeutendes Detail in der an Vollständigkeit orientierten Darstellung ausgespart zu haben. Wiederholt setzt Philipp danach erneut an und bricht den begonnenen Satz wieder ab, was auf die Bearbeitung von etwas Prekärem hindeutet, und in den Hinweis auf die erhaltene Empfehlung für das Gymnasium mündet, mit der ihm eine Passung und Eignung von der Institution bescheinigt wurde. Das heißt auch, dass Philipp diese Fremdzuschreibung im Sinne einer Platzanweisung und eines ‚Prädestiniert-Seins-Für‘ interpretiert, mit der eine entsprechende Erwartung an ihn und die aufnehmende Schule herangetragen wurde, die eigene und familiale Aspirationen möglicherweise weiter anfachten und die einer Statusgewinn orientierten familial gestützten Hinwendung zur Schule entspricht. Dem Hinweis auf die Gymnasialempfehlung stellt Philipp ein „eigentlich“ voran, welches ein unausgesprochenes ‚aber‘ impliziert, was wir so interpretieren können, dass für ihn selbst eigentlich ein anderer Weg naheliegender gewesen wäre, ohne dass sich der Schulwechsel als fremdbestimmt erwiesen hat. Zwar verweisen das damit nahegelegte ‚Eigentlich war ich mal von einer institutionell verbürgten Autorität für einen anderen Ort vorgesehen‘ und die vorgenommene Bezugnahme auf das Gymnasium auf eine eher schwach ausgeprägte Identifikation mit diesem Ort. Doch wenn es auch eine Entscheidung der Institution darstellt, der Philipp gefolgt ist, so bringt er seine Aktivität, dort hingegangen zu sein, ebenfalls zum Ausdruck. In dem Sprechakt „und das war auch noch in dem Haus wo wir gewohnt haben bevor der Trennung genau so war das“ stellt Philipp die Verbindung zwischen der Schullaufbahnempfehlung und der Zeit her, die noch nicht von „der Trennung“ und dem Bruch der Paarbeziehung überschattet war. Bemerkenswert ist, dass inhaltlich unausgeführt
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bleibt, wer sich von wem trennt. So setzt Philipp auch nicht seinen Satz nach dem bevor fort, sondern spricht lediglich von der Trennung, womit er ein Benennungsund Verortungsproblem hinsichtlich der Beziehung zwischen seiner Mutter, ihrem Lebensgefährten und ihm als Sohn umgehen kann. Die positiven Erinnerungen, die als etwas markiert werden, was es sich nachträglich einzugestehen gilt („muss ich sagen“), werden inhaltlich nicht weiter konkretisiert. Es ist in erster Linie die Zeit vor der Trennung und dem Verlust des vertrauten Lebensumfelds, weniger das Gymnasium selbst, an welche er sich gern erinnert. Philipp versucht sich, den eigenen schulbiografischen Verlauf in einer Weise anzueignen, in der er nun einen einschneidenden Wendepunkt für das, was als schulischer Absturz bezeichnet werden kann, identifiziert. Innerhalb weniger Monate muss Philipp nicht nur den bereits erwähnten Umzug, damit verwoben familiale Destabilisierungen und den Wechsel an ein anderes Gymnasium und schließlich an die Realschule bearbeiten, sondern Erfahrungen schulischen Misserfolgs und damit Bildungsaspirationen korrigieren. Ihren Ausgangspunkt nimmt die folgende Interpretation deshalb weiter von einer Sequenzstelle, in der Philipp zuvor davon spricht, dass ihm das „Aufnehmen“ und vor allem „Behalten“ schulischer Inhalte zunehmend Probleme bereitete und er Schule schließlich „fast gehasst“ sowie unter Nebenwirkungen der psychopharmakologischen Behandlung gelitten hat. Die Ursachen für die sich zuspitzenden Schwierigkeiten, an vorherige schulische Erfolge durch das Erbringen von schulisch anerkannten Leistungen anknüpfen zu können, bleiben für Philipp ein quälendes Rätsel. Philipp: […] da is dann auch meine Leistung noch mehr abgefallen einfach weil ich dann ehm ich hatte dann halt vom Gymnasium ich war halt sehr enttäuscht von mir selbst auch weil ich halt gemerkt hab okay ich wusste eigentlich dass ich insgeheim ehm das Zeug dazu habe das zu schaffen und das zu können aber irgendwie konnte ich das nicht nutzen mein Potential was ich hatte und das hab ich gemerkt und ich war halt ziemlich frustriert und mir gings dann wirklich auch emotional sehr sehr schlecht weil ich halt nicht verstanden habe warum ich ähm meine Leistung einfach nicht nutzen konnte die ich ja bringen kann was ich ja schon gezeigt hatte (.) […]
Wenn er auch zunächst zu einer Erklärung ansetzt, die diese Entwicklung als folgerichtig ausweist, misslingt der Versuch, diese Entwicklung im Sinne eindeutiger Erklärungen zu deuten. Philipp sagt nicht, seine Noten seien immer schlechter geworden, sondern seine Leistung sei nach dem Schulformabstieg „noch mehr abgefallen“. In der Artikulation dieser Vorstellung wird zum Ausdruck gebracht, dass Leistungsfähigkeit als Erfolg verbürgende potentielle Kapazität begriffen wird, die durch von innen oder außen hereinbrechende
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Einflüsse begrenzt (‚abfallen‘) oder gesteigert (‚ansteigen‘) wird. Zugespitzt formuliert deutet sich darin eine Bezugnahmelogik auf den leistungsbezogenen Handlungsrahmen von Schule an, die sich an dem in schulischen Situationen auf Dauer gestellten Achievement bricht und an technisch oder medizinisch relevant werdende Parameter erinnert (z. B. Abfall oder Anstieg der Drehzahl einer Maschine oder Blutdruck, Körpertemperatur). Wenn Philipp erwähnt, er sei enttäuscht gewesen, so expliziert er die Enttäuschung nicht offen. Es ist jedoch ein Sprechakt desjenigen, der damit seine Reaktion auf nicht eingelöste Versprechen oder geweckte Erwartungen und daran geknüpfte Hoffnungen einer nachträglichen Begründung zuzuführen versucht. Wenn Philipp nachschiebt „von mir selbst auch“ so können wir dies auf die Erfahrung des Versagens beziehen, welches außerdem zu einem Selbstvorwurf angesichts ausgebildeter hoher Ideal-Ich-Anforderungen14 wird. Er stellt nicht die Erwartungen selbst infrage, die sich nachträglich vielleicht als unrealistisch erweisen könnten. Sondern das, was Enttäuschung hervorgerufen hat, bezieht sich − so unsere Interpretation − auf die als leidvoll erlebte Diskrepanz der an ihn herangetragenen und übernommenen Erwartungen und ihrer tatsächlichen Entsprechung. Sinnstrukturell überlagern sich zwei Logiken, was durch den Einschub „ich wusste eigentlich dass ich insgeheim“ hervorsticht. Denn von dieser Vorahnung, die sich nachträglich als ‚wahr‘ herausstellt, kann man nur dann sprechen, wenn das Ereignis tatsächlich schon eingetreten ist und somit die eigene Intuition nachträglich als zutreffend ausweist. Damit liegt auf der Ebene der latenten Sinnstruktur ein Selbstzweifel nahe, doch nicht durch Lernen und Anstrengung eigenen und äußeren Erfolgserwartungen entsprechen zu können, d. h., doch möglicherweise nicht über das „Zeug dazu das zu schaffen und das zu können“ zu verfügen. Deutlich wird der Anstrengungsdruck vor dem Hintergrund eines diffus bleibenden leistungsbezogenen Anspruchsrahmens mit dem er sich identifiziert, denn ein materialer Fluchtpunkt, ein Ziel außerhalb dieses Anstrengung anzeigenden Motivs des „Schaffens“ zeichnet sich nicht ab. Je länger sich Philipp in diese Selbstdeutung flüchtet, um so mehr setzt dies eine Dynamik in Gang, in der sowohl die Angst vor dem Scheitern an eigenen Erfolgserwartungen als auch das Entstehen einer eigenen Bildungsaspiration in Schach gehalten werden müssen, was der Tendenz nach einer Selbstverleugnung zuarbeitet. Was manifest schon als fragile Gelingenskonstruktion entworfen wird, erweist sich damit als Anstrengung und Erschöpfung erzeugende Fallenkonstruktion, muss er doch diese Selbstkonstruktion immer wieder bestätigen
14Vgl.
grundlegend dazu Labede 2019, sowie Labede im vorliegenden Band.
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und den Zweifel so in Schach halten. Das zur Bedrohung gewordene Scheitern und damit auch die Aspirationen und das Festhalten an einem bestimmten Selbstentwurf werden zu etwas, was nicht nur durch die institutionellen Logiken des Schulischen selbst, sondern durch familiale und medizinisch-therapeutische Normalisierungsversuche immer wieder in Gang gesetzt werden15. Denn auch die von außen nahegelegten Zusammenhänge und ärztlichen Erklärungsangebote erweisen sich für Philipp letztlich nur bedingt als tragfähig, ohne von ihm zurückgewiesen werden zu können. Denn diese erfüllen eine punktuell entlastende Funktion in der Aneignung der schulischen Scheiternserfahrungen, ohne grundlegende familial-biografische Verletzungserfahrungen und damit verbundene Selbstkrisen überdecken zu können. So führt Philipp auch im späteren Familiengespräch fast trotzig und zugleich beinah verzweifelt aus: „ich konnte des ja nur ich konnte es mir einfach nicht behalten (.) weil es einfach ähm von zuhause dann viel Informationen gab und viel ähm Stress […].“ Er spricht nicht von Schwierigkeiten, sich etwas zu merken, sondern in seiner Vorstellung ist das bereits ‚Gekonnte‘ aufgrund manifester familialer Belastungen, die viel gedanklichen und emotionalen Raum in Anspruch nahmen, verloren gegangen. Die Anspruchsfigur, die Philipp hier in Anschlag bringt, erweist sich als Anstrengung erzeugende Fallenstruktur, denn für ihn wird hier das Können zu etwas, was sich nicht erst in einer konkreten
15Die
Allianz zwischen Mutter und Sohn in der Bearbeitung des schulischen Leistungseinbruchs unter Einbeziehung des medizinisch-therapeutischen Handlungssystems ist auch im zweiten Interview mit Philipp thematisch, so erzählt Philipp „[…] ab der sechsten bin ich dann auf ne Realschule gegangen und ab da haben wir das dann auch versucht mit den Medikamenten (.) weil wir uns halt nicht erklären konnten warum ich das nicht hingekriegt hab (.) weil ich halt ne ausdrückliche Empfehlung hatte und weil ich auch nie Probleme sonst hatte mit Schule ich mein Sie wissens ja wahrscheinlich dass ähm (.) ADS (.) hört sich jetz das hört sich jetz ich möch mich damit jetz nich irgendwie gut hinstelln aber ähm ADS ähm kommt ja (.) desto später zum Vorschein desto (.) intelligenter man is (.) zumindest wird des so von den Ärzten gesagt mit denen ich mich unterhalten hab (.) […] und das wussten wir halt damals nicht wie wir das einordnen solln und deswegen (.) ham wir dann den Test gemacht und das kam dann raus […]“. Die psychopharmakologische Behandlung war ein Versuch, das heißt, dass dieser Bearbeitungsversuch letztlich scheiterte und Philipp nicht in die Lage versetzte, den schulischen Leistungsanforderungen so zu entsprechen, dass sich der Erfolg wieder einstellte. Deutlich wird jedoch auch, welche Hoffnungen die Diagnose und die Ergebnisse diagnostischer Testverfahren angefacht und den Anstrengungs- und Normalisierungsdruck noch gesteigert haben dürften. Zudem entwirft sich Philipp nun als wissender Patient, der sich Expertenwissen hinsichtlich der Symptomdiagnose ADS angeeignet hat, wobei er sich auf medizinische Deutungen bezieht, deren Gültigkeit jedoch nicht ungebrochen reklamiert wird.
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Anwendungssituation als solches beweist, sondern ihm schon gegeben ist. Er benennt zwar äußere Umstände, die den verlässlichen Niederschlag des Erworbenen empfindlich stören, doch zeigt sich damit eine leiblich-körperlich erfahrene Verletzlichkeit, die nicht willentlich beherrschbar ist und das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit empfindlich berührt. Die herausgearbeitete Struktur reproduziert sich erneut, wobei wir nun die Eigentheorie und das, was das Bildungsselbst verletzt, weiter präzisieren können: Aufgrund familialer Belastungen am möglichen Erfolg gehindert worden zu sein, ohne die Scheiternserfahrungen bruchlos externalisieren (Familie, „ADS“) und die Schule in ihrer Bedeutung für das eigene Selbst relativieren und den oben herausgearbeiteten Zweifel überwinden zu können. Dies dürfte auch darin liegen, dass ihm eine reflexive Aneignung seiner Geschichte und damit verbundener schmerzhafter Erinnerungen bislang nur zu Teilen möglich geworden ist. Betrachten wir nun abschließend welche Funktion vor diesem Hintergrund die Klinikschule erfüllen kann. Philipp eignet sich den klinikschulischen Handlungsraum vor dem Hintergrund seiner biografischen und familialen Erfahrungen in einem Modus an, in dem er sich zunächst als vorsichtiger und Distanz wahrender Beobachter des Geschehens in Klinik und Klinikschule entwirft, der die Spielregeln in der Beziehung zwischen professionell Tätigen und Mitschüler*innen bzw. Mitpatient*innen zu durchschauen versucht. In diesem Handlungsraum muss er sich schließlich mit seiner gesamten Person einbringen, die Lehrer*innen und zwei Bezugsbetreuer*innen werden zu signifikanten Anderen. Philipp idealisiert diese als Personen und wendet sich ihnen in einer Suche nach familienergänzenden und affektiv stützenden Strukturen zu. Die darin liegenden Individuationschancen erfahren jedoch nicht zuletzt darin ihre Grenze, dass Philipp die Anforderungen an ihn schließlich übererfüllen will. Während des Klinikaufenthalts, so erläutert Philipp, habe er erst die eigentliche Bedeutung von Schule erkannt, die wesentlich in der affektiven Abstützung in der Beziehung zu Lehrkräften und der Verlängerung des klinischen Raums in seinen Momenten der Schonung und der Sorge besteht, zugleich aber die heteronomen Rahmungen des Selbst aufrechterhält. In dem folgenden Textsegment antwortet er auf die in diesem Zusammenhang erfolgende Nachfrage der Interviewerin, ob die Zeit in der Klinikschule dazu einen Beitrag geleistet habe: Philipp: es war der Hauptgrund also das ist der Grund warum es so is (Interviewerin: Hhm) man hat da also ich mein klar der Umgang war da auch mit den Leuten ganz anders also man hat (.) die Lehrer ham mit einem ganz anders geredet die Schüler warn ganz anders man hat viel mehr erkannt wofür Schule eigentlich da
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is (I: hm) also einem wurde auch es wurde einem auch wirklich klar gemacht weil man das ging das warn Prozess von Wochen und Monaten bis die mir das wirklich klar gemacht haben was aufm Spiel steht wenn ich keinen Abschluss habe was auch ma in Frage stand also es war nich immer klar dass ich n Abschluss kriege […]
Philipp nimmt in seiner Erklärung zunächst eine zwischen Involviertheit und distanzierender Beobachterposition changierende Perspektive auf das Geschehen in der Klinikschule ein und operiert mit zwei unterscheidbaren Zuständigkeitslogiken zwischen der Schule in der Jugendpsychiatrie und der Schule ‚draußen‘. Erst im dritten Anlauf beendet er den Satzanfang „man hat da“ in dem die Differenzmarkierung und Unterscheidung im Vergleich zu einem anderen schulischen Ort bereits enthalten ist, die doch einer weiteren Erklärung bedarf und eben nicht so klar ist, wie zunächst prätendiert. Während der Sprechakt „der Umgang war da auch mit den Leuten ganz anders“ bereits ein die Interaktionen kennzeichnendes unterscheidbares Anerkennungsverhältnis und damit Beziehungen als dominanten Bezugspunkt impliziert. In dem Sprechakt „die Lehrer haben mit einem ganz anders geredet“ werden die Adressierungserfahrungen als Schüler in der Beziehung zu Lehrkräften als deutlich unterscheidbare Erfahrungen im Verhältnis zu den schulische Interaktionen üblicherweise kennzeichnenden Anerkennungserfahrungen thematisch. Wiederum dokumentiert sich darin die konstitutive Angewiesenheit auf die Stärkung durch das Außen bzw. die soziale Wertschätzung, wobei der Status der Schüler*innen als ‚krank‘ und als Patient*innen in der KJPP indirekt thematisiert werden. Die Lehrkräfte und Bezugsbetreuer*innen beschreibt Philipp in ihrer sorgenden Funktion, die ihm eine instrumentelle Perspektive auf Schule nahelegen. Doch wenn er bedeutungsaufgeladen davon spricht, er habe in der Klinikschule „viel mehr erkannt wofür Schule eigentlich da ist“ demonstriert Philipp manifest, dass er die Bedeutung von Schule verstanden hat und zwar in dem Sinne, welche Funktion sie für seinen Lebensweg erfüllen kann. Doch auf der Ebene der latenten Sinnstruktur zeigt sich zweierlei: Zum einen wird die Bedeutsamkeit von Schule in einer Weise in das Bildungsselbst integriert, in der die Übernahmelogik von außen als relevant gesetzter Anforderungen und Erwartungen dominiert. Das Motiv des Durchhaltens und Überwindens von Hürden erweist sich dabei der Tendenz nach als entmaterialisiertes und sich im ‚Schaffen‘ und Beweisen der eigenen Leistungsfähigkeit erschöpfendes Motiv. Zum zweiten und damit verknüpft wird die Bedeutung des Schulischen überhöht, was das Leiden an schulischen Entwertungs- und Entfremdungserfahrungen des Selbst verschärft. In der Betonung des langwierigen Prozesses (Wochen, Monate) der durch die Lehrkräfte flankierten Bearbeitung
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seiner Widerstände sich auf die Abschlussprüfungen vorzubereiten, wird nicht nur die unausgesprochene Scheiternsangst thematisch, sondern neben der nahegelegten instrumentellen Perspektive auf Schule wird die Bedeutung der oben bereits herausgearbeiteten affektiven Stützung deutlich. Was ohne den Erwerb eines Schulabschlusses „auf dem Spiel steht“ muss Philipp bereits vor dem Klinikaufenthalt vor Augen gestanden haben, wenn er nun wiederholt betont und gegen mögliche Zweifel ansprechend äußert, ihm sei dies „wirklich“ klargemacht worden, dominiert eher die Perspektive, dass die Lehrkräfte hinsichtlich schulischer Rationalitätserwartungen an ihm drangeblieben sind.16 Das Verfügen über das Zertifikat steht in der instrumentellen Logik im Vordergrund („haben“, „kriegen“), wobei es eher darum geht, drohendes Unheil abzuwenden als darum, ob und wenn ja welche schulischen oder erwerbsbiografischen Möglichkeiten sich dadurch faktisch eröffnen. Was die manifeste Krisenproblematik abstützen könnte bezieht sich auf die erfahrene Sorge in der Beziehung zu den Lehrkräften, die Krisenproblematiken bezogen auf schulische Anforderungen teilweise kompensieren können. Denn dass Philipp sich überhaupt wieder den schulischen Inhalten zuwenden konnte, führt er auf die spezifischen Beziehungserfahrungen und eine den Lehrkräften zugeschriebene Wirkmächtigkeit und damit einer im Außen verorteten Kraft zurück. Philipp: […] in drei Wochen ham die das geschafft mich so umzukrempeln dass ich wirklich muss ich mich jetz mal loben ich hab n wirklich guten Abschluss abgelegt dafür dass nicht klar war dass ich überhaupt einen kriege […]
Philipp nimmt die ihm nahegelegte instrumentelle Perspektive auf die Bedeutung von Schule mit Blick auf die Abschlussprüfung an („umgekrempelt“). Dies verweist weniger darauf, dass die inneren Konflikte ausgeräumt sind als darauf, dass den Lehrkräften eine positiv gedeutete Macht über die eigene Person zugeschrieben wird, die rückblickend auch nach dem Austritt aus einer Sekte in ähnlicher Weise verbalisierbar sein könnte. Das Lob, welches er sich selbst gegenüber ausspricht, bezieht sich auf den erreichten Erfolg, der sich nicht nur in dem ‚Ablegen‘ des Abschlusses erschöpft. Dieser soll als ein über das
16An
späterer Stelle im Interview erwähnt Philipp, dass ihn seine Lehrerin auf dem Handy angerufen habe, aus Angst, er könne die Prüfungen verschlafen. Auch darin drückt sich abermals der Wunsch nach Entlastung im Bewährungsdruck und affektiver Stützung im Rahmen einer Sorgebeziehung aus.
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erwartete Maß hinausgehender Erfolg bewertet werden, wobei gegen mögliche Einwände gegenüber dieser Deutung angesprochen wird. Den ‚Transformationsprozess‘ rechnet Philipp jedoch zu weiten Teilen seinen Lehrkräften zu wie er den Erwerb des Abschlusses als etwas betrachtet, was ihm gegeben wird. Ziehen wir abschließend unser Kontextwissen hinzu und berücksichtigen, dass Philipp auf die Nachfrage der Interviewerin davon spricht, einen „provisorischen Hauptschulabschluss“ erworben zu haben, der eine Sicherheit darstellt, falls „die Probleme“ wieder auftreten und er den geplanten weiteren Schulbesuch abbrechen muss, wird dieser zu einem behelfsweisen Ersatz, einem Notbehelf in einer zu überbrückenden Situation für etwas Anderes, was für ihn eigentlich an diese Stelle gehört. Der Selbstspannungen hervorrufende Zweifel hinsichtlich der eigenen Leistungsfähigkeit und die Entwicklung eigener Aspirationen, die die Angst vor schulischen Scheiternserfahrungen aktualisieren und das Selbst bedrohen, ist dadurch, dass Philipp der Zuschreibung folgt, die ‚Symptomatik‘ könne stets wieder auftreten und sei ein Teil seines Selbst, und berge ein virulentes Krisenpotential, geblieben. Philipp erfährt in der Klinikschule eine Entlastung von schulischen leistungsund verhaltensbezogenen Anforderungen durch eine allmählich zurückgenommene Reduktion der Unterrichtsstunden und das ihm entgegengebrachte Verständnis von seinen Lehrkräften, aber auch Bezugsbetreuern, die ihm in einem Modus generationaler Fürsorge begegnen und wie er rückblickend sagt, ihn vor der „realen Welt“ abschirmen und „sehr sanft“ behandeln. So geht das Verständnis für seine inneren, sich im schulischen Raum in spezifischer Weise manifestierenden Konflikte mit dem Ansporn und Zutrauen in einem Rahmen einher, der für Philipp als schützende Struktur („wie in einer Blase“) wirksam wird und ihm die Einnahme eines Schutzstatus erlaubt, in dem er sich selbst schließlich wieder etwas zutraut und tätig wird. Die Bedeutung dieser schützend erfahrenen Struktur spiegelt sich auch darin, dass Philipp an dieser festhalten und seine Entlassung und die Wiederholung des schmerzlich erfahrenen Gefühls der Trennung hinauszögern will. Den Abschied von den Lehrkräften, Bezugsbetreuer*innen und Psychotherapeut*innen erfährt er als einschneidenden und affektive Erfahrungen aktualisierenden Strukturbruch, durch den er den Schutzstatus verliert.
4 Zusammenfassung und Schlussbetrachtung Um die oben knapp umrissenen theoretischen Ausführungen und die Ergebnisse der Fallstudie aufeinander beziehen zu können, fassen wir diese noch einmal knapp zusammen und beziehen sie auf die eingangs aufgeworfenen Fragestellung. Wenn
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wir auf die Frage zurückkommen, wie die Erfahrung Patient*in einer Jugendpsychiatrie und Schüler*in in der Schule für Kranke zu werden in die bisherigen bildungsbiografischen Entwürfe integriert wird, deutet sich hier ein durch weitere Fallkontrastierungen erst noch weiter zu schärfender Typus an, für den der Klinikaufenthalt ein Kulminationspunkt einer Geschichte des schulischen Scheiterns und familialer Krisenerfahrungen ist, in der die folgende Chance auf Bewährung als an einem seidenen Faden hängend imaginiert wird. Was Philipp erzählt, ist im Wesentlichen eine Krisengeschichte seines schulischen ‚Absturzes‘, zwar finden die in Störungskategorien geronnenen medizinischen und diagnostischen Zuschreibungen, in denen die Orientierung an schulischen Anpassungserwartungen und Logiken zu einem zentralen Bezugspunkt werden, Eingang in die Formation seines Bildungsselbst. Doch letztlich traut Philipp diesen Deutungsfolien als Problemerklärung nicht bruchlos und es entsteht eine Dynamik, in der diese für die Hervorbringung seiner Selbst-Entwürfe konstitutiven Erfahrungen dazu beitragen, dass ein Teil seines Selbst ihm fremd bleibt, was eine Ausformung des an anderer Stelle als desintegriert beschriebenes Bildungsselbst (siehe Labede et al. in diesem Band; vgl. Labede und Thiersch 2015) darstellt. Dies erschwert die Einnahme einer selbstwertschützenden pragmatischen Haltung gegenüber der Gestaltung der eigenen Schulkarriere. Ausgehend von dem familialen Milieu, welches durch aus dichotomen elterlichen Transmissionsbewegungen sich ergebenden Loyalitätskonflikten gekennzeichnet ist und einem innerhalb dessen sozialisatorisch entwickelten bildungsbiografisch ambitionierten Entwurfs, welcher zunächst auf institutionelle Resonanz stieß, erfährt Philipp im Zuge leidvoll erfahrener familialer und schulischer Reorganisations- und Trennungsprozesse, den sukzessiven Zusammenbruch des institutionellen Segens leistungsbezogener Bewährungsbeglaubigung und steigt die Schulformstufen ab. Dieser Krisenakkumulation wird seitens der Familie nicht mit der Einrichtung eines die Krisenproblematik auffangenden Schutzraumes begegnet, sondern recht schnell ein größeres System institutioneller Kontrolle, Fürsorge und Therapie entgegengestellt. In diese Dynamik hinein spielt jedoch auch der institutionell erzeugte Sanktionsdruck, der den temporären Rückzug von der Schule als Schulpflichtverletzung ahndet. Innerhalb der KJPP findet Philipp zwar so etwas wie einen nachträglichen Entwicklungsraum, der aber mit Behandlungsabschluss ein jähes Ende jeglicher moratorialer Struktur offenlegt. Die Psychiatrie und die Klinikschule erscheinen als gegenkulturelle Blase, in der Krankheiten zu einem moratorialen Moment von Entschleunigung werden können, was den Übergang aus der Psychiatrie schwer bewältigbar macht. Gleichzeitig repräsentieren die Psychiatrie und die Klinikschule das gesellschaftlich anerkannte Ideal leistungsbezogener Bewährung und halten dieses aufrecht, da der moratoriale Raum in seiner zeitlichen Befristung selbst
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schon auf das Ende der Schonung vorbereitet. Strukturell zeigt sich dies bereits in der Aufrechterhaltung der Schulpflicht. Als Dreh- und Angelpunkt der Analyse stellt sich uns somit ein von Klinikschüler*innen strukturell zu bearbeitendes Integrationsproblem dar, dessen spannungsreiche Dynamik durch die Tiefenschärfung folgender zentraler Dimensionen zum Vorschein kommt: Bereits ab dem ersten Tag des Übergangs in die Jugendpsychiatrie und die Klinikschule drängt sich die Frage der Reintegration zurück in die Stammschule und Familie, somit auch der Umstand ihrer zeitlichen Beschränktheit auf. Für die Zeit des institutionell aufrechterhaltenen Status eines stationär behandelten Patienten ist es Philipp Weber möglich die Klinikschule zu besuchen. Im Anschluss daran lassen sich die Klinikschule und die Klinik als temporäre institutionelle Zwischenräume charakterisieren, die auf struktureller Ebene durch die zeitliche Limitierung immer schon nur begrenzte Aneignungsmöglichkeiten bereitstellen. Diese Einschränkung wird dann besonders bedeutsam, wenn man sich vor Augen führt, dass „Aneignungsprozesse als biografische Gestaltung von Übergängen“ (Walther et al. 2014, S. 233) relevant werden und individuelle Entwicklungs- und Bildungsprozesse maßgeblich mitbestimmen. In der Weiterführung der hier verfolgten Fragstellungen ist durch Hinzuziehung weiterer Fälle der diesen institutionellen Zwischenräumen inhärenten Temporalität in ihrer Bedeutung für individuierende Umgestaltungen und Bildungsverläufe weiter nachzugehen. Dies mit dem Fokus auf sich stellende zentrale Integrationsprobleme in der Aneignung institutioneller Übergänge und unterschiedlicher Statuspositionen und sich vor dem Hintergrund des schul- und krankheitsbiografischen sowie psychodynamischen Resonanzbodens von ‚Klinikschüler*innen‘ im Dreieck von Familie, Schule und medizinisch-therapeutischem Handlungssystem entfaltender Transformationsanforderungen und damit verbundener Dynamiken. In der fallrekonstruktiven Untersuchung entsprechender Prozessverläufe wäre zusätzlich den Interaktionen in der Klinikschule und der Frage nach der Positionierung gegenüber der Klinik einerseits und dem Schulischen andererseits genauer nachzugehen. Anknüpfend an die ersten Ergebnisse unserer explorativen Untersuchung dürfte es heuristisch fruchtbar sein, typologisch unterscheidbare Konstellationen hinsichtlich des sinnrekonstruktiv und fallimmanent erst genauer zu entziffernden Zusammenhangs zwischen dem, was zur ‚Krankheit‘ wurde und Formierungen des Bildungsselbst näher zu beleuchten. Genauer ist nach der Bedeutung schulischer Rationalitätsanforderungen und dem, was wir als ‚schulisches Leid‘ bezeichnen wollen, für den Verlauf psychischer Belastungen und Erkrankungen zu fragen. Gerade vor dem Hintergrund, dass in modernen Gesellschaften soziale Anerkennung an Vorstellungen
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individueller Leistungsfähigkeit geknüpft ist und Erfahrungen des Versagens in der Realisierung eines Bildungsideals als Schüler*in und damit verbundener Ansprüche psychosoziale Belastungen hervorrufen kann, wird der Konstruktionscharakter von Leistung im Falle klinischer Schulkarrieren in besonderer Weise überdeckt und Leistungsversagen wie damit verbundene institutionelle Übergänge individualisiert.
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