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German Pages 223 [226] Year 2020
Nina Härter
Inca Kola zwischen nationaler Identität und hybriden Kulturen Werbediskurs, Konsumkultur und Marketinggeschichte eines peruanischen Identitätssymbols, 1935–1999
Studien zur Alltags- und Kulturgeschichte | 34 Geschichte Franz Steiner Verlag Franz Steiner Verlag
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contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte
Studien zur Alltags- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Stefan Haas (Federführung), Antje Flüchter, Armin Owzar, Aline Steinbrecher und Clemens Wischermann Band 34
Nina Härter
INCA KOLA ZWISCHEN NATIONALER IDENTITÄT UND HYBRIDEN KULTUREN Werbediskurs, Konsumkultur und Marketinggeschichte eines peruanischen Identitätssymbols, 1935–1999
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Inca Kola vor Machu Picchu, Ruinenstadt der Inka © Nina Härter, mit freundlicher Genehmigung der Arca Continental Lindley Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12794-3 (Print) ISBN 978-3-515-12808-7 (E-Book)
VORWORT DER REIHENHERAUSGEBER Als die Alltagsgeschichte in den 1980er Jahren ihren Durchbruch erlebte, war sie weit mehr als die Entdeckung eines neuen Forschungsgegenstandes. Dass das Alltägliche überhaupt von Bedeutung sein sollte für eine Geschichtswissenschaft, die sich mit einflussreichen Ereignissen oder wirklichkeitsbedingenden Strukturen beschäftigte, war allein schon ein Skandal. Was sollte wichtig sein an all den kleinen Routinen des Alltäglichen, am immer wiederkehrenden Normalen und Durchschnittlichen, an Themen wie Wohnen oder Ernährung? Dass man sich gleichwohl in den 1980er Jahren zunehmend dafür zu interessieren begann, lag nicht zuletzt an den sich wandelnden Verhältnissen in der eigenen Gegenwart: Ölkrise und Umweltzerstörung lenkten den Blick auf die negativen Folgen einer Modernisierung als Industrialisierung, traditionelle Lebensformen in Ehe und Gemeinschaften lösten sich auf und wurden pluralisiert, klassische Dichotomien von Arm und Reich, Oben und Unten, Mann und Frau, Alt und Jung, Nord und Süd, Ost und West, Modern und Unmodern verloren ihren angestammten Platz als primärer Definitionsraum von sozialen Formationen. Die Welt war in Bewegung und das nicht primär auf der Ebene der großen Ideen und der Staats- und Wirtschaftsverfassungen, sondern auf jener des Alltäglichen. Die Buchreihe „Studien zur Geschichte des Alltags“ widmet sich diesem Themenkomplex seit 1983, als der erste Band unter dem Titel „Ehe, Liebe, Tod“ erschien. Hans Jürgen Teuteberg und Peter Borscheid begründeten die Reihe, deren Themenspektrum Alltag später von Clemens Wischermann und Stefan Haas immer wieder erweitert und ausgebaut wurde. Diese Weiterentwicklung geschah in einem wissenschaftlichen Umfeld, das sich insgesamt von der Alltagsgeschichte weg zu einer Neuen Kulturgeschichte entwickelte. Wurde der Alltagsgeschichte noch besonders von Vertretern der Historischen Sozialwissenschaft vorgeworfen, sie sei syntheseunfähig und theoriefeindlich, so war es gerade diese Ausweitung der Alltagsgeschichte zu einer Kulturgeschichte, die diese vermeintlichen Lücken schloss. Heute ist die Kulturgeschichte theorieaffiner als es die Strukturgeschichte jemals gewesen ist. Und ihr Blickwinkel ist weiter und bringt damit viel mehr zusammen, als es in der auf Max Weber basierenden Engführung der Bielefelder Schule jemals denkbar war. Vieles, was unter der Chiffre Alltagsgeschichte entwickelt wurde, findet sich in der Neuen Kulturgeschichte wieder: die Orientierung an ethnologischen und kulturanthropologischen Blickweisen und Fragestellungen, die damit verbundene Reflexion theoretischer und methodischer Zugriffsweisen, die Suche nach Synthese und umfassender Betrachtungsweise in begrenzten, vermeintlich ‚kleinen‘ Themen- und Gegenstandsfeldern, die Rückkehr der Subjekte. Anderes ist mit der Kulturgeschichte hinzugekommen oder hat sich weiterentwickelt: die Globalisierung
Clemens Wischermann / Stefan Haas
der Betrachtungsweisen, die Beachtung von Transfer und Vergleich in transnationalen und transkontinentalen Kontexten, die breite Transdisziplinarität, die Pluralisierung von Narrativen und Erklärungsmustern. Dieser Weiterentwicklung von einer Alltags- zu einer umfassenderen Kulturgeschichte, den die Reihe inhaltlich längst vollzogen hat, wird nun Rechnung getragen durch eine Erweiterung der Herausgeber- und Herausgeberinnengruppe und des Reihentitels: Antje Flüchter (Bielefeld), Armin Owzar (Paris) und Aline Steinbrecher (Zürich) werden Mitherausgeberinnen und Mitherausgeber der Reihe. Aus den „Studien zur Geschichte des Alltags“ werden die „Studien zur Alltags- und Kulturgeschichte“. Diese Erweiterung entspricht den allgemeinen Entwicklungen der Geschichtswissenschaft der vergangenen fast drei Jahrzehnte und auch der thematischen Entwicklung, die die Bände der Reihe durchlaufen haben. Die Reihe will aber nicht nur ein weiterer Ort zur Publikation von kulturhistorischen Studien sein. Sehr bewusst bleibt der Alltag im Reihentitel erhalten, denn nach wie vor gilt, dass eine Geschichtswissenschaft, die sich dem Alltäglichen nicht widmet und nur das Besondere thematisiert, wesentliche Aspekte menschlicher Lebenswirklichkeit aus dem Blick verliert. Auch Politik hat etwas Alltägliches, was gerade heute sichtbar wird, wo die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sich nicht nur auf große Entscheidungen richtet, sondern auf den kulturellen Rahmen bis hin zu Bekleidung und Verhaltensritualen und damit den Alltag, in dem Entscheidungen allererst entwickelt und vollzogen werden. Und auch Wirtschaft lässt sich nicht umfassend thematisieren, wenn nur Produktionszahlen, neue Absatzstrategien und Produktinnovationen thematisiert werden. Vielmehr muss der Alltag, in dem diese Entwicklungen stattfinden, in seiner Einflussnahme und in seiner Rahmung dieser Faktoren mit in den Blick kommen. Am Ende bleibt die Reihe damit bei aller Nähe zu postmoderner Theoriebildung auf das fokussiert, was Geschichte im Kern ausmacht: die sich immer wieder historisch wandelnden Versuche der Menschen, ihr Leben auch in schwierigen Situationen und unter widrigen Bedingungen zu meistern. Was Menschen tun, um dies zu erreichen, ist der Kern dessen, was in den „Studien zur Alltags- und Kulturgeschichte“ verhandelt wird.
Konstanz/Göttingen im Sept. 2018
Clemens Wischermann/Stefan Haas
VORWORT Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2016/2017 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität als Dissertation angenommen. Sie wurde für den Druck geringfügig überarbeitet. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Stefan Haas, der mein Promotionsvorhaben von Beginn an mit großem Engagement unterstützt hat. Unsere zahlreichen Gespräche und konstruktiven Diskussionen haben den Entstehungsprozess dieser Arbeit entscheidend vorangetrieben. Stefan Haas hat mich ermutigt meinen wissenschaftlichen Weg zu gehen und meine akademische Position zu finden. Für die Übernahme des Zweitgutachtens danke ich PD. Dr. Ingo Köhler ganz herzlich. Auch dem Drittgutachter Prof. Dr. Achim Spiller gilt mein Dank für die spontane Unterstützung. Zudem möchte ich meinen Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen des Studiendekanats der Fakultät für Agrarwissenschaften danken; vor allem für die tolle Gänseliesel-Überraschung. Mein herzlicher Dank gilt Angelika Thielsch für die Unterstützung vor und während meiner Disputation. Für Anregungen und Diskussionen danke ich den Mitgliedern der GSGG-Nachwuchsgruppe Multiple Modernen. Besonders hervorheben möchte ich den gemeinsam organisierten Graduiertenworkshop Hybridität, kulturelle Übersetzung und multiple Modernen im September 2016. Ausdrücklich danke ich der Corporación Lindley: Elsa Bazán Cevasco, Sindy Uriarte Vidaurre und Julio Fonseca Rios, besonders für die Freigabe des Bildmaterials. Ohne diesen direkten Unternehmenseinblick wäre die Arbeit nicht zu dem geworden, was sie nun ist. Für den persönlichen Austausch mit meinen Interviewpartnerinnen und -partnern möchte ich mich auch bedanken. Dadurch habe ich wertvolle Inspirationen erhalten und konnte ein Verständnis dafür entwickeln, wie wichtig Produktgüter – und explizit ihr Konsum – für das (nationale) Identitätsgefühl sein können. Für die Unterstützung und ihr Verständnis möchte ich nachdrücklich meinen Eltern danken. Ein großes Danke geht an meine liebe Freundin Katja, die mich beim Finden des Dissertationsthema, auf einer Reise durch Peru, Bolivien und Chile, begleitet hat. Hanna und Kristin, schön dass es euch gibt! Danke für unsere Freundschaft. Zu guter Letzt danke ich meinem Schatzi Henrik Ziegenhagen, der mich durch alle Höhen und Tiefen dieser Arbeit begleitet hat. Göttingen im Sommer 2019
Nina Härter
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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INHALTSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inca Kola – Medium nationaler Identität in Peru . . . . . . . . . Nationalisierter Konsum & Moderne(n) im kulturgeschichtlichen Forschungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Ansatz: Hybride Kulturen – Perus Modernisierungsprozess & The social life of things . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenzugang und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . .
. 11 . 11
1. PERUS TRANSFORMATIONSPROZESSE IM 20. JAHRHUNDERT . 1.1 Perus wirtschaftlicher Wandel und politische Renovation . . . . 1.2 Reformer und Modernisierer? Das Militär 1968–1980 . . . . . . 1.3 Guerillakampf und Demokratisierung der 1980er Jahre . . . . . 1.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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40 42 50 59 73
2. IDENTITÄT, NATIONALER KONSUM & MODERNE(N) . . . . . . 2.1 Perus Identitätsdiskurs und Konsumkultur . . . . . . . . . . . . 2.2 Peruanische Esskultur und Nationalküche(n) . . . . . . . . . . 2.3 Moderne(n) & Globalisierung: Fallstudie der Getränkeindustrie 2.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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75 77 93 103 114
. 17 . 28 . 34
3. MASSENMEDIEN, MARKENARTIKEL & MARKETINGGESCHICHTE 117 3.1 Massenmedien als Werbeträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3.2 Konsumgüter als glokale Markenartikel . . . . . . . . . . . . . . . 126 3.3 Peruanische Marketinggeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4. UNTERNEHMENS- & FAMILIENGESCHICHTE BIS 1999 . . . . . . . 139 4.1 José R. Lindley – Vom Auswanderer zum Firmengründer . . . . . . 140 4.2 Die Genese von Peruanidad seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . 144
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Inhaltsverzeichnis
4.3 Werte und Visionen – David gegen Goliath bis 1999 . . . . . . . . 150 4.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5. DAS SOZIALE LEBEN VON INCA KOLA IN HYBRIDEN KULTUREN 5.1 Vom öffentlichen Raum zur Telepartizipation: Marketingmaßnahmen von Inca Kola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Inca Kola im Dekollektivierungs- und Deterritorialisierungsprozess Perus: Diversifikation & neue Absatzmärkte . . . . . . . . 5.3 Der Einfluss indirekter Machtverhältnisse auf Inca Kola im Globalisierungskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157 158 170 178 185
RESÜMEE: INCA KOLA ALS PERUANISCHE KULTURGESCHICHTE . 187 ABBILDUNGSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 TABELLENVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
EINLEITUNG INCA KOLA – MEDIUM NATIONALER IDENTITÄT IN PERU „Hoy, 80 años después, Inca Kola es la bebida ícono del Perú, una indiscutible compañera de la gastronomía nacional, sinónimo de creatividad y orgullo en las familias peruanas.“ (Ezequiel Fernández-Sasso, Country Manager Coca-Cola Peru, 2015 zum 80. Geburtstag des peruanischen Nationalgetränks1 ).
Schweizer Schokolade, Holländischer Käse, Schottischer Whiskey, Irische Butter, Italienische Eiscreme, Argentinisches Rindfleisch und Französisches Fleur de sel; diese Beispiele für nationalisierte Produkte nutzen ein jeweils spezifisch stilisiertes Heimatimage als Hauptverkaufsargument. Mit symbolisch aufgeladenen Bildern und kulturell verwurzelten Ritualen vermittelt heimatzentrierte Produktwerbung ein entsprechendes Zusammengehörigkeitsgefühl, welches wiederum zum medialen Konstruktionsprozess von Nation beiträgt (vgl. Gries, 2008: 61f. u. Hellmann, 2003: 417ff.)2 . Bei der Nationalisierung von Konsumgütern bilden kulturspezifische Kommunikations- und Handlungsweisen die Basis des Aushandlungsprozesses zwischen Produzentin/Produzent und Konsumentin/Konsument (vgl. Schugk, 2004: 1f.). Entscheidend ist neben dem Identifizierungsgrad mit der Nation, auch die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung des Produktes an sich, die gewöhnlich über den eigentlichen „Grundnutzen“ und „Gebrauchswert“ (Kühschelm et al., 2012: 10f.) hinausgeht. So steht bei landesspezifischen (Marken-)Produkten nicht der primäre Produktnutzen, sondern vielmehr das entsprechende Image im Fokus3 . Der Konsumgemeinschaft kann die entsprechende nationale Identifikation mit einem Produkt – oder einer Marke – als emotionale Orientierungshilfe im Konsumdschungel dienen. Aus Sicht der Konsumgemeinschaft wurde der Zusammenhang zwischen einer positiven Wahrnehmung von Produkten aus dem eigenen – bzw. einem bestimmten – Herkunftsland als sogenannter Country-of-Origin-Effekt erstmals in den 1960er Jahren erforscht. Schooler ermittelte anhand einer deskriptiven Studie, dass Studierende aus Guatemala mexikanische und guatemaltekische Produkte (u.a. Fruchtgetränke) positiver ansahen, als jene aus El Salvador (vgl. Schooler, 1965: 394ff.). Die Bedeutung des Herkunftslandes hielt daraufhin Einzug in Marketingkonzeptionen.
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Eigene Übersetzung: „Heute, 80 Jahre später, ist Inca Kola das Symbol von Peru, eine unbestrittene Partnerin der Nationalküche, Synonym für Kreativität und Stolz in peruanischen Familien.“ (vgl. Ochoa Fattorini, 2015). Siehe ausführlich: Kühschelm et al., 2012. Siehe ausführlich: Hellmann, 2003.
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Einleitung
Vor allem multinationale Unternehmen konzeptualisierten die spezifische Herkunft ihrer Produkte fortan (vgl. Chattalas et al. 2008: 54ff.). Durch nationalisierte Produktkommunikation versuchten Unternehmen folglich ihre Zielgruppe(n) auf der Identifikationsebene bewusst an sich zu binden. Die Vermittlung von heimatlicher Nähe ermöglicht auf der moralischen Ebene eine strategische Distinktion nationaler Produkte von der globalen Konkurrenz und appelliert an die buy-national-Mentalität der Konsumgemeinschaft (vgl. Mennicken, 2000: 81). Der Entwicklungsprozess von Nationalisierung ist in diesem Zusammenhang nicht festgeschrieben. Vielmehr ist im Einzelnen zu betrachten, welches Verständnis von Nation bei der jeweiligen Konsumgemeinschaft zu Grunde liegt (vgl. Kühschelm et al., 2012: 11) und durch welche soziokulturellen Einflüsse nationale Identität geprägt wurde, respektive immer noch geprägt wird. Dabei entscheidend ist die genaue Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen innerer und äußerer Identität, sowie der Partizipation in potenziellen kulturellen Alteritätsprozessen. Über die eigene nationale Identität hinaus, sind Empathie und Verständnis gegenüber anderen Gesellschaften erforderlich. Dies gilt vor allem in hybriden Kulturen und Nationen – wie beispielsweise Kanada oder die Schweiz – , damit ein Produkt zum nationalen Gut stilisiert werden kann (vgl. Rawwas et al., 1996: 20ff.). Augenscheinlich besteht ein „[...] unausrottbarer Bedarf an Identifikationsmustern [...]“ (Fellmann, 1997: 28). In Anbetracht dessen ist der Wandel soziokultureller Interaktionen im fortlaufenden Identitätsprozess mitzudenken; auch um den Einfluss auf die ethnische, kulturelle und nationale Identitätsbildung der Gesellschaft adäquat nachvollziehen zu können. Mit Verweis auf Walter Bryce Gallie (1956)4 konstatierte Cris Lorenz die „umstrittenen Konzepte“5 von Nation, Rasse, Ethnizität u.a., sowie deren individuellen Interpretationen (vgl. Lorenz, 2008: 30). Im Hinblick auf räumlich neu entstandene und in erster Linie politisch gelebte Nationalstaaten stellt sich folglich die Frage, ob und wie Nation als Analysekategorie eingesetzt werden kann, wenn (noch) kein nationales Bewusstsein einer gemeinsamen Identität vorherrscht? Weiter stellt sich die Frage der Eigendynamik von identitären Prozessen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen. An Bedeutung gewinnen in dieser Hinsicht neue alternative Identitäts- und Identifizierungsreferenzen, wie beispielsweise Konsumgüterartikel. Durch den Wandel der modernen Lebenswelten verwundert es nicht, dass eine entsprechende Zugehörigkeitsvermittlung auch zunehmend im Konsumkontext stattfindet und meist medial vermittelt wird. Unterdessen herrscht ebenfalls keine wissenschaftliche Einigkeit zum Thema Konsumgesellschaft (vgl. Prinz, 2003: 192f.). Laut These der Konsumrevolution geht die Entstehung moderner Konsumgesellschaften auf das frühe 18. Jahrhundert in England zurück (vgl. McKendrick et al., 1982). Durch den Wachstum der Industrie entwickelte sich eine neue Gesellschaftsschicht, mit bis dato unbekannten mo-
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Siehe ausführlich: Gallie, 1956: 167–198. Im Original: Essentially Contested Concept.
Inca Kola – Medium nationaler Identität
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netären Möglichkeiten. Auf diese Weise stiegen der Bedarf an Verbrauchsgütern und die Nachfrage nach Luxusartikeln (vgl. Brewer, 1997: 51–74 u. Haupt, 2003: 29). Einen weiteren Ausgangspunkt zur Entstehung moderner Konsumgesellschaften stellt die Modernisierung des Handels seit Mitte des 19. Jahrhunderts dar (vgl. Schramm, 2010: 367ff.). Dementsprechend entwickelten sich westlich geprägte, moderne Massenkonsumgesellschaften in den 1920er Jahren in den USA, und nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa (vgl. Wyrwa, 1997: 747–762.). Durch technische Innovationen, einhergehend mit Freizeit sowie materiellem und monetärem Besitz innerhalb der Bevölkerung, vergrößerte sich die Anzahl an Konsumgütern sowie der am Konsum beteiligte Personenkreis stetig6 . Beide Forschungsansätze bedienen sich der Moderne als obligatorische Rahmenbedingung für die Entwicklung einer Konsumgesellschaft. Moderne darf hier nicht ausschließlich als Entwicklungsepoche verstanden werden. Um das jeweilige Selbstverständnis einer nationalen, auch nicht-westlich geprägten, Konsumgesellschaft verorten zu können, ist Moderne zugleich als Konzept zu begreifen. Ereignisse und Entwicklungen die mit der Moderne verankert sind, müssen somit nicht zwangsläufig eine zeitliche Parallelität aufweisen (vgl. Ueckmann, 2009: 507ff.). Auch die Lebenswelt des modernen Konsums kann demnach kontinental, national, oder auch regional zu unterschiedlichen Zeiten Einzug gehalten haben. Darüber hinaus können soziokulturelle Unterschiede bei der wirtschaftlichen Konsumpartizipation einer Nation, ein soziales Klassenbewusstsein und eine symbolische Differenzierung innerhalb der Gesellschaft entstehen lassen7 . Wie aus einem vermeintlich herkömmlichen Produkt ein nationales Symbol werden kann, zeigt das Beispiel des peruanischen Nationalgetränks Inca Kola. Das eingangs angeführte Zitat von Ezequiel Fernández-Sasso, seinerzeit Coca-Cola Country Manager Peru, verdeutlicht den kulturellen Stellenwert des Produktes in Bezug auf den zur Geltung kommenden Nationalstolz. Die goldgelbe Brause mit dem symbolträchtigen Namen8 steht heute für nationale Identität in Peru. Bis in die 1990er Jahre hinein verzeichnete Inca Kola dort den größten Absatz an Erfrischungsgetränken und einen Marktanteil von über 50 Prozent (vgl. Schade, 2009: 222 u. Exler, 2006: 67). Damit gehört Inca Kola zu den wenigen Softdrinks weltweit, mit einem größeren Marktanteil im Heimatland als die US-amerikanische Markenbrause Coca-Cola9 . Peru ist ein Land der Gegensätze und vereint auf 1.285.215 m2 Wüste, Regenwald und Hochgebirge sowie die drei offiziellen Amtssprachen Spanisch (Castel-
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Siehe ausführlich: Kleinschmidt, 2008 u. König, 2013. Siehe ausführlich zum Konsumverhalten in Lateinamerika: García Canclini, 1995a. Eigene Übersetzung: Inca bedeutet auf Quetschua Königin/König, gleichzeitig steht das Volk der Inka für eine multiethnische Gesellschaft und Reichtum (siehe ausführlich: Shimada, 2015). Neben Inca Kola weist auch die 1901 von der Firma A.G. Barr plc eingeführte schottische Marke Irn Bru auf dem heimischen Markt höhere Verkaufszahlen als Coca-Cola auf (vgl. A.G. Barr plc, Cumbernauld).
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Einleitung
lano), Quechua und Aymara (vgl. Embajada del Perú). Die Zahl der Einwohnenden im drittgrößten Land Südamerikas belief sich 2016 auf 31 Millionen Personen, die sich vor allem an der Küste in den urbanen Zentren niedergelassen hatten (vgl. Perú 21, 2016). Neben den UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten Machu Picchu und Nazca-Linien steht Peru vor allem für eine multiethnische Gesellschaft, mit vielen verschiedenen indigenen Völkern, sowie für kulinarische Vielfalt in den drei klimatisch sehr unterschiedlichen Landesregionen. Als landestypische Getränke gelten Kaffee aus Arabica-Bohnen, diverse als Tee zubereitete Kräuter sowie Bier. Im Hochland besteht eine lange Tradition aus fermentiertem Mais Bier herzustellen; das sogenannte Chicha10 . Die alkoholfreie Variante wird meist aus blauem Mais gewonnen und heißt daher Chicha morada. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich der aus Traubenmost gewonnene Schnaps Pisco als Cocktail Pisco Sour zum nationalen Kultgetränk entwickelt (vgl. Kurlansky u. Kurlansky, 2014: 270), und erfreut sich inzwischen auch im Ausland großer Beliebtheit. Die in Peru angebotenen Softdrinks erstrecken sich von globalen Klassikern, wie Coca-Cola oder PEPSI, hin zu lokalen Marken, wie allen voran Inca Kola. Die goldgelbe Brause wurde 1935 vom britisch-stämmigen Familienunternehmen José R. Lindley e Hijos S.A.11 auf dem peruanischen Markt eingeführt. Zu dieser Zeit zählte Peru weniger als zehn Softdrink-Unternehmen. Eines der ältesten war das von der ebenfalls britischen Einwanderungsfamilie Barton gegründete Familienunternehmen „La Pureza“12 . Es sicherte sich 1936 die Abfüll- und Vermarktungsrechte für Coca-Cola in Peru (vgl. La Republica, 2003). Trotz intensiver Marketingmaßnahmen für die braune Brause, vor allem seit den 1980er Jahren, gelang es nicht Inca Kola von der Spitzenposition am Markt zu verdrängen (vgl. Exler, 2006: 67). Doch die abzuleitende Dichotomie eines rivalisierenden Nationenstreits USA gegen Peru greift an der Stelle zu kurz. Vielmehr stellt sich die Frage, wie ein Konsumartikel in einem multiethnisch geprägten Land, mit einem hohen Bevölkerungsanteil an Analphabetinnen/Analphabeten und am Existenzminimum lebenden Personen, eine übergeordnete Leitfunktion im medial konstruierten, nationalen Identitätsprozess, und in Abgrenzung zu homogenisierenden kulturpolitischen oder sozialen Maßnahmen, einnehmen konnte? Seit dem Produktlaunch von Inca Kola, der anlässlich des 400. Geburtstag der Stadt Lima am 18. Januar 1935 erfolgte, setzte die Corporación Lindley auf die Kreation einer Symbiose zwischen ihrem Produkt und ihrem Land. Dass die Familie Lindley ursprünglich aus Großbritannien stammte, war zu diesem Zeitpunkt nicht relevant. Eine mediale Auseinandersetzung zum Thema im 21. Jahrhundert rezipierte die britische Herkunft ausschließlich positiv (vgl. Biggio, 2013). Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass das Familienunternehmen Lindley mit zu den bedeutenden privaten Arbeitgebenden im Lima zählt(e).
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Siehe ausführlich: León, 2008. Eigene Übersetzung: José R. Lindley und Söhne AG. Eigene Übersetzung: Die Reinheit.
Inca Kola – Medium nationaler Identität
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Im weiteren Produktlebenszyklus von Inca Kola ergänzte die mediale Errungenschaft des Radios die direkten Zielgruppenansprache in Form von Straßenwerbung. Im unternehmensinternen Wertschöpfungsprozess gingen monetäre Optimierungsziele einher mit lebensmitteltechnologischen Geschmacksentwicklungen. Ursprünglich bestand Inca Kola aus Pflanzenextrakten der Hierba Luisa, einem Zitronenstrauch aus den Anden, sowie anderen natürlichen Geschmacksstoffen. Im weiteren Produktionsprozess wurden diese durch preiswertere, synthetische Säuerungsmittel, Farb- und Zusatzstoffe ersetzt. Als Wettbewerbsstrategien setzte die Corporación Lindley auf unterstützende Aktivitäten13 , wie den Ausbau der Unternehmensinfrastruktur und die technologische Weiterentwicklung. Im Jahr 1941 führte das Unternehmen zunächst ein Franchisesystem mit acht landesweiten Kooperationsunternehmen ein und investierte zudem in eine semiautomatisierte Abfüllanlage, die 36 Einheiten pro Minute schaffte14 . Um die Gesamteffektivität im Wertschöpfungsprozess zu steigern und die Gewinnspanne zu erhöhen, wurden die Tätigkeitsfelder Marketing und Vertrieb auf der Ebene der Primäraktivitäten ausgebaut (vgl. Porter, 2000: 66). Werbetechnisch setzte die Corporación Lindley in den 1960er Jahren voll auf die Heimatverbundenheit ihres Flaggschiffprodukts und demonstrierte nationale Identifikation, vor allem mit der peruanischen Nationalküche. Als Peru typische Gerichte gelten Ceviche (roher Fische mit Limette), Chifa (chinesische Gerichte mit peruanischen Einflüssen) oder auch Lomo saldado (Rindfleischstreifen mit gebratenen Zwiebeln, Paprika und Kartoffelstäbchen). Inca Kola wurde und wird in Restaurants gerne zum klassischen Mittagsmenü als Getränk serviert (vgl. Salazar Corvetto, 2006: 101). Nicht außer Acht gelassen werden darf die Kundschaftsinformation als weiterer Unterpunk der Tätigkeitsfelder Marketing und Vertrieb im Wertschöpfungsprozess. Dabei begünstigten die Medienkontakte15 der Corporación Lindley die landesweite Vermarktung von Inca Kola, wodurch sich ihr Distributionsgebiet ständig erweiterte und seit 1972 nunmehr auf ganz Peru erstreckt. Die expansive Unternehmensstrategie vereinte den medial gelebte Traditionalismus der Marke mit innovativen und globalen Partnerinnen und Partnern. Nach einer Kooperation mit der peruanischen Fastfoodkette BEMBOS (vgl. Firmenhomepage BEMBOS), folgte 1995 die Zusammenarbeit zwischen der Corporación Lindley und McDonald’s in Peru. Neben den genannten wirtschaftlichen und medialen Akteurinnen und Akteuren, die das nationale Image von Inca Kola begünstigten, ist davon auszugehen, dass auch die politischen Rahmenbedingungen – beispielsweise durch importsubstituierende In-
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Siehe ausführlich zur Wertschöpfungskette: Porter, 2000: 66. Heutzutage verfügt die Arca Continental Lindley über sieben landesweite Abfüllanlagen. Dort ermöglicht die technische Entwicklung inzwischen die Produktion von 55 Flaschen pro Sekunde (vgl. Arca Continental Lindley Firmenhomepage, 2016). Isaac Lindley beteiligte sich 1959 an der Gründung des privaten TV-Senders Panamericana Televisión OBXY-TV Canal 13 (heute Panamericana Televisión S.A.) und sein Sohn Johnny Lindley Taboada wurde 1963 Mitbegründer des peruanischen Radioprogramms RPP.
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Einleitung
dustrialisierung – die Nationalisierungskraft heimischer Produkte in Peru förderten (vgl. Straßner, 2013: 232). Anhand der dargelegten Thematik lässt sich die Entwicklungsgeschichte von Inca Kola im Kontext des peruanischen Modernisierungsprozesses nachzeichnen. Erforderlich ist dafür eine Analyse der Modernisierungstheorien und -konzepte, in der eine multidimensionale Perspektive eingenommen und Moderne im Plural gedacht wird16 . Die Arbeit folgt somit einer interdisziplinären Herangehensweise, um die Erfolgsgeschichte von Inca Kola als Identitätsmedium im Modernekontext Perus analysieren zu können. Als analytischen Ausgangspunkt ergibt sich fürs Erste der kulturelle Wandel der peruanischen Bevölkerung, der einen Aushandlungsprozess der eigene Identität im urbanen Kontext in Gang setzte. Die methodische Herangehensweise muss daher lateinamerikanische Besonderheiten – wie die Exklusion der breiten Bevölkerung an staatlich institutionalisierter Politik, der mangelnde Zugang zu Bildung, oder auch die monetäre Abhängigkeit von Auslandskapital – innerhalb des (nationalen) Identitätsprozesses berücksichtigen. Nachfolgend bedarf es der Integration des Begriffs Konsum in Bezug auf spezifische Zugehörigkeitsentwicklungen und Identifizierungsprozesse. Denn entscheidend für den Erfolg einer nationalisierten Marke ist nicht nur die einseitig medial konstruierte Produktidentität mit der Nation, sondern auch die bilaterale Identität zwischen der Kosumgemeinschaft und dem Produkt (vgl. Kühschelm et al., 2012: 34). Das Ziel der Arbeit, die sich als interdisziplinäre Kulturgeschichte versteht, ist es daher nachzuzeichnen welche Erfolgs- und Einflussfaktoren sowie Akteurinnen und Akteure dem heimatbewussten David verhalfen, sich gegen den internationalen Goliath am Markt zu behaupten, und damit auf die (moderne) nationale Identität in Peru einwirkten? Zentral stellt sich die Forschungsfrage, welche Funktion die Produktkommunikation von und über Inca Kola im Entwicklungsprozess nationaler, respektive medial konstruierter, Identität im Modernisierungs- und Globalisierungskontext Perus einnahm? Als Arbeitsthese wird davon ausgegangen, dass im multiethnischen Peru des beginnenden 20. Jahrhunderts, (noch) keine nationale Identität vorherrschte, und die häufig wechselnden und sich inhaltlich konterkarierenden Staatspräsidenten unterdessen kein nachhaltiges kulturpolitisches Konzept zur nationalen Identität etablieren konnten. Die zunehmend urbane, respektive entindigenisierende, Bevölkerung bediente sich daher der Nationalküche mit Inca Kola als alternative Referenz zur nationalen Identifizierung. Geklärt werden soll, durch welche Akteurinnen und Akteure sich (nationale) Identität im Modernekontext Perus entwickelte und das Konsumprodukt Inca Kola somit, trotz der vorherrschenden heterogenen Konsumkultur, zum nationalen Symbol und Identitätsmedium für Peru werden konnte. Die bisherige Forschung zu nationalisierten
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Siehe ausführlich: Eisenstadt, 2002.
Nationalisierter Konsum & Moderne(n)
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Produkten und identitätsstifender Werbung17 soll dabei um einen Beitrag mit lateinamerikanischem Schwerpunkt erweitert werden. Die zeitliche Eingrenzung der Arbeit folgt der Entwicklungsgeschichte des Produktes, um dessen kulturelle und identifizierende Bedeutung auf dem peruanischen Markt detailliert erläutern zu können. Dementsprechend startet der Untersuchungszeitraum mit dem Eckpfeiler des Produktlaunchs im Jahr 1935, wobei zeitlich vorherige kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die zum Verständnis der Zusammenhänge innerhalb der thematischen Darstellung beitragen, ebenfalls Berücksichtigung finden müssen. Für das zeitliche Ende des Untersuchungszeitraums steht im Jahr 1999 der Verkauf der Inca Kola-Markenrechte außerhalb Perus an The Coca-Cola Company (Fuhrman, 2007: 40). Die internationale Erweiterung des Absatzmarktes markierte auch eine erhebliche Neuorientierung der Marke innerhalb der Corporación Lindley.
NATIONALISIERTER KONSUM UND MODERNEN IM KULTURGESCHICHTLICHEN FOSCHUNGSKONTEXT Die Forschungsfelder nationale Identität und nationalisierter Konsum sowie Kulturgeschichte und Moderne(n) werden innerhalb der Arbeit miteinander verknüpft und in einen kultur- und medientheoretischen Kontext eingebettet. Was den Forschungsstand zum konsumorientierten und identitätsstifenden Werbediskurs betrifft, so kann gerade in den letzten Jahren von einem thematischen Boom gesprochen werden. Die Bandbreite reicht von Länderstudien18 , über Untersuchungen zur Verhandlung einer nationalen (Konsum)-Identität bei ethnischen Minderheiten19 , bis hin zur Rezeption von nationaler Identität als markenspezifisches Untersuchungsobjekt in Marketingfachbüchern20 . Die zahlreich existierenden Publikationen konzentrieren sich meist aus einer europazentrierten Perspektive auf die Forschungsfrage(n), oder gebrauchen westlich geprägte Länder – respektive China – als Ausgangspunkt der überwiegend politik-, kultur- oder wirtschaftsgeschichtlich dominierten Untersuchung. Eine theoretische Einbettung ist in der als „Neue Kulturgeschichte“ bezeichneten Disziplin zu finden, die auf einen historisch betrachtet eher jungen Forschungsdiskurs zurückblickt. Der britische Historiker Peter Burke fragte 2004 in seinem gleichnamigen Buch „What is Cultural History“? Eine handfeste Antwort liefert er nicht; vielmehr fordert Burke mit seiner Standortbestimmung der Kulturgeschich-
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Siehe ausführlich: Rossfeld, 2007; Kühn u. Koschel, 2008; Reddeker, 2011 u. Janich, 2019. Siehe ausführlich zu Luxemburg: Redekker, 2011; zu China: Dong u. Tian, 2009; Li, 2016 sowie die Aufsätze in Kühschelm et al., 2012; in Janich, 2019 und zum interkulturellen Werbediskurs: Hahn, 2000. Siehe ausführlich: Yoo u. Lee, 2016. Siehe ausführlich: Esch, 2016; Ahlert u. Berentzen, 2010; Burmann et al., 2012; BekmeierFeuerhahn, 2005; Meffert et al., 2002; Fischer et al., 2002; Mennicken, 2000; Srivastava u. Shocker, 1991 u. Farquhar et al., 1990.
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te zu einer kontroversen Diskussion, über Kulturgeschichte als geschichtswissenschaftliche Disziplin, auf (vgl. Burke, 2004). Ute Daniel merkte zur vermeintlichen Definitionsnotwendigkeit von Kulturgeschichte21 an: „Wer sich darüber klar werden will, was sie bedeutet und beinhaltet, sollte studieren, wie über sie gestritten und wie mit ihr gearbeitet wird, und seine oder ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.“ (Daniel, 2004: 10).
Daniel plädiert von Kulturgeschichte „auf der Ebene des wissenschaftlichen Selbstverständnisses“ (ebd.: 9) zu sprechen, wonach die Art und die Verfügbarkeit des Wissens entscheidend sind, und ebenso entsprechende Diskussionskriterien (vgl. ebd.). Von methodischer Seite her eröffnete die Einbeziehung der cultural turns, in den Diskurs der Geschichtswissenschaften, neue bzw. transdisziplinäre Analyseperspektiven. Zu nennen ist hier beispielsweise die wechselseitige Berücksichtigung postkolonialer Phänomene, zur methodischen Überwindung des Eurozentrismus; oder auch die stärkere Fokussierung von Globalisierungprozessen22 . Mit der zunehmenden Ablehnung von modernisierungstheoretischen Ansätzen, rückten in der Neuen Kulturgeschichte globalhistorische, akteursgebundene, verflechtende und multidimensionale Untersuchungen in den Fokus23 . Um eine epistemologische Wunderwaffe handelt es sich aber auch bei der Neuen Kulturgeschichte nicht automatisch; vielmehr bedarf es einer spezifischen Bewertung der heterogenen und vielfältigen Herangehensweisen24 . Die theoretische Herausforderung dieser Arbeit besteht darin, die wechselseitigen Prozesse von Identität und Konsum in Peru aus einem multidimensionalen und interdisziplinären Blickwinkel am Produkt Inca Kola zu analysieren. Die Heterogenität innerhalb der peruanischen Bevölkerung soll daher von kultur- und wirtschaftswissenschaftlicher Seite her, noch mit einer medientheoretischen Betrachtungsweise verbunden werden, um der Komplexität bei der Analyse der Produktkommunikation von und über Inca Kola adäquat begegnen zu können. Klassische, meist eindimensionale, Modernisierungstheorien – respektive die als Gegenmodell entworfene Dependenztheorie25 – reichen nicht aus, um einen multiperspektivisch geleiteten Analyseprozess in Gang zu setzen. Zudem ermöglichen sie, wie eingangs geschildert, keine Überwindung des eurozentristischen Blickwinkels. Durch die Verwendung der Analyseebenen „Zentrum“ und „Peripherie“ brechen sie die Dichotomie zwischen Europa und Lateinamerika nicht auf. An
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Siehe ausführlich: Haas, 1994; Landwehr, 2009 u. Wehler, 1998. Siehe ausführlich: Conrad u. Randeria, 2002. Siehe ausführlich: Bachmann-Medick, 2006 u. Mergel u. Welskopp, 1997. Siehe ausführlich: Reckwitz, 2000. Fernando Henrique Cardoso und Enzo Faletto veröffentlichten 1969 im entwicklungspolitischen Diskurs eins der ersten Bücher über die Dependenztheorie: Dependencia y desarrollo en América Latina. Ensayo de interpretación sociológica. Eigene Übersetzung: Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika. Soziologischer Interpretationsversuch.
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der Dependenztheorie wird vor allem das Vernachlässigen der endogenen (nationalen) Faktoren sowie die fehlende Multidimensionalität zur Bestimmung nationaler Entwicklungsunterschiede kritisiert (vgl. Nuscheler, 1993: 359). Die klassischen Nationalismustheorien, z.B. von Eric Hobsbawm (Nations and Nationalism since 1780, 1990), Ernest Gellner (Nations and Nationalism, 1983), John Breuilly (Nationalism and the State, 1993), oder auch das Dreiphasenmodell von Miroslav Hroch (Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, 1968), basieren auf einem europäischen Empirierahmen, der eine erkenntnisleitende Adaption auf außereuropäische Nationen infrage stellt. Der amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson versuchte indes explizit, sich mit lateinamerikanischen Entwicklungstendenzen von Nationalismus auseinanderzusetzen. Allgemeiner Ausgangspunkt in seinem Werk „Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism“ ist das parallele Lesen von Tageszeitungen. Durch diese zeitgleiche Wissensvermittlung wird laut Anderson ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt, welches wiederum „imaginäre Gemeinschaften“ konstruiert (Anderson, 1991). In Kapitel 4 Creole Pioneers konstatiert er: „Creole communities developed nationalist politics before Europe, because as colonies they were largely self-administrating territorial units.“ (Anderson, 1991: 50).
Vor allem im postkolonialen Diskurs erfuhr Anderson immense Kritik26 , weil auch er Europa als Vergleichskategorie benennt. Der Soziologe Shmuel N. Eisenstadt beansprucht eine Überwindung des Modernisierunstheorien meist inhärenten Eurozentrismus. In seinem Ansatz der „multiple modernities“ geht er nicht von einer Moderne aus, sondern von selbständig entstandenen, vielfältigen Modernen (vgl. Eisenstadt, 2002). Undifferenziert bleiben allerdings entsprechende Charakteristika von (multiplen) Modernen sowie ihr Interaktionsprozess27 . Um die verbreitete Dichotomie zwischen einem europäischen und einem außereuropäischen Nationalismuskontext aufzubrechen, möchte Matthias vom Hau die Nationalismustheorien der lateinamerikanischen Länder Mexiko, Argentinien und Peru, in einem Aufsatz vergleichend gegenüberstellen. Peru war demnach das Schlusslicht der drei Länder, auf dem Weg vom liberalen zum populären Nationalismus (vgl. vom Hau, 2010: 172). Für die 1970er Jahre, also während der Zeit der Militärregierung von General Verlasco Alverado28 , terminiert vom Hau den Wandel im Verständnis einer peruanischen Nation; weg von einer politisch territorialen, hin zu einer kulturellen Interpretation (vgl. ebd.: 173). Vom Hau kommt hier der Forde-
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Siehe ausführlich: Chatterjee, 1999. Siehe ausführlich zur Kritik an Eisenstadt: Bhambra, 2009. Siehe ausführlich: Cotler, 1994: 112ff.
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rung von Christopher A. Bayly nach, der in seinem Buch „Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914“ forderte: „Theoretiker des Nationalismus werden die außereuropäische Welt künftig ins Zentrum ihrer Analysen rücken müssen, statt sie als zusätzliches Extra zu betrachten.“ (Bayly, 2008: 248).
Doch die Liste der Dichotomien in Bezug auf Latein- und Südamerika ist umfangreich. Nicht ohne Grund bezeichnete Wolfgang Knöbl „Südamerika als Friedhof der Großen [sic!] Theorie“ (Knöbl, 2007: 254). In „Die Kontingenz der Moderne – Wege in Europa, Asien und Amerika“zeichnet der deutsche Soziologe die lateinamerikanische Deformierung von Modernisierungstheorien nach. Auch die bereits angesprochene oppositionell entwickelte Dependenztheorie beanstandet Knöbl, indem er die linearen historischen Darstellungsweisen infrage stellt (vgl. ebd.: 25729 ). In Lateinamerika gilt der peruanische Journalist José C. Mariátegui als Vordenker der Dependenztheorie30 . Er formulierte bereits 1928 „Sieben Versuche die peruanische Wirklichkeit zu verstehen“31 und merkte an, dass die soziokulturellen und ökonomischen Probleme in Peru lediglich multidimensional gelöst werden können. Demnach sei ein Wandel nur umsetzbar bei parallelen ruralen, antiimperialistischen und anti-kapitalistischen Veränderungen (vgl. Mariátegui, 1928). Als Beispiele theoretischer Analysen im Forschungskontext sind vor allem die Arbeiten von Alfred C. Stepan sowie von Ruth Berins Collier und David Collier zu nennen. In „The State and Society. Peru in Comparative Perspective“ thematisierte Stepan die sich wandelnde Rolle des peruanischen Staates seit den 1930er Jahren. Er arbeitete den „autoritären (integrierten) Korporatismus“ in Peru heraus, den Stepan als Politikprodukt und nicht als gesellschaftliche Reflexion versteht (vgl. Stepan, 1978: 46ff.). Die breiter angelegte historisch-vergleichende Analyse „Shaping the Political Arena“ von Berins Collier und Collier bezieht sich auf Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Mexiko, Peru, Uruguay und Venezuela. Die Autorenschaft sieht den Anstieg der organisierten Arbeiterbewegung in Lateinamerika eng mit den historischen Veränderung der Beziehung von Staat und Arbeiterklasse verbunden. Hierfür unterscheiden sie nationale Muster, wie beispielsweise den labour populism für Argentinien und Peru. Innerhalb dieser Kategorisierung weist Argentinien einen höheren pro Kopf Modernisierungsindex auf, als das sozial heterogene Peru (vgl. Berins Collier u. Collier 1991: 17)32 . Für Ulf Hannerz stellt das Zeitalter der Globalisierung den Kontext transnationaler Kulturprozesse dar, wie er in seinen Arbeiten zur Kreolisierungstheorie aufzeigt. Auf Basis des sprachwissenschaftlichen Ansatzes beschreibt der schwedische Kulturanthropologe Kreolisierung als kulturell verflochtene Transformationsprozesse. Er charakterisiert kreolische Kultur als:
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Siehe ausführlich: Kapitel 8, S. 253–311. Siehe ausführlich: Vanden, 1986. Im Original: 7 Ensayos de Interpretación de la Realidad Peruana. Siehe ausführlich zum Modernisierungsprozess Lateinamerikas: Mascareño, 2012; Scheuzger u. Fleer, 2009 und Nascimento u. Witte, 1997.
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„[...] intrinsically of mixed origin, the confluence of two or more widely separated historical currents which interact in what is basically a center/periphery relationship. [...] Creole cultures come out of multi-dimensional cultural encounters and can put things together in new ways.“ (Hannerz, 1992: 264f.).
Im urbanen Referenzrahmen verdrängen sich demnach Kulturen des Zentrums und Kulturen der Peripherie, die sich zu Beginn des Transformationsprozesses diametral gegenüberstehen. Die Peripherie will den Modernisierungsrückstand gegenüber dem Zentrum aufholen, wodurch der Kreolisierungsprozess laut Autor beschleunigt wird (vgl. Hannerz, 1996: 70). Eine Adaption der Kreolisierungstheorie nach Ulf Hannerz auf Peru wäre zwar denkbar, doch im Lateinamerikadiskurs ist stattdessen das Konzept der Hybridisierung für die Analyse kultureller Prozesse gebräuchlicher. Birgit Scharlau veröffentlichte hierzu 1994 den deutsch-spanischen Sammelband „Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne“. Hervorzuheben ist der Aufsatz von Petra Schumm „mestizaje und culturas híbridas. Kulturtheoretische Konzepte im Vergleich“. Schumm analysiert die beiden diametralen Konzepte in Bezug auf den lateinamerikanischen Kulturaustausch (vgl. Schumm, 1994: 59–80). Natascha Ueckmann diskutiert das Thema in ihrem Aufsatz „Hybriditätskonzepte und Modernekritik in Lateinamerika“ breiter angelegt (vgl. Ueckmann, 2009: 507–529). Genau wie Cornelia Sieber in „Die Gegenwart im Plural. Postmoderne/postkoloniale Strategien in neueren Lateinamerikadiskursen“, spricht sich Ueckmann für ein Aufbrechen der starren Abfolge von Vormoderne, Moderne und Postmoderne aus. Dieser lateinamerikanische Zeitenmix, wie von Sieber bezeichnet, drückt sich beispielsweise durch das parallele Vorhandensein von (indigenen) Kulturtraditionen und modernen Massenmedien aus (vgl. Sieber, 2005: 111). Im Kontext der Postcolonial studies geht Hybridisierung vor allem auf den indischstämmigen Literaturtheoretiker Homi K. Bhabha zurück. 1994 veröffentlichte er unter dem Titel „The Location of Culture“ eine Aufsatzsammlung. Bhabha analysiert dort die kulturellen Identitäten von Kolonisierten und Kolonisierenden, wobei die kulturelle Praxis für ihn einen Dialog in einem immer fortlaufenden Prozess darstellt. Für Bhabha sind Kulturen: „[...] never unitary in themselves, nor simply dualistic in the relation of Self to Other.“ (Bhabha 1994: 52).
Bhabhas Untersuchungsschwerpunkt liegt auf der Beziehung zwischen indischen und britischen Personen sowie deren Interaktion als Kolonisierte und Kolonisierende. Durch das Einbeziehen einer nicht-westlich geprägten Wirklichkeit, in Form von Migrantinnen und Migranten, soll das Selbstverständnis des westlich geprägten Ichs überdacht werden. Innerhalb dieser Kontextualisierung definiert Bhabha Hybridität als „[...] the revaluation of the assumption of colonial identity through the repetition of discriminatory identity effects.“ (Bhabha 1994: 112).
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Im lateinamerikanischen Diskurs33 steht der argentinische Philosoph und Anthropologe Néstor García Canclini mit seinem Ansatz „Culturas híbridas“34 für den Begriff Hybridisierung35 . Er verwendet den Begriff als Weiterentwicklung der eindimensionalen Untersuchungsansätze lateinamerikanischer Kulturen, wie Synkretismus oder mestizaje und möchte so die vielschichtigen Kombinationsmöglichkeiten im Modernisierungsprozess Lateinamerikas beschreiben (vgl. García Canclini, 1992: 13ff.). Dafür fordert García Canclini eine Überprüfung der Modernisierungstheorie anhand lateinamerikanischer Transformationsprozesse (vgl. García Canclini, 1989: 22). Unabdingbar ist dabei, fernab der Dichotomie von Tradition und Moderne, das parallele Vorhandensein unterschiedlicher Zeiten (vgl. ebd.: 14f.). Zugleich wendet er sich vom Begriff der Postkolonialität ab und fordert ein Aufbrechen der binären Logik, die mit (Be)wertungen einhergeht (vgl. García Canclini, 1997: 44f.). Mit seinem Nachfolgewerk „Consumidores y ciudadanos. Conflictos multiculturales de la globalizacion“36 legte Néstor García Canclini eine umfassende Analyse zum Konsumverhalten im Globalisierungskontext Lateinamerikas vor. Der argentinische Anthropologe untersuchte die kritischen Effekte der Urbanisierung sowie der globalen Medien und der Warenmärkte in Bezug auf die lateinamerikanische Bevölkerung. Er definiert Konsum als „Gesamtheit soziokultureller Prozesse, in denen die Aneignung und der Gebrauch von Produkten verwirklicht werden“37 . Ferner versteht García Canclini Konsum auch als „Ort der Differenzierung und Unterscheidung zwischen Klassen und sozialen Gruppen“ (ebd.: 44). In diesem konsumorientierten Identitätskontext verweist García Canclini auf die Arbeiten des Ethnologen Arjun Appadurai, der ins Detail gehend den Einfluss des Tauschprozesses von Waren auf deren Wertigkeitsentwicklung betrachtete. Im von ihm editierten Band „The social life of things. Commodities in cultural perspective“ betont Appadurai, dass Waren neben Personen ebenfalls über ein soziales Leben verfügen (vgl. Appadurai, 2003: 3). In seinem Nachfolgewerk „Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization“ erläutert Appadurai, wie über moderne Massenmedien in Bombay ein neues – nicht unbedingt reales – Bild von Amerika konstruiert wurde (vgl. Appadurai, 1997: 3). So entstanden durch die mediale Bereitstellung laut Autor fiktive Selbst- und Weltbilder, die imagined selves und imagined worlds, die wiederum die Position eines Nationalstaat ins Wanken bringen könnten (vgl. ebd.). Relevante Arbeiten zur Identitätsforschung finden sich vor allem in den Cultural Studies. Hier ist der britische Soziologe Stuart Hall zu nennen, der im postkolonialen Diskurs den Begriff der kulturellen Identität prägte. In seinem Aufsatz „Cultural Identity and Diaspora“ thematisierte er die europäische Repräsentations-
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Siehe ausführlich: Sieber, 2005 u. Ueckmann, 2009. Eigene Übersetzung: Hybride Kulturen. Siehe ausführlich zur Rezeption: Hepp, 2009. Eigene Übersetzung: Verbraucher und Bürger. Multikulturelle Konflikte der Globalisierung. Im Original: „El consumo es el conjunto de procesos socioculturales en que se realizan la apropiación y los usos de los productos.“ (García Canclini, 1995a: 42f.).
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form von Identität, in Abgrenzung zur anglo-karibischen kulturellen Identität als mindere Form (vgl. Hall, 1994: 392–403; insbesondere 394f.). Identität ist laut Hall nicht automatisch oder einheitlich gegeben, sondern wird diskursiv und Kontextabhängig entwickelt38 . Hall definiert kulturelle Identitäten als: „[...] the points of identification, the unstable points of identification or suture which are made, within the discourses of history and culture. Not an essence but a positioning.“ (Hall 1994: 395).
García Canclini sieht in der zunehmenden medialen Vernetzung weltweit neue Referenzen zur Identitätskonstruktion. Er definiert Identität somit als „multimediales Spektakel“ (García Canclini: 1995a: 107ff.) und betrachtet ihren Entwicklungsprozess als populärkulturelle Inszenierung. In seinen Arbeiten entfernt sich García Canclini vom ursprünglich biologischen Begriff der Rassenvermischung und verwendet ihn als positiv besetztes Konzept der Vermischung kultureller Elemente unterschiedlicher Herkunft. Dabei schafft er es, den Besonderheiten lateinamerikanischer Kulturen gerecht zu werden und diese von innen heraus zu analysieren. García Canclinis Disziplinen-Kombination ermöglicht eine transdisziplinäre, multidimensionale sowie verknüpfende Analyse39 und erfüllt, vor dem dargelegten theoretische Forschungshintergrund, bestmöglich die theoretischen Anforderungen dieser Arbeit. Gleichwohl bedarf das Hybriditätskonzept aufgrund der vielseitigen Begriffsverwendung einer genauen Verortung, insbesondere im Hinblick auf seine detaillierte Anwendung. Nicht außer Acht gelassen werden dürfen dabei auch kritische Stimmen zum Boom von Hybriditätskonzepten, die beispielsweise im von Ottmar Ette und Uwe Wirth herausgegebenen Sammelband „Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie“ diskutiert werden (vgl. Ette u. Wirth, 2014: 7–12). Auf der inhaltlich-thematischen Ebenen liegen einige Forschungsarbeiten zur nationalen Produkt- und Konsumgeschichte vor. Zu nennen ist hier vor allem der 2012 von Oliver Kühschelm, Franz X. Eder und Hannes Siegrist veröffentlichte Sammelband „Konsum und Nation. Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation“. Im Fokus steht: „[...] das Verhältnis zwischen zwei Leitbegriffen, welche die moderne Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur maßgeblich prägen: Konsum und Nation.“ (Kühschelm et al., 2012: 7).
Neben Untersuchungen zu europäischen Produkten und Märkten, beinhaltet der Sammelband auch Aufsätze zum spezifischen Konsumverhalten in den Nationen Kanada, Japan und China. Die konsumhistorischen Studien leisten einen entscheidenden Beitrag zum Stellenwert nationalisierender Produkte im Moderne(n)kontext und unterstreichen die Identitäts-, und Kommunikationskraft von Symbolen; sowohl
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Siehe ausführlich zum Identitätsdiskurs: Degregori, 2005; Lorraín, 2000; Thomßen, 1988; Yovanovich u. Huras, 2010; Riekenberg et al., 2001; König, 1991; Rojas Oviedo, 2001 und Arróspide de la Flor, 1979. Siehe ausführlich zum lateinamerikanischen Diskurs der Entangled History: Mazzotti, 2000: 8–35.
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für die verschiedenen Nationalisierungsakteurinnen und -akteure, als auch für die, die am Konsum teilhaben. Francisco Javier Alafont Montiel analysiert in seiner Dissertation „Werbegeschichte als Kulturgeschichte in Spanien, 1940–1989“, die einzelnen Jahrzehnte spanischer Werbegeschichte interdisziplinär. Erwähnenswert ist vor allem seine „kommunikativ-historische Analyse der spanischen Kultur [...], die sich mit Werbekommunikation als sozialem Diskurs beschäftigt“ (Montiel, 2010: 11). Im interculture journal publizierte Montiel 2002 den Aufsatz „Vier Arten einen Schnaps zu vermarkten. Zur Werbegeschichte von Anís del Mono (1940–2000)“. Mittels einer Analyse von drei verschiedenen Werbeanzeigen sowie dem Etikett des spanischen Anisschnapses, zieht Montiel Rückschlüsse auf politische, soziale und ökonomische Ereignisse im Moment der jeweiligen Entstehung. Neben dem Kommunikationsstil, untersucht er eine mögliche kulturelle Verwurzelung mit Werbesymbolen, sowie den Wiedererkennungswert der Marke durch die Zielgruppe (vgl. Montiel, 2002). Bei weiteren Forschungen zur kulturellen Bedeutung und der Symbolhaftigkeit spezieller Lebensmittel sei insbesondere die Dissertation von Roman Rossfeld „Schweizer Schokolade. Industrielle Produktion und kulturelle Konstruktion eines nationalen Symbols 1860–1920“ genannt. Mittels der Disziplinen-Kombination von Ernährungs-, Unternehmens- und Marketinggeschichte hebt Rossfeld hervor, wie – vor allem durch gezieltes Marketing – ein nationales Produkt geschaffen werden konnte, obwohl die Grundzutat Kakao kein Schweizer Naturprodukt ist (vgl. Rossfeld, 2007: 12f.). Ähnlich verhält es sich bei der kulturellen Bedeutung von Tee in Großbritannien, der zunächst überwiegend aus China oder Indien importiert wurde, bevor im 19. Jahrhundert auch der Anbau in den britischen Kolonien begann. Tobias Fraund untersucht in seiner gleichnamigen Dissertation „Die kulturelle Bedeutung von Tee im Großbritannien des 18. Jahrhunderts. Self-Fashioning, Kollektivsymbol und nationale britische Identität“. Folglich widerspricht die chinesische Herkunft des Tees keinesfalls der britischen Identität als Nationalgetränk (vgl. Fraund 2010: 161). Aus wirtschafts-, und globalgeschichtlicher Perspektive ist thematisch anknüpfend die Monographie von Peer Vries „Zur politischen Ökonomie des Tees. Was uns Tee über die englische und chinesische Wirtschaft der Frühen Neuzeit sagen kann“ zu nennen. Durch eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsprozesse beider Länder, gerät das Produkt Tee jedoch ein wenig ins Hintertreffen (vgl. Vries, 2009). Näher auf die Geschichte des europäischen Teekonsums geht Martin Krieger in seiner Monographie „Tee. Eine Kulturgeschichte“ ein. Neben dem Teehandel zwischen China und Europa, thematisiert er auch moderne Marketingmethoden im Globalisierungskontext. Krieger konstatiert einen Zusammenhang zwischen der Einführung von Markenprodukten und dem Erfolg großer Teehandelsunternehmen (vgl. Krieger, 2009: 257). Mit seiner „Geschichte eines Genussmittels“, über Kaffeekultur und Kaffeekonsum, veröffentlichte Krieger eine weitere Monographie über ein globales Nahrungsmittel. Hier schildert er den ökonomisch-kulturellen Entwicklungsprozess vom einstigen Luxusgut zum alltäg-
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lichen Konsumgut (vgl. Krieger, 2011). Kaffee bildet auch den Ausgangspunkt der Dissertation von Julia Laura Rischbieter „Mikroökonomie der Globalisierung. Kaffee, Kaufleute und Konsumenten im Kaiserreich 1870–1914“. Anhand der lokalen Akteurinnen und Akteure der Handelsmetropole Hamburg verdeutlicht Rischbieter die globalen Interaktionsprozesse des Kaffeehandels im Untersuchungszeitraum (vgl. Rischbieter, 2011). Das globale Entrücken von Herstellungs- und Hauptkonsumorten zeigt auch der amerikanische Anthropologe Sidney W. Mintz in seiner Monographie „Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History“. Im ausgehenden 18. Jahrhundert und beginnenden 19. Jahrhundert untersucht Mintz den Wandel der kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung von Zucker. Durch Veränderungen der nationalen Ernährungsgewohnheiten in den USA und in Europa, stieg der dortige Zuckerkonsum – respektive die allgemeine Nachfrage nach Luxuskonsumgütern – stark an. Im Kolonialzeitkontext zeigt Mintz für die Länder Puerto Rico, Jamaika und Haiti auf, wie Zucker vom nationalen Produkt und Nahrungsmittel zu einem machtpolitischen Mittel wurde (vgl. Mintz, 1985: xxixff.). Dass Konsumgüter auch Funktionen inne haben können, thematisiert Rainer Gries in seiner Habilitationsschrift „Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR“ (Gries, 2003). Anhand des dreidimensionalen Modells der Produktkommunikation erklärt er, dass ein Produkt durch die Verbindung der „Trägerfunktion, der Zeichenfunktion und der klassische Kanalfunktion“ zum Medium wird (ebd.: 87). Demnach steht also das Produkt im Zentrum der mehrdimensionalen Kommunikation zwischen Produzentinnen/Produzenten, Käuferinnen/Käufern, Zulieferinnen/Zuliefern, Journalistinnen/ Journalisten, oder anderen Kommunikationspartnerinnen/Kommunikationspartnern. Gries analysiert auf dieser theoretischen Basis die kulturelle Identität von Produkten, die durch die jeweilige Produktkommunikation erzeugt wird. 2008 folgte seine Monographie „Produktkommunikation. Geschichte und Theorie“. Im Fokus stehen hier ebenfalls Produkte als Medien und Botschaften sowie ferner die Kultur- und Sozialgeschichte von Produktkommunikation (vgl. Gries, 2008: 22–97), die er anhand von Fallstudien der Marken NIVEA und Coca-Cola konkretisiert (vgl. ebd.: 7–21 u. 195–254). Der Coca-Cola Company gelang die Etablierung ihrer amerikanischen Markenbrause als „Symbol der Freundschaft“ in den 1950er Jahren (ebd.: 7). Auf diesen Zeitraum datiert Gries den „wirtschaftliche[n] und kulturelle[n] Durchbruch auf den Märkten der Welt“, verbunden mit der Ikonisierung und Amerikanisierung von Coca-Cola (vgl. ebd.). Werbung als Einflussfaktor auf den Lebensstil wird interdisziplinär im von Nina Janich herausgegebenen Tagungsband „Stereotype in Marketing und Werbung. Interdisziplinäre Perspektiven auf kulturspezifische Wissensrepräsentatione“ diskutiert. Hervorzuheben sind die Beiträge im zweiten Kapitel, über „Nationale Stereotype und Stereotypisierung im Place Branding“ (Janich, 2019: 12). „Die Bedeutung des Konsums für moderne Identitätskonstruktionen“ zeichnen Thomas Kühn und Kay-Volker Koschel 2008 im gleichnamigen Überblicksartikel nach und entwickelten ein heuristisches Modell zur Analyse. Konsum wird in seiner Funktion
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als Stützpfeiler moderner Identität und in seinen Schattenseiten untersucht (Kühn u. Koschel, 2008: 7). Die Autoren fordern, dass Konsum an sich nicht als Negativeffekt auf die gesellschaftlicher Entwicklung verstanden wird, vielmehr sollte versucht werden „[...] das Spannungsverhältnis zwischen identitätsstützenden und -gefährdenden Aspekten zu begreifen.“ (ebd.: 14). Ferner regen Kühn und Koschel an, Konsum bei künftigen Arbeiten zur Identitätsforschung umfassend zu berücksichtigen. Dies setzt Ingo Köhler in seiner Habilitationsschrift „Auto-Identitäten. Marketing, Konsum und Produktbilder des Automobils nach dem Boom“ um, und widmet dem Themenfeld Produktsymbolik und Konsumentenverhalten ein eigenes Kapitel (vgl. Köhler, 2018, 103–188). Die Interaktion zwischen kollektiven Identitäten und Werbung analysiert Sebastian Reddeker in seiner Dissertation „Werbung und Identität im multikulturellen Raum. Der Werbediskurs in Luxemburg. Ein kommunikationswissenschaftlicher Beitrag“ (vgl. Reddeker, 2011). Interdiskurstheoretisch untersucht der Autor „Identität in Medien und Werbung“ und stellt exemplarisch die Positionierung der traditionellen luxemburgischen Biermarke Bofferding vor (vgl. ebd.: 192–228). Das Themenfeld der Markenartikel wurde inzwischen aus verschiedenen Blickwinkeln breit erforscht. Zu nennen ist zunächst die Dissertation von Petra Schütz „Die Macht der Marken. Geschichte und Gegenwart“, die den Schwerpunkt auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von Marken legt (Schütz, 2002). Hervorzuheben ist aus soziologischer Sicht die Habilitationsschrift von Kai-Uwe Hellmann „Soziologie der Marke“. Neben der Vorstellung eines soziologischen Modells von Marken, analysiert Hellmann auch die Ökonomie der Marke (vgl. Hellmann, 2003: 31–162). Unter dem Titel „Der Konsum der Gesellschaft. Studien zur Soziologie des Konsums“ veröffentlichte Hellmann 2013 zudem eine Aufsatzsammlung über den modernen Konsum. In einem thematischen Potpourri geht er u.a. auf die Soziologie des Essens40 (S. 25ff.), die Soziologie des Konsumenten (S. 51ff.), den idealen Kunden (S. 77ff.) und die Facetten einer aktiven Konsumentendemokratie (S. 119ff.) ein (vgl. ebd.). Ebenfalls aus soziologischer Sicht analysiert Michael Jäckel soziokulturelle Prozesse – wie beispielsweise die soziale Herkunft – und ferner Rückkopplungseffekte der kommunikativen Beeinflussung durch Produktwerbung auf das Kaufverhalten der Konsumentinnen und Konsumenten (vgl. Jäckel, 2011). Soziologische Konsumanalysen auf der Basis von Georg Simmel und Max Weber bilden den Kontext der Monographie „Konsum und Modernisierung. Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne“ von Thomas Lenz (Lenz, 2011). Ausgehend von Warenhäusern als Orte des Massenkonsums diskutiert der Autor den privaten
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Siehe ausführlich: Barlösius, 1999 u. Teuteberg et al., 1997.
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Konsum als Modernisierungsfaktor und analysiert dabei den ambivalenten Prozess zwischen ökonomischem Fortschritt und kulturellem Einfluss41 . Das Produkt Inca Kola stellt im deutschen Sprachgebrauch noch ein Desiderat dar. Einzig in Peru-Reiseführern findet die gelbe Brause seit den 1990er Jahren, meist im Kapitel über die Nationalküche, Erwähnung (vgl. Nelles Guide Peru, 1998: 229)42 . Im internationalen Kontext rezipierte der Journalist Calvin Sims 1995 in der New York Times das nationale Image von Inca Kola (vgl. Sims, 1995). Auch der Aufsatz „Inca Kola. Bebida de las masas“ von Elizabeth Fuhrman erschien 2007 in der Zeitschrift Beverage Industry, also für die amerikanische Leserschaft und fokussiert die dortige Marktsegmentierung. Inca Kola wurde zunächst ausschließlich in peruanischen Einwanderungsgebieten in den USA marketingwirksam verkauft; vor allem in Miami, Kalifornien und New York (vgl. Fuhrman, 2007: 40). Jane Holligans Aufsatz „Inca Kola. Class action. A Peruvian cola moves out of the barrio without forgetting its friends“ erschien 1998 in der ebenfalls amerikanischen Zeitschrift Business Latin America. Die von der Corporación Lindley geplante Erschließung neuer Absatzmärkte im Ausland steht hier inhaltlich im Mittelpunkt. Am 24. Februar 1999 lautete eine Schlagzeile in der New York Times „Company News; Coca-Cola agrees to buy half of Inca Kola PERU“. Für eine angebliche Summe von 200 Millionen US-Dollar soll die Corporación Lindley die Vertriebs- und Marketingrechte von Inca Kola im Ausland an The Coca-Cola Company verkauft haben (vgl. The New York Times, 24.2.1999). Eine offizielle Bestätigung dieser Summe gab es von beiden Firmen nicht. Breiter angelegte Forschungsarbeiten liegen, im Gegensatz zu populärwissenschaftlichen Abhandlungen, bis dato kaum vor. Der Brite Matthew Parris benannte seinen Reisebericht über Peru zwar nach der gelben Brause (Inca Kola. A Traveller’s Tale of Peru), allerdings geht er inhaltlich kaum auf das Nationalgetränk ein (vgl. Parris: 1993). Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges trank im Zug, auf dem Weg zum Machu Picchu, Inca Kola und bezeichnete sie mit den Worten „una inverosímil Inca Cola [sic!]“43 (Peicovich, 1980: 33). Zudem veröffentlichte die peruanische Zeitung El Comercio zusammen mit Autor Castro Pérez die historische Sammlung „Historia de la Publicidad en el Peru“ zur Geschichte der peruanischen Werbung. Kapitel 7 „Grandes Marcas a traves del Tiempo“44 bietet einen geschichtlichen Abriss über die Entwicklung der Inca Kola-Werbung (vgl. Castro Pérez, 2003: 112f.). Darüber hinaus findet auch die Historie der Coca-ColaReklame in den USA und in Peru auf einer Doppelseite Beachtung (vgl. ebd.: 126f.).
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Siehe ausführlich zu modernen Konsumgesellschaften Nordamerikas/Europas: Kleinschmidt, 2008; McKendrick et al., 1982; Haupt, 2003; Wyrwa, 1997: 747–762; Breen, 2004; Schramm, 2013: 363–383 und zum modernen Konsum in China: Clunas, 1991/2004; Li, 2016. Im Reiseführer Stefan Loose von 2013 steht Inka Cola (vgl. Herrmann, 2013: 43). Eigene Übersetzung: Eine außergewöhnliche Inca C[K]ola. Eigene Übersetzung: Große Marken im Wandel der Zeit.
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Einleitung
Gegenüber der Mehrzahl an Überblickdarstellungen existiert mit dem wissenschaftliche Aufsatz von M. Cristina Alcalde „Between Incas and Indians. Inca Kola and the construction of a Peruvian-global modernity“ eine fundierte Analyse des Einflusses von Inca Kola auf die (moderne) nationale Identität in Peru. Die Studie liefert einen kurzen historischen Überblick des kulturellen Erbes der Peruanerinnen und Peruanern und verbindet deren Bekundung ihrer Heimatverbundenheit mit einer spezifischen, nationalen (peruanischen) Identität im Konsumverhalten. Alcalde thematisiert den Spagat zwischen dem traditionellen Bezug von Inca Kola im Marketing und den globalen Kooperationspartnerschaften zu The Coca-Cola Company und McDonald’s (vgl. Alcalde, 2009: 39f.). Dem Format Aufsatz geschuldet erfährt das Spannungsverhältnis politischer, wirtschaftlicher und sozialer Aspekte wenig Würdigung. Auch der konsumhistorischen Entwicklung der peruanischen Bevölkerungsgruppen kann daher wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden. Angesichts des dargelegten Forschungsstandes besteht ein umfangreicher Bedarf an Untersuchungen zur kulturgeschichtlichen Integration von Konsum sowie zu identitätsstiftender Konsumforschung. Vor allem in Hinblick auf nationale Produktstudien zu außereuropäischen und nicht nordamerikanischen Untersuchungsobjekten – respektive nicht westlich sozialisierten Markenartikeln und Waren – wie beispielsweise Schokolade, Tee oder Kaffee, findet sich noch wenig Literatur. Überblickt man die vorliegenden Arbeiten, dann werden kulturwissenschaftliche Ansätze zunehmend angewendet und eröffnen über eine neue Forschungsperspektive hinaus auch ein Verständnis von Produkten als Medien und nationales Symbol. Von Bedeutung für diese Arbeit ist daher die wissenschaftliche Aufforderung, auch medientheoretische Aspekte bei der Erforschung nationalisierender Produktkommunikation zu berücksichtigen.
THEORETISCHER ANSATZ: HYBRIDE KULTUREN – PERUS MODERNISIERUNGSPROZESS & THE SOCIAL LIFE OF THINGS Ausgehend von den eingangs dokumentierten theoretischen Überlegungen erfolgt nun die für die Arbeit relevante Darlegung von Néstor García Canclinis Ansatz „Culturas híbridas“. Im Konsumkontext findet die Ergänzung durch Arjun Appadurais Konzept The social life of things statt, um die nachhaltige Handlungsfähigkeit der Ware Inca Kola in ihrem soziokulturellen Kontext aufzuzeigen. Da García Canclini bis dato überwiegend innerhalb des Lateinamerika-Diskurses45 rezipiert wurde, und in den Geschichtswissenschaften nahezu unbekannt ist, folgen zur Vorstellung zunächst biografische Angaben, bevor die wesentlichen Inhalte des Hybriditätskonzeptes von García Canclini zusammenfassend dargelegt werden.
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Siehe ausführlich zur deutschsprachigen Rezeption von Hybriditätskonzepten: Ha, 2004: 221–238.
Hybride Kulturen & The social life of things
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Néstor García Canclini wurde 1939 im argentinischen La Plata geboren und lehrte nach seinem Studium der Soziologie und Philosophie an den Universitäten von La Plata (1966–1975) und Buenos Aires (1974–1975). Zu Beginn der Militärregierung in Argentinien 1976 emigrierte García Canclini nach Mexiko-Stadt. Gefördert durch ein Stipendium46 , promovierte er bis Mitte 1978 an der Université Paris Oueste Nanterre Défense in Philosophie. 1981 erhielt García Canclini ein Fellow-Stipendium der John Simon Guggenheim Memorial Foundation im Forschungsbereich Soziologie. Es folgten Tätigkeiten als Gastprofessor und Forscher an den Universitäten von New York, Austin, Duke, Stanford, Barcelona, Buenos Aires und São Paulo. 1990 wurde García Canclini Professor an der Universidad Nacional Autónoma de México, in seiner Wahlheimat Mexico-Stadt (vgl. Renault, 2010: 176f.). Ebenso wirkte der gebürtige Argentinier 1998 beim „World Culture Report“ der UNESCO als leading specialist mit (vgl. Bromley, 2000: 14). Bereits in seinem Erstlingswerk von 1977 (Arte popular y sociedad en América Latina)47 thematisiert Néstor García Canclini Hybridisierung und definiert diese als „distinktive Kategorie des amerikanischen Kulturprozesses“48 (García Canclini, 1977: 100). In seinem 1989 in Mexiko erschienenen Buch „Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad“49 konkretisiert García Canclini seine Vorstellung lateinamerikanischer Hybridisierung, disparat zu eindimensionalen Konzepten von Religion (Synkretismus) oder Ethnie/Rasse (mestizaje). Für dieses Buch erhielt García Canclini im Jahr 1992 den Book Award de la Asociación de Estudios Latinoamericanos (vgl. Sieber, 2005: 104). Die erste englische Übersetzung wurde im Jahr 1995 unter dem Titel „Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity“ veröffentlicht, worauf García Canclinis Hybriditätsansatz international wesentlich breiter rezipiert wurde. Seine Relevanz innerhalb der Cultural Studies verdeutlicht auch der Aufsatz „The State of War and the State of Hybridization“ im Sammelband „Without guarantees. In honour of Stuart Hall“ (vgl. Gilroy et al., 2000: 38–52). Néstor García Canclini verwendet den Bergriff Hybridisierung, um das vielschichtige Vermischen von modernen (Massen)-Medien und soziokulturellen Prozessen im Kontext lateinamerikanischer Moderne(n) zu erläutern. Dabei sind den Kombinationsmöglichkeiten aus Politik, Religion, Kunst, Kommunikation, Literatur und Musik untereinander scheinbar keine Grenzen gesetzt (vgl. García Canclini, 2001: 22). Der Autor betont die hybride Geschichte des Subkontinents, die eine eigene Herangehensweise verlangt und somit keine Adaption angloamerikanischer oder europäischer Konzepte zulässt (vgl. García Canclini, 1992: 69ff.). Daher fordert er einen Ansatz, der den sozialen und kulturellen Wandel im Lateinamerika des
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Conicet-Stipendium: Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas. Eigene Übersetzung: Populäre Kunst und Gesellschaft in Lateinamerika. Im Original: „[...] categoría distintiva del proceso cultural americano.“ (García Canclini, 1977: 100). Eigene Übersetzung: Hybride Kulturen. Strategie zum Eintreten und Verlassen der Moderne.
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Einleitung
20. Jahrhunderts fokussiert. Aufgrund der hohen Analphabetenrate bis in die 1950er Jahre hinein, konnte sich laut García Canclini keine unabhängige Presselandschaft etablieren, womit er eine Diskrepanz zwischen der kulturellen und der ökonomischen Modernisierung in lateinamerikanischen Kulturen festmacht (vgl. ebd.: 15 u. 72f.). Er befürwortet daher das Aufbrechen der, sonst im kulturwissenschaftliche Diskurs geprägten, starren Abfolgen von Vormoderne, Moderne und Postmoderne. Demnach schließen sich eine Rückbesinnung auf den lateinamerikanischen Traditionalismus, bei gleichzeitiger Modernität im Zuge der voranschreitenden Globalisierung nicht aus(vgl. ebd.: 19ff.). Néstor García Canclini resümiert seinen Ansatz als eine Art gesellschaftliche Umstrukturierung und als transitorische Sozialbewegung (vgl. García Canclini, 2005: 23–46). Laut Autor ist der lateinamerikanische Subkontinent durch die kulturelle Hybridisierung multidimensional beeinflusst worden, wodurch gleichzeitig auch der dortige Modernisierungsprozess aktiviert wurde (vgl. García Canclini, 2001: 37). Als Orientierungshilfe in dieser sich wandelnden Welt empfiehlt er, traditionelle und aktuelle Einflüsse als Konstante zu verarbeiten. Entscheidend ist dabei, dass sowohl die einzelnen Fragmente, als auch die vielseitigen Kombinationen lateinamerikanischer Kultur, im Spannungsverhältnis zwischen Tradition, Moderne und Postmoderne, in Beziehung gesetzt und anerkannt werden (vgl. ebd.: 319). „Hoy concebimos América Latina como una articulación mas compleja de tradiciones y modernidades (diversas, desiguales), un contingente heterogéneo formado por países donde en cada uno, coexisten múltiples lógicas de desarrollo.“50 (García Canclini, 1992: 23).
Zur Analyse dieser unterschiedlichen Entwicklungslogiken schlägt García Canclini vor, sein Buch als labyrinthische Stadt zu sehen, die man durch die Wege „Hochkultur, Populärkultur und Massenmedien/Massenkultur“51 erreicht (vgl. García Canclini: 1989: 16). Durch das kulturelle Potpourri im Inneren dieser Stadt, ist der vormals gewählte Pfad nicht mehr auszumachen (vgl. García Canclini: 2008: 20). In drei Hypothesen eruiert der Autor Möglichkeiten hybride Kulturen und Moderne zu untersuchen, um diese wiederum als Teil Lateinamerikas zu charakterisieren. So will er sehen, „ob es möglich ist, eine plausible Interpretation der Widersprüche und Versäumnisse [...] [der] Modernisierung [in Lateinamerika] zu entwickeln.“ (García Canclini, 1992: 14). García Canclinis erste Hypothese bezieht sich auf die Ungewissheit bzw. Unsicherheit52 über die Bedeutung und über den Wert von Moderne. Die Basis sieht der Autor nicht nur in der Separation von Nationen, Ethnien und Klassen, sondern auch im sozialen Konglomerat zwischen moderner Hochkultur, Populärkultur und
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Eigene Übersetzung: Heute nehmen wir Lateinamerika als eine komplexere Artikulation von (verschiedenen, ungleichen) Traditionen und Modernen wahr, einen heterogenen Kontinent, gebildet aus Ländern, wo in jedem einzelnen unterschiedliche Entwicklungslogiken koexistieren. Im Original: culto, popular y masivo. Im Original: incertidumbre.
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(industrieller) Massenkultur (vgl. García Canclini, 1990: 14). Als Beispiel führt García Canclini elektronische Kommunikationsmedien an, die sich heute massiv ausbreiten und augenscheinlich die Hochkultur und die Folklore substituieren. Die Vermischung von Sprache(n) und Stil(en) ist für ihn kein Ablösen von Hochkultur (popular) und Populärkultur (culto) hin zu(r) Massenmedien/Massenkultur (masivo), sondern vielmehr das gleichzeitige Eintreten der Dimensionen in den Modernisierungsprozess (vgl. García Canclini, 1992: 14). In der zweiten Hypothese fordert der Autor die Zusammenarbeit der kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie Anthropologie, Literatur- und Kunstwissenschaft, oder Kommunikationswissenschaft, um die „multitemporale Heterogenität“53 (García Canclini, 1995b: 47) der Moderne aufzuzeigen. García Canclini besteht auf eine alternative Art des Begreifens lateinamerikanischer Modernisierung. Er schlägt vor sie nicht als fremde, dominante Macht zu sehen, die bewirken wird dass sich das Traditionelle und die eigene Identität ersetzen. Vielmehr übernimmt die Renovierung bzw. Erneuerung diverser Sektoren gewissermaßen die „multitemporale Heterogenität“ jeder Nation (vgl. García Canclini, 1990: 15). In seiner dritte Hypothese sagt García Canclini, dass die transdisziplinäre Sicht auf hybride Kreisläufe Konsequenzen hat, die die Kulturforschung überfluten und zum Teil auch überfordern. Sein Ansatz soll daher methodisch auch auf die Politik übertragen werden, um „indirekte Machtverhätnisse“ erklären zu können (ebd.). Im Kontext der kulturellen Heterogenität lassen diese „indirekte Machtverhätnisse“ liberale Institutionen mit autoritären Gewohnheiten, oder auch demokratische Sozialbewegungen mit paternalistischen Regimen, erahnen. Der Autor fordert einen Perspektivwechsel zur Sichtbarmachung von Machtnetzwerken, die nicht automatisch politisch, sondern vielmehr indirekt, gesteuert werden54 (vgl. ebd.). Die dargelegten Hypothesen debattiert García Canclini vor dem Hintergrund, inwieweit der Hybridisierungsprozess die Modernisierung auf dem lateinamerikanischen Subkontinent beeinflusst hat. Hybride Kulturen konstruieren seiner Meinung nach die Moderne und geben ihr spezifisches Profil an Lateinamerika weiter (vgl. García Canclini, 2001: 37): „[...] no llegamos a una modernidad, sino a varios procesos desiguales y combinados de modernización.“55 (García Canclini, 1992: 146).
Als „Strategie zum Eintreten und Verlassen der Moderne“ proponiert er daher eine stützende Dualität traditioneller und aktueller (moderner) Einflüsse (vgl. García Canclini, 2001: 319). García Canclini sieht in der urbanen Expansion einen der Gründe für die zunehmende kulturelle Hybridisierung. Eine Restrukturierung der
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Im Wortlaut: heterogeneidad multitemporal. Siehe ferner zur symbolischen Kommunikation von Macht durch uniforme Kleidung: Haas, 2001. Eigene Übersetzung: „[...] wir sind nicht in einer Moderne angekommen, sondern in verschiedenen, ungleichen Prozessen und Kombinationen von Modernisierung.“ (García Canclini, 1992: 146).
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Einleitung
urbanen Kultur knüpft der Autor an einen Wechsel der Protagonistenrolle, zwischen dem öffentlichen Raum und den neuen Kommunikationsmedien (vgl. García Canclini, 1992: 268f.). Unter dem Schlagwort Telepartizipation versteht García Canclini soziale Kommunikationsgeflechte in Städten (vgl. García Canclini, 1990: 263ff.). Vor allem dort beobachtet er eine ansteigende Medialisierung von Kommunikation. So werden politische Slogans und kommerzielle Werbespots vom Fernsehen auf die Straße getragen und rezipiert. Dieses interdependente Spiel sieht García Canclini als „juego de ecos“56 , zwischen urbanen Beziehungen und deren medialer Widerspiegelung (vgl. García Canclini, 1992: 270). Mit seinem eingangs bereits erwähnten Buch (Consumidores y ciudadanos. Conflictos multiculturales de la globalizacion) erweiterte García Canclini seinen Ansatz Culturas híbridas 1995 um einen konsum- und medienpolitischen Blickwinkel. In den 16 Jahren zwischen der ersten Auflage von „Culturas híbridas“ und der von „Consumidores y ciudadanos“ haben globale wie nationale Prozesse die Hybridisierung Lateinamerikas stark beeinflusst. Exemplarisch sind hier die Freihandelsverträge Mercosur 1991 und NAFTA 1994 zu nennen, aber auch zunehmende Migrationsbewegungen. Ebenda beschäftigt sich García Canclini mit demographischen, kommunikativen und technischen Veränderungsprozessen im urbanen Kontext, deren Untersuchung in Peru auch für diese Arbeit von Bedeutung ist. In wachsenden Deterritorialisierungsprozessen sieht der Autor Konsum, neben dem Staat, als führendes Vermittlungselement von Zugehörigkeit an. Unter Deterritorialisierung versteht García Canclini den Verlust der naturgemäßen Beziehung von Kultur, zu geografischen und sozialen Territorien57 (vgl. ebd.: 288). Demnach wird es immer schwieriger, Kulturen anhand eines bestimmten geografischen Gebietes zu verorten. Durch globalisierte Massenmedien und internationale wirtschaftliche sowie kulturelle Vernetzung benötigt die klassische Definition sozialräumlicher Identität demnach noch eine sozialkommunikative Ergänzung (vgl. García Canclini, 1995a: 31). In der Vorliegenden Untersuchung wird dem Vorschlag von García Canclin, Identität als Konstruktion anzusehen die erzählt wird58 , gefolgt (vgl. ebd.: 107). Bücher, Museen, bürgerliche Rituale und politische Reden reichen, durch einen Wandel des narrativen Prozesses, als identitätsprägende Werkzeuge nicht mehr aus, um Identität ausschließlich über die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft zu erzeugen (vgl. ebd.). Durch den gestiegen massenmedialen Einfluss auf die Identitätskonstruktion, bedarf es der gezielten Analyse neuer Akteurinnen und Akteure im Identitätsbildungsprozess lateinamerikanischer Kulturen. In diesem Zusammenhang betont García Canclini die distinktive Rolle von Konsum und verweist auf den Ansatz „The social life of things. Commodities in cultural perspective“ von Arjun Appadurai (vgl.
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Eigene Übersetzung: Spiel der Echos. Im Original: „[...] la pérdida de la relación „natural“ de la cultura con los territorios geográficos y sociales [...].“ (García Canclini, 1992: 288). Im Original: „La identidad es una construcciíon que se relata.“ (García Canclini, 1995a: 107).
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ebd.: 45 u. 168ff.). Eine Inwertsetzung von Waren erfolgt laut Appadurai durch den ökonomischen Tausch. Dieser Wert der Ware muss dabei nicht inhärent sein, sondern vielmehr durch die spezifische Art und soziale Relevanz verhandelt werden (vgl. Appadurai, 1986: 3). Die von Appadurai 1986 herausgegebene Aufsatzsammlung geht der Fragestellung nach, wie kulturelle Faktoren die Nachfrage und Wertigkeit materieller Gegenstände beeinflussen. In der Einleitung (Commodities and the politics of value) untersucht der Autor den soziokulturellen Kontext von Dingen im Tauschprozess. Appadurai geht davon aus, dass ein ökonomischer Austausch Wertigkeit erzeugt und der Wert durch getauschte Waren verkörpert wird: „Economic exchange creates value. Value is embodied in commodities that are exchanged.“ (Appadurai, 1986: 3).
Appadurai bezieht sich auf die Wertetheorie von Georg Simmel59 , wonach der Wert keine immanente Wareneigenschaft ist, sondern von Personen nach deren Empfinden im Tauschprozess festgelegt wird. Somit distanziert sich Appadurai von der Marx’schen produktionsfokussierten Güterdefinition. Laut Appadurai zirkulieren ökonomische Objekte in verschiedenen „regimes of value“ in Raum und Zeit (vgl. Appadurai, 2003: 15 u. 57). Durch reziproken Verzicht, dem daraus entstehenden Gewinn und sich konstituierenden Machtpositionen, werden in spezifischen sozialen Situationen, ökonomische Werte geschaffen (vgl. Appadurai, 1986: 4). Eine entsprechende Warensituation definiert Appadurai wie folgt: „I propose that the commodity situation in the social life of any thing be defined as the situation in which its exchangeability (past, present or future) for some other thing is its socially relevant feature.“ (Appadurai, 1986: 13).
Diese beschriebene „commodity situation“ im sozialen Leben von Dingen teilt der Autor auf in „commodity phase“ (1.), „commodity candidacy“ (2.) und „commodity context“ (3.). In der sogenannten Warenphase (1.) können Dinge den Status eines Gutes erlangen, ihn aber auch wieder verlassen bzw. verlieren. Appadurai verweist an dieser Stelle auf den Beitrag von Igor Kopytoff in „The social life of things. Commodities in Cultural Perspective“ zur kulturellen Biographie von Gütern (1986: 64ff.). „What would make a biography cultural is not what it deals with, but how and from what perspective. A culturally informed economic biography of an object would look at it as a culturally constructed entity, endowed with culturally specific meanings, and classified and reclassified into culturally constituted categories.“ (Kopytoff, 1986: 68).
Als Warenkandidatur/Warenanwartschaft (2.) versteht Appadurai jene Standards und Kriterien, die im symbolischen oder moralischen Bereich vorliegen, und maßgebend für die Austauschbarkeit von Dingen sind. Er betont die kulturellen Rahmenbedingungen, die intra- und interkulturelle Kultur hinsichtlich der Tauschqualität eines sozialen Gutes entstehen lassen. Entscheidend ist hier das spezifische
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Siehe ausführlich: Simmel, 1987.
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Einleitung
Wertesystem (vgl. Appadurai, 1986: 15). Im Warenkontext (3.) können sich die Warenphase (commodity phase) und die Warenkandidatur/-anwartschaft (commodity candidacy) durch kulturelle und soziale Faktoren verbinden: „Thus, commoditization lies at the complex intersection of temporal, cultural, and social factors. To the degree that some things in a society are frequently to be found in the commodity phase, to fit the requirements of commodity candidacy, and to appear in acommodity context, they are its quintessential commodities.“ (Appadurai 1986: 14f.).
In modernen und kapitalistischen Gesellschaften stehen Dingen diverse Kontexte zur Verfügung, um zu Gütern und dadurch zu Tausch- und Konsumobjekte zu werden (vgl. Appadurai 1986: 56f.). Zu überprüfen gilt es also in der vorliegenden Arbeit, wie die symbolische Eigenschaft von Inca Kola in sozialen Interaktionen peruanischer Konsumentinnen und Konsumenten in Wert gesetzt wurde. Zurückkommend auf García Canclinis Analyseansatz zum Verständnis der kulturellen Realität in Lateinamerika, darf die Kritik daran nicht außer Acht gelassen werden. Beispielsweise kritisieren Jean Franco und John Kraniauskas die komprimierte Darstellung der „Entgrenzung symbolischer Prozesse“ und fordern die Berücksichtigung von Strategien der Subjektivitätsbildung (vgl. Kraniauskas, 1992: 143ff. u. Franco, 1992: 134ff.). Zudem stören sie sich an der Verortung und am Hybriditätsbegriff (vgl. ebd.). Unklar bleibt ferner, ob García Canclini eine Art Reinkultur voraussetzt, aus der sich hybride Kulturen entwickelt haben. Aufgrund seiner ausführlichen Beschreibungen kann indes geschlussfolgert werden, dass Kulturen heutzutage als hybride Kulturen anzusehen und zu verstehen sind. Der Autor bietet insgesamt einen analytischen Ansatz an, um die kontroverse Vielfalt und den kulturellen Wandel lateinamerikanischer Gesellschaften herzuleiten. García Canclini geht es dabei nicht um einen destruktiven und antiwestlichen Identitätsansatz, als Gegenkonzept der kulturellen Verschiedenheit. Vielmehr möchte er, dass die kulturelle Vielfältigkeit lateinamerikanischer Gesellschaften – positiv konnotiert – mitgedacht wird (vgl. García Canclini, 1989: 14f.). Auf dieser Basis gilt es nachfolgend den Hybriditätsprozess aus lateinamerikanischer Perspektive in Peru, am Beispiel von Inca Kola, zu analysieren und die erwarteten heterogenen Ergebnisse im kulturgeschichtlichen Gesamtzusammenhang der Moderne(n) zu verorten. QUELLENZUGANG UND GANG DER UNTERSUCHUNG Die Grundlage für die Analyse der Produktkommunikation von Inca Kola bilden vor Ort ermittelte Firmenquellen der Corporación Lindley60 . Durch diese internen
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Da im Mutterhaus in Lima-Rímac kein Unternehmensarchiv existiert, basieren meine Rechercheergebnisse vor allem auf narrativen Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Marketingabteilung und der Produktion sowie ferner auf Zeitungsartikeln und Bildmaterial.
Quellenzugang und Gang der Untersuchung
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und überwiegend nicht publizierten Quellen ist es innerhalb der vorliegenden Arbeit möglich, die Unternehmensgeschichte aus erster Hand nachzuzeichnen. Insgesamt erstreckt sich die thematische Datenlage von besagten Unternehmensquellen, über empirisches Material, hin zu Sekundärliteratur. Ausgehend von einer erforderlichen multidimensionalen Perspektive, wird der dargelegte Theoriebildungsansatz Culturas híbridas auf die Fragestellung der Arbeit übertragen. Im ersten Schritt sollen die Peru-spezifischen Besonderheiten im Moderne(n)kontext geschildert und durch politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen ergänzt werden. Dabei bietet die Arbeit verflechtende Einblicke in die Grundsätze der global involvierten Wirtschaftsaktivitäten in Peru, und identifiziert deren Akteurinnen und Akteure. Die unterschiedlichen Literaturgattungen werden als Realitätsausschnitte verstanden und – im Sinne von García Canclini – kombiniert. Für diesen multiperspektivisch geleiteten Analyseprozess resultieren die in Abbildung 1 dargestellten Arbeitshypothesen: (1) Durch mangelnde politische, soziale und wirtschaftliche61 Regierungsmaßnahmen zur peruanischen Identitätstfindung, herrschte zu Beginn des Untersuchungszeitraums eine Lücke an Stelle nationaler Identität. Auf diese Weise wurde der voranschreitende Nationalisierungsprozess im 20. Jahrhundert von alternativen Akteurinnen und Akteure geprägt62 . (2) In Peru fungierten Städte als kulturelle Überschneidungspunkte hybrider Kulturen und spezifischer Konsumkulturen, wodurch Konsum – als soziokultureller Prozess verstanden – nicht auf den monetären Tauschakt reduziert werden kann, und daher vielmehr das soziale Leben der Tauschobjekte in Bezug zu setzen ist. (3) Essen63 kann als kultureller Raum der Identitätsbildung verstanden werden, der durch die Küchenrevolution von unten eine Rückbesinnung auf den Nationalstolz ermöglichte. Die Symbiose von Inca Kola und der Nationalküche wird daher als Grundstein des Erfolges der nationalen Ikonisierung betrachtet. (4) Offenkundig per Werbung vermittelte Distinktionsmerkmale wurden durch den urbanen Entindigenisierungsprozess und die zunehmende kulturelle Hybridisierung entschärft. Auf diese Art entwickelten sich, im Laufe der Modernisie-
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Wirtschaftliche Untersuchungen beziehen sich häufig auf den US-Dollar als Referenzswährung, doch komplexer gestaltet sich die genaue Umrechnung zwischen den im Untersuchungszeitraum gültigen Währungen Sol, Inti und Nuevo Sol. Da sich der Umrechnungskurs in den Monaten vor der Währungsreform ständig änderte, kann zeitweise keine Auskunft über die monetäre Kaufkraftentwicklungen sowie das Lohnniveau geben werden. Abhilfe bieten hier themenspezifische Aufsätze und Monographien sowie Zeitungsartikel; beispielsweise der peruanischen Tageszeitung El Comercio oder der Wochenzeitung Caretas. Hierfür konnten relevante Monographien und Aufsätze in den Beständen der Biblioteca Nacional del Perú sowie der Universitätsbibliotheken Pontificia Universidad Católica del Perú und Universidad de Lima gesichtet werden. Neben der Möglichkeit im Dorf Malata mit einer Quechua-Familie zu leben, konnte ich in Ica bei der Pisco-Herstellung in der 1856 gegründeten Bodega El Catador mitwirken.
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Einleitung
Abbildung 1: Darstellung der Arbeitshypothesen
rungsprozesse von Costa, Selva und Sierra, Massenmedien zum Wegbereiter einer (konstruierten) nationalen Identität in Peru. Innerhalb des geschilderten Forschungssettings folgt der Gang der Arbeit einer systematischen Gliederung, die akteurs- sowie ereignisbezogen das soziale Leben64 von Inca Kola im Untersuchungszeitraum in Bezug setzt. Gemäß Arbeitshypothese (1) wird im ersten Kapitel ein Überblick des politischen und wirtschaftlichen Geschehens im 20. Jahrhundert gegeben, um aufzuzeigen warum eine politisch forcierte Nationenbildung im Modernisierungsprozess Perus – trotz weltweiter nationalstaatlicher Schrankenbildung – nicht die staatlicherseits beabsichtigte homogenisierende Wirkung erzielte. Einhergehend mit der Präsentation der prägenden Akteure, von der Zeit der politischen Renovation in den 1920er Jahren, bis zur Demokratisierung in den 1980er Jahren, wird der Entwicklungsprozess der unterschiedlichen peruanischen Bevölkerungsgruppen diskutiert. Auf indigene Gesetzgebungen als mögliches politisches Kalkül der Elite, wird ebenfalls einzugehen sein, wie auf
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Siehe ausführlich: Appadurai, 1986.
Quellenzugang und Gang der Untersuchung
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die Jahrzehnte lange Marginalisierung der indigenen Bevölkerung; beispielsweise durch den Ausschluss von Analphabetinnen65 und Analphabeten bei Präsidentschaftswahlen bis 1979 (vgl. Astorga et al., 2004: 32). Subversive Militärinterventionen führten zu häufigen Regierungswechseln, die Peru nachhaltig schadeten. Dies zeigt sich vor allem an umgesetzten Reformen, die von der Folgeregierung aus einem anderen Lager grundsätzlich konterkariert wurden. Durch den gelebten Küstenzentralismus erfolgte zudem, in puncto strukturverbessernder und sozialer Maßnahmen, eine konsequente Vernachlässigung der Landesregionen Sierra und Selva. Erste Dezentralisierungsversuche Ende der 1980er Jahren scheiterten und die autoritäre Regierung unter Staatspräsident Fujimori verfolgte die Idee nicht weiter. Korruption und gelebte Cliquenwirtschaft ebneten den Machtgewinn staatsferner Gewalt, in Form von Guerillaorganisationen. Mit ihren Rekrutierungskommandos trugen diese, ebenso wie das Militär, zu massiven Menschenrechtsverletzungen an der indigenen Bevölkerung bei. Da der Staat zunehmend seine souveräne Machtposition verlor, wird davon ausgegangen, dass sich vor allem in den Anden Parallelinstitutionen sowie alternative Leitfiguren entwickelten. Die verstärkte Suche der ruralen Bevölkerung nach verbesserten Lebens- und Arbeitsbedingungen, führte in den 1950er Jahren zum Boom der Binnenwanderung in die Küstenregion. Städte fungierten daher zunehmend als kulturelle Überschneidungspunkte hybrider Kulturen und spezifischer Konsumkulturen, so Arbeitshypothese (2). Im zweiten Kapitel wird der Leitbegriff der Arbeit Identität daher mit den Konsumkulturen Perus in Bezug gesetzt und zwischen Küstengebiet, Andenraum und Amazonastiefland diskutiert. Konsum wird als soziokultureller Prozess und Ort der Differenzierung sozialen Gruppen verstanden, in dessen Kontext die populärkulturelle Inszenierung von Identität66 als „multimediales Spektakel“zu analysieren ist (vgl. García Canclini: 1995a: 44 u. 107ff.). Veränderungsprozesse im „Doing culture“ (Hörning u. Reuter, 2004) – also der performativen Tätigkeit von Kultur – gilt es schwerpunktmäßig herauszufinden, um einen vermuteten urbanen Entindigenisierungsprozess ausmachen zu können. Die Recherche neuer Leitfiguren nationaler Identität in Peru fokussiert anschließend den Verortungsprozess einer peruanischen Nationalküche, in der die Nahrung – gemäß Arbeitshypothese (3) – als kultureller Raum der Identitätsbildung verstanden wird. Herauszustellen sind identitäre Zuschreibungen von Lebensmitteln, die erwartungsgemäß einem Wandel von genuin indigenen, zu nationalen Produkten
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1955 erfolgte die Einführung des Frauenwahlrechts in Peru (vgl. Astorga et al., 2004: 32). Identitätsbezogene Bevölkerungsdaten für die Jahre der Volkszählung liegen vom Nationalen Institut für Statistik und Informatik (INEI) vor. Als Ergänzung dienen die Daten des 1995 gegründeteten Registro Nacional de Identificación y Estado Civil (Eigene Übersetzung: Nationales Identitäts- und Familienstand-Register) (RENIEC). Da die Fragebögen der Volkszählung hinsichtlich der identitätsbildenden Faktoren an die veränderten gesellschaftlichen Strukturen angepasst wurden, werden die abgeleiteten ethnischen Informationen mit vor Ort gesammelten Zusatzinformationen spezifisch kontextualisiert.
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Einleitung
unterworfen waren. Wie regional der Nahrungsmittelkonsum in Selva und Sierra im Gegensatz zur Küste geprägt war, soll eine Fallstudie der Getränkeindustrie verdeutlichen. Dabei wird die „multitemporale Heterogenität“ (García Canclini, 1995b: 47) der peruanischen Modernen illustriert. Die kulturellen Verflechtungen zwischen moderner Hoch- bzw. Avantgardekultur, Volkskultur und industrieller Massenkultur wurden seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend medial gestaltet, so die zentrale These des dritten Kapitels. Nach der Untersuchung von Massenmedien als Werbeträgern erfolgt eine Analyse der glokalen67 Markenartikel im Konsumgüterbereich, um deren Potenzial als Leitfiguren nationaler Identität in Peru abzuleiten. Mediale Errungenschaften, wie das Radio und das Fernsehen, durchliefen von Staatsseite her unterschiedliche Funktionen im Nationalisierungskonzept. Nach der anfänglichen Nutzung des Fernsehens als politisches Propagandamedium – sowie ferner zur Bildungsvermittlung – vollzog sich mit der Einführung des Privatfernsehens eine massive Internationalisierung der Sendeinhalte sowie der Werbung, die eine kulturelle Verflechtung, auch auf globaler Ebene, weiter begünstigte. Die Einbeziehung empirischer Daten sowie visueller Quellen dient der Darstellung des Entwicklungsprozesses der peruanischen Marketinggeschichte. Damit sollen die gestiegene Zielgruppendifferenzierung und die Subtilität der Maßnahmen – also auch die mediale Beeinflussung der Bevölkerung – verdeutlicht werden. Mitgedacht werden muss der Distinktionsfaktor von Marketingmaßnahmen, denn in der medialen Vorstellungswelt eines spezifischen Produktes wird sowohl Identität als auch Alterität konstruiert (vgl. Rischbieter, 2011: 234f.). Der Fokus des vierten Kapitels liegt auf der Unternehmensgeschichte der Firma Lindley, die nicht losgelöst von den Familienmitgliedern betrachtet werden kann. Aktuell wird das Unternehmen in vierter Generation von Johnny Lindley junior und einer strategischen Generaldirektion geleitet. Es wird davon ausgegangen, dass sich verschiedene Funktionen einzelner Familienmitgliedern positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens, und speziell auch auf den Erfolg von Inca Kola, auswirkten. Zu nennen ist hier, neben den Geschäftsführern des Unternehmens, vor allem Nicolás Lindley López. Der Militärgeneral übernahm 1963 übergangsweise das Staatspräsidentenamt und begünstigte so die Geschicke der Firma Lindley, worauf noch genauer einzugehen sein wird. Das fünfte Kapitel vereint die konkrete Anwendung der theoretischen Ansätze von García Canclini und Appadurai, mit der Kulturgeschichte von Inca Kola. Vor allem anhand visueller Quellen und Rezeptionsergebnissen werden die soziokulturellen Entwicklungsprozesse Telepartizipation, Dekollektivierung und Deterritorialisierung sowie die indirekten Machtverhältnisse mit dem sozialen Leben von Inca Kola in Bezug gesetzt. Dafür ermöglicht das Heranziehen der vernetzten Ergebnisse vorangegangener Kapitel eine thematische Rekonstruktion aus verschiedenen Per-
67
Siehe ausführlich: Robertson, 1997.
Quellenzugang und Gang der Untersuchung
39
spektiven. Gemäß Arbeitshypothese (4), die besagt dass sich Massenmedien zum Wegbereiter einer (konstruierten) nationalen Identität in Peru entwickelten, wendet sich das erste Unterkapitel zunächst der identitären Analyse von Werbemaßnahmen zu. Die Beeinflussung nationaler Identitätsprozesse durch transnationale Medieninteraktionen lässt die Entstehung neuer Identitätsmuster vermuten, die sich im kulturellen Dekollektivierungs- und Deterritorialisierungsprozess noch akzentuierten, wie im zweiten Unterkapitel am Expansionsverlauf von Inca Kola zu belegen sein wird. Als Teilaspekt der vorherrschenden komplexen Machtverhältnisse lässt sich der urbane Entindigenisierungsprozess (4) seit den 1950er Jahren ausmachen. Doch die abzuleitende Dichotomie, zwischen der indigenen Bevölkerungen und der Elite, greift an der Stelle zu kurz. Das dritte Unterkapitel widmet sich daher, am Beispiel von Inca Kola, der Darstellung indirekter Machtverhältnisse im Moderne(n)- und Globalisierungskontext Perus. Die Zusammenführung der dargelegten Argumentationsstränge erfolgt im abschließenden Kapitel, um zu beantworten welche Funktion die Produktkommunikation von und über Inca Kola im Entwicklungsprozess nationaler – respektive medial konstruierter – Identität in Peru einnahm? Dabei vereint die Arbeit historische Quellenarbeit, mit Medien- und empirischer Sozialforschung.
1. PERUS TRANSFORMATIONSPROZESSE IM 20. JAHRHUNDERT Die extremen klimatischen und ethnischen68 Unterschiede in den drei Landschaftsregionen Perus, Sierra, Selva und Costa69 , bedingten in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts die jeweilige sozioökonomische Teilhabe der Bevölkerungsgruppen. Dadurch erhielten soziale Veränderungsprozesse meist unweigerlich auch einen politischen Charakter. Die öffentliche Diskussion dieser Zeit, nach einer gesellschaftlichen Rückbesinnung auf das indigene Erbe Perus, wurde maßgeblich von Intellektuellen des Landes vorangebracht. Der Autor und bekennende Marxist José C. Mariátegui formulierte die grundsätzliche Gleichberechtigung der indigenen Bevölkerung, als Voraussetzung für eine unabhängige Nation70 . Víctor Raúl Haya de la Torre, Anführer der 1924 als indioamerikanische Sammelbewegung initiierten Gruppe Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA), verstand sich ebenfalls als Sprachrohr der Unterschicht (vgl. Palmer, 1994: 9). Aus dem mexikanischen Exil71 forderte er die gleichberechtigte sozioökonomische Teilhabe aller Peruanerinnen und Peruaner (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 761) sowie ferner den Ausgleich der Diskrepanz im Bildungsniveau zwischen der überwiegend indigenen Hochland-Bevölkerung und den (meist weißen) Küstenbewohnenden bzw. Mestizen (vgl. Bieber, 1978: 64). In der Verfassung von 1920 erfolgte erstmals die formale Anerkennung indigener Dorfgemeinschaften; zudem wurde die Zwangsarbeit auf Landgütern – den sogenannten Haciendas – abgeschafft (vgl. Meentzen, 2007: 126). Allerdings haperte es an der konsequenten Umsetzung der neuen Bürgerrechte, die eher dürftig im Alltag vollzogen und vom damaligen Staatspräsident Augusto B. Leguía nahezu ignoriert wurden. Trotzdem konnte diese Verfassung, aufgrund ihrer Außenwirkung, eine Vorbildfunktion für Lateinamerika einnehmen (vgl. Barié, 2003: 471). Angesichts der häufigen Wechsel militärischer und ziviler Regierungen (siehe Tabelle 1) herrschte keine politische Beständigkeit im 20. Jahrhundert. Infolgedessen wurden erlassene Gesetze und beschlossene Reformen durchweg von der Folge-
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69 70 71
Laut Resolución Legislativa No 26253 von 1989 leben in Peru 55 anerkannte indigene Völker (Ministerio de Cultura Perú, 2014). Nicht-staatlichen Untersuchungen zufolge existieren ca. 70 indigene Völker in Peru (vgl. Meetzen, 2007: 124). Eigene Übersetzung: Andenhochland, Regenwald und Küste. Siehe ausführlich: Mariátegui, 1928. Nach seiner öffentlichen Kritik an Staatspräsident Augusto B. Leguía y Salcedo ließ dieser ihn 1923 im Rahmen von Studentenprotesten verhaften und ausbürgern, worauf Haya de la Torre fast 10 Jahre nicht nach Peru zurückkehren durfte (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 78).
Perus Transformationsprozesse im 20. Jahrhundert
Zeitraum 1933–1939 1939–1945 1945–1948 1948–1956 1956–1962
1962–1963
1963–1968 1968–1975 1975–1980 1980–1985 1985–1990 1990–2000
Name des Präsidenten General Oscar R. Benavides Manuel Prado y Ugarteche José Bustamente y Rivero General Manuel Ordía Manuel Prado y Ugarteche General Ricardo Pérez Godoy u. General Nicolás Lindley Fernando Belaúnde Terry General Juan Velasco Alverado Francisco Morales Berm|’udez Fernando Belaúnde Terry Alan García Alberto Fujimori
Partei
Regierungsform
/
Militärregierung
Coalición Conservadora Frente Democrático Nacional /
zivile Regierung
Movimiento Democrático Peruano /
41
zivile Regierung Militärregierung zivile Regierung
militärische Übergangsregierungen
Accíon Popular
zivile Regierung
/
Militärregierung
/
Militärregierung
Accíon Popular
zivile Regierung
PAP Cambio 90
zivile Regierung zivile Regierung
Tabelle 1: Peruanische Regierungen 1933-2000
regierung konterkariert (eigene Darstellung nach Pease García u. Romero Sommer, 2013). Der gelebte Küstenzentralismus bedingte die fehlende Präsenz des Staates in den vorwiegend indigenen und wirtschaftlich schwachen Provinzen, wodurch die Bewohnerinnen und Bewohner der Selva und der Sierra von institutionellen Angeboten ausgeschlossen waren. Die soziale Sicherung blieb meist Aufgabe der Dorfgemeinschaften. Dies änderte sich, mit der vorübergehenden Durchführung kulturpolitischer Maßnahmen, während der ersten Phase der Militärregierung (1968 – 1975). Mit der Verfassungsnovellierung von 1993 oblag die Verantwortung für die soziale Sicherung der Bevölkerung nicht mehr den Kommunalverwaltungen (vgl. Blum, 2001: 118). Die Wirtschaftsinteressen der einzelnen Regierungen reichten in jener Zeit von Auslandskapital-Finanzierungen und Exportorientierung, über die urbane Industrialisierung, bis hin zu Verstaatlichungen, importsubstituierender Industrialisierung72 und erneuter Privatisierung. Die Arbeitslosenquote erreichte 1929 ein historisches
72
Siehe ausführlich: Hudson, 1993.
42
Perus Transformationsprozesse im 20. Jahrhundert
Hoch von 22,9% (vgl. Tapia-Granados, 2013: 660). Peru belastete 1930 außerdem die enorme Auslandsverschuldung von 124 Million US-Dollar (vgl. Pereyra, 2012: 9). Bis in die 1950er Jahre hinein bedingten die globalen politischen und wirtschaftlichen Ereignisse maßgeblich das Entwicklungspotenzial des Landes. Als die autoritär geprägte Staatsführung unter dem Druck des sozialen Wandels ins Wanken geriet, folgten 12 Jahre militärischer Reformismus73 . Der anschließende Demokratisierungsprozess wurde von Inflation, zwei Währungsumstellungen innerhalb von sechs Jahren (vgl. Ley N◦ 24064, 1985 (Morales Urresti) u. Ley N◦ 25295, 1991 (Hurtado Miller u. Fujimori) und einer blutigen Welle von Terrorismus begleitet. Nachfolgend werden die allgemeinen ökonomischen Entwicklungsprozesse Perus und die regionalen Unterschiede an der wirtschaftlichen sowie soziokulturellen Teilhabe der Bevölkerung herausgearbeitet. Aus nationalstaatlicher Machtperspektive werden die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteurinnen und Akteuren des 20. Jahrhunderts besprochen. Dabei gilt es zu klären, ob die vorherschenden klassenspezifischen und ethnischen Gegensätzlichkeiten innerhalb der Bevölkerung, trotz politischer Stagnation überwunden werden konnten und wie sich die Machtverhältnisse innerhalb der Akteurinnen und Akteuren transformierten.
1.1 Perus wirtschaftlicher Wandel und politische Renovation Während der als Aristokratische Republik bezeichneten Regierungsphase, zwischen 1895 und 1919, prägte die oligarchische Elite die politische Landschaft Perus. Das Ende dieser Ära läuteten Studierendenaufstände und Streiks der Arbeiterschaft Anfang des 20. Jahrhunderts ein. Doch die politische Landschaft hatte es bis dato nicht geschafft parteipolitische Massenorganisationen hervorzubringen. Der Partido Civil74 , 1871 gegründet als Oppositionsbewegung zum mächtigen Militär, nahm als Perus „first modern political party“ (Gootenberg, 1993: 72) eine politische Schlüsselrolle während der nationalstaatlichen Konsolidierungsphase ein (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 766). Ein fehlendes sozialintegrierendes, politisches Konzept stellte jedoch ein großes Defizit dar und ferner mangelte es dem Partido Civil auch an Innovationsgeist. Gleichzeitig verstand sich die Arbeiterschaft zunehmend als politische Kraft und erkämpfte sich, nach einem Generalstreik Anfang 1919, den AchtStunden-Tag (vgl. Maticorena Estrada, 1999: 181f.). Unterdessen blieben die Bedürfnisse der Hochland- und der Regenwaldbevölkerung auf politischer Ebene eher unbeachtet. In den Großstädten entlang der Küste sorgten die zentralistisch aufgebauten politischen Strukturen hingegen für erste sozioökonomische Fortschritte. Die wachsende urbane Bevölkerung beanspruchte zugleich auch einen sozialen Wandel. Aus Unsicherheit, ob diese wachsende
73 74
Siehe ausführlich: Pease García u. Romero Sommer, 2013: 241–277. Siehe ausführlich: Mücke, 1998a.
Perus wirtschaftlicher Wandel und politische Renovation
43
gesellschaftliche Unzufriedenheit zu bändigen sei, hob sich Augusto B. Leguía – vom Partido Civil – 1919 vorsorglich durch einen Militärputsch in den Sattel der Regierung. Er verbannte seine Macht gefährdende Elitefamilien ins Exil und ließ den amtierenden Staatspräsidenten José Pardo y Barreda inhaftieren (vgl. Gilbert et al., 1982: 47f.). Um politisch unabhängig agieren zu können, gründete er 1920 seine eigene Partei namens Partido Democrático Reformista (PDR), deren Mitglieder Leguía selbst bestimmte (vgl. Guerra-Martinière, 1989: 247f.). Der Bevölkerungsmehrheit war es, aufgrund der niedrigen landesweiten Alphabetisierungsrate (Castellanisierungsrate) von gerade mal einem Drittel 1920 und dem geltenden Wahlverbot für Analphabetisierte bis 1979, nicht möglich sich staatspolitischen zu beteiligen75 (vgl. Astorga et al., 2004: 32). Seit den 1920er Jahren verstärkten die Intellektuellen des Landes, wie beispielsweise die Schriftsteller Luis Valcárcel und Gamaliel Churata76 , ihre Bemühungen zur Etablierung eines nationalen Bewusstseins und einer kulturellen Identität aller Bevölkerungsschichten (vgl. König, 1991: 17f.). Auch José C. Mariátegui setzte sich gegen die faktische Rechtlosigkeit der Indigenas ein und institutionalisierte seine Initiative 1928, als Mitbegründer der Partei Partido Socialista del Perú77 (vgl. Onken, 2013: 217). Staatspräsident Leguía griff die öffentliche Kritik formal in seinem neuen politischen Konzept Patria nueva78 auf und sprach gezielt indigene Dorfgemeinschaften an. Die staatliche Sección de Asuntos Indígenas79 begann zudem im September 1921 mit ihrer Arbeit (vgl. Aguirre u. Vila Flores, 2014: 275). Doch das Hauptaugenmerk des Regierungsprogramms galt ausländischen Investierenden und ferner auch einer wachsenden Mittelschicht (vgl. Guerra Martinière, 1989: 245–252). Zum Anwerben neuer Anhänger und Sympathisantinnen richtete die Regierung zusätzliche Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor ein. Gleichzeitig wurde, zur Verbesserung der Infrastruktur, ein obligatorischer Dienst zum nationalen Straßenbau und zur Instandhaltung der Verbindungsstraßen für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren80 eingeführt (vgl. Leguía, Ley N◦ 4113). Wirtschaftspolitisch sollten inländische Unternehmen verstärkten Zugang zum Binnenmarkt erhalten, um die Entwicklung der peruanischen Industrie voranzutreiben. Zuvor versuchten sich vor allem europäische Eingewanderte innerhalb der urbanen Wirtschaft zu etablieren und wählten als Einstieg die Selbständigkeit in verschiedene Industriezweigen81 (vgl. Thorp u. Bertram, 1978: 32). Die verarbei-
75 76 77 78 79 80 81
1950 lag die Alphabetisierungsrate bei 51% und 1970 bei 72% (bezogen auf Spanisch). Das Frauenwahlrecht wurde 1955 eingeführt (vgl. Astorga et al., 2004: 32). Pseudonym von Arturo Peralta Miranda. Nach dem Tod von Mariátegui 1930 umbenannt in Partido Comunista Peruano. Eigene Übersetzung: Neues Vaterland. Eigene Übersetzung: Verwaltungsabteilung für indigene Angelegenheiten. Je nach Alter der Männer mussten zwischen 6 und 12 Tagen pro Jahr abgeleistet werden. Deutsche gründeten Bierbrauereien, Personen aus Italien Nudelfabriken und Personen aus Großbritannien kleinere Maschinenbaufirmen oder auch Müllereien (vgl. Thorp u. Bertram, 1978: 32).
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Perus Transformationsprozesse im 20. Jahrhundert
tende Industrie wuchs vor allem im Textilbereich, was auf den Exportboom von Baumwolle zurückgeführt werden kann82 (vgl. Haferkamp et al., 1995: 50). Durch die globalen Folgen des Ersten Weltkriegs partizipierte Peru vom wirtschaftlich geschwächten Europa. In der Dekade 1910 bis 1920 konnte der Zuckerexport von 20% auf 42% mehr als verdoppelt werden (vgl. Thorp u. Bertram, 1978: 40). Das Kapital für den Erdöl- sowie den Bergbausektor floss ausschließlich aus dem Ausland; insbesondere aus den USA. Insgesamt stieg die Auslandsverschuldung zwischen 1919 und 1930 von 12 Millionen auf 124 Million US-Dollar an (vgl. Pereyra, 2012: 9). Angesichts der gezielten Unterdrückung der Opposition sowie einer nachträglichen Verfassungsänderung, die die unbestimmte Wiederwahl des Staatspräsidenten83 ermöglichte, ließ sich Leguía 1924 und 1929 ohne Gegenkandidaten wiederwählen (vgl. Leguía, Ley N◦ 5857). Doch die soziale Unzufriedenheit innerhalb der urbanen Bevölkerung wuchs und Staatspräsident Leguía musste zunehmend Militäreinheiten einsetzen, um die Straßenaufstände unterbinden zu können (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 74). Durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise zerfiel, mit den Exportmärkten in den USA und in Europa, das ökonomische Fundament Perus. Tabelle 2 zeigt die Export- und Importentwicklung im Zuge der weltweiten Depressionsphase84 . Jahr Export Import
1929 335,1 189,9
1930 236 140,3
1931 197,4 102,5
1932 178,5 76,1
1933 257 107,4
1934 305,1 171,3
1935 303,9 181,1
1936 335,8 200,5
1937 365,4 235,2
Tabelle 2: Außenhandel Perus 1929–1939 in Millionen Soles 1936 erreichten die Exportzahlen wieder den Stand von 1929 (vgl. Bardella, 1989: 283f.). Die dadurch steigende Arbeitslosigkeit trug zum Unmut der Bevölkerung bei. Ihrem vorbehaltlosen Rückhalt konnte sich General Luis Miguel Sánchez Cerro daher beim Putsch gegen Leguía 1930 sicher sein (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 775). Während seiner elfjährigen Regierungsphase, dem sogenannten Oncenio, war Leguía keine einheitliche Renovation gelungen. Vielmehr unterwarf er Peru einer schnellen wirtschaftlichen Modernisierung, die aber nur Teile der Bevölkerung in den ökonomischen Wandel einbezog und dabei die entstandenen sozialen Veränderungen ignorierte. Leguías sozioökonomische und machtpolitische Entwicklungsweichen sollten Peru im 20. Jahrhundert weiterhin begleiten.
82 83
84
Zwischen 1910 und 1925 stieg der Export von Baumwolle von 14% auf 31% des gesamten Exportvolumen Perus (vgl. Thorp u. Bertram, 1978: 40). Abschaffung durch die Verfassung von 1933 (Artikel 142). Im Original: No hay reelección presidencial inmediata. Esta pohibición no puede ser reformada ni derogada (Constitución Política del Perú, 29 de Marzo de 1933). Eigene Übersetzung: Es gibt keine sofortige Wiederwahl des Präsidenten. Dieses Verbot kann nicht reformiert oder aufgehoben werden. Eigene Darstellung nach Bardella, 1989: 283f.
1938 342,1 260,2
Perus wirtschaftlicher Wandel und politische Renovation
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Als Übergangspräsident von August 1930 bis März 1931 verstand General Sánchez Cerro es, der zunehmenden Radikalisierung der Unterschicht entgegenzuwirken; beispielsweise durch das Verteilen von Lebensmitteln in Limas wachsenden Elendsvierteln. Gleichzeitig ließ er Streiks und Aufstände rigoros militärisch unterbinden und die anführenden Personen von Streikbewegungen verhaften (vgl. v. Oertzen et al., 2004: 79). Die 1929 aus den Einzelgewerkschaften hervorgegangene Dachorganisation Confederación General de Trabajadores del Perú (CGTP), die sich selbst als Leitung aller proletarischen Kräfte im Land bezeichnete (vgl. Alexander u. Parker, 2007: 20), wurde 1930 von General Luis Miguel Sánchez Cerro als illegal erklärt. In den folgenden konfusen 17 Monaten wechselten sich fünf Regierungschefs ab, bis es 1931 zu Neuwahlen kam. Hier sah sich General Sánchez Cerro mit Víctor Raúl Haya de la Torre, dem Anführer des Partido Aprista Peruano (PAP, ehemals APRA), konfrontiert (vgl. Werz, 2010: 375f.). Um seinen Wahlsieg nicht zu gefährden, ließ Sánchez Cerro Wahlergebnisse in Departementen mit PAP-Mehrheit teilweise annullieren, wodurch er mit einer Stimmenmehrheit von 51% gewann (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 776). Aus Sicht der PAP handelte es sich um Wahlmanipulation, doch Proteste gegen die staatliche Korruption blieben ungehört. Daraufhin kam es 1932 im politischen Kerngebiet der PAP (nördliches Trujillo) zu einem Putschversuch, der allerdings missglückte. Annähernd 1000 Anhänger und Sympathisantinnen der PAP wurden von Regierungstruppen getötet (vgl. Bertram, 1991: 407f u. Pike, 1967: 265). Staatspräsident Sánchez Cerro verbot die PAP sowie den Partido Comunista Peruano (PCP) infolgedessen und verfolgte eine strenge Repressionspolitik gegen deren Mitglieder. Obwohl die PAP als Organisation enorm geschwächt wurde und fortan im Untergrund agieren musste, wurde ihr Fortbestehen durch die Loyalität der Mitglieder nicht in Frage gestellt. Im Rahmen einer Militärparade 1933 ermordete ein militanter PAP-Anhänger Staatspräsident Sánchez Cerro (vgl. Archivo Histórico El Comercio, 2013). Unter der Leitung des ehemaligen Staatspräsidenten85 General Óscar R. Benavides suchte die nachfolgende Übergangsregierung zunächst den Dialog mit den linken Parteien und entließ die Anführer aus dem Gefängnis. Als Haya de la Torre jedoch Neuwahlen forderte und General Benavides seine Macht bedroht sah, begann eine neue Phase der Unterdrückung der Apristen (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 776). Wirtschaftlich entspannte sich die Lage Perus seit 1933 wieder; auch durch die Exportklassiker Baumwolle und Zucker. Außerdem kam Peru der Zahlungsaufschub für Auslandskredite zugute. Für die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte im Hochland verbesserten sich die Arbeitsbedingungen auf den Haciendas, da viele
85
Benavides war nach einem Militärputsch bereits von 1914–1915 Übergangspräsident (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: Tabla 12.).
46
Perus Transformationsprozesse im 20. Jahrhundert
Großgrundbesitzende sukzessive das Enganche-System86 abschafften (vgl. Haferkamp et al., 1995: 50). Doch der ökonomisch konservativ eingestellten Regierung war nicht an binnenwirtschaftlichen Interventionen gelegen, sondern vielmehr an der Hegemonie der Elite. Forderungen der ruralen Unterschicht außerhalb der Haciendas, nach einem landwirtschaftlichen Strukturwandel, blieben ebenso ungehört, wie das Gesuch zur Einführung notwendiger Schutzzölle für landwirtschaftliche Produkte. Eher galten die Bemühungen der Regierung unter General Benavides der Einfluss- und Machtberaubung von Oppositionsparteien, wie der PAP und dem PCP (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 780f.). Dies ging so weit, dass die vollzogenen Wahlen 1936 von General Benavides annulliert wurden, weil zuvor der von der PAP unterstützte Kandidat die Stimmenmehrheit erhalten hatte. Die nächsten Neuwahlen wurden erst angesetzt, als sich die Elite sicher war einen mehrheitsfähigen Kandidaten gefunden zu haben. Der Bankier Manuel Prado y Ugarteche fand auch die geheime Zustimmung der Apristen. Zuvor gab er das Versprechen, dass er als künftiger Staatspräsident die PAP wieder offiziell zulasse, sollte ihn die Partei unterstütze. Als Prado y Ugarteche die Wahl mit 78% der Stimmen gewonnen hatte, entschärfte er den innenpolitischen Druck auf die PAP, wodurch es 1939 zu einer Annährung der einzelnen Lagern kam. Die PAP konnte nun wieder politisch tätig sein, Prado y Ugarteche verweigerte ihr aber die in Aussicht gestellte Wiederzulassung als offizielle Partei (vgl. ebd.: 781). Außenpolitisch brach Prado y Ugarteche die diplomatischen Beziehungen seines Amtsvorgängers, zum faschistischen Spanien und zum nationalsozialistischen Deutschland, ab (vgl. v. Oertzen, 1988: 73). Auch wirtschaftspolitisch schlug der Bankier einen intervenierenden Kurs ein und unterzog Grundnahrungsmittel einer staatlichen Preiskontrolle, um die Inlandspreise nach der Festsetzung des Wechselkurses stabil zu halten. Im Juni 1940 hatte die Banco Central de Reserva del Perú87 den Wechselkursschwankungen ein Ende gesetzt und 6,5 Soles pro US-Dollar fixiert. Um unabhängiger vom Auslandskapital werden zu können, verfolgte Staatspräsident Prado y Ugarteche eine importsubstituierende Industrialisierung (ISI) als Diversifizierungsstrategie (vgl. Neu u. Gieler, 2004: 336). Aus wirtschaftlichen Gründen verbündete sich das zunächst neutrale Peru 1942 mit den USA und ging Versorgungsverträge für Baumwolle, Kautschuk und Mineralien ein (vgl. Pastor, 2012: 14). Bedeutender jedoch als die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs in den Jahren 1941 und 1942, war für Peru der Grenzkonflikt im Amazonastiefland mit Ecuador. Infolge gewaltsamer Auseinandersetzungen um Territorialansprüche, musste Ecuador mehr als ein Drittel der Landesfläche im Cordillera del Condor-Gebiet an Peru abtreten (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 111).
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System der ruralen Zwangsarbeit nach Lohnvorschuss von 10–20%. Kost und Logie wurde auf den Gesamtlohn angerechnet. Meist blieb den Arbeitenden nur der Vorschuss (vgl. Blum, 2001:102). Eigene Übersetzung: Peruanische Zentralbank.
Perus wirtschaftlicher Wandel und politische Renovation
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Die euphorische Stimmung nach Ende des Zweiten Weltkriegs wirkte sich auch auf die Innenpolitik Perus aus. Bei den Parlamentswahlen 1945 gewann der einheitlich von den Vorgängerregierungen sowie der PAP unterstützte Kandidat; der Politiker, Anwalt und Schriftsteller José Luis Bustamente y Rivero. Doch die politische Harmonie sollte nicht lange andauern. Nach Unruhen der Arbeiterschaft kam es 1948 durch rechte Kräfte zu einem Putschversuch, der erneut zum Verbot der linken Parteien und der Gewerkschaften führte (vgl. Bertram, 1991: 427ff.). Staatspräsident Bustamente y Rivero ging als absolut gesetzestreuer und unkorrumpierbarer Politiker in die Geschichtsbücher ein. Dies brachte ihn zwischen die Forderungsfronten der Elite und der Unterschicht, wodurch er keinem Lager gerecht werden konnte. So unterstützte die Oligarchie den von General Manuel Odría angeführten Putsch, der die Feindschaft zwischen der PAP und dem Militär bis Mitte der 1950er Jahre verlängerte. Haya de la Torre hielt sich daraufhin bis 1954 in der kolumbianischen Botschaft auf (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 82). General Odría unterwarf Peru den alten machtpolitischen Strukturen, was neben der Unterdrückung der Opposition auch die wirtschaftliche Exportorientierung zur Folge hatte. Hierdurch verstärkte sich die Entwicklungskluft zwischen der industrialisierten Küstenregion und dem ruralen Hochland. Die Binnenwanderung in die urbanen Zentren nahm trotz Sprachbarrieren immer mehr zu. Laut Zensus der Jahre 1940 und 1961 entwickelte sich die Stadtbevölkerung landesweit von 2.197.133 (35,4%) auf 4.698.178 (47,4%) (vgl. INEI Censos Nacionales de Población y Vivienda 1940 u. 1961). Während der achtjährigen Regierungsphase, dem sogenannten Ochenio, verfolgte General Odría eine liberale Wirtschaftspolitik, ohne Importbeschränkungen und mit niedrigen Exportsteuern (vgl. Thorp u. Bertram, 1978: 201). Aufgrund seiner Repressionspolitik war er der einzige Kandidat bei den Neuwahlen 1950, die er mit 80% der Stimmen gewann (vgl. Cobas Corrales, 2013: 258f.). Die peruanische Wirtschaft profitierte durch den Boom nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Bruttoinlandsprodukt entwickelte sich zwischen 1955 und 1960 jährlich um durchschnittlich 4,5%, wobei der Anteil von Agrarprodukten stetig sank (vgl. Bardella, 1989: 387). Die jährliche Inflationsrate Perus lag zwischen 1951 und 1960 durchschnittlich bei 7,4% (vgl. Rojas, 1996: 32). In den 1950er Jahren erhöhte sich zudem der Konsumpreis-Index von 46,6 auf 89,0 (vgl. ebd.: 51)88 . Der Wechselkurs entwickelte sich zwischen 1948 und 1950 von S/. 9,03 auf S/. 15,43 pro US-Dollar (vgl. Portocarrero Maisch, 1986: 199 u. 243). Der Regierungsstil von General Odría, eine Mischung aus Diktatur und konservativem Populismus, wies Parallelen zu dem des zweimaligen argentinischen Staatspräsidenten Juan Perón89 auf. So erfolgten die sozialen Programme der Regierung, zur Unterstützung der Unterschicht, meist aus politischem Kalkül und dienten nicht zur effektiven Gleichstellung der einzelnen Bevölkerungsgruppen. Trotz der
88 89
In Lima stiegen die Lebenshaltungskosten zwischen 1948 und 1950 um 22,3% (vgl. Rojas, 1996: 51). Siehe ausführlich: Di Tella, 1983.
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Expansion der Fischmehlindustrie in der Küstenstadt Chimbote in den 1950er Jahren, konzentrierten sich staatliche Investitionen auf Lima (vgl. Haferkamp et al., 1995: 52). Nach einem Volksaufstand gegen die Regierung, in der südlichen Küstenstadt Arequipa Ende 1955, erhöhte sich der öffentlichen Druck aufs politische Handeln (vgl. Bertram, 1991: 437ff.). Bei den anstehenden Wahlen 1956 durften erstmals alphabetisierte Frauen mitwählen, wodurch sich die Zahl der Wahlberechtigten auf 1,6 Mio. verdoppelte und ca. 40% der Bevölkerung ausmachte (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 789). Unter dem Namen Movimiento Democrático Peruano subsummierten sich verschiedene Oppositionsbewegungen mit ihrem gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten Manuel Prado y Ugarteche, der die Wahl mit Unterstützung der PAP gewann. Die Partei durfte daraufhin wieder offiziell agieren, hatte durch die lange Zeit der Unterdrückung allerdings an ihrer radikalen Linksorientierung, zugunsten der Machtteilhabe, eingebüßt (vgl. Cotler, 1987: 294ff.). In seiner zweite Amtszeit versuchte Prado y Ugarteche die Staatsausgaben zu senken, indem er die Subventionen für Lebensmittel und Erdöl drastisch kürzte. Es kam zu Aufständen und Streiks, die der Staatspräsident indirekt mit seinen Vorhaben zur Verstaatlichung der Ölindustrie kommentierte. Aus der wachsenden Mittelschicht mobilisierten sich Ende der 1950er Jahre neue politische Organisationen. Neben der Alianza Nacional wurde auch das Movimiento Social Progresista gegründet. Die neuen Parteien verfolgten das Ziel einer politischen und sozialen Modernisierung, durch demokratische Reformen (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 159). Nicht außer Acht gelassen werden darf der politische Machtfaktor der katholischen Kirche. Zwar herrscht seit 1915 Religionsfreiheit (Ley N◦ 29635), doch laut der Volkszählung von 1940 betrug der Anteil an Menschen katholischen Glaubens innerhalb der peruanischen Bevölkerung 98,51% (vgl. Marzal, 1995: 363f.). Neben der religiösen Autorität strebte die katholische Kirche in den 1960er Jahre auch nach parteipolitischer Macht, doch die 1956 gegründete Partei namens Democracia Cristiana erreichte bei den Präsidentschaftswahlen 1962 lediglich 4% und kooperierte fortan in Wahlbündnissen. In der Zeit der zunehmenden Säkularisierung Perus, investierte die katholische Kirche mit Erfolg in die politische Elitenausbildung an der Pontificia Universidad Católica del Perú (PUCP)90 , die sich in dieser Periode zu einer der wichtigsten Universitäten Perus entwickelte (vgl. Mücke, 2008: 496). Der aussichtsreichste Kandidat, für einen Wahlsieg aufs Präsidentenamt 1962, war der Architekt und Politiker Fernando Belaúnde Terry; der Gründer der Partei Frente Nacional de Juventudes Democráticas (FNJD)91 . Im Andenhochland sprach er sich für eine Land- und Agrarreform aus, die eine Neuregelung der ungleichen Landverteilung vorsah. Mit Infrastrukturplänen außerhalb Limas sprach
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Eigene Übersetzung: Katholische Universität von Peru. Eigene Übersetzung: Nationale Front der demokratischen Jugend.
Perus wirtschaftlicher Wandel und politische Renovation
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er auch Teile der Mittelschicht an, die er so für sich gewinnen konnte (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 790). Doch bei den allgemeinen Wahlen konnten weder PAP-Führer Haya de la Torre, Altpräsident und Oligarchievertreter General Odría, oder Alianza Nacional-Gründer Belaúnde Terry ein mehrheitsfähiges Ergebnis erzielen. Haya de la Torre kam auf 32,978% der Stimmen, gefolgt von Belaúnde Terry mit 32,127% und General Odría mit 28,4% (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 194). Aufgrund der äußerst knappen Mehrheit für die PAP drängte das Militär auf eine Wahlannullierung, auf die sich Noch-Staatspräsident Prado y Ugarteche allerdings nicht einließ. Es kam zu einem Staatsstreich von General Ricardo Pérez Godoy, woraufhin der einstige Verteidigungsminister Nicolás Lindley López das Staatspräsidentenamt für einige Monate übernahm. Gleichzeitig war das Lindley-Familienmitglied auch in die Geschäftsleitung der Getränkefirma involviert. Noch im gleichen Jahr übergab er die Amtsgeschäfte an seinen neu gewählten Nachfolger Fernando Belaúnde Terry, der die Wahl 1963 mit 39,1% knapp vor Haya de la Torre von der PAP (34,4%) und General Odría (25,5%) gewonnen hatte (vgl. Jurado Nacional de Elecciones, 1963 u. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 86). Aufgrund der ähnlichen Sitzverteilung im Parlament, verbunden mit fehlendem Handlungsspielraum der Regierung, gestalteten sich nachhaltig strukturverbessernde Sozialreformen sehr schwierig (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 791). Während seiner Amtszeit musste Belaúnde Terry insgesamt 178 Ministerwechsel vornehmen (vgl. González Casanova, 2003: 402). Doch trotz der politischen Blockade der Regierung durch die Opposition, wurden zur landwirtschaftlichen Weiterentwicklung infrastrukturelle Maßnahmen im strukturschwachen Norden veranlasst. Zu nennen sind exemplarisch der Bau der Nationalstraße Ruta nacional PE-5N 92 und das Bewässerungsprojekt Ley N◦ 14971 am Fluss Chancay (Lambayeque) (vgl. Belaúnde Terry, Ley N◦ 14971, 1964). Während sich die Lage der landwirtschaftlichen Arbeiterschaft in der Küstenregion schrittweise verbesserte, nahm die rurale Renitenz im Andenhochland Anfang der 1960er Jahre immens zu. Die Campesinos begehrten gegen die ungleiche Landverteilung auf, weil es zunehmend schwieriger wurde den Lebensunterhalt mit dem eigenen Boden zu bestreiten. Über die Hälfte des nutzbaren Landes wurde 1961 durch Haciendas bewirtschaftet, was insgesamt 1,2% der Betriebe ausmachte. Demgegenüber standen die Campesinos, die zwar 85% der landwirtschaftlichen Einrichtungen darstellten, aber nur 4,2% Land bearbeiteten (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 83). Auf massiven Druck der Öffentlichkeit nach adäquater Landverteilung, und um die Bauernbewegung zu entschärfen, erließ Staatspräsident Belaúnde Terry 1964 das Agrargesetz Ley de Reforma Agraria. Doch durch die Verwässerung der Oligarchie-Lobby blieb das Gesetz ineffektiv und beinhaltete nur wenige Andenlatifundien, die gegen horrende Entschädigungssummen enteignete wurden. Zudem stellte die Regierung monetäre Mittel für den Wohnungsbau, das Bildungs- und das
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Auch Carretera Fernando Belaúnde Terry oder Carretera Marginal de la Selva Norte genannt.
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Gesundheitswesen bereit. Aber der partielle Modernismus Perus reichte nicht aus, um die strukturellen Unterschiede zwischen Sierra, Selva und Costa zu überwinden. Zunehmend wurden in Aufständen gipfelnde soziale Spannungen durch das Militär niedergeschlagen (vgl. Hudson, 1993: 48). Wirtschaftspolitisch sprach sich die peruanische Regierung für einen Schutz des Binnenmarktes und für höhere öffentliche Investitionen aus, die zunächst durch das Wachstum im Bergbau und in der Fischereibranche finanziert werden konnten. Doch zwischen 1963 und 1967 stiegt die Auslandsverschuldung von 120 Millionen auf 700 Mio. US-Dollar. Die Exportzahlen verringerten sich zudem von 10,5% im Jahr 1964 auf minus 13,72% ein Jahr später (vgl. Dávila Angulo, 2008: 16). Mit jährlichen 3,57% entwickelte sich das Bruttoinlandsprodukt langsamer als vor 1963. Bereits 1960 hatten die lateinamerikanischen Länder Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Chile, Ecuador, Mexiko, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela das gemeinsame Freihandelsabkommen Asociación Latinoamericana de Libre Comercio (ALALC)93 unterzeichnet, das bis 1972 den Abbau aller Handlungsbeschränkungen zwischen den Mitgliedsstaaten vorsah (vgl. Schmitter u. Haas, 1964: 1). Angesichts der dürftigen Infrastruktur verlagerte sich der Hauptanteil dieses Handels auf die Wasserwege (vgl. Wehner, 1965: 39). Infolge der Zahlungsbilanzprobleme erhöhte der Staatspräsident die Steuern, beschloss strikte Sparmaßnahmen und veranlasste letztlich 1967 eine Abwertung des peruanischen Sol um 44% (vgl. González Casanova, 2003: 405). Doch die wirtschaftlich negative Entwicklung Perus, einhergehend mit den regionalen und sozioökonomischen Gegensätzlichkeiten, war nicht der einzige Grund, warum Staatspräsident Belaúnde Terry 1968 per Militärputsch aus dem Amt enthoben wurden, wie es nachfolgend ebenso dazulegen gilt, wie die kommenden zwölf Jahre der Militärregierung(en). 1.2 Reformer und Modernisierer? Das Militär 1968–1980 Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit stolperte Staatspräsident Belaúnde Terry über sein Wahlversprechen von 1963. Nach Amtsantritt wollte er innerhalb von 90 Tagen eine vertragliche Einigung mit der nordamerikanischen Erdölfirma International Petroleum Company (IPC), über die strittige Nutzung der peruanischen Ölfelder von La Brea y Pariñas im nördlichen Talara, erzielen (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 219 u. Flores, 1970: 516). Trotz des öffentlichen Drucks erfolgte ein gemeinsames Abkommen erst 1968 und wurde zum politischen Desaster für Staatspräsident Belaúnde Terry (vgl. Maurer, 2011: 3f.). Studierende94 , Gewerkschaften und Intellektuelle kritisierten, verstärkt durch öffentliche Proteste, die starke Abhängigkeit der peruanischen Industrialisierung von ausländischem Kapital. Daher
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Siehe ausführlich: Milenky, 1973. Durch das Gesetz Ley N◦ 801 sind Frauen seit 1908 berechtigt an peruanischen Universitäten zu studieren (vgl. Valladares Chamorro, 2012: 106).
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wurde die Einigung von Talara medial als Nationalisierung der Erdölfelder gefeiert. Als kurz darauf jedoch bekannt wurde, dass Kompensationsleistungen für die Rückgabe des Rohstoffgebietes an den peruanischen Staat verheimlicht wurden und zudem ein Sonderpreis pro Barrel Öl für die USA vereinbart worden war, forderten Teile der Bevölkerung – nach Insurrektionen – den Rücktritt der Regierung (vgl. Henderson, 1973: 226f u. Maurer, 2011: 4). Dem Militär wurde so der Boden für einen weiteren Putsch im Oktober 1968 bereitet, woraufhin der gestürzte Staatspräsidenten ins argentinische Exil abgeschoben wurde. Während die Streitkräfte bei Belaúnde Terrys Amtsantritt 1963, oder auch bei den vorherigen Regierungseingriffen im 20. Jahrhundert, noch als Machtverhelfer der Oligarchie fungierten, erhoben die Militärvertreter nun erstmals einen Machtanspruch. Die zivile Elite hatte ihre entscheidenden Bündnispartnerschaften, auch in den Provinzen, inzwischen verloren. Dadurch setzte ein Wandel der geltenden Herrschafts- und Machtstrukturen ein und zugleich wurde eine politische Wende markiert (vgl. Klein, 1983: 18). Die neue linksnationalistische Militärregierung, unter General Juan Velasco Alvarado, verfolgte die politische Ambition endlich nötige Reformen umzusetzen, um die vorherrschenden sozialen Missstände aufzubrechen und nationale Sicherheit zu gewährleisten (vgl. Gott, 1970: 231ff. u. Cotler, 1994: 114ff.). Ferner galt bei den anstehenden Wahlen 1969 ein Sieg des APRA-Gründers Haya de la Torre als sicher, was das Militär durch die vorangegangene Blockadepolitik der PAP im Parlament, und wegen der konfliktgeladenen Vorgeschichte seit 193295 , mit der Revolution von oben verhindern wollte (vgl. Martínez 2011: 51). Die neue Militärjunta setzte die Verfassung von 1933 außer Kraft und vereinte von nun an Exekutive und Legislative (vgl. Béjar, 2005: 97). Als erste Amtshandlung überführte die neue Regierung die IPC-Ölfelder von La Brea y Pariñas in die nun staatlicherseits initiierte Erdölgesellschaft Petroperu (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 751). Die Telefon- und Stromgesellschaften, das Eisenbahnnetz sowie Bergbauunternehmen und Banken wurden gegen Entschädigungszahlungen ebenfalls nationalisiert (vgl. Clayton, 1999: 7). Die mit der Restrukturierung der Wirtschaft verbundene Verstaatlichung von ausländischem Kapital, resultierte keines Falls aus einer Ablehnung nicht-peruanischer Wirtschaftspartnerschaften. Ausländische Investorinnen und Investoren, die mit der Militärregierung kooperierten, konnten ohne Staatsinterventionen agieren (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 87). US-Präsident Richard Nixon reagierte pikiert auf die Entwicklungen in Peru und drohte mit dem Einstellen der Militärhilfen, sollten keine langfristigen Ausgleichsleistungen für die Verstaatlichungen erfolgen (vgl. Maurer, 2011: 4f.). Die US-Regierung hatte sich mit dem Military Assistance Program (MAP) von 1952 aktiv für die Ausbildung des peruanischen Militär (nach US-Vorbild) eingesetzt und versorgte Peru zudem mit Militärequipment (vgl. Pancake, 1969: 196). Bereits unter
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1932 starben bei einem mißglückten Putschversuch der APRA ca. 50 Militärs, wodurch eine 50-jährige Feindschaft begann (vgl. Martínez 2011: 51).
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Staatspräsident General Manuel A. Odriá wurde 1950 das Centro de Altos Estudios Militares (CAEM)96 in Lima gegründet, um die akademische Professionalisierung der Armee voranzutreiben (vgl. Young-Hyun, 2005: 43). Die Offizierslaufbahn durchlief Staatspräsident General Velasco Alvarado an der Militärschule der Küstenregion Chorrillos (vgl. Sánchez, 2002: 103) und gehörte als Mestize seinerzeit zu den führenden Streitkräften des Landes. Er repräsentierte eine neue soziale Schicht von militärischen Karrieristen, die Peru strategisch nachhaltig verändern wollten (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 88). Dazu gehörte außenpolitisch die Loslösung aus der Vormundschaft der USA, weswegen General Velasco Alvarado zunächst den Weg für Waffengeschäfte mit der Sowjetunion ebnete (vgl. Walter, 2010: 234f.). Außerdem kaufte Peru fortan Kampfjets in Frankreich und technisches Rüstzeug in der Bundesrepublik sowie in Großbritannien (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 793). Ende der 1960er Jahre setzte ein brisanter Modifizierungsprozess des bilateralen Verhältnisses zwischen den USA und Peru ein. Der Konflikt weitete sich schließlich auf eine von Peru beanspruchte 200 Seemeilen Fischereischutzzone im Pazifik aus und verstärkte die ohnehin angespannten diplomatischen Beziehungen der Länder (vgl. Butterworth, 1976: 344ff.)97 . Peru engagierte sich 1969 gemeinsam mit Bolivien, Ecuador und Kolumbien für die Gründung der Andengemeinschaft Comunidad Andina de Naciones (CAN), um die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit der Länder zu fördern. Außerdem nahm Peru diplomatische Beziehungen zu Kuba und einzelnen Ostblockstaaten auf (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 796). Innenpolitisch brachte General Velasco Alvarado ein radikales Reformprogramm auf den Weg und setze somit konsequent um, woran die Vorgängerregierungen gescheitert waren. Den Anfang bildete die Agrarreform von 1969 (vgl. Velasco Alvarado, Ley N◦ 17716), die eine kategorische Neustrukturierung der landwirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse, bei entschädigender Verstaatlichung von Großgrundbesitz, vorsah98 (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 252ff.). Nach der Auflösung des Latifundienwesens bildeten die neuen Genossenschaftstypen, die Cooperativas agrarias de producción (CAP) und die Sociedades agrícolas de interés social (SAIS), das Fundament der Landwirtschaft. Die Agrargüter der Küstenregion waren fortan gemeinsames Eigentum der Herstellungsgenossenschaft CAP, die ihre ruralen Arbeiterinnen und Arbeiter fest einstellte. Die zahlreichen Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter, die im Reisanbau ca. 70% der Arbeitskräfte ausmachten, konnten von dieser Neuregelung jedoch nicht profitieren (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 89). In Sierra und Selva wurden die ehemaligen Ha-
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Eigene Übersetzung: Zentrum für höhere Studien der Armee. Seit 1997: Centro de Altos Estudios Nacionales (CAEN). Erst 1973 konnte mit einer 12 Seemeilen Hoheitszone und einer 188 Seemeilen Wirtschaftszone eine Einigung erzielt werden (vgl. Butterworth, 1976: 344ff.). Siehe ausführlich: Matos Mar u. Mejía, 1980.
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ciendas unter dem Motto „la tierra a quien la trabaja“99 (Velasco Alvarado, 1969: 3 u. Ojeda, 2003: 4) auf landwirtschaftliche Kooperativen (SAIS) sowie die dortigen Campesino-Gemeinschaften aufgeteilt. Mit dem Besitzwechsel von insgesamt 11 Millionen Hektar Land (vgl. Lüpertz, 1979: 44) beabsichtigte die Miltärregierung mehr Produktivität, und damit verbunden auch eine Senkung der Lebensmittelimporte sowie der Devisenausfuhr. Zudem erhoffte sich General Velasco Alvarado eine verminderte Landflucht, einhergehend mit einer entspannteren Konstellation in den urbanen Slums (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 794f.). Die Landreform der peruanischen Militärregierung stellte – neben der von Kuba 1959100 – eine der größten und radikalsten räumlichen Neuverteilung dar. Ihre konsequente Umsetzung sicherte der Militärregierung politischer Seits den Rückhalt der Subalternen, des Gewerkschaftsdachverbands CGTP und sogar des PCP. Der Widerstand der Hacienda-Großgrundbesitzenden wurde juristisch direkt auf Militärebene verfolgt und verdeutlicht den Wechsel der geltenden Machtstrukturen. Die neue Militärregierung strebte, entgegen der Interessen traditioneller Machtgruppen im Peru des laufenden 20. Jahrhunderts, vor allem ein im Grunde APRA-originäres Ziel an, sprich die fundamentale Neugestaltung der Gesellschaftsstruktur. Hinsichtlich des ökonomischen Nationalismus konzentrierte sich die Militärjunta daher auf das Industriegesetz (Decreto-Ley 18350) sowie das Betriebsarbeitergesetz (Ley de Comunidad Industrial 18384) von 1970 (vgl. Young-Hyun, 2005: 161 u. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 256). Unter dem Motto „Una industria más nacionalista y más humana para el bienestar de todos los peruanos101 “ intendierte General Velasco Alvarado eine Senkung der finanziellen Auslandsabhängigkeit, wodurch sich die peruanische Industrie fortan auf Kernbereiche konzentrierte. Langfristig sollte der nationale Kapitalanteil der in Peru ansässigen Unternehmen 51% oder mehr betragen. Mit der Gründung des staatlichen Vermarktungsunternehmens für Fischmehl und Fischöl Empresa Pública de Comercialización de Harina y Aceite de Pescado (EPCHAP) 1970, monopolisierte die Militärregierung die Distribution besagter Branche. Der angeschlossenen staatlichen Handelsgesellschaft EPCHAP oblag außerdem das Exportmonopol von Baumwolle und Kaffee. Durch den Wegfall der internen Konkurrenz sollten Perus Preise stabil gehalten werden. Zudem konnten verschiedene Produktgattungen auf dem Weltmarkt miteinander in Beziehung gesetzt werden, um Preise je nach Nachfragesituation neu auszuhandeln (vgl. Banco Central de Reserva del Peru, 1974: 106ff.). In Anlehnung an intermediäre Strukturen gründete die Militärjunta 1971 die staatliche Institution Sistema Nacional de Apoyo a la Movilización Social102 (SI-
99 Eigene Übersetzung: Das Land gehört dem, der es bearbeitet. 100 Siehe ausführlich: Pino Santos, 1999. 101 Eigene Übersetzung: Eine nationalistischere und menschlichere Industrie für das Wohlergehen aller Peruanerinnen und Peruaner (Überschrift Decreto-Ley 18350). 102 Eigene Übersetzung: Nationales System zur Unterstützung der sozialen Mobilisierung.
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NAMOS). Diese faktisch als Partei arbeitende Behörde fungierte als Bindeglied zwischen der Regierung und weiten Teilen der Bevölkerung, wodurch eine soziale Basis an Unterstützenden für die Militärjunta – um Staatspräsident Velasco Alvarado – mobilisiert werden konnte. Im Gegenzug stellte die Regierung beträchtliche Mittel und Personal zur Verfügung, um nachzuholen was Vorgängerregierungen versäumt hatten. Einige Unterorganisationen von SINAMOS agierten jedoch zunehmend eigenmächtig und schließlich sogar regimekritisch, woraufhin jene Einrichtungen polizeilich geschlossen wurden (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 796 u. v. Oertzen u. Goedeking, 2004). Zur Minderung der Diskrepanz im Bildungsniveau innerhalb der Bevölkerung103 unterzog die Militärjunta Peru 1972 einer profunden Bildungsreform (vgl. Velasco Alvarado, Ley 19326). Die Standardisierung des Schulsystems sah eine Auflösung der bisherigen Schulformen vor, um in erster Linie die Anschlussfähigkeit in den Beruf zu erreichen (vgl. Sánchez Moreno Izaguirre, 1998: 11). Nach einer neun-jährigen Basisausbildung (Educación Básica) erfolgte die theoretische und praktische Berufsbildung an einer der Escuelas Superiores de Educación Profesional (ESEP). Mit dem ESEP-Abschluss erlangten die Absolvierenden auch eine Hochschulzugangsberechtigung (vgl. Schultz, 1988: 161). Zur qualifizierten Erhöhung der Bildungschancen innerhalb der ruralen Bevölkerung, sah die Reform zudem den Ausbau von gebührenfreien Schulen in abgeschiedenen Landesteilen, sowie die dortige Wissensvermittlung auf Spanisch und Quechua, vor (vgl. Chávez García, 2006: 84 u. Hornberger, 1988: 22ff.)104 . Das kollektivistische Reformprogramm der Regierung von General Velasco Alvarado wirkte sich zunächst positiv auf die Entwicklung der Löhne und Gehälter aus. In Abbildung 2 spiegeln sich die staatlichen Subventionen für Lebensmittel bis 1973 in den niedrigen Preissteigerungen wider (eigene Darstellung nach DESCO, 1976. Index: 1968 = 100). Doch das Jahr der Ölkrise markierte zugleich den Niedergang des Staatspräsidenten. In Folge einer Lungenembolie musste sich General Velasco Alvarado Anfang 1973 das rechte Bein amputieren lassen. Seine Amtsgeschäfte übergab er trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung nur für einen Monat an den Vorsitzenden des Ministerrates – Edgardo Mercado Jarrín – (vgl. caretas.pe, 2012). Machtangriffe der Marine verhallten am uneingeschränkten Rückhalt im Heer, der General Velasco Alvarado zunächst noch seine Stellung als Staatspräsident sicherte (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 797). Der wachsende Staatshaushalt musste, durch die sinkenden Exporteinnahmen, weitestgehend in Form von Auslandskrediten gegenfinanziert werden (vgl. Haferkamp et al., 1995: 54). Wirtschaftspolitisch strebte die Militärjunta „ni el comunismo ni el capitalismo“ (Sánchez, 2002: 206); sprich ein gemischtes Wirt-
103 Insgesamt ging nur jedes dritte Kind zur Primärschule. Bildung war bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus der Elite des Landes vorbehalten (vgl. Balarin, 2008: 282). 104 Während Anfang der 1970er Jahre 90% der Kinder aus urbanen Regionen Perus zur Primärschule gingen, waren es in ruralen Gebieten nur 63%, allerdings lag die Abbruchquote insgesamt bei 60% (vgl. Oelsner u. Richter, 2015: 256 u. Balarin, 2008: 283f.).
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Abbildung 2: Entwicklungen der Preise, Löhne und Gehälter während der ersten Phase der Militärregierung
schaftssystem aus einem starken staatlichen Sektor, Privatunternehmen und SolidarGenossenschaften, also weder Kommunismus noch Kapitalismus. Dafür bediente sich die Militärregierung dem jugoslawischen Modell der Arbeitsselbstverwaltung, das eine Beteiligung der Angestellten an der Unternehmensführung sowie ferner eine sukzessive Steigerung ihrer Aktienanteile auf 50% vorsah (vgl. Béjar, 2005: 98). Wegen der Verteuerung des Erdöls durch die Organization of the Petroleum Exporting Countries (OPEC), musste Peru – trotz der eigenen Rohstoffvorkommen – Erdöl importieren, um den Inlandsbedarf decken zu können. Mit 1,43 Milliarden US-Dollar, und somit 33% des Exportvolumens, hatte die Auslandsverschuldung 1973 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht105 (vgl. Béjar, 2005: 100 u. Fitzgerald, 1976: 71). Begleitet wurden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten von der angestrengten außenpolitischen Lage mit Chile. Mit der dortigen Machtübernahme der Militärjunta um General Augusto Pinochet, am 11. September 1973, sah sich die peruanische Regierung im Zugzwang und leitete einen drastischen Aufrüstungsprozess ein (vgl. Sánchez, 2002: 96). Wegen der unterschiedlichen Führungsstile der Militärregierungen in den Nachbarländern Chile, Bolivien, Brasilien und Ecuador sah sich Staatspräsident Velasco Alvarado kontroversen Auseinandersetzungen, über die peruanische Regierungsmanier des Militärs, ausgesetzt (vgl. Béjar, 2005: 100). Peru wurde im Zuge dieser politischen Veränderungen völlig unbeabsichtigt zum Schutzwall der Linken innerhalb Südamerikas.
105 1969 lag die Auslandsverschuldung bei 875 Millionen US-Dollar, also 16% des Exportvolumens (vgl. Fitzgerald, 1976: 71).
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Am 28. Juli 1974, dem 153. Jahrestages der Unabhängigkeit Perus, verkündete Staatspräsident Velasco Alvarado das nationale Entwicklungsmodell „Plan Inca“. Hinter dieser eigens bezeichneten peruanischen Revolution standen zu diesem Zeitpunkt einheitlich alle militärischen Waffengattungen (vgl. McClintock, 1983: 280). Die Betonung der toten Helden zielte, wie die enthaltenen Reformen und Maßnahmen, auf ein kulturell einheitliches, präspanisches Peru ab, wobei Velasco Alvarados Fokus im nationalen Diskurs nicht auf der Berücksichtigung indigener Kulturen lag. Vielmehr ging es ihm um die soziale Legitimation der Regierung. Nach der Machtusurpation des Militärs war eine politische Partizipation der Bevölkerung generell nicht mehr vorgesehen. Entscheidend für die erfolgreiche Umsetzung des nationalen Entwicklungsplans war zu diesem Zeitpunkt die Zentralisierung der Machtstrukturen. Inhaltlich strebte die Militärjunta integrative Sozialstrukturmaßnahmen an, wie beispielsweise Verbesserungen im öffentlichen Gesundheitswesen, ein umfangreiches Alphabetisierungsprogramm (Castellanisierung bzw. bilinguale Alphabetisierung) sowie die Anerkennung von Quechua als Amtssprache. Dabei erklärte der Staatspräsident beharrlich die Unabdingbarkeit der peruanischen Identität, unter dem Motto „Wir sind alle Mestizen“ (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 90 u. Robles Rivas, 1972: 231f.). General Velasco Alvarado repräsentierte als Mestize perfekt die heranwachsende Mittelschicht, die sich im nationalen Identifizierungsprozess zwar wiederfinden konnte, jedoch insgesamt eher antimilitaristisch eingestellt war. Nicht mitgedacht wurden bei dieser (neuen) peruanischen Identität die weiße Elite, die Afro-Amerikanerinnen/Afro-Amerikaner oder auch die asiatischen Einwanderinnen und Einwanderer. Verbunden mit der steigenden Inflation, stiegen auch die Unruhen in der Bevölkerung. Zwei Tage vor den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Unabhängigkeit Perus, hatte die Militätjunta die führenden Zeitungen des Landes in Staatsbesitz überführt (Decreto-Ley No 20681). Der Enteignungsbescheid bedurfte der persönlichen Unterzeichnung der Eigentümerin oder des Eigentümers. Im Fall der Tageszeitung El Comercio übernahm dies Fernando MiróQuesada Bahamonde, der zur Gründerfamilie Miró-Quesada zählte und als General der Luftwaffe zu dieser Zeit das Amt des Gesundheitsministers in Velasco Alvarados Militärregierung inne hatte. Formal wurde die Tageszeitung Arbeiterschaft- und Landwirtschaftsvereinigungen übereignet, faktisch fungierte El Comercio fortan jedoch als Sprachrohr der Regierung, wodurch eine regimekritische Berichterstattung der Vergangenheit angehörte (vgl. Young-Hyun, 2005: 184ff.). Gleichzeitig nutzte die Militärjunta die Kontrolle der Medien aus, um staatliche Propaganda zu betreiben und anti-imperialistische Rhetorik zu verbreiten106 . Aufwendige Waffengeschäfte, verbunden mit der Umsetzung der „Plan Inca“Maßnahmen und dem Rückgang der Exporteinnahmen um 14%, führten 1975 zu einem Handelsdefizit und schließlich auch zu Versorgungsengpässen (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 797). General Velasco Alvarado geriet politisch allmählich
106 Siehe ausführlich: Rospigliosi, 2000.
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ins Wanken. Innerhalb der Militärjunta machte sich zunehmend die fehlende Parteistruktur bemerkbar; sprich ein gemeinsamer Konsens schien aussichtslos. Nach einem Polizeistreik, verbunden mit Plünderungen in Lima, formierten sich rechte Organisationen sowie die PAP, um die regimekritische Stimmung zu schüren (vgl. Béjar, 2005: 101). Aufgrund der außenpolitisch schwachen Position Perus, und der dargelegten wirtschaftlichen Probleme, wurde Velasco Alvarado im August 1975 aus den eigenen Reihen zum Rücktritt gezwungen (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 91f.). Premierminister – und jüngst auch Oberkommandierender der peruanischen Streitkräfte – General Francisco Morales Bermúdez leitete den militärinternen Putsch und wurde unmittelbar von der neuen Militärjunta zum Staatspräsidenten Perus ernannt (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 266f.). Der gesundheitlich angeschlagene, und aus dem Amt gedrängte, Velasco Alvarado erkannte den Machtwechsel kampflos an. Er starb 1977 im Alter von 67 Jahren (vgl. McClintock, 1983: 282). In der zweiten Phase der Militärregierung von 1975 bis 1980 erfolgte eine politische Rechtswende. Entgegen seiner öffentlichen Behauptungen lag es nicht im Interesse von General Morales Bermúdez, die von der vorangegangenen Regierung auf den Weg gebrachten Reformen weiterhin zu lancieren. Vielmehr unterzog er Peru einem drastischen Sparkurs, der Subventionskürzungen für Lebensmittel und Benzin, den Abbau des staatlichen Sektors und letztlich eine Währungsabwertung des Sol vorsah (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 797f.). Ausländische Geldinstitute forderten die Einwilligung des Internationalen Währungsfonds (IWF) für weitere Kreditzahlungen. Perus wirtschaftliche Entwicklung wurde daraufhin an Auflagen des IWFs geknüpft, wie beispielsweise Importrestriktionen, oder massive Kürzungen des Staatshaushaltet. Einzig der Etat für das peruanische Militär blieb von den Sparmaßnahmen unberührt (vgl. Haferkamp et al., 1995: 54). Ausgehend von 1973 als Basisjahr (Index: 1973 = 100) entwickelten sich die Preise in Lima bis 1977 auf den Indexwert 266, bevor sie im September 1979 auf 78 sanken. Zwischen 1973 und 1979 verringerten sich die Löhne zum Teil um über 50%; im Öffentlichen Dienst sogar um 60% (vgl. Dirmoser et al., 1981: 337). Fleisch war schon längst zum Luxusartikel aufgestiegen, doch auch Milch wurde nahezu unerschwinglich. Eigentlich für die Aufzucht junger Hühner gedacht, diente das Tierfutter Nicovita den städtischen Slumbewohnenden als Nahrungsmittel (vgl. Reid, 1985: 67). Im Einzugsgebiet der Hauptstadt spiegelte sich die desaströse Wirtschaftslage im Bevölkerungswachstum wider. Lag der Wert im Zeitraum 1940 bis 1971 noch bei 5,3%, sank er auf 3,8% in den Jahren von 1972 bis 1981 (vgl. Haferkamp et al., 1995: 54). 1978 stellte die Regierung alle SINAMOS-Maßnahmen ein und löste zudem die Unterorganisationen auf (vgl. Sánchez, 2002: 96). Zeitgleich berief Staatspräsident General Morales Bermúdez den Ökonom Javier Silva Ruete als Wirtschaftsund Finanzminister in sein Kabinett, um gezielte Maßnahmen gegen die hohen öffentlichen Ausgaben und die enorme Auslandsverschuldung einzuleiten. Silva Ruete läutete, mit seinem neoliberalen Exportmodell, das Ende der Importsubstitution ein und konzentrierte sich auf Rohstoffe und sogenannte nicht-traditionelle Pro-
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dukte, z.B. aus der Textilindustrie. So profitierte Peru zunächst von den steigenden Weltmarktpreisen und konnte einen Teil der Auslandsschulden frühzeitig begleichen (vgl. Scheetz, 1986: 143 u. Paredres u. Sachs, 1991: 138). Doch die finanzielle Entlastung diffundierte nicht innerhalb der verschiedenen Gesellschaftsschichten. Die Reallöhne beliefen sich 1978 bei 53% des Wertes von 1973 und 1979 bei noch lediglich 49% (vgl. v. Oertzen et al., 1980: 324). Die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung rief gleichermaßen Studierende und Slumbewohnende der Städte, sowie Bäuerinnen/Bauern und Marktfrauen der Provinzen zu Protesten auf die Straße. Die unter General Velasco Alvarado gewachsenen mobilisierenden Organisationsstrukturen versuchte Staatspräsident General Morales Bermúdez aufzuweichen. Kritikerinnen und Kritikern drohte die Verhaftung oder die systematische Unterdrückung, wie beispielsweise beim Verbot linker Zeitschriften, oder der Inhaftierung von Gewerkschaftsführungen. Den Wendepunkt der Repressionspolitik bildete 1977 ein durch den Gewerkschaftsdachverband CGTP ausgerufener Generalstreik, bei dem die Militärjunta mit entschiedener Härte gegen die Demonstrierenden vorgehen ließ und dabei auch den Tod von Kindern und unbeteiligten Personen in Kauf nahm (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 93). Durch den Kampf wurde der Widerstandsbewegung ein politischer Stellenwert verliehen, der zugleich den Weg zurück zur Demokratie ebnete. Mit der zunehmenden Radikalisierung der Bevölkerung, sah Staatspräsident General Morales Bermúdez die Militärjunta inhaltlich immer weiter auseinanderdriften. Dadurch fühlte er sich gezwungen, den politischen Rückzug des Militärs einzuläuten. Sukzessive sollten die Rahmenbedingungen für eine zivile Regierung geschaffen werden. Dafür ließ die Militärjunta 1978 zunächst Wahlen für eine konstituierende Versammlung zu, die unter der gemeinsamen Leitung des PAP-Führers Haya de la Torre und dem Vorsitzenden des Partido Popular Cristiano (PPC) Luis Bedoya stattfanden. Die PAP erhielt 37 der 100 Sitze und wurde somit stärkstes Bündnis, vor dem PPC mit 25 Sitzen (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 273). Die konstituierende Versammlung erarbeitete einen Verfassungsentwurf, der die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, ein generelles Wahlrecht ab 18 Jahren – auch für nicht alphabetisierte Personen – sowie die nach französischem Vorbild übernommene Stichwahloption vorsah (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 799). Die indigenen Dorfgemeinschaften erhielten einen legalen Status als juristische Personen. Zudem wurde in Artikel 163 der unveräußerliche Landbesitz von Indigenen anerkannt (Constitución para la República del Perú, 1979: Capítulo VIII, Artículo 163). Zum Niedergang der Militärregierungen trug letztlich vor allem der mangelnde Erfolg der Wirtschaftsreformen bei. Inländische Investierende waren, aufgrund der vorgenommenen Verstaatlichungen, verunsichert, wodurch das Voranschreiten der Industrialisierung Perus beeinträchtigt wurde. So bestand die Abhängigkeit vom Auslandskapital weiter fort. Außerdem verlor Velasco Alvarado durch seine Repressionspolitik gegenüber den Medien, Gewerkschaften und linken Parteien an Akzeptanz, sowie ferner auch an Unterstützung innerhalb der Bevölkerung und im
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Militär. Auch der konservativere Kurs, während der zweiten Phase der Militärregierung, konnte dem Regierungsanspruch des Militärs nicht gerecht werden und läutete die Rückkehr in die Kasernen ein. Obwohl das Experiment einer reformorientierten Militärregierung letztlich scheiterte, hatte sich, durch die veränderten ruralen Abhängigkeits- und schwindenden oligarchischen Machtverhältnisse, ein gesellschaftlicher Strukturwandel vollzogen. Das Aus der Großgrundbesitzenden, als zentrale lokalpolitische Akteurinnen und Akteure der Anden, trug ebenso zur Neuerung des politischen Systems bei, wie der praktizierte Korporatismus und die Repressalien gegen Parteien. Auch nach den Militärregierungen kämpfte Peru, auf dem Weg zur Demokratie, weiterhin mit politisch motivierter Gewalt innerhalb der Bevölkerung. Die Guerillaorganisationen Sendero Luminoso (SL) und Movimiento Revolucionario de Túpac Amaru (MRTA), versetzten Peru durch Terroraktionen in der folgenden Dekade in einen Bürgerkriegszustand, worauf nachfolgend ausfühlich einzugehen sein wird. 1.3 Guerillakampf und Demokratisierung der 1980er Jahre Die politischen Apparate Perus standen, durch das während der Militärregierungen geltende Parteienverbot, Anfang der 1980er Jahre nahezu still. Auch aus den politischen Ersatzorganisationen formierte sich, angesichts der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz, keine Massenpartei. So traten bei den allgemeinen Wahlen im Mai 1980 neben der PAP, und dem ebenfalls in der konstituierenden Versammlung vertretenen PPC, auch die 1956 in Acción Popular (AP) umbenannte ehemalige Regierungspartei Frente Nacional de Juventudes Democráticas (FNJD) an. Die Linke schaffte es im kurzen Wahlkampf nicht, sich optimal aufzustellen und verlor sich in fünf kleinen Parteien (vgl. Tuesta Soldevilla, 2001: 595ff.). Dem Spitzenkandidat der PAP, Armando Villanueva del Campo, gelang es nicht die Früchte der Arbeit des 1979 verstorbenen Parteigründers Haya de la Torre zu ernten und an dessen Popularität anzuknüpfen. Nach dem politischen Zwangsende durch General Velasco Alvarado 1968, trat der ehemalige Staatspräsident Fernando Belaúnde Terry erneut für seine Partei AP an. Sie war nicht Teil der konstituierenden Versammlung und hatte sich zuvor auch nicht am (Re-)Demokratisierungsprozess Perus, respektive am neuen Verfassungsentwurf, beteiligt (vgl. Silva Sernaqué, 2002: 218f.). Im ersten Wahlgang konnte Belaúnde Terry 44,9% der Stimme vereinen und zog im Juli 1980, nach zwölf Jahren Regierungszwangspause, wieder in den Präsidentenpalast ein (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 281). In Mitten einer stark konservativ orientierten Regierung änderte er den Kurs, baute die von der Vorgängerregierung eingeführten Sozialreformen sukzessive wieder ab und reprivatisierte die peruanischen Medienanstalten sowie einige staatliche Unternehmen (vgl. Dirmoser, 1986: 259). Perus neuer Premier- und Finanzminister – Manuel Ulloa Elías – verfolgte die 1978 von Javier Silva Ruete eingeleitete, eher neoliberale und stark exportorientierte Wirtschaftspolitik weiter (vgl. Congreso de la República, o.J.: 3). Die Regierung liberalisierte den Außenhandel, nahm Subventionskürzungen bei Grundnahrungsmitteln und Steuererhöhungen auf Benzin vor. Die Inflati-
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onsrate stieg zwischen 1980 und 1983 von 60,8% auf 125,1% (vgl. Figueroa, 1995: 22). Zugleich hatte das durchschnittliche Monatseinkommen 1984, mit 882 USDollar, einen südamerikanischen Tiefstand erreicht (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 800). Sinkende Weltmarktpreise, vor allem für Rohstoffe, setzten der Exportnation stark zu. Begleitende Maßnahmen, wie die Einschränkung der Nachfrage, oder auch die sukzessive Abwertung des Sol – um ferner den Wechselkurs zum US-Dollar zu konsolidieren – sollten der steigenden Inflationsrate entgegenwirken (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 285). Doch diese Wirtschaftsinstrumente führten die Regierung in eine Sackgasse aus Verschuldung, Inflation und Stagnation. Um den Staatshaushalt auszugleichen erhöhte die Regierung die Geldmenge und nahm verstärkt Kredite auf, wodurch sich die Auslandsverschuldung in den Jahren 1982 und 1984 von 11,34 Milliarden auf 13,3 Milliarden US-Dollar vergrößerte (Banco Central de Reserva del Perú, 1984: 56, Cuardo 29). Im Malwinen-Krieg, zwischen Argentinien und Großbritannien 1982, unterstütze Peru die Haltung des südamerikanischen Wirtschaftspartners107 . Zugleich distanzierte sich die peruanische Regierung von Margaret Thatchers angeordneten U-Boot-Angriff auf das argentinische Schiff General Belgrano, der 321 Marinesoldaten das Leben kostete (vgl. Kleiboer, 1998: 128f u. Middlebrook, 2003: 115). Belaúnde Terry engagierte sich hier als Konfliktlöser und Mediator und forderte, neben den USA, einen schnellen Waffenstillstand sowie den Rückzug beider Truppen (vgl. Sullivan, 1984: 168f.). Fernab dieser Diplomatie verschärfte die innenpolitische Zerrissenheit im Kabinett, die gelebte Machtlosigkeit gegenüber einer funktionierenden Krisenbewältigung. Hinzu kamen verstärkt personelle Umbesetzungen, die die politische Tatkraft zusätzlich hemmten. Premier- und Finanzminister Manuel Ulloa Elías, der in eine Korruptionsaffäre verwickelt war, trat Ende 1982 zurück (vgl. Congreso de la República, o.J.). Offiziell schied er aufgrund der Zahlungsbilanzprobleme aus der Regierung aus, nachdem der IWF die Kontrolle eines Stabilisierungsprogramms übernommen hatte (vgl. Banco Central de Reserva del Perú, 1991: 135 u. Wachendorfer, 1985: 298). Der Versuch einer Integration der indigenen Bevölkerung unter Staatspräsident General Velasco Alvarado, wurde von Amtsinhaber Belaúnde Terry nicht weiter verfolgt. Er vertrat eine marktorientierte Politik mit freier Konkurrenz, die die Bevölkerung des Andenhochlands gleichsam außer Acht ließ. Dadurch bestand der, seit der spanischen Kolonialzeit vorherrschende, Zentralismus auch in den 1980er Jahren weiter fort. Die indigene Bevölkerung der Sierra und der Selva war, nach dem Ende der SINAMOS-Maßnahmen, gänzlich auf sich gestellt und erhielt keine politische, wirtschaftliche oder soziale Aufmerksamkeit aus Lima (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 99). Parteien und Gewerkschaften konzentrierten ihre Aktivi-
107 Peru und Argentinien waren 1980 Mitbegründungsstaaten der ALALC-Nachfolgeorganisation Asociación Latinoamericana de Integración (vgl. Homepage ALADI).
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Abbildung 3: Saldo der Nahrungsmittelimporte während der Regierung von Belaúnde Terry
täten auf die Hauptstadt sowie die Küstenregion, was sich erst mit den Regionalund Kommunalwahlen 1983 ändern sollte (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 291). Aufgrund fehlender Programme zur Förderung des NahrungsmittelBinnenmarktes, stiegen die Aufwendungen für Lebensmittelimporte wieder stark an, wie in Abbildung 3 abgelesen werden kann (eigene Darstellung nach Lezama Coca, 2007: 20.). Der nationale Anbau fokussierte sich auf Industrieprodukte, wie beispielsweise Baumwolle oder Zucker, statt auf benötigten Weizen, der nur sehr vereinzelt in Peru angebaut wurde (vgl. v. Oertzen, 1983: 265). Die erheblichen sozialen Diskrepanzen im Gesellschaftsgefüge, einhergehend mit dem demonstrierten Unvermögen der Regierung, begünstigte seit Anfang der 1980er Jahre den Machtgewinn der Guerillagruppe Partido Comunista del Perú por el Sendero Luminoso de José Carlos Mariátegui108 (SL). Die Ende der 1960er Jahre als Partei gegründete politische Studierendenbewegung, um den Philosophieprofessor Abimael Guzmán, entwickelte sich seit 1980 zu einer Rebellenbewegung die sich eine radikale Umkehr der bestehenden Gesellschaftsordnung – durch eine Revolution – zum Ziel gesetzt hatte. Bei den allgemeinen Wahlen im selben Jahr rief SL zum Wahlboykott auf und verbrannte die Wahlurnen in Dörfern ihres südperuanischen Gründungsdepartements Ayacucho (vgl. García Sayán, 2000: 202). Die indigene Quechua-Bevölkerung dieser Region wurde durch brutale Rekrutierungskommandos gezwungen sich der Sendero-Bewegung anzuschließen (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 102). Die Verdrossenheit gegenüber der Regierung war Anfang der 1980er Jahre so groß, dass sie den Boden für eine weitere wirkungsvolle Guerillabewegung berei-
108 Eigene Übersetzung: Kommunistische Partei Perus. Auf dem leuchtenden Pfad von José Carlos Mariátegui.
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tete. Die nach einem Inka-Widerstandskämpfer benannte revolutionäre Bewegung Movimiento Revolucionario Túpac Amaru (MRTA)109 mobilisierte ihre Mitglieder ebenfalls aus den Reihen der indigenen Bevölkerung. Víctor Polay Campos gründete die Guerillagruppe 1982 nach kubanischem Vorbild, und mit dem Ziel die Lebensumstände für die Bevölkerung im Nordosten zu verbessern (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 290). Die MRTA distanzierte sich, wegen der bekundeten Radikalität, von SL-Aktionen, deren Angriffsziele sich immer weiter im Land ausbreiteten. Da Staatspräsident Belaúnde Terry politisch keine Antwort auf die sozialen Unruhen im Land liefern konnte, setzte er verstärkt das Militär ein, um Aufstände niederzuschlagen. Die Regierung rief Ende 1982 in einigen Gebieten den Notstand aus, wodurch einzelne Paragraphen der Verfassung außer Kraft gesetzt wurden (vgl. Aranda et al., 2009: 108). In dieser Zeit besaß das Militär keine politischen Ambitionen und so kam es, im Gegensatz zu 1968, zu keinem Militärputsch gegen die zivile Regierung. Im Departement Ayacucho patrouillierten allerdings 2000 Soldaten der Militäreinheit Comando Político Militar, die durch das geltende Notstandsgesetz einer regionalen Militärregierung gleich kam (vgl. Díaz Vázquez, 1993: 93ff.). Als Startschuss ihres Volkskriegs befreite ein SL-Guerillakommando im März 1982 knapp 300 Personen aus dem Gefängnis in Ayacucho, darunter 60 Sendero Luminoso-Mitglieder (vgl. Hertoghe u. Labrousse, 1990: 75). Doch den drakonischen Ausgangspunkt der Sendero Luminoso’ schen Repressionspolitik bildete im April 1983 das Massaker von Lucanamarca, bei dem 60 militante Guerillaanhänger 69 Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner öffentlich hinrichteten (vgl. Cortázar, 1989: 99f.). Daraufhin erhöhte das Militär den Druck, wodurch die überwiegend indigene Dorfgemeinschaft zwischen die Fronten gerieten und Unschuldige als Sendero-Sympathisierenden vom Militär, oder als Verräterinnen und Verräter von Sendero-Anhängern getötet wurden. Der Bischof von Ayacucho – Juan Luis Cipriani – ignorierte die Menschenrechtsverletzungen ebenso wie das Militär, wodurch die fehlende oppositionelle Rolle der katholischen Kirche offenkundig wurde (vgl. Mücke, 2008: 497). Eher organisierten dort Verbände und zivilgesellschaftliche Organisationen, wie die Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados, Detenidos y Desaparecido del Perú110 (ANFASEP), öffentliche Kundgebungen, um auf die repressive Staatsgewalt aufmerksam zu machen und Rechtsstaatlichkeit einzufordern (vgl. Youngers u. Peacock, 2002: 8f.). Ein Jahr später hatte der Terror auch die Hauptstadt erreicht. Im Mai 1983 detonierten 40 Bomben in der Nähe der US-Botschaft und des Sheraton Hotels sowie auf dem Fabrikgelände des Chemieunternehmens BAYER. Alleine dort entstand ein Schaden von ca. 300 Millionen US-Dollar (vgl. Rubin u. Colp Rubin, 2008: 120). Das Militär patrouillierte fortan
109 Eigene Übersetzung: Revolutionäre Bewegung Túpac Amaru. 110 Eigene Übersetzung: Nationale Vereinigung der Familien von Entführten, Festgenommen und Verschwunden Perus.
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auch in Lima und zwei Monate lang galt für ganz Peru der Ausnahmezustand (vgl. McCormick, 2001: 115ff.). Laut Abschlussbericht der Comisión de la Verdad y Reconciliación111 fielen dem Terror während der Amtszeit von Staatspräsident Belaúnde Terry insgesamt 7795 Menschen zum Opfer. Für 48% der Toten seien nachweislich die subversiven Organisationen verantwortlich und für 45% der Opfer die Streitkräfte (vgl. Comisión de la Verdad y Reconciliación, 2003: 11). Seine zweite Regierungsphase musste Belaúnde Terry zwar nicht wiederholt vorzeitig beenden, doch die Bilanz fällt dennoch ernüchternd aus. Er fand weder ein probates Mittel gegen den Terrorismus der Guerillagruppen, noch eine nachhaltige Antwort auf die Wirtschaftskrise. Die Inflationsrate lag 1985 bei 158% (vgl. Haferkamp et al., 1995: 54) wodurch eine Währungsreform unumgänglich wurde. Das Gesetz Ley N◦ 24064 regelte den Übergang vom Sol del Oro zur neuen Währung Inti112 , die der zunehmenden Funktion des US-Dollars als Substitutionswährung entgegenwirken sollte (vgl. Morales Urresti, Ley N◦ 24064). Die Lage der inneren Sicherheit belastete zunehmend ganz Peru, doch die vorherrschenden Rahmenbedingungen ließen geduldete Korruption und gelebte Cliquenwirtschaft unter dem Deckmantel der Demokratie, und im Kontext des Terrors, zum Alltag werden. Um sich für den anstehenden Wahlkampf der allgemeinen Wahlen im April 1985 neu zu positionieren beendete der PPC die politische Zusammenarbeit mit der AP und trat aus der Regierung aus. Luis Bedoya Reyes, ehemaliger Spitzenkandidat der PPC, kandidierte alsbald für das Convergencia Democrática (CODE), ein Parteienbündnis der PPC und der PAP-Splitterpartei Movimiento de Bases Hayistas113 . Der 36-jährige Anwalt Alan García Pérez – Parteivorsitzender der PAP – nutzte die gesellschaftlich aufgeheizte Stimmung, um sich und seine Partei als Transformationseinheit Perus öffentlich begreifbar zu machen (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 801). Sein oberstes Ziel war die Bekämpfung des Terrors der maoistischen SL-Guerilla, unter Einhaltung der Menschenrechte. Nach jahrelanger Unterdrückung der Partei und ihrer Arbeit im Untergrund sollte nun der Zeitpunkt der Regierungsübernahme gekommen sein. Die Strategie ging auf und bescherte der vormaligen Oppositionspartei den ersten Wahlsieg seit der Gründung der APRA 1924. Alan García siegte mit 53,1% der Stimmen, wohingegen AP-Spitzenkandidat Javier Alva Orlandini lediglich 7,3% der Wahlstimmen erhielt (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 307). Ohne Parteiprogramm startete der neue Staatspräsident in sein Amt und versprach in seiner Antrittsrede „Antworten auf die unmittelbaren und ernsthaften Probleme des Landes zu geben, die Auslandsverschuldung, die Inflation, die Rezession,
111 Eigene Übersetzung: Wahrheits- und Versöhnungskommission. 112 Eigene Übersetzung (Quechua): Sonne. 113 Mit 12% der Wahlstimmen wurde die CODE hinter der PAP und der Izquierda Unida drittstärkste Partei (vgl. Tuesta Soldevilla, 2001: 530).
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die Subversion, die Gesetzlosigkeit und die Unmoral“ (García Pérez, 1985: 16)114 . Gegenüber dem IWF stellte García klar, dass sein Land in den kommenden zwölf Monaten höchstens 10% der Exporterlöse für die Rückzahlung der Auslandsschulden ausgeben werde, statt der geforderten 60% (vgl. ebd.: 19). Die eingesparten Gelder sollten für die nationalistische Revolution genutzt werden. Darunter verstand die PAP demokratische Strukturreformen, die tiefgreifend die Beziehung zwischen der Küste und dem Landesinneren verändern sollten. Neben dem Ausbau des Agrarsektors beabsichtigte die Regierung vor allem die wirtschaftliche Stärkung der Sierra-Region (vgl. García Pérez, 1987a: 3). Vorwiegend für die Bewohnenden der urbanen Slums wurde 1985 das temporäre Beschäftigungsprogramm Programa de Apoyo al Ingreso Temporal115 (PAIT) eingeführt, das eine mit dem Mindestlohn vergütete Tätigkeit, meist im Bereich der Stadtverwaltung, vorsah (vgl. CEPAL, 2004: 160). Durch seine Eloquenz, die er regelmäßig in Ansprache vom Balkon des Präsidentenpalastes – den sogenannten balconazos – unter Beweis stellte, sicherte sich Alan García Sympathie und Rückhalt in weiten Teilen der Bevölkerung (vgl. Reyna, 2000: 30). Dies spiegelt sich auch in den Ergebnissen der Kommunalwahlen von 1986 wider, die trotz massiver Angriffe der Terrorgruppen SL und MRTA durgeführt werden konnten. Vor der Izquierda Unida gewann die PAP die meisten Verwaltungssitze für sich, und sicherte sich so auch Anhängerinnen und Anhänger außerhalb ihrer politischen Hochburgen (vgl. Tuesta Soldevilla, 1987: 189ff. u. ONPE, 2005: 97). Wie General Velasco Alvarado konzentrierte sich auch die aktuelle Regierung wirtschaftlich auf den Binnenmarkt und führte strikte Beschränkungen für den Import von Konsumgütern ein (vgl. Haferkamp et al., 1995: 54). Durch ein keynesianisches Aktivierungsmodell erhoffte sich García eine erhöhte Produktionskapazität und, durch die nachlassende Inflationsrate, eine Verbesserung des Lebensstandards sowie einem Anstieg der Reallöhne (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 801). Als Moderator des Krisenmanagements kooperierte Staatsräsident García seit 1986 mit den Mächtigen des Finanzsektors und der Wirtschaft. Diese sogenannten Doce Apóstoles116 profitierten von der unmittelbaren Einflussnahme auf den Staatspräsidenten, um ihre Interessen zielgerichtet kundzutun. García zeigte sich, für die Bereitstellung von Geldmitteln zur Reaktivierung der nationalen Wirtschaft, in Form von Steuervorteilen erkenntlich. Der Staatspräsident nutze den regelmäßigen informellen Austausch, um fernab von Regierungsmitgliedern und Interessenverbänden die Geschicke der peruanischen Finanzströme mitzugestalten (vgl. Dirmoser, 1989: 253f.). Kleinstunternehmen erhielten Zugang zu Mikrokrediten und ferner
114 Im Original: „ [...] se debe dar respuesta a los más inmediatos y graves problemas que sufre el país, la deuda externa, la inflación, la recesión, la subversión, el desorden y la inmoralidad.“ (García Pérez, 1985: 16). 115 Eigene Übersetzung: Hilfsprogramm für vorübergehende Einkünfte. 116 Eigene Übersetzung: Zwölf Apostel.
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wurde zur Nachfragesteigerung eine Anhebung des Mindestlohns beschlossen (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 109). In Peru herrschte triumphale Euphorie. Laut Meinungsumfragen galt García Anfang 1986 als beliebtester Politiker und Peruaner, gefolgt von Schriftsteller und Politikerkollege Mario Vargas Llosa (vgl. Reyna, 2000: 38f.). Die heterodoxe Wirtschaftspolitik zeigte erste Erfolge und so fiel die Bilanz des ersten Regierungsjahrs der PAP durchweg positiv aus. Durch die Festsetzung der Preise für Agrarprodukte und den Zugang zu günstigen Krediten für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, kam der Boom nun auch im ruralen Bereich an. Das Wirtschaftswachstum erreichte 1986 einen Spitzenwert von 9,5% (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 109). Lag die Kapazitätsauslastung der Industrie 1985 noch bei 59%, steigerte sie sich in einem Jahr auf 70%. Die Reallöhne erhöhten sich 1986 um 14,4% (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 802) und auch der Wechselkurs des Intis stabilisierte sich gegenüber dem USDollar. Gleichzeitig erlangte die Inflationsrate mit 62,9% erstmals seit 1982 wieder einen zweistelligen Wert (vgl. Figueroa, 1995: 22). Ein Treffen der Sozialistischen Internationale (SI) im Juni 1986 in Lima, an dem auch Willy Brandt teilnahm, sollte den Wendepunkt für Alan García markieren. Inhaftierte Mitglieder der Terrorgruppe SL nutzen das internationale Medienaufkommen für Aufstände in drei unterschiedlichen Gefängnissen in Lima. Der Staatspräsident gab dem Militär den Befehl die Subversion zu unterbinden, woraufhin 249 Inhaftierte erschossen wurden (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 310). Entgegen seiner Wahlkampfparolen, die politische Gewalt dürfe nicht vom Staat ausgehen, versuchte García seine Macht nach außen hin zu demonstrieren und sie durch radikale Militäreinsätze zu verteidigen (vgl. Rudolph, 1992: 111f.). Dieser Vorfall verdeutlicht die geltenden Machtstrukturen, verbunden mit einer mangelnden Kommunikationslinie, zwischen der PAP-Regierung und dem Militär. Obwohl der Staatspräsident den Oberbefehl über das Militär inne hatte, herrschte dort eine strukturelle Eigendynamik, in der die lange Zeit unterdrückte PAP keinen wirklichen Machtanspruch geltend machen konnte. Zwar versprach García medienwirksam die Vorfälle aufzuklären, aber die Ermittlungen verliefen letztlich im Sand, wodurch die Menschenrechtsverletzungen juristisch nicht geahndet wurden. Anknüpfend an seinen Konfrontationskurs mit dem IWF schloss der Staatspräsident das Büro in Lima und verkündete bei einem balconazo, dass sich Peru nicht länger dem Diktat des IWFs unterwerfe. Dieser erklärte daraufhin Peru im August 1986, wegen ausstehender Schuldenrückzahlungen, für kreditunwürdig (vgl. Neu u. Gieler, 2004: 337), was sich auch auf die Zahlungsbereitschaft anderer internationaler Geldgebenden auswirkte. Zunehmend wurde innerhalb der Regierung über die Leitlinie der Wirtschaftspolitik gestritten. Die Kapazitätsgrenze der Industrie war erreicht, wodurch die Möglichkeit eines weiteren Wachstum nur durch neue Investitionen gegeben war. Doch die Doce Apóstoles transferierten ihre Gewinne bevorzugt ins Ausland, anstatt finanziell ins Terror geplagte Inland zu investieren. Um die Finanzströme besser kontrollieren zu können verkündete García – am Unabhängigkeitstag Perus 1987 – die Verstaatlichung der Banken, was ihn die restlichen Sympathiepunkte bei den Wirtschaftsmächtigen Perus kostete (vgl. Tobler u. Berne-
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cker, 1996: 802). Die Verabschiedung des Gesetzes zog sich über mehrere Monate hin und intensivierte den politischen Machtkampf. Doch nach der Besetzung der Banco de Credito durch die Angestellten, und einem anschließenden Gerichtsstreit, wurde die Bank selbstverwaltet (vgl. Dirmoser, 1989: 255). Staatspräsident García hatte durch die gescheiterte Bankenverstaatlichung an Rückhalt in seiner Partei eingebüßt und sich die Sympathien innerhalb der Bevölkerung verscherzt. Innerhalb der PAP entschädigten sich die Mitglieder für ihre Parteitreue in Form massiver Korruption (vgl. Reyna, 2000: 30). Politisch rechts formierte sich die Freiheitsbewegung Movimiento Libertad, die – mit Mario Vargas Llosa an der Spitze – gegen den Staatstotalitarismus aufbegehrte. Neben inländischen Großunternehmen, wirtschaftlichen Interessenverbänden und der städtischen Mittelschicht, unterstützen auch Parteien diese Bewegung. Die politische Landschaft Perus brachte seit der Redemokratisierung 1980 verstärkt Parteibündnisse hervor, die mit einem mehrheitsfähigem Spitzenkandidat in den Wahlkampf zogen117 . Unter dem Namen Frente Democrático (FREDEMO) koalierten der PPC, die AP und das Movimiento Libertad als Parteienbündnis. Spitzenkandidat im Wahlkampf der anstehenden Kommunalwahl 1989118 wurde Mario Vargas Llosa (vgl. Dietz, 2000: 115f.). Um sein ramponiertes Image zu sanieren, initiierte García 1988 das Ley de Bases de la Descentralización119 (vgl. García Pérez, Ley N◦ 24650, 1987a). Dieser Versuch, den peruanischen Zentralismus aufzubrechen, sah die Unterteilung des Landes in zwölf Regionen vor. Doch die Zusammenführung der ehemaligen Departamentos stieß auf Widerstand seitens der Bevölkerung, da sie in den Aufteilungsprozess nicht involviert wurde (vgl. Contraloría General de la República, 2014: 27f. u. 46). Der Abstieg der PAP ging mit einem Autoritätsverlust der staatlichen Institutionen einher und verstärkte die wirtschaftliche Binnenwanderung ins Amazonastiefland. Außerdem entwickelte sich im Osten der Anden – am Huallagatal – seit Mitte der 1980er Jahre die „Kokain Hauptstadt Perus“ (van Dun, 2009: 43), mit einem geschätzten Jahresumsatz von 500 Millionen US-Dollar 1991(vgl. Haferkamp et al., 1995: 55). Teile dieser Gelder flossen in die Finanzierung der GuerillaEinheiten, die die örtliche Bauernschaft zu Kooperationen zwangen (vgl. Dirmoser, 1989: 258). Die fortwährenden Anschläge der konkurrierenden Guerillagruppen SL und MRTA wirkten sich zusätzlich auf die katastrophale Talfahrt der Wirtschaft aus. Infolge des Bruchs mit dem IWF stopfte die Regierung entstandene Finanzlöcher, durch die Erhöhung der Geldmenge. Abbildung 4120 zeigt die Entwicklung der Inflationsrate, die 1987 vorerst wieder auf einen dreistelligen Wert stieg, bevor dieser
117 Siehe ausführlich zum Zerfall des klassischen Parteisystems: Tanaka, 1998. 118 FREDEMO gewann national 31,6% der Stimmen und war damit stärkste Partei (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 310). 119 Eigene Übersetzung: Grundgesetz der Dezentralisierung. 120 Eigene Darstellung nach Figueroa, 1995: 22.
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Abbildung 4: Inflationsrate 1985–1990
1988 vierstellig wurde und auch zunächst blieb. Beim Stand der Inflationsrate von 7649,6% in 1990 erreichten die Realeinkommen lediglich noch die Hälfte des Wertes von 1985 (vgl. Haferkamp et al., 1995: 55). Der populistische Regierungsstil des ersten PAP–Präsidenten endete 1990 in einer Staats- und Verschuldungskrise eines bis dato unbekannten Ausmaßes. Die fehlende Krisenkompetenz gegenüber der Terrorismusbekämpfung ermöglichte einen politischen Machtgewinn des Militärs. Zudem hatte die politische Gewalt mit 3654 Opfern ihren traurigen Höhepunkt erreicht (vgl. Abbildung 5, eigene Darstellung nach Youngers u. Peacock, 2002: 5). Doch trotz der wirtschaftlich desaströsen Lage und den politischen Verfehlungen konnte mit Alan García auch der zweite nach 1980 gewählte Staatspräsident Perus seine fünfjährige Amtszeit ohne Putsch zu Ende bringen. Allerdings war das Vertrauen in eine demokratische Regierung erschüttert und wirkte sich auf die allgemeine Wahlen 1990 aus. Trotz der Unterstützung durch die katholische Kirche siegte nicht der Umfragefavorit, FREDEMOSpitzenkandidat Mario Vargas Llosa, sondern mit Alberto Fujimori ein Überraschungskandidat, der der 1988 gegründeten Cambio-90-Bewegung angehörte (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 804). Der Sohn einer japanisch-stämmigen Familie und promovierte Agrar-Ingenieur verkörperte förmlich seinen Wahlslogan: „honestidad, tecnologa, trabajo“121 (Dietz, 2000: 116). Mario Vargas Llosa hingegen stand für die weiße limeño-Elite, die innerhalb der Bevölkerung als traditionelle politische Klasse galt. Das jeweilige Image der Spitzenkandidaten hätte gegensätzlicher nicht sein können und reflektiert die widersprüchlichen Realitäten peruanischer Politik. Mit seiner ethnischen Herkunft und in der Rolle des Antipolitikers erreichte Fujimori vor allem rurale Wählerinnen und Wähler, Migrantinnen und Migranten sowie die urbane Unterschicht (vgl. Tanaka, 1998: 225). Er gewann die Stichwahl
121 Eigene Übersetzung: Ehrlichkeit, Technologie, Arbeit (vgl. Dietz, 2000: 116).
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mit über 62% der Stimmen, vor Mario Vargas Llosa mit knapp 38% (vgl. Carrión, 2006: 65). Der Schriftsteller ging aufgrund der Wahlniederlage nach Spanien (vgl. Ocasio, 2004: 115) und das FREDEMO-Bündnis wurde, wegen unüberbrückbarer politischer Differenzen, aufgelöst. Die politische Arbeit ging in die AP, den PPC und das Movimiento Libertad über (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 805). Die Wahl Fujimoris wurde vom Leiter des Servicio de Inteligencia122 Vladimiro Montesinos unterstützt, der Fujimori auch interne Geheimdienstinformationen zu Mario Vargas Llosa lieferte123 . Als Staatspräsident war Fujimori auf dieses Zweckbündnis angewiesen, denn seine Partei Cambio 90 bestand erst seit 1988 und sollte, wie der Name versprach, dem politischen Wechsel bei dieser Präsidentschaftswahl dienen. Auf einen großen Parteiapparat konnte Fujimori also nicht zurückgreifen, wodurch er zur Machterhaltung fortan auch gezwungen war mit dem Militär zu kooperieren. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt vollzog Alberto Fujimori eine politische Kehrtwende und kündigte eine wirtschaftliche Radikalkur an, die inhaltlich stark dem neoliberalen Vorhaben Mario Vargas Llosas ähnelte, das Fujimori im Wahlkampf noch, zugunsten einer sanften Sanierung der Wirtschaft, abgelehnt hatte. Doch nun legte die neue Regierung das radikal neoliberale Strukturanpassungsprogramm Programa de Ajuste Estructural (PAE), auf Basis des von IWF und Weltbank propagierten Programms Washington Consensus, vor. Die Verkündung der Einzelheiten oblag Wirtschafts- und Finanzminister Juan Carlos Hurtado Miller in einer nationalen Fernsehansprache am 8. August 1990 (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 338 u. 346f.). Ein Stufenplan sah, neben Subventionskürzungen und der Privatisierung von Staatsbetrieben, auch die Liberalisierung der Devisenkontrollen vor, um Peru für den Weltmarkt zu öffnen und wieder Anschluss an internationale Finanzquellen zu finden. Prognostiziert wurde die Verfünffachung der Preise für Elektrizität, Wasser und Nahrungsmittel sowie eine Benzinpreissteigerung um 3000%. Hurtado Miller schloss die Ankündigung medienwirksam mit den Worten „Que Dios nos ayude“124 (vgl. Redacción rpp.pe, 2011). Zeitungen weltweit diskutierten den Wahlbetrug als sogenannten „Fuji-Shock“125 und spekulierten über die sozialen und politischen Folgen. Doch ein Putschversuch der politischen Gegner – oder des Militärs – bliebt aus. Vielmehr kam es im Zuge der Terrorismusbekämpfung zu einer Allianz zwischen Fujimori und dem Militär, der dessen Vorgehensweise ohne jegliche juristische Ahndung duldete. In SL-Gebieten im Hochland stattete die Regierung die örtliche Bauernschaft zu Verteidigungszwe-
122 123 124 125
Name des peruanischen Geheimdienstes. Siehe ausführlich: Perry, 2005. Eigene Übersetzung: Gott helfe uns. Siehe ausführlich: Die Zeit, 17. August 1990 u. The New York Times (Brooke), 12. August, 1990.
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cken mit Waffen aus und tolerierte zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch formierte Milizen126 (vgl. Moßbrucker u. Moßbrucker, 2008). Durch die Hyperinflation wurde eine weitere Währungsreform unumgänglich, woraufhin 1991 die Einführung des Nuevo Sol erfolgte (vgl. Ley N◦ 25295). Die Inflationsrate sank daraufhin auf 139,2% und 1992 weiter auf 56,7% (vgl. Figueroa, 1995: 22). Während sich Fujimori mit der Liberalisierung der Wirtschaft den Rückhalt der Unternehmerschaft sicherte, verarmten zunehmend Teile der Bevölkerung, die zudem an den Folgen der wirtschaftlichen Gesundschrumpfung litten. Durch die schlechte Trinkwasserversorgung brach 1991 eine Cholera-Epidemie aus. In den politischen Reihen formierte sich der Widerstand gegen den Staatspräsidenten, woraufhin dieser mit der Unterstützung des Militärs einen Selbstputsch, den sogenannten autogolpe, durchführte (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 352). Fujimori lößte im April 1992 das Parlament auf und setzte die Verfassung außer Kraft (vgl. Tanaka, 1998: 20). Es folgte eine starke Einschränkung der Pressefreiheit, einschließlich einer Kontrolle der Massenmedien (vgl. Weissert, 2012: 79). Sein Handeln legitimierte der Staatspräsident mit der Notwendigkeit die Verfassung und die Justiz grundlegend reformieren zu müssen, um Peru aus dieser Krise zu führen. Nach gut zehn Jahre in Demokratie stand davon faktisch nur noch die Fassade. Dennoch erhielt Fujimori Unterstützung aus weiten Teilen der Bevölkerung, die sich mit dem autogolpe zu 70% überwiegen einverstanden sah (vgl. Merkel, 2010: 241). Im September 1992 bestätigte Fujimori seinen Kurs medienwirksam mit den Verhaftungen von SL-Oberhaupt Abimael Guzmán und acht weiteren Terroristen aus der Führungsriege (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 118f.). Gegen die streng hierarchisch organisierte Guerillabewegung gelang ein gewaltiger Schlag. Wie in Abbildung 5 abzulesen ist, halbierten sich die Opferzahlen sowohl von 1992 auf 1993, als auch von 1993 auf 1994 (eigene Darstellung nach Youngers u. Peacock, 2002: 5). Ungeachtet dessen stellten Verschleppungen weiterhin keine Seltenheit mehr dar und gingen häufig auf das Konto der Regierung, respektive des Militärs. Um die sozialen Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik abzufedern, führte die Regierung 1992, im Rahmen der institutionellen Sozialpolitik, das Programa Nacional de Asistencia Alimentaria127 (PRONAA) ein (vgl. Ministerio de Promoción de la Mujer y Desarrollo Humano, 1992: 4). Das Programm sollte vor allem der Mangelernährung von Kindern zwischen drei und zwölf Jahren entgegenwirken und richtete sich an den großen Bevölkerungsteil der in Armut lebte. Dies waren in der ruralen Sierra-Region 1991 noch 72,6% der Bevölkerung, wohingegen sich die Anzahl 1994 auf 64,7% verringerte. In der urbanen Sierra-Region entwickelten sich die Werte im gleichen Zeitraum von 52,7% auf 51,6% (vgl. Abusada-Salah u.
126 Hierfür wurde Fujimori 2009 zu 25 Jahren Haft verurteilt (vgl. Briceño-Huamán, 2009). 127 Eigene Übersetzung: Nationales Nahrungsmittelhilfsprogramm.
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Abbildung 5: Opfer politischer Gewalt, 1980-1995
Cusato-Novelli, 2007: 7). Peru wurde 1993 wieder als kreditwürdig erklärt, nachdem es seine Restschulden an den IWF und die Weltbank getilgt und die Rückzahlung der Schulden mit dem Pariser Club neu disponiert hatte (vgl. Aggarwal, 1996: 407). Gleichzeitig berief Fujimori auf Druck des Auslands eine verfassungsgebende Versammlung ein, die bis 1995 die Legislative ersetzte und eine neue Verfassung erarbeitete. Diese wurde per Plebiszit knapp angenommen und im Dezember 1993 durch den Staatspräsidenten in Kraft gesetzt. Sie ermöglichte Fujimori eine klare Machtmonopolisierung und räumte dem Militär Vorrechte ein. Die enthaltene Option auf eine direkte Wiederwahl des amtierenden Staatspräsidenten stellte Fujimori die Ausdehnung seiner Regierungszeit in Aussicht (Constitución Política del Perú de 1993, Artículo 112◦ ). Außerdem bestand der Kongress fortan aus 120 Abgeordneten und nur noch einer Kammer, wodurch die Exekutive weiter an struktureller Macht gegenüber der Legislative gewann (vgl. Mücke, 2008: 498). Der Bestandteil der Verfassung von 1979, über die Anerkennung der indigenen Bevölkerung als kulturelles Erbe Perus, entfiel 1993 ebenso, wie der unveräußerlicher Landbesitz und die Vorstellung einer mestizischen Nation. In Artikel 2, (19) der neuen Verfassung heißt es hierzu: „Der Staat schützt die ethnische und kulturelle Vielfalt des Landes und erkennt sie an“128 . Perus Intellektuelle hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf das indigene Erbe gefordert, doch der nun verfassungsgemäße Rückschritt der Indigenengesetzgebung, hin zu einer allgemein
128 Im Original: „El derecho a su identidad étnica y cultural. El Estado reconoce y protege la pluralidad étnica y cultural de la Nación.“ (La Constitución Política del Perú de 1993, Artículo 2, 19).
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integrierenden Kulturpolitik, blieb ohne massive öffentliche Kritik. In dieser Zeit sicherte sich Fujimori seine Position durch die Nähe zu Geheimdienstchef Montesinos sowie zum Militär; auch gegen Korruptionsanschuldigungen seiner Ehefrau Susana Higuchi (vgl. Cortés, 2001: 17). Ihr verstärkter Gegenwind reichte so weit, dass Higuchi sich als Spitzenkandidatin ihrer Partei Armonía-Frempol bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen 1995 als Gegenkandidatin zu Fujimori aufstellen lassen wollte. Doch ein neues Wahlgesetz, von den Medien als Ley Susanna bezeichnet, unterband die Kandidatur von Familienmitgliedern des amtierenden Staatspräsidenten (vgl. Conaghan, 2005: 86). Die peruanische Wahlbehörde stoppte auch die Teilnahme ihrer Partei Armonía-Frempol an den Kongresswahlen, aufgrund der mehrfachen Nennung verschiedener Parteimitglieder, wodurch die Mindestanzahl von 120 Personen nicht gewährleistet war. Mit einem Hungerstreik protestierte Higuchi gegen diese Disqualifizierung, woraufhin sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste (vgl. Kimura, 2005: 49f.). Im Zuge des Wahlkampfs für die anstehenden Präsidentschaftswahlen formierte sich 1994 das Wahlbündnis Unión por el Perú (UPP) mit dem ehemaligen UNOGeneralsekretär Javier Pérez de Cuéllar als Spitzenkandidat. Amtsinhaber Fujimori grätschte der wieder aufkeimende Grenzkonflikt mit Ecuador in seinen Wahlkampf129 . Die Terror geplagte Bevölkerung verlangte nach einer raschen und möglichst unblutigen Löschung, aber zugleich wollte sie auch keine Niederlage hinnehmen müssen (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 124). Der Waffenstillstand erfolgte nach einem intensiven 19-Tage-Krieg, woraufhin Peru und Ecuador 1998 ein allgemeines Friedensabkommen unterzeichneten (vgl. Simmons, 1999: v). Medienwirksam betonte Fujimori seine Fähigkeiten bei der Terrorbekämpfung und seine wirtschaftspolitischen Erfolge. Er siegte bei den allgemeinen Wahlen im April 1995 mit 64,4%, deutlich vor Javier Pérez de Cuéllar mit 21,8% (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 364). Die PAP, die AP und auch neu formierte Wahlbündnisse, wie Alejandro Toledos País Posible, schafften es nicht mehrheitlich Stimmen für sich zu mobilisieren. Bis auf die PAP scheiterten die Oppositionsbündnisse bereits an der 4%-Hürde, woraufhin Vermutungen einer organisierten Wahlmanipulation laut wurden (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 125). Durch das neu eingeführte Einkammer-System im Kongress besaß Fujimoris Partei die meisten Sitze. Während seiner zweiten Amtszeit konnte der Staatspräsident wichtige Entscheidungen also weitestgehend alleine treffen. Auch den Befehl zur Umsetzung des von der United States Agency for International Development (USAID) mitfinanzierten Programa Nacional de Salud Reproductiva y Planificación Familiar130 (PNSRPF) erteilte Fujimori persönlich und veranlasste damit, unter dem Deckmantel der Armutsbekämpfung, die Zwangssterilisation von 300.000 Peruanerinnen aus
129 Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung konnte Fujimori auch für die Präsidentschaftswahlen 1995 kandidieren. 130 Eigene Übersetzung: Nationales Gesundheitsprogramm zur Reproduktion und Familienplanung.
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Abbildung 6: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, 1995–2000
den Anden und dem Amazonasgebiet (vgl. Amnesty International, 2011 u. Sobrevilla Perea, 2011). Mit einer Geiselnahme in der japanischen Botschaft in Lima machte die MRTA Ende 1996 abermals auf sich aufmerksam. Nach vier Monaten befreite ein Sonderkommando der peruanischen Armee alle 72 verbliebenen Geiseln und tötete die 14 terroristischen Geiselnehmer (vgl. Lust, 2015: 127). Ebenfalls im April 1997 erhob der Fernsehsender Canal 2 Foltervorwürfe gegen den Geheimdienst sowie Korruptionsanschuldigungen gegen Vladimiro Montesinos. Zunächst erfolgten keine Ermittlungen131 , vielmehr musste sich der Fernsehsender einer intensiven Steuerprüfung stellen (vgl. Roth, 1998: 4f.). Durch die neoliberale Wirtschaftspolitik sank die Inflationsrate auf 10,2% in 1995 und auf 3,7% in 2000 (vgl. Banco Central de Reserva del Perú, 2000: 15). Das BIP entwickelte sich zunächst weiterhin positiv, bevor es 1998 erneut zur Rezession kam (vgl. Abbildung 6, eigene Darstellung nach Banco Central de Reserva del Perú, 2008: 221). Neben den Folgen der Naturkatastrophe El Niño wirkten sich auch ausländische Kapitalabflüsse – aufgrund der Finanzkrisen in Asien und Russland – negativ auf die peruanische Wirtschaft aus (vgl. Müller, 1999: 148). Obgleich steuerte Fujimori seiner dritten Amtszeit entgegen und rechtfertigte die erneute Kandidatur mit einem neuen Gesetz (Ley N◦ 26657) zur Interpretation von Artikel 112 der neuen Verfassung, der die Wiederwahl des amtierenden Präsidenten regelt (vgl. Comisión de la Verdad y Reconciliación, 2003: 118). Da seine erste Amtszeit unter die Verfassung von 1979 fiel, könne Fujumori demnach im Jahr
131 Im Jahr 2000 begannen Untersuchungen gegen Montesinos, der schließlich zu 25 Jahren verurteilt wurde (vgl. Ospina, 2013).
Zwischenfazit
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2000, auf Basis der neuen Verfassung von 1993, wiedergewählt werden. Doch die Verfassungsmäßigkeit der dritten aufeinanderfolgenden Amtszeit wurde öffentlich stark in Frage gestellt (vgl. Crabtree, 2001: 102) und führte zu Straßenprotesten in Lima. Der aussichtsreichste Gegenkandidat bei den Präsidenschaftswahlen 2000 – Alejandro Toledo – zog seine Kandidatur bei der Stichwahl zurück und so wurde Fujimori für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt (vgl. ONPE, 2000). Parallel zur Amtseinführung wurden Korruptionsfälle des SIN-Leiters – Vladimiro Montesinos – bekannt132 (vgl. Weck, 2001). Alberto Fujimori beteuerte nichts von der Bestechung einzelner Oppositionspolitiker und der Presse, oder von SchwarzgeldKonten, gewusst zu haben (vgl. Schröder, 2005). Medial stellte er stets seine konsequente Terrorbekämpfung in den Fokus. Doch durch den schwindenden Rückhalt, und die Gewissheit der drohenden Konsequenzen, sah sich der Staatspräsident bemüßigt im Rahmen einer anstehenden Auslandsreise zu fliehen. Er gab seinen Rücktritt schriftlich aus dem Ausland bekannt und erhielt in der Heimat seiner Familie die japanische Staatsbürgerschaft, die ihn vor einer Auslieferung bewahrte (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 129). Nach dem Ende der Fujimori-Ära blieb innerhalb der Zivilbevölkerung das politische Bild von Korruption und persönlicher Bereicherung zurück.
1.4 Zwischenfazit Die Darstellung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verdeutlicht, dass der peruanische Staat es im 20. Jahrhundert, unabhängig vom Lager der Regierung oder des aktiven Machtakteurs, nicht leisten konnte einen funktionierenden Staatsapparat zu institutionalisieren, der einen nationalen Bezugsrahmen vermittelte. Die vorherrschenden Rahmenbedingungen ließen geduldete Korruption und gelebte Cliquenwirtschaft zum Alltag werden. Dabei verhinderte die politische Instabilität das beharrliche Umsetzen von Sozialreformen, wodurch die Grundlage für eine gleichwertige sozioökonomische Teilhabe aller Bevölkerungsschichten fehlte. Vereinzelte Sozialprogramme griffen, zugespitzt durch die regional unterschiedlichen Bedürfnisse und den gelebten Küsten-Zentralismus, zu kurz und wirkten dem Massenphänomen Armut nicht nachhaltig entgegen. Der wirtschaftspolitische Mix aus Exportorientierung und Importsubstituierender Industrialisierung führte, in Kombination mit der hohen Auslandsverschuldung, dem Bruch mit dem IWF und erhöhten Geldmengen, zu vierstelligen Inflationsraten und Mitte der 1980er sowie Anfang der 1990er Jahre zu Währungsreformen. Die peruanische Industrieproduktion bestand in Abhängigkeit von Auslandskapital, unter USamerikanischer Dominanz mit europäischem Einfluss. Die Förderung der Rohstoffe
132 Montesinos wurde 2001 in Caracas verhaftet und an Peru ausgeliefert (vgl. La Nación, 25.06.2001).
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oblag vorwiegend ausländischen Firmen, wodurch die Gewinne dorthin abflossen und nicht in Peru reinvestiert wurden. Politik galt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Ausdrucksmöglichkeit der Oberschicht, die die Belange der Unterschicht außer Acht ließ. Dieser Zustand wurde durch den Wandel der Machtstrukturen im Zuge der Milititärregierungen verändert, aber im (Re-)Demokratisierungsprozess nicht weiter verfolgt. Dass der Staat durch sein Agieren soziale Veränderungsprozesse in Gang setzen könne, schien aufgrund des geringen Wirkungskreises und des gelebten Autokratismus nahezu unvorstellbar. Das Resümee der Redemokratisierung in Peru mag aus der Makroperspektive zunächst positiv erscheinen. Von 1980 bis 2000 fanden alle fünf Jahre allgemeine Wahlen statt und kein gewählter Staatspräsident musste seine Amtszeit vor dem Ablauf beenden. Doch dieser formell geglückte Ausschnitt vernachlässigt die Erosion des Parteiensystems in den 1980er Jahren, die Fujimoris Fassadendemokratie nach dem Selbstputsch 1992 ermöglichte. Gleichzeitig bestand die Vorrangstellung des Militärs, trotz dessen Rückzug 1980 aus der aktiven Regierungsverantwortung, weiter. Der Prozess der De-Institutionalisierung spiegelt die Schwäche des Staats wider. Die mangelnde Präsenz in den Provinzen ermöglichte so den Machtgewinn staatsferner Gewalt, in Form von Guerillaorganisationen oder auch dem Militär, und verhinderte auf Kosten von Menschenrechtsverletzungen die Verbindung zwischen der Hochland- und Regenwaldbevölkerung mit dem Staat. Der wenig forcierte nationale Diskurs ließ folglich ausreichend Raum für andere Akteurinnen und Akteure, die kulturelle und ethnische Konzeptionen zu etablieren versuchten und innerhalb dieser sich überlagernde, respektive hybride, Entwürfe nationaler/kultureller Identität ermöglichten.
2. IDENTITÄT, NATIONALER KONSUM & MODERNE(N) Den Leitbegriff dieser Arbeit Identität133 versteht Néstor García Canclini als diskursiven Konstruktions- und sozialen Aushandlungsprozess, und nicht als naturgegebenen Faktor. Mit Verweis auf die Studien seiner Kollegen Ulf Hannerz und Stuart Hall, die mit weiteren regionalen Schwerpunkten Hybridisierungsprozesse in theoretischen Identitätsnarrativen berücksichtigen, verdeutlicht García Canclini für Lateinamerika, „dass es weder möglich ist von Identität zu reden, als handele es sich einzig um ein Bündel festgelegter Merkmale, noch [ist es möglich Identität] [...] als Inbegriff einer Ethnie oder Nation festzumachen“ (García Canclini, 1992: 17)134 . Um den epistemologischen Herausforderungen dieses Identitätsverständnisses gerecht zu werden, bedarf es im weiteren Verlauf der Arbeit einer Annäherung über den nationalen Identitätsdiskurs Perus. Dabei finden kollektive Vorstellungen über die Nation ebenso Berücksichtigung hinsichtlich des identitären Konstruktionsprozesses, wie mögliche Einflüsse der Migrationsbewegungen und der Urbanisierung. Wesentlich ist hier der Wandel der identitären Selbstbeschreibung bei Mitgliedern indigener Völker, die im urbanen Umfeld vornehmlich eine MestizenIdentität einnahmen. Berücksichtigt werden muss, dass es sich trotz des einheitlichen Terminus indigene Völker nicht um eine fest organisierte oder gar homogene Gruppe handelt. Im Untersuchungszeitraum unterschieden sich indigene Völker135 massiv in ihrer Größe und im Grad der wirtschaftlichen Öffnung, gegenüber der restlichen Gesellschaft (vgl. KIVLAK/GIZ, 2010: 1f.). Was die als indigen identifizierten Personen allerdings zwangsläufig einte, war der – auch von Seiten der minderheitlichen Machtelite – entgegengebrachte Rassismus, sowie die oktroyierten Leitgedanken selbsternannter Interessenvertretungen. Unter Hinzunahme der einleitend zusammengeführten theoretischen Überlegungen, von Néstor García Canclini und Arjun Appadurai, wird sodann der Begriff Konsum in Bezug gesetzt und zwischen Küstengebiet, Andenraum und Amazonastiefland diskutiert. Zu ermitteln sind
133 Siehe zum allgemeinen Identitätsdiskurs: Koenig, 2001 und zum nationalen Identitätsprozess Perus: Guzmán Palomino u. Calderón Ticse, 2006. 134 Im Original: „Los estudios sobre narrativas identitarias hechos desde enfoques teóricos que toman en cuenta los procesos de hibridación (Hannerz, Hall) muestran que no es posible hablar de las identidades como si sólo se tratara de un conjunto de rasgos fijos, ni afirmarlas como la esencia de una etnia o una nación.“ (García Canclini, 1992: 17). 135 Die International Labour Organization (ILO) schlug 1989 in ihrer „Indigenous and Tribal Peoples Convention“ folgende Definition für Indigene Völker vor: „people are considered indigenous either: because they are descendants of those who lived in the area before colonization; or because they have maintained their own social, economic, cultural and political institutions since colonization and the establishment of new states.“ (ILO, 1989, Nr. 169).
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die Wechselwirkungen zwischen Konsum als kulturellem Integrationsprozess, und als ethnischem Distinktionsmotor. Entscheidend ist bei der Analyse der nationalen Daten das Mitdenken des politischen Faktors von Konsum (vgl. García Canclini, 1995a: 21 u. Appadurai, 1986: 57) sowie der ungleichen Verteilung von Ressourcen in Peru. Dabei werden die umstrittenen Großetiketten Nation136 und Moderne Peru spezifisch kontextualisiert. In der Gastronomie und der Esskultur sieht Néstor García Canclini Bereiche, denen die anthropologische Arbeit mehr verpflichtet ist, um interkulturelle Verwicklungen zu erkennen. Als wissenschaftlichen Trend begreift er die Benennung einzelner Produkte – beispielsweise Getränke – als Referenz nationaler Identität137 (vgl. García Canclini, 2010). Auch Arjun Appadurai misst dem Essen weitere Funktionen, außerhalb der reinen Nahrungsaufnahme, bei. Demnach ist es gut geeignet, die Last des alltäglichen sozialen Diskurses zu tragen und ferner eine wunderbar plastische Art der kollektiven Darstellung (Appadurai, 1981: 494). Essen kann in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, Zusammenhängen und Funktionen, Hierarchie und Konkurrenz, Solidarität und Gemeinschaft, Identität oder Exklusion, Intimität oder Distanz signalisieren (ebd.). Eine Ursache dieser „semiotische[n] Virtuosität“ (ebd.) ist die Tatsache, dass Essen ein ständiges Bedürfnis darstellt und es sich dabei aber um ein verderbliches Gut handelt (ebd.). „The second fundamental fact about food, although this is much less well understood, is its capacity to mobilize strong emotions.“ (ebd.).
Die potenzielle Fähigkeit der Nationalküche Perus starke Emotionen zu mobilisieren, bildet folglich den Ausgangspunkt zur Analyse von identitätsstiftenden Eigenschaften bei Nahrungsmitteln. Perus Nationalküche vereint die klimatisch bedingte Pflanzenvielfalt der verschiedenen Regionalküchen, mit traditionellen InkaKomponenten und Elemente der Küchen von Migrantinnen und Migranten, und kann daher als hybride Küche bezeichnet werden. Pflanzliche und tierische Nahrungsmittelbausteine sollen Aufschluss über deren soziokulturelle Bedeutung, im Hinblick auf ihre spezifische Verwendung und ihre Bedürfnisbefriedigung, geben. Sichtbar gemacht werden sollen so ethnische und kulturelle Unterschiede sowie identitätsstiftende Funktionen bei der Selektion von Essbarem, wie z.B. Cuy chactado (Meerschweinchen), das lange Zeit ausschließlich im Andenhochland als Proteinquelle diente. Thematisch müssen dabei Hunger und Mangelernährung einbezogen werden. Um der Frage nachzugehen, wie Modernisierungsprozesse in Peru vonstatten gingen, erfolgt exemplarisch eine Fallstudie der Getränkeindustrie. Sie eignet sich von ihrer strukturellen Entwicklung und den beteiligten nationalen wie globalen Akteurinnen und Akteuren her als Anschauungsobjekt, um die technischen wie
136 Siehe ausführlich: Gallie, 1956: 167–198. 137 Im Original: „[...] bebidas [...] se nombraban como referencias identitarias nacionales.“ (García Canclini, 2010).
Perus Identitätsdiskurs und Konsumkultur
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wirtschaftlichen Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse nachzuzeichnen. Dabei werden die Expansionsziele der Unternehmen, angefangen beim traditionellen Traubenschnaps Pisco, über Bier, bis hin zu alkoholfreien Erfrischungsgetränken und abgefülltem Wasser – im Kontext der Canlini´schen Modernen – in Bezug gesetzt. García Canclini schlägt vor (ökonomische) Globalisierung nicht ausschließlich als Strategieset der Globalisierungsagierenden zu verstehen, die damit ihre hegemonialen Strukturen verstetigen, sondern auch als imaginären Horizont138 , der den involvierten Akteurinnen und Akteuren zum Zweck der weitläufigen Markterweiterung ihrer Produkte dient (vgl. García Canclini, 1999: 32). Dabei können sich Unternehmen auf das Ziel der globalen Markthomogenisierung konzertieren, oder ihre Produkte spezifisch differenzieren, wie es nachfolgend für Perus Getränkebranche aus nationaler Perspektive zu untersuchen gilt. 2.1 PERUS IDENTITÄTSDISKURS UND KONSUMKULTUR Der seit der Unabhängigkeit Perus 1821 andauernde Wandel139 des nationalen Identitätsdiskurses, fokussierte auch im Untersuchungszeitraum die noch nicht abgeschlossene Nationenbildung (vgl. Holguín Callo, 1999: 151 u. Sánchez, 2002: 152). Als emanzipatorisches Element erfasste der Nationalismus den lateinamerikanischen Subkontinent, mit einem vorherrschenden politischen Verständnis von Nation (vgl. vom Hau, 2010: 172). In Peru wirkten die gelebten gesellschaftlichen Disparitäten, und massiven regionalen wie ethnischen Unterschiede, einer neu zusammengefügten und geschlossenen Nation allerdings entgegen. Folglich rang der „präsidialdemokratische Nationalstaat“ (vgl. Mücke, 2008: 490) zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch mit der Frage nach der eigenen Identität140 . Als Basis einer modernen Nation gab der politische Diskurs in den 1920er Jahren, eine kulturelle Inklusion aller Ethnien zur nationalen Identitätsbildung vor (vgl. Sánchez, 2002: 162). Diese unvollständige Nationenbildung kritisierte die entstandene städtische Mittelschicht und forderte einen neuen Identitätsprozess, der die vorhandenen ethnischen Unterschiede miteinbeziehen sollte (vgl. Thiery, 2006: 27). Der damalige autoritäre Staatspräsident Augusto B. Leguía y Salcedo griff das Volksbegehren in seinem politischen Konzept Patria Nueva141 auf, und läutete ein vom Liberalismus beeinflusstes gesetzliches Umdenken zur Aufwertung des indigenen Erbes ein. Doch die neuen Rechte142 für die indigenen Bevölkerungsgruppen wurden – wenn überhaupt – nur unzureichend umgesetzt und dienten ausdrücklich Leguías Machterhaltung und -erweiterung. Er verfolgte schwerpunktmäßig die
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Im Wortlaut: „horizonte imaginado“ (García Canclini, 1999: 32). Siehe zum Diskurs des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert: Mücke, 1998b. Siehe zum literarischen Identitätsdiskurs: Cornejo Polar, 1995. Eigene Übersetzung: Neues Vaterland. In der Verfassung von 1920 erfolgte die formale Anerkennung indigener Dorfgemeinschaften (Constitución Politíca del Perú 1920, Artikel 58).
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kapitalistische Modernisierung Limas, weswegen er vom peruanischen Soziologen Julio Cotler als „el fundador del Perú de hoy“143 (Cotler, 1987: 184) bezeichnet wurde. Bekanntermaßen sollten Leguías sozioökonomische und machtpolitische Entwicklungsweichen Peru im 20. Jahrhundert weiterhin begleiten. Indes schlug seine intendierte gesellschaftliche Homogenisierung im sozioökonomischen und kulturellen Spannungsfeld fehl und wirkte der Ausgrenzung indigener Völker nicht entgegen. Allerdings konnte die Verfassung, aufgrund ihrer abgebildeten Rechte, eine Vorbildfunktion in Lateinamerika erreichen (vgl. Barié, 2003: 471). Der Solidarisierung mit unterdrückten Völkern und Klassen hatte sich auch das lateinamerikanische, antikapitalistische Bündnis Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA) verschrieben, das Víctor Raúl Haya de la Torre 1924 aus dem mexikanischen Exil gründete. In Peru wurde die APRA fortan von der Machtelite aus Politik und Militär im politischen Handeln unterdrückt (vgl. Palmer, 1994: 9). Doch trotz des vorrangigen Agierens aus dem Untergrund gelang 1930 die Formierung als peruanische Partei, die ihre Unterstützung vor allem aus der Arbeiterschaft heraus fand (vgl. Mücke, 2008: 492). Zunächst hatte sich mit dem Journalisten und Politiker José Carlos Mariátegui ein weiterer einflussreicher Denker Perus der amerikanischen, revolutionären Volksallianz angeschlossen. Entgegen Leguías staatlichem Nationalprojekt stellte Mariátegui in seinem Konzept zur Schaffung einer peruanischen Nation144 , die indigenen Bevölkerungsgruppen ins Zentrum seiner marxistisch geprägten Überlegungen, die fortan, neben denen von Haya de la Torre, die Nationalismus-Debatte dominierten. Im Identitätsdiskurs sah Mariátegui es als unabdingbar an, die wirtschaftliche Abhängigkeit von Auslandskapital zu überwinden (vgl. Mariátegui, 1986: 35). Er kombinierte indigene Traditionen mit der Moderne Perus und identifizierte die unterschiedliche ökonomische Teilhabe und Ausbeutung indigener Völker, als Hauptproblem der peruanischen Nation (vgl. ebd.: 49ff.)145 . Um die soziale Ungleichheit politisch überwinden zu können, löste sich Mariátegui von der APRA, deren Ideologie sich nicht mehr mit seiner deckte, und engagierte sich 1928 bei der Gründung der sozialistischen Partei Partido Socialista del Perú (PSP). Mariátegui starb bereits zwei Jahre später (vgl. Onken, 2013: 217) und hinterließ zwar rhetorische Revolutionspläne, denen es jedoch – anders als zuvor in Mexiko – an massentauglicher Unterstützung mangelte, um das vorherrschende politische System tatsächlich ins Wanken bringen zu können. Ausgehend von den Intellektuellen des Landes setzte sich die öffentliche Forderung eines allgemeinen indigenen Aufwertungsprozesses in den 1920er Jahren
143 Eigene Übersetzung: Der Gründer des heutigen Perus (Cotler, 1987: 184). 144 Dabei finden die Überlegungen zur Überwindung der Marginalisierung der Indigenen von Manuel González Prada Berücksichtigung (vgl. González Prada, 1908). 145 Im Original: „Cuando se habla de la peruanidad, habría que empezar por investigar si esta peruanidad comprende al indio. Sin el indio no hay peruanidad posible.“ (Mariátegui, 1970: 32).
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durch. Der Indigenismo146 wurde zu einer gesellschaftlichen Bewegung, die ganz Lateinamerika erfasste und ihre Ausdrucksformen in Peru vor allem in der Kunst, der Literatur oder auch in der Politik fand. Zwar postulierten verschiedene Oppositionsgruppen vermeintlich indigene Themen, doch dabei handelte es sich weitestgehend nicht um bevollmächtigte Vertretungen der indigenen Gemeinschaften. Insofern kann beim Indigenismus während dieser Zeit nicht von einer genuin indigenen Bewegung in Peru gesprochen werden. Vielmehr entlud sich die gesellschaftlich wahrgenommene Degradierung der indigenen Völker in kulturellen Formen, doch die unterschiedlichen Strömungen deckten sich nicht in ihrer Zielsetzung (vgl. Henk, 2010, 53), was unweigerlich zur Instrumentalisierung indigener Bevölkerungsgruppen, durch verschiedene Interessen- und Machtgruppen, führte. Zwar betonte der politische Identitätsdiskurs, durch die eingeführte Gesetzgebung147 , formal die präkolumbische Vergangenheit Perus, doch letztlich wurde mit der oktroyierten Integration der indigenen Bevölkerung148 in die prävalente Kultur, eine homogene und moderne Nation fokussiert (vgl. Davies Jr., 1973: 191f.). Im Kampf um enteignete Ländereien gründeten Vertretungen verschiedener indigener Dorfgemeinschaften, Hochlandbäuerinnen und -bauern aus den Südanden und im Tagelohn arbeitende Person 1947 den Verband Confederación Campesina del Perú (vgl. Crabtree, 2011: 129), der eng mit den marxistischen politischen Parteien und den Gewerkschaften verbunden war. Die Möglichkeit einer aktiven Beteiligung als (Partei)politisch Agierende bestand für die indigen Bevölkerung zu dieser Zeit nicht (vgl. Ströbele-Gregor, 2004: 4). Vorerst war es alphabetisierten Männern vorbehalten, sich per Wahlrecht politisch zu äußern, bis 1955 auch das Wahlrecht für alphabetisierte Frauen eingeführt wurde. Laut International Institute for Democracy and Electoral Assistance belief sich die Zahl der Wahlberechtigten 1950 auf 776.132 (IDEA, 2016). Dementsprechend entschieden 10,17% der Gesamtbevölkerung – ausschließlich alphabetisierte Männer – über die Wahl des Staatspräsidenten 1950149 . Analphabetisierte erhielten durch den Einsatz von Haya de la Torre 1979 das Wahlrecht. Unter dem Einfluss des Partido Demócrata Cristiano wurde 1960 in Juliaca El Frente Sindical Campesino150 , als regionale Gewerkschaft der Dorfgemeinschaften
146 Siehe zum Diskurs: Böhringer, 1982 u. Berg, 1995: 187f. Siehe (auch) zur Rolle der Mestizen: Arguedas, 1941. Siehe zum religös-spirituellen Konzept der Peruanidad: Belaúnde, 1987. 147 Vor allem die territoriale Anerkennung indigener Dorfgemeinschaften (vgl. Barié, 2003: 471). 148 Auch die 1919 gegründete Sonderorganisation der Vereinten Nationen International Labour Organization (ILO), die u.a. den Mindeststandard der Lebensbedingungen und die Arbeitsverhältnisse indigener Gemeinschaften anmahnte, formulierte 1957 in ihrer Konvention Nr. 107 Assimilationsziele (§4). Andererseits verpflichteten sich die ratifizierten Staaten (Peru, 1960), die Richtlinie in der nationalen Verfassung umzusetzen, wodurch 1974 ein Gesetz für indigene Völker des Amazonasgebietes beschlossen wurde (vgl. Ley de Comunidades Nativas y de Desarrollo Agrario de la Selva y de Ceja de Selva, Decreto Ley No 22175). 149 Die Bevölkerungszahl lag 1950 bei 7.632.460 (vgl. INEI, 2001b: 33, Cuadro No. 13). 150 Eigene Übersetzung: Die Gewerkschaftsfront der Landbewohner.
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im Departamento Puno, gegründet, um den dortigen Landbesitz zu verteidigen (vgl. Cotler u. Porto Carrero, 1976: 302). Der Zugang zu staatlich institutionalisierter Politik, und damit hegemonialer Macht, wurde der überwiegend indigen geprägten Landbevölkerung, auch durch die starke Bildungsdiskrepanz zur Stadtbevölkerung, verwehrt. Die APRA als Vertretung der Unter- und Mittelschicht wurde darüber hinaus, durch eine radikale Repressionspolitik, an der formalen Politik gehindert, wodurch die kreolische Oberschicht bis zur Machtübernahme durch das Militär institutionell nationale Identitäts- und Wirtschaftsinteressen diktierte (vgl. vom Hau, 2010: 172f.). García Canclini verweist in diesem Zusammenhang auf die bedeutsame Funktion von Macht innerhalb der nationalstaatlichen Identitätskonstruktion und erkennt darin eine historisch gewachsene, generelle Strategie der Machtdemonstration hegemonialer Gruppen. Bezogen auf Peru äußerte sich der Großteil der Bevölkerung, wegen der politischen Marginalisierung durch die Machtelite, in Form von Straßenprotesten. Gerade in ländlichen Regionen fehlte es an staatlicher Repräsentanz, die sich vorwiegend auf Militärposten zur nationalen Sicherung beschränkte (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 220). Auf der politischen Machtebene lässt sich folgende Systematik erkennen, eingeführte Gesetze wurden von der Folgeregierung teilweise oder gänzlich wieder abgeschafft. Dieser Mechanismus wurde sowohl im Positiven als auch im Negativen durch den praktizierten Küsten-Zentralismus verstärkt. Die fehlende staatliche Präsenz in Sierra und Selva bedingte die dortige Entstehung selbstregulierender Parallelgesellschaften. Nicht registrierte Geburten stellten daher keinen Einzelfall dar und verhinderten die Wahrnehmung von Bürgerrechten, wie den Schulbesuch, oder die medizinische Versorgung. Per Gesetz (Ley Orgánica del Registro Nacional de Identificación y Estado Civil) wurde 1995 ein behördliches nationales Identitäts- und FamilienstandRegister, das Registro Nacional de Identificación y Estado Civil (RENIEC), gegründet. Auf Basis dieses Registers erfolgte fortan die Erstellung der WahlberechtigtenKartei (vgl. Ley No 26497, 1995). Landesweit wurden 292 RENIEC-Büros eingerichtet, zum Teil auch direkt in Gesundheitseinrichtungen, wodurch die Identifizierung von Neugeborenen vereinfacht wurde (vgl. Homepage Reniec). Genaue Daten darüber, wie viele Personen ihre Bürgerrechte nicht einfordern konnten, liegen für den Untersuchungszeitraum nicht vor. Schätzungen für die Mitte der 1990er Jahre belaufen sich auf mehrere Millionen (vgl. Meentzen, 2007: 126) bzw. 15% der Geburten in ländlichen Regionen (vgl. Amnesty, 1996). Demographische Daten über die in Peru lebenden indigenen Völker variieren je nach Quelle. Nicht-staatlichen Untersuchungen zufolge existierten Ende des 20. Jahrhunderts ca. 70 indigene Völker und 52 linguistische Gruppen in Peru, die sich teilweise auch rivalisierend gegenüberstanden und unterschiedliche Interessen für ihre Gruppe vertraten (vgl. Meentzen, 2007: 124). Das Kulturministerium Ministerio de Cultura ging im gleichen Zeitraum von 55 anerkannten indigenen Völker aus (vgl. Resolución Legislativa No 26253, 1989). Durch die vielfältigen Dialekte, innerhalb der 47 ermittelten indigenen Sprachen, mangelte es beispielsweise auch zwischen den regionalen Quechua-Gruppen an Verständigungsmöglichkeiten (Ministerio de Cultura).
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Im Amazonasgebiet gründete sich aus den indigenen Völkern Aguaruna und Huambisa 1977 der gleichnamige Gemeinschatsübergreifender Rat Consejo Aguaruna y Huambisa (CAH), der als federführende Organisation für den Landschutz und die Bildungs- und Gesundheitsfragen von ca. 45.000 Indigenen einstand (vgl. Romio, 2014: 148). Die historische Rivalität der Aguaruna und Huambisa wurde innerhalb eines gemeinsamen politischen Identitätsbewusstseins überwunden und läutete eine neue gesellschaftspolitische Etappe der involvierten Akteurinnen und Akteure ein. Um die Bedürfnisse aller indigenen Völker der Anrainerstaaten des Amazonasbeckens zu koordinieren, wurde 1984 in Lima die Coordinadora de las Organizaciones Indígenas de la Cuenca Amazónica151 gegründet (vgl. Coica, 2016). Von peruanischer Seite aus fungierte die seit 1980 aktive Asociación Interétnica de Desarrollo de la Selva Peruana152 (AIDESEP) als Gründungsmitglied. Auch der CAH hatte sich der AIDESEP angeschlossen, die 64 Dorfgemeinschaften aus 16 verschiedenen Sprachfamilien repräsentierte (vgl. AIDESEP, 2016). Dadurch entstand ein bilateraler Austausch zwischen institutionellen Vertretungen indigener Dorfgemeinschaften und dem peruanischen Staat. Entgegen der indigenen Vereinigungen der Anden formulierte die AIDESEP, neben wirtschaftlichen und territorialen Ziele, auch kulturelle Forderungen (Los Objetivos de AIDESEP). Schlussfolgernd kennzeichnete Peru eine Pluralität kultureller Räume, wodurch – wie García Canclini sagt – nicht (mehr) von reinen, territorial festgelegten, Identitäten gesprochen werden kann (vgl. García Canclini, 1992: 17). Durch diesen Veränderungsprozess konnte die kulturelle Identität im wirtschaftlichen Kontext auch hintenanstehen (vgl. Meentzen, 2005: 47f.). Trotz Sprachbarrieren lockte die Hauptstadtregion, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zunehmend ökonomisch motivierte Binnenmigrierte an. Die individuellen Migrationsgründe lassen sich mit dem Push- und Pull Modell von Everett S. Lee (1972) clustern. Laut einer Befragung der nationalen Statistikbehörde stellte zwischen 1956 und 1965 der PullFaktor Arbeit mit 53,9% für Männer, und die Familie zu 47% für Frauen, den jeweiligen Hauptgrund dar, gefolgt von besseren Arbeitsbedingungen mit 33,6%. Push-Faktoren, also Beweggründe die von der Heimatregion „wegdrücken“, spielten mit 11,7% bei Männern und 8,8% bei Frauen die untergeordnete Rolle (Informe N◦ 3 de la Encuesta de Inmigración, 1968: 18). Die Land-Stadt-Wanderung führte zu einem landesweiten Anstieg der Stadtbevölkerung von 47,4% in 1961, auf 59,5% in 1972 und 70,1% in 1993 (vgl. INEI-Censos Nacionales Peru, Poblacion Censada urbana, 1961, 1972 u. 1993). Abbildung 7 zeigt die Veränderungen der Bevölkerungsverteilung von Sierra zu Costa (eigene Darstellung nach INEI, 2007: 14). Diese Entwicklung wurde verstärkt in den 1980er Jahren als Eroberung Limas (vgl. Golte u. Adams, 1987), oder als urbane Ruralisierung (vgl. Cotler, 1994: 43
151 Eigene Übersetzung: Koordinatorin der im Amazonasbecken einheimischen Organisationen. 152 Eigene Übersetzung: Indigene Vereinigung zur Entwicklung des peruanischen Regenwaldes.
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Abbildung 7: Regionale Bevölkerungsentwicklung in Prozent
u. Lüken, 1981: 348) diskutiert. Demnach fanden ein ländlicher Lebenswandel und rurale Verhaltensweisen Einzug in die Stadt und sorgten beispielsweise für urbane Land- und Tauschwirtschaft. Doch die erzeugte Dichotomie greift an der Stelle zu kurz, denn Lima war weder ausschließlich eine moderne Stadt, noch ein rein traditioneller Acker; weder die andine, noch die Limeño-Kultur triumphierte über die jeweils andere (vgl. Martuccelli, 2015: 78 u. 107). Stattdessen weichten im urbanen Kontext traditionelle Widersprüche, wie beispielsweise andin und modern, auf, um gesellschaftliche Änderungsprozesse zu erklären und Moderne und Tradition multidimensional zu verflechten (vgl. Degregori, 1995: 318). Degregori verweist auf García Canclinis Forschungsergebnis, wonach sich Mitte des 20. Jahrhunderts Grenzidentitäten und hybride Kulturen entwickelten, und dadurch eine differenziertere Betrachtungsweise der Hochlandbevölkerung in den Städten erfolgte (ebd.: 317). So wandelte sich der negativ konnotierte Begriff Cholo, der im 16. Jahrhundert noch der diskriminierenden Fremdzuschreibung von Mulatten-Nachfahren diente. Im Urbanisierungsprozess verwendeten indigene Personen die Selbstzuschreibung Cholo (vgl. Speiser, 2004: 178), um ihrer neuen, hybriden Identität153 , als Mitglied der kreolischen Gesellschaft, den entsprechen Ausdruck zu verleihen (vgl. Blum, 2001: 194 u. Ardito Vega, 2005). Die soziale Praxis des Identitätsverständnises bedingte sich in Peru durch gelebte, multidimensionale Hierarchiemuster, die im Zuge der Urbanisierung auch einen Entindigensierungsprozess in Gang setzten154 . Die äußerlich wahrnehmbare
153 Heutzutage wird Cholo als Synonym für Mestize benutzt; beispielsweise gab sich Perus Präsident (2001–2006) Alejandro Toledo im Wahlkampf den Spitznamen El Cholo (vgl. BBC Mundo.com, 2000). 154 Siehe zum Wandel der Gesellschaftsstruktur und der sozialen Klassen: Stavenhagen, 1996.
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Abbildung 8: Bevölkerungsanteil mit indigener Selbstzuschreibung an der Gesamtbevölkerung
indigene Identität, in Form von Kleidung oder Sprache, verlagerte sich dabei zu einem Identitätserweiterndem, intim-häuslich zelebrierten, indigenen Wertesystem (vgl. Meentzen, 2007: 121f.). Abbildung 8 zeigt die Entwicklung der indigenen Selbstzuschreibung im Rahmen der Zensus-Befragungen bis 1993 (eigene Darstellung nach Sulmont u. Valdivia, 2012: 198). Wichtig bei der Analyse der Daten ist die veränderte Ableitung der Kategorie Ethnizität155 . Während sich die Zahl der Einwohnerschaft in Peru von 14,1 Millionen in 1972, auf 17,7 Mio. in 1981 und 22,6 Mio. in 1993 entwickelte, veränderte sich die Gesamtanzahl der indigenen Bevölkerung kaum und blieb seit dem Zensus 1961 fast unveränderlich bei ca. 4 Millionen (vgl. INEI, Zensusdaten 1961–1993). Dieser quantitative Rückgang im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung kann nicht mit demographischen Fakten, wie der Geburten- oder Sterberate, erklärt werden. Vielmehr wird der angesprochene Wandel der Selbstidentität, als Folge der Binnenwanderung156 in urbane Zentren, und das damit verbundene Aufbrechen des Kulturverbands sichtbar. Auch die Menschenrechtsverletzungen im Zuge des Bürgerkriegs seit den 1980er Jahren verstärkten diesen Identitätsprozess. Massaker, Entführungen und andere subversive Aktionen der konkurrierenden Guerillaorganisationen Sendero Luminoso (SL) und Movimiento Revolucionario de Túpac Amaru (MRTA), sowie die Gegeneinsätze des Militärs, forderten alleine im Jahr 1984 insgesamt 3588, vorwiegend indigene, Opfer (vgl. Youngers u. Peacock, 2002: 5). Diese Daten verdeutlichen einen gesellschaftsstrukturellen Wandel, hin zu einer ethnisch hybriden Bevölkerungsselbstwahrnehmung. Demnach galt Peru in den 1970er nicht (mehr) als überwiegend
155 Bis zum Zensus 1940 wurde noch nach der Rasse (raza) gefragt, bevor 1961 die Kategorie kulturelle Ethnizität (Etnicidad como cultura) diesen Bereich ersetzte. Seit 1972 wird die Sprachethnizität (Etnicidad como lengua) abgefragt (vgl. INEI, Zensusdaten, 1961–1993). 156 Während die rurale Bevölkerung 1961 noch 53% der nationalen Bevölkerung ausmachte, waren es lediglich 30% in 1993 (Figueroa, 1995: 19).
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indigen-geprägtes Land. Die Zensusdaten zeigen, dass bei in indigenen Gebieten geborenen und zum Befragungszeitpunkt in urbanen Zentren lebenden Personen, die indigene Zugehörigkeit nicht mehr automatisch über den Faktor Muttersprache abgebildet werden konnte, sondern einer differenzierteren Kategorisierung über das Herkunftsgebiet bedurfte (vgl. Speiser, 2004: 173). Auch wegen der gewaltsamen Castellanización (Castellanisierung) (vgl. Ministerio de Educación, 1970: 22f.) kann Sprache im Untersuchungszeitraum nicht als schablonenhaftes Merkmal kultureller Zugehörigkeit in Peru gelten. Bei einer Quechua Muttersprachlerin verdeutlichte eine qualitative Befragung den Zusammenhang zwischen rassistischen Erfahrungen aufgrund ihrer ethnischen Wurzeln und dem Ablegen ihrer kulturellen Identität. Wegen mangelnder Aussicht auf Bildung in einer Provinz bei Cusco, zog sie mit 14 Jahren nach Arequipa. Sie wollte in die Schule gehen können und nicht mehr als Lama Hirtin arbeiten müssen, sondern als Hausangestellte. Zum Zeitpunkt des narrativen Interviews identifiziere sie sich nun mit 16 Jahren (eher) als „spanischsprachige moderne Städterin“ (Gugenberger, 2004: 76). Exemplarisch verdeutlicht sich hier der von Néstor García Canclini als desterrritorializar (Deterritorialisierung) bezeichnete „Verlust des „natürlichen“157 Zusammenhangs zwischen der Kultur und den geographischen bzw. sozialen Territorien“ (García Canclini, 1989: 288). Arjun Appadurai behandelt diesen Prozess, unter der besonderen Hervorhebung von globalen Migrationsbewegungen, als ethnoscapes, wonach Urbanisierungsprozesse nicht mehr nur auf nationaler Ebene stattfinden, sondern zunehmend globaler werden (vgl. Appadurai, 1998: 14f.). Schlussfolgernd findet die spezifische kulturelle Verortung viel komplexer, und nicht ortsgebunden, statt. Dies verdeutlicht ein Beispiel von in Japan lebenden Peruanerinnen und Peruanern, die sich im Rahmen einer narrativen Befragung wie folgt beschrieben: „outside we are a bottle of sake and inside us there is Inca Kola“ (Takenaka, 1997: 94). Die Metapher zeichnet eine japanische Hülle mit peruanischem Inhalt und macht eine hybride Identität exemplarisch greifbar. Laut Nicht-Regierungsorganisation SIL International existierten im vorigen Jahrhundert insgesamt 104 verschiedene Sprachen in Peru, wovon 11 bereits ausgestorben und 15 vom Aussterben bedroht sind. Von den 93 aktiven Sprachen sind zwei nicht-indigen (vgl. SIL International, 2012). Entsprechend der Zensusdaten von 1940 und 1981 hat sich die Gruppe der monolingual Spanisch sprechenden Personen von 46,7% auf 73% erhöht. Gleichzeitig sank die Zahl der monolingual eine indigene Sprache sprechenden Personen von 35% auf 8,5%. Die Biligualität entwickelte sich ebenfalls rückläufig, von 16,6% in 1940 auf 15,8% in 1981 (vgl. Berschin et al., 2012: 28). Offizielle Alphabetisierungsraten spiegeln, auch durch die fehlende verbindliche Orthographie der indigenen Sprachen bis ins 20. Jahrhundert, den Stand der Hispanisierung wieder. Die Anzahl der Lese- und Schreibkun-
157 Hervorhebung im Original.
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digen entwickelte sich zwischen 1950 und 1970 von 51% auf 72% der Bevölkerung (vgl. Astorga et al., 2004: 32), wobei die Bildungsangebote in Sierra und Selva quantitativ generell schlechter ausfielen. Dies sollte durch eine umfangreiche Bildungsreform, während der ersten Phase der Militärregierung 1968 bis 1975, geändert werden (vgl. Bizot, 1976: 18ff.). In dieser Zeit rückte die Gestaltung der nationalstaatlichen Identität, unter dem Modell mestizaje, wieder ins politische Bewusstsein (vgl. Henk, 2010: 58f.). Hierunter verbarg sich die ethnische Verschmelzung im Zuge der Migrationsbewegungen und der verbundenen demographischen Veränderungen zu einer Nation (vgl. Werz, 2005: 71). Staatspräsident General Velasco Alvarado sah hierfür Bildung als geeignetes Mittel des Kulturtransfers an und erhoffte sich dadurch eine Stärkung der nationalen Identität (Ministerio de Educación, 1970: 22f.). Ihr Übriges sollte die Peruanisierung der Industrie dazu beitragen, die mit der medienwirksamen Nationalisierung der nordamerikanischen Ölgesellschaft International Petroleum Company (IPC) begann. Ergänzt durch weitere Enteignungen internationaler Unternehmen (vgl. Clayton, 1999: 7) plante General Velasco Alvarado die Loslösung vom Auslandskapital. Eine der umfangreichsten Agrarreformen (Ley N◦ 17716) in Lateinamerika sollte 1969 die landwirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse neu strukturieren (vgl. Velasco Alvarado, 1969). General Velasco Alvarado knüpfte die erfolgreiche Nationenbildung an die Gleichberechtigung aller ansässigen Ethnien (Decreto Ley N◦ 21156), woraufhin zunächst Quechua 1975 als Amtssprache in Peru eingeführt wurde. Durch bilinguale Bildungsprogramme sollte der Unterdrückung der Indigenen, per staatlich forcierter Inklusion, entgegengewirkt werden. Gründe für die bis dato gescheiterte Etablierung einer homogenen Nationalkultur finden sich in der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Auslandskapital und in der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, deren Mitglieder ihre vollen Rechte als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nicht einforderten (vgl. Sánchez, 2002: 152). Die politischen Maßnahmen der Regierung von Velasco Alvarado konzentrierten sich daher maßgeblich auf diese Zielgruppe, wodurch Bildung nicht – wie bis dato üblich – der Elite vorbehalten war (vgl. Morillo Miranda, 2001: 2). Unter dem Motto: „Wir sind alle Mestizen“ (Robles Rivas, 1972: 231f.) repräsentierte der mestizische Staatspräsident perfekt die neue Mittelschicht, und als militärischer Karrierist lebte Velasco Alvarado persönlich vor, dass der Zugang zu Machtpositionen nicht automatisch aufgrund einer bestimmten ethnischen Herkunft ausgeschlossen sein musste. Doch bei seinem (neuen) peruanischen Identitätsdiskurs blieben die weiße Elite, die Afro-Amerikanerinnen/Afro-Amerikaner, oder auch die asiatischen Einwanderinnen und Einwanderer außen vor (vgl. IPEHomepage). Der Fokus lag aus politischer Perspektive, zum Wohle der kulturellen Homogenisierung und wirtschaftlichen Modernisierung, auf dem institutionellen Assimilationsprozess der als reaktionär geltenden Indigenen, an die hegemoniale Criollo-Kultur (vgl. Arias-Schreiber, 2003: 190 u. Meentzen, 2007: 30). Mit der Einleitung des Demokratisierungsprozesses und dem verbundenen Ende der Militärregierung wurden bereits errungene Rechte in der Verfassung von 1979 wieder relativiert. In Artikel 83 heißt es, dass die indigenen Sprachen Quechua und Aymara auch von amtlichem Gebrauch sind, ihre Verwendung allerdings gesondert nach
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geographischen Zonen und in der Form per Gesetz festgelegt werde (vgl. Belaúnde Terry u. Asamblea Constituyente 1979: Artikel 83). Die übrigen indigenen Sprachen fanden keine namentliche Erwähnung, sondern wurden im Themenkomplex des kulturellen Erbes der Nation subsumiert. Der nationale Diskurs konzentrierte sich fortan auf wirtschaftliche Aspekte. Zwar konnte die, von der Militärregierung um General Velasco Alvarado, 1969 umgesetzte Agrarreform die wirtschaftliche Lage der indigenen Bevölkerung nicht nachhaltig verbessern (vgl. Henk, 2010, 57f), doch durch die veränderten ruralen Abhängigkeits- und schwindenden oligarchischen Machtverhältnisse vollzog sich auch in ländlichen Gebieten ein gesellschaftlicher Strukturwandel. Zuvor kontrollierten und hemmten die Großgrundbesitzenden den sozioökonomischen Status der Sierra-Agrarfamilien, während sich um Lima herum – auch durch den Hafen von Callao – das moderne, wirtschaftliche Zentrum Perus entwickelte. Dabei fußte die politisch fokussierte, importsubstituierende Industrialisierung, die neue Industrieanlagen im Land schuf, auf einer Auslandskapital basierten Finanzierung. Die Auslandsverschuldung stieg zwischen 1969 und 1975 von 1,11 Milliarden auf 2,67 Milliarden weiter an (vgl. Stepan, 1978: 286). Auch die Rückkehr zur Demokratie konnte die schlechte wirtschaftliche Lage Perus nur kurzzeitig entschärften, bevor Peru 1990 eine vierstellige Inflationsrate zu beklagen hatte. In diesen Zeiten boomte der urbane Tauschhandel, vor allem bei Nahrungsmitteln, erneut auf (vgl. Pentierra, 2006). Trotz der offiziell vorhandenen Geldwirtschaft bestand gerade in ruralen Gebieten eine traditionelle Verbundenheit zum Tauschhandel, um im Kollektiv schlechte Erntezweige untereinander zu substituieren, oder um Vieh gegen Getreide zu tauschen. Auch der Mangel an Münzen in abgelegenen Gebieten tat sein Übriges dazu. Im Valle del Mantaro – in den Anden – stellte der Tauschhandel für Agrarprodukte bei sogenannten Mercados de Trueque bis in die 1980er Jahre die gängige Bezahlpraxis dar (vgl. Werge, 1980: 12). Waren definieren sich also über ihre Nachfrage, die im hochkomplexen Konsumprozess den jeweils entsprechenden Wert bestimmt. Laut Arjun Appadurai kann Konsum nicht auf eine ökonomische Handlungsweise beschränkt werden. Er betont in diesem Zusammenhang das soziale Leben von Dingen/Waren: „Let us approach commodities as thing in a certain situation, a situation that characterize many different kinds of things, at different points in their social lives.“ (Appadurai, 1986: 13).
Waren wurden, durch die ethnischen und regionalen Diskrepanzen, innerhalb der peruanischen Gesellschaft sehr heterogen kontextualisiert. García Canclini bezeichnet Konsum daher auch als „Ort der Differenzierung und Unterscheidung zwischen Klassen und sozialen Gruppen“ (García Canclini: 1995: 44). Für die zum Teil unkontaktierten und in freiwilliger Isolation lebenden Völker des Amazonasgebietes158 waren monetäre Tauschgeschäfte, und die aktive Partizipation am Wirtschafts-
158 Siehe ausfährlich: Huertas Castillo, 2004.
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und Konsumleben, nicht von Belang159 . An der Küste wurde 1960 hingegen, begünstigt durch das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, mit dem Centro Comercial Risso das erste Einkaufszentrum in Lima eröffnet; 1970 folgte das Centro Comercial Arenales (vgl. Regalado et al., 2009: 46). Das neue Indoor-ShoppingKonzept wurde von der aufstrebenden Gesellschaft in Lima gut angenommen, woraufhin auch die Einkaufszentren Plaza San Miguel, Camino Real und Molicentro eröffnet wurden. Doch die politischen und wirtschaftlichen Probleme, einhergehend mit technologischen Grenzen und dem Terrorismus, führten zur Stagnation der Absatzmärkte, die sich erst mit der Einweihung des Jockey Plaza Shopping Centers 1997 wieder zu erholen begannen (ebd.). Außerhalb der urbanen Zentren konzentrierte sich der Handel auf Freiluft- und Supermärkte. Die angebotenen Konsumgüter (inkl. Lebensmittel) stammten überwiegend aus ausländischer Produktion. Wegen mangelnder staatlicher Unterstützung bei der Kreditvergabe, und der schlechten Verwaltung der landwirtschaftlichen Genossenschaften, war Peru nicht in der Lage die Agrarprodukte selbst zu produzieren. Tabelle 3160 zeigt die Entwicklung der Konsumgüterimporte von 1986 bis 1995. Jahr Verbrauchsgüter Gebrauchsgüter Konsumgüter insg.
1986 324 55 379
1987 362 46 408
1988 244 29 273
1989 229 26 254
1990 300 38 338
1991 454 300 755
1992 492 412 904
1993 55 379 934
1994 707 637 1345
1995 911 844 1755
Tabelle 3: Entwicklung der Importe für Konsumgüter, 1986–1995 (in Millionen US-Dollar) Diese massiven Importe führten wiederum zu einer allgemeinen Verringerung der Industrieproduktion und ließen die Arbeitslosigkeit ansteigen. Die desaströse Finanzlage in ganz Lateinamerika führte zur Formulierung „lost decade“ (Singh, 1999: 12) für die 1980er Jahre, die in Peru von El Niño, dem aufflammenden Terrorismus sowie den Folgen der heterodoxen Wirtschaftspolitik von Alan García gekennzeichnet waren. Bedingt durch die weltweite Rezension sanken die Preise der Exportklassiker und so verschlechterte sich die Handelsbilanz Perus von 1,007 Milliarden in 1984 auf minus 16 Millionen in 1986 (vgl. Banco Central de Reserva del Perú, 1986: 166, Anexo XXIX). Während sich das BIP zwischen 1950 und 1975 um plus 80% noch kontinuierlich positiv entwickelte, setzte mit den sich ständig konterkarierenden Stilen der Wirtschaftspolitik der finanzielle Verfall Perus ein. Dies verdeutlichen auch die Zahlen zum Einkommensniveau und zum Lebensstandard
159 Schutz auf Selbstbestimmung fanden gleichermaßen Ureinwohnenden-Gemeinschaften, Indigene mit Erstkontakt zur Zivilisation sowie Indigene in Isolation im 1,716,295 Hektar großen Reservat Parque Nacional del Manú (Gesetz Decreto Supremo 0644-73 zum Erhalt des kulturellen Erbes vom 29.05.1973.) Trotzdem kam es seit der Gründung 1973 zum ungewollten Kontakt einzelner Völker mit Arbeitern von Ölgesellschaften (vgl. Tello Abanto, 2003: 11). Die UNESCO erklärte den Park 1987 zum Weltnaturerbe (vgl. UNESCO, 1987). 160 Eigene Darstellung nach Banco Central de Reserva del Perú, Memoria 1995, Anexo 26, S. 162.
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seit 1950. Davon ausgehend, dass das jährliche Bevölkerungswachstum zwischen 1950 und 1997 durchschnittlich 2,6% betrug, entwickelte sich das BIP pro Kopf im gleichen Zeitraum um schwache 0,7% und der private Konsum um 0,6%, wie in Tabelle 4 abzulesen ist (eigene Darstellung nach Roca u. Simabuko, 2004: 124). Das BIP (pro-Kopf) und das Pro-Kopf-Konsumwachstum haben sich nicht parallel entwickelt. In den 1950er, 1970er und 1990er Jahren überstieg das Pro-Kopf-BIPWachstum den Anstieg des privaten Konsums, während es in den 1960er und 1980er Jahren geringer ausfiel. Dekade BIP-pro-Kopf Pro-Kopf-Konsum
1950–60 2,4 1,5
1960–70 2,2 3,8
1970–80 0,9 -0,7
1980–90 -2,5 -1,8
1990–97 3,9 3,5
1950–97 0,7 0,6
Tabelle 4: Entwicklung in Prozent, BIP und privater Konsum, 1950-1997 Im internationalen Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen von 1990 erhielt Peru 0.611 von maximal einem Indexpunkt und erreichte damit, zusammen mit Brasilien, den sechsten Platz der insgesamt 12 südamerikanischen Länder, vor Kolumbien mit 0.592 und hinter Venezuela mit 0.634 (HDI, 1990). Laut einer ländervergleichenden Studie lag der private pro Kopf Konsum 1995 in Peru bei 3095 US-Dollar, bei einem lateinamerikanischen Durchschnittswert von 4093 US-Dollar (vgl. Arranz, 2004: 18). Im selben Jahr in dem Staatspräsident Alberto Fujimori wiedergewählt wurde, verfügte Peru über durchschnittlich weniger finanzielle Mittel für den privaten Konsum, als die Dominikanische Republik mit 3369 US-Dollar, El Salvador mit 3474 US-Dollar und auch Paraguay mit 3858 USDollar (vgl. ebd.), was vor allem an den gesunkenen Löhnen lag. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im formellen Sektor verfügten 1992 über ein Reallohnniveau, das bei 35% von 1981 und 23% von 1973 lag, wie Abbildung 9 verdeutlicht (eigene Darstellung nach Nunura u. Flores, 2001: 35). Einbezogen werden muss auch der informelle Sektor, dessen Anteil in den 1990er Jahre im Departamento Lima von 58,2% (1990–92) auf 60,2% (1996–99) der wirtschaftlich aktiven Bevölkerungsgruppe (PEA) anstieg (vgl. ebd.: 35). Zudem gewährte der ambulante Handel vor allem Frauen eine Einnahmequelle. So stieg die Zahl der erwerbstätigen Frauen im arbeitsfähigen Alter (ab 14 Jahren) zwischen 1997 und 1998 in Lima von 44,9% auf 45,7%, während der Anteil der erwerbstätigen Männer von 55,1% auf 54,3% sank (vgl. Dirección Nacional de Estadística e Informática Departamental, 2000: 96). Auch landesweit lässt sich ein Anstieg der PEA im informellen Sektor verzeichnen. Zwischen 1995 und 1997 stieg der Anteil von 45,3% auf auf 63,3% (vgl. Centro Nacional de Planeamiento Estratégico (CEPLAN), 2011: 25). Die Auswirkungen des populistischen Regierungsstils von Staatspräsident Alan Gracía führten zu einer Verschiebung innerhalb der Arbeitsmärkte. Vor allem erweiterte sich das Angebot im Niedriglohnsektor und bot auch Arbeit für Geringqualifizierte. Deutlich wird anhand dieser Zahlen, dass Ende des 20. Jahrhunderts im Hauptstadt-Departamento mehr als die Hälfte der PEA im informellen Sektor tätig
Perus Identitätsdiskurs und Konsumkultur
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Abbildung 9: Entwicklungen Reallöhne zwischen 1970 und 1992 waren und somit überwiegend keinen Anspruch auf Leistungen des Gesundheitsund des Rentensystems geltend machen konnten. Der Großteil der Straßenverkäuferinnen und Straßenverkäufer besaß laut INEI keine Steuernummer beim Registro Único de Contribuyentes (RUC). Dies verdeutlicht die politische Seite von Konsum, die Appadurai wie folgt beschreibt: „What is political about this process is not just the fact that it signifies and constitutes relations of privilege and social control. What is political about it is the constant tension between the existing frameworks (of price, bargaining, and so forth) and the tendency of commodities to breach these frameworks.“ (Appadurai, 1986: 57).
Die Bedürfnisse und Absichten der einzelnen Agierenden waren innerhalb der spezifischen Rahmenbedingungen sehr unterschiedlich, wodurch ein permanenter Druck herrschte diese zu durchbrechen. In sozialen Aushandlungsprozessen erfolgt die spezifische Inwertsetzung von Waren, verstanden als „things in motion“ (ebd.: 5), die von Machtkonstellationen und persönlichen Wertekontexten abhängig sind (vgl. ebd.: 4). Für García Canclini bedeutet konsumieren die aktive Teilhabe an der Gesellschaft, wonach Konsum auch durch eine interaktive gesellschaftspolitische Rationalität zur Bedürfnisbefriedigung motiviert ist (vgl. García Canclini, 1995a: 44). Doch nicht alle Peruanerinnen und Peruaner erhielten den gleichen Zugang zum aufkommenden Massenkonsum, der als Distinktionsfaktor eine Überlegenheit derer konstruiert, die an ihm partizipieren dürfen. Mit dem Re-Demokratisierungsprozess seit 1980 kam neben dem Staat und dem Konsum ein einflussreicher Identitätsakteur dazu. Die Einführung des Farbund später auch des Kabelfernsehens eröffnete, vor allem der urbanen Bevölkerung, Zugang zu einer neuen, identitätsstiftenden Medienwelt (vgl. Gargurevich Regal, 2012: 15 u. Universidad de San Martín de Porres, 2005: 194). Das Programm war von US-amerikanischen Billigproduktionen und globaler wie nationaler
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Werbung geprägt, die überwiegend die weiße, gesunde und hübsche Frau als Werbeideal inszenierten. Neben dem nicht repräsentativen Schönheitstyp wurden auch Konsumgüter beworben, die sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht leisten konnte, wie z.B. Autos oder Kreditkarten (vgl. Sierck, 1996: 210). Der materielle und monetäre Fokus dieser globalen Einflüsse erzielte eine Dekonstruktion der eigenen Werte und der kulturellen Identität. Appadurai bezeichnet das Aufbrechen nationalstaatlicher Grenzen, durch transnationale Massenmedien, als mediascape (Appadurai, 1996: 33), worunter er die Bildung von Zeit- und Ortsunabhängigen medialen Gemeinschaften versteht. Demnach können medial vermittelte Werte und Normen im Kontext der kulturellen Globalisierung Widersprüche mit der eigenen Identität erzeugen. Die starke Ausdifferenzierung der peruanischen Gesellschaft war, im Gegensatz zu staatlichen Nationalismus-Parolen, für identitätsstiftende (nationale) Werbung empfänglich. An anderer Stelle161 gilt es differenzierter zu analysieren, ob dadurch auch gesellschaftliche Veränderungsprozesse in Gang gesetzt werden konnten. Im Jahr 1996 erhob die nationale Statistikbehörde erstmals Daten über die Armutslage der Bevölkerung. Demnach war das Einkommen von 43,1% unter den Kosten eines Basis-Warenkorbes. In den ländlichen Gebieten betraf die Armut mit 52% mehr als die Hälfte der Bevölkerung, während es in den städtischen Gebieten 38,2% waren. Differenzierter betrachtet waren, gemessen an der Einwohnerschaft einer Region, 67.9% der Regenwald-Bevölkerung von extremer Armut betroffen. An der ruralen Küstenregion waren es 66,8% und im ländlichen Hochland betrug die Zahl 61,2% (vgl. INEI, 1996). Der monetäre Besitz war in Peru extrem ungleich verteilt (vgl. Pastor Vargas, 2012: 138), wodurch Solidarität und Kollektivismus für die Bevölkerungsmehrheit wichtiger waren, als materielle Werte. Die Daten der Haushaltserhebung La Encuesta Nacional de Hogares (ENAHO) ergeben für den Zeitraum 1981 bis 1999, dass das Haushaltseinkommen überwiegend von mehreren Personen erwirtschaftet wurde (vgl. ebd.: 6). Trotz des Mindestalters zwischen 12 und 16 Jahren, arbeiteten 1996 insgesamt 48,9% der 6–17-Jährigen in ruralen Gebieten und 62,2% der Gleichaltrigen in urbanen Gebieten, statt der Schulpflicht nachzukommen162 (vgl. INEI, 1996: ENAHO, Tasa de Actividad por grupos de edad). Anhand der von der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik klassifizierten Haushaltstypen (vgl. Comisión Económica para América Latina (CEPAL), 1997: 130) zeigt Abbildung 10 die Entwicklung der privaten Haushalte zwischen 1981 und 1999 (eigene Darstellung nach Ponce Alegre, 2004: 24). Der dominierende Typ (nuclear) besteht aus einem Paar, mit oder ohne Kind(er), bzw. aus einer allein erziehenden Person mit Kind(ern). Am zweithäufigsten kommt der sogenannte extendido Haushaltstyp vor, der den nuclear-Typ um ein weiteres Fami-
161 Siehe ausführlich: Kapitel 5. 162 Die Schulpflicht bis einschließlich der Sekundarschule (11 Schuljahre) wurde 1993 eingeführt (vgl. Congreso Constituyente, 1993, Artikel 17, Capitulo II).
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lienmitglied im Haushalt ergänzt. Leben auch nicht verwandtschaftlich verbundene Personen mit im Haus, handelt es sich um den Typ compuesto (mit Ausnahme von Hausangestellten bei den Daten von 1997–1999). Am wenigsten verbreitet sind der Einpersonenhaushalt (unipersonal) sowie der Mehrpersonen-Haushalt, ohne partnerschaftliche (oder elterliche) Bindung des Familienoberhauptes (weiblich oder männlich) mit anderen Verwandten (sin núcleo) (vgl. ebd.).
Abbildung 10: Entwicklung der privaten Haushalte nach Haushaltstyp, 1981–1999 Die nationale Bevölkerungszahl lag 1995 bei 23.926.300 (vgl. INEI, 1996). Der Großteil der peruanischen Bevölkerung lebte Ende des 20. Jahrhunderts in Mehrpersonen-Haushalten. Dessen ungeachtet verlor die Ehe als Versorgungseinheit im urbanen Kontext an Bedeutung, wie die von RENIC und INEI erhobenen Daten seit Mitte der 1990er Jahre verdeutlichen. Auf 27.256 Hochzeiten kamen 1995 im Departamento Lima 1088 Scheidungen, bei 7.007.548 Einwohnerinnen und Einwohnern. Die Eheschließungen in 1996 nahmen auf 25.657 ab, wobei die Scheidungen auf 1144 anstiegen. 1997 erfolgte statistisch gesehen mit 29.807 Hochzeiten zwar ein Heiratsboom, doch gleichzeitig kam es mit 2181 Scheidungen fast zu einer Verdoppelung, bei einer gestiegen Zahl der Departamento-Einwohnerschaft auf 7.194.816 (vgl. INEI, 1996: Cuadro No 31 u. 32). Gerade in ruralen Gebieten stellte zunehmend eine Schwangerschaft den Beweggrund für eine Ehe dar (vgl. Mannarelli, 2004: 327). Dort unterblieb die Scheidung auch meist aus wirtschaftlichen Gründen (vgl. Sierck, 1996: 155). In Anbetracht der vorherrschenden sozioökonomischen Unterschiede innerhalb der peruanischen Bevölkerung, stellt sich die Frage der Auswanderungsentwicklung. Laut peruanischem Wirtschaftsinstitut Instituto Peruano de Economía (IPE) waren im Untersuchungszeitraum die in Tabelle 5 aufgezeigten Phasen und Destinationen der Auslandsmigration zu beobachten (eigene Darstellung nach Angaben des IPE). Während in der ersten Phase ausschließ-
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Identitätskonstruktion, nationaler Konsum & Moderne(n)
Phase/ Destination USA
1. Phase: 1920-1950 New York, New Jersey
2. Phase: 1950-1970 dito, Illinois, Kalifornien
Europa West
dito, Belgien, BRD
Europa Ost
Spanien, Großbritannien, Italien, Frankreich /
Lateinamerika
/
Argentinien, Venezuela
Kanada
/
/
Australien
/
/
Japan Sonstige
/ /
/ /
/
3. Phase: 1970-1980 dito, Connecticut, Washington dito, Niederlande, Schweiz
4. Phase: 1980-1990 alle Bundesstaaten
UdSSR, Tschechoslowakei, Jugoslawien dito, Mexiko und Costa Rica Ostkanada
dito
Nord- und Südost / Karibik, Korea, Arabische Länder, Israel
dito, Skandinavien
dito, Zentralamerika dito, Westkanada dito landesweit /
Tabelle 5: Phasen der Auslandsmigration im Untersuchungszeitraum
lich Mitglieder der Oberschicht auswanderten, waren es in der zweiten Phase überwiegend Angehörige der Mittelschicht, also Unternehmerinnen/Unternehmer und Studierende. Diese zog es in der dritten Phase verstärkt in sozialistisch geprägte Länder Europas. Mit dem zunehmenden Terrorismus seit 1980 nahm die Bereitschaft auszuwandern in allen sozialen Schichten zu (vgl. Abusada Salah u. Pastor Vargas, 2008: 5f.). Laut INEI wanderten zwischen 1990 und 1994 durchschnittlich 58.917 Personen pro Jahr aus und das bei einer Bevölkerungsentwicklung von 21,7 Millionen auf 23,5 Millionen (vgl. INEI, 2012: 16). In den 1990er Jahren stellte Auswandern lediglich für den kleinen Teil von durchschnittlich 1,9% der Peruanerinnen und Peruanern163 jährlich eine Perspektive dar. Das Hauptauswanderungsland der 1990er Jahre war mit 29% Chile, gefolgt von den USA mit 16,3% und Bolivien mit 16,1% (vgl. ebd.: 21 u.25). Die dargelegten Daten verdeutlichen, dass im Untersuchungszeitraum keine einheitliche Konsumkultur in Peru herrschte. Vielmehr wurde diese zunächst durch die ethnische Herkunft, oder auch die regional übliche Handelsform, vorgegeben.
163 Die geschlechtsspezifische Aufteilung lag ungefähr bei der Hälfte, mit einer leichten Tendenz zu mehr emigrierenden Frauen (vgl. INEI, 2012: 22).
Peruanische Esskultur und Nationalküche(n)
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Doch durch den gesellschaftlichen Strukturwandel im 20. Jahrhundert, und die ökonomischen Herausforderungen, konnte sich der persönliche Konsumkontext entsprechend verändern. Auch in Peru fungierte der Konsum, im Sinne von García Canclini, als Ort der Differenzierung und Unterscheidung zwischen Klassen und sozialen Gruppen, wie das Entstehen der Mittelschicht verdeutlicht. Die staatlich oktroyierten Identitätskonzepte, die stets eine Homogenisierung der Ethnien vorsahen, missglückten. Doch durch die abgeleiteten, neuen Rechte der indigenen Bevölkerung wurden, vor allem nach der Militärregierung von General Velasco Alvarado, neue Machtverhältnisse erwirkt. Gesellschaftlich vollzog sich im Zuge der Urbanisierung mitunter auch ein Identitätswandel, wodurch sich Grenzidentitäten und hybride Kulturen entwickelten. García Canclini sagt dazu „Podemos elegir vivir en estado de guerra o en estado de hibridación“164 (García Canclini, 2001a: 20). Nachfolgend ist nun darzulegen welchen Einfluss die Nationalküche auf die Identitätsbildung des Landes hatte und welche kulturelle Bedeutung spezifische Lebensmittel und Produkte im Untersuchungszeitraum hatten. 2.2 PERUANISCHE ESSKULTUR UND NATIONALKÜCHE(N) „Trotz aller Turbulenzen, Naturkatastrophen und politischen Verwerfungen hatte das Essen in Peru stets einen vereinenden Einfluss. Reiche und Arme, Afroamerikaner und Criollos, Eingeboren oder von Europäern abstammend, respektieren einander und ihre jeweiligen Küchen.“ (Morales, 2013: 12).
Mit diesen Worten beschreibt der britisch-peruanische Koch Martin Morales in seinem international erfolgreichem Kochbuch165 die Rolle des Essens in Peru. Das Zitat verdeutlicht die Wechselwirkungen denen Essen in der Vergangenheit in Peru unterlag, und zeigt zudem den Einfluss der zahlreichen Ethnien des Landes auf die nationale Esskultur. Über die reine Nahrungsaufnahme hinaus nimmt Essen folglich ferner eine soziale Funktion ein (vgl. García Canclini, 2010). Neben dem Geschmacksempfinden unterscheidet sich auch die Selektion von Essbarem, sowie die spezifische Zubereitungsart der Speise, je nach Kulturkreis. Korrekter Weise spricht Morales von unterschiedlichen Küchen, denn bei der Nationalküche Perus handelt es sich um die Zusammenführung verschiedener Regionalküchen mit den Fusionsküchen der zahlreichen Einwanderungsgruppen sowie der traditionellen Criollo-Küche. Ihr Ursprung lässt sich noch bis zur Inkazeit zurückverfolgen. Auch die kulinarischen Einflüsse des Columbian Exchange sowie der spanischen Eroberung sind heute noch in der Arten- und Pflanzenvielfalt spürbar (vgl. Albala, 2011: 263). Mit über 80 verschieden Klimazonen (vgl. Acurio, 2016: 8) behei-
164 Eigene Übersetzung: Wir können uns aussuchen, ob wir im Krieg, oder in Hybridisierung leben wollen (García Canclini, 2001a: 20). 165 Cocina peruana. 100 maravillas de la gastronomía del Perú. Eigene Übersetzung: Peruanische Küche. 100 Wunder der Gastronomie Perus.
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Identitätskonstruktion, nationaler Konsum & Moderne(n)
matet Peru mehr als 2500 Kartoffel- und 150 Süßkartoffelsorten (vgl. CIP, 2014). Zudem gehören Reis, Yuca (Maniok) und ca. 35 Maisarten zu den kultivierten Nutzpflanzen; doch trotzdem bestand im Untersuchungszeitraum eine Abhängigkeit von Lebensmittelimporten166 (siehe Tabelle 3). Durch spezifische, lokale Rahmenbedingungen – wie Analphabetismus, Arbeitslosigkeit, Klimafaktoren, mangelnder Schutz vor Krankheiten, fehlende medizinische Versorgung, fehlender Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu Abwassersystemen etc. – wurde die unterschiedliche Partizipation am Lebensmittelkonsum zusätzlich verschärft (vgl. Organización Panamericana de la Salud (OPS) et al., 2008: 26). Angesichts der, auch von Morales angesprochenen, sozioökonomischen Unterschiede innerhalb der peruanischen Bevölkerung erfordert die Behandlung der heimischen Essgewohnheiten dementsprechend auch das Mitdenken von vorherrschender Mangelernährung und Hunger. Der Zugang zu Trinkwasser wurde von der Regierung um Präsident Fernando Belaúnde Terry mit der Gründung des Servicio Nacional de Abastecimiento de Agua Potable y Alcantarillado (SENAPA)167 1981 in Lima, Arequipa, und Trujillo institutionalisiert (Decretos Legislativos N◦ 150). Laut Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik verfügten 1990 insgesamt 45% der Haushalte in ruralen Gebieten und 88% in urbanen Zentren über einen Zugang zu Trinkwasser (vgl. Oblitas de Ruiz u. CEPAL, 2010: 17). Gerade in den Elendsvierteln Limas, den sogenannten Pueblos jóvenes, die im Zuge der Urbanisierung entstanden, nahmen die sozialen Probleme seit Mitte des 20. Jahrhunderts drastisch zu. Um hier punktuell entgegenzuwirken bildeten sich in den 1970er Jahre zwei Formen von Gemeinschafts- bzw. Volksküchen (vgl. Garrett, 2001: 3). Die Clubes de Madres/Ollas Comunes168 waren autonome Einrichtungen, die ausschließlich von Frauen gemanagt wurden. Die Finanzierung erfolgte zum Teil durch Nichtregierungsorganisationen, die Katholische Kirche, oder auch kollektiv durch die Mitglieder (vgl. Rousseau, 2009: 101ff.). Die Kommunalküchen Comedores Populares gingen hingegen meist aus Regierungseinrichtungen hervor, die Teil eines Nahrungsmittelprogramms waren (vgl. Schweppe, 1991: 160). Innerhalb dieser Gemeinschaftsküchen wurden Koch-Know-how und Lebensmittel gebündelt, damit die Slumbewohnerschaft aus vorhandenen Ressourcen, wenigstens ein Mal am Tag, eine warme Mahlzeit erhielten (vgl. Ladner, 2011: 204). Die nationale Verzehrstudie Encuesta Nacional de Consumo de Alimentos (ENCA) von 1971 und 1972 ergab für die Metropolregion Lima eine durchschnittliche Kalorienzufuhr von lediglich 1940 kcal, statt der empfohlenen Energieaufnahme von 2000 kcal pro Tag. In der Sierra-Region nahmen die erfassten Personen mit 1910 kcal einen so geringen kalorischen Wert zu sich, dass sie im Erhebungszeitraum als durchgängig mangelernährt gelten. Zu einem höheren Kalorienkonsum, als den empfohlenen
166 Der Anteil land- und forstwirtschaftlicher Produkte am BIP nahm zwischen 1954 und 1974 von 20,87% auf 12,91% ab (vgl. Jiménez, 2010: 111). 167 Eigene Übersetzung: Nationaler Service zur Wasserversorgung und Kanalisation. 168 Eigene Übersetzung: Mütterklubs/Suppenküchen.
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Peruanische Esskultur und Nationalküche(n)
2000 kcal pro Tag, kam es in der Selva-Region mit 2080 kcal und in der CostaRegion außerhalb Limas mit 2090 kcal (vgl. FAO, 2000: 16). Mitgedacht werden müssen dabei auch spezifische Gewohnheiten und familiäre Strukturen. So bestand ein Frühstück in ruralen Comunidades der ENCA-Untersuchung aus Mehlsuppe, ggf. mit getoastetem Mais, oder lediglich einem Tee aus typischen Pflanzen, wie Cedrón oder Muña. Zuerst bekamen die Kinder etwas zu Essen, dann der Familienvater und je nach Vorratslage abschließend die Mutter (vgl. Sifuentes León, 2012: 63). Die Abhängigkeit zwischen der durchschnittlichen Energieaufnahme und den sozioökonomischen Rahmenbedingungen zeigen die Untersuchungen der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FOA) für 1934 bis 1997. Jahr ø kcal pro Tag
1934–38 1860
1946–49 1920
1961–63 2170
1976–78 2120
1988–90 2120
1995–97 2360
Tabelle 6: Kalorische Nahrungsaufnahme pro Person/pro Tag in Peru Die Ergebnisse der Studien, die in Tabelle 6 abzulesen sind, zeigen zwar einen leichten Aufwärtstrend bei der durchschnittlichen Kalorienzufuhr pro Person, doch zugleich spiegelt der geringe Anstieg nach den 1960er Jahre die gesellschaftlichen Auswirkungen der Militärregierungen, und ferner auch die Folgen der Wirtschaftsund Sozialpolitik von Staatspräsident Alan García und seiner Regierung von 1985 bis 1990, wider. Ende der 1980er Jahre fiel der Wert der täglichen Kalorienaufnahme mit 2024 kcal erstmals seit den 1960er Jahren unter die berechnete Mindestkalorienzufuhr von 2156 kcal, und damit in den Status der Unternäherung (vgl. FAO, 2000: 10). Auch die Ergebnisse des ersten Global Hunger Index (GHI) des International Food Policy Research Institute (IFPRI) von 1990 bescheinigten Peru eine ernste Hungerlage. Mit 30,7 von 100 (Level seroius) erreichte Peru den gleichen Indexwert wie die Philippinen, und somit den zweithöchsten Wert169 Südamerikas hinter Bolivien mit 38,9 (vgl. International Food Policy Research Institute, 1990). Die frühkindliche Mangelernährung beeinflusste auch die Kindersterblichkeit, die zwischen 1950 und 1955 bei 158,6 von 1000 Lebendgeburten lag. Zwischen 1970 und 1975 starben 94,6 Kleinkinder in urbanen Gebieten und 129,2 in ruralen Regionen (vgl. INEI, 2001a: 25). Die Zahlen sanken zwischen 1985 und 1990 auf 51,5 Kinder in urbanen Gebieten bzw. 89,90 in ruralen Regionen, jeweils von 1000 Lebendgeburten (vgl. ebd.). Laut Bildungsministerium (Ministerio de Educación) ergab 1993 die erste landesweite Befragung von Schulkindern im Alter von 6 bis 12 Jahren, dass 48% chronisch unterernährt waren, wobei 67% davon aus ruralen Gebieten stammten. Befragt wurden mit 653.584 Kindern 84% der Altersgruppe
169 Indikatoren zur Berechnung waren der Anteil an Unterernährten innerhalb der Bevölkerung eines Landes in Prozent, der Anteil der Kinder unter fünf Jahren mit Untergewicht, sowie die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren.
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(vgl. Figueroa, 1995: 32 u. Ministerio de Educación, 1994: 115). Hunger und Armut stellen auch heute keine sporadischen Phänomene in Peru dar, sondern vielmehr den Alltag für die Bevölkerungsgruppen aus urbanen Slums und abschüssigen, ruralen Gebieten. Regierungen, oder auch internationale Organisationen, versuchten mit Nahrungsmittelprogrammen gezielt die Personengruppe anzusprechen, die infolge ihrer prekären wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage war, ihre Lebensmittelgrundbedürfnisse alleine zu decken (vgl. Belaúnde Terry, 1995, Ley No 24059170 ). Doch die Maßnahmen waren entweder vom kalorischen Wert her langfristig nicht ausreichend, oder verbesserten die Lebensmittelsituation lediglich temporär. Armut, die Hauptursache von Mangel- und Unterernährung in Peru, wurde parallel jedoch nicht nachhaltig bekämpft (vgl. Alcázar, 2007: 190). In armen Familien stellte die Versorgung mit Nahrungsmitteln eine alltägliche Herausforderung dar. Nicht selten wurde das gegessen, was die Oberschicht als Armeleute-Essen identifizierte. Ferner wurden Produkte auch zweckentfremdet, wie das Hühnerfutter Nicovita (vgl. Mariátegui, 2015). Die finanziell erschwinglichen Standardprodukte Kartoffeln, Brot und Reis waren gewöhnlich landesweit erhältlich (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 165). Es ist also nicht verwunderlich, dass Getreide und Knollen, trotz regionaler Unterschiede, die Hauptnahrungsmittel in Peru darstellten. Die Entwicklung der Energieherkunft nach Lebensmittelgruppen im Zeitraum 1964/66 bis 1996/98 zeigt, dass die meisten Kalorien durch Getreide und Bier aufgenommen wurden. Durchschnittlich aß jede Peruanerin/jeder Peruaner seit den 1960er Jahren mindestens 107 kg Getreide (vor allem Mais und Reis) pro Jahr171 . Den zweiten Platz belegt die Gruppe der Süßstoffe, Wurzeln und Knollen mit einem Anteil von rund 27% an der Gesamtenergie. In Peru tragen Produkte pflanzlichen Ursprungs zu 62% zur Eiweißversorgung bei. Der Anteil an Wurzeln und Knollen, wie beispielsweise Maniok oder Kartoffeln, sank jedoch seit Mitte der 1960er Jahre von 15% bis zum Ende der 1980er Jahre auf 10%. Stattdessen wurden seit 1974 mehr Zucker und Süßungsmittel konsumiert. Wenige Veränderungen gab es bei der Aufnahme von Hülsenfrüchten, Nüssen und Samen. Doch der Konsum von Früchten, Gemüse und Salat sank zwischen 1974 und 1991. In den Jahren 1996 bis 1998 erhöhte sich der Anteil von Hülsenfrüchten auf 4,3% und der von Obst und Gemüse auf 6,6% an der Nahrungsenergieversorgung. Seit den 1980er Jahren ist der Konsum von tierischen Fetten gestiegen, wohingegen es kaum Veränderungen bei der Aufnahme von Fleisch, Fisch und Meeresfrüchten sowie bei Milchprodukten und Eiern bzw. sonstigen Lebensmitteln gab. Der Anteil pflanzlicher Öle stieg seit Mitte der 1990er Jahre an (vgl. ebd.). So wichtig die geleistete quantitative Analyse ist, bedarf es noch einer narrativen Kontextualisierung der konkreten (identitätsstiftenden) Gerichte und Ess-
170 1985 startete das landesweite Programm Programa del Vaso de Leche, das ein tägliches Glas Milch – vor allem für Kinder im Alter von bis zu sechs Jahren, aber auch für andere Bedürftige – vorsah (vgl. Belaúnde Terry, 1995). 171 In Deutschland waren es 79,8 kg in 1960/61 und 66 kg in 1970/71 (vgl. Statista, 2015b).
Peruanische Esskultur und Nationalküche(n)
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gewohnheiten. Dem multidimensionalen Ansatz geschuldet, werden die sozialen Aspekte von Essen, verstanden als kultureller Raum der Identitätsbildung, regional gegenübergestellt und im nationalen Kontext diskutiert (vgl. Appadurai, 1981: 494; García Canclini, 2010 u. Barlösius, 1999: 123). Die Selektion sowie die Zubereitung von Nahrungsmitteln folgt einem kulturell geprägten Muster, aus dem hervorgeht welche Pflanzen und Lebewesen roh oder gegart zum Verzehr geeignet sind. Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss führte betreffend an, [...] „dass die Küche einer Gesellschaft172 eine Sprache ist, in der sie unbewusst ihre Strukturen zum Ausdruck bringt [...] “ (Lévi-Strauss, 1973: 532). Folgerichtig erscheint, dass sich das Nichtvorhandensein einer homogenen Nationalküche, zu Beginn des Untersuchungszeitraums, auch in der ethnischen und kulturellen Heterogenität der peruanischen Gesellschaft widerspiegelte. Es mangelte an national einflussreichen Akteurinnen und Akteuren, die sich dem Thema fernab der politischen Ebene näherten, wodurch Ernährung als solche generell nicht im gesellschaftlichen Fokus stand. Publiziertes Wissen über das Essen richtete sich zunächst voranging an die lesende Oberschicht, oder später auch an Touristen (vgl. Matta, 2013). Appadurai sieht ebenfalls Emigrierte als Zielgruppe von Kochbüchern, die er als „literature of exile, of nostalgia and loss“ (Appadurai, 2008: 302) bezeichnet. Meine Vorortrecherche in der Nationalbibliothek Perus in Lima hat für den Suchbegriff cocina peruana, im Zeitraum 1935 und 1999, 147 Treffer ergeben. Zum Vergleich waren es weitere 496 Bücher zum Thema, die nach 1999 (bis April 2014) erschienen und dort ausleihbar sind. Das Buch „Cocina al día, criolla y extranjera con infinidad de recetas vegetarianas adaptada a los países hispanoamericanos“173 , aus dem Jahr 1935, subsummiert ausländische Rezepte, die an lateinamerikanische Essgewohnheiten übertragen und kulinarisch angepasst wurden. Des Weiteren finden sich verschiedene Handbücher der peruanischen Küche, die als Wörterbuch Benutzung finden sollten. Noch in den 1970er Jahren wurde ein inoffizielles Konglomerat regionaltypischer Gerichte – meist unbebildeter Text in schwarz-weiß – als cocina peruana dargestellt (vgl. Gamarra, 1970: 9f.). Nationalstolz auf die eigene Küche suchte man zu dieser Zeit in Peru vergebens. Für Spitzenkoch Virgilio Martínez galt die französische Küche in Lima bis in die 1980er Jahre als Gütekriterium für Essen (vgl. Stocks, 2016) und auch der Startkoch Gastón Acurio servierte seinen Gästen bis in die 1990er Jahre lieber Foie Gras und Trüffeln, als einheimischen Gerichte (vgl. Fraser, 2006). Anders war das Bild im ruralen Raum, wo sich die Ernährungslage gemeinhin nach der Größe der Ackerfläche, in Bezug auf die zu ernährenden Familienmitgliedern, richtete. Durch Infrastrukturmängel herrschte gerade in der Selva, bis in die 1970er hinein, weitestgehend Selbstversorgung und Subsistenzwirtschaft (vgl. Bodmer et al., 1997: 52). Je nach Saison gab es frische Knollen und Wurzeln,
172 Siehe ausführlich zur Gruppenidentität durch Essen: Keller Brown u. Mussell, 1984 (USA) u. Popi´c, 2015 (Venezuela). 173 Eigene Übersetzung: Tägliche Küche, creolisch und ausländisch mit vielen vegetarischen, an lateinamerikanische Länder angepassten, Rezepten.
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aber auch speziell getrocknete Chuños auf Kartoffelbasis, die durch Wasserentzug haltbar gemacht wurden (vgl. Morales, 2013: 12.). Außerhalb der steilen Gebirgsregionen betrieben die Campesinos auch Viehhaltung, für den Eigenbedarf von Milch, Fleisch, Leder und Wolle. In urbanen Gebieten bildeten Milchprodukte und Fleisch in wirtschaftlich schlechteren Zeiten eher die Ausnahme auf dem Speiseplan (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 165). Mit der Sprache der Küche, nach Lévi-Strauss gesprochen, zeigt sich ein erstes Aufbrechen der klassischen Dreiteilung, in Sierra-Küche, Selva-Küche und CostaKüche, durch die verschiedenen Einwanderungsgruppen, die seit dem 19. Jahrhundert174 spezifische Fusionsküchen in Peru etablierten. Kulis brachten Sojasauce und Wokgerichte ins Land und legten so den Grundstein der in den 1920er Jahren entstanden chinesisch-peruanischen Chifa-Restaurants, von denen es aktuell mehr als 5000 in ganz Peru gibt (vgl. Acurio, 2016: 11). Mit typischen Zutaten, wie Limetten, Knoblauch, Paprika, Ingwer, Chili, Tofu, Meeresfrüchten und Gurken, entwickelte sich seit den 1960er Jahren die japanisch-peruanische Fusionsküche namens nikkei, die auch heute noch vor allem für gedämpfte Gerichte mit prägnanten Aromen steht (vgl. Sifuentes, 2016). Nicht zu vergessen ist der italienische Einschlag in der peruanischen Küche, der für Gemüse wie Mangold, Zucchini, Spinat, Blumenkohl und Basilikum steht. Als Hauptspeise haben sich vor allem grüne Bandnudelgerichte – Tallarínes verdes – , aber auch eine Abwandlung der italienischen Gemüsesuppe Minestrone, mit Fleisch, Mais, Kartoffeln, Maniok und grüne Bohnen, oder der Mangoldkuchen pastel de acelga sowie Pizza durchgesetzt (vgl. ebd. u. Acurio, 2016: 12). Fehlende Kühlmöglichkeiten führten generell zum Garen bei hoher Temperatur, insbesondere zum Frittieren, aber auch zum Trocknen von Lebensmitteln. Die höchst unterschiedlichen Kochstile, bei der Zubereitung von Speisen, hingen stark mit der jeweils zur Verfügung stehenden Ausstattung der Küche und Kochstelle zusammen. Selbst gemauerte Küchen wurden eher mit einem Gasherd ausgestattet, um beim Kochen nicht von einem inkonstanten Stromnetz abhängig sein zu müssen, sofern überhaupt ein Stromanschluss vorhanden war175 . Typisch für die SelvaRegion war das Garen von Speisen in einem großen Topf auf offenem Feuer. Das wohl bekannteste Gericht heißt Juanes und besteht aus mit Reis und Fleisch gefüllten Bananen- oder Bijao-Blätter-Päckchen. Unter dem Begriff Tamales sind sie in ganz Lateinamerika bekannt. Die peruanische Variante machen eine Füllung aus
174 Im 20. Jahrhundert stellten asiatische und europäische Immigrantinnen und Immigranten aufgrund ihrer geringen Anzahl von 0,349% in 1940 in Peru, im Gegensatz zu anderen südamerikanischen Ländern, kein Massenphänomen dar. Lediglich 13.617 Europäerinnen und Europäer (vgl. Bonfiglio, 1994: 142) und 10.905 Asiatinnen und Asiaten (vgl. McKeown, 1996: 61) immigrierten zu dieser Zeit, während sich die Zahl der Einwohnerschaft auf 7.023.111 belief (vgl. INEI, Censo peruano de 1940). 175 Ausgehend von einer Untersuchung der Weltbank verfügten 69% der peruanischen Bevölkerung 1990 über einen Stromanschluss (vgl. Weltbank, 2012).
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gekochten Eiern, Oliven, Chili und Fleisch aus. Neben einem hohen Konsum von Früchten – wie der typischen Tumbo oder der Camu Camu – zählten im Amazonasgebiet Tapire, Capybaras und Flußschildkröten176 zum tierischen Speiseplan. Anklang auch außerhalb des peruanischen Dschungels fanden tacos de cecina, Teigfladen mit getrocknetem Fleisch und frittierten Kochbananen (vgl. Díaz, 2013, 176ff.). Die Essgewohnheiten waren regional geprägt und die Verarbeitung sowie die Zubereitung der Lebensmittel ergaben sich aus den vorhandenen Kochutensilien und den Lagermöglichkeiten. Abweichend gestaltete sich die Ausgangslage in der Hauptstadtregion, die mit dem Hafen von Callao über ein Tor zur globalisierten Welt verfügte. Gleichzeitig waren die Esstraditionen an der Küste so unterschiedlich, wie die jeweilige soziökonomische Lage es bedingte. Vom Leben der Unterschicht in Lima und ihrem Alltag in einem der Pueblos jóvenes berichtete Maria Abalos. Ihre Kinder und sie leben ohne Strom, fließendes Trink- und Abwasser. Sie koche mit Gas und lasse sich ihr Wasser per Tanklastwagen kommen, obwohl sie sich das eigentlich nicht leisten könne (vgl. Stocks, 2016). Ganz anders schildern Angehörige der neuen Mittelschicht ihren Eindruck. Bei der Familie Quevedo sind beide Elternteile berufstätig. Die vierköpfige Familie nimmt zu Hause ein einfaches Frühstück ein und kocht mittags oder abends gemeinsam klassische, peruanische Gerichte. Am Wochenende wird gerne ausgiebig im Kreis der Großfamilie gegessen (vgl. Albala, 2011: 263f.). Erwerbstätige folgten im Untersuchungszeitraum zunehmend dem lauten Anpreisen der Mittagsmenüs in urbanen Garküchen. Die Menüs bestanden typischer Weise aus Vorspeise, Hauptgang und Dessert; mitunter ergänzte sogar noch ein Getränk das Essen. Nach einer Suppe bestand die Wahl zwischen Pollo (Huhn) und Pescado (Fisch), dazu gab es Reis und frittierte Kartoffelscheiben (Papas fritas). Als Nachtisch, dem sogenannten Postre, wurde in der Regel Gelatina (Wackelpudding) oder Crema (Sahne-Pudding, ggf. mit Schoko- oder Karamellsauce) angeboten. Laut Befragung der Verkäuferinnen und Verkäufer, auf Märkten in Cusco und Lima, aß dort mittags vor allem die Arbeiterschaft. Seit den 1990er Jahren wurden verstärkt auch Touristinnen und Touristen an den Ständen wahrgenommen. Zu den aktuelleren und Bevölkerungsschicht-übergreifenden Essgewohnheiten zähle verstärkt sogenanntes Streetfood, also der Verzehr von vor Ort gekauften Speisen auf der Straße. Eine Verkäuferin meint, dass der Markt generell eher was für die einfacheren Leute gewesen sei, die sich dort auch mit Kleidung und Haushaltsgeräten eindeckten. Unterdessen suchte die Oberschicht die seit den 1980er Jahren wachsenden Supermarktketten auf. Mögliche Beweggründe sind laut Marktverkäuferin vermeintlich bessere Hygienestandards, oder auch das Klassendenken, also weil man lieber
176 Der Fang aller Arten von Meeresschildkröten ist seit 1995 (Resolución Ministerial N◦ 103-95PE) in peruanischen Gewässern verboten (vgl. Ministro de Pesquería u. Sobero Taira, 1995).
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unter seinesgleichen einkaufen mochte. Nach dem Ende des Terrorismus sei das anders geworden. Nun würde nicht mehr die Hausangestellte vorgeschickt werden, um frische Produkte vom Markt zu holen. Nun könne man auch mit seinem SUV vorfahren und frische Meeresfrüchte oder Gemüse kaufen. Die Zeiten hätten sich insofern geändert, dass mehr über die regionale Herkunft der Produkte berichtet und gesprochen würde, und die Wahrnehmung der Qualität auf dem Markt nun auch in anderen Gesellschaftsschichten angekommen sei. Eng verbunden mit der Cocina Costeña war seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Cocina Criolla (Kreolische Küche), die die kulturellen Hybriditätseinflüsse Perus reflektiert. Eins der beliebtesten fleischhaltigen Pfannengerichte ist Lomo saltado. Hierfür wurden in Sojasauce marinierte Rindfleischstreifen mit Zwiebeln und Paprika angebraten. Als Beilagen gelten typisch frittierte Kartoffelstäbchen und Reis (vgl. Ledesma, 1903: 18). Die verschiedenen kulinarischen Komponenten fanden sich seit den 1950er Jahren auch in Gerichten mit Pollo177 wieder. Zu nennen sind Pollo a la brasa, gegrillter Hähnchenschenkel, der meistens mit frittierten Kartoffeln serviert wird; Ají de gallina, Hühnerbrustfilet mit einer dicken, scharfen Sauce, und Arroz con Pollo, Reis mit Huhn und reichlich langem Koriander, der das Gericht grün färbt. Das vegetarische Kartoffelgericht mit gelber Chilikäsesauce papa a la huancaína kommt entgegen des Namens aus Lima und wird mit einem gekochten Ei und Oliven serviert. Bei Cau Cau a la Criolla handelt es sich um ein Eintopfgericht aus Kutteln, Knoblauch, Ají-Chili und Kartoffeln. Nicht zu vergessen sind über 250 verschiedene typische Desserts, wie beispielsweise Suspiro de limeña, eine Creme aus Dulce de Leche (gezuckerte Kondensmilch), oder Picarones, frittierte Ringe aus Weizen- und Süßkartoffelmehl (vgl. Díaz, 2013, 217ff.). Die Fischvielfalt im Humboldtstrom hat zur Berühmtheit von Ceviche (durch Limettensaft gegarter Fisch) beigetragen (vgl. Kurlansky u. Kurlansky, 2014: 266). Abbildung 11 zeigt die klassische Verzehrweise in Lima, mit Zwiebeln, Mais und frittierter Süßkartoffel (eigene Aufnahme). Im Dorf Malata, ca. 260 km von der südlichen Departamento-Hauptstadt Arequipa entfernt, erzählte mir eine Familienmutter, dass sie wie ihre Mutter auch den ganzen Tag in der Küche verbringe, um im Kessel auf offenem Feuer die Mahlzeiten der Familie zuzubereiten. Durch die einfachen Bedingungen zeichnen vor allem klassische Eintopfgerichte die Sierra-Küche aus; wie beispielsweise der traditionelle „Erdtopf“ Pachamanca, der meist aus Hammel, Meerschweinchen, Yuca, Süßkartoffeln, Mais, Bohnen, Kartoffeln und Chili besteht, wobei jede Andenfamilie ihr eigenes Rezept hat (vgl. Schade, 2009: 90)178 . Beim Arme-Leuten-Essen Tacu Tacu, das aus dem Quechua übersetzt in etwa „eine Sache mit der anderen zu
177 In den 1990er Jahres aß jede Peruanerin/jeder Peruaner elf Kilo Huhn pro Jahr. Eine Dekade später waren es 40 kg (vgl. Mariátegui, 2015). 178 Das nationale Kulturinstitut (Instituto Nacional de Cultura del Perú , kurz INC) erklärte per Resolución 471/INC-2003 die Pachamanca 2003 zum nationalen Kulturerbe Perus (vgl. INC, 2003).
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Abbildung 11: Ceviche mit geröstetem Mais und Süßkartoffel
vermischen“ bedeutet, handelte es sich ursprünglich um einen deftigen Bratling aus Reis- und Bohnenresten, der für die ganze Familie als Hauptmahlzeit diente (vgl. Acurio, 2016: 206 u. Zapata Acha, 2006). Eine modernere (leichtere) Variante findet sich heutzutage auch auf den Speisekarten der Küstenrestaurants, und eine Abwandlung, als Frühstücksrezept mit Spiegelei, wurde vom britischen Starkoch Jamie Oliver veröffentlicht (vgl. Oliver, o.J.). Caldo, eine warme Brühe, wurde ebenfalls gerne bereits zum Frühstück verzehrt, um den kalten Temperaturen in den Anden zu trotzen. Charakteristisch für die Andenküchen sind daher auch scharfe Gewürze, wie Chili bzw. Ají und Rocoto. Das Ofengericht Rocoto Relleno steht quasi stellvertretend für die Stadt Arequipa. Hierbei handelt es um eine spezielle Chilisorte, gefüllt mit Hackfleisch, Oliven, gekochten Eiern und Kräutern. Kulinarisch wurden die Anden aber vor allem durch die Kartoffel geprägt. In einem Erdofen zubereitet dienten sie als Frühstück, Mittag- und Abendessen (vgl. Stocks, 2016). Eine weitere beliebte Zubereitungsart, neben dem Erdofen und dem Frittieren, war das Grillen. Bekannt sind vor allem Spieße aus marinierten Rinderherzstücken, sogenannte Anticuchos, oder Alpaka, Lamm und Huhn, die sich inzwischen auch bei der ambulanten Händlerschaft großer Beliebtheit erfreuen. Neben Reis wurde in den Anden gleichermaßen Quinoa verzehrt. Das Gänsefußgewächs, das in einer Höhe von 4000 Metern noch kultiviert werden kann, wurde maßgeblich von der Andenbevölkerung im Departamento Puno am Titicacasee angebaut179 (vgl. Cauda et al., 2013: 13). Diese Region ist durch erfolgreiche
179 In den steilen Andentäler betrieben die unabhängigen Campesinos vor allem Terrassenanbau, um Regenwasser möglich lange im Boden speichern und auch unwegsames Gelände bepflanzen zu können (vgl. Borsdorf u. Stadel, 2013: 131).
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Lagunenprojekte ebenfalls für seine Regenbogenforellen namens Truchas bekannt. Meist wurde sie paniert und frittiert als Trucha frita gegessen. Die identitätsstiftende Funktion des Essens wird in Form der ernährungsspezifischen Abgrenzung, vor allem beim typischen Fleischkonsum der Andenbewohnerschaft, sichtbar. Foodblogger Guillermo Payet bemerkte dazu: „When I grew up [in Lima in the 1960s and 1970s], if you ate guinea pig you were a savage.“ (Fraser, 2006).
Die traditionellen Andentiere Cuys (Meerschweinchen, siehe Abbildung 12 (eigene Aufnahme), Alpakas oder auch Lamas galten noch bis in die 1990er Jahre als rein indigenes Lebensmittel (vgl. García, 2010: 22f.).
Abbildung 12: Cuy Dies änderte sich massiv mit der Institutionalisierung der peruanischen Küche, die in den 1980er Jahren, zunächst durch die Gründung der Asociaciín Gastronmica del ´ Perú180 (Agape), vorangetrieben wurde. Fortan tauschten sich peruanische Kochakteurinnen und -akteure auf internationaler Ebene zum Themenkomplex „Essen“ aus (vgl. Matta, 2013). Am Rande eines internationalen Kochwettbewerbs der Agape läutete der Herausgeber der Tageszeitung El Comercio Bernardo Roca Rey, mit dem Gericht la gran olla Huacachina (der große Huacachina-Eintopf), die Geburtsstunde der Cocina Novoandina ein (vgl. Deutsch u. Murakhver, 2012: 50). Für sich und seine Jury-Kollegen kochte er statt einem klassischen Reis-Risotto ein Anden typisches Quinoa-Risotto. Alle verwendeten Produkte stammten vom lokalen Markt aus Ica, auch der Wein (vgl. ebd.). Roca Rey reaktivierte fortan Gerichte aus der
180 Eigene Übersetzung: Gastronomische Vereinigung Perus.
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Inka- und Prä-Inka-Zeit, um sie mit unterschiedlichen Kochstilen und Geschmacksvarianten zu kombinieren. Küchenchef Virgilio Martínez Véliz erinnerte: „Es waren schwere Zeiten damals in Peru. Das Land wurde von Terrorismus, Bombenanschlägen, Entführungen und Stromausfällen erschüttert. Die Leute gingen kaum in Restaurants. Für junge Menschen gab es wenig Hoffnung, ich musste raus aus Peru. Die Bewohner von Lima haben sich damals nicht für die Anden und das Amazonas-Gebiet interessiert. Diese Regionen Perus waren für uns mit Gefahren, mit Armut verbunden. Heute wissen wir, dass sich dort unser größter Reichtum befindet.“ (Virgilio Martínez Véliz nach Eglau, 2016).
Durch die Kreativität von Acurio wurde die Cocina Novoandina maßgeblich weiterentwickelt (vgl. Fraser, 2006). Inzwischen bestehen langfristige Verträge mit indigenen Fischern und Quinoa-Bäuerinnen, um die Nachhaltigkeit der Produkte zu gewährleisten (vgl. Perez, 2014). Durch den Wandel der als andin identifizierten Lebensmitteln werden, seit dem Ende der 1990er Jahre, pro Jahr über eine Million Meerschweinchen extra für die urbanen Küchen – vor allem in Lima und Cuzco – gezüchtet (vgl. García, 2010: 22f.). An den Straßenständen der Hauptstadt wurden zunehmend auch Rinderherzspieße, oder gegrilltes Alpakafleisch, angeboten. Diesen Prozess der Neuentdeckung nationaler Produkte, sowie deren mediale Vermarktung, bezeichnen Mirko und Vera Lauer in einem gemeinsamen Buch als gastronomische Revolution (vgl. Lauer u. Lauer, 2006). Auch Acurio spricht von einer Revolution mit Kochlöffeln, statt mit Waffen (vgl. Perez, 2014). Neu daran ist, neben dem Aufstieg der Köche zu politischen Akteuren, vor allem die öffentliche Anerkennung der nationalen Gastronomie, wodurch seit den 1990er Jahren aktiv kulturelle Identität gebildet wurde (vgl. Valderrama, 1996: 49 u. Matta, 2013). Essen und speziell Kultur spezifische Lebensmittel fungieren nicht mehr als Distinktionsfaktor. Koch Virgilio Martínez konstatierte betreffend: „Ich habe meine Identität zurückbekommen.“ (Klaubert, 2013). Die bewusste Wahrnehmung der heterogenen Esskulturen in Peru ging seit Mitte der 1990er Jahre mit einer Kommerzialisierung einher, die Essen als nationales Erbe und kulturelle Identität vermarktete. Fand zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch eine eher unbewusste gruppenspezifische Nahrungsmittelselektion statt, diente Essen im Urbanisierungsprozess zunehmend der Distinktion. Dabei diente die dichotomen Aufteilung in andine und urbane Lebensmittel auch einer Qualitätseinschätzung, die seit der Kochrevolution sukzessive nichtig wurde. 2.3 MODERNE(N) & GLOBALISIERUNG: FALLSTUDIE DER GETRÄNKEINDUSTRIE In Peru waren während des Guano-Booms im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Transportwege entstanden, die auf internationale Absatzmärkte ausgelegt waren. Neue Eisenbahnstrecken wurden rein zu Distributionszwecken der klassischen Rohstoffexportgüter gebaut und dienten nicht der infrastrukturellen Verbindung wichtiger Orte (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 72). Der Diskrepanz zwischen der wirtschaftlichen Konzentration auf die Exporttätigkeit und der Entwicklung der Binnenmärkte wirkte Staatspräsident Augusto B. Leguía, innerhalb der elfjährigen
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Regierungsphase 1919 bis 1930, entgegen. Seine Modernisierungspläne konzentrierten sich vor allem auf die Küstenregion, wodurch die Industrialisierung dort voranschritt. Infrastrukturelle Verbesserungen, wie z.B. befestigte Landstraßen, trugen zur Erschließung neuer Binnenmärkte bei (vgl. Banco de Reserva del Perú, 1940: 18f.). Doch die Folgen der Weltwirtschaftskrise, einhergehend mit politischen Spannungen und häufigen Regierungswechseln, bremsten Perus Exporte sowie industrielle Firmen-Neugründungen (vgl. Chumacero Calle, 2012: 16 u. 18). Die Lebensmittelindustrie, zu der die Getränkebranche offiziell gezählt wird, war zu Beginn des Untersuchungszeitraums in globale Warenströme involviert und stand im Konkurrenzkampf mit internationalen Unternehmen und deren Importwaren. Hinzu kam die Heterogenität der Branche, wodurch sich die Wünsche der exportorientierten Industrieunternehmen und die der auf die Binnenwirtschaft konzentrierten Firmen diametral gegenüberstanden. Die erst genannten forderten weitgehende Handelsfreiheit, wohingegen die letztgenannten staatlichen Schutz für ihre Produkte wünschten (vgl. Rojas, 1996: 54 u. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 81). Derweil hatte diese dichotome Trennung, im Wirtschaftsalltag der Unternehmen, nicht zwangsläufig Bestand. Auch national agierende Unternehmen waren auf Importwaren aus dem Ausland angewiesen und pflegten internationale Handelskontakte. Von der nationalistischen Stimmung der Zeit beeinflusst, führte Staatspräsident Manuel Prado 1940 ein auf Steuervorteilen basierendes Gesetz, zur Stimulierung und zum Schutz der nationalen Wirtschaft, ein (vgl. Ley N◦ 9140 u. Chumacero Calle, 2012: 17). Dieses Industriefördergesetz führte zu Neugründungen in der Lebensmittelindustrie und im produzierenden Gewerbe181 , doch in der Praxis waren die Hauptnutznießer dieses Gesetzes ausländische Unternehmen, die peruanische Niederlassungen gründeten. In der Lebensmittelindustrie ist vor allem die des schweizerischen Nahrungsmittelkonzerns Nestlé zu erwähnen. Über eine Importagentur waren bereits seit 1919 diverse Sorten Kondensmilch, Milchnahrung sowie Schokolade des multinationalen Unternehmens in Peru erhältlich. Die eigenständige Distribution erfolgte ab 1940, über die Tochtergesellschaft Nestlé Perú Sociedad Anónima. Zwei Jahre später eröffnete im nördlichen Chiclayo die erste nationale Nestlé Werkanlage, zur Herstellung von Milchprodukten (vgl. Nestlé Firmen-Homepage). Tabelle 7 zeigt die Entwicklung der US-amerikanischen Direktinvestitionen im Fertigungssektors Perus, von der weltweiten Wirtschaftskrise bis zum Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Daten verdeutlichen, gerade unter Einbeziehung der jährlichen Gesamtinvestitionen, die bilaterale Anfälligkeit innerhalb des globalen Kapitalverkehrs, sowie den Einfluss US-amerikanischer Investitionen in Peru, vor der Weltwirtschaftskrise und nach dem Zweiten Weltkrieg (eigene Darstellung nach Anaya Franco, 1997: 61). Die seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandene Getränkebranche bestand zu Beginn des Untersuchungszeitraums aus
181 Fischkonservenfabriken (1940), Kondensmilch (1942), Pharmaindustrie (1943), Farbenindustrie (1945), medizinische Geräte (1948), Flachglas (1947) und Grundchemikalien (1945) (vgl. Chumacero Calle, 2012: 17).
Moderne(n) & Globalisierung: Fallstudie der Getränkeindustrie
Jahr 1929 1940 1943 1950
Fertigungssektor 3,2 4,9 5,5 15,0
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Gesamtinvestitionen 123,7 81,5 71,2 145,0
Tabelle 7: US-amerikanische Direktinvestitionen (in Millionen US-Dollar) in Peru, 1929–1950
traditionellen Pisco-Destillerien, die ihren Schnaps bis ins europäische Ausland exportierten (vgl. León u. Kagelmann, 2013: 43) und aus Bierbrauereien sowie Limonadenfabriken, deren Gründung größtenteils auf US-amerikanische oder europäische Immigranten zurückging. Neben der europäisch geprägten Gründerstruktur stammte die Mehrheit der technischen Entwickler der professionellen Bierbranche182 zunächst aus Europa. Eine Größe des peruanischen Marktes war bereits zu dieser Zeit The Backus & Johnston Brewery Company Limited, die 1879 aus der gleichnamigen, in London ansässigen, Brauerei der beiden US-Amerikaner Jacob Backus und Howard Johnston sowie deren peruanischer Eisfabrik Fábrica Sudamericana de Hielo hervor ging (vgl. Fimenhomepage Backus). Das Unternehmen hatte 1922 das Pilsner Bier Cristal auf den Markt gebracht, das sich zunächst vor allem innerhalb der Arbeiterschaft an Beliebtheit erfreute (vgl. Clay, 2014). Die Hauptkonkurrenz bestand in der Marke Cerveza Pilsen Callao der Compañía Nacional de Cerveza, die 1863 auf den Deutschen Friedrich (Federico) Bindels zurückgeht und 1868 von Alois Kieffer übernommen wurde. 1904 veräußerten Kieffers Erben 60% des Unternehmens an den italienisch-stämmigen Industriellen Faustino G. Piaggio, der bereits erfolgreich in die Ölindustrie invertiert hatte und dadurch über Kapital, zur Modernisierung der Brauerei, verfügte (vgl. Castro Pérez, 2003: 115). Seit 1923 transportiere die Firma ihr Bier daher per Tram und nicht wie Branchenüblich mit Maultieren. Im südlichen Arequipa und in Cuzco hatte Ernst Günther gemeinsam mit Francisco Rheder 1898 und 1908 die Cervecería Alemana Günther & Tidow S.A. ltda. gegründet, die die erfolgreichen Biermarken Arequipeña und Cusqueña produzierte (vgl. o.A., El Comercio, 2014b). 1926 expandierte das Unternehmen unter Hinzunahme weiterer Investoren und wurde in Compañía Cervecería del Sur del Perú (Cervesur) umfirmiert (vgl. Thorp u. Bertram, 1978: 376). Im Erfrischungsgetränkesektor ist, neben der von der Familie Lindley gegründeten Fabrik La Santa Rosa, vor allem die Firma La Pureza zu nennen, die auf Initiative der britischen Immigrantenfamilie Barton 1876 zurückgeht. Zum 50. Fir-
182 Im Gegensatz dazu besteht im Andenraum Perus eine lange Tradition zu Hause Chicha herzustellen, ein Bier aus gegorenem Mais, mit einem geringeren Alkoholgehalt als industriell gefertigtes Bier (siehe ausführlich, León, 2008).
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menjubiläum ließen Leopoldo Barton und sein Sohn Rodolfo 1926 die modernste Produktionsanlage Südamerikas bauen und erhielten zehn Jahre später die offizielle Lizenz Coca-Cola in Peru abzufüllen. So entstand 1947 die Compañía Embotelladora Coca-Cola Lima S.A. Ltda., die fortan alle in Peru erhältlichen Coca-ColaProdukte abfüllte (vgl. Castro Pérez, 2003: 127). Mit der Gründung der Compañía Embotelladora del Pacifico S.A. erfolgte 1951 der Markteintritt von PEPSI Cola, 7up, Canada Dry und diverse Sorten Crush in Peru (vgl. Castillo Maza, 1998: 71). Mit der Marke San Luis wurde das Unternehmen zum Pionier für abgefülltes Tafelwassers. San Mateo-Mineralwasser war seit 1936 durch die Firma Embotella agua mineral San Mateo auf dem peruanischen Markt erhältlich (vgl. Paz de la Cruz, 2009).
Abbildung 13: Traditionelles Verfahren der Reifung des Traubenmostes in Tonflaschen Die Kommerzialisierung von Erfrischungsgetränken begann in Peru Ende des 19. Jahrhunderts, wohingegen die Vermarktung von Schnaps bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht (vgl. Huertas Vallejos, 2004: 45). Mit dem Traubenanbau in den südlichen Küstenregionen entwickelte sich auch die Herstellung des Piscos (siehe Abbildung 8, eigene Aufnahme). Heute noch wird Pisco, in Abgrenzung zum italienischen Grappa, ausschließlich aus Traubenmost gewonnen und ist daher kein Nebenprodukt der Weinherstellung. Unter der Sammelbezeichnung verbergen sich, je nach Traubensorten und deren Mischverhältnis, unterschiedliche Sorten, wie in Tabelle 8 abzulesen ist (vgl. Andina, 2011 u. Interview Bogeda El Catador, Ica). Doch der Traubenschnaps wurde nicht ausschließlich pur getrunken. Je nach zi-
Moderne(n) & Globalisierung: Fallstudie der Getränkeindustrie
Sorte Pisco Puro Pisco Mosto Verde Pisco Acholado Pisco Aromático
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Eigenschaft Verwendung einer Traubensorte Gärungsprozess grüner Trauben ist noch nicht abgeschlossen Verwendung verschiedener Trauben Nutzung überwiegend für Cocktails
Tabelle 8: Piscosorten
tierter Quelle geht der in den 1920er Jahren in Lima erfundene Cocktail Pisco Sour entweder auf den amerikanischen Barkeeper Victor Vaughn Morris, oder auf dessen Angestellten Mario Bruiget zurück. Laut Rezept besteht er aus Pisco Puro, Limettensaft, Zuckersirup, aufgeschäumtem Eiweiß und Amargo Chuncho Bitter (vgl. Kurlansky u. Kurlansky, 2014: 270). Zu Beginn des Untersuchungszeitraums wurde der reine Pisco vor allem von Männern aus der Unterschicht, in zwielichtigen Kneipen konsumiert (vgl. León u. Kagelmann, 2013: 45). Bei der Frage nach der Herkunft des echten Piscos schwelte der Nationenkonflikt mit Chile, trotz Ende des Pazifischen Krieges 1884, noch weiter. Beide Länder konkurrierten bei der Modernisierung der Produktion, der Vermarktung und dem Ausbau des Distributionsgebietes ihres jeweiligen Piscos. Peru führte 1964 das Kennzeichnungsrecht der offiziellen, nationalen Pisco-Produzierenden ein (vgl. Comisión de Cultura y Patrimonio Cultural, 2015: 6). Diese verwendeten ausschließlich regionale Weintraubensorten (z.B. Moscatel) für ihre Produktion, was neben der entsprechenden Vermarktung auch den Vorteil hatte, dass weitgehend keine zusätzlichen Lebensmittelimporte erforderlich waren. Doch die importsubstituierende Industrialisierung der PiscoProduktion wurde durch die Folgen der Agrarreform 1969 konterkariert. So musste beispielsweise die traditionsreiche Bodega San Isidro in Pueblo Nuevo (nahe Ica) ihren kommerziellen Handel in den 1970er Jahren temporär einstellen (vgl. Queros S.A.C. Firmen-Homepage). Die Entdeckung des Piscos als nationales Gut – und als peruanisches Pendant zum mexikanischen Tequila bzw. zum kubanischen Rum und zum schottischem Whisky – minderte die kulturelle Criollo-Zuschreibung als Schnaps der einfachen Leute (vgl. León u. Kagelmann, 2013: 44f.). In den 1980er Jahre hielt Pisco Einzug in alle peruanischen Schichten (vgl. ebd.: 49). Staatliche Bemühungen und auch finanzielle Förderungen trugen zur Professionalisierung der nationalen Pisco-Destillerien bei. Den Höhepunkt dieser Entwicklung markierte 1988 die Anerkennung von Pisco als nationales Kulturerbe durch das Instituto Nacional de Cultura (vgl. INDECOPI, o.J.: 28). Die Herkunftsbezeichnung Denominación de Origen (D.O.) kann seit 1990 auch bei Pisco verwendet werden. Hierfür wurde 1992 eine obligatorische Qualitätsprüfung, durch das Instituto Nacional de Defensa de la Competencia y de la Protección de la Propiedad Intelectual (INDECOPI), also das nationale Institut zur Verteidigung des Wettbewerbs und zum Schutz des geistigen Eigentums, eingeführt (vgl. Comisión de Cultura y Patrimonio Cultural, 2015: 5f.). Anerkannte Herkunftsregionen waren Lima, Ica, Arequipa, Moquegua sowie die Täler Locumba, Sama und Caplina im Departamento Tacna (vgl. INDECOPI, o.J.: 4). 61 nationale Bo-
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degas waren 1997 D.O.-zertifiziert (vgl. ebd.: 3 u. Andina, 2011). Auf politisches Bestreben hin wurde zwei Jahre später der nationale Pisco-Tag (Día Nacional del Pisco) eingeführt, der fortan an jedem vierten Sonntag im Juli festlich begangen wird (vgl. Ministerio de la Producción, 1999). Am Pisco verdeutlicht sich das Zusammenspiel von staatlichen und handelsorientierten Bestimmungen zur nationalen Produktidentität, womit sich der peruanische Schnaps auf globalen Märkten von der chilenischen Konkurrenz abzuheben versuchten. Durch die spezifische Produktgattung unterlag der Pisco anderen Rahmenbedingung, als alkoholfreie Konsumgüter. Zudem wurde das aktuell führende Markenprodukt BARSOL PISCO erst 2002 eingeführt. Im Untersuchungszeitraum lag vielmehr eine nationale Identifizierung mit dem Produkt vor und nicht mit einer bestimmten Marke. Auf der gesellschaftlichen Ebene spiegelte vor allem die Einführung des gesetzlichen Pisco-Tages Nationalstolz wider; ein Gefühl das im Zuge der Küchenrevolution wieder mehr an Bedeutung erlangte. Herkunftsstadt oder Region Arequipa Callao Cusco Departamento Libertad Lima Trujillo Trujillo
Biermarke Arequipeña Cerveza Pilsen Callao Cusqueña Libertad Cristal (Cervezeria Lima) La Norteña Pilsen Trujillo
Markteintritt 1898 1863 1908 1920 1922 1920 1920
Tabelle 9: Regionale Identität peruanischer Biermarken Entgegen dieser nationalisierten Produktpositionierung vermarkteten die Bierherstellerfirmen ihre Produkte häufig, unter Verwendung der Herkunftsstädte und -regionen. Wie in Tabelle 9 abzulesen ist, drückt die Namenswahl der Biere zugleich die regional geprägte Marktstruktur der Branche aus, die weitestgehend bis in die 1980er Jahre Bestand hatte (vgl. INDECOPI, 2015: 5). Eine Ausnahme war die Marke Cristal, die The Backus & Johnston Brewery Company Limited frühzeitig als nationales Flaggschiffprodukt – und Importbier aus den Anden in Japan und Spanien – zu etablieren versuchte (vgl. Cristal Produkt-Homepage). Die Distribution bis zur Endkundschaft erfolgte meinst über kleine Einzelhandelsgeschäfte, sprich Peru typischen Kiosken, die auf kleinstem Raum Lebensmitteln, Getränken und auch alltägliche Bedarfsartikel führten. Diese Marktstruktur veränderte sich erst in den 1980er Jahren mit der Entstehung von Supermarktketten, wie beispielsweise Wong, die zwischen 1983 und 1990 fünf Filialen in Lima eröffnete (vgl. Cencosud Retail Perú S.A.C., o.J.). Aufgrund von Restriktionen der englischen Regierung, für kommerzielle Investitionen im Ausland im Jahr 1950, wurde Backus & Johnston von einer Gruppe peruanischer Unternehmer – darunter Ricardo Bentin Mujica – erworben und 1954 in Cervecería Backus y Johnston S.A. umfirmiert (vgl. Parra Restrepo, 2004: 390 u. Mathews, 2013). Als Meilenstein ging diese erstmalige Übernahme einer nationa-
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Moderne(n) & Globalisierung: Fallstudie der Getränkeindustrie
len Brauerei durch Staatsangehörige in die Geschichte des peruanischen Biermarktes ein (vgl. o.A., El Comercio, 2014b). Auch in Peru gehörten politische Interventionen in wirtschaftliche Belange im Untersuchungszeitraum quasi zum Alltag, wodurch die gesamte Industrie in Dependenz zu wirtschaftspolitischen Entscheidungen stand. Einfluss auf die Entscheidungen der jeweiligen Regierungen übten auch die Richtlinien der 1948 gegründeten Comisión Económica para América Latina (CEPAL)183 aus, wie zum Beispiel bei der Umsetzung der importsubstituierenden Industrialisierung. Protektonische Maßnahmen sollten dabei die eigene Produktion weniger von ausländischen Importen abhängig machen und damit die nationale Industrieproduktion aufstocken. Tabelle 10 zeigt die Entwicklung der industriellen Getränkeproduktion in Peru zwischen 1958 und 1967 (eigene Darstellung nach Organizacíon Internacional del Trabajo (OIT), 1975: Cuadro 65). Jahr Getränkeproduktion
1958 11,4
1959 12,6
1960 15,0
1961 15,7
1962 18,2
1963 19,4
1965 22,1
1966 25,1
1967 26,5
Tabelle 10: Bruttowert der industriellen Getränkeproduktion (in hundert Millionen Soles von 1963) Um den nationalen Bierkonsum und -absatz zu steigern, gründeten die Bierherstellerfirmen, auf Initiative der Cervecería Backus y Johnston S.A., 1958 das Comité de Fabricantes de Cerveza184 . Des Weiteren warb die Branche erstmals mit TVWerbung für ihre Produkte. In den 1960er Jahren erweiterte Backus y Johnston die Produktionskapazität, wodurch sich die Verkäufe zwischen 1955 und 1968 auf 14,4 Millionen Bierkästen (á 12 Flaschen) verdreifachte. Der Bierkonsum lag zu dieser Zeit bei 18,38 Litern pro Kopf (vgl. Mathews, 2013). Parallel baute das Unternehmen sein Auslandsgeschäft auf und gründete 1967 eine Niederlassung in New York, um ihre Marke Cristal auch in den USA zu vertreiben. Hauptkonkurrentin wurde die Compañía Nacional de Cerveza S.A, die 1947 zwei Millionen Soles in neue Produktionsmaschinen investierte und fortan nationale Absatzmärkte für ihre Marke Pilsen Callao auszubauen versuchte. 1962 begann im Stadtteil Bellavista der Bau einer neuen Fabrik, die bei ihrer Einweihung 1968 eine der technisch modernsten in Lateinamerika war (vgl. o.A., El Comercio, 2013). Mit Beginn der Militärregierung kontrollierte der Staat die Produktionskapazität und unterband weitestgehend den Import von Fertigungserzeugnissen. Die gesamte inländische Nahrungsmittelbranche konnte fast ausschließlich nur noch Teile des Inlandsmarktes bedienen. In Tabelle 11 sind die durchschnittlichen, jährlichen Wachstumszahlen der Nahrungsmittelbranche zwischen 1970 und 1995 abzulesen (eigene Darstellung nach Jiménez et al., 1998: 25). Diese Entwicklung zeigt ei-
183 Eigene Übersetzung: UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika. 184 Eigene Übersetzung: Komitee der Bierfabrikanten.
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Identitätskonstruktion, nationaler Konsum & Moderne(n)
ne kurze Entspannung während der politischen Rückkehr zur Demokratie und der verbundenen wirtschaftlichen Öffnung. Doch durch die Folgen des Terrorismus, verbunden, mit denen der Wirtschaftspolitik von Alan García, brach die nationale Produktion massiv ein. Daher müssen bei der Analyse der Daten die eingeschränkte Produktionskapazität, Verstaatlichungen während der Militärregierung, das nachfolgende Unternehmenssterben und die grundsätzliche Erholung des Produktionsniveaus nach den „verlorenen“ 1980er Jahren mitgedacht werden, um die ähnlichen Werte in den Zeiträumen 1975/87 und 1991/95 entsprechend in Bezug setzen zu können. Jahr Nahrungsmittelbranche
1970/75 0,8%
1975/87 2,3%
1987/91 -7,1%
1991/95 2,5%
Tabelle 11: Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate Nach dem Regierungsende von Staatspräsident Velasco Alverado 1975 verkaufte die Compañía Nacional de Cerveza S.A insgesamt 18,5 Millionen Bierkästen. Doch in den 1980er Jahren konnte das Unternehmen die hohe Produktqualität nicht mehr aufrechterhalten und brachten eine Charge gepanschtes Bier auf den Markt. In Folge dessen litt das Unternehmen immens unter dem Imageverlust (vgl. o.A., El Comercio, 2013). Auch die Konkurrenz hatten unter den Nachwehen der nationalen Wirtschaftskrise zu leiden. Mangelnde Qualität quittierten die Zielgruppen verstärkt mit dem Kauf von Importbieren. Zur internationalen Konkurrenz zählte vor allem Heineken, gefolgt von Corona und Quilmes (vgl. El Comercio, 2014b). Von 1994 bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes veränderte sich die Struktur der Bierbranche, zu einer monopolartigen Stellung der Cervecería Backus y Johnston S.A., die neben der Compañía Nacional de Cerveza S.A auch die Sociedad Cervecería de Trujillo und die Cervecería del Norte horizontal integrierte. Der noch verbliebene südliche Mitkonkurrent Cervesur führte seine Marke Cusqueña daraufhin 1995 auch in Lima ein. Backus & Johnston versuchte mit dem neuen Produkt Crystal Light zu kontern, um den Hauptstadtmarkt weiterhin zu beherrschen. Im März 2000 kaufte Backus & Johnston die Cervesur für 164 Millionen US-Dollar auf, wodurch der peruanische Biermarkt temporär durch eine Monopolstruktur gekennzeichnet war (vgl. INDECOPI, 2015: 5f.). Gegen Ende des Untersuchungszeitraums betrug der jährliche pro Kopf Konsum 20,18 Liter Bier185 (vgl. Ministerio de Trabajo y Promoción del Empleo del Perú, 2002: 9). Die Abhängigkeit von ausländischen Investitionen ist anfänglich bei den Bierproduzierenden in Peru sehr groß gewesen. Der Modernisierungsprozess der Branche betraf einzelne Produktionsstandorte, womit die vorhandene multitemporale Heterogenität einmal mehr verdeutlicht wird. Die Branche war im Untersuchungs-
185 In Deutschland wurden zum Vergleich 125,6 Liter Bier pro Person konsumiert (vgl. Statista GmbH, 2015a).
Moderne(n) & Globalisierung: Fallstudie der Getränkeindustrie
111
zeitraum eher regional geprägt. Nationale Biermarken setzten sich erst mit dem Monopolisierungsprozess der Backus y Johnston durch. Gleichzeitig positionierten sich einzelne Unternehmen auch auf ausländischen Märkten und nutzen für die Vermarktung explizit die Anden-Herkunft. Von Bier ging keine gesellschaftliche oder geschlechtsspezifische Distinktionswirkung aus. Im Andenraum wurde, gerade unter der indigenen Bevölkerung, das selbst fermentierte Maisbier Chicha konsumiert und auch auf den lokalen Märkten verkauft. Der Ausschank von Chicha in Privathäusern ist an einer roten Fahne im Fenster, oder an der Tür zu erkennen. Anders stellte sich der Entwicklungsprozess von Erfrischungsgetränken dar, die zwar im 19. Jahrhundert auch zunächst regionalen Ursprungs waren, aber mit der Oligopolisierung des Marktes, seit dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, nationale Ubiquität erreichten. Zuvor konzentrierte sich der Markt stark auf Lima sowie ferne auf die Provinzstädte. Bereits 1936 hatte das Unternehmen La Pureza der Familie Barton einen Vertrag mit der Coca-Cola Company unterschrieben, um als erstes Unternehmen Südamerikas Cola-Cola abzufüllen und zu vertreiben. Nach dem Tod des Firmengründers, und dessen Bruder 1956, firmierte sich das Unternehmen als Compañía Embotelladora Lima Leopoldo Barton S.A. neu (vgl. Rivera Chú, 2008: 441). Mit der Expansion von PEPSI 1937 versuchte sich ein weiterer US-amerikanischer Globalplayer auf dem peruanischen Markt. Seit den 1980er Jahren teilten die Abfüllunternehmen von Coca-Cola (seit 1991 Embotelladora Lima S.A.), PEPSI (seit 1994 Compañía de Servicios Comerciales y de Mercado S.A.), und Inca Kola (José R. Lindley é Hijos S.A., aktuell Corporación Lindley S.A.) ca. 70% der nationalen Produktion unter sich auf (vgl. Castillo Maza, 1998: 70). 1992 betrug deren Produktionsmenge 279.882 Millionen Liter und 1993 insgesamt 236.345 Mio. Liter, bei einer Kapazitätsauslastung der ganzen Branchen von 0,52% und 0,49% (vgl. ebd.: 72). Die José R. Lindley é Hijos S.A. konzentrierte den Absatz ihres nationalen Flaggschiffproduktes Inca Kola zwar auf den, im südamerikanischen Vergleich eher kleinen peruanischen Markt (vgl. Holligan, 1998: 3), positionierte aber z.B. die seit Beginn der 1970er Jahre erfolgreiche Marke BIMBO auch in den USA, Ecuador und Bolivien (vgl. Alcalde, 2009: 35). Eine Darstellung der Preisentwicklung in den 1980er und 1990er Jahren gestaltet sich, wegen der beiden durchgeführten Währungsreformen, sehr schwierig. Castillo Maza berechnete auf der Basis von INEI-Daten, ausgehend von einem konstanten Soles Wert aus 1979, eine durchschnittliche Preisentwicklung von Erfrischungsgetränken zwischen 1980 und 1994. Demnach kosteten national erhältliche Erfrischungsgetränke in Peru 1980 in der 295 ml Flasche durchschnittlich 59 Soles, 1985 lediglich 1,63 Soles, 1990 hingegen 62.477,37 Soles und 1994 schließlich 0,65 Sol (vgl. Castillo Maza, 1998: 76). Diese enormen Preisschwankungen dokumentieren die Hyperinflation als Folgen der sinkenden Industrieproduktion und des Rückgangs der Kaufkraft. Während sich diese wirtschaftliche Entwicklung noch bis zur Mitte der 1980er auch in den Konsumzahlen für Erfrischungsgetränken widerspiegelt, zeigen die Ergebnissen einer nationalen Studie der Universidad Nacional Mayor de San Marcos in Lima, dass der Konsum zwischen 1989 und 1990, trotz einer beträchtlichen Preissteige-
112
Identitätskonstruktion, nationaler Konsum & Moderne(n)
rung, anstieg (siehe Tabelle 12, eigene Darstellung nach Castillo Maza, 1998: 71). Die Entspannung der Preissteigerung 1991 zeigt sich kaum im gestiegenen Konsum, wohingegen der Konsum zwischen 1992 und 1993 sogar sank, obwohl sich die Preise nur minimal veränderten. Gleichzeitig stieg der Konsum zwischen 1993 und 1994 verhältnismäßig stark, obwohl der Preis nur wenig nachgab (vgl. ebd.). Jahr 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994
nationaler Konsum in Litern 228.950 248.588 235.770 238.584 172.406 216.174 444.465 607.420 461.989 252.765 379.651 428.879 410.836 379.948 516.443
Konsum pro Person in Litern 13,22 14,00 12,96 12,81 9,04 11,09 22,32 29,87 22,26 11,94 17,60 19,52 18,38 16,71 22,33
Tabelle 12: Konsumentwicklung Erfrischungsgetränke Wesentlich beeinflusst wurde die Kosumbereitschaft der Bevölkerung zu dieser Zeit durch die vorherrschende Machtposition der Terrorgruppen MRTA und SL. Die letztgenannte subversive Gruppe kontrollierte Ende der 1980er Jahre vor allem das Gebiet um ihr Gründungsdepartamento Ayacucho und führte eine individuelle Besteuerung der dortigen Lebensmittellieferungen durch. Die großen Getränkeherstellerfirmen konnten immer weniger in den besetzten Hochlandgebieten vertreiben, wodurch der lokale Familienbetrieb der Añaños wirtschaftlich wachsen konnte. Als die achtköpfige Agrarfamilie nicht mehr in der Lage war ausreichend Samen zu pflanzen, um vom Ertrag des Anbaus zu leben, begann sie 1988 im Hinterhof mit einer kleinen Getränkemanufaktur. Zunächst füllte die Familie eine selbst gemachte Orangenlimonade in alte Bierflaschen ab und verkaufte diese, mit handgemachten Labels, unter dem Namen Kola Real in Ayacucho (vgl. AJEGROUP Firmenhomepage). Der Schlüssel zum Erfolg war aus Firmensicht der Verzicht auf Werbung und ferner die Zielgruppenansprache der armen Bevölkerung, durch eine moderate Preispolitik. Entscheidend war aber auch, dass die Region Ayacucho, durch die Mitglieder von Sendero Luminoso186 , quasi komplett von der Außenwelt abgeschottet
186 Der Gründer Abimael Guzmán wurde 1992 mit einem Großteil der SL-Führungsriege verhaftet, wodurch die Vorrangstellung der subversiven Gruppe nach und nach verloren ging (vgl. v. Oertzen u. Goedeking, 2004: 118f. Siehe ausführlich: Aranda et al., 2009).
Moderne(n) & Globalisierung: Fallstudie der Getränkeindustrie
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war und Kola Real in einem Konkurrenz freien Raum wachsen konnte. Die erweitere Produktpalette wurde ebenfalls unter dem Namen Kola Real verkauft und einzig mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen versehen. So gelang 1991 die Expansion in Hunancayo, 1993 in Bagua und 1994 in Sullana. Unter dem Claim „Getränke der Indusria Añaños gibt es in jeder Ecke des Landes und immer zum fairen Preis“ (AJEGROUP, 1988) wurde Kola Real seit 1997 auch in Lima produziert und verkauft (vgl. Vargas Llosa, 2003 u. Fajardo, 2015). Die Familie Barton veräußerte ihre Abfüllfirma 1991 an ein Konsortium der Familien Picasso und Michell, wodurch das Unternehmen fortan unter dem Namen Embotelladora Lima S.A. agierte (vgl. Gamarra, 2015: 101). Im weiteren Verlauf der 1990er Jahren veränderte sich zunehmend die Vertriebsstruktur von Erfrischungsgetränken, vor allem in der Hauptstadtregion Lima. Die chilenische Supermarktkette Santa Isabel expandierte 1996 massiv und eröffnete, nach dem nationalen Börsengang, auch Filialen im Stadtgebiet von Lima (vgl. Schmütsch, 2001: 84). 1997 folgten zwei sogenannte Hipermercados der Metro Gruppe, die erstmals alle vermeintlichen Konsumwünsche unter einem Dach befriedigen wollten (vgl. Wong Firmenhomepage). Peruanische Erfrischungsgetränke gewannen in den 1990er Jahren zunehmen auch international an Bedeutung. Hauptexportziel war zum Ende des Untersuchungszeitraums Chile187 mit 89%, gefolgt von Japan und Spanien mit jeweils 3% des Exportvolumens an Erfrischungsgetränken (vgl. Ministerio de la Producción, 2000: Gráfico 3). Die Produkte der inzwischen als AJEGROUP firmierten Familie Añaños besetzten maßgeblich den Niedrigpreissektor und machten – je nach zitierter Quelle – zwischen 10% und 14% des peruanischen Softdrink-Marktes aus (vgl. ebd.: 2.5 u. Alcalde, 2009: 36). Ende des Untersuchungszeitraums startete das Unternehmen unter dem Label BIG COLA die Internationalisierung in Venezuela und Ecuador (vgl. Granados, 2015). Auf nationaler Ebene wurde der Markt in Lima 1999 maßgeblich durch Coca-Cola und Inca Kola geprägt, die 27,1% bzw. 27,7% Marktanteil auf sich verteilten (vgl. Ministerio de la Producción, 2000: 2.5). Die Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes DATUM International ergab zeitgleich für Lima, dass 37% der Befragten Inca Kola bevorzugen, gefolgt von Coca-Cola mit 25% und Kola Real mit 14%. Die Schlusslichter der Umfrage sind PEPSI (5%) und Sprite (2%) (vgl. DATUM International, 2000: 4). Das kulturelle Setting der nationalen Produkte bestand aus einer lokalspezifischen Anpassung188 (vgl. Howes 1996: 5) und daher in Abgrenzung zu globalen Markenprodukten. Koffeinhaltige, braune Brausen aus den USA vermittelten ein gänzlich anderes Image, als das marketingtechnisch zum Nationalgetränk erkorene Produkt Inca Kola, oder auch das Nied-
187 2013 lag der durchschnittliche Jahreskonsum von Erfrischungsgetränken in Chile bei rund 150 Litern pro Person und damit bei 50 Litern mehr, als im Nachbarland Peru (vgl. Flores, 2015). 188 Howes verweist hier auf das Konzept der Hybridisierung von Néstor García Canclini (vgl. Howes 1996: 5).
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Identitätskonstruktion, nationaler Konsum & Moderne(n)
rigpreisprodukt Kola Real, das bewusst die arme Bevölkerung Perus ansprach. Im Untersuchungszeitraum veränderten sich die Anbieter- und Absatzstrukturen von industriell produzierten Getränken. Während es sich bei internationalen Biermarken um Importware handelte, wurden die globalen Konkurrenzprodukte im alkoholfreien Getränkebereich von lokalen Herstellerfirmen, nach Vorgaben des ausländischen Mutterkonzerns, produziert und abgefüllt. Zu Zeiten der Markteinführung von Coca-Cola wurde zunächst noch der fertige Getränkesirup importiert und vor Ort entsprechend mit Wasser gemischt. Produkt- oder auch Verpackungsinnovationen führte The Coca-Cola Company zunächst in den USA ein, wie 1978 beispielsweise die innovative 2-Liter-PET-Flasche für Erfrischungsgetränke189 (vgl. The Coca-Cola Company, 2012). Fünf Jahre später nahm auch die Corporación Lindley die PET-Abfüllung mit in ihr Portfolio auf. Ende der 1990er Jahre lieferte sich die alkoholfreien Getränkeherstellerfirmen einen regelrechten Werbekrieg. Mit ca. 11,1 Millionen US-Dollar, also mehr als ein Zehntes des Umsatzes von 1997, lag das Unternehmen Lindley im Mittelfeld der Werbeausgaben. Die Konkurrenzunternehmen Coca-Cola und PEPSI verausgabten zeitgleich 15 Millionen bzw. 9,7 Millionen US-Dollar (vgl. Holligan, 1998: 3). Noch im gleichen Jahr begangen Gespräche zur beidseitigen Interessensbekundung eines Joint Ventures. Letztlich erhielt The Coca-Cola Company 1999 die Markenrechte von Inca Kola außerhalb Perus und verfolgte künftig die Internationalisierung der Marke in lateinamerikanischen Auswanderungsgebieten in den USA und Europa.
2.4 ZWISCHENFAZIT Aufgrund Perus wirtschaftlicher Dependenz – vor allem von den USA – der gesellschaftlichen Pluralität und der kulturellen Präponderanz Europas in ganz Lateinamerika, prägten politische Interventionen den Emanzipierungsversuch Perus im 20. Jahrhundert. Durch den vorherrschenden Zentralismus gestaltete sich die Umsetzung kulturpolitischer Maßnahmen, zum Aufbau einer nationalen Identität, in Sierra, Selva und Costa sehr unterschiedlich. Laut Censo nacional de población190 lebten 1940 insgesamt 65% und 1961 noch über die Hälfte (52,3%) der Peruanerinnen und Peruaner in der Sierra-Region (vgl. INEI, Poblacion y Demografia, 1940 u. 1961). Mit der Binnenwanderung begann eine Umverteilung der Bevölkerung, weg vom indigen-geprägten Hochland, hin zur Criollo dominierten Küste, wodurch sich vorrangig Mestizen und Indigene, die an die Küste zogen, außerhalb ihrer ethnisch-identitären Lebenswelt befanden. Bewusst und/oder unbewusst entstand so ein ständiger Selektionsprozess von Identifizierungskategorien, die sich nicht mehr
189 In Deutschland warb The Coca-Cola Company 1990 mit dem Neologismus Die Unkaputtbare für die 1,5-Liter-PET-Flasche (vgl. Janich, 2010: 154 u. 206). 190 Eigene Übersetzung: Nationale Volkszählung.
Zwischenfazit
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an Orts- oder Sprachgebundenheiten festmachen ließen. In diesem Zusammenhang wird die Vielschichtigkeit von Identität sichtbar, wonach nicht nur ethnisch und kulturell normierte Muster reproduziert, sondern auch ökonomische und machtspezifische Aspekte im Identitätsbildungsprozess involviert werden. Wie dargestellt wurde Peru im Untersuchungszeitraum von multidimensionalen Machthierarchien und -strukturen unterlaufen, die sich, je nach kultureller oder ethnisch-rassischer Selbstund Fremdzuschreibung, durch Marginalisierung, Geringschätzung, Rassismus und z.T. auch Terrorismus ausdrückten. Dabei scheiterten staatlich vorgegebene Identitätskonzepte, die stets eine Homogenisierung der Ethnien vorsahen. Doch durch die abgeleiteten, neuen Rechte der indigenen Bevölkerungen sowie den erweiterten Zugang zu Bildung, wurden – vor allem während der Militärregierung von General Velasco und der Umsetzung seines nationalstaatlichen Identitätsmodells mestizaje – neue Machtverhältnisse erwirkt, die sich sukzessive und regional unterschiedlich entwickelten. Die Population wuchs von 7,6 Millionen Menschen in 1950 auf 13,2 Millionen in 1970 an (vgl. Brea, 2003: 7). Zu dieser Zeit lebten mit 46,1% der Staatsangehörigen erstmals mehr Menschen in der Küstenregion, als im Gebiet der Sierra (44%) (vgl. INEI, Poblacion y Demografia, 1972). Durch die Deterritorialisierung einer Kultur zu ihrem natürlichen Herkunftsgebiet kann – wie García Canclini sagt – nicht (mehr) von reinen, territorial festgelegten, Identitäten gesprochen werden. Auch die Konsumkomponente innerhalb der Identitätskonstruktion unterliegt einem Wandlungsprozess. Das Entstehen einer Mittelschicht verdeutlicht gesellschaftlich, dass auch der persönliche Konsumkontext entsprechend veränderbar ist und nicht mehr durch die ethnische Herkunft vorgegeben sein muss. Die Binnenwanderung ermöglichte also, bis dato marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die Partizipation am (globalen) Konsum, der fortan an seiner aktiven ethnischen Distinktionswirkung verlor. Ferner brachte die Urbanisierung Massenmedien als neuen Identitätsakteur hervor, die, durch den hohen Anteil ausländischer Produktionen und Werbung, eine transnationale Komponente in den Konstruktionsprozess involvierten. Deutlich wird hier die von Néstor García Canclini als Telepartizipation bezeichnete Dimension medialer und globaler Massenkommunikation, die gerade im urbanen Kontext an Einfluss auf das spezifische (Kommunikations)verhalten gewinnt. Durch die Entdeckung peruanischer Gerichte als (hybride) Nationalküche gelang dem Essen eine Art soziokulturelle Inklusion, an der politische, terroristische, militärische und soziale Akteurinnen und Akteure im Peru des 20. Jahrhunderts scheiterten. Nach der Anerkennung des Pisco als nationales Kulturerbe 1988, honorierte das nationale Kulturinstitut INC unlängst die peruanische Nationalküche und erklärte sie 2007 ebenfalls zum Kulturerbe, weil sie „als kultureller Ausdruck
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Identitätskonstruktion, nationaler Konsum & Moderne(n)
des Zusammenhalts, auf bezeichnende Weise zur Sicherung der nationalen Identität beiträgt.“ (Ministerio de Cultura Perú, 2007: RDN 1362/INC-2007)191 Wie dargelegt wurde, ging der Wandel der identitären Zuschreibung, von genuin indigenen zu nationalen Lebensmittel, mit einem allgemeinen Aufwertungsprozess der indigenen Lebensweise einher. Jedoch legten Personen mit indigenen Wurzeln ihre Identität im urbanen Kontext laut einer Umfrage 1993 ab und bezeichneten sich selbst nicht als indigen (siehe Abbildung 8). Fand zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch eine eher unbewusste gruppenspezifische Nahrungsmittelselektion statt, diente Essen im Urbanisierungsprozess zunehmend der Distinktion. Innerhalb der dichotomen Aufteilung in andine und urbane Lebensmittel schwang gleichzeitig eine Qualitätseinschätzung mit, die erst durch die Kochrevolution von oben allmählich entschärft wurde. Es bleibt abzuwarten ob die, durch neue Akteurinnen und Akteure im nationalen Identitätsprozess erzeugte, gesellschaftliche Stimmung nachhaltig einen Veränderungsprozess bewirken kann, der erstmals die ganze Bevölkerung involviert. Die technische Modernisierung der Getränkeindustrie gelang überwiegend durch Auslandsinvestitionen, oder mit Gründungskapital von Immigranten, die sich dadurch in Peru zu etablieren versuchten. In globale Waren- und Geldströme war Peru im Untersuchungszeitraum großräumig involviert, jedoch hemmten die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen und deren Folgen letzthin das Entwicklungspotenzial der Getränkeindustrie, wodurch sich Oligopol- bzw. Monopolmärkte entwickelten. Der Erfolg von Kola Real war unmittelbar an die Zeit der Gewaltherrschaft durch Sendero Luminoso in Ayacucho gebunden, wodurch das Getränk zunächst ohne Konkurrenz wachsen konnte. Einmal mehr verdeutlicht die Fallstudie der Getränkebranche, dass Peru nicht in einer Moderne ankommen ist, sondern verschiedene ungleiche und kombinierte Prozesse der Modernisierung durchlief und durchläuft. Radio-Produzentin Medalith Rubio Guerrero konstatierte dazu, dass zum Ende des Untersuchungszeitraums noch lediglich 27,8% der peruanischen Bevölkerungen in ländlichen Gebieten lebten, „[...] wo die Moderne kaum angekommen ist“192 (Rubio Guerrero, 2007: 327).
191 Im Original: „Declara Patrimonio Cultural de la Nación a la Cocina Peruana como expresión cultural cohesionadora que contribuye, de manera significativa, a la consolidación de la identidad nacional.“ (Ministerio de Cultura Perú, 2007: RDN 1362/INC-2007). 192 Im Original: „[...] donde escasamente llega la modernidad.“ (Rubio Guerrero, 2007: 327).
3. MASSENMEDIEN, MARKENARTIKEL & MARKETINGGESCHICHTE Die Geschichte der Tageszeitungen reicht in Peru bis ins 19. Jahrhundert zurück193 (vgl. Gargurevich Regal, 1991: 56ff.). Eine Analphabetisierungsrate von 50% der Bevölkerung erlaubt jedoch auch Mitte des 20. Jahrhunderts nicht, über die damaligen Druckerzeugnisse als Massenmedien zu sprechen. Gleichwohl fungierten Zeitungen und Zeitschriften bereits seit ihrer Entstehung als Werbeträger und Kommunikationsmittel der urbanen Oberschicht. Durch einen technischen und inhaltlichen Austausch mit Europa professionalisierte sich die Branche in den 1950er Jahren, was mit einer Auflagensteigerung, der Zielgruppendiversifikation und der nationalen Markterweiterung einherging (vgl. Otter, 1996: 157). Inlandskapital floss größtenteils von der politischen und wirtschaftlichen Oligarchie, die die Zeitungen – je nach Couleur – als Sprachrohr nutze. Neben dem machtpolitischen und inhaltlichen Einfluss des Staates waren die Medien auch der finanziellen Macht internationaler Medienkonzerne unterworfen, vor allem bei der Gründung peruanischer Dependancen US-amerikanischer Fernsehanstalten (z.B. ABC, CBS und NBC). Erste Einschränkungen, gegenüber der in Artikel 63 der Verfassung von 1933 formulierten Pressefreiheit, nahm die Regierung von Staatspräsident José Luis Bustamante y Rivero 1945 im Nueva Ley de Imprenta 10309 vor (vgl. Bustamante y Rivero, 1945). Die nachfolgende Militärregierung enteignete sämtliche Zeitungen und übergab sie der Kontrolle durch Gewerkschaften und Organisationen. Auf dem Weg zurück zur Demokratie regelte die neue Verfassung 1979 (vgl. Artikel 2, Absatz 4) die Pressefreiheit, womit sich die Glaubwürdigkeit der vorhanden Medien innerhalb der Gesellschaft positiv veränderte (vgl. Gargurevich Regal, 2012: 15). García Canclini bezeichnet die Interdependenzen zwischen urbanen Kulturen und Massenmedien als soziale Medialisierung194 . Demnach begegnet die urbane Bevölkerung kommerzieller Werbung und politischen Slogans auf der Straße, und gleichzeitig repräsentieren Massenmedien in einer Kreisförmigkeit das Urbane (vgl. ebd.: 270). Davon ausgehend erfolgt im Anschluss – neben der thematischen Kontextualisierung – die politische, juristische und gesellschaftliche Einbettung des Entwicklungsprozesses von Medien als Werbeträger. Dabei wird den Fragen nachgegangen, inwieweit Massenmedien die unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen erreichten, respektive beeinflussten, und in welchem Maß Massenkommunikations-
193 Simón Bolívar rief 1825 die Tageszeitung El Peruano ins Leben, die über Gesetzesänderungen und Regierungstermine informierte und auch heute noch als offizielles Nachrichtenmagazin existiert (vgl. Gargurevich Regal, 1991: 56ff. u. Homepage Diario Oficial El Peruano) 194 Im Original: mediatización social (García Canclini, 1990: 269).
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Massenmedien, Markenartikel & Marketinggeschichte
mittel für politische (Werbe)-Botschaften genutzt wurden. Mit einbezogen wird die Rolle von Massenmedien im Prozess der kulturellen Globalisierung. Lokale Konsumstrukturen unterlagen im Untersuchungszeitraum starken heterogenen Bedürfnissen, die sich monetär manifestierten. Als Distinktionsfaktor der Oberschicht wurde die gesellschaftliche Position mit dem Kauf, Besitz und Konsum internationaler Markenartikel zum Ausdruck gebracht. Die Werbung suggerierte dabei, dass beispielsweise Nestlé-Kondensmilch gesünder sei, als die deutlich preiswerte Frischmilch (vgl. Haferkamp et al., 1995: 29). Welche peruanischen und globalen Marken den Konsumgütermarkt maßgeblich prägten, gilt es nachfolgend ebenso zu analysieren, wie die spezifische lokale Anpassung an die peruanischen Konsumbedürfnisse. Berücksichtigung finden auch unerfüllbare Begehrlichkeiten, die durch globalisierte Medien erzeugt wurden sowie Markenbeispiele im Niedrigpreissegment. Fraglich ist, ob kulturspezifische Konsumgewohnheiten im Globalisierungsprozess verloren gehen, oder ob sie vielleicht viel stärker wirksam werden, um das kulturelle Alleinstellungsmerkmal vor der Homogenisierung zu bewahren. Nachfolgend werden daher Konsumgüter als herkunftsbezogene Markenartikel erörtert, und ferner deren möglicher Einfluss auf die Kaufentscheidung der Konsumierenden untersucht. Mit der wachsenden städtische Bevölkerung fand, trotz (oder auch wegen) der vorherrschenden Unterschiede in Bezug auf die Konsumkultur, eine Professionalisierung der Branche sowie eine Ausweitung der Marketingaktivitäten statt. Seit den 1940er Jahren entwickelten sich neben Zweigstellen US-amerikanischer auch einheimische Werbeagenturen. Deren Vorstellung wird nachfolgend in den Entwicklungsprozess der Branche integriert. 3.1 Massenmedien als Werbeträger „Mass communication is not a concept that can be defined, but a common sense category that is used to lump a number of different phenomena together in a non-analytic way.“ (O’Sullivan et al., 1994: 172).
Im Sinne des Zitats wird Massenkommunikation195 nachfolgend als öffentliche, indirekte und asymmetrische Kommunikation per Tageszeitungen, Zeitschriften, Radio, Kino, Television und Werbung verstanden (vgl. ebd.). Zu Beginn des Untersuchungszeitraumes bestand, unabhängig vom gelebten Zentralismus, bereits eine funktionierende Infrastruktur themenspezifischer, nationaler und regionaler Tages- und Wochenzeitungen sowie Radiosender. Dazu beigetragen hatte zunächst die Telegraphenverbindung zwischen Lima und der ca. 250 Kilometer entfernten südlichen Küstenstadt Pisco. So konnten Nachrichten seit 1870 wesentlich schneller, als zuvor per Schiff, vermittelt werden (vgl. Otter, 1996:
195 Siehe ausführlich zum Thema im Globalisierungskontext: McLuhan, 1964 u. García Canclini, 1995a, insbesondere Kapitel 5, S. 107ff.
Massenmedien als Werbeträger
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156). Auch der Import der ersten Rotationspresse, und die Einführung der Setzmaschine Linotype 1904, trugen wesentlich zur Professionalisierung der Branche bei (vgl. Gargurevich Regal, 1982: 37). Als am 4. Mai 1839 die erste Ausgabe der peruanischen Tageszeitung El Comercio in Lima erschien, konnte hingegen von Massen-Medium noch keine Rede sein. Mit Schiffsfahrplänen und Anzeigen, über im Hafen ankommende Pferde oder Importgüter aus Europa, galt das Blatt bis 1854 als Werbeträger und Informationsplattform für die urbane Oberschicht. Mutmaßliche Schönheitsverbesserer und Zahnärzte boten ihre Dienste bebildert feil. Bis 1854 wurden auch Sklaven per Kleinanzeigen verkauft (vgl. Castro Pérez, 2003: 22–26). Die von südamerikanischen Investoren196 gegründete Tageszeitung konnte durch ihre wirtschaftliche Autonomie rasch wachsen und sich nachhaltig am Markt behaupten. Nach dem Tod eines Inhabers übernahm der Journalist José Antonio Miró Quesada 1875 die Leitung und Inhaberschaft von El Comercio. Seitdem befindet sich das Blatt, wie die überwiegende Anzahl der peruanischen Zeitungen, im privaten Besitz der Investierenden-Familien; natürlich abgesehen von der Enteignung während der Militärregierung (vgl. Otter, 1996: 159). Auch die 1903 gegründete Wirtschaftszeitung La Prensa kooperierte zu Modernisierungszwecken mit den USA und Deutschland und druckte 1907 bereits 20.000 Exemplare pro Stunde (vgl. ebd.: 157). Die moderne Nachrichtentechnik hielt auch Einzug in die Departamentos-Städte. Als Wochenzeitung startete La Industria 1895 in Trujillo und zählt damit zu den ältesten Provinzzeitungen. Durch den Austausch mit verantwortlichen Zeitungsagierenden in Lima, beispielsweise mit Antonio Miro Quesada, erschien sie im 20. Jahrhundert als Tageszeitung und gewann zunehmend an Einfluss im Norden des Landes (vgl. Gargurevich Regal, 1982: 42f.). Als departamentosweite Tageszeitungen folgten 1905 El Pubelo in Arequipa und 1916 El Tiempo in Piura, die sich im Konkurrenzkampf des 20. Jahrhunderts behaupten konnten (vgl. El Pubelo Homepage u. El Tiempo Homepage). Pionierin im Bereich des Sensationsjournalismus war die 1912 gegründete, nationale Tageszeitung La Crónica, die von der Qualität und Glaubwürdigkeit her nicht an die führenden Tageszeitungen herankam und nach Ende der staatlichen Zuschüsse 1990 eingestellt wurde (vgl. Gargurevich Regal, 1982: 37). Zuvor hatte sich das Redaktionsteam von La Crónica stets an der aktuellen Regierung orientiert und dadurch von moderner Technik – wie Offsetdruck und IBM-Computern – profitiert. Der inhaltliche Fokus lag auf Sportnachrichten respektive Themen von populärem Interesse (vgl. Gargurevich Regal, 1991: 21f.). Auf Initiative der Zeitungsbranche wurde 1928 die Asociación Nacional de Periodistas197 gegründet, um sich als nationale Akteurin mit anderen Netzwerken zu verbinden und gemeinsame Ziele umzusetzen; allen voran die Pressefreiheit. 1930 gelang die gesetzliche Verankerung der journalistischen Identität per Presseausweis,
196 Sprich, dem Chilenen Manuel Amunátegui und dem Argentinier Alejandro Villota (vgl. gestión.pe, 2014). 197 Eigene Übersetzung: Nationale Journalistenvereinigung.
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Massenmedien, Markenartikel & Marketinggeschichte
der zugleich als Gütekriterium für seriösen Journalismus stand. Gleichzeitig wurde an der Universidad de San Marcos die erste Journalismus-Schule Perus eingeweiht (vgl. ANP-Homepage u. Leguía, 1930, Ley No 6848). Mit dem Ende der staatlichen Repressionspolitik gegenüber den Medien wurde 1930 vorerst eine freiere politische Berichterstattung möglich. Die noch aktiven Zeitschriften griffen die gesellschaftlichen Kontroversen der Umbruchphase auf. Unterdessen schwappte die Stimmung der politischen Instabilität auch auf die Medienagierenden über und fand 1935 einen tragischen Höhepunkt. Als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der politischen Berichterstattung in El Comercio, ermordete ein Anhänger der jungen Apristen den Herausgeber Antonio Miró Quesada und dessen Frau (vgl. Tobler u. Bernecker, 1996: 778). Miró Quesada hatte zuvor mehrere Jahre in London verbracht und die dort gesammelten journalistischen Erfahrungen in seiner Zeitung umgesetzt (vgl. Gargurevich Regal, 1991: 112f.). Landesweit nahm die Leserschaft von Tageszeitungen, mit der wachenden Professionalisierung der Branche und der steigende Alphabetisierungsrate, zu. Somit wurden auch der Einsatz und die Bedeutung von Zeitungen als Werbeträger und Kommunikationsmittel gesteigert. Ganz im Gegensatz zum Radio, wo kommerzielle Werbung aufgrund der geringen Reichweite und dem kleinen Publikum noch nicht rentabel war. Dies begründet sich mit den hohen Anschaffungskosten eines Endgerätes, der zunächst geringen Programmauswahl (FM und AM) und der kurzen Sendezeiten (vgl. Tello Charún, 1986: 7ff.). Die erste öffentliche Radiostation OAX wurde 1925 durch den damaligen Staatspräsident Leguía, der die Medien massiv in ihrer Handlungsfreiheit einschränkte, eingeweiht. Auch ohne Endgerät konnte das geneigte (Radio)-Publikum im Kino Excelsior Regierungsansprachen, Konzerte, oder katholische Messen verfolgen (Gargurevich Regal, 1995: 46ff. u. vgl. Bustamante-Quiroz, 2005: 207). Die Eigentümerschaft von OAX ging nach der Firmenpleite der peruanischen Beteiligungsfirma Peruvian Broadcasting Company 1927 an die englische Marconi’s Wireless Telegraph Company über, der bereits 1926 per Staatsvertrag alle Post- und Telegraphendienste übertragen worden waren (vgl. Gargurevich Regal, 1995: 46ff.). OAX war bis 1934 völlig konkurrenzlos, was vor allem an den Folgen der Weltwirtschaftskrise lag. In den politisch unsicheren Zeiten wurde 1931 ein Pressegesetz verabschiedet, welches üble Nachrede, Verleumdung, oder auch die Anstiftung zu Straftaten im Radio regelte. Werberichtlinien und Mediengesetze darüber hinaus existierten noch nicht (vgl. Perla Anaya, 1995: 48f.). Belebt wurde der Radiosektor 1934, nachdem die Exportnation Dank der damals steigenden Weltmarktpreise (beispielsweise für Baumwolle) die Folgen der internationalen Wirtschaftskrise abfedern und schließlich überwinden konnte. Tabelle 13 zeigt die zu Beginn des Untersuchungszeitraums entstanden privaten Radiosender (eigene Darstellung nach Bustamente, 2005). Eigentümer der drei zuletzt dargestellten Radiosender war die Marconi’s Wireless Telegraph Company, die fortan auch die entsprechenden Radio-Endgeräte vertrieb (vgl. Bustamante-Quiroz, 2005: 207 u. 209). Doch auch der Staat fungierte, unter der Regierung von General Benavides, als Radioakteur. Nach einem staatlich finanzierten Relaunch des damals veralteten Senders OAX, wurde dieser 1937 als Radio Nacional modernisiert
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wiedereröffnet. Die Administration oblag fortan dem Staat, womit dieser politische Propagandaziele und Nationalismus-Interessen verfolgte (vgl. Perla Anaya, 1995: 49f.). Dem seiner Meinung nach subversiven Einfluss der APRA auf die Bevölkerung, versuchte General Benavides Radioansprachen entgegenzusetzen, um die urbanen Massen für den populistischen Regierungsstil zu gewinnen (vgl. BustamanteQuiroz, 2005: 207 u. 212). Jahr 1934 1934 1934 1935 1935 1935 1935 1935 1935
Sendername OAX4B Radio Grellaud OAX4C Radio Dusa OAX4E Radio Weston OAX4I Radio International OAX4L Miraflores Radio Sucre OAX4F Radio Castellano OAX4H Radio Dávila OAX4T Radio Gilo
umbenannt in Radio-Lima (1951) Radio Central (1942)
Tabelle 13: Entwicklung der privaten Radiosender in Peru Dessen scheinbar ungeachtet etablierte sich das Radio seither in Peru und wurde zum wichtigen Werbeträger für Konsumgüterspots. 1947 rief die Branche das repräsentative Gremium aller nationalen Radiosender Asociación Nacional de Radioemisoras del Perú (ANRAP) ins Leben (vgl. Rubio Guerrero, 2007: 332). Drei Jahre später zählte Peru 95 Radiosender, was sicherlich auch an der niedrigschwelligen Bürokratie lag. Denn bis zur Verabschiedung des Telekommunikationsgesetzes 1957, musste keine entsprechende Lizenz zur Eröffnung einer Radiostation beigebracht werden (vgl. Otter, 1996: 167). Der 25. Geburtstag des Radiostarts in Peru markierte den Beginn des „Goldenen Zeitalters“ (Alegría, 1993: 116). Die Tarife für Hörfunk-Werbespots unterschieden sich je nach Reichweite des Senders, nach Sendezeit und -häufigkeit sowie nach Programminhalten. So entstand eine Preisspanne von einem Sol bis zu 40 Soles pro Sekunde (vgl. PQS Homepage). Da die Verkaufspreise für Radioempfangsgeräte zurückgegangen waren, profitierte die Branche vom steigenden Verkauf der Werbeeinheiten, der den Verlust nicht nur kompensierte, sondern obendrein noch ein breiteres inhaltliches Angebot ermöglichte (vgl. Rubio Guerrero, 2007: 332). Aus dem Ausland eingekaufte Radionovelas wurden durch globales musikalisches Entertainment, Sportberichterstattung, Politik und Werbung, die sich immer mehr an den spezifischen Wünsche der Zielgruppe(n) orientierten, ergänzt (vgl. Otter, 1996: 167). In Tabelle 14 ist die Entwicklungen der Bevölkerungszahl, der Analphabetisierungsrate und der Endgeräte (Radio und TV) zwischen 1950 und 1972 abzulesen (eigene Darstellung nach INEI, Poblacion y Demografia, 1950–1972; UNESCO, 1964 u. 1975). Ausgehend von 1,09 Mio. Hörfunkgeräten und 75.600 TV-
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Endgeräten in 1950, erhöhte sich die Anzahl laut UNESCO auf über zwei Millionen Radiogeräte und 406.000 TV-Geräte in 1971/72 (vgl. ebd.). Die von der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung veröffentlichen Hörfunk-Daten beliefen sich für 1960 auf 1,1 Millionen Endgeräte und für 1964 bereits auf 2,1 Millionen Radios (vgl. Dillner, 1980: 16ff.). Durch die in jedem Fall nachweislich gestiegenen Zahlen der Jahr 1950 1971/72
Bevölkerungszahl 10,8 Mio 14,5 Mio
Analphabetisierungsrate 50–55% 27,2%
Endgeräte pro 100 Personen Radios: 10,1 - TV: 0,7 Radios: 13,8 - TV: 2,8
Tabelle 14: Entwicklungen der Bevölkerungszahl, Analphabetisierungsrate und Endgeräte, 1950 (TV-Daten beziehen sich auf 1959) und 1971/72 Zuhörerschaft, bei gleichzeitig sinkender Analphabetisierungsrate, nahm die mediale Rezeption gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse – die Telepartizipation nach García Canclini – zu; wie beispielsweise die Verbreitung des Mambos in Peru verdeutlicht. Zwei Brüder der Investorenfamilie Delgado Parker initiierten im Alter von 18 und 19 Jahren das dynamische Jugendradioprogramm Mambo Club, das durch internationale Musik den Rhythmus des Tanzes vermittelte, und ihn dadurch selbst populär machte. Während die Jugend begeistert war und den Tanz euphorisch auf die Straßen Limas brachte, verbot die empörte Katholische Kirche den unsittlichen Tanz, was wiederum eine neue Diskussion im urbanen Leben und im Radio entfachte (vgl. Rubio Guerrero, 2007: 332). Gruppenkommunikation fand im städtischen Umfeld zunehmen medial Ausdruck und begünstigte die Diversifikation von Radioprogrammen. Der großen Beliebtheit von bis zu 7000 Zuhörenden erfreute sich das morgendliche Angebot El Sol de los Andes198 , das sich mit Musik und Bräuchen aus der Heimat an die ruralen Binnenwandernden richtete (vgl. ebd.: 333). Außerhalb des Hauptstadt-Departamentos entwickelten sich ebenfalls private (institutionelle) und zum Teil auch staatliche Radiostationen; vor allem in Arequipa, Cuzco, Huancavrlica, La Libertad und Junín (vgl. Otter, 1996: 171). Mit der nationalen Etablierung des Radios wurde die Gruppe der Analphabetisierten erstmals in die mediale Auseinandersetzung politischer Prozesse involviert. Der Medienakteur Radio konnte somit eine Machtposition bei der gesellschaftlichen Meinungsbildung einnehmen, was der Presse in dem Maße nicht möglich war. Der landesweite Absatz von Radioendgeräten stieg, selbst mit der Einführung des Fernsehens Ende der 1950er Jahre, weiter an (siehe Tabelle 14)199 . Nach ersten Tests zur Fernsehübertragung 1939 durch internationale Wissenschaftler, konnte die teure Technik erst mit UNESCO-Entwicklungsgeldern 1957 fürs staatliche Bildungsfernsehen (Canal 7) eingerichtet werden (vgl. TV Perú Homepage). Zuvor
198 Eigene Übersetzung: Die Sonne der Anden. 199 Die TV-Daten beziehen sich auf 1959. Der erste TV-Sender Perus wurde 1958 eingeweiht und vom Bildungsministerium betrieben (vgl. UNESCO, 1964: 192f. u. Fox, 1995: 538).
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hatte Präsident Manuel Prado y Ugarteche eine neue Lizenzverordnung zur Kontrolle der Frequenzen verabschieden lassen, die gleichzeitig die Fernsehnutzung von Canal 7 und Canal 5 durch den Staat vorsah (vgl. Universidad de San Martín de Porres, 2005: 193). Dieser übte keinen Einfluss auf das, stark von ausländischen Formaten geprägte, Programm aus und gewährte den Import von Sendetechnik ohne Zölle (vgl. Otter, 1996: 168). Sein Alleinstellungsmerkmal als Bildungsmedium und politischer Werbeträger verlor das Fernsehen mit dem Start des ersten Privatsenders Radio América TV Canal 4 OAY-4D am 15. Dezember 1958. Der von Investoren des Hörfunks initiierte Sender gehörte der Compañía Peruana de Radiodifusión S.A., die im Bereich der Sendetechnik eng mit der US-amerikanischen Nation Broadcasting Corporation kooperierte (vgl. Vivas Sabroso, 2008: 21). Auch die im Radiogeschäft aktive Investorenfamilie Delgado Parker suchte in der Fernsehproduktion ein weiteres mediales Standbein, und gründete an der Seite von Isaac Lindley den Privatsender Canal 13 Panamericana Televisión, der am 16. Oktober 1959 – durch Finanzkapital der Firma Philips – mit seiner Übertragung startete. In der Phase einer militärischen Übergangsregierung erhielt der TV-Sender Panamericana Televisión unter Präsident Nicolás Lindley200 , die eigentlich staatliche Frequenz Canal 5, die er trotz öffentlicher Kritik heute noch nutzt (vgl. Caceres Calderon, 2006: 57f.). Die Universidad Nacional de San Agustín in Arequipa sendete 1959 erstmals ein Kulturprogramm über den Sender Televisora Sur Peruana TSP Canal 2 (vgl. Vivas Sabroso, 2008: 28f.). Ein dauerhaftes Programm außerhalb Limas startete 1962 mit dem Privatsender Televisión Continental S.A. Canal 6, ebenfalls in Arequipa (vgl. Saavedra, 1992: 27). Die Werbekundschaft des Radios wanderten zunehmend an das Fernsehen ab, das 1968 alleine in Lima 55% seiner Werbeeinnahmen generierte (vgl. Fox, 1995: 539). Zu dieser Zeit existierten fünf Privatsender in Peru, die sich maßgeblich durch Werbung finanzierten und dafür etwa 37% ihres Programms vorsahen (vgl. Priess, 1990: 6). In der restlichen Sendezeit wurden vor allem importierte USamerikanischen Billigproduktionen und lateinamerikanische Telenovelas gesendet. Landesweite Nachrichten standen hingegen nicht im Interessenfokus des Publikums (vgl. Otter, 1996: 167). Eine massive Veränderung der Medienlandschaft ging mit der Übernahme der Regierung durch General Velasco Alvarado einher. Als Teil des sozialen und wirtschaftlichen nationalen Entwicklungsplans sollte die Loslösung von Auslandskapital, mit einem gesteigerten Anteil der nationalen Produktionen auf 60%, begonnen werden (vgl. Tello Charún, 1993: 71). Mit dem Ley General de Telecomunicaciones (Decreto Ley 19020) enteignete der Staat 51% pro TV-Sender sowie 25% pro Radiosender und überführte das Kapital in die nationale Aufsichtsbehörde für Telekommunikation Empresa Nacional de Telecomunicaciones del Perú (vgl. Perla
200 Hierbei handelt es sich um den Bruder von Isaac Lindley, dem Miteigentümer des Senders.
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Anaya, 2001: 15 u. Fox, 1995: 547). Das Radio wurde vom Staat zunehmend als Bildungsinstrument eingesetzt, mit der Verpflichtung täglich ein kostenloses Kulturprogramm zu senden. Die führenden Tageszeitungen wurden zur Verwaltung an Gewerkschaften und Organisationen übergeben, womit vorerst das Ende einer oppositionellen Berichterstattung eingeläutet wurde. Aufgrund der relativ arbiträren Auswahlkriterien neuer Redaktionsleitungen, hatten die Tageszeitungen fortan mit rückläufigen Auflagenzahlen zu kämpfen (vgl. Priess, 1990: 6). Die Werbekundschaft blieben dem Radio sowie auch dem Fernsehen während der Militärregierungen treu und verstärkte sogar ihren monetären Einsatz, was anhand der Entwicklung der Werbekosten in Tabelle 15 abzulesen ist (eigene Darstellung nach Benítez, 1991: 130f.). Medium/Jahr Radio TV
1968 4,4 Mio 11,2 Mio
1970 6,2 Mio 13,7 Mio
1972 6,7 Mio 21 Mio
1974 7,2 Mio 27,3 Mio
1976 11,4 Mio 43,5 Mio
Tabelle 15: Entwicklung der Werbekosten zwischen 1968 und 1976 (in Millionen US-Dollar) Die überdurchschnittliche Ausgabensteigerung zwischen 1974 und 1976 ist auf die Übernahme der Regierung durch General Morales Bermúdez 1975 zurückzuführen. Fernab der nationalistischen Ideologie überführte der damals neue Staatspräsident Peru zurück zur Demokratie, und liberalisierte ferner die Durchsetzung vorhandener Mediengesetze. Besonders die Provinzen profitierten mit der Inbetriebnahme von lokalen TV-Stationen und neuen Sendeanlagen 1977 davon (vgl. Tello Charún, 1993: 121f.). Mit der neuen Verfassung von 1979 erhielten allen Medien rechtliche Meinungs- und Informationsfreiheit, ohne Zensur, Behinderung, oder vorherige Genehmigung (vgl. Belaúnde Terry u. Asamblea Constituyente, 1979: Artículo 2 Absatz 4). Nach dem Regierungsantritt von Fernando Belaunde Terry 1980 erfolgte auch die Rückgabe der Medien an die Eigentümerfamilien. Neben einer finanziellen Entschädigung gewährte der Staat den Medienschaffenden Steuervorteile. Die Wiederbelebung des Mediensektor begünstigte, durch einen freien Wettbewerb, Neugründungen in der Presse- und der Radiobranche und beinhaltete technische Errungenschaften im TV-Sektor, sprich das Farbfernsehen 1980 und das Kabelfernsehen 1983 in Iquitos (vgl. Gargurevich Regal, 2012: 15 u. Universidad de San Martín de Porres, 2005: 194). Der Entpolitisierungsversuch der Medien misslang und so wurden sie erneut zum politischen Werbeträger. Allen voran das Fernsehen fiel während der Phase des Terrors201 , durch regellose Berichterstattungen über Anschläge von MRTA und Sendero Luminoso, auf. Die zusätzlich medial aufgeheizte Stimmung übertrug sich auf die Medienagierenden. Bei Recherchen über die Guerillaorganisationen starben
201 Siehe ausführlich: Kapitel 1.3.
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1983 acht Medienschaffende und Fotografierende (vgl. Otter, 1996: 158). Eine freie Berichterstattung über die Ereignisse war fortan an polizeiliche Beliebigkeit geknüpft. Dieser Mechanismus verstärkte sich nach dem Selbstputsch von Staatspräsident Alberto Fujimori 1992 zunehmend (vgl. Gargurevich Regal 2012: 19f.). Der Wettbewerb wurde unterbunden und Medienagierenden drohten Einschüchterungen, wenn sie nicht im Sinne der Regierung berichteten. Die Zeitung La República wurde 1992 einer staatlichen Zensur unterzogen und sollte vor dem Druck Korrekturen vornehmen. Der Chefredakteur weigerte sich und gab stattdessen Leerzeichen in den Druck (vgl. ebd.: 20). Doch nicht nur die inhaltliche Repression durch den Staat und den Geheimdienst machte den Zeitungen und Zeitschriften zu schaffen, sondern auch die Folgen der Hyperinflation und das Ausbleiben von Anzeigenschaltungen. Konnten Presserzeugnisse 1976 noch 26% der Werbeeinnahmen verbuchen, sank die Zahl 1992 auf 6%. Gleichzeitig erhöhten sich die Zahlen beim Fernsehen von 59% auf 86%. Die Werbeeinnahmen des Radiosektors machten 1992 lediglich noch 8% aus, wohingegen es 15% in 1976 waren (vgl. Otter, 1996: 179). Zum Ende des Untersuchungszeitraums kam Peru auf 27,3 Radioendgeräte pro 100 Personen, bei einer Zahl der Einwohnerschaft von 27,14 Millionen (vgl. Rubio Guerrero, 2007: 327). Vor allem auf dem Land stellte das – inzwischen auch Batterie betriebene – Radio eine Informationsalternative zum Fernsehen dar. Doch gerade in Städten übernahm das Fernsehen im Re-Demokratisierungsprozess das Leitmedium, dem mit 73,3% auch die höchste Glaubwürdigkeit zugesprochen wurde (vgl. Otter, 1996: 163). Anfang der 1990er Jahre hatten sich 15 TV-Programme in Peru etabliert. Zur gleichen Zeit verfügte Lima über 50,8% der landesweiten TV-Geräte, gefolgt von der nördlichen und südlichen Küste, die zusammen auf 29,6% kamen. Auf die Andenregion fielen 16% der TV-Endgeräte und auf die Selva noch 3,6% (vgl. Saavedra, 1992: 57). Vermutet werden kann hier ein Zusammenhang mit der defizitären Stromabdeckung landesweit (vgl. Redacción El Comercio, 2012). Laut INEI entwickelte sich der Sektor Strom, Gas und Wasser zwischen 1990 und 1992 um 0,9% und während der gesamten Dekade um 5,9% (vgl. Nunura u. Flores, 2001: 7). Gleichwohl war vor allem das urbane Leben Ausdruck der Telepartizipation in Peru und im ganzen Land wurde der Hybridisierungsprozess durch die Massenmedien intensiviert. Gleichzeitig erhöhten die neuen Informationstechnologien deutlich interkulturelle Kontakte, sowohl in Bezug auf die Intensität, als auch auf die Geschwindigkeit. Durch die mediale Bereitstellung entstanden fiktive Selbst- und Weltbilder – imagined selves und imagined worlds – die Nationalstaaten nicht als feste Einheit betrachten und sie daher in Wanken bringen können (vgl. Appadurai, 1996: 3). Dienten Massenmedien zu Beginn des Untersuchungszeitraumes vor allem als Werbeträger politische Propaganda, entwickelte sich mit den privaten Medien auch deren kommerzielle Nutzung. Trotz staatlicher Repression und korrupter Praktiken genießt vor allem der Fernsehsektor gesellschaftliches Vertrauen. Nicht außer Acht gelassen werden darf die Einbeziehung der Analphabetisierten in den nationalen politischen Diskurs, durch die Etablierung audiovisueller Massenmedien. Gleichzeitig wurde für Unternehmen und Organisationen ein breiterer Publikumskreis indirekt
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Massenmedien, Markenartikel & Marketinggeschichte
ansprechbar, womit bewusst Einfluss auf die gesellschaftliche Meinungsbildung genommen werden konnte. Durch die Vormachtstellung der privaten Medien stand die finanzkräftige Werbekundschaft vor einer inhaltlichen Ethikkontrolle. So entschieden letztlich die Einschaltquoten über das Programm, wodurch ein verklärtes Bild meist US-amerikanischer Leitfiguren konstruiert wurde. Dieses Bild galt es durch nationalisierende Werbung aufzubrechen. Nicht unterschätzt werden darf die Bedeutung von (Marken-)produkten als identitätsstiftende Werbeträger, die nachfolgend auch Inhalt der Analyse sein wird. 3.2 Konsumgüter als glokale Markenartikel An Definitionen für Markenartikel mangelt es innerhalb der internationalen Forschungsliteratur nicht. Das Nationale Institut zur Verteidigung des Wettbewerbs und zum Schutz des geistigen Eigentums (INDECOPI)202 in Peru definierte eine Marke unlängst als „Zeichen der Vermarktung von Produkten oder Dienstleistungen zur Identifizierung, so dass sie von ihren Mitbewerbern zu differenzieren ist.“ (INDECOPI, 2016)203 .
Das INDECOPI wurde 1992 per Gesetz als Kompetenzzentrum gegründet, um die Registrierung von Marken in Peru zu professionalisieren und die damit verbundenen Rechte zu schützen (vgl. El Gobierno de Emergencia y Reconstrucción Nacional, Decreto Ley No 25868, Artículo 33o , 1992). Dabei handelt es sich um kein neues Phänomen in Peru, Konsumgüter als Markenartikel zu betrachten. Erste Versuche peruanische Markenartikel in den wirtschaftlichen Zentren des Landes zu etablieren, erfolgten zu der Zeit, als Konsum zum Ausdruck der Modernisierung im unabhängigen Südamerika wurde, sprich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Bauer, 2001: 129ff.). Zu nennen sind hier die Biermarke Pilsen Callao von 1863, die Keksmarke FIELD-Galletas von 1864, die Eismarke D‘Onofrio von 1897 oder auch die Schokoladenmarke La Ibérica von 1909 (vgl. o.A., El Comercio, 2015). Die ebenfalls landesweit bekannte Marke GLORIA geht auf die Gründung der Leche Gloria S.A. 1941, durch die USamerikanische Firma General Milk Company Inc. als Mehrheitseigner, zurück. Ein schnelles Firmenwachstum ermöglichte 1964 die Eröffnung der eigenen Produktionsstätte im Departamento Arequipa. Dort fanden neueste Lebensmitteltechnologien Anwendung, wodurch sich die Produktpalette, unter der Dachmarke GLORIA, erweitern konnte. 1985 wurde der Schweizer Nestlé-Konzern Mehrheitseigner und fokussierte fortan die Internationalisierung der Marke (vgl. Gloria S.A. Firmenhomepage).
202 Eigenname: Instituto Nacional de Defensa de la Competencia y de la Protección de la Propiedad Intelectual (INDECOPI). 203 Im Original: „Es todo signo que sirve para identificar en el mercado a los productos o servicios, diferenciándolos de sus competidores.“ (INDECOPI, 2016).
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Auch globale Konsumgütermarken erhielten, durch den expandierenden westlichen Industriekapitalismus und der zunehmenden Marktsättigung im Heimatland, Einzug in Peru. Zu nennen sind hier vor allem jene der Warengattungen Kondensmilch (Leche Ideal), Milchnahrung und Schokolade des Schweizer Lebensmittelkonzerns Nestlé. Seit 1919 wurden Nestlé-Produkte über eine Importagentur in Peru vermarktet (vgl. Firmenhomepage Nestlé Peru, Historia). Erwähnung muss ebenfalls die globale Brause Coca-Cola, die 1936 von der lokalen Abfüllfirma der Familie Barton in Peru eingeführt wurde (vgl. Rivera Chú, 2008: 441). Mit dem globalen Wachstum des Einzugsgebietes von Markenartikeln wuchs auch die Anzahl der Definitionen, die im weiteren Entwicklungsprozess zu einer Begriffs- und Verwendungsvielfalt von Markenbestimmungen führten (vgl. Avis, 2009). Einen Ausgangspunkt innerhalb der deutschsprachigen Fachliteratur stellte die Definition klassischer Markenartikel von Konrad Mellerowicz dar: „Markenartikel sind Waren, die unter einem besonderen, meist geschützten Namen in einheitlicher Aufmachung zu festen, vom Hersteller im voraus festgesetzten Preisen in den Handel kommen.“ (Mellerowicz, 1936: 110).
Mellerowicz konzentrierte sich auf den künstlichen Monopolcharakter eines Markenartikels, der dem Konsumgut (meist Massenartikel) nicht inhärent sei, sondern vom geschützten Namen ausgehe, wodurch Markenartikel eine Sonderstellung im Markt einnehmen (vgl. ebd.). Aus dem Blickwinkel der Prozesshaftigkeit bei der Markenbildung näherte sich Hans Domizlaff 1939 – in seinem „Lehrbuch der Markentechnik. Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens“ – intuitiv der Markendefinition. Am Fallbeispiel Schokolade formulierte er 22 Grundgesetze der natürlichen Markenbildung und verdeutlichte u.a. die emotionale Bindung der Konsumierenden an eine Marke. Konkret heißt es im 15. Gesetz: „Das Ziel der Markentechnik ist die Sicherung einer Monopolstellung in der Psyche der Verbraucher. Der Ausgangspunkt ist die markentechnische Erfindung, die auch, wie jede technische Erfindung, nur auf einer Besonderheit beruhen kann. Es handelt sich dabei – mehr oder weniger ergänzt durch materielle Vervollkommnungen – um eine erhöhte psychologische Zweckerfüllung.“ (Domizlaff, 1951: 67).
Domizlaff erweiterte die von Mellerowicz angesprochene Monopolstellung einer Marke um einen kognitiven Ansatzpunkt, der den Blickwinkel vom Produkt zur Wirkungsebene der Zielgruppe(n) verlagert. Dennoch konnten auch diese Grundgesetze letztlich nicht die suggerierte Garantie für den Markenerfolg liefern. Ungeachtet der fehlenden empirischen Belegbarkeit, ebneten die enthaltenen Argumente Jahrzehnte später den Weg zur Etablierung einer wissenschaftlichen Disziplin. Laut Markendefinition von Heribert Meffert:204
204 Deutschlands erster Marketing-Lehrstuhl-Inhaber im Jahr 1968 (vgl. o.A., absatzwirtschaft, 2015).
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„[...] kann die Marke als ein in der Psyche des Konsumenten und sonstiger Bezugsgruppen der Marke fest verankertes, unverwechselbares Vorstellungsbild von einem Produkt oder einer Dienstleistung definiert werden.“ (Meffert, 2000: 846).
Zum Begriffsverständnis ist die Einbeziehung des subjektiven Eindrucks eines Markenartikels innerhalb der Konsumgemeinschaft infolgedessen unabdingbar. Dazu beigetragen hat die globale Massenproduktion von Konsumgüterartikeln, wodurch es Konsumierenden immer schwerer möglich wurde, den tatsächlichen Qualitätswert einer Ware einschätzen zu können. Die Informationsvermittlung per Massenmedien rückte zunehmend in den Fokus und belegte die Markenartikeln mit einer spezifischen Identität205 , die zuvor vom Unternehmen festgelegt wurde. Hieraus wird innerhalb der Zielgruppe(n) das entsprechende Markenimage als Fremdbild geformt, das nicht zwangsläufig mit dem Selbstbild der Marke einhergehen muss (vgl. Burmann et al., 2012: 29). Bekmeier-Feuerhahn konstatierte in diesem Zusammenhang die Markenstärke als „Antriebskraft, die von der subjektiven Wertschätzung der Markierung ausgeht.“ (Bekmeier-Feuerhahn, 2005: 1332). Das Konstrukt der Markenstärke kann demnach als Assoziationssetting der Konsumgemeinschaft angesehen werden, wodurch der Markenartikel einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil genießt (vgl. Srivastava u. Shocker, 1991: 9). Die kognitive Vorstellungskraft kann demzufolge in ein konkretes Verhalten umgemünzt werden (vgl. Fischer et al., 2002: 9). Aus Sicht der Konsumierenden erfüllt der Kauf der Marke also verschiedene Funktionen, wie u.a. die „Prestige-“ „Qualitätssicherungs-,“ „Vertrauens-“ und „Identifikationsfunktion“ (Meffert et al., 2002: 10). Neben der vermeintlichen Risikominimierung durch den Kauf der Marke, steigt mit der medialen Bekanntheit auch das Vertrauen in das Produkt, an das letztlich Emotionen geknüpft werden (vgl. ebd. 9). Das Markenverständnis wandelte sich im 20. Jahrhundert von einer als Herkunftsnachweis und Eigentumskennung initiierte Markierung (vgl. Linxweiler, 2001: 49), über eine Angebotsorientierte Herangehensweise, hin zu Nachfrageorientierten Ansätzen (vgl. Ahlert u. Berentzen, 2010: 12ff.). Folglich erfordert die positive Beeinflussungen der Zielgruppe(n), die Verbindung des Markenprodukts mit einem „added value“ (Farquhar et al., 1990: 856), der sich von Konkurrenzprodukten abhebt und Emotionen auslöst. Der Distinktions- bzw. Identitätsfunktion einer spezifischen Marke bedient sich auch die Leitdefinition206 der American Marketing Association (AMA), aus dem Jahr 1960. Je nach Forschungsdisziplin findet sich eine weitere Vielzahl an Markendefinitionen. Um trotz der wissenschaftlichen Uneinigkeit ein zielführendes Markenverständnis von Konsumgütern für diese Arbeit ermitteln zu können, bedarf es dem Mitdenken der vorherrschenden heterogenen Konsumkultur in Peru. Der Ab-
205 Siehe ausführlich: Meffert et al., 2005. 206 Im Wortlaut: „Name, term, design, symbol, or any other feature that identifies one seller’s good or service as distinct from those of other sellers.“ (AMA, 1960).
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satzmarkt für Konsumgütermarken ließ die Mehrheit der peruanischen Bevölkerung außer Acht und konzertierte sich zunächst auf die (weiße) Oberschicht der urbanen Zentren, die sich das medial vermittelte Produktimage in Form des „amerikanischen Lebensgefühls“ mit dem Kauf verschaffen wollte (Priess, 1990: 3f. u. vgl. Sierck, 1996: 211). Hinsichtlich des Entindigenisierungsprozesses in Peru (vgl. Speiser 2004:173) erfolgte zunehmend die Zuschreibung zu einer urbane Mestizen-Kultur (vgl. Meentzen, 2007: 122). Mit dem entstandenen Zugang zum Konsum bildeten sich auch neue Gruppenidentitäten, durch die Verwendung spezifischer Konsumgütermarken. Die Konsumebene, bei der Marken verstanden werden als „[...] kollektive Deutungsmuster, die Menschen als Orientierungshilfen zur Bewältigung von Entscheidungskonflikten nutzen“ (Ahlert, 2004: 14), bedarf der Ergänzung um die Besitzebene von Markenartikeln, die soziale Beziehungen beeinflusst. „[...] goods [...] make and maintain social relationships“ (Douglas u. Isherwood, 1979: 60). In Anlehnung an die Konsumdarstellung von Néstor García Canclini – sowie die Markenforschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts – kann eine warenbezogene Marke nach einem Medialisierungsprozess (vgl. Gries 2006: 15f. u. García Canclini, 1990: 269) daher als Medium agieren (vgl. Hellmann, 1997: 48ff.). Durch die Verbindung der „Trägerfunktion, der Zeichenfunktion und der klassischen Kanalfunktion“ (Gries, 2003: 87), wird ein Produkt selbst zum Medium und steht im Zentrum der mehrdimensionalen Kommunikation zwischen Produzierenden, der Käuferschaft, Zuliefernden, Journalistinnen/Journalisten, oder anderen Kommunikationspartnerinnen und -partnern. Als Medium ermöglicht ein Markenartikel eine verbindliche Identifizierung mit dem Produkt und bietet den Konsumierenden darüber hinaus auch eine Identitätsfunktion, durch den Kauf, den Konsum und den Besitz der Marke. An Bedeutung gewann in diesem Zusammenhang die Analyse des Konsumverhaltens anhand des sogenannten Country-of-Origin-Effektes207 . Das jeweilige Image des Herkunftslandes einer Konsumgütermarke, das sich auf Basis von Klischees oder der ethnozentristischen Weltsicht gebildet haben kann, gilt demnach als Faktor zur Beeinflussung von Kaufentscheidungen (vgl. Klein u. Ettenson, 1999: 10). Sich ändernde Rahmenbedingungen, wie durch die Binnenmigration in Peru, die voranschreitende kulturelle Globalisierung, Versuche der kulturellen Homogenisierung, wirtschaftliche Krisen oder auch die zunehmende Medialisierung, können nach einer Überprüfung der nationalen Bewertung letztlich auch zu einer Neubewertung führen. Eine Studie mit 152 Studierenden der Marketing-Einführungsveranstaltung an der University of Wisconsin aus den 1960er Jahren ergab, dass das durch Werbung medial konstruierte, nationale (US-amerikanische) Image eines Softdrinks sogar entscheidender zur Kaufentscheidung beiträgt, als das tatsächliche Herkunftsland des Produktes (vgl. Schleifer u. Dunn, 1968: 297ff.). Folglich ist zwischen dem
207 Siehe ausführlich: Amine et al., 2005.
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tatsächlichen und dem medial inszenierten Country-of-Origin-Effekt208 zu unterscheiden. Übertragen auf Peru, lässt sich ein ähnliches Ergebnis in Bezug auf Inca Kola erwarten, da die britische Herkunft der Gründungsfamilie Lindley nicht thematisiert, oder gar hinterfragt wurde. Vielmehr inszenierten sich das Unternehmen sowie deren Mitglieder als Teil der peruanischen Gesellschaft und ihre goldgelbe Brause als nationale Ikone. In Anbetracht peruanischer Konsumgewohnheiten darf das Gefühl der finanziellen Abhängigkeit von den USA nicht vergessen werden (vgl. Frielingsdorf, 1962: 9ff.), das als negativer Country-of-Origin-Effekt zur Bevorzugung peruanischer Konsumgüterartikel führte. Gerade global agierende Unternehmen stehen vor der Herausforderung ihre Markenartikel entweder zu standardisieren, oder lokale Kundenbedürfnisse umzusetzen und die Produkte daher entsprechend anzupassen (vgl. Eidems, 2010: 17). Coca-Cola gilt als Marke mit nahezu 100-prozentiger Ubiquität weltweit, doch geschmacklich nimmt das multinationale Unternehmen lokale Geschmacksanpassung vor. Im Firmenmuseum The World of Coca-Cola in Atlanta können an sogenannten Coca-Cola Freestyle Maschinen über 100 verschiedene Sorten gemixt und probiert werden209 . In den 1980er Jahren wurde Coca-Cola an den peruanischen Geschmack angepasst und in einer wesentlich süßeren Form produziert, als im US-amerikanischen Mutterland (vgl. Alcalde, 2009: 38f.). Vermeintlich westlich geprägte Marken können demnach in ihrer lokalen Version zu einer ethnischen Integration und kulturellen Festigung beitragen (vgl. Arnould u. Wilk, 1984: 748ff. u. Bauer, 2001: 13). Flexibilität bei der Berücksichtigung kulturspezifischer Konsumbedürfnisse, in Bezug auf die Produktpalette, erhielt The Coca-Cola Company durch die Zusammenarbeit mit lokalen Abfüllfirmen. So konnte die Compañía Embotelladora CocaCola Lima S.A. Ltda. beispielsweise während der Zeit der importsubstituierenden Industrialisierung, zwischen 1968 und 1975 in Peru, die Marktpräsenz der globalen Brause sicherstellen (Castillo Maza, 1998: 70f.). In den 1980er Jahren gingen massive Absatzeinbußen mit der Hochphase des Terrors in den Anden einher. Zu dieser Zeit führte das peruanische Familienunternehmen Añaños die selbst gemachte Orangenlimonade Kola Real in Ayacucho ein. Der Verkauf erfolgte zunächst in alten Bierflaschen, mit handgemachten Labels und damit diametral zum vermeintlich markenspezifischen Prestigegedanken (vgl. ebd.). Der Schlüssel zum Erfolg war aus Firmensicht der anfängliche Verzicht auf Werbung sowie die Zielgruppenansprache der armen Bevölkerung, durch eine moderate Preispolitik (vgl. Vargas Llosa, 2003 u. Fajardo, 2015). Nicht außer Acht gelassen werden darf, dass das Getränk zunächst ohne Konkurrenz wachsen konnte, weil Ayacucho durch die Gewaltherrschaft von Sendero Luminoso von der Außenwelt abgeschnitten war. Ferner
208 Auch IKEA – als medial gelebter Inbegriff Schwedens – bedient sich diesem Prinzip, obwohl der Firmensitz in Luxemburg liegt und die Produktion überwiegend in China erfolgt (vgl. Gamillscheg, 2011). 209 Siehe ausführlich zur lokalen Anpassung von Coca-Cola-Produkten: Curtin, 1996: 187.
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verdeutlicht das Beispiel die Bannbreite erfolgreicher Markenartikel in Peru sowie die Aneignung globaler Konsumgewohnheiten im indigenen Kulturkreis. Die Bewahrung der kulturellen Identität gelingt demnach auch durch die interdependente Dimension globaler Strömungen und lokalen Zusammenhänge. Mit der Rezeption japanischer Wirtschaftswissenschaftler im Harvard Business Review, fand das Konzept der Glocalization durch Roland Robertson wissenschaftlich Gefallen. Darunter versteht Robertson die Gleichzeitigkeit, respektive Ko-Präsenz, der universalisierenden und der partikularisierenden Tendenzen (vgl. Robertson, 1997). Dabei bescheinigt er der Globalisierung eine homogenisierende Wirkung, die zugleich Dinge verändern kann (vgl. ebd.). Kulturspezifische Konsumgewohnheiten gingen demnach im Globalisierungsprozess Perus nicht gänzlich verloren, vielmehr kam es zu „gewissen territorialen Relokalisierungen von alten und neuen symbolischen Produktionen“210 (vgl. García Canclini, 1992: 288). 3.3 Peruanische Marketinggeschichte „Marketing is Everything“ (McKenna, 1991: 65) lautete der verheißungsvolle Aufsatztitel des US-amerikanischen Marketingfachmanns Regis Mc Kenna im Harvard Business Review 1991. Dort konstatiert er die Transformationsprozesse von Marketing seit den 1970er Jahren durch die aufkommenden Computertechnologien und immer schnellere technische Innovationen (vgl. ebd.: 66). Wie sich die Begriffsverwendungen211 sowie die Anforderungen an Marketing im 20. Jahrhundert wandelten, verdeutlichen die Definitionen des Komitees der American Marketing Association. 1937 wurde Marketing noch als „[...] business activities involved in the flow of goods and services from production to consumption“ verstanden (AMA, 1937, zitiert nach Lusch, 2007). Die Definition von 1985 spiegelt die zunehmende Komplexität wider und lautet hingegen: „[...] the process of planning and executing the conception, pricing, promotion, and distribution of ideas, goods, and services to create exchanges that satisfy individual and organizational objectives.“ (AMA, 1985, zitiert nach Lusch, 2007).
Im Zuge der Modernisierungsprozesse erlangten Marketingaktivitäten und -instrumente auch zunehmend Bedeutung in Peru, wobei das spezifische Entwicklungsniveau vom wirtschaftliche Eigenleben in Sierra, Selva und Costa bedingt wurde. Antonio und Álvaro Florez-Estrada gründeten 1943 die erste Werbeagentur Perus, namens Compañía Anunciadora Universal S.A., kurz CAUSA, in Lima (vgl. ebd.). Tabelle 16 zeigt die Entwicklung der Branche im 20. Jahrhundert (eigene Darstellung nach Castro Pérez, 2003: 153). Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten immer mehr US-amerikanische Unternehmen ihre Produkte auf den wachsen-
210 Im Original: „[...] ciertas relocalizaciones territoriales relativas, parciales, de las viejas y nuevas producciones simbólicas.“ (García Canclini, 1992: 288). 211 Siehe ausführlich zur Chronologie von Marketingdefinitionen: Brunswick, 2014: 105–113.
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den urbanen Märkten in Peru zu platzieren. Marketingmaßnahmen wurden vorwiegend den lokalen Tochtergesellschaften amerikanischer Werbeagenturen übertragen (vgl. ebd.: 39). Mit neuen Technologien stieg auch die Anforderungskomplexität der Zielgruppenansprache. Einfache Schwarz-Weißzeichnung mit Text, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Anfangsphase peruanischer Werbung prägten, wurden seit den 1940er Jahren zunehmend von Werbefotografien ersetz. Skizzierte Personenabbildungen oder -zeichnungen wurden durch Fotos von real lebenden Models ersetzt. Eine der ersten Kampagnen war eine Anzeigenserie der SeidenstrümpfeMarke Idol, die 1940 erstmals mit einem Model warb (vgl. ebd.: 49). Der Boom des Radios Anfang der 1950er Jahre führte auch zu einer intensiverten Zielgruppenansprache per Radiowerbung, in Form von Musik und Jingles (vgl. Castro Pérez, 2003: 45). Jahr 1943 1945 1948 1953 1957 1968 1973 1983 1954 1995 1996 1998 1999
Agentur CAUSA McCann Erickson Publicidad Lowder Publicitas IMAA J.W. Thompson Publicis Asociados Properú Lowe Pragma D’ Arcy Quórum/Nazca S&S Mayo FCB Ogilvy Perú Leo Burnett Young & Rubicam
Tabelle 16: Agenturentwicklung in Peru Neben technischen und kreativen Veränderungen, erfand sich die Branche 1954 ebenfalls neu und gründete zur Implementierung ethischer Werbestandards die Asociación Peruana de Agencias de Publicidad212 (vgl. APAP Homepage). Der brancheninterne Austausch sollte zudem der Professionalisierung dienen, die sich an der Universidad de San Marcos zunehmend als Wissenschaft verstand (vgl. ebd.). Mit dem Aufkommen des Privatfernsehens 1958, dessen Programm zu ca. 37% aus Werbung bestand (vgl. Priess, 1990: 6), veränderten sich die Anforderungen an Marketingaktivitäten. Unternehmen übergaben ihre Marketingstrategie verstärkt in professionelle Hände, woraufhin Agenturen enger mit Kreativprofis zusammenarbeiteten (vgl. Castro Pérez, 2003: 54). Der damalige Präsident der APAP Roberto Protzel von McCann Erickson trug dabei maßgeblich zum wirtschaftlichen Wachs-
212 Eigene Übersetzung: Peruanischer Verband der Werbeagenturen.
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tum der Branche bei, die ihren Umsatz von 550 Millionen Soles 1961 auf 600 Millionen Soles 1962 ausbauen konnte (vgl. Ayllon Vallejos, 1962: 18). Durch den schnell wachsenden Markt und die unterschiedlichen Anforderungen, bestand kein Konsens welche Elemente Marketing beinhalten sollte. Internationale Anwendung fanden erstmals die 1960 von Jerome McCarthy vorgeschlagene Aufteilung des in Abbildung 14 dargestellten Marketing-Mix (eigene Darstellung nach Borden u. Marshall, 1964 u. McCarthy, 1960: 45). McCarthy sah in der gleichzeitigen Anwendung der vier Marketinginstrumente (1) Produkt, (2) Preis, (3) Distribution und (4) Kommunikation die optimale Kombination, um formulierte Marketingziele auf Unternehmensebene erreichen zu können. Als klassische Definition der Produktpolitik (1) gelten Waren als materielle Objekte, in einer wiedererkennbaren Verpackung und unter dem gleichen (Marken)-Namen (vgl. Kotler u. Bliemel, 1999: 670). Da in Peru seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Schönheitsverbesserer und Zahnärzte ihre Dienste in Zeitungen bebildert feilboten, wären ferner auch Dienstleistungen unter der Produktpolitik zu subsumieren. Die Preispolitik (2), verstanden als Preisbildung im Zuge der Absatzstrategie (van Waterschoot u. van den Bulte, 1992: 89), gestaltete sich in Peru je nach Region sehr unterschiedlich. Je nach Erhältlichkeit eines Produktes variierten die Preise zwischen Sierra, Selva und Costa stark, wodurch die Preispolitik damit unmittelbar an die Distributionspolitik (3) anschließt. Hierunter werden alle Entscheidungen der Logistik und der Absatzwege verstanden (vgl. Weis, 1999: 84). Wie das Beispiel des Biermarktes in Kapitel 2.3 verdeutlicht, war dieser Absatzmarkt bis in die 1980er Jahre überwiegend regional geprägt und konzertierte sich zudem auf urbane Zentren. Nationale Ubiquität für ein Produkt zu erreichen, stellte nationale wie lokale Unternehmen vor infrastrukturelle und logistische Herausforderungen, die zum Teil durch regionale Franchise-Partnerinnen und -Partner abgemildert wurden. Alle For-
Abbildung 14: Klassische Aufteilung des Marketing-Mix
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men der Werbung über und durch das Produkt gelten als Kommunikationspolitik (4) (van Waterschoot u. van den Bulte, 1992: 89). Da die Werbekundschaft des Radios zunehmend ans Fernsehen abwanderte, konnten die TV-Anstalten in Lima 55% der Werbeeinnahmen in 1968 generieren (vgl. Fox, 1995: 539). Mit den gestiegenen Anforderungen an Werbefilme entwickelte sich das Marketing, und damit auch zunehmend die entsprechenden Definitionen, stetig weiter. Der Marketing-Mix darf also nicht als statisches Konstrukt ansehen werden. Neue Herausforderungen für die Marketingagierenden stellte die Politik der Importsubstitution, während der Phase der Militärregierungen, dar. Durch die eingeschränkte Kapazitätsauslastung wurden weniger Waren produziert. Die Regierung von General Juan Velasco Alvarado nahm Enteignungen und eine massive Medienzensur vor, die auch das Verbot für Werbung ausländischer Produkte festlegte. Technische Neuerungen im audiovisuellen Bereich konnten nicht importiert werden, wodurch das Farbfernsehen erst 1983 Einzug in Peru hielt (vgl. Gargurevich Regal, 2012: 15 u. Universidad de San Martín de Porres, 2005: 194). Die Verwissenschaftlichung des Marketings wurde in den 1970er Jahren mit den Gründung von Marktforschungseinrichtungen, wie der Compañia peruana de estudios de mercado y opinión pública s.a.c (CPI) 1973 und der Asociación Peruana de Empresas de Investigación de Mercados (Apeim) 1978 vorangetrieben (vgl. CPI-Homepage u. Apeim-Homepage). Ziele waren die Förderung, die Entwicklung und der Schutz von Martforschungstätigkeiten in Peru sowie die Professionalisierung der beruflichen Interessen (vgl. ebd.). Mit der Rückkehr zur Demokratie in den 1980er Jahren erhielten die Massenmedien ihre Pressefreiheit zurück und wurden an die rechtmäßige Eigentümerschaft zurückgegeben (vgl. Belaúnde Terry u. Asamblea Constituyente, 1979: Artikel 2, Absatz 4). Doch mit den aufkommenden subversiven Aktionen der Terrorgruppierungen Sendero Luminoso und Movimiento Revolucionario de Túpac Amaru, sank die Konsumbereitschaft der peruanischen Bevölkerung. Neue Marketingkampagnen griffen die unsichere Lage auf und bewarben eine medial konstruierte heile Welt. Dabei erhöhte die Verwendung von Computern das Produktionsniveau und ferner die Werbequalität (vgl. Castro Pérez, 2003: 156). Die divergierende Entwicklung des Marketings in Peru unterstützt die Aussage von McKenna über die 1990er Jahre „Marketing is Everything and Everything is Marketing“ (McKenna, 1991: 79). Den Funktionen von Marketing schienen innerhalb der Unternehmensstrategie keine Grenzen gesetzt, wie Sponsoringbeispiele verdeutlichen. Mit dem Ziel des Imagetransfers investierten meist multinationale Unternehmen in soziale Projekte in Entwicklungsländern und nutzten Sponsoring als wichtiges Marketinginstrument zur direkten Zielgruppenansprache. Abbildung 15 zeigt ein Beispiel aus der Andenstadt Cusco, bei dem Coca-Cola ein Bauprojekt finanziell unterstützte (Fotonutzung mit freundlicher Genehmigung von Rose Haferkamp und Annette Holzapfel, Haferkamp et al., 1995: 9). Durch diese Sponsoringmaßnahme wollte das Unternehmen sein Image innerhalb der lokalen Bevölkerung verbessern und dadurch die Konsumgemeinschaft erweitern. Die ständige Erweiterung der Marketingaktivitäten in Peru darf nicht darüber hinwegtäuschen,
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Abbildung 15: Mitfinanzierung des Siedlungsausbaus in Santa Monica (Cusco) durch Coca-Cola 1990
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dass 1994 insgesamt 22,7% der Bevölkerung als extrem arm galten und 25,9% als mindestens arm; darunter über 2,3 Millionen Menschen in Lima (vgl. INEI, 2001b: 32). Diese Personengruppe wurde mit Marketingsmaßnahmen penetriert, obwohl sie sich den Großteil der beworbenen Artikel – Fernsehgeräte, Videorecorder oder Kreditkarten – nicht leisten konnten (vgl. Sierck, 1996: 211). In diesem Kontext erscheint die Marketingdefinition nach Philip Kotler in einem ganz anderen Licht. Marketing ist für ihn ein sozialer und betriebswirtschaftlicher Prozess, bei dem Einzelpersonen und Gruppen das erhalten, was sie wollen und brauchen, indem sie Produkte/Wertgegenstände mit anderen erschaffen, anbieten und austauschen213 (Kotler et al., 2008: 7). Einen Entwicklungsschub erfuhr die Marketingbranche – in Person der Asociación Nacional de Anunciantes (ANDA), der Asociación Peruana de Agencias de Publicidad (APAP), der International Advertising Association (IAA-Perú) und der Apeim – als sie 1995 den 1968 durch die AMA initiierten Kreativpreis Effie in Peru einführte. Fortan wurden kreative Kampagnen, mit einer nachgewiesenen Werbewirksamkeit und aufgrund erfolgreicher Absatzzahlen, in unterschiedlichen Kategorien prämiert (vgl. o.A., Effie Peru-Homepage). Zur Professionalisierung der Marktforschung trug die 1992 eingeführte elektronische Messung der TV-Quoten bei. Peru war nach Brasilien das zweite lateinamerikanische Land, das dieses wichtige Kommunikationsmittel zur Modernisierung der Einschaltquoten einführte und unterstützte beratungstechnisch die Einführung in Mexiko, Chile und Venezuela (vgl. CPI-Homepage). Die wertschätzende Darstellung der eigenen Marketingarbeit kann mit der Entwicklung einer nationalen, respektive Lateinamerika orientierten, Wissenschaft und Forschung in Zusammenhang gebracht werden. Während zu Beginn der Verwissenschaftlichung von Marketing meist US-amerikanische Koryphäen rezipiert wurden, kehrten die im Ausland ausgebildeten nationalen Fachkräfte in den 1990er Jahren zurück nach Peru und etablierten sich an den Universitäten Limas. Zu nennen sind hier Prof. David Mayorga, der an der University of Pittsburgh Business Administration studierte und nun an der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre der Universidad del Pacífico lehrt. Sein Buch Marketing estratégico en la empresa peruana, das er 2002 zusammen mit seiner Kollegin Patricia Araujo veröffentlichte, zählt inzwischen zu den Marketing-Klassikern des Landes (vgl. Mercado Negro, 2015). Auch Dr. Rolando Arellano Cueva promovierte zunächst im Ausland, an der Universidad de Grenoble, in Marketing und arbeitete als Lehrstuhlinhaber für Marketing an der Université Laval in Quebec. 1996 gründete er Arellano Marketing eine Fullservice-Agentur mit Marktforschungsschwerpunkt. Arellano Cueva veröffentlichte zahlreiche Marketingbücher sowie über 400 Artikel, die maßgeblich zum peruanisches Selbstverständnis von Marketing beigetragen haben (vgl. Arellano Marketing-Homepage).
213 Im Original: „Marketing is social and managerial process by which individuals and groups obtain what they want and need through creating, offering, and exchanging products of value with others.“ (Kotler et al., 2008: 7).
Zwischenfazit
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3.4 ZWISCHENFAZIT Zusammenfassend lässt sich, anhand der skizzierten Entwicklung der Massenmedien in Peru, ein immenser Eingriff des Staates in die Pressefreiheit sowie ein Missbrauch der Medien als politische Werbeträger festhalten. Die Glaubwürdigkeit der vorhanden Medien fiel innerhalb der Gesellschaft entsprechend gering aus. Dies änderte sich erst mit der neuen Verfassung 1979, in der auch neue Mediengesetze enthalten waren (vgl. Belaúnde Terry u. Asamblea Constituyente, 1979: Artikel 2, Absatz 4 u. Gargurevich Regal, 2012: 15). Der internationale Austausch von Journalistinnen/Journalisten und Medienagierenden trug zur Professionalisierung der Branche bei. Eine Machtposition bei der gesellschaftlichen Meinungsbildung nahm das Radio ein. Der Presse hingegen war dies, durch eine Analphabetisierungsrate von 59,7% in 1940 und 39% in 1961 (vgl. INEI, 1940 u. 1961), in dem Maße nicht möglich. Selbst mit der Einführung des Fernsehens Ende der 1950er Jahre als Bildungsmedium und politischer Werbeträger, stieg der landesweite Absatz von Radioendgeräten weiter an (vgl. UNESCO, 1975). Doch mit dem Start des Privatfernsehens 1958 entwickelte sich die Anzahl rasant auf 75.600 TV-Geräte Ende 1961, also 0,7 Geräte auf 100 Personen (vgl. UNESCO, 1964). Dieser Fortgang spiegelte sich auch in der Mediaplanung der Unternehmen wider, denn die Werbekundschaft des Radios wanderte zunehmend ans Fernsehen ab. Zwischen 1976 und 1992 stiegen der Anteil der Werbeeinnahmen des Fernsehens von 59% auf 86% (vgl. Otter, 1996: 179). Die fünf damaligen Privatsender in Peru finanzierten sich etwa zu 37% des Programms durch Werbung (vgl. Priess, 1990: 6). Zudem stieg der Anteil an importierten US-amerikanischen Billigproduktionen. Durch die soziale Medialisierung begegnete die urbane Bevölkerung kommerzieller Werbung und politischen Slogans auf der Straße und gleichzeitig repräsentierten Massenmedien in einer Kreisförmigkeit das Urbane (vgl. García Canclini 1990: 269f.). Die Liberalisierung der Märkte zu Beginn des 20. Jahrhunderts begünstigte den Markteintritt internationaler Markenartikel im Konsumgüterbereich, die zunächst der (weißen) Oberschicht Perus vorbehalten waren. Gleichzeitig entwickelten sich auch peruanische Marken im Genussmittelsektor, die zunächst in den wirtschaftlichen Zentren Perus erhältlich waren und erst im Laufe der 1970er und 1980er Jahre nationale Ubiquität erreichten. Während der Kauf, der Konsum und der Besitz von Markenartikeln zunächst als soziale Differenzierungsmarkierung diente, entwickelten sich Marken im Kontext der Glocalization (Robertson, 1997) als einheitliches Produkt mit lokaler Anpassung (vgl. Curtin, 1996: 187). Festzuhalten ist desgleichen, dass die globale Verbreitung von Markenartikeln, die vermeintlich einen hohen Standardisierungsgrad aufweisen, nicht automatisch eine kulturelle Homogenisierung hervorruft. Zum Erfolg eines Markenartikel trug auch das Image des Herkunftslandes innerhalb der Konsumgemeinschaft bei. Der Country-of-Origin-Effekt gilt demnach als Faktor der Beeinflussung von Kaufentscheidungen (vgl. Klein u. Ettenson, 1999: 10), wobei der medial inszenierte Herkunftslandeffekt entscheidender sein kann, als der tatsächliche (vgl. Schleifer u. Dunn, 1968: 297ff.). Der ökonomische und kulturelle Globalisierungsprozess wirkte ethnospezifischen Konsumgewohnheiten nicht
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Massenmedien, Markenartikel & Marketinggeschichte
entgegen, vielmehr kam es zu „gewissen territorialen Relokalisierungen von alten und neuen symbolischen Produktionen“214 (vgl. García Canclini, 1992: 288). Das spezifische Entwicklungsniveau von Marketingaktivitäten und -instrumenten wurde anhand des wirtschaftlichen Eigenlebens in Sierra, Selva und Costa bedingt. Durch den internationalen Austausch, einhergehend mit technischen Innovationen, professionalisierte sich die Marketingbranche seit den 1940er Jahren. Wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die zu Absatzeinbußen führten, wurde Marketingtechnisch ein heile Welt Image entgegengesetzt. Zum Erfolg der Branche trug obendrein die Binnenwanderung der Bevölkerung aus ruralen Gebieten in urbane Zentren bei. Neue Konsumkulturen entstanden und die Kreativagenturen umwarben neue Zielgruppen, womit die Branche auf ein Umsatzvolumen von 600 Millionen Soles im Jahr 1962 wachsen konnte (vgl. Ayllon Vallejos, 1962: 18). Kapazitätsbegrenzungen der Importsubstitution sowie die massive Medienzensur erschwerten den Alltag der Marketingbranche Ende der 1960er Jahre. Neue Werbetechnik durfte nicht importiert werden und die Militärregierung hatte Werbemaßnahmen für ausländische Produkte untersagt (vgl. Gargurevich Regal, 2012: 15). Mit der Rückkehr zur Demokratie in den 1980er Jahren begann die Verwendung von Computern, wodurch sich das Produktionsniveau sowie die Werbequalität stark verbesserten (vgl. Castro Pérez, 2003: 156). Als neues Marketinginstrument sollte Sponsoring in sozialen Bereichen das Image multinationaler Unternehmen verbessern und dadurch die Konsumgemeinschaft vergrößern (siehe Abbildung 15). Zudem verdeutlicht das Beispiel von Kola Real, wie unter den spezifischen Rahmenbedingungen die Einführung eines Softdrinks auch für die arme Gesellschaftsschicht glückte. Perus Bevölkerung galt im Untersuchungszeitraum zu fast 50% als arm (vgl. INEI, 2001b: 32), wodurch in Werbemaßnahmen Sehnsüchte generierten, die für die Hälfte der Peruanerinnen und Peruaner unerreichbar waren. Die Einführung von Marktforschungsinstituten seit den 1970er Jahren, der elektronischen Messung von TV-Quoten 1992 sowie des Kreativpreises Effie trugen zum neuen Selbstverständnis der Branche bei. Zu Beginn der Verwissenschaftlichung von Marketing wurden meist US-amerikanische Koryphäen rezipiert, bevor die im Ausland ausgebildeten nationalen Fachkräfte in den 1990er Jahren zurück nach Peru kehrte und sich an den Universitäten Limas etablierten.
214 Im Original: „[...] ciertas relocalizaciones territoriales relativas, parciales, de las viejas y nuevas producciones simbólicas.“ (García Canclini, 1992: 288).
4. UNTERNEHMENS- & FAMILIENGESCHICHTE DER LINDLEYS BIS 1999 Vor mehr als nunmehr 100 Jahren wurde das Familienunternehmen Fábrica de Aguas Gaseosas La Santa Rosa in Lima gegründet und produziert seit 1910 verschiedene alkoholfreie Getränke. Um auch Absatzmärkte außerhalb Limas zu bedienen, wurde 1918 in eine halbautomatische Abfüllanlage investiert, die die Produktivität erheblich steigerte. Nach dem Tod des Firmengründers führte die neu firmierte José R. Lindley e Hijos S.A. 1935 ihre Limonade namens Inca Kola – zum 400. Geburtstag der Stadt Lima – ein. Auszügen des Andenkrauts Hierba Luisa sind charakteristisch für das koffeinhaltige Getränk (vgl. Malpica Silva Santisteban, 1989: 442). Im weiteren Unternehmensprozess gingen Wachstum und Modernisierung einher. Zur schnelleren Auslieferung ersetzten Lastwagen die von Maultieren gezogenen Transportkarren (siehe Abbildung 16, eigene Aufnahme). Durch verstärkte (massenmediale) Marketingaktivitäten und ein Franchise-System, wurde 1972 die urbane Ubiquität der Produkte erreichte. 1983 folgte die Einführung von Kunststoffflaschen und 1996 der Wechsel zu vollautomatischen Abfüllanlagen.
Abbildung 16: Transportkarre, die von Maultieren gezogen wurde
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Unternehmens- & Familiengeschichte bis 1999
Trotz wirtschaftlicher und politischer Krisenzeiten behauptete sich das Familienunternehmen lange Zeit, gegenüber lokaler Konkurrenz und globaler Marken. 1999 verkaufte die Firma Lindley die Markenrechte von Inca Kola außerhalb Perus, an The Coca-Cola Company und wurde fünf Jahre später zum lizenzierten Abfüllunternehmen aller Coca-Cola-Produkte in Peru. Mit Johnny Robinson Lindley Suárez, Präsident des Verwaltungsrates der Firma Lindley, wird das Familienunternehmen seit 2013 in vierter Generation geleitet (siehe Abbildung 17, eigene Darstellung). Nachfolgend werden die einzelnen Etappen des Familienunternehmens nachgezeichnet, um auch die gesellschaftliche Bedeutung der Familien außerhalb des Unternehmens und sich daraus ergebende Synergieeffekte zu verdeutlichen, die auf den nationalen Ikonisierungsprozess von Inca Kola einwirkten. 4.1 José R. Lindley – Vom Auswanderer zum Firmengründer Mit dem Wunsch der Familie eine bessere Zukunft bieten zu können, wanderten José Robinson-Lindley, seine Ehefrau Martha Stoppanie-Lindley und ihre fünf Kinder Anfang der 1880er Jahre von England nach Chile aus215 . Infolge der globalem Wirtschaftskrise von 1857, verließen britische Bürgerinnen und Bürger Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt ihre Heimat, um sich, u.a. in lateinamerikanischen Ländern wie Chile, Argentinien und Peru, eine neue Existenz aufzubauen216 . José Robinson-Lindley erhielt zunächst eine Anstellung bei der britischen Rederei217 Pacific Steam Navigation Company, doch in Folge eines schweren Erdbebens in Chile entschied sich das Ehepaar Lindley 1886 ins peruanische Lima zu ziehen. Dort konkretisierte José Lindley seine Absichten im Getränkesektor Fuß zu fassen und eröffneten 1889 einen – für Lateinamerika typischen – Bierkiosk (Depósito de Cerveza) in Limas Zentrum. Das Familienunternehmen verkaufte jegliche Produkte der im nahegelegenen Stadtteil Rímac ansässigen Brauerei Backus y Johnston. Nach mehreren Jahrzehnten Erfahrung in der Branche entschied der nunmehr 50-jährige Patriarch, seinen beruflichen Wechsel in den alkoholfreien Getränkesektor. Auf einem lediglich 200m2 großen Fabrikgelände, mit Zugang zum Fluss Rímac, gründete er 1910 die Getränkefabrik Fábrica de Aguas Gaseosas La Santa Rosa. In den nächsten Jahren produzierte und vertrieb José Lindley, zusammen mit seiner Familie, u.a. die Softdrink-Marken Santa Rosa Soda, Champagne
215 Chile hatte den Pazifischen Krieg (Guerra del Pacífico) gegen Peru und Bolivien gewonnen und galt durch die reichen Salpetervorkommen als zukunftsträchtiges Land (siehe ausführlich: Barros Arana, 1979). 216 Schätzungen zufolge kamen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr als 8000 britische Einwandernde nach Peru (vgl. Harriman, 1984). Laut Censo Nacional von 1876 waren es offiziell 3379 britische Einwandernde (vgl. INEI, 1876, Poblacion y Demografia). 217 Der Kapitalexport, in Form britischer Direktinvestition (DI) in Lateinamerika, belief sich 1830 auf 23% und zu Beginn des Ersten Weltkrieges auf 18% (vgl. Kenwood u. Lougheed, 1999: 30, Table 5), womit Großbritannien, neben den USA , zu einem der wichtigsten Auslandsinvestoren zählte.
José R. Lindley – Vom Auswanderer zum Firmengründer
Abbildung 17: Stammbaum der Familie Lindley
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Unternehmens- & Familiengeschichte bis 1999
Cola, Kola Rosada und Orange Squash Naranjada Santa Rosa. Mit der manuellen Abfüllung konnte pro Minute eine Getränkeflasche produziert werden, was gerade ausreichte um den lokalen Markt in Lima abzudecken. Die Firma Lindley kooperierte als Verkaufspartnerin mit in Peru typischen kleinen Warenkiosken, Bodegas genannt, die vorzugsweise im historischen Zentrum der Stadt ansässig waren. 1918 konnte, mit der Unterstützung der Britischen Botschaft in Lima, der Kauf einer semiautomatischen Abfüllanlage realisiert werden, die 15 Einheiten pro Minute produzieren konnte. Diese Produktivitätssteigung ermöglichte die Ausweitung der Produktpalette. Zur Ergänzung der eigenen Marken erwarb die Firma Lindley die Getränkekonzession des amerikanischen Softdrinks Delaware Punch218 . Die Unternehmensbelange wurden zunehmend gemeinsam vom Firmengründer und seinem ältesten Sohn José entschieden, bevor dieser 1928 vollständig die Geschäftsführung übernahm. Mit dem Generationswechsel erfolgte auch die Firmenumstellung auf eine Aktiengesellschaft, in der die Firmenanteile auf die verbliebenen Familienmitglieder aufgeteilt wurden. Seit dem 3. November 1928 ist die José R. Lindley e Hijos Sociedad Anónima219 an der Börse220 notiert (vgl. Bolsa de Valores de Lima). Unter der neuen Führung versuchte das Unternehmen, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise 1929 durch Produktinnovationen und -diversifikation zu kompensieren. Neben der aufgestockten Produktion von Soda-Wasser stellte die Firma Lindley fortan auch die Ginger-Ale-Marke HOPALE sowie die britische Beerenlimonade Vimto221 her. Als längerfristiges Unternehmensziel wollte José Lindley senior ein neues kohlensäurehaltiges Getränk aus heimischen Früchten entwickeln. Um einen unverwechselbaren Geschmack zu kreieren, arbeitete die Firma Lindley eng mit Lebensmittellaboren in Lima zusammen. Der alkoholfreie Getränkemarkt Perus befand sich während dieser Zeit noch im Aufbau. Die globale Marktausdehnung der großen amerikanischen Limonaden Coca-Cola und PEPSI hatte Südamerika noch nicht erreicht. Folglich beabsichtigte José Lindley senior seinen innovativen Softdrink zeitnah, und primär vor der internationalen Konkurrenz, auf dem peruanischen Markt zu platzieren. Doch dem Firmengründer war es gesundheitlich nicht mehr möglich, sich abschließend in den Produktentwicklungsprozess einzubringen. Er starb 1932 im Alter von 72 Jahren und hinterließ seine Ehefrau und die gemeinsamen acht Kinder, José, Nicolás, Martha, Victoria, Alfredo, Isaac, Antonio und Ana (siehe Abbildung 18222 , eigene Aufnahme). Nach dem Tod des Patriarchen kam es zu einer Neuausrichtung des Unternehmens, einhergehend mit der
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Ein lilafarbenes Fruchtgetränk ohne Kohlensäure, auf Basis dunkler Weintrauben. Eigene Übersetzung: José R. Lindley und Söhne Aktiengesellschaft. Eigenname: Bolsa de Valores de Lima (BVL). Siehe ausführlich: Nichols plc. Mutter Martha: obere Reihe, Dritte von links. Vater José: Fünfter v. links. Eigene Aufnahme des Wandbildes im Büro von Johnny Lindley Taboada. Sein Foto wurde nachträglich unten links in den Bilderrahmen geklemmt.
José R. Lindley – Vom Auswanderer zum Firmengründer
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Abbildung 18: Familienbild aus den 1920er Jahren
Implementierung von Modernisierungselementen. Um die produzierte Ware schneller ausliefern zu können, stellte der junge Firmenchef das Distributionssystem von Maultieren (siehe Abbildung 16, eigene Aufnahme) auf Lastkraftwagen um. Außerdem ersetze José Lindley junior das Verschlusssystem der Getränkeflaschen. Durch die Verwendung hygienischer Kronkorkenverschlüsse, anstelle der gängigen Naturkorken, konnten die Produktionsprozesse beschleunigt und die Kosten gesenkt werden. Das operative Geschäft wurde maßgeblich von José Lindley junior bestimmt, doch die übrigen Familienmitglieder arbeiteten in sämtlichen Bereichen des Unternehmens mit. Nicolás Lindley betreute beispielsweise hauptverantwortlich das in Hafennähe gelegene Warenlager, während Alfredo und Antonio in der Flaschenaufbereitung tätig waren. Um sich täglich im Kreise der Familie auszutauschen, bestand Martha Stoppanie Lindley auf ein gemeinsames Mittagessen, das in einem Aufenthaltsraum neben der Produktion, also auf dem Firmengelände stattfand. 1934 wurde die langjährige Suche nach einem neuartigen Getränk erfolgreich beendet. Die Firma Lindley hatte sich entschieden, ein goldgelbes, kohlensäurehaltiges Getränk, mit süß-fruchtigem Geschmack und auf Basis des Andenkrautes Hierba Luisa auf den Markt zu bringen. Um sich auch langfristig einen festen Platz im wachsenden Softdrink-Markt zu sichern, wollte José Lindley das neue Getränk als traditionelle Marke, mit dem Namen Inca Kola etablieren. In den folgenden Monaten wurde die Markteinführung strategisch organisiert. Der erste Claim bestand lediglich aus der zustimmenden Aufforderung OK (Castro Péreza, 2003: 112). Mit den Feierlichkeiten zum 400. Geburtstag der Stadt Lima erfolgte die Produktvorstellung von Inca Kola, die im lokalen Radio und per Straßenwerbung beworben
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wurde. Für den Ausschank kooperierte die Firma Lindley mit Restaurants in Limas Zentrum. Die farblich an flüssiges Inkagold erinnernde Brause traf den Geschmack der Limeños. Jedoch erlebte José Lindley junior die Resultate seiner Produktlancierung nicht mehr, denn er starb 1936 an einem Herzleiden. Die Geschäftsleitung übernahm Nicolás Lindley, der zweitälteste Sohn des Firmengründers und seiner Ehefrau. Als erstes Land Südamerikas führte Peru an Silvester 1936 Coca-Cola ein. Die Abfüll- und Distributionsrechte lagen beim britischstämmigen Familienunternehmen Barton (vgl. Rivera Chú, 2008: 441). Mit PEPSI expandierte 1937 ein weiteres amerikanisches Brauseunternehmen auf dem peruanischen Markt und stellte die Firma Lindley vor strategische Herausforderungen. Zudem sah sich der neue Firmenchef Nicolás Lindley auch mit privaten Verlusten konfrontiert, als seine Brüder Antonio und Alfredo 1937 und 1939 starben. Um die eigenen Marken als heimische Produkte zu positionieren und sich vom Prestigeprodukt aus den USA abzusetzen, druckte die Firma Lindley fortan den Zusatz industria peruana auf ihre Getränkeflaschen. Zudem trieb Nicolás Lindley in den folgenden Jahren die nationale Expansion der Produkte, vor allem von Inca Kola, voran. Mittels eines Franchise-Systems wollte die Firma Lindley ihren Absatzmarkt um die Provinzen des Land erweitern. Die Suche nach geeigneten Kooperationsunternehmen, in strategischen Städten Perus, begann 1941. Zeitgleich investierte das Unternehmen in eine vollständig automatisierte Produktion. Die neue Anlage schaffte mit 36 Einheiten pro Minuten mehr als doppelt so viel, wie die semiautomatische Anlage aus dem Jahr 1928. Neben verkaufsfertigen Flaschen produzierte das Unternehmen auch Sirup-Konzentrat. Durch den Tod von Nicolás Lindley 1945 ging mit dem 35-jährigen Firmenjubiläum auch ein erneuter Wechsel an der Firmenspitze einher. Isaac, der jüngste Sohn von José Robinson-Lindley und Martha Stoppanie-Lindley, übernahm daraufhin die Firmenleitung. 4.2 Die Genese von Peruanidad223 seit 1945 Bei der Übernahme der Geschäftsführung konnte der 41-jährige Isaac Lindley, im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern José und Nicolás zuvor, auf über 20 Jahre Berufserfahrung im Familienunternehmen vertrauen. Er kannte vorhandene Defizite des Unternehmens und konnte so zeitnah Optimierungsmaßnahmen einleiten. Um die Getränkefabrik in Rímac zu vergrößern, erhielt Isaac Lindley eine finanzielle Entrepreneur-Hilfe der Stadt Lima. Auf den geplanten 1400 m2 sollte nicht nur die Produktion professionalisiert werden, sondern auch die Produktvermarktung. Für
223 Siehe zum späteren Begriffsdiskurs: Belaúnde, 1957 (5. Auflage, 1987).
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die Marke Inca Kola kreierte das Marketingteam um Isaac Lindley den neuen Produktclaim: Inca Kola, es gibt nur eine und sie ist anders als alle224 . Angesichts der sozialen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung stellten industriell produzierte Erfrischungsgetränke in dieser Zeit, für die Mehrheit der Bevölkerung Limas, ein Luxusgut dar. Dementsprechend entschied sich Isaac Lindley zu einer ökonomischen Prüfung der im eigenen Portfolio enthaltenen Getränkenmarken und legte die Priorität abschließend auf die nationale Markterweiterung von Inca Kola. Aus Zeit- und Kostengründen konnten Neubauten eigener Getränkefirmen nicht in Betracht gezogen werden, wodurch Isaac Lindley strategische Kooperationsfabriken suchte, die die gelbe Brause auf Basis von Getränkekonzentrat vor Ort produzieren konnten. Durch langjährige Kontakte innerhalb der Branche kam es zeitnah zu einem Franchise-Verhältnis mit der Familie Cassinelli, die Inca Kola in den nördlichen Küstenregionen, um die Städte Trujillo und Piura abfüllen sollte. Es folgten Kooperationen mit der Firma Panizo für die Region bei Ica sowie mit dem Getränkebetrieb Siu für Cusco und Arequipa. In den südlichen Küstenregionen Tacna und Moquegua sollte die Firma Martorell Inca Kola abfüllen und in der zentralen Regenwaldregion übernahm es der Abfüllbetrieb Higuchi. Abbildung 19 zeigt die landesweite Darstellung der Franchise-Partnerschaften (eigene Darstellung nach Fernández Arribasplata, 2014). Im Zuge dieser nationalen Expansion wurden die vorhandenen grünen und weißen Glasflaschen durch Reliefflaschen, wie sie auch bei The Coca-Cola-Company verwendet wurde, ersetzt. Isaac Lindley soll es sehr wichtig gewesen sein, die Begeisterung für den Familienbetrieb auch frühzeitig an seinen einzigen Sohn Johnny weiterzugeben. Bereits mit acht Jahren half dieser regelmäßig, nach der Schule und an Samstagen, beim manuellen Etiketten aufkleben. Vom Führungsstil her galt Isaac Lindley als Teamplayer, der keinen großen Wert auf Hierarchien legte. Diese soziale Eigenschaft brachte ihm auch den Spitznamen El Míster, der Trainer, ein. Während seiner Zeit als Firmenchef hing ein Schild an seiner Bürotür, auf dem stand „Ohne Anklopfen eintreten“225 . In einem Artikel der Tageszeitung El Comercio wurde Isaac Lindley als fürsorglicher Chef beschrieben. Dort heißt es, er besuche seine Mitarbeiterschaft im Krankenhaus und erkundige sich, ob in der Familie der zu behandelnden Person etwas benötigt würde (vgl. Fernández Arribasplata, 2014.). Neben einer kostenlosen Gesundheitsversorgung, einer Kantine (die heute noch in renovierter Version existiert) und einem Zentrum für Ehefrauen, Mütter und Schwestern der Arbeiter, in dem kostenlose Weiterbildungskurse angeboten wurden, etablierte Isaac Lindley auch einen hauseigenen Friseursalon (Turista en el Perú y el mundo, 1998: 19). Als Martha Stoppanie-Lindley 1948 starb, verstärkte Isaacs 18-jähriger Sohn Johnny die Geschäftsdirektion. Gemeinsam mit Werbefachleuten entwickelten Va-
224 Im Original: Inca Kola sólo hay una y no se parece a ninguna. 225 Im Original: Pase sin tocar.
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Abbildung 19: Darstellung der landesweiten Franchise-Partnerschaften
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ter und Sohn eine neue Marketingstrategie für ihr Flaggschiffprodukt. Ausgehend von Johnny Lindleys Idee der Peruanisierung von Inca Kola, initiierte das Unternehmen eine Synergie zwischen peruanischen Nationalgerichten und ihrer gelben Brause. In kooperierenden Restaurants in Limas Zentrum wurde Inca Kola als Getränk zum traditionellen Mittagsmenü gereicht. Um den Bedarf und damit die Nachfrage weiter zu steigern, entwickelte Johnny Lindley 1960 – unter dem Image Peruanidad – den Claim: „La bebida del sabor nacional“226 (vgl. o.A., El Comercio, 2014a). Der kulturelle Bezug stärkte zunächst die Identitätswirkung der weißen Oberschicht und markierte einen Meilenstein für die Verkaufszahlen von Inca Kola. In Limas damaligem vorzeige 4-Sterne Hotel Crillón stand 1962 erstmals Inca Kola als Getränk zu Menüs auf der Mittagskarte. Zudem wurde die gelbe Brause im Hotel verkauft (vgl. Salazar Corvetto, 2006: 101). Die Auswahl dieses Kooperationspartners verdeutlicht den Wunsch des Unternehmens nach einer kaufkräftigen Zielgruppe, die sich einen Aufenthalt, oder ein Mittagessen, in der hohen Preisklasse leisten konnte. Das nationale Image ist seither nicht mehr vom Produkt zu trennen und erweiterte, im Zuge des Identitätsdiskurses der Bevölkerung, auch die Zielgruppe(n) der gelben Brause. Unterstützt wurde der marketingtechnische Entwicklungsprozess durch peruanische Berühmtheiten dieser Zeit, die als Testimonials fungierten. Neben dem Komiker Tulio Loza ist vor allem der Sänger César Altamirano, Spitzname El mono227 , zu nennen. Ende der 1950er Jahre ging Isaac Lindley, an der Seite des peruanischen Unternehmers Genaro Delgado Parker228 , eine strategische Allianz ein und stieg als Hauptgesellschafter ins Fernsehgeschäft ein. Unterstützt wurden die beiden Unternehmer durch Finanzkapital der Firma Philips, wodurch der Privatsender Canal 13 Panamericana Televisión S.A. am 16. Oktober 1959 mit der Übertragung starteten konnte. Die Firma Lindley entwickelte daraufhin Leitlinien für Fernsehwerbung und wurde zum Hauptsponsor von kulturellen Sendungen namens „Limeñísima“. Als der Sender 1963 die dem Staat zugewiesene Frequenz Canal 5 erhielt, entfachte eine öffentliche Kampagne in der dem damaligen Staatspräsidenten und Militärmitglied Nicolás Lindley die Begünstigung seines Bruders Isaac vorgeworfen wurde (vgl. Caceres Calderon, 2006: 58). Nach der Amtsübernahme von Staatspräsident Belaúnde wurde Nicolás Lindley 1964 zum bevollmächtigten Botschafter Perus nach Spanien berufen, und kehrte erst nach dem Ende der ersten Militärregierung 1975 nach Peru zurück (vgl. Malpica Silva Santisteban, 1989: 442). Nicolás Lindley aus der dritten Generation war somit das einzige Familienmitglied, das eine Karriere außerhalb des Familienunternehmens einschlug.
226 Eigene Übersetzung: Das Getränk des nationalen Geschmacks. 227 Eigene Übersetzung: Der Hampelmann. 228 Mitglieder der Doce Apóstoles der peruanischen Wirtschaft (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 309).
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Um die José R. Lindley e Hijos S.A. unternehmerisch breiter aufzustellen, gründete der damalige Geschäftsführer Isaac Lindley am 1. Februar 1957 die Vertriebsund Transportfirma Distribucio´n, Transporte y Almacenaje S. A. (Distral S. A.), gefolgt von der Immobilienfirma Inmobiliaria Lintab S. A. 1960. Laut Unternehmensinformation war Isaac Lindley an zwanzig verschiedenen Firmengründung beteiligt, die insbesondere im vor- und nachgelagerten Bereich des Getränkeunternehmens angesiedelt waren. Des Weiteren investierte auch Johnny Lindley in die entstehenden Massenmedien und beteiligte sich 1963, an der Seite der Delgado Parker Brüder Manuel und Hector, bei der Gründung von Radio Programas del Perú (RPP). Seit Ende der 1960er Jahre verstärkte die Firma Lindley ihre Werbeaufwendungen und investierte in TV-Werbespots mit dem Werbegesicht Gladys Arista (vgl. Castro Pérez, 2003: 107). Das Model mit vorzeige Figur, seidigem Haar und forschem Blick agierte im modernen Bikini, oder in einer abgewandelten Inka-Tracht, und repräsentierte so eine Form der peruanischen Moderne im urbanen Kontext. Auf die Konstruktion (nationaler) Identität wird nachfolgend in Kapitel 5 noch ausführlich zurück zu kommen sein. Zum Ausbau der vorhandenen Produktpalette versuchte das Familienunternehmen 1968 auch Kinder und deren Eltern als neue Zielgruppe(n) zu erreichen und brachte mit BIMBO ein Fruchtgetränk in verschiedenen Geschmacksrichtungen – für lediglich S/. 1,50 – auf den Markt. Seit den 1970er Jahren gelang es der José R. Lindley e Hijos S.A. ihre Marktführerschaft, trotz der monetären Macht der The Coca-Cola Company, zu halten (vgl. Exler, 2006: 67). Anders als beim gelben Flaggschiffprodukt erschloss die José R. Lindley e Hijos S.A. mit BIMBO 1972 auch ausländische Märkte in den USA, Ecuador und Bolivien (vgl. Alcalde, 2009: 35), wodurch nationale Absatzschwankungen kompensiert werden konnten. Mit dem Claim „Un festival del color a todo sabor“229 wurden die farbenfrohen Geschmacksrichtungen Erdbeere, Orange, Zitrone, Mandarine, Ananas und Cola beworben (vgl. Gamarra, 2015: 104). Während der Militärregierungen hatte die Getränkebranche mit Kapazitätsbegrenzungen zu kämpfen. Daher investierte die Firma Lindley erst im Zuge des Re-Demokratisierungsprozesses in den 1980er Jahren wieder in neue Märkte und Produkte. Der neue Kampagnen-Claim für Inca Kola lautete seit 1980 „El sabor de la alegría“230 und inszenierte die gelbe Brause in einem sommerlich frischen gute Laune Kontext am Strand. Erstmals seit 1960 spiegelte sich das nationale Produktimage zunächst nicht mehr wörtlich im Claim wider. Der aufkommende Terrorismus in der Sierra tangierte das urbane Leben an der Küste noch recht wenig. Dort eroberte die Firma Lindley, im Zuge der US-amerikanischen Aerobic- und Fitnesswelle die auch nach Peru schwappte, Mineral- und Tafelwasser als Marktsegment. Die Marke Seltz stand für kohlensäurehaltiges Tafelwasser (vgl. Guardia, 1996: 11) und wurde 1984 Jahre mit aufwändigen TV-Spots beworben, in denen
229 Eigene Übersetzung: Ein Fest der Farben in allen Geschmacksrichtungen. 230 Eigene Übersetzung: Der Geschmack von Freude.
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eine schlanke Figur als Produktnutzen im Fokus stand. Ebenfalls werbetechnisch kostspielig inszeniert wurde die Einführung von Plastikflaschen als verpackungstechnische Neuerung bei Inca Kola im Jahr 1983. Zur Kompensation des wirtschaftlich gebeutelten Binnenmarktes beabsichtigte die Firma Lindley für ihr Flaggschiffprodukt die internationale Expansion, mit Marktbeteiligungen in Bolivien, Ecuador und vor allem in den USA (vgl. Alcalde, 2009: 35). Zunächst investierte Isaac Lindley in die Gründung einer Niederlassung in der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil. Von dort aus exportierte die Firma Lindley die Essenzen von Inca Kola in Länder mit einer hohen Dichte an peruanischen Emigrierten. Ferner kooperierte die Firma Lindley mit den USamerikanischen Firmen Visa Inc. New York und Paterson Canning Company, die den Sirup zur Herstellung von Inca Kola in die USA importierten und das fertige Getränk in Dosen abgefüllt in New York, Miami, San Francisco und Los Angeles verkauften (vgl. Malpica Silva Santisteban, 1989: 444 u. Guardia, 1996: 11). Doch das Umsatzvolumen war mit 64.000 US-Dollar in 1986 und lediglich 22.000 USDollar in 1987 relativ gering, wodurch der Fokus zunächst wieder auf den nationalen Markt gelegt wurde (vgl. ebd. u. Castro Pérez, 2003: 107). Der wirtschaftliche Aufschwung, nach dem Amtsantritt des neuen Staatspräsidenten Alan García 1985, machte sich zunächst auch in den Bilanzzahlen der Firma Lindley bemerkbar. Ende 1986 lag das Unternehmensvermögen bei 125,5 Millionen Intis, was bei einem Wechselkurs von 6,5 Intis pro Dollar umgerechnet etwa 19,3 Millionen US-Dollar entsprach (vgl. Malpica Silva Santisteban u. García Medina, 2010, 1989: 443). Die Absatzzahlen beliefen sich zeitgleich auf ca. 50,1 Millionen US-Dollar (326,1 Mio. Intis) und der Jahresgewinn lag bei 22,59 Millionen Intis, also 3,47 Millionen US-Dollar (vgl. Malpica Silva Santisteban, 1989: 443). Doch bereits im April 1987 kippte die positive Bilanz und die José R. Lindley e Hijos S.A. wies über 4,5 Millionen Intis Schulden auf, wozu Verluste in Höhe von 12,27 Millionen Intis aus dem TV-Geschäft und weitere 87,65 Millionen aus dem Radiogeschäft kamen (vgl. ebd.: 451). Insgesamt kam die Familie Lindley bei allen Firmenbeteiligungen auf eine Schuldensumme von 186,52 Millionen Intis, also 28,69 Millionen US-Dollar, woraufhin die Familie Delgado Parker die Anteile von Isaac Lindley am Sender Panamericana Televisión S.A. noch im gleichen Jahr kaufte (vgl. ebd.; Otter, 1996: 175 u. Gamarra, 2015: 104). Entscheidend für die Schuldenkrise war der Absatzrückgang, vor allem im Hochland, das von der Terrorgruppe Sendero Luminoso kontrolliert wurde. Plünderungen von Warenlieferungen gehörten in der Region Ayacucho zur Normalität, wodurch die regionale Marke Kola Real seit 1988 stark wachsen und nach Ende des Terrorismus auch national und global expandieren konnte. Am 18. Oktober 1989 starb Isaac Lindley und sein Sohn Johnny übernahm im Alter von 59 Jahren die Firmenspitze. In den 44 Jahren als Geschäftsführer formte Isaac Lindley das Familienunternehmen zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten der The Coca-Cola Company. Trotz der wirtschaftlichen Herausforderungen setzte er auf internationale Expansion und Modernisierung. Heute hängt im Eingangsbereich der Corporación Lindley ein Portrait (siehe Abbildung 20, eigene Aufnahme)
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Abbildung 20: Portrait von Isaac Lindley
von Isaac Lindley, der als kreativer Kopf in die Unternehmensgeschichte der Familie Lindley eingegangen ist. 4.3 Werte und Visionen - David gegen Goliath bis 1999 Durch die ökonomische Krise stellte die Dekade der 1980er Jahre eine Zerreißprobe für die Firma Lindley dar, die massiv verstärkt wurde, als die terroristische Gewalt auch die Hauptstadt Lima – und damit die Küste – erreicht hatte. Luis Paredes, Lindley-Mitarbeiter seit 1974, schildert231 die Zeit nach der Währungsumstellung 1985 auf den Inti als Phase, die alle gemeinsam als Familienorganisation bewältigt haben (vgl. Chumpitazi Vílchez u. Rodríguez, 2010: 24). Zusammen verdienten die Fabrikarbeiter ca. drei Millionen Intis (umgerechnet 461.538,46 US-Dollar),
231 Siehe ferner: Buchreihe Triunfadores peruanos zu siegreichen Wirtschaftsunternehmen Perus. Die erste Ausgabe erschien 2010 mit der Erfolgsgeschichte der Corporación Lindley.
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die das Unternehmen nicht für das gesamte Personal aufwenden konnte. Die Geschäftsführung entwarf einen Finanzplan, der die Ausschüttung von Dividenden sowie eine Gewinnbeteiligung vorsah, wenn der kritische Punkt überwunden wäre. Paredes, der mit drei Generationen an der Firmenspitze zusammen arbeitete, erinnert sich, dass zu keinem Zeitpunkt die Rede davon war aufzugeben. Vielmehr erfuhr er diesen Prozess als gelebte Identifizierung der Familienmitglieder mit Peru, die Modernisierungsvisionen formulierten und Entwicklungsräume für ihr Land schufen. Paredes Meinung zu Folge seien die Lindleys ohnehin Peruaner232 , die sich laut Firmenphilosophie ebenfalls so sahen (vgl. ebd.). In der Tat wurde die britische Herkunft der Lindleys medial kaum diskutiert. In einem Artikel der Zeitschrift Caretas zur Frage der Nationalität von James Bond heißt es [...] „der wahre James Bond ist wie der britische Erfinder von Inca Kola auch einer von uns“233 (Biggio, 2013). Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass die José R. Lindley e Hijos S.A. seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige private Arbeitgeberin in der Metropolregion Lima ist. Johnny Lindley Suárez aus der vierten Lindley-Generation konstatierte in einem Interview: „Für uns Peruaner haben die Marke Inca Kola und die goldene Farbe eine Bedeutung.“234 (vgl. Gamarra, 2015: 107). Der neue Geschäftsführer Johnny Lindley Taboada war das einzige männliche Familienmitglied der dritten Generation im Unternehmen. Er erweiterte die Direktionsebene daher um strategische Personen außerhalb der Familie. Im ersten Schritt verstärkte Manuel Salazar die Geschäftsführung (vgl. ebd.: 101). Ferner galt es die bestehende Arbeiterschaft, und somit das vorhandene Humankapital, zu halten. Um den Bereich Marketing kümmerte sich Johnny Lindley zunächst selbst. Als Fingerzeig auf die soziale Situation im Land entwickelte er den neuen Claim von Inca Kola „El sabor que nos une“235 (Castro Pérez, 2003: 107). Anfang der 1990er Jahre verstärkte Max Alvarado das Unternehmen als Marketing-Direktor, dessen inhaltlicher Fokus auf der Repositionierung von Inca Kola lag. Laut Meinungsforschung hatte eine Umfrage zuvor ergeben, dass die gelbe Brause innerhalb der Bevölkerung mit einer unsympathischen, dicken Frau, Mitte Vierzig assoziiert wurde (vgl. Holligan, 1998: 3), obwohl werbetechnisch eine gänzlich andere Markenidentität von Inca Kola konstruiert wurde. Um sich diesem matronenhaften Image zu entledigen, entwickelte das Unternehmen eine neue Marketingstrategie, speziell für die Zielgruppe der 12 bis 24 Jährigen aus der Oberschicht. Als Anzeigenmotive wurden junge, eher wohlhabende Personen ausgewählt, die häufig Abenteuersportarten nachgingen. Der neue Produktclaim von 1990 kehrte inhalt-
232 Im Original: „Los Lindleys ya son peruanos.“ (Chumpitazi Vílchez u. Rodríguez, 2010: 24). 233 Im Original: „Al verdadero James Bond, quien, al igual que la Inca Kola fundada por un británico, también ”es nuestro”.“ (Hervorhebungen im Original, Biggio, 2013). 234 Im Original: „Para nosotros, los peruanos, la marca Inca Kola y el color amarillo tienen un significado.“ (Gamarra, 2015: 107). 235 Eigene Übersetzung: Der Geschmack, der uns vereint.
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lich zurück zur nationalisierenden Erfolgsspur und lautete „Es nuestra. La bebida del Perú“236 . Als innovative Werbeträger fungierten in Limas Stadtzentrum Verkehrshäuschen für Polizistinnen und Polizisten. Ein Monopolvertrag zwischen der Policía Nacional del Perú und der Firma Lindley regelte die Instandhaltung dieser Häuschen, als Kompensationsleistung für die werbliche Nutzung (siehe Abbildung 21, eigene Aufnahme). Mit dem Abklingen der terroristischen Hochphase fand das alltägliche Leben wieder vornehmlich auf der Straße statt, wodurch sich der urbane Publikumsverkehr steigerte und der Außenwerbung somit wieder eine zentralere Position im Marketing zukam. Die polizeilichen Verkehrshäuschen markierten die urbane Sichtbarkeit der Marke innerhalb der Bus- oder Autofahrenden Zielgruppe(n) sowie bei städtischen Fußgängerinnen und Fußgängern. Durchschnittlich war es 1994 jeder Peruanerin und jedem Peruaner möglich 2,75% des Einkommens für den Konsum von Erfrischungsgetränken aufzuwenden, was im lateinamerikanischen Vergleich den letzten Platz ausmachte (vgl. Guardia, 1996: 14). Doch im weiteren Verlauf der 1990er Jahren entspannte sich die wirtschaftliche und soziale Lage Perus – und damit auch der peruanischen Bevölkerung – allmählich, wodurch der Konsum von Erfrischungsgetränken von 22,33 Litern pro Person in 1994, auf 37 Liter pro Kopf in 1996 anstieg (vgl. ebd. u. Castillo Maza, 1998: 71). Folglich versuchte die Firma Lindley die Nachfrage im wachsenden urbanen Markt alkoholfreier Getränke zu steigern und führte 1996 Inca Kola Diet237 mit einem niedrigen Kaloriengehalt ein. „El gusto de cuidarse“ lautet der damalige Werbeslogan, der entweder mit „Das Vergnügen auf sich zu achten“, oder mit „Der Geschmack für sich zu sorgen“ übersetzt werden kann. Auch die neue Geschmackssorte des Flaggschiffprodukts diente der strategischen Ausrichtung zur finanzkräftigen Zielgruppengewinnung. Damit der Firma Lindley die vorhandene Zielgruppe der Haushalte mit niedrigem Einkommen gewogen blieb, investierte das Unternehmen in eine umfangreiche Incentive-Marketingaktion. Dabei konnten eingesendete Flaschenverschlüsse gegen unterschiedliche Werbeartikel und preiswerte Alltagsgegenstände getauscht werden. Hinzu kam bis 1997 ein jährlicher Spendenetat von umgerechnet 3 Millionen US-Dollar, für gemeinnützige Projekte an Schulen (vgl. Holligan, 1998: 3). Möglich wurden diese Investitionen auch durch strategische Kooperationen, die kurzfristig die wirtschaftliche Talfahrt des Unternehmens stoppten. Mitte der 1990er Jahre führte die peruanische Fast-Food-Kette BEMBOS exklusiv Inca Kola und weitere Getränkemarken der Firma Lindley ein. Der globale Hamburgerriese McDonald’s zog nach und bewarb die Neueröffnung der vierten Filiale in Lima, mit klassischem Hamburgern an der Seite der neuen Produkte Inca Kola und Inca Kola Diet (vgl. Alcalde, 2009: 39).
236 Eigene Übersetzung: Es ist unsere. Das Getränk Perus. 237 Siehe Abbildung 36, Kapitel 5.
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Abbildung 21: Werbeträgermonopol durch die Firma Lindley
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Gemessen am verhältnismäßig kleinen Absatzmarkt für Erfrischungsgetränke waren die Werbeausgaben in Peru relativ hoch. 1997 gab das Unternehmen Lindley ca. 11,1 Millionen US-Dollar für Werbung aus, also mehr als ein Zehntes des Umsatzes. Die Konkurrenzunternehmen The Coca-Cola-Company und PepsiCo, Inc. verausgabten zeitgleich 15 Millionen bzw. 9,7 Millionen US-Dollar (vgl. Holligan, 1998: 3). Dieser Werbekrieg der globalen und lokalen Getränkeunternehmen vollzog sich weltweit, gestaltete sich in Peru aber im Stil von David gegen Goliath zunächst positiv für die Firma Lindley, die ihre Marktführerschaft verteidigen konnte. Im Zuge eines zeitgleichen Umstrukturierungsprozesses erfolgte die Umfirmierung zur Corporación José R. Lindley (vgl. Rivera Chú, 2008: 440). Neben der Effizienzsteigerung der Produktion, durch den Kauf einer neuen Abfüllanlage für 12 Millionen US-Dollar, straffte das Unternehmen die Abteilungen Vertrieb und Management. Erstmals meldete The Coca-Cola-Company Interesse am Kauf der Marke Inca Kola an und es kam noch im Jahr 1997 zu ersten beiderseitigen Interessensbekundungen (vgl. Gamarra, 2015: 107). Offiziell wies das Unternehmen die Schlagzeilen der Medien, wonach The Coca-Cola-Company die Rechte an Inca Kola kaufen wolle, als Gerüchte zurück. Doch die Corporación José R. Lindley hatte im gleichen Jahr einen Nettoverlust von 4,9 Millionen US-Dollar, bei einem Umsatz von 85 Millionen US-Dollar, zu verzeichnen (vgl. Holligan, 1998: 3), wodurch ein Teilverkauf – angesichts der angespannten wirtschaftliche Lage des Unternehmens – verstärkt familienintern diskutiert wurde. Johnny Lindley Suárez studierte zu dieser Zeit Marketing am Bentley College in den USA und ließ seine interkulturellen Erfahrungen in den Entscheidungsprozess einfließen. Die größten Herausforderungen sah die Familie in der Akzeptanz der Kundschaft, die ihre Inca Kola als nationales Produkt verstanden. Andererseits rief ein Joint Venture mit dem multinationalen Unternehmen auch eine gewissen finanzielle Stabilisierung hervor, die wiederum an die Arbeiterschaft weitergegeben werden könnte. Die letzten Dekaden waren mit die schwierigsten für die Firma Lindley, denn der Internationalisierungsversuch erwies sich als äußert kompliziert und das aktive Franchise-System, mit den lokalen Abfüllfirmen, lief wirtschaftlich gesehen nicht optimal (vgl. Gamarra, 2015: 107). Für den Bau wirtschaftlich rentablerer, eigener Getränkefabriken reichten die finanziellen Ressourcen jedoch nicht aus. Nach knapp zweijähriger Verhandlungsphase lautete eine Schlagzeile am 24. Februar 1999 in The New York Times „Company News; COCA-COLA agrees to buy half of Inca Kola PERU“. Für eine angebliche Summe von 200 Millionen US-Dollar soll die Corporación Lindley die Vertriebs- und Marketingrechte von Inca Kola im Ausland, an The Coca-Cola Company verkauft haben (vgl. The New York Times, 1999). Eine offizielle Bestätigung dieser Summe gab es von beiden Firmen nicht. Per Homepage ließ die Firma Lindley verlauten, dass der Erfolg von Inca Kola so groß war, dass man eine strategische Allianz mit The Coca-Cola Com-
Zwischenfazit
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pany eingegangen sei, die es erlaubt das Markenportfolio nun zu erweitern238 (vgl. Arca Continental Lindley Firmenhomepage). Im Verlauf des Jahres präsentierte die Firma Lindley das neue Logo von Inca Kola (siehe Abbildung 22, Firmenmaterial).
Abbildung 22: Logos von Inca Kola im Wandel der Zeit (1961, 1981 und 1999) Erstmals wurde das runde Hauptelement durch ein rechteckiges ersetzt. Die InkaSymbolik wurden an den Seiten beibehalten. Höchstwahrscheinlich diente die Logoveränderung der Abgrenzung zum runden Coca-Cola Logo. Webetechnisch wurde das nationale, peruanische Produkt weiterhin als solches inszeniert und in Restaurants als perfekte Symbiose zu peruanischen Nationalgerichten gereicht.
4.4 ZWISCHENFAZIT Im Untersuchungszeitraum entwickelte sich das Familienunternehmen Lindley zu einem wichtigen privaten Arbeitgeber im Lima. Auch durch diesen wirtschaftlichen Faktor stand die britische Herkunft des Firmengründers, in keinem Widerspruch zum nationalen Image von Inca Kola. Ihr Erfolg war kein Selbstläufer und bedurfte ausgeklügelter Marketingmaßnahmen und massiver Werbeausgaben. Gleichzeitig diversifizierte die Firma Lindley ihre Produktpalette, um neue Zielgruppen anzusprechen, oder auf neuen Märkten zu expandieren. Der Versuch Inca Kola international zu etablierten scheiterte und so konzentrierte sich das Unternehmen auf die Absatzerweiterung des nationalen Marktes. Die Produktwerbung repräsentierte seit den 1970er Jahren eine Form der peruanischen Moderne im urbanen und medialen Kontext. Durch verschiedene Testimonials und Kampagnen fungierte die Werbung als narrative Strategie der Gruppenbildung. Dir Firma Lindley bediente das entsprechende Entwicklungsniveau der
238 Im Original: „Su éxito fue tal, que en 1999 firma una alianza estratégica con The Coca-Cola Company, que le permitió ampliar su portafolio de marcas.“ (Arca Continental Lindley Firmenhomepage).
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heimischen Konsumkultur und sprach die heterogenen Zielgruppen ihrer Getränke zunehmend individualisiert an. Zu nennen sind hier vor allem Kinder und ihre Eltern mit dem Produkt BIMBO und auch figurbewusste Personen mit Tafelwasser oder Inca Kola diet. Dienlich waren im Prozess der Ikonisierung von Inca Kola entstandene Medienkontakte einzelner Familienmitglieder, sowie ferner die Nähe zum Militär durch Nicolás Lindley. Finanzielle Herausforderungen, auch durch den Absatzeinbruch im Zuge des Terrorismus, konnte das Familienunternehmen bis in die 1990er Jahre durch Firmenbeteiligungen im vor- oder nachgelagerten Bereich kompensieren. Johnny Lindley aus der dritten Generation entschied sich 1994, mit der Tradition zu brechen ausschließlich männliche Familiennachfahren in die Geschäftsleitung aufzunehmen. Er stellte einen externen Marketingmanager ein, der sofort eine Imagekampagne zur Neupositionierung von Inca Kola umsetzte. Nach einer Umstrukturierung der Firma kam es, einhergehend mit den wirtschaftlichen Folgen der verlorenen Dekade, zu massiven Finanzproblemen. Erstmals erfolgte 1997 eine Interessensbekundung von The Coca-Cola Company zum Kauf der Marke Inca Kola. Nach zweijährigen Verhandlungen soll die Firma Lindley die Vertriebs- und Marketingrechte von Inca Kola im Ausland, für eine angebliche Summe von 200 Millionen US-Dollar, an The Coca-Cola Company verkauft haben (vgl. The New York Times, 1999). Ungeachtet des globalen Markenverkaufs fand weiterhin die Einbettung von Inca Kola in die Repräsentation peruanischer Moderne statt.
5. DAS SOZIALE LEBEN VON INCA KOLA ALS MEDIALE KONSTRUKTION NATIONALER IDENTITÄT IN HYBRIDEN KULTUREN Die bisher vollzogenen Analyseschritte haben multiperspektivisch die Wechselwirkungen aufgezeigt, denen der nationale Identitätsprozess Perus im Untersuchungszeitraum unterlegen war. Infolgedessen wurde ethno-kulturelle bzw. nationale Zugehörigkeit verstärkt über alternative Akteurinnen und Akteure vermittelt. Durch die fehlgeschlagenen politischen Kulturkonzepte war der Weg sozusagen frei, für medial beworbene, nationalisierte Markenartikel, oder auch für die peruanische Nationalküche, um in die Lücke der Akteurinnen und Akteure nationaler Identitätsbildung vorzudringen. Um die Ikonisierung von Inca Kola nachzuzeichnen, werden anhand der Warensituation im sozialen Leben von Dingen – nachfolgend ihre Warenphase, ihre Warenkandidatur/Warenanwartschaft und ihr Warenkontext – mit den Entwicklungsprozessen hybrider Kulturen (Telepartizipation, Dekollektivierung und Deterritorialisierung) verflochten (vgl. Appadurai, 1986: 16 u. García Canclini, 1989: 263–305). Dafür werden visuelle Quellen239 der Produktkommunikation, vorzugsweise Motive der Außen- sowie Anzeigenwerbung, und Rezeptionsergebnisse herangezogen. Unter der Einbeziehung weiterer Quellengattungen erfolgt die Analyse der indirekten Machtverhältnisse im Globalisierungskontext Perus, am Beispiel von Inca Kola. In erster Linie wird nach der identitätsstiftenden Stärke nationaler Symbolik gefragt, die unter dem Label des Gefühlsprotektionismus (Quambusch, 1989: 786), ein Konsumbedürfnis für ein moralisch verknüpftes Produkt erzeugt, z.B. durch eine buy-national-Kampagne. Dementsprechend resultierte der Erfolg von Inca Kola nicht aus dem Mangel an Alternativen, sondern so die These des Kapitels, aus ihrer kulturellen Biografie (vgl. Kopytoff, 1986: 64), worauf später noch zurückzukommen sein wird. Im anschließenden Werbediskurs werden gestalterische Veränderungen, einhergehend mit der nationalisierenden Entwicklung der Werbebilder, analysiert. Dies
239 Audiovisuelle Quellen liegen durch den Bestand des Archivo TV Piura Perú vor und fließen mit in die Werbeanalyse ein. Bei den Anzeigenabbildungen der Produktkommunikation handelt es sich um eigene Aufnahmen oder Firmenmaterial, das mir im Unternehmen zugänglich gemacht wurden. Ergänzung finden sie durch abfotografierte Exponate des Museo Neo-Inca IX in Lima, während der Ausstellung „Re-decorando la huaca“ der Künstlerin Susana Torres (13. Februar bis 5. März 2014). In einem Raum der Ausstellung widmete sich die Künstlerin Torres ausschließlich Inca Kola, die auch auf dem Ausstellungsplakat beworben wurde.
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Das soziale Leben von Inca Kola in hybriden Kulturen
können veränderte Darstellung der Örtlichkeiten des Landes sein, neue Testimonials ,oder Darstellende mit bestimmter ethnischer Herkunft, aber auch eindeutige Distinktionsmerkmale. Im weiteren Verlauf erfolgt ergänzend die analytische Darstellung der Zielgruppendiversifikation sowie der neuen landesweiten Absatzmärkte. Um den Einfluss externer Machtakteurinnen und -akteure auf den Erfolg von Inca Kola übertragen zu können, werden deren indirekte Machtverhältnisse zum Abschluss des Kapitels erörtert. Entscheidend ist dabei das Aufbrechen bilateraler Machtverhältnisse, hin zu einer Analyseebene der versteckten Machtverflechtungen (vgl. García Canclini, 1989: 323). Appadurai konstatiert in diesem Zusammenhang, dass innerhalb der Konsumgemeinschaft unterschiedliche Interessen in Bezug auf den Tauschprozess von Waren vorherrschen und dieser in seinen Rahmenbedingungen durch ständige Spannung verändert wird (vgl. Appadurai, 1986: 57). 5.1 Vom öffentlichen Raum zur Telepartizipation240 : Marketingmaßnahmen von Inca Kola Von der anthropologischen Seite her betrachtet, geben Objekte – respektive Dinge – Aufschluss über spezifische Interaktionen innerhalb einer Kultur bzw. einer Gesellschaft und können zudem deren normatives Verhalten beeinflussen (vgl. Miller, 2005: 5). Neben der Materialität ist es essenziell, Dinge auch unter dem Aspekt ihrer möglichen Tauschbarkeit zu verorten. Laut Appadurai können Waren vorläufig als „objects of economic value“ definiert werden (Appadurai, 1986: 3). Dabei erfolgt das Eintreten eines Objektes in einen Warenzustand, am komplexen Schnittpunkt zeitlicher, kultureller und sozialer Faktoren, wobei die kulturellen Annahmen innerhalb der Konsumgemeinschaft nicht deckungsgleich sein müssen (vgl. ebd.: 15). Mit Bezug auf den Produktlebenszyklus startete der Austausch- und Kommodifizierungsprozess241 von Inca Kola parallel zum 400. Gründungstag der Stadt Lima, am 18. Januar 1935. Als sich überschneidende Wertzuschreibung innerhalb der potenziellen Konsumgemeinschaft verwendete die Firma Lindley erstmals keinen englischen Produktnamen. Vielmehr weist das quechuasprachige Wort Inca eine traditionelle und historische Bedeutung auf. Das gleichnamige Volk steht auch heute noch für eine harmonisch zusammenlebende, multiethnische Gesellschaft242 . Eine moderne Verknüpfung erfolgte durch den erste Claim „Inca Kola ok“, der aus dem Produktnamen und der englischen Abkürzung für „alles in Ordnung“243 bestand. Den öffentlichen Raum nutzend, wurde die neue Marke im Rahmen der Feierlichkeiten in Lima, als Flaggschiffprodukt des breiten Lindley-Produktportfolios präsentiert und medial per Radio beworben. Dabei setze die Firma Lindley auf spani-
240 241 242 243
Im Original: „Del espacio público a la teleparticipación.“ (García Canclini, 1989: 264). Siehe ausführlich: Appadurai, 2005: 34–43, Polanyi, 1978 u. Esping-Andersen, 1990. Siehe ausführlich: Shimada, 2015. Siehe ausführlich zur Wortherkunft: Walker Read, 1964: 243–267.
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sche Einsprachigkeit. Die zwischenmenschliche Interaktion des Warentauschs wurde im Vorfeld medial verhandelt und erfuhr im Nachhinein somit eine urbane Repräsentation innerhalb des Tauschprozesses. Doch Waren können in ihrem sozialen Leben nicht permanent in dieser Phase verbleiben, wodurch sie den Status einer Ware auch wieder verlieren (vgl. Appadurai, 1986: 13f.). Innerhalb der Warensituation bildet die Warenkandidatur/-anwartschaft keine zeitliche Phase, sondern stellt den konzeptionellen Kontext, mit u.a. den Kriterien Symbolik, Klassifikation oder Moral, dar (vgl. ebd.). Übertragen auf Inca Kola überschnitten sich diese Inhalte teilweise mit denen der Produktentwicklungsphase im Produktlebenszyklus, die José Lindley junior maßgeblich prägte. Die Verkaufsstrategie sah eine Kooperation mit Restaurants in der bekannten Straße Capón in Lima sowie mit Peru typischen Warenkiosken vor (vgl. Gamarra, 2015: 100). Eine einheitliche Vermarktungsstrategie existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was sich am Verkauf von Inca Kola in ungleichen grünen und transparenten Glasflaschen zeigt (siehe Abbildung 23, oben rechts, eigene Aufnahme). Die aufgeklebten Papieretiketten enthielten eine Abbildung von einem Mann, mit andinem Federkopfschmuck. Auch die Kontaktdaten der Firma Lindley, sprich Anschrift mit Telefonnummer, sowie der Hinweis auf die peruanische Herkunftsbezeichnung fanden sich – neben dem Produktnamen und dem Claim – auf den Papieretiketten. Dabei bildeten die beiden Buchstaben OK jeweils den linken und rechten Rahmen des Schriftzugs von Inca Kola. Die Symbolik des flüssigen Inkagoldes funktionierte jedoch erst mit der Einführung durchsichtiger Glasflaschen Anfang der 1940er Jahre. Zurückkommend auf Appadurai, verweist der Warenkontext letztlich auf die Vielzahl sozialer Bühnen in oder zwischen kulturellen Einheiten, die die Warenkandidatur/Warenanwartschaft mit der Warenphase verbinden (vgl. Appadurai, 1986: 15). So bot die mit Nationalfahnen geschmückte Kulisse, während der Produkteinführung von Inca Kola, einen nationalisierenden Kontext. Dieser wurde seit den 1940er Jahren sukzessive ausgebaut und dabei in Bezug auf seine übereinstimmenden Wertzuschreibungen innerhalb der Konsumgemeinschaft(en) stetig neu verhandelt. Der Geschmack des Erfrischungsgetränks darf als Teil der Produktpolitik nicht unterschätzt werden. Das Andenkraut Hierba Luisa weist als Tee eine lange Tradition in Peru auf, auch weil den Blättern eine verdauungsfördernde Wirkung nachgesagt wird (vgl. Perú 21, 2014). Den Alleinstellungscharakter des Produktes sollte der neue Claim „Solo hay una y no se parece a ninguna“244 unterstützen. Fürwahr ging alleine durch die leuchtende Farbe eine Separierungskraft von Inca Kola aus, die durch den neuen Werbeslogan noch verstärkt wurde. Verharrend in der Warenkandidatur/Warenanwartschaft außerhalb Limas, trat Inca Kola 1941 auch in Trujillo, Piura, Ica, Cusco, Arequipa, Tacna, Moquegua und in der zentralen Regenwaldregion in die Warenphase ein, wofür die Firma Lindley Franchise-Partnerschaften einging (siehe Abbildung 19, eigene Darstellung nach
244 Eigene Übersetzung: Es gibt nur eine und sie ist anders als alle.
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Fernández Arribasplata, 2014). Als Optimierungsaspekt des Warenkontextes ist die Einführung der landesweit einheitlichen transparenten Reliefflaschen 1948 zu sehen, mit der die aufgeklebten Produktetiketten der Vergangenheit angehörten. Der inhärente, andine Federkopfschmuck trat werbetechnisch nicht wieder in Erscheinung. Die Anzeigenmotive der Dekade waren textlastig, mitunter durch gezeichnete Personen illustriert, und ausschließlich in schwarz-weiß gestaltet. Vorzugsweise wurden Aktionsangebote beworben, wie beispielsweise die Familiengröße, bei der fünf Flaschen zu einem Sonderpreis erhältlich waren. Das Werbemedium der Wahl blieb lange Zeit das Radio, wodurch sich mit der steigenden Telepartizipation das Verhältnis zwischen der Öffentlichkeit und dem privaten Bereich richtungsweisend veränderte. Seinen Höhepunkt erreichte der Transformationsprozess vom öffentlichen Raum zur Telepartizipation, mit dem Siegeszug des Fernsehens in den 1960er Jahren, bei dem sich die kollektive Identitätssymbolik der Straße, in die anonymisierte Welt der Massenkommunikation verlagerte (vgl. García Canclini, 1989: 265). In dieser Zeit der Umbruchphase, die in Peru von massiver Binnenwanderung245 in urbane Zentren gekennzeichnet war, entdeckte die Firma Lindley die sogenannte Peruanidad246 gänzlich als soziale Arena des Warenkontextes von Inca Kola. Neu verhandelte, kulturelle Annahmen innerhalb der Konsumgemeinschaft setzen auch einen Umformulierungsprozess von Moderne(n) in Gang und fanden ihren Ausdruck in der professionalisierten Produktkommunikation. Farbige Anzeigenmotive bildeten nun menschliche Models an Peru typischen Örtlichkeiten, wie beispielsweise dem Machu Pichu, ab. Abgerundet wurde die neugestaltete Printwerbung, durch den innovativen Produktclaim „La bebida del sabor nacional“247 . Mitzudenken ist bei der expliziten Betonung der nationalen Produktherkunft von Inca Kola, auch die gewünschte Abgrenzung zur US-amerikanischen Hauptkonkurrentin Coca-Cola, was über den Faktor Geschmack im neuen Claim zu erzielen versucht wurde. Dieser sollte laut einer neuen Printkampagne bereits kleine Kinder begeistern, die fortan in den 1960er Jahren gezielt angesprochen wurden, wie Abbildung 24 (Firmenmaterial) zeigt. Ein heiles Familienimage, mit unzähligen Darstellenden, darunter erstmals auch Testimonials, wurde in den Spots für das Schwarz-Weiß-Fernsehen inszeniert, die seit den 1960er Jahren in einem Filmstudio produziert wurden. War bis dato keine einheitliche Marketingkonzeption erkennbar, zeigte sich nun die Zusammenführung aller vorhandenen Elemente zu einem einheitlichen Corporate Design der Marke, wozu seit 1961 auch das erste Inca Kola-Produktlogo gehörte (siehe Abbildung 22, Firmenmaterial). In einem TV-Spot der 1960er Jahre sang César Altamirano, der die
245 Perus Einwohnendenzahl belief sich 1961 auf 10.420.357 und war somit seit der letzten Volkszählung 1940, um jährlich 5,1% gewachsen, wobei sich der Anteil der Metropolregion Lima von 9,4%, auf 18,3% vergrößert hatte (vgl. INEI, 1961). 246 Siehe zum späteren Begriffsdiskurs: Belaúnde, 1957. 247 Eigene Übersetzung: Das Getränk des nationalen Geschmacks.
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Abbildung 23: Inca Kola-Werbefotos im Flur der Firmenzentrale in Lima
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Abbildung 24: Zielgruppe Kinder für Inca Kola
Popkultur dieser Dekade in Peru mitprägte, eine Ballade, in der als Refrain immer wieder auf die neue Familiengröße von Inca Kola hingewiesen wurde. Im Hintergrund spielten Kinder, die beim Genuss der gelben Brause in die Kamera lächelten (vgl. Archivo TV Piura). Ein anderer TV-Spot dieser Zeit zeigt den Komiker Tulio Loza in einer nachgebauten Machu Picchu-Kulisse, um zu suggerieren, dass die Marke auch innerhalb der indigenen Bevölkerung auf Akzeptanz stößt. Tulio Loza trug traditionelle Inka-Kleidung und erläuterte unter Panflöten-Hintergrundmusik, sein Verständnis von Peruanidad. Ob in den Bergen oder im Regenwald, Inca Kola sei immer dabei (vgl. ebd.) Auch die Printkampagnen reproduzierten, trotz der vorhandenen Unterschiede mit alltäglicher Marginalisierung der indigenen Bevölkerung, nationale Einigkeit im multiethnischen Peru. Ergänzung fanden die Bilder dabei durch die Schriftzüge „Lo nuestro me gusta más“248 und „Es nuestra“249 , wie in Abbildung 25250 abzulesen ist. Im fortgeschrittenen Wettbewerb der Getränkebranche warb die Firma R , für eine registrierte WaLindley seither auch mit dem Zusatz marca registrada renmarke, der künftig auch zum festen Bestandteil des neuen Produktlogos wurde. Peru hatte das 1929 entstandene Inter-American General Convention for the Protection of Marks and Trade 1937 unterschrieben und damit die Einhaltung des Markenschutzes bestätigt (vgl. Kresalja Rosselló, 2009: 66). Im Zuge der zunehmenden Internationalisierung, respektive der internationalisierten Telepartizipation, konzentrierte sich die Produktkommunikation von Inca Kola weiterhin auf die Umsetzung
248 Eigene Übersetzung: Unsere schmeckt mir besser. 249 Eigene Übersetzung: Es ist unsere. 250 Produktwerbung links (Firmenmaterial). Emailschild rechts, eigene Aufnahme (Ausstellung Museo Neo-Inca IX, Lima 2014).
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Abbildung 25: Nationalisierungen innerhalb der Produktkommunikation
identitätsstiftender Faktoren. Bei der Sprachwahl wurde daher strikt auf Anglizismen verzichtet. Symbolische Anschlussfähigkeit sollte über die kulturell hybride Inszenierung der Anzeigenmotiven in den 1960er Jahren erzeugt werden. Gladys Arista, eins der beliebtesten Fernsehmodels dieser Zeit, verkörperte bei einer Printkampagne eine indigen aussehende Frau in traditioneller Cholita-Kleidung, mit Schnürsandalen, buntem Gewand, einem klassischen Hut und geflochtenen Zöpfen. Während indigene Frauen je nach Tracht zwischen sechs und acht Unterröcke trugen (und noch immer tragen), verzichtete Gladys Arista gänzlich auf einen Rock, sodass ihre Sitzposition, mit einem angewinkelten Bein, sehr viel nackte Haut freigab (siehe Abbildung 26, eigene Aufnahme, Ausstellung Museo Neo-Inca IX, Lima 2014). Umrahmt wurde das Ambiente durch einen runden Wandteppich im Hintergrund, auf dem Inka spezifische Elemente abgebildet wurden, wie Alpakas oder Mais. Das Corporate Design der Marke, in Form des Produktlogos und des Claims, nahm im unteren Teil des Anzeigenarrangements einen großen Platz ein. Die Verflechtung kulturspezifischer Komponenten, durch den Konsum von Inca Kola, soll ein harmonisches multiethnisches Miteinander andeuten, und äuscht darüber hinweg, dass die nationale Ubiquität noch nicht gegeben war. Belegte Quellen über die spezifische Mediennutzung in Bezug auf das Kaufverhalten zu dieser Zeit, liegen nicht vor. Unter Einbeziehung der vorherrschenden Rollenverteilung, gemäß des Machismus in Peru, kann jedoch abgeleitet werden, dass der Haushalt und somit der Einkauf den weiblichen Mitgliedern der Familie oblag (vgl. MacEwen Scott, 1990: 204). Generell lässt sich bei der geschlechtsspezifischen Verteilung der Marketingelemente, ein Schwerpunkt der männlichen Testimonals in den TV-Spots der 1960er Jahre sowie der Darstellerinnen in Anzei-
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Abbildung 26: Gladys Arista in hybrider, indigener Tracht genkampagnen erkennen251 . Die Radiospots wurden von professionellen Sprechern eingesprochen (vgl. Castro Perez, 2003: 44f.). Auf den Warenkontext von Inca Kola zurückkommend, ergänzten zunehmend globale Medienereignisse die sozialen Bühnen. Bei der Miss World Wahl 1967 gelang der peruanischen Teilnehmerin Madeline Hartog-Bell der Sieg. Dies nahm die Firma Lindley zum Anlass und widmete der neuen peruanischen Schönheitskönigin eine Anzeige. In einem schwarzen Badeanzug und mit gelbem Sonnenhut posierte Madeline Hartog-Bell vor einer Kulisse, mit dem Meer im Hintergrund. Eine Flasche Inca Kola in der rechten Hand haltend, prostete das Model dem Schriftzug „Lo nuesto está primero. En el Perú y en el mundo entero“252 zu. Versucht wurde die Konstruktion einer Parallele, zwischen der Siegerin des internationalen Schönheitskontests und der führenden nationalen Brause (siehe Abbildung 27, Firmenmaterial). Mit Beginn der Militärregierung 1968 führte die Firma Lindley knallig bunte Anzeigenmotive mit Gladys Arista ein. Erstmals posierte das Model sehr knapp, mit einem Bikini, bekleidet am Stand der Küste, oder im Hochland oder Regenwald, in einem pinkfarbenen Minikleid im Stil der 1970er Jahre. Stets perfekt geschminkt und frisiert, prostete sie den Werberezipierenden mit einer Flasche Inca Kola in der Hand entgegen und vermittelte – parallel zur nationale Produktubiquität 1972 – eine Identifikation mit ganz Peru. Fortan erstreckten sich auch die Kommunikati-
251 Siehe ausführlich zur Maskulinität in Cuzco, Iquitos y Lima: Fuller, 2001. 252 Eigene Übersetzung: Unsere ist Erste, in Peru und in der ganzen Welt.
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Abbildung 27: Anzeigenmotiv mit Madeline Hartog-Bell
onsnetzwerke im zunehmenden Telepartizipationsprozess, auf die urbanen Zentren des ganzen Landes. Innerhalb der Konsumgemeinschaft war infolgedessen ein Konglomerat aus kreolischen Darstellenden, Paso Peruano-Pferden, Ceviche und Chifa auszuhandeln. Zur gleichzeitigen Repräsentation Perus sollte Inca Kola als Teil der nationalen Leitsymbole verstanden werden. Als nächster Schritt im Nationalisierungsprozess der Marke kann die innovative Außenwerbekampagne „La Hora Inca Kola“253 an Bushaltestellen angesehen werden. Als das Transportministerium 1974 kostenlose Kleinbus-Linien zum Strand von Herradura – im Stadtteil Chorrillos von Lima – eingerichtet hatte, bildeten sich aufgrund der großen Nachfrage lange Warteschlangen. Um die Wartenden zu unterhalten installierte die Firma Lindley dreidimensionale Werbeschilder mit Lautsprechern, die den ganzen Tag die Radiospots der „La Hora Inca Kola“-Kampagne wiedergaben. Dabei sang eine markante Männerstimme, mit dem Ticken einer Uhr
253 Eigene Übersetzung: Inca Kola-Zeit.
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Abbildung 28: Produktwerbung zur Einführung der Dose
und einem Chor im Hintergrund: „Venga, venga, venga el sabor de Inca Kola, que da la hora en todo el Perú, la hora Inca Kola“254 . Mit dem einsetzenden Re-Demokratisierungsprozess veränderte sich die Produktkommunikation und orientierte sich sehr stark an den importierten US-amerikanischen TV-Spots dieser Zeit. Auch die Printkampagnen reproduzierten Models mit westlich geprägter Mode, entsprechenden Frisuren und Errungenschaften. Exemplarisch findet sich in Abbildung 28 die Aluminiumdose als Verpackungsinnovation (Firmenmaterial). Im bauchfreien Oberteil und in sehr kurzer Hose posiert das abgebildete Model lasziv auf einer Bank und hält dabei eine Dose Inca Kola in der rechten Hand. Entgegen der in den 1960er Jahren charakteristischen Abbildung von Peru typischen Örtlichkeiten, ziert besagtes Anzeigenmotiv der 1980er Jahre einen Hintergrund, der nicht mehr zwangsläufig Peru zuzuordnen ist. Auch die in Abbildung 29 (Firmenmaterial) dargestellten Anzeigenmotive belegen den Trend zur medialen Globalisierung. Im links angeordneten Anzeigenbeispiel verkörpern die Darstellenden die peruanischen Nationalfarben rot und weiß mit ihrer Kleidung, die beim Männermodel durch eine USA typische Jeans und Cowboy-Stiefel ergänzt wurde. Der fürsorglich dargestellte Mann, der seinen Arm um seine Partnerin legt, passte nicht in das Rollenverständnis dieser Zeit. Doch laut Einschätzung meiner Interviewpartnerinnen harmonierte er sehr gut mit der damaligen Wunschvorstellung von peruanischen Frauen über ihre Partner. Die Ehe diente als Institution der Versorgung, doch häufig waren die Ehefrauen auf sich gestellt und mussten im Fa-
254 Eigene Übersetzung: Los, los, los Inca Kola-Geschmack, der Zeit nach ganz Peru bringt, Inca Kola-Zeit.
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Abbildung 29: Globalisierung des Produktdesigns
milienverbund zurückstecken. Laut Schilderung der Befragten trugen in den 1980er Jahren überwiegend Männer im urbanen Kontext eine Armbanduhr. Partys verliefen je nach sozioökonomischen Verhältnissen recht unterschiedlich. Im rechten Anzeigenbeispiel lebt die Symbolik der Kulisse von US-amerikanischen Elementen, wie dem schulterfreien Oberteil bei einer der Frauen, einem Männlichkeit symbolisierenden Schnauzbart bei einem Darsteller, aufwändigen Gürteln sowie gestylten Pony-Föhnfrisuren bei den Darstellerinnen. Die Elemente des Marken-Design hatten sich ebenfalls verändert. Als Produktlogo fungierte fortan ein Kronkorkenverschluss, der als Mittelpunkt zwischen den Worten Inca Kola positioniert war. Auffallend ist die übermäßige Verwendung der Farben gelb und rot, die – laut Farben-Guru Leatrice Eisenman aus den USA – appetitanregend wirken (vgl. Eiseman, 2003: 93). Nach zwanzig Jahren wurde der Produktclaim, der erfolgreich zur Produktnationalisierung beigetragen hatte, ersetzt. Mit „El sabor de la alegría“255 als neuem Slogan versuchte die Firma Lindley eine Verbindung zwischen dem Geschmack und Momenten der Freude zu erzeugen. Doch der zunehmende Terrorismus im Land und die finanzielle Krise ließen die Firma Lindley 1985 wieder zum vorherigen Produktclaim „La bebida del sabor nacional“ zurückkehren. Zur selben Zeit wurde die TV-Kampagne „La Fuerza de lo Nuestro“ ausgestrahlt, was mit unsere Stärke oder Kraft übersetzt werden kann.
255 Eigene Übersetzung: Der Geschmack von Freude.
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Verschiedene Mitglieder der multiethnischen peruanischen Gesellschaft gaben dort ihre Fähigkeiten an ihre Kinder weiter und demonstrierten vielseitige Stärken. So lehrten peruanische Mütter und Väter ihre Kinder in handwerklichen sowie künstlerischen Disziplinen und repräsentierten quasi nebenbei die peruanische(n) Moderne(n). Das musikalisch untermalende Werbelied des TV-Spots besang „Unsere Stärke/Kraft mit Inca Kola“. Die sich verschärfende politische und soziale Situation im Land führte, im weiteren Verlauf der 1980er Jahre, zu einem Absatzeinbruch und in einzelnen Andendepartamentos sogar zum Distributionsausfall. Die Firma Lindley steuerte den gesellschaftlichen Unwegsamkeiten bis dato mit überspitzten Werbekulissen entgegen. Für diese Zeit wählte der damalige Geschäftsführer Johnny Lindley Taboada den versöhnlichen und eher leisen Claim „El sabor que nos une“256 . Mit Anzeigenmotiven aus allen Teilen Perus sollte der Produktkonsum von Inca Kola als Bindeglied verstanden werden. Problematisch war die mangelnde Verfügbarkeit der gelben Brause in den Andengebieten, wodurch die gewünschte Verflechtung praktisch nicht umzusetzen war. Die Rückkopplung der medial vermittelten Kommunikation schlug somit in Teilen des öffentlichen Raums fehl, wodurch eine wechselseitige Repräsentation zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war. Hier zeigt sich deutlich der permanente Aushandlungsprozess des Warenkontexts, der maßgeblich durch ein gemeinsames kulturelles Verständnis innerhalb der hybriden Konsumgemeinschaft beeinflusst wurde. Mit Beginn der neuen Dekade verlagerte sich die Aussage des Produktclaims, wieder zurück zur wörtlich benannten Nationalität (Es nuestra. La bebida del Perú257 ). Auch die Werbespots der 1990er Jahre vereinten typische Elemente, die kulturübergreifend für das Land standen, wie kreolische, weiße und mestizische Darstellende, oder die peruanische Nationalküche. Zwischen der Aneinanderreihung typischer Nationalgerichte wurde im TV-Spot der 1990er Jahre Kampagne „Es nuestra“ immer wieder eine Glasflasche Inca Kola eingeblendet. Die EinwegPlastikflaschen hatten seit ihrer Einführung werbetechnisch eine untergeordnetere Rolle gespielt. Meist waren die zwei oder drei Liter Flaschen im Hintergrund einer Party- oder Familienszene auf dem Tisch platziert. In dem Werbesport der Kampagne „Inca Kola que con todo combina“258 1997 dienten für Fast-Food-Restaurants typische Papierbecher mit Inca Kola-Schriftzug als Requisite. Trotz einer erneuten Claim-Anpassung 1996, wie in Tabelle 17 abzulesen ist, erfolgte weiterhin die Darstellung der Symbiose, zwischen klassisch peruanischen Gerichten und Inca Kola, die Ergänzung durch Einspieler von Burgern fand. Zuvor war die Firma Lindley eine strategische Partnerschaft mit der lokalen Fast-Food-Kette BEMBOS eingegangen und schloss später auch eine Kooperation mit Mc Donald´s. Medial bewarben sich die Unternehmen gegenseitig und konnten dadurch werbetech-
256 Eigene Übersetzung: Der Geschmack, der uns (ver)eint. 257 Eigene Übersetzung: Es ist unsere. Das Getränk Perus. 258 Eigene Übersetzung: Inca Kola, mit allem kombinierbar.
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nische Synergien nutzen. Die inszenierte Mischung, aus verschiedenen Modernen und traditionellen Elementen, erzeugte innerhalb der Konsumgemeinschaft weiterhin den gewünschten nationalen Identifikationseffekt mit dem Produkt. Durch die buy-national-Kampagnen konnte sich die Firma Lindley, im Werbekrieg der 1990er Jahre, noch eine geraume Zeit von der Hauptkonkurrentin The Coca-Cola Company abheben und die Marktführung behaupten (vgl. Holligan, 1998: 3). Dazu trug der zeitgleiche mediale Durchbruch außerhalb Perus bei, der wiederum auf nationaler Ebene medial rezipiert wurde. Neben der Aufnahme in Reiseführern (vgl. Nelles, 1998: 229), berichteten immer mehr internationale Medien, wie z.B. The New York Times 1995, über das peruanische Nationalgetränk: „Russia has its vodka, Germany has its beer, France has its wine, and Peru has Inca Kola a fruity, greenish-yellow carbonated drink that many Peruvians savor almost as much as the British enjoy their afternoon tea.“ (Sims, 1995).
Das Zitat verdeutlicht das Fremdbild des sozialen Stellenwerts von Inca Kola innerhalb Perus. Zugleich ist die gelbe Brause der einzig genannte Markenartikel bei der Aufzählung der Nationalgetränke. Das „Spiel der Echos“, zwischen medialer Repräsentation und urbaner Kommunikation, gelang innerhalb der Produktkommunikation von Inca Kola nicht nur auf regionaler und nationaler Ebene, sondern auch auf globaler (vgl. García Canclini, 1989: 270). Der O-Ton des Peruaners Jaime Ramirez in The New York Times vom 26.12.1995 veranschaulicht die Innensicht eines Mitglieds der Konsumgemeinschaft über das peruanische Nationalgetränk. Ramirez bediente klischeetierte Beispiele nationalisierter Produkte und untermauerte so den nationalen Stellenwert von Inca Kola, wodurch die werbespezifische Distinktionsstrategie zusätzlich medial verstärkt wurde. „Drink something other than Inca Kola, that’s sacrilege you are suggesting. That’s like an Argentine eating beef from Bolivia, or a Brazilian wearing Bermuda shorts to the beach.“ (Sims, 1995).
Laut Jaime Ramirez ist es für Peruanerinnen und Peruaner quasi moralisch verwerflich ein anderes Erfrischungsgetränk als Inca Kola zu konsumieren. Dieser Gefühlsebene bedienten sich auch die Claims von Inca Kola, in deren Verlauf die nationalisierende Symbolik graduell an das gemeinsame kulturelle Verständnis der wachsenden und dadurch heterogener werdenden Konsumgemeinschaft angepasst wurde. Die in Tabelle 17 dargestellte zeitliche Abfolge der Slogans zeigt die jeweilige Aktualität der verbundenen Aussagen im politischen, wirtschaftlichen und globalen Kontext. Bereits der erste Claim, der lediglich aus zwei Buchstaben bestand, forderte die Konsumgemeinschaft auf, Inca Kola in einem Kontext zu denken, in dem alles in Ordnung ist. Diese positive Verbindung ging seit 1936 mit der nationalen Einzigartigkeit in Aussehen und Geschmack, als Unique Selling Proposition (USP), einher (vgl. Kotler u. Bliemel, 1999: 474). Zudem war Lindley das erste Unternehmen, das die nationalisierende Produktkommunikation für sich entdeckte. Erst Jahrzehnte später führte die Supermarktkette Plaza Vea 2009 die Kampagne „Orgullosos de ser peruanos“ (eigene Übersetzung: „Wir sind stolz darauf, Peruaner zu sein.“) ein. Zum Klassiker unter den Produktclaims von Inca Kola sollte sich der
170 Jahr 1935 1936 - 1950 1960 - 1980 1980 - 1985 1985 - 1989 1989 1990 - 1995 1996 - 1999
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Claim Inca Kola ok Solo hay una y no se parece a ninguna La bebida del sabor nacional El sabor de la alegría La bebida del sabor nacional El sabor que nos une Es nuestra. La bebida del Perú Pide bien; que con todo combina
Übersetzung ok Es gibt nur eine und sie ist anders als alle Das Getränk des nationalen Geschmacks Der Geschmack von Freude Das Getränk des nationalen Geschmacks Der Geschmack, der uns vereint Es ist unsere. Das Getränk Perus Verlange sie; gut zu kombinieren
Tabelle 17: Zeitliche Abfolge der Claims von Inca Kola
Satz „La bebida del sabor nacional“, von Johnny Lindley aus dem Jahr 1960 entwickeln. Kein anderen Slogan überdauerte zwanzig Jahre am Stück. Aufgrund seines Erfolgs wurde der Claim Mitte der 1980er Jahre sogar noch einmal eingeführt, weil das Wort Freude (Alegría) nicht den gleichen Nationalisierungsgrad innerhalb der Konsumgemeinschaft erzeugen konnte. Der Geschmack hingegen betonte nicht nur das Alleinstellungsmerkmal des Produktes, sondern er diente gleichzeitig der nationalen Identifikation. Die zeitlich nachfolgenden Produktclaims konstruieren ein einheitliches Gesellschaftsgefüge, das durch die Werbebilder zusätzlich die bestimmende Multiethnizität medial repräsentierte. Dabei schlossen sich Vielfalt und Heterogenität, unter dem Rahmen nationaler Identität, medial nicht aus, wie sich im damaligen Corporate Design von Inca Kola verdeutlicht. Die nationalisierenden Produktclaims der 1990er Jahre unterstützten die Symbiose zwischen dem Produkt und der Nationalküche. Durch die emotionalisierenden Werbebilder gelang es der Firma Lindley auch globale Kooperationspartnerschaften – eher positiv konnotiert – als Modernisierungsagierende in den Aushandlungsprozess des kulturellen Verständnisses der Konsumgemeinschaft zu integrieren. Néstor García Canclini reflektiert den Dekollektivierungs- sowie den Deterritorialisierungsprozess Lateinamerikas, als Verlust des charakterisierenden symbolischen Reglements innerhalb einer Kultur sowie deren geographische Zuordnung. Es ist daher im urbanen Kontext laut García Canclini nicht mehr möglich, in stabilen kulturellen Einheiten zu denken (vgl. García Canclini, 1989: 283), wie es nachfolgend am Beispiel der Zielgruppendiversifikation von Inca Kola und der Produktausweitung auf neue Absatzmärkte zu untersuchen gilt. 5.2 Inca Kola im Dekollektivierungs- und Deterritorialisierungsprozess Perus: Zielgruppendiversifikation & neue Absatzmärkte Inca Kola wurde in den ersten fünf Jahren seit der Produkteinführung, vornehmlich in Lima und von der weißen Oberschicht konsumiert. Im Jahr 1940 zählte die peruanische Hauptstadt 661.508 Einwohnerinnen und Einwohner, die sich zu dieser Zeit dem sozialen Status nach in unterschiedlichen Stadtteilen niederließen und diese entsprechend prägten (vgl. INEI, 1940). Die Bezirke La Victoria und Rímac wa-
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ren von Arbeitern und Angehörenden der unteren Mittelschicht bevölkert, während Santa Beatriz, Lince, Magdalena, San Isidro und Miraflores als neuere Stadtviertel, den wohlhabenderen Bevölkerungsschichten vorbehalten waren (vgl. Borsdorf u. Stadel, 2015: 176). Das mit der Binnenwanderung verbundene Wachstum der urbanen Bevölkerung begünstigte seit den 1950er Jahren auch die kulturelle Hybridisierung der Städte. Kulturen gruppierten sich fortan nicht mehr in fixierten und stabilen Einheiten, wodurch die Möglichkeit innerhalb der eigenen Kultur als gebildet bzw. kultiviert zu gelten, nicht mehr zwangsläufig gegeben war (vgl. García Canclini, 1989: 283). Die symbolischen Güter einer Kultur vermischten sich zunehmend im urbanen Kulturkontext und waren dort ohne eindeutige Hierarchie nebeneinander verfügbar, wodurch verschiedenen Klassen, respektive Bevölkerungsschichten, der Zugang zu den selben Kulturgütern ermöglicht wurde (vgl. ebd.: 284f.). Bildung erreichte nicht mehr nur die Elite, wodurch auch ein Kulturwandel in Gang gesetzt wurde, der seit der 1941 eingeläuteten Markterweiterung die ansteigende Nationalisierungskraft von Inca Kola begünstigte. Bei einer landesweiten Analphabetisierungsrate von 58% in 1940 und von 49% in 1950 (bezogen auf Spanisch) (vgl. Astorga et al., 2004: 32) verzichtete die Firma Lindley bei der Produktkommunikation in dieser Zeit zunächst auf die Textgestaltung der Printanzeige, um Sprachbarrieren im wachsenden Dekollektivierungsprozess zu umgehen. Wie Abbildung 30 (Firmenmaterial) zeigt, stehen in zwei der
Abbildung 30: Textfreier Kommunikationsstil der Produktwerbung
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drei Collagenteile Personen im Vordergrund, die im dritten Teilbild – ebenfalls textfrei – durch ein rural geprägtes Straßenbild, mit den Anden im Hintergrund, ergänzt werden. Gladys Aristia wird im größten der Teilbilder mit nackter Schulter, einem Cholita-Hut bekleidet und mit einer Flasche Inca Kola in der rechten Hand dargestellt. Im zweiten Teilbild ist eine weiße Mutter mit ihrem Inca Kola trinkenden Sohn zu sehen. Die Kleidung sowie der Ehering der Mutter lassen auf ein städtisch geprägtes Umfeld schließen. Die bildliche Interpretationsebene steht im Fokus, was durch die fehlende Erwähnung des Produktclaims noch verstärkt wird. Als weitere Komponente des Dekollektivierungsprozesses lässt sich die Montage etlicher Elemente und Inszenierungen ohne direkte Akteurinnen und Akteure beobachten, die durch Anzeigen, das Radio oder das Fernsehen unmittelbar in alle Häuser gelangen konnten (vgl. García Canclini, 1989: 284). Neue Medien ermöglichten in diesem Zusammenhang unterschiedlichen Kulturen den zeitgleichen Zugang zu symbolischen Produktion, wie beispielsweise durch das gemeinsame Anhören einer Radiosendung inklusive Werbepausen (vgl. Bustamante-Quiroz, 2005: 207 u. Gargurevich Regal, 1995: 46ff.), oder später auch durch das gemeinsame Ansehen von TV-Sendungen. Mit der zunehmenden kulturellen Hybridisierung wandelte sich auch verstärkt das kulturelle Verständnis; von einer Hochkultur der Elite, hin zur hybriden Populärkultur, respektive (industriellen) Massen(medien)kultur (vgl. García Canclini, 1990: 14). Neben der steigenden Medialisierung stellt für García Canclini auch die Architektur ein Element des Dekollektivierungsprozesses kultureller Systeme dar (vgl. García Canclini, 1989: 283). Straßen symbolisieren Stile verschiedener Epochen und konstruieren so kulturelle Hybridität (vgl. ebd.). Zu Beginn des Untersuchungszeitraumes fanden sich in Peru neben traditionellen Quincha-Häusern, auch verschiedene europäische Baustile in den urbanen Stadtzentren. Zeitgleich vergrößerten sich im Urbanisierungsprozess die Wellblechhüten der Slumbewohnenden. Charakteristisch für die hybride peruanische Bauweise im historischen Zentrum Li-
Abbildung 31: Hybride Architektur Limas
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mas waren die holzgeschnitzten Balkone und die zeitgleich bis in den Berg hinein wachsenden Slums der Randbezirke Limas, wie Abbildung 31 (eigene Aufnahmen) zeigt. Diesen Stilmix diskutiert García Canclini als Géneros impuros, was mit unreine Genres übersetzt werden kann, wobei mit unrein ein hybrider Stilmix gemeint ist und das Wort nicht im Sinne von schmutzig, verdreckt, oder unsauber verstanden werden darf. Durch die visuellen Beispiele wird die multitemporale Heterogenität Limas greifbar, die sich auch historisch, geographisch, ethnisch und sozial durch alle Ebenen Perus zieht und dabei kombinierte Prozesse von Modernisierung sichtbar werden lässt. In Bezug auf den darin involvierten steigenden und diversifizierten Konsum zeigt sich dies, beispielsweise in der nationalen Ubiquität von Erfrischungsgetränken, für die keine landesweite Infrastruktur des Handels existierte. Die als modern angesehen Softdrinks hielten Einzug in als vormodern bezeichnete Gebiete, wodurch auch neue Geschäftsmodelle für freie Händlerinnen entstanden, wie Abbildung 32 am Beispiel des Colca-Tals verdeutlicht (eigene, entfremdete Aufnahme).
Abbildung 32: Verkauf von industriellen Erfrischungsgetränken im Colca-Tal Gusseiserne Eimer diente zum Transport der Getränkeflaschen zum Verkaufspunkt. Ferner eignete sich der mit kaltem Wasser gefüllte Eimer auch hervorragend zur Kühlung der Getränke. Die abgebildeten Verkäuferinnen sitzen an einer Weggabelung zweier Schotterwege, die täglich von Pendlerinnen und Pendlern aus dem Colca-Tal genutzt werden. Dabei bestimmt das Angebot in entlegenen Regionen die Nachfrage. Durch die, wenn auch zeitlich und quantitativ begrenzte, Verfügbarkeit konnte ein neuer Personenkreis am Konsum partizipieren. Dieses neue kulturelle
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Das soziale Leben von Inca Kola in hybriden Kulturen
Abbildung 33: Werbeplakat von Inca Kola
Setting, respektive die lokale Realität von Konsum (vgl. Howes, 1996: 5), verdeutlicht die zunehmend hybride Konsumkultur, die neue Märkte und neue Zielgruppen in Peru entstehen und die rurale Bevölkerung zu Konsumierenden von Industrieprodukten werden ließ. Zurückkommend auf Inca Kola lassen sich auch in der Produktwerbung unreine Genres erkennen. Abbildung 33 (eigene Aufnahme259 ) zeigt ein Werbeplakat mit Gladys Arista im modernen Bikini und mit einer neuen Aluminiumdose sowie einer traditionellen Glasflasche Inca Kola in den Händen. Auch die Werbetexte verbinden den Inka Bezug, mit der Assoziation des flüssigen Golds und mit der Lust/Freude den Durst mit dem modernen Erfrischungsgetränk zu stillen. Obwohl, oder auch gerade weil, die rurale Zielgruppe in dieser Anzeige von der Symbolik her nicht angesprochen wurden, entstand laut meiner Interviewpartnerinnen der Wunsch genau so sein zu wollen, wie Gladys Arista. Das Tragen eines Bikinis wurde als monetäre, konsumspezifische und soziale Freiheit empfunden, weil zunächst nicht flächendeckend die Möglichkeit bestand, Bikinis in Peru zu erwerben und ferner auch kaum
259 Ausstellung Museo Neo-Inca IX, Lima 2014.
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die Gelegenheiten sie zu tragen. Dafür fehlten kulturelle Räume sowie ein offenes, gleichberechtigtes Rollenverständnis in den Anden, oder im Amazonasgebiet. Im urbanen Umfeld bestanden verschiedene prozesshafte kulturelle Wertesysteme, die den Rahmen zum Doing cultur260 erweiterten. So stellte die Abkehr von der indigenen Kultur, parallel zur Neuentdeckung einer nach indigenen Mustern markierten Identität, eine urbane Identitätsrealität dar. Eine meiner Interviewpartnerinnen verband als Kind in den 1970er Jahre nur Nachteile und Ausgrenzung mit ihrer Quechua-Kultur. Mit dem Ablegen oder Verstecken der indigenen Identität, erhoffte sie auch der verbundenen Marginalisierung entfliehen zu können. Erst in den 1990er Jahren ging sie zurück nach Cusco und fand durch den Quechua-Schulunterricht ihrer Kinder, einen neuen Zugang zu ihrer Kultur. Bei Binnenmigrantinnen und Binnenmigranten, die in den 1950er Jahren aus den Anden in die urbanen Zentren der Küste kamen, fand hingegen verstärkt eine öffentliche Demonstration der ethnisch Identität statt. Zum Zweck des intrakulturellen Austausches wurden Provinzclubs gegründet, die eine Anlaufstelle für verschiedene indigene Völker bot, um mit den veränderten klimatischen, ernährungs-, konsum- und kleidungsspezifischen Rahmenbedingungen umgehen zu können (vgl. Meentzen, 2005: 43f.). García Canclini bezeichnet diesen Verlust der natürlichen Verbindung der Kultur mit ihren spezifischen geographischen und sozialen Räumen, als Deterritorialisierungsprozess, der zeitgleich bestimmte territorial relative und begrenzte Relokalisierungen alter und neuer symbolischer Produktionen mit sich zog (vgl. García Canclini: 1989: 288). Durch die zunehmende kulturelle Globalisierung lateinamerikanischer Kulturen wird laut García Canclini die Dichotomie zwischen der hegemonialen Kultur und den subalternen Kulturen aufgebrochen. Gewisse Erkenntnisse in Wissen und Gebräuchen von Völkern wurden zunehmend kulturübergreifend in Einklang gebracht (vgl. ebd.: 289), und ferner im weiteren Produktlebenszyklus von Inca Kola marketingtechnisch genutzt. Zum Beispiel wurden in den 1980er Jahren erstmals gezielt sich als indigen identifizierende Personen innerhalb der Produktkommunikation mitgedacht, wie Abbildung 34 zeigt. Bei der Aufnahme handelt es sich um ein abfotografiertes Exponat der Ausstellung Museo Neo-Inca IX, was den Stellenwert dieser Produktkommunikation zusätzlich hervorhebt. Entgegen der hybrid-indigenen Interpretation von Gladys Arista, handelt es sich in Abbildung 34 um ein tatsächliches Quechua-Mitglied in original Tracht. Mit García Canclini argumentierend zeigt sich die multitemporale Heterogenität durch die Demonstration von Staatsbürgerschaft in Form des modernen Konsums. Tatsächlich handelte es sich nicht lediglich um ein Einzelphänomen, das die Firma Lindley strategisch innerhalb der Produktkommunikation einsetzte, um per Bildsprache ihren Verdienst bei der Konstruktion nationaler Identität einzufordern. In den 1990er Jahren wurde die gelbe Brause auch verstärkt im Andenhochland
260 Siehe ausführlich: Hörning u. Reuter, 2004.
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Das soziale Leben von Inca Kola in hybriden Kulturen
Abbildung 34: Indigene Zielgruppe
konsumiert, wie mir die Marktverkäuferinnen und Marktverkäufer in Cuzco berichteten. Für sie stand beim Kauf zunächst der Geschmack im Vordergrund, doch ganz abzustreiten sei die nationale Bedeutung von Inca Kola nicht. Sie seien stolz auf das Produkt und auch darauf, dass man in einem Punkt mal mächtiger sei als die USA, auch wenn es „nur“ um ein Getränk ginge (siehe Abbildung 35, eigene, verfremdete Aufnahme). Doch die zunehmende wirtschaftliche Globalisierung erhöhte in den 1990er Jahren zunehmen den Druck auf die Firma Lindley, die sich im Konkurrenzkampf neu positionieren musste. Partnerschaften mit den Fastfoodketten McDonald’s und BEMBOS sollten neue Konsumierende involvieren. Erstmals seit dem Launch von Inca Kola erfolgte 1996, mit der Produkteinführung von Inca Kola diet, eine Produktdifferenzierung. Der damalige Produktclaim „El gusto de cuidarse“ wäre mit „Das Vergnügen auf sich zu achten“ oder mit „Der Geschmack für sich zu sorgen“ zu übersetzen. So sollte eine Körper bewusste Zielgruppe angesprochen werden, für die sich seit Mitte der 1990er Jahre ein neuer Markt in Peru entwickelte. Abbildung 36 (eigene Aufnahme, Ausstellung Museo Neo-Inca IX, Lima 2014) zeigt ein Werbeplakat der kalorienreduzierten Brause. Die innovative Werbetechnik fokussierte analog zum Produkt die Farbe gelb. Das abgebildete Model ist durchtrainiert und sitzt in einer meditierenden Körperhaltung in einer Kulisse aus Steinen. Der puristische Hintergrund kann als Anspielung auf den niedrigen kalorischen Wert von Inca Kola diet gedeutet werden. Durch den Boom der peruanischen Nationalküche wurden in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre TV-Spots mit Inca Kola an der Seite von Nationalgerichten produziert. Die urbane Werbung war demnach zunehmend auch durch eine Dekol-
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Abbildung 35: Mittagspause an einem Verkaufsstand auf dem Markt in Cusco lektivierung kultureller Systeme und ferner unreine Genres gekennzeichnet. Alleine durch den Konsum der gelben Brause schien eine gewisse nationalisierende Kraft auf die Konsumierenden abzufärben, wie auch das nachfolgende Zitat eines Peruaners aus dem Artikel „Lima Journal; Peru’s Pride That Refreshes: Kola of a Local Color“ in The New York Times verdeutlicht. „Drink something other than Inca Kola - that’s sacrilege you are suggesting [...]. That’s like an Argentine eating beef from Bolivia, or a Brazilian wearing Bermuda shorts to the beach. [...] I drink it because it makes me feel Peruvian.“ (Sims, 1995).
Den nationalen Stellenwert von Inca Kola innerhalb der Konsumgemeinschaft aufzeigend, schließt das Zitat den Konsum globaler Konkurrenzmarken zugleich moralisch aus, weil hier nicht das Gefühl vermittelt wird peruanisch zu sein. Die Firma Lindley lieferte sich schließlich einen regelrechten Werbekrieg mit The Coca-Cola Company, den sie zunächst für sich entscheiden konnte. Fortan versuchte die Marke Inca Kola die kosmopolitische Stadt Lima für sich einzunehmen und eroberte Teile des öffentlichen Raums (siehe Abbildung 37, eigene Aufnahme). Emotional weit entfernt, aber räumlich zeitgleich Begann der finanzielle Abstieg der Firma Lindley, der sie letztlich zum Teilverkauf der Markenrechte von Inca Kola an die Hauptkonkurrentin The Coca-Cola Company zwang. Noch drei Monate vorher war der internationalen Presse zu entnehmen: „Lindley has dissmissed rumours that Coca-Cola was interested in buying Inca Kola, asserting that the brand is not for sale.“ (Holligan, 1998: 3).
Doch die nationale Marke wurde tatsächlich 1999 außerhalb Perus, an die Hauptkonkurrentin verkauft und damit in ihrem monetären Wert fixiert, was laut Aussage der interviewten Peruanerinnen und Peruaner moralisch gesehen unmöglich sei, da sie unbezahlbar ist. Die Deterritorialisierung verwischt zwischen authentischer
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Abbildung 36: Anzeigenmotiv von Inca Kola Diet
Kultur und konstruierter Nationalisierung. Dies zeigt die Diskrepanz zwischen der medial stilisierten, nationalisierten Werberomantik und der diametral gegenüberstehenden finanziellen Wirklichkeit. Gleichzeitig werden die Machtunterschiede so offensichtlich, die es nachfolgend multidimensional zu analysieren gilt. 5.3 Der Einfluss indirekter Machtverhältnisse auf Inca Kola im Globalisierungskontext Macht wird laut García Canclini nicht automatisch politisch, sondern vielmehr indirekt gesteuert, wodurch ein Perspektivwechsel zur Sichtbarmachung der Machtnetzwerke erforderlich ist (vgl. García Canclini 1995b: 259). Bezogen auf Peru lassen sich anhand der Analysen der vorangegangen Kapitel, neben den Staatspräsidenten und politischen Regierungen, auch das Militär, politische Parteien, Wahlbündnisse, subversive Guerilla-Organisationen, Intellektuelle, Großgrundbesitzende, ausländische Investoren, der IWF, Gewerkschaften, indigene Vereinigungen, nationale wie globale (Massen)-Medien, die Doce Apostoles der Wirtschaft und ferner auch die peruanische Nationalküche als Machtakteurin und -akteur im Untersuchungszeitraum identifizieren. Diese sind im zunehmenden Hybridisierungsprozess alle miteinander verwoben und bedürfen daher einer multidimensionalen Analyse, um
Der Einfluss indirekter Machtverhältnisse
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Abbildung 37: Außenwerbung in Lima
den Einfluss ihrer indirekten Machtverhältnisse auf Inca Kola ableiten zu können. Dabei ist es unabdingbar Macht nicht ausschließlich als innehabende Stellung anzusehen. Vielmehr müssen auch die Funktionen Kraft, Gewalt, Herrschaft, Stärke, Autorität, Energie und Einfluss mitgedacht werden. Eine visuelle Darstellung der Machtstrukturen ist insofern eindimensional nicht möglich. Alle Akteurinnen und Akteure befinden sich ständig im multidimensionalen Machtprozess untereinander, wodurch sich die Hierarchien ständig verändern und einzelne politisch, wirtschaftlich und/oder kulturell Agierende gleichzeitig einen Machtkampf gewonnen und einen anderen verloren haben konnten. Ausgehend vom Unternehmen fußte dessen wirtschaftliche und technische Modernisierung auch auf Kontakten in die alte Heimat, die es 1918 ermöglichten eine semiautomatische Abfüllanlagen aus Großbritannien zu beziehen (vgl. Abbildung 38, eigene Aufnahme). Fortan bedurfte lediglich noch das Einsetzen der Glasflaschen manueller Unterstützung. Der automatische Befüllvorgang setzte 15 Einheiten pro Minuten um. Während dieser Zeit unterstützte die damalige Regierung unter Staatspräsident José Pardo y Barreda nationale Industrieunternehmen, um die durch den Wegfall der Exportmärkte im Ersten Weltkrieg geschwächte Binnenwirtschaft anzukurbeln (vgl. Basadre Grohmann, 2005: 252f.). Auch eine finanzielle Entrepreneurhilfe der Stadt Lima trug zum Unternehmenswachstum der Firma Lindley bei. Durch die politischen Machthaber erhielt das Familienunternehmen mit Steuervergünstigungen, oder der Importsubstitution seit den 1940er Jahren, indirekte wie direkte Unterstützung.
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Das soziale Leben von Inca Kola in hybriden Kulturen
Abbildung 38: Semiautomatische Abfüllanlage
Branchenkontakte, die sich zu Franchise-Partnerschaften ausdehnen ließen, ermöglichten seit 1941 die nationale Expansion der gelben Brause. Dieser Schritt kann als Grundstein der Konkurrenzfähigkeit gelten, vor allem in Bezug auf die Hauptkonkurrenz durch Coca-Cola, die 1936 in Peru eingeführt wurde. Kein anderes industriell hergestellte Erfrischungsgetränk konnte die Vormachtstellung von Inca Kola auf dem peruanischen Getränkemarkt, der im südamerikanischen Vergleich eher klein war, angreifen (vgl. Holligan, 1998: 3). Isaac Lindley, der neue Geschäftsführer seit 1945, verlagerte die finanzielle Abhängigkeit der Familie, auf zwanzig verschiedene Firmenbeteiligungen im vor- und nachgelagerten Bereich, wie beispielsweise im Vertriebs- und Transportbereich, oder innerhalb der Immobilienbranche. Auch strategische Allianzen im aufstrebenden Mediensektor zählten zum Machtrepertoire der Lindleys. Als Hauptgesellschafter war Isaac Lindley Ende der 1950er Jahre, an der Seite des peruanischen Unternehmers Genaro Delgado Parker261 , federführend an der Gründung des privaten TV-Senders Canal 13 Panamericana Televisión S.A. beteiligt. Ausländischer Hauptinvestor war das niederländische Elektrounternehmen Philips. Isaac Lindley nutzte die neu entstandenen Kontakte ins Fernsehgeschäft und entwickelte Leitlinien für Produktwerbung, die zunächst Anwendung während der Sendezeit der Kul-
261 Mitglieder der Doce Apóstoles (vgl. Pease García u. Romero Sommer, 2013: 309).
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tursendung Limeñísima fanden, zu deren Hauptsponsorin die Firma Lindley zählte (siehe Abbildung 23 unten links, eigene Aufnahme). Isaacs Sohn Johnny beteiligte sich 1963 – neben den Delgado Parker Brüdern Manuel und Hector – bei der Gründung von Radio Programas del Perú (RPP). Im gleichen Jahr erhielt der TV Sender Canal 13 Panamericana Televisión S.A. die eigentlich dem Staat zugewiesene Frequenz Canal 5, woraufhin eine öffentliche Diskussion in Gang gesetzt wurde, die den damaligen Übergangspräsidenten General Nicolás Lindley, der Begünstigung seines Bruders Isaac beschuldigte (vgl. Caceres Calderon, 2006: 58). Diesen medialen Skandal schien die Firma Lindley durch massive Radio und TV-Werbung entschärfen zu wollen und professionalisierte die Anzeigengestaltung in den 1960er Jahren. Der kulturelle und nationale Bezug der Produktkommunikation stärkte vorerst die Identitätswirkung der weißen Oberschicht und markierte einen Meilenstein für die Verkaufszahlen von Inca Kola. In Limas damaligem vorzeige 4-Sterne Hotel Crillón stand 1962 erstmals Inca Kola als Getränk zu den Mittagsmenüs auf der Speisekarte. Zudem wurde die gelbe Brause im Hotel als Erfrischungsgetränk verkauft (vgl. Salazar Corvetto, 2006: 101). Die Auswahl dieses Kooperationspartners verdeutlicht den Wunsch des Unternehmens, nach einer kaufkräftigen und somit eine gewisse Macht innehabenden Zielgruppe, die sich einen Aufenthalt, oder ein Mittagessen, in der hohen Preisklasse leisten konnte. Die mediale Symbolik der Produktkommunikation dieser Zeit bediente eine Elite-spezifische Kulisse, beispielsweise bei der Ausstattung der Wohnung, oder bei der Kleidung der Models. Während der ersten Phase der Militärregierung sah sich die Firma Lindley, durch die Beschränkung der Produktionskapazität, mit einer Beschneidung der unternehmerischen Machtposition konfrontiert. Durch die wirtschaftliche Fokussierung auf die Binnenwirtschaft und eine importsubstituierende Industrialisierung wurde die Produktion von Inca Kola zwar begünstigt, doch die Expansion neuer Märkte stagnierte. Das Fernsehen wurde von der militärischen Staatsmacht als Bildungsmedium für Programme der sogenannten Teleducación genutzt. Das ehemalige Hauptkommunikationsmittel zwischen der Firma Lindley und ihren Konsumentinnen und Konsumenten unterlag staatlicher Eingriffe, wodurch die Sendezeiten – vor allem ausländischer TV-Produktionen – stark eingeschränkt wurde. Die Produktkommunikation von Inca Kola konzentrierte sich fortan auf die Außenwerbung. An den Gefühlsprotektionismus appellierend führte die Firma Lindley 1970 eine Plakatund Printkampagne ein, die ineinander rotierende Zahnräder und folgenden Text zeigte: „Si todos apoyamos con patriótico orgullo a la Industria Nacional, lo nuestor siempre será primero.“262 (Werbeplakat, Firma Lindley).
262 Eigene Übersetzung: Wenn alle die nationale Industrie mit patriotischem Stolz unterstützen, wird unsere immer die Erste sein.
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Der Schriftzug „Lo nuesto está primero“ fand durch das Produktlogo sowie den nationalisierten Produktclaim Ergänzung. In ihrer Symbolik verbindet die Anzeige die Firma Lindley, als fortschrittliches Industrieunternehmen Perus, mit einem funktionierenden Zahnrad im System der Militärregierung. Gleichzeitig kann der Text dieser Buy-national-Kampagne auf der Produktebene als Abgrenzungsversuch zu globalen Konkurrenzmarken verstanden werden. Die Macht der Militärregierung konzentrierte sich auf strukturverbessernde Reformen und nahm, für eine vermeintlich gerechtere Verteilung des Bodens, Enteignungen in Kauf, die sich auch auf Industriestätten ausweiteten, um Peru langfristig von der Auslandsabhängigkeit zu entkoppeln. Doch der erstmalige politische Machtanspruch des Militärs verfehlte seine Wirkung, wodurch 1979 der Weg zurück zur Demokratie geebnet wurde. Für die Firma Lindley bedeuteten die neue politischen Machtverhältnisse, eine wiedergewonnene, selbstbestimmte Produktionsauslastung, ohne staatliche Interventionen. Doch in der sogenannten verloren Dekade 263 der 1980er Jahre ging der Absatz von Inca Kola – nach der Währungsumstellung auf den Inti 1985 – zurück, was nicht alleine mit der Lage der inneren Sicherheit zu erklären ist. Laut Unternehmensaussagen alterte der Löwenanteil der Zielgruppe(n) seit den 1980er Jahren durchschnittlich in schnellerem Maße, als die junge, finanzkräftige Zielgruppe der 12–24 Jährigen, aus der Oberschicht, nachhaltig für Inca Kola gewonnen werden konnte. Ausschlaggebend war hier, der fehlende Bezug zu den Anfängen der Ikonisierung der gelben Brause in den 1960er Jahre. Identitätsstiftende Testimonials – wie Gladys Arista oder César Altamirano – fehlten, wodurch der Umbruch der Werbekonzeption innerhalb der Zielgruppe(n) noch nicht in der Form angekommen war, die von der Firma Lindley intendiert wurde. Um das Rezeptionsergebnis zu optimieren, kehrte das Unternehmen zum vorherigen Produktclaim „La bebida del sabor nacional“ zurück und führte die TV-Kampagne „La Fuerza de lo Nuestro“264 ein. Entgegen der an US-amerikanisch angelehnte Ideale der Printkampagnen (siehe Abbildung 29, Firmenmaterial), vereinte die Werbesymbolik des TV-Spots einen afroamerikanischen Jungen, mit Mestizen ohne vermeintliche Modelmaße und weiteren Mitgliedern der multiethnischen peruanischen Gesellschaft. Die Vernetzung der Machtstrukturen involvierte in den 1980er Jahren auch die konkurrierenden Guerillagruppen Sendero Luminoso und Movimiento Revolucionario de Túpac Amaru. Die in Lima nicht nur geographisch weit entfernte politische Machtebene reagierte zunächst kaum, auf die zunehmenden subversiven Eingriffen in der Sierra. Der damalige Staatspräsident Belaúnde Terry ließ das Militär intervenieren und rief Ende 1982 in einigen Gebieten den Notstand aus, wodurch einzelne Paragraphen der Verfassung außer Kraft gesetzt wurden (vgl. Aranda et al., 2009: 108). Durch die verbundene Unsicherheit der Unruhen zogen sich die aus-
263 Im Original: „lost decade“ (Singh, 1999: 12). 264 Eigene Übersetzung: Unsere Stärke/Kraft.
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ländischen Geldgebenden zurück und verloren daher an wirtschaftlichem Einfluss. Doch inländischen Unternehmen fehlte meist Kapital, oder sie transferierten kleine Gewinne, aufgrund der kritischen politischen Lage, bevorzugt ins Ausland. Demzufolge musste der Staat immer mehr Ausgleichszahlungen leisten. Die Regierung erhöhte die Geldmenge und nahm verstärkt Kredite auf, wodurch sich die Auslandsverschuldung in den Jahren 1982 und 1984 von 11,34 Milliarden auf 13,3 Milliarden US-Dollar vergrößerte (Banco Central de Reserva del Perú, 1984: 56, Cuardo 29). Ohne Waffen und Gewalt kam seit den 1980er Jahren die peruanische Nationalküche als neue Machtakteurin dazu. In Person der Starköche Gastón Acurio oder Virgilio Martínez Véliz fand eine Rückbesinnung auf den kulinarischen Nationalstolz statt, der die Vielfalt des Landes betont und nicht zu homogenisieren versucht. In Restaurants wurden verstärkt regionale Gerichte aus allen Landesteilen angeboten, wie die Speisekarte in Abbildung 39 (eigene Aufnahme) verdeutlicht.
Abbildung 39: Speisekarte mit Gerichten aller Landesteile In diesem Kontext erhielt auch Inca Kola als peruanisches Nationalgetränk neuen Aufwind und wurde zunehmen im Ausland rezipiert265 . Diese mediale Aufmerksamkeit darf allerdings weiterhin nicht darüber hinwegtäuschen, dass das wirtschaftliche Gut Inca Kola vorrangig als urbanes Nationalgetränk zu bezeichnen wäre. Industrielle Erfrischungsgetränke galten weiterhin – nachweislich auch noch zum Ende des Untersuchungszeitraums – nicht als Gut des alltäglichen Bedarfs der ruralen Bevölkerung. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den urbanen und ruralen Regionen Perus spiegeln sich auch in den Zahlen zur Armutslage der
265 Beispielsweise in Reiseführern oder Zeitungsartikeln (vgl.: Nelles Guide Peru, 1998: 229 u. Siems, 1995).
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Das soziale Leben von Inca Kola in hybriden Kulturen
Bevölkerung wider. Am verhältnismäßig geringsten war der prozentuale Anteil der armen Bevölkerung in Lima. Die Daten entwickelten sich von 1985 über 1994 bis 1997 von 27,4% ansteigend auf 42,4% und rückläufig auf 25% (vgl. Abusada-Salah u. Cusato-Novelli, 2007: 7). Institutionalisierte Armutbekämpfung fand de facto in ruralen Küstengebieten nicht statt. Galt 1985 exakt die Hälfte in dieser Region als arm, waren es 1997 fast gleichkommende 51,5% (vgl. ebd.). Im selben Zeitraum sank der Anteil der armen Bevölkerung in urbanen Küstengebieten von 44,2% auf 27,4% (vgl. ebd.). In ruralen Gebieten der Selva-Region war der Anteil der armen Bevölkerung mit 68% am größten, sank bis 1994 nur gering auf 64,9% der Bevölkerung und 1997 weiter auf 55,1% (vgl. ebd.). In den urbanen Gebieten dieser Region sank die Zahl zwischen 1985 und 1997 von 48,2% auf 36,6%. (vgl.ebd.). Während in der ruralen Sierra-Region 1991 noch 72,6% der Bevölkerung als arm galten, hatte sich die Anzahl 1994 auf 64,7% verringert (vgl. ebd.). In der urbanen Sierra-Region entwickelten sich die Werte zwischen 1991 und 1994 von 52,7% auf 51,6% (vgl. ebd.). In den ländlichen Gebieten kam die Erholung, als das Pro-KopfBIP zwischen 1994 und 1997 um 26% stieg, nicht an, wodurch sich das nationale Wirtschaftswachstum nicht nachhaltig auf die Armutssituation der ruralen Bevölkerung auswirkte (vgl. ebd.: 8) Machtspiele zwischen dem IWF und dem damaligen Staatspräsidenten Alan García-Perez verschärften die Wirtschaftskrise in Peru, die durch den praktizierten Küsten-Zentralismus die Unterschiede zur Sierra und Selva noch begünstigte. Die sich den staatlichen Machtstrukturen freiwillig unterwerfende indigene Bevölkerung aus Sierra und Selva unterlag, nach der Binnenwanderung an die Costa, neuen gesellschaftlichen Mustern. Dort galt es als neue Konsumgemeinschaft eine zusätzliche Machtposition einzunehmen und dadurch die spezifische Staatsbürgerschaft neu zu denken und sich eventuell auch als politische Machtagierende zu verstehen. Mit der Macht der Wahlstimmen wurden Regierungsparteien bei demokratischen Folgewahlen im Untersuchungszeitraum generell abgestraft und erhielten meist den geringsten Stimmenanteil. Neu im Amt hoben Regierungen die zuvor eingeführten Gesetze in summa wieder auf, was zu der immensen politischen Instabilität des Landes beitrug. Die verbundenen wirtschaftlichen Schwankungen sowie die Lage der inneren Sicherheit wirkten sich wiederum negativ auf die Verkaufszahlen von Inca Kola aus. Die finanzielle Macht ausländischer Investorinnen und Investoren, konkret The Coca-Cola Company, führte Ende der 1990er Jahre zum Verkauf der Markenrechte von Inca Kola außerhalb Perus. Gleichzeitig ermöglichte dieser augenscheinliche Machtverlust der Firma Lindley auch den Einstieg eins der größten Abfüllunternehmen Perus zu werden. Festzuhalten ist vor allem, dass Macht und alle mit ihr verbundenen Effekte, nicht eindimensional als gut oder schlecht zu bewerten sind. Vielmehr muss die Prozesshaftigkeit von Macht als solche verstanden werden.
Zwischenfazit
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5.4 ZWISCHENFAZIT Die vorangegangene Untersuchung des kulturgeschichtlichen Prozesses im Moderne(n)kontext Perus hat drei wesentliche Aspekt zur Teilhabe von Inca Kola als mediale Akteurin nationaler Identität in hybriden Kulturen hervorgebracht: Erstens: Ausgehend vom sozialen Leben des Produktes ermöglichte der Kommunikationswandel, vom öffentlichen Raum zur Telepartizipation, eine neue Verhandlungsebene von Zugehörigkeit und Identifizierung. Auf dieser Basis formte die nationalisierte Produktkommunikation, einhergehend mit der landesweiten Marktund Zielgruppenerweiterung von Inca Kola, eine medial konstruierte Form hybrider nationaler Identität. Markante Orte Perus dienten ebenso der Rückbesinnung auf Nationalstolz, wie die konstruierte Symbiose zur peruanischen Nationalküche. Wesentlicher Bestandteil war zudem die Werbung mit Testimonials. Der Entwicklungsprozess von Inca Kola begann 1935 als Getränk der wohlhabenden weißen Elite in Lima und etwas zeitversetzt auch der urbanen Küstenbevölkerung. Im voranschreitenden Modernisierungsprozess Perus inszenierte die Firma Lindley, durch die Marketingmaßnahmen von Inca Kola seit den 1960er Jahre, eine Verbindung zwischen dem indigenen Erbe Perus und dem neuen, von Mestizen geprägten, fortschrittlichen Peru. Zweitens: Im soziokulturellen Entwicklungsprozess wandelten sich die kulturellen Selbst- und Fremdzuschreibung der Bevölkerung, was im im urbanen Kontext mit einer Entindigenisierung einherging. Wirtschaftliche Ziele fokussierend, stand der kulturelle Bezug im zunehmenden Dekollektivierungsprozess hintenan. Im Re-Deterritorialisierungsprozess erfuhr die kulturelle Identifizierung eine hybride Ebene, die den traditionellen Kulturbezug mit Elementen des urbanen Kontextes kombinierte. Die Firma Lindley nutzte weiterhin den Bezug zu Inka-Symbolen und repräsentierte eine stilisierte Vergangenheit, kombiniert mit einer städtischen MestizenIdentität, die die rurale Identität jedoch aufgrund der geringen Kaufkraft vor Ort außer Acht ließ. Drittens: Die vorherrschenden komplexen Machtverhältnisse in Peru lassen sich nicht aus dem Blickwinkel vertikaler Handlungen untersuchen. Die multidimensionale Analyse hat neben den Staatspräsidenten und politischen Regierungen auch das Militär, politische Parteien, Wahlbündnisse, subversive Guerilla-Organisationen, Intellektuelle, Großgrundbesitzende, ausländische Investorinnen und Investoren, den IWF, Gewerkschaften, indigene Vereinigungen, nationale wie globale (Massen)Medien, die Doce Apostoles der Wirtschaft und ferner auch die peruanische Nationalküche als Machtakteurinnen und -akteure identifiziert. Diese sind im zunehmenden Hybridisierungsprozess alle miteinander verwoben und wirkten so – bewusst und unbewusst – auf den Erfolg von Inca Kola ein. Dem konzeptionellen Kontext, mit den Kriterien Symbolik, Klassifikation und Moral, kam im Konkurrenzkampf dabei die zunächst US-kritische Haltung innerhalb der Gesellschaft entgegen und begünstigte den Absatz von Inca Kola. Neben der nationalisierten Produktkommunikation dürfen die vorherrschenden ökonomi-
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Das soziale Leben von Inca Kola in hybriden Kulturen
schen Realitäten in Peru nicht außer Acht gelassen werden. Einkommensschwache Peruanerinnen und Peruaner waren gezwungen auf preiswertere lokale Erfrischungsgetränke auszuweichen, wie beispielsweise Kola Real. Festzuhalten gilt es daher, dass es sich fernab der nationalisierten Romantik um ein wirtschaftliches Gut handelte und noch immer handelt, das von wirtschaftlichem Erfolg abhängig war und ist.
RESÜMEE: INCA KOLA ALS PERUANISCHE KULTURGESCHICHTE Die Wechselwirkungen von politisch forciertem Nationalismus und kultureller wie ökonomischer Globalisierung bestimmten massiv das Entwicklungspotential der peruanischen Bevölkerung im 20. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund der Erosion des politischen Parteiensystems, der Machtbeanspruchung durch das Militär und dem Machtgewinn staatsferner Gewalt, äußerte sich der De-Institutionalisierungsprozess des peruanischen Nationalstaates, auch durch die Ingangsetzung neuer gesellschaftlicher Machtstrukturen. Intellektuelle fungierten als Sprachrohr der Unterschicht und forderten eine Rückbesinnung auf das indigene Erbe Perus. Laut Marxist José C. Mariátegui schien die gleichberechtigte sozioökonomische Teilhabe durch eine revolutionäre Neuordnung möglich, doch anders als in Mexiko mangelte es in Peru an massentauglicher Unterstützung, um das vorherrschende politische System umstürzen zu können. Die peruanische Bevölkerung musste sich für ein Leben in Hybridisierung, oder in Krieg entscheiden, wie García Canclini es bereits für die mexikanische Bevölkerung analysierte266 (García Canclini, 2001a: 20). Die erstgenannte Variante ging in weiten Teilen des Untersuchungszeitraumes zwangsläufig mit der Marginalisierung der indigenen Bevölkerung einher. Existierende Gesetze zur Anerkennung indigener Dorfgemeinschaften standen, was die Umsetzung und ihre Einhaltung anging, im staatlicherseits fokussierten Modernisierungsprozess hinten an. Dabei versuchten die politischen Machthaber europäische Modernisierungstheorien zu adaptieren, oder die in Lateinamerika entwickelte Dependenztheorie anzuwenden. Doch der wirtschaftliche Fortschritt kam nicht bei der breiten Massen der Bevölkerung an. Fehlende oder zu kurz greifende Sozialreformen lösten die Probleme der Arbeitslosigkeit und der Massenarmut nicht. Auf der Suche nach verbesserten Lebensbedingungen zog es die vorwiegend indigene Hochlandbevölkerung an die Küste. Das Aufbrechen des hierarchischen Kulturverbundes, im zunehmenden Dekollektivierungs- und Deterritorialisierungsprozess Perus, bedingte gleichzeitig einen urbanen Entindigenisierungsprozess, wodurch eine territoriale und monolinguistische Identitätsdefinition obsolet wurde. Außerhalb der ethnisch-identitären Lebenswelt entstand so (un)bewusst ein ständiger Selektionsprozess von Identifizierungskategorien. Zugleich scheiterten staatlich vorgegebene Identitätskonzepte, die stets eine Homogenisierung der Ethnien
266 Im Original: „Podemos elegir vivir en estado de guerra o en estado de hibridación.“ (García Canclini, 2001a: 20).
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Resümee: Schlussfolgerung und Ausblick
intendierten und die Vielfalt peruanischer Kulturen als Hinderungsgrund des wirtschaftlichen Fortschritts ansahen. Durch die chronologische Vorgehensweise innerhalb der systematischen Gliederung konnte der Entwicklungsprozess nationaler Identität im Modernisierungsund Globalisierungskontext in der vorliegenden Arbeit multidimensional aufgezeigt werden. Zudem wurden die Funktionen der peruanisierten Produktkommunikation von und über Inca Kola in Bezug gesetzt. Im Forschungssetting ausgehen von der Produktentwicklung seit 1928, und der Markteinführung von Inca Kola 1935, markierte die konstruierte Symbiose zwischen Peru und der gelben Brause einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung der Marke seit 1948. Einhergehend mit der Erschließung landesweiter Märkte zwischen 1941 und 1972 wurde Inca Kola auch außerhalb der urbanen Zentren bekannt. Doch laut empirischer Daten zur Reallohn- und Kaufkraftentwicklung war der Konsum des industriell hergestellten Erfrischungsgetränks, aufgrund der durchschnittlich verfügbaren monetären Mittel der Bevölkerung, zunächst der (weißen) Limeño-Elite vorbehalten. Demzufolge kann zu dieser Zeit noch nicht von einem homogenen Nationalgetränk gesprochen werden. Auf dem Weg zum nationalen Identitätssymbol erhielt Inca Kola Schützenhilfe von der peruanischen Nationalküche, von Regierungen – durch deren wirtschaftliche Fokussierung auf eine importsubstituierende Industrialisierung – und von den zunehmend an Einfluss gewinnenden Massenmedien. Ausgehend von dem im ersten Analyseschritt identifizierten Unvermögen der verschiedenen politischen und militärischen Regierungen, einen souveränen und funktionierenden Staatsapparat zu institutionalisieren, der auch einen nationalen Bezugsrahmen vermitteln konnte, nahmen die Intellektuellen des Landes, die APRA, die peruanische Nationalküche sowie nationale und globale (Massen)Medien die vorhandene Lücke der Akteurinnen und Akteure peruanischer Identitätsbildung ein. Massive Unterschiede zwischen Sierra, Selva und Costa erzeugten Sehnsüchte und Wünsche und bedingten – durch die Binnenmigration – das Voranschreiten des Urbanisierungsprozesses. Verschiedene Kulturen trafen vor allem in den wachsenden Städten aufeinander, die als kulturelle Überschneidungspunkte fungierten und den kulturellen Hybridisierungsprozess prägten. Neue Klassen entstanden, die ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit zunehmend über ihren Besitz und ihren Konsum – verstanden als Aushandlungsprozess von Staatsbürgerschaft – definierten (vgl. García Canclini, 1995: 13). Gleichzeitig war die ethnische Herkunft nicht mehr ausschlaggebend für die sozioökonomische Teilhabe, wie ein weiterer Analyseschritt mit der Darlegung der Interdependenzen von Identität und Konsum aufzeigte. Die herausgearbeiteten Konsumkulturen konkretisieren die multitemporale Heterogenität moderner Kulturen in Peru. Vormoderne, Moderne und Post-Moderne existierten in der Sierra, der Selva und der Costa zeitgleich nebeneinander, wodurch auch der Identitätsprozess von traditionellen, modernen und hybriden Einflüssen gestaltet wurde.
Inca Kola als peruanische Kulturgeschichte
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Diesem Konglomerat bediente sich auch die Firma Lindley bei der visuellen Gestaltung der Produktkommunikation von Inca Kola. In einer modernen Interpretation der indigenen Tracht, oder im bunten Bikini am Strand, warb Testimonial Gladys Arista für die gelbe Brause und suggerierte im Moderne(n)kontext einen kulturellen Bezug zum Volk der Inka. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die rurale indigene Bevölkerung, die in entlegenen Regionen auch dem geldlosen Tauschhandel nachging, aufgrund ihrer fehlenden monetären Möglichkeiten bei der Zielgruppenansprache lange Zeit nicht mitgedacht wurde. Festmachen lassen sich die vielschichtigen Konsumkulturen auch in der spezifischen Zuschreibung von Lebensmitteln, die als kultureller Raum der Identitätsbildung verstanden werden können. Erst durch die Küchenrevolution von unten veränderte sich die Bedeutung genuin indigener Lebensmittel in ganz Peru. Was vormals als obskures Arme-Leute-Essen betrachtet wurde, wandelte sich zu einem wesentlichen Teil der Nationalküche Perus, die unlängst als beste Küche Lateinamerikas ausgezeichnet wurde (vgl. Altamirano, 2016). Bis in die 1960er Jahre standen einzelne Gerichte und Lebensmittel stellvertretend für Landesteile oder Regionen, wie Ceviche für die Küste, oder Cuy für die Anden. Seit den 1980er Jahren prägen zunehmend Gerichte die peruanische Küche, die Zutaten aus Sierra, Selva und Costa kombinieren. Die Untersuchung der Nationalküche in dieser Arbeit hat ergeben, dass die Küchenrevolution – fernab politischer Machthabender – einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess in Gang gesetzt und so eine Rückbesinnung auf den Nationalstolz der peruanischen Bevölkerung ermöglicht hat. Durch Starköche wie Gastón Acurio oder Virgilio Martínez Véliz gelang zunächst eine kulinarische Völkerverständigung, die sich im laufenden Prozess auch auf die ethnische Ebene übertrug und sogar neue wirtschaftliche Verbindungen zwischen Sierra und Selva mit der Costa auf den Weg brachte. Durch die von Firmenseite her konstruierte Symbiose der peruanischen Nationalküche und Inca Kola erweiterte sich in dieser Phase auch die Konsumgemeinschaft der gelben Brause, was in den 1990er jedoch zu einem ungewollten matronenhaften Markenimage führte. Obwohl werbetechnisch eine gänzlich andere Markenidentität von Inca Kola konstruiert wurde, assoziierte die Konsumgemeinschaft sie überwiegend mit einer unsympathischen, dicken Frau, Mitte vierzig (vgl. Holligan, 1998: 3). In Folge dessen diversifizierte die Firma Lindley ihre Zielgruppenansprache, gestaltete die Produktkommunikation jünger und professionalisierte das Marketing. In einem weiteren Analyseschritt der wirtschaftlichen Globalisierung konnten neu involvierte Machtagierende in die Konsum- und Identitätsprozesse Perus identifiziert werden. So erhoben multinationale Unternehmen seit Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwecks Markterweiterung verstärkt auch den Anspruch auf die natürlichen und kulturellen Ressourcen lateinamerikanischer Länder (vgl. García Canclini, 1999: 31). Mit Sponsoring als neuem Marketinginstrument übernahmen multinationale Unternehmen orginäre Staatsaufgaben, wie beispielsweise den Straßenausbau, zum Zweck der Imageverbesserung (vgl. Haferkamp et al., 1995: 9).
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Resümee: Schlussfolgerung und Ausblick
Der Einfluss von Massenmedien nahm im Zuge der kulturellen globalen Vernetzung, trotz staatlicher Eingriffe in die Presse- und Medienfreiheit, zu. Mit der steigenden Verfügbarkeit von Elektrizität eroberte das Fernsehen Ende der 1970er Jahre eine Machtposition innerhalb der gesellschaftlichen Meinungsbildung, wie in einem weiteren Argumentationsschritt aufgezeigt werden konnte. Bezug nehmend auf García Canclini wandelte sich auch in Peru das kulturelle Verständnis, weg von einer Hochkultur der Elite, hin zur Populärkultur, respektive (industriellen) Massen(medien)kultur (vgl. García Canclini, 1990: 14). Seit dem (Re-)Demokratisierungsprozess entstanden neue Museen zur Wissensvermittlung, die meist kulturelle oder archäologische Sammlungen ausstellten. Im Museo de la Nación in Lima erinnert eine Fotodokumentation an die Hochphase des Terrorismus und mahnt visuell die begangenen Menschenrechtsverletzungen an. Fern der Bildungsebene vermittelte das Privatfernsehen – durch Telenovelas oder Werbespots – ein verklärtes Bild US-amerikanischer Kulturwerte und Ideale, die im urbanen Slum Sehnsüchte generierten. Perus Bevölkerung galt im Untersuchungszeitraum zu fast 50% als arm (vgl. INEI, 2001b: 32), wodurch die beworbenen Produkte für die Hälfte der Peruanerinnen und Peruaner nahezu unerreichbar waren. Gleichzeitig wuchs die urbane Gesellschaft und somit auch die Zahl der potenziell am monetären Konsum beteiligten Personen. Als Effekt der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse stand die kulturelle Identität im wirtschaftlichen Kontext hintenan (vgl. Meentzen, 2005: 47f.), wodurch dem urbane Entindigenisierungsprozess Vorschub geleistet wurde. In Verbindung mit der zunehmenden kulturellen Hybridisierung bezeichneten sich immer mehr Personen im urbanen Kontext als nicht-indigen (vgl. Sulmont u. Valdivia, 2012: 198), wodurch per Werbung vermittelte Distinktionsmerkmale in der Rezeption entschärft wahrgenommen wurden. Angesichts dieser Rahmenbedingungen, und der medialen Verbreitung vermeintlich erstrebenswerter Lebensstile, entwickelten sich Massenmedien zum Wegbereiter einer konstruierten nationalen (hybriden) Identität in Peru. Um die Erfolgsgeschichte von Inca Kola in ihrer Vielschichtigkeit verstehen zu können, bedurfte es in einem letzten Argumentationsschritt der Analyse ihres sozialen Lebens. Zunächst entstand mit dem Wandel vom öffentlichen Raum zur Telepartizipation eine entfremdete Ebene (inter)kultureller Kommunikation. Durch die neue Rolle der Massenmedien und der vermittelten Produktwerbung wirkte der medial erzeugte Country-of-Origin-Effekt267 innerhalb der peruanischen Bevölkerung schwerer, als die tatsächliche Herkunft der Familie Lindley. Sie nutzte ihre Kontakte in die alte Heimat, um beispielsweise technische Einzelteile für die Produktion, oder auch komplette Abfüllanlagen aus Großbritannien zu beziehen. Generell ist der Erfolg von Inca Kola nicht losgelöst vom Zusammenhalt der Familienmitglieder zu betrachten, die bis in die dritte Generation hinein nahezu vollständig
267 Siehe ausführlich: Schooler, 1965: 394ff.
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in die Unternehmensbelange involviert waren. Die Geschäftsleitung blieb jedoch ausschließlich den männlichen Nachkommen der Familie vorbehalten. Vor allem Issac Lindley formte in 44 Jahren an der Unternehmensspitze die Professionalisierung und Modernisierung des Familienunternehmens. Der Militärgeneral Nicolás Lindley, der als einziges Familienmitglied nicht hauptberuflich im Firmenvorstand agierte, spielte seine politische und militärische Macht aus, um die Entwicklung des Unternehmens positiv zu beeinflussen. Während seiner Zeit als Staatspräsident veranlasste er die Frequenzübertragung des Staatsfernsehens Canal 5 auf die Panamericana Televisión S.A., an der sein Bruder Isaac Lindley beteiligt war. Im Kreis der Machtakteurinnen und -akteure darf die Stadt Lima nicht vergessen werden. Von ihr geht eine landesweite Machtstellung aus, die sich ebenfalls auf Inca Kola übertrug. Angefangen bei der Produkteinführung der gelben Brause, am 400. Geburtstag der Stadt, entwickelte sich Lima zur kosmopolitischen Millionenmetropole. Inca Kola stieg fortan zum modernen und dabei traditionsbewussten Erfrischungsgetränk auf, das gleichermaßen in Perus Warenkiosken, Hotels, Flughäfen und Supermärkten, aber auch bei McDonald’s und BEMBOS erhältlich ist. Lima schmückte sich mit finanzstarken Globalplayern und repräsentierte den peruanischen Fortschritt. Inca Kola profitierte hingegen zu Beginn des Produktlebenszyklus von der überwiegend anti-amerikanischen Konsumhaltung der peruanischen Gesellschaft, die auf einer moralischen Ebene zum nationalisierten Produkterfolg beitrug. Die Synergieeffekte bildeten ideale Rahmenbedingungen der bilateralen Identität zwischen Inca Kola und Peru, respektive Peru und Inca Kola. Neben diesen indirekten Machtverhältnissen begünstigten der zunehmende Dekollektivierungs- und der Deterritorialisierungsprozess die gesellschaftliche Identifizierung mit den medialen Repräsentationsformen nationaler Identität, durch das Medium Inca Kola. Zu beobachten war in diesem Zusammenhang, dass sich der nationale Identitätsprozess auf eine neue, indirekte Aushandlungsebene verlagerte, weil kulturspezifische Güter und Werte nicht mehr in einem bestimmten Hierarchieverhältnis zueinander standen. Mit dem Wandel der kulturellen Selbst- und Fremdzuschreibung, sowie dem verbundenen Entindigenisierungprozess, erfuhr die nationalisierte Produktkommunikation der gelben Brause eine positive Rezeption innerhalb der Konsumgemeinschaft. Inca Kola wurde dadurch seit Ende der 1960er Jahre zunehmend als Ikone verstanden, deren Konsum zum Gefühl einer nationalen Identität beitrug, selbst wenn das Produkt nur selten konsumiert wurde. Der Firma Lindley gelang dabei der mediale Spagat zwischen traditionellem Inka Bezug, lokaler Identitätskonstruktion und globaler Verbrauchskultur, wie die Darlegung des Werbediskurses aufzeigen konnte. Doch auch das Produkt selbst bediente durch seinen spezifischen Namen, seine goldene Farbe und vor allem durch seinen Geschmack, die Erwartungshaltung der Konsumgemeinschaft. Aufgrund des einzigartigen Geschmacks, der laut Unternehmensangaben lediglich im Zuge einer Ressourcen anpassenden Produktvariation – von natürlichen Geschmacksstoffen auf synthetische Säuerungsmittel, Farb- und Zusatzstoffe – überarbeitet wurde, konnte Inca Kola über 60 Jahre lang ohne eine Produktdifferenzie-
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Resümee: Schlussfolgerung und Ausblick
rung268 wettbewerbsfähig sein. Mit der Einführung von Inca Kola diet 1996 entsprach die Firma Lindley dem Wunsch der Konsumierenden nach einer kalorienbewussten Version und eroberte direkt im ersten Jahr 70% des zuckerfreien Getränkemarktes. Dies lag laut Aussage des Unternehmens am süßen Geschmack, der bei nur zwei Kilokalorien wenig vom Original abgewichen habe. Der Konsum von Mineral- und Tafelwasser war im Untersuchungszeitraum verhältnismäßig gering, denn generell präferieren Peruanerinnen und Peruaner extrem süße Getränke und Lebensmittel. Aufgrund der schlechten Frischwasserversorgung erhalten bereits Kleinkinder zuckerhaltige Getränke und gewöhnen sich an den süßen Geschmack. Metaphorisch gesprochen läuft Inca Kola durch die Adern peruanischer Babys und das ist laut des japanisch-peruanischen TV-Kochs Hajime Kasuga keine Übertreibung, wie sein nachfolgendes Zitat offenbart: „Inca Kola runs through the veins of Peruvian babies, and that is not an exaggeration.“ (Kasuga nach Schipani, 2014).
Über die nationalisierte Werberomantik hinaus bleibt anzumerken, dass es sich bei Inca Kola primär um ein wirtschaftliches Gut handelt(e), das von erfolgreichen Verkaufszahlen abhängig war und ist. Diesen wirtschaftlichen Erfolg fokussierend, adressierte die Produktkommunikation ausschließlich die am Konsum beteiligten Kulturen in Peru. Innerhalb dieser Konsumgemeinschaft trug der inkludierte Nationalstolz auf einer übergeordneten Ebene zur Vermittlung eines Zugehörigkeitsgefühls bei, wodurch Identität auch in Peru als Konstruktion verstanden werden kann, die erzählt wird (vgl. García Canclini, 1995: 107). Die Firma Lindley war 1935 mit ihrer Produktinnovation in Lima zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Es ist daher fraglich, ob die Erfolgsgeschichte auf ein anderes Land – mit ebenfalls fehlender nationaler Identität – zu übertragen wäre. Wahrscheinlich müsste das Getränk vor allem einen einzigartigen und innerhalb der Konsumgemeinschaft als positiv bewerteten Geschmack besitzen, und zudem als Konsumartikel-Marke unbefriedigte Sehnsüchte bedienen. Insgesamt wurde mit dieser Arbeit ein Konsumgüterartikel aus einem lateinamerikanischen Land in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt und multidimensional auf seine identitätsstiftende Funktion hin erforscht. Somit erhielt der aktuelle Forschungsschwerpunkt europäischer, nordamerikanischer, oder asiatischer Produktstudien eine erweiterte nationale Perspektive. Dem Theoriebildungsansatz von Néstor García Canclini folgend wurden der anthropologische, der literatur- und der kommunikationswissenschaftliche Blickwinkel durch eine konsum- und eine medienpolitische Perspektive erweitert, um Dichotomien aufzubrechen und den la-
268 Unlängst versuchte die Firma Lindley an den Erfolg des Flaggschiffprodukts anzuknüpfen und führte nach 18 Monaten Produkt- und Marktforschung 2014 die Produktdifferenzierung La Moradita de Inca Kola ein. Der Geschmack erinnerte an Chicha morada, ein meist hausgemachter Getränkeklassiker auf der Basis von blauem Mais (vgl. o.A., El Comercio, 2014c). Bereits nach fünf Monaten wurde das Produkt aufgrund geringer Verkaufszahlen wieder vom Markt genommen.
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teinamerikanischen Besonderheiten in der Analyse gerecht zu werden. Die theoretische Erweiterung um den Ansatz des sozialen Lebens von Dingen unterstützte die Prozesshaftigkeit der Analyse (vgl. Appadurai, 1986: 3–64). Dabei trugen die unterschiedlichen Dimensionen maßgeblich zum Verständnis der nationalen Ikonisierung von Inca Kola bei, die bei künftigen Forschungen ebenfalls an ein Aufbrechen der Opposition von Tradition und Modernen appellieren (vgl. García Canclini 1995b: 2). Durch den Verkauf der Markenrechte von Inca Kola außerhalb Perus, an das US-amerikanische Hauptkonkurrenzunternehmen The Coca-Cola Company im Jahr 1999, ergibt sich ein weiteres Forschungsdesiderat. Darzulegen wäre, wie die emotional aufgeladene und medial stilisierte Nationalisierung von Inca Kola nach 1999 innerhalb der peruanischen Bevölkerung rezipiert wurde. Fraglich ist, ob die Zielgruppen ihrem nunmehr nicht mehr ausschließlich nationalen Getränk auch fortan die Treue gehalten haben? Mit dem Ende des Untersuchungszeitraumes ging die Produktgeschichte zunächst unter dem Label The Coca-Cola Company weiter. Bereits im Jahr 2000 wurde die Internationalisierung an die Firma Continental Food & Beverage Inc. (CF & B) übertragen, die die Marke Inca Kola. The golden Cola in den USA distribuierte und auch nach Asien und Europa exportierte. Seit 2004 ist die Firma Lindley exklusives Abfüll- und Vertriebsunternehmen für alle Coca-Cola-Produkte in Peru. Durch die Fusion mit der multinational agierenden, mexikanischen Getränkeherstellerfirma Arca Continental wagte die Firma Lindley 2015 die Expansion auf dem südamerikanischen Teilkontinent. Heute verfügt das neue Unternehmen Arca Continental Lindley über sieben landesweite Produktionsanlagen. Die mehr als 4600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreuen landesweit mehr als 340.000 Großkundinnen und Großkunden sowie das größte Handels- und Vertriebsnetz des Landes.
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
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Darstellung der Arbeitshypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungen der Preise, Löhne und Gehälter während der ersten Phase der Militärregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Saldo der Nahrungsmittelimporte während der Regierung von Belaúnde Terry . . . . . Inflationsrate 1985–1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opfer politischer Gewalt, 1980-1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, 1995–2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionale Bevölkerungsentwicklung in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevölkerungsanteil mit indigener Selbstzuschreibung an der Gesamtbevölkerung . . . Entwicklungen Reallöhne zwischen 1970 und 1992 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der privaten Haushalte nach Haushaltstyp, 1981–1999 . . . . . . . . . . . Ceviche mit geröstetem Mais und Süßkartoffel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cuy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traditionelles Verfahren der Reifung des Traubenmostes in Tonflaschen . . . . . . . . Klassische Aufteilung des Marketing-Mix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitfinanzierung des Siedlungsausbaus in Santa Monica (Cusco) durch Coca-Cola 1990 Transportkarre, die von Maultieren gezogen wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stammbaum der Familie Lindley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familienbild aus den 1920er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung der landesweiten Franchise-Partnerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . Portrait von Isaac Lindley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werbeträgermonopol durch die Firma Lindley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logos von Inca Kola im Wandel der Zeit (1961, 1981 und 1999) . . . . . . . . . . . . Inca Kola-Werbefotos im Flur der Firmenzentrale in Lima . . . . . . . . . . . . . . . Zielgruppe Kinder für Inca Kola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalisierungen innerhalb der Produktkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . Gladys Arista in hybrider, indigener Tracht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anzeigenmotiv mit Madeline Hartog-Bell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produktwerbung zur Einführung der Dose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globalisierung des Produktdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textfreier Kommunikationsstil der Produktwerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hybride Architektur Limas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkauf von industriellen Erfrischungsgetränken im Colca-Tal . . . . . . . . . . . . . Werbeplakat von Inca Kola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indigene Zielgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittagspause an einem Verkaufsstand auf dem Markt in Cusco . . . . . . . . . . . . . Anzeigenmotiv von Inca Kola Diet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außenwerbung in Lima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Semiautomatische Abfüllanlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Speisekarte mit Gerichten aller Landesteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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55 61 67 70 72 82 83 89 91 101 102 106 133 135 139 141 143 146 150 153 155 161 162 163 164 165 166 167 171 172 173 174 176 177 178 179 180 183
TABELLENVERZEICHNIS
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Peruanische Regierungen 1933-2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außenhandel Perus 1929–1939 in Millionen Soles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Importe für Konsumgüter, 1986–1995 (in Millionen US-Dollar) . . . Entwicklung in Prozent, BIP und privater Konsum, 1950-1997 . . . . . . . . . . . . . Phasen der Auslandsmigration im Untersuchungszeitraum . . . . . . . . . . . . . . . Kalorische Nahrungsaufnahme pro Person/pro Tag in Peru . . . . . . . . . . . . . . . US-amerikanische Direktinvestitionen (in Millionen US-Dollar) in Peru, 1929–1950 . . Piscosorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionale Identität peruanischer Biermarken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruttowert der industriellen Getränkeproduktion (in hundert Millionen Soles von 1963) Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsumentwicklung Erfrischungsgetränke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der privaten Radiosender in Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungen der Bevölkerungszahl, Analphabetisierungsrate und Endgeräte, 1950 (TV-Daten beziehen sich auf 1959) und 1971/72 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Entwicklung der Werbekosten zwischen 1968 und 1976 (in Millionen US-Dollar) . . . 16 Agenturentwicklung in Peru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Zeitliche Abfolge der Claims von Inca Kola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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41 44 87 88 92 95 105 107 108 109 110 112 121
. . . .
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122 124 132 170
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Wolfgang König
Geschichte der Wegwerfgesellschaft Die Kehrseite des Konsums 2019. 168 Seiten 978-3-515-12500-0 gebunden mIt schutzumschlAg 978-3-515-12503-1 e-bOOk
Früher oder später wird alles weggeworfen. In der Konsumgesellschaft wandern aber auch gebrauchsfähige und neuwertige Produkte auf den Müll. Solche Verhaltensweisen sind das Ergebnis eines langfristigen Prozesses, entstanden über einen Zeitraum von anderthalb Jahrhunderten. Vorläufer waren die USA, die Bundesrepublik Deutschland zog nach. Angefangen hat es um die Jahrhundertwende mit Hygieneartikeln wie Toilettenpapier, Monatsbinden, Windeln und Papiertaschentüchern; nach dem Zweiten Weltkrieg kamen bald eine Vielzahl weiterer Wegwerfartikel hinzu: Pappbecher und Plastikgeschirr, Nylonstrümpfe und Kugelschreiber, Rasierklingen, Getränkedosen und vieles andere mehr. Wolfgang König zeigt, wie die Wirtschaft und die Konsumenten gemeinsam das Wegwerfen zur Routine gemacht haben – und diskutiert Möglichkeiten, die Wegwerfgesellschaft zu überwinden.
Aus dem InhAlt Einleitung | Am Ende steht der Müll | Die Synthese von Hygiene und Wegwerfen | Verschwendung von Lebensmitteln | Kleidung: Verschleiß und Mode | Möbel als Konsumgüter | Pioniere und Perversitäten des Wegwerfens | Strukturen des Wegwerfens | Alternativen | Ausblick | Literatur | Register deR AutOR Wolfgang König ist Professor für Technikgeschichte (a.D.) an der Technischen Universität Berlin und Mitglied von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften. Für seine Arbeiten zur Technik- und Konsumgeschichte wurde er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Im Franz Steiner Verlag erschien von ihm unter anderem die „Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft“.
Hier bestellen: [email protected]
Nationalisiertes Marketing machte Inca Kola zum Identitätssymbol einer ganzen Nation: Ein Großteil der peruanischen Bevölkerung bekundet mit dem Getränk seine Heimatverbundenheit – aufgrund mangelnder Alternativen dient der Konsum zunehmend sogar als Referenzkategorie zur Identitätskonstruktion. Diese emotionale Beziehung spiegelt sich auch im Konsumverhalten wider. Der Country-of-Origin-Effekt bescherte der Marke bis in die 1990er Jahre hinein einen größeren Marktanteil als Coca-Cola. Nina Härter zeigt, wie wichtig ein Produkt – und ganz explizit auch sein Konsum – für das Identitätsgefühl sein kann.
ISBN 978-3-515-12794-3
9 783515 127943
Auf der Grundlage des Theoriebildungsansatzes „Hybride Kulturen“ (Culturas híbridas) von Néstor García Canclini, ergänzt durch Arjun Appadurais Konzept „The social life of things“, arbeitet Härter die Einfluss- und Erfolgsfaktoren von Inca Kola auf die (moderne) nationale Identität in Peru heraus. Sie erweitert die Forschung zu nationalisierten Produkten und identitätsstiftender Werbung damit um einen Beitrag mit lateinamerikanischem Schwerpunkt und hybrider Bevölkerungsstruktur.
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