In Weisheit altern: Unzeitgemäße Betrachtungen mit Cicero und Schopenhauer 9783495807873, 9783495487747


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German Pages [209] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Am Ende der Weisheit?
Wissenschaft ohne Weisheit?
»Erfolgreiches Altern« – älter werden ohne Weisheit?
Weisheitsforschung ohne Weisheit?
Philosophische Wegweiser zur Weisheit
Ciceros Cato maior de senectute
Widmung und Einleitung (I, 1–2)
Die Figuren (I, 3)
Vorgespräch (II, 4 – V, 14)
Hauptteil: Vier Hauptvorwürfe gegen das Alter (V, 15 – XXII, 84)
Vorwurf 1: Eingeschränkter Handlungsspielraum im Alter (VI, 15 – VIII, 26)
Einwand: Abnehmende Gedächtniskraft (VII, 21)
Allgemeine Altersklagen (VIII, 25/26)
Vorwurf 2: Körperliches Alter(n) (IX, 27 – XI, 38)
Einwand: Körperkraft auch im Alter als conditio sine qua non (IX, 28)
Einwand: Nachlassende Körperkräfte als Folge des Alters (X, 33)
Einwand: Keine Körperkräfte im Alter (XI, 34)
Einwand: Drohender Kräfteverfall im Alter (XI, 35)
Über den Vorrang des menschlichen Geistes (XI, 36)
Vorwurf 3: Verlust sinnlicher Freuden im Alter (XII, 39 – XVIII, 66)
Einwand: Sinkende voluptas-Intensität im Alter (XIV, 47–50)
Zu den Freuden eines Lebens in und mit der Natur (XV, 51 – XVII, 60)
Auctoritas als Krone des Alters (XVII, 61 – XVIII, 64)
Einwand: Negative Eigenheiten alter Leute (XVIII, 65)
Vorwurf 4: Das mit dem Alter näher rückende Lebensende (XIX, 66–84)
Einwand: Reduzierte Lebenszeit im Alter (XIX, 68)
Quantitative Aspekte des Lebens (XIX, 69/70)
Alter und Reife (XIX, 71 – XX, 72)
Praemeditatio mortis (XX, 74/75)
Satietas vitae (XX, 76)
De immortalitate animorum (XXI, 77 – XXIII, 84)
Schluss (XXIII, 85)
Arthur Schopenhauers Vom Unterschiede der Lebensalter
Schopenhauers Philosophie – ein Weg zur Weisheit?
Altern als geistig-seelischer Entwicklungsprozeß
Die geistig-seelischen Entwicklungsstufen menschlichen Lebens
»L’âge des illusions est passé« – das Ende der Illusionen
Zum Hauptunterschied zwischen Jugend und Alter
Reife und Lebenserfahrung
Subjektives Zeitempfinden
Alter(n) und Lebenskraft
Zur Bedeutung des Charakters
Die »besten Jahre«
Das Alter – die Zeit für Philosophie
Lebenserfahrung und geistige Leistungskraft
Glückliche Jugend, trauriges Alter?
Krankheit und Langeweile als Schicksal des Alters?
»Euthanasie des Willens«
Weisheit als Lebensweisheit
Lebenspraktische Zugänge zur Weisheit
Älter werden als Naturnotwendigkeit
Zur Steuerbarkeit allgemeiner Alternsprozesse
Altern als geistige Weiterentwicklung
Lebenssättigung als Ziel geistiger Reifung
In Weisheit altern – eine Lebensaufgabe
Abschließende Betrachtungen: Was ist Weisheit?
Literatur
Philosophen
Sekundärliteratur
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In Weisheit altern: Unzeitgemäße Betrachtungen mit Cicero und Schopenhauer
 9783495807873, 9783495487747

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Dominik Dimpel

In Weisheit altern Unzeitgemäße Betrachtungen mit Cicero und Schopenhauer

B

https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Dominik Dimpel In Weisheit altern

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Alter(n) – das ist nicht nur ein Thema von großer Aktualität, sondern auch eines mit Zukunft, betrifft es doch uns alle: Keiner kann sich, solange er lebt, dem Vorgang des Alterns entziehen; ebenso wenig lässt sich das Altern unserer Gesellschaft leugnen. Über den demographischen Wandel und seine Folgen ist längst eine öffentliche Debatte entbrannt; desgleichen wird das Alter(n) schon seit längerem von Medizinern, Biologen und Psychologen – um nur einige Vertreter der multidisziplinär betriebenen Gerontologie zu nennen – wissenschaftlich erforscht. In diesem Buch soll hingegen auf unzeitgemäßere Weise über das Alter(n) nachgedacht werden. Es möchte der philosophischen Frage nach dem Sinn des Alter(n)s im menschlichen Lebenslauf wieder Geltung verleihen, denn in ihrer Beantwortung liegt sowohl der Schlüssel zur wirklichen Bewältigung und Vollendung unseres Daseins als auch zum besseren Verständnis von Weisheit. Was Weisheit für den Menschen bedeutet, kann anhand der Lektüre zweier philosophischer Schriften deutlich gemacht werden: Ciceros Cato maior de senectute und Arthur Schopenhauers Vom Unterschiede der Lebensalter. Diese Werke decken nicht nur den Zusammenhang von Weisheit und Alter(n) auf, sondern helfen uns jenen scheinbar antiquierten Begriff Weisheit wieder mit Leben zu füllen, so dass dessen ursprüngliche Bedeutung als Lebensweisheit sichtbar bleibt und auch wir noch im Alter(n) Wege zu ihr finden können. Dem Ziel der Lebens- bzw. Willenssättigung, das Cicero und Schopenhauer umreißen, können wir aber nur aus eigener Kraft näher kommen. In Weisheit zu altern und im Alter lebensgesättigt zur geistigen Reife zu gelangen, das erweist sich als die eigentliche Herausforderung unseres Daseins.

Der Autor: Dominik Dimpel studierte Philosophie, Psychologie sowie Psychogerontologie an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg und arbeitet als Diplompsychogerontologe und philosophischer Berater.

https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Dominik Dimpel

In Weisheit altern Unzeitgemäße Betrachtungen mit Cicero und Schopenhauer

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Thomas Bethge – Fotolia Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48774-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80787-3

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Meiner lieben Mutter

https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Am Ende der Weisheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaft ohne Weisheit? . . . . . . . . . . . . . »Erfolgreiches Altern« – älter werden ohne Weisheit? Weisheitsforschung ohne Weisheit? . . . . . . . . . .

20 23 29 33

Philosophische Wegweiser zur Weisheit . . . . . . . . .

40

Ciceros Cato maior de senectute . . . . . . . . . . . . . . Widmung und Einleitung (I, 1–2) . . . . . . . . . . . Die Figuren (I, 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgespräch (II, 4 – V, 14) . . . . . . . . . . . . . . . Hauptteil: Vier Hauptvorwürfe gegen das Alter (V, 15 – XXII, 84) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwurf 1: Eingeschränkter Handlungsspielraum im Alter (VI, 15 – VIII, 26) . . . . . . . . . . Einwand: Abnehmende Gedächtniskraft (VII, 21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Altersklagen (VIII, 25/26) . . . . Vorwurf 2: Körperliches Alter(n) (IX, 27 – XI, 38). Einwand: Körperkraft auch im Alter als conditio sine qua non (IX, 28) . . . . . . . Einwand: Nachlassende Körperkräfte als Folge des Alters (X, 33) . . . . . . . . . . . . . .

44 45 48 49 54 55 56 58 59 61 62 7

https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Inhalt

Einwand: Keine Körperkräfte im Alter (XI, 34) Einwand: Drohender Kräfteverfall im Alter (XI, 35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über den Vorrang des menschlichen Geistes (XI, 36) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwurf 3: Verlust sinnlicher Freuden im Alter (XII, 39 – XVIII, 66) . . . . . . . . . . . . . . Einwand: Sinkende voluptas-Intensität im Alter (XIV, 47–50) . . . . . . . . . . . . . Zu den Freuden eines Lebens in und mit der Natur (XV, 51 – XVII, 60) . . . . . . . . . Auctoritas als Krone des Alters (XVII, 61 – XVIII, 64) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einwand: Negative Eigenheiten alter Leute (XVIII, 65) . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwurf 4: Das mit dem Alter näher rückende Lebensende (XIX, 66–84) . . . . . . . . . . . Einwand: Reduzierte Lebenszeit im Alter (XIX, 68) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative Aspekte des Lebens (XIX, 69/70) Alter und Reife (XIX, 71 – XX, 72) . . . . . . Praemeditatio mortis (XX, 74/75) . . . . . . . Satietas vitae (XX, 76) . . . . . . . . . . . . . De immortalitate animorum (XXI, 77 – XXIII, 84) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss (XXIII, 85) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Arthur Schopenhauers Vom Unterschiede der Lebensalter Schopenhauers Philosophie – ein Weg zur Weisheit? Altern als geistig-seelischer Entwicklungsprozeß Die geistig-seelischen Entwicklungsstufen menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . »L’âge des illusions est passé« – das Ende der Illusionen . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

64 65 66 69 71 73 74 75 77 79 80 82 85 87 88 90

. 93 . 97 . 103 . 104 . 106

Inhalt

Zum Hauptunterschied zwischen Jugend und Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reife und Lebenserfahrung . . . . . . . . . Subjektives Zeitempfinden . . . . . . . . . . Alter(n) und Lebenskraft . . . . . . . . . . . Zur Bedeutung des Charakters . . . . . . . . Die »besten Jahre« . . . . . . . . . . . . . . Das Alter – die Zeit für Philosophie . . . . . Lebenserfahrung und geistige Leistungskraft Glückliche Jugend, trauriges Alter? . . . . . Krankheit und Langeweile als Schicksal des Alters? . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Euthanasie des Willens« . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

107 109 111 113 114 116 117 119 122

. . . 126 . . . 130

Weisheit als Lebensweisheit . . . . . . . . . . . . . . Lebenspraktische Zugänge zur Weisheit . . . . . . Älter werden als Naturnotwendigkeit . . . . . Zur Steuerbarkeit allgemeiner Alternsprozesse Altern als geistige Weiterentwicklung . . . . . Lebenssättigung als Ziel geistiger Reifung . .

. . . . . .

. . . . . .

135 148 151 155 159 165

In Weisheit altern – eine Lebensaufgabe . . . . . . . . . 173 Abschließende Betrachtungen: Was ist Weisheit? . . . . 184 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

9 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Vorwort

Bücher über das Alter(n) gibt es mittlerweile genügend. Die wissenschaftliche Literatur, die sich mit dem Alter(n) beschäftigt, hat heute sogar ein so großes Ausmaß erreicht, dass sie sich kaum mehr überblicken lässt. Veröffentlichungen, die das Thema Weisheit und Alter(n) zum Inhalt haben, sind dagegen, zumindest im deutschsprachigen Raum, überschaubar geblieben. Nun ist Masse von vornherein sicherlich kein Maßstab für Klasse, doch als ich mich für ebendiese Thematik zu interessieren begann, musste ich zu meinem Leidwesen feststellen, dass das Wenige, das sich hierzu finden lässt, auch nur wenig Aussagekraft enthält, sowohl was den Zusammenhang von Weisheit und Alter(n) betrifft als auch die Frage, was Weisheit eigentlich bedeutet. Um hier Licht ins Dunkle bringen zu können, blieb mir also nichts anderes übrig, als auf philosophische Quellen zurückzugehen und mich bei meinen Nachforschungen auf bedeutende Philosophen zu stützen, die hierüber nachgedacht haben. Das bereitete mir aber schon deswegen sehr viel Freude, weil ich bereits im humanistischen Gymnasium die Werke der großartigen Denker der Antike im Originaltext kennenlernen durfte und damit meine Begeisterung nicht nur für sie sowie ihre kongenialen Nachfolger ihren Anfang nahm, sondern auch für Philosophie an sich. Diese Liebe zur Weisheit bewahrte mich darüber hinaus davor, all das uns heute zur Verfügung stehende (wissenschaftliche) Wissen zu überschätzen, das ich mir für meine weitere Ausbildung nolens volens aneignen musste; denn mit jenem Wissen allein geht kein Zuwachs an Weisheit einher – das wurde mir im Laufe der Zeit immer klarer und gab letzt11 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Vorwort

endlich den Anstoß dazu, mich damit intensiver kritisch zu befassen. Dass ich nun meine Überlegungen in Form eines Buches der Öffentlichkeit vorlegen darf, dafür möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Herrn Lukas Trabert und dem gesamten Karl Alber Verlag bedanken! Herrn Trabert danke ich außerdem für seine Verbesserungsvorschläge und nützlichen Hinweise, die meiner Arbeit den letzten Schliff gaben. Um der Lesbarkeit meines Buches keinen Abbruch zu tun, habe ich die hier verwendeten lateinischen und griechischen Zitate eigenständig ins Deutsche übersetzt, wohlwissend, dass jede Übersetzung immer nur eine Art Notbehelf ist; deswegen sind meinen Übersetzungen stets die Originaltexte beigefügt, damit sich humanistisch ausgebildete Leserinnen und Leser besser orientieren können, ohne sich auf meine Verdeutschung verlassen zu müssen. Und noch etwas Weiteres gilt es vorauszuschicken: Dieses Buch ist keine undifferenzierte Lobpreisung des Alter(n)s – aufmerksame und wohlwollende Leserinnen und Leser werden dies bei der Lektüre gewiss schnell selbst erkennen; es liegt mir fern, das, was das Leben und Alter(n) auch an Negativem mit sich bringt, zu verharmlosen oder gar zu beschönigen. Im Voraus lässt sich über das Alter ohnehin kein endgültiges Urteil fällen. Lebensjahre allein sagen weder etwas über die Lebensqualität eines Menschen aus, noch geben sie Auskunft darüber, wie hoch dessen geistige Reife ist; sie sind nichts anderes als gleichsam das Rohmaterial, das uns die Natur zur Verfügung stellt und das wir aus eigener Kraft gestalten können, an dem sich dann aber auch zeigt, was man daraus gemacht hat bzw. welche Lehren aus den mitunter recht strengen Lektionen, die das Leben erteilt, gezogen wurden. Möge uns daher der Weisheit letzter Schluss vergönnt sein!

12 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Einleitung

Die vorliegende Arbeit wurde hauptsächlich aus zwei Gründen geschrieben: Zum einen möchte sie der heute überhandnehmenden Verwissenschaftlichung und Trivialisierung von Weisheit und Alter(n) Einhalt gebieten, zum anderen die geneigten Leser dafür sensibilisieren, was man seit jeher unter Weisheit verstanden hat; vielleicht sind sogar einige unter ihnen, die sich dazu ermutigen lassen, den Abgründen unserer weisheitsarmen Zeiten den Rücken zu kehren und sich um eine weisere Lebensführung im Alter(n) zu bemühen. Der Autor maßt sich damit keineswegs an, Weisheit gleichsam mit Löffeln gegessen zu haben, oder rühmt sich gar, hier mit Weisheits-»Definitionen« aufwarten zu können (Menne 1984, S. 152/153), was man ohnehin besser unterlassen sollte (Freund 1984, S. 87/88). Wie langweilig und banal wäre doch die Krönung geistiger Reife, wenn sie sich nach sogenannten wissenschaftlichen Kriterien erfassen ließe, wenn man sie mit einer sterilen Formel oder irgendeinem psychologischen Test zu fassen bekäme. Weisheit im ursprünglichen Sinn lässt sich natürlich nicht »auf das Meßbare reduzieren« (Kaspar 1984, S. 169); seit alters streben Menschen nach ihr; sie ist daher schon immer – das kann man vorab mit Fug und Recht konstatieren – wesentlicher Bestandteil der Betrachtungen großer Philosophen gewesen (siehe z. B. Gent 1966), lange bevor man so vermessen war, alles mit Hilfe statistischer Methoden und oberflächlicher Volksbefragungen untersuchen zu wollen – m. E. einer der Hauptgründe für die Gehaltlosigkeit und geringe Gedankentiefe vieler wissenschaftlicher Abhandlungen. Wer hingegen aus erster Hand Tiefgründigeres über 13 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Einleitung

Weisheit erfahren möchte, muss sein Augenmerk auf die philosophischen Schriften ebenjener Denker richten. Doch statt sich mit solch gewichtigen Bezugsquellen näher zu befassen, nehmen moderne Weisheitsforscher entweder vorlieb mit der »Erforschung impliziter Theorien von Weisheit« und orientieren sich dabei am »alltäglichen Sprachgebrauch« oder aber schenken »psychologischen Theoriekonstruktionen«, also »expliziten Weisheitstheorien« Glauben (Staudinger & Baltes 1996, S. 59). Dieses übereilte Vorgehen trägt sicherlich nicht zu mehr Klarheit bei, ist man doch nach der Lektüre weisheitswissenschaftlicher Sekundärliteratur oft mit seiner Weisheit regelrecht am Ende. Eigentlich müsste es Wissenschaftlern zu denken geben, dass empirische Untersuchungen nichts Essentielles über Weisheit aussagen, ja dass sie ohne jeglichen philosophischen Erkenntniswert sind und man nach derartigen Umfragen sowie deren inhaltlicher Auswertung meist vor einem noch größeren Rätsel steht, was Weisheit anbelangt. Dessen ungeachtet hat die Weisheitsforschung die Verwirrung sogar noch auf die Spitze getrieben mit dem »Handbuch zur Erfassung von weisheitsbezogenem Wissen« (Staudinger, Smith & Baltes 1994), so als ließe sich kurzerhand über jeden Menschen eine Schablone in Form eines psychologischen Verhörs legen, um danach postwendend sagen zu können, ob die getesteten Versuchspersonen weise sind oder nicht; bereits die Formulierung »weisheitsbezogenes Wissen« zeugt von großem Unverstand: Weisheit kann nämlich schon deswegen kein Wissen im herkömmlichen Sinn sein, weil sonst jeder Vielwisser als weise zu bezeichnen wäre, was er de facto nicht ist, wie bereits die Konnotation des Wortes zeigt. 1 Allein dieser Fall, der belegt, wie bedenkenlos heute Weisheit verwissenschaftlicht und verSchon Bloch (1969, S. 385) schrieb über den Begriff Weisheit: »Es wird behauptet, man brauche nicht viel zu wissen, um weise zu sein. Das ist richtig, sofern beim Vielwissen an Wissen um bloßes Vielerlei gedacht wird. In der Tat steht solche Vielwisserei dem Weisen im Weg, während sie das Eitle, Oberflächliche, Gedankenlose so oft befördert«.

1

14 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Einleitung

zerrt wird, würde eine zeit- und wissenschaftskritische Schrift wie die vorliegende rechtfertigen; leider sind solche sozusagen am wissenschaftlichen Reißbrett entstandenen Weisheitsmodelle zahlreicher als man vermutet und schießen in letzter Zeit fast wie Pilze aus dem Boden (siehe dazu Gloy 2007, S. 89 ff.). Daher wäre es nicht nur ein schier auswegloses Unterfangen, sie hier allesamt minuziös darzustellen und in extenso kritisch zu analysieren, sondern es würde auch die Leserinnen und Leser vor eine erhebliche Geduldsprobe stellen, die ihnen, abgesehen von den Weisheitsforschern, wahrscheinlich kaum jemand zumuten möchte; außerdem vermag jeder selbst – sofern Verlangen danach besteht – wissenschaftlich zugeschnittene Weisheitskonzepte bis ins kleinste Detail unter die Lupe zu nehmen. Dennoch sollte man ihre grundlegenden Fehler und Unzulänglichkeiten nicht einfach unter den Teppich kehren, um besser nachvollziehen zu können, dass der einzige Weg, der aus dieser wissenschaftlichen »Weisheits«-Werkstatt herausführt, in einer im wortgetreuen Sinne philosophischen Weisheitsbetrachtung besteht, die sich auf bedeutende Denker stützt und Übereinstimmungen sowie Berührungspunkte in deren Weisheitsverständnis ausfindig zu machen sucht, um den Blick für das Wesentliche zu schärfen. 2 Der Weisheit wesentlich ist – das lässt sich vorab mit guten Gründen aufzeigen – das höhere bzw. hohe Lebensalter eines Menschen (Bien 1988, S. 34 f.). Dass man seit jeher Weisheit eher mit dem Alter in Verbindung bringt, leuchtet ein: Das dafür nötige geistige Rüstzeug lässt sich erst im Laufe der Zeit erwerben. »Wer als alter Mensch zur Weisheit gelangt, gelangt durch seine Jahre zu ihr«, schreibt Seneca in seinen Epistulae Wollte man das Weisheitsverständnis jedes einzelnen Philosophen genauer untersuchen, wie etwa Gent (1966) in seiner historisch-kritischen Untersuchung, so würde dies nicht nur den Umfang der Arbeit übermäßig erweitern, sondern brächte auch den Nachteil mit sich, dass durch die Auflistung mannigfaltiger und teilweise recht unterschiedlicher Weisheitsvorstellungen der Begriff Weisheit mehr an Schärfe verliert als gewinnt.

2

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Einleitung

morales (68, 14: quisquis senex ad sapientiam pervenit, annis pervenit). Kinder und Jugendliche verfügen verständlicherweise noch nicht über die große Lebenserfahrung eines Hochbetagten (Freund 1984, S. 80); insofern würde man sie weder als klug, geschweige denn als weise bezeichnen. 3 Wenn also ein junger Mensch aufgrund seiner geringeren Lebenserfahrung noch nicht weise sein kann, folgt daraus keineswegs, dass jeder alte automatisch über ein hohes Maß an Weisheit verfügt, »ja nicht einmal notwendigerweise […] dass einer lebenserfahren ist« (Bien 1988, S. 35). Dies stellt keine neue Erkenntnis dar, denn schon früher gab es Ältere, die alles andere als weise waren; 4 die gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung tut sicher ein Übriges, dass sich deren Zahl heutzutage zusehends vergrößert: »Den verehrungswürdigen weisen Alten steht eine Legion bejahrter Narren gegenüber« (Jost 1984, S. 18). Aber warum werden die einen mit den Jahren weiser, während andere selbst im Alter keinerlei Spuren von Weisheit zeigen? Ein wesentlicher Siehe Gloy 2007, S. 96/97. Bloch (1969, S. 358): »Nach wie vor gehört Alter dazu, um weise sein zu können«. Manche sehen das heute paradoxerweise völlig anders: Da wird ganz nonchalant neben der »Weisheit der Alten« auch von der »Weisheit der Kinder« gesprochen (Zons 1989), so als ob es nicht nur eine, sondern gleich mehrere Weisheiten gäbe. Man ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen mit der Forderung, ebenfalls die Weisheit der Kindheit zu erforschen (Kaiser 1994, S. 32), ohne vorher zu überlegen, worauf eine solche beruhen soll, da Kinder aus naheliegenden Gründen noch nicht über sehr viel Lebenserfahrung verfügen können. Damit wäre in der Tat ein neuer Tiefpunkt in der heutigen Weisheitsforschung erreicht! Andererseits ist dieses Durcheinander kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, wie nachlässig die wissenschaftliche Sekundärliteratur mit dem Begriff Weisheit umgeht. 4 Natürlich haben – zumindest was Cicero und Seneca betrifft – die »antiken Autoren« mitnichten »die Verbindung von Weisheit und Alter«, wie Förster (1993, S. 88) irrtümlich meint, »als selbstverständlich« angesehen. Ebenso wenig haben sie »den Begriff ›alt‹ […] generell positiv« (Dönni 1996, S. 204) konnotiert. Vgl. hiermit Cicero Cato maior de senectute XI, 36, XVIII, 62, 65, Laelius XXVI, 100, Seneca De tranquillitate animi 3, 8 De brevitate vitae 3, 2–5; 7, 10; 9, 4/5, Epistulae morales 13, 16/17; 21, 8; 22, 14–17. 3

16 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Einleitung

Grund liegt m. E. meistens in der mangelnden Bereitschaft und Fähigkeit, das Dasein aus einem anderen als dem gewöhnlichen Blickwinkel zu betrachten, d. h. gleichsam von einer höheren geistigen Warte aus nicht nur auf sein eigenes Leben zu blicken, sondern auch auf das Dasein an sich. Wer, warum auch immer, dazu weder bereit noch imstande ist, mag nach vielen Jahren eine Fülle von Erfahrungswissen ansammeln und infolgedessen (lebens-)klug werden; (lebens-)weise wird man durch Erfahrung allein jedoch kaum, wenn also keine innere Veränderung eingetreten ist und man sich nach wie vor vom Herdentrieb der Alltagsmenschen mitreißen lässt, d. h. die Welt und sein Dasein weiterhin aus ihrer meist recht armseligen Perspektive betrachtet, die über materielle Dinge oftmals nicht hinausreicht, so dass alles im Leben, inklusive der eigenen erbärmlichen Existenz, überwiegend physische Bedeutung hat. Insofern darf es nicht verwundern, dass sich das Alter(n) gerade bei solchen Leuten eher kontraproduktiv auswirkt, besonders wenn mit dem Alter körperliche Veränderungen eintreten (Imhof 1996, S. 212), wie das auch für den Kraftprotz Milon in Ciceros Cato maior de senectute (IX, 27) zutrifft. Da der Mensch also erst mit den Jahren weiser werden kann, bleibt einem gar nichts anderes übrig, um sich eine deutlichere Vorstellung von Weisheit machen zu können, als den Zusammenhang zwischen Weisheit und Alter gründlicher zu untersuchen: Worin liegen die Gründe, dass sich Weisheit nach einem langen Leben entfalten kann? Was begünstigt oder hemmt ihre Entstehung? Gewinnt das Alter erst durch Weisheit an Bedeutung? Für eine gründlichere Beantwortung solcher Fragen ist es angezeigt, große Philosophen, sofern sie sich mit dieser Thematik beschäftigt haben, gleichsam als philosophische Berater in die Überlegung miteinzubeziehen. 5 Studiert man die abendlänSeneca 48. Brief, 7: »Willst du wissen, was die Philosophie der Menschheit zusichert? Beratung« (Vis scire quid philosophia promittat generi humano? Consilium). Mit consilium ist hier selbstredend weit mehr gemeint

5

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Einleitung

dische Philosophie genauer, stellt sich heraus, dass insbesondere Cicero mit seinem vortrefflichen Cato maior de senectute und Arthur Schopenhauer speziell mit dem 6. Kapitel (Vom Unterschiede der Lebensalter) seiner brillanten Aphorismen zur Lebensweisheit Beachtenswertes hierzu beigetragen haben. 6 Doch damit uns jene Denker diesbezüglich philosophische Orientierung geben können, muss man sich in ihre Schriften vertiefen; im Zentrum vorliegender Arbeit steht daher eine detaillierte gedankliche und inhaltliche Analyse beider Werke. Zuvor soll aber noch das beträchtliche Weisheitsdefizit in den Alter(n)swissenschaften zur Sprache kommen, denen bereits aufgrund ihres fachlichen Bezugs weitaus mehr an Weisheit gelegen sein müsste, damit sie sich nicht vorbehaltlos dem Zeitgeist unterwerfen als nur ein einfacher Rat, wird hier doch von zentralen Daseinsproblemen gesprochen; cf. 16. Brief, 3: »Ohne Philosophie kann niemand unverzagt leben, niemand furchtlos; Unzähliges ereignet sich fortlaufend, was Einsicht verlangt, die von ihr geholt werden muss« (Sine hac [i. e. philosophia] nemo intrepide potest vivere, nemo secure; innumerabilia accidunt singulis horis quae consilium exigant, quod ab hac petendum est); als »eine Rat schaffende« bzw. »stündlich Rat gebende Philosophie« (Achenbach 2010, S. 45) darf man philosophia aber nicht missverstehen, denn sie soll ja umfassende lebenspraktische Orientierung im Sinne einer geistigen Hilfe zur Selbsthilfe bieten. 6 Andere Quellen weisen m. E. keine solch in sich geschlossene Form diesen Umfangs auf, was nicht heißt, dass sie deswegen ohne weiteres übergangen werden dürften. Bei Cicero fließen genauso Gedanken seiner Vorgänger ein, wie sich bei Schopenhauer antikes Gedankengut wiederfindet. Äußerungen anderer Philosophen zum Thema Weisheit und Alter(n) können jedoch nur dann Berücksichtigung finden, wenn es der jeweilige gedankliche Kontext zulässt. Wollte man sie alle en détail erfassen und untersuchen, würde die Arbeit fast zwangsläufig unübersichtlich werden und damit ebenfalls an Aussagekraft verlieren, wie z. B. bei de Beauvoir (1970): Obzwar ihr Buch eine enorme Fülle an Material aufweist, so ist ihre Interpretation abendländischer Denker recht oberflächlich und teilweise sogar unrichtig: Man darf Ciceros Cato maior de senectute weder zu den »Lobreden« (S. 154) auf das Alter zählen noch ihm einen »moralisierenden Optimismus« (S. 203) unterstellen; ebenso wenig hat Schopenhauer »einen absoluten Pessimismus« (S. 258) gelehrt. Ähnliche Verzerrungen bei Borngräber 1990, S. 37/38.

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Einleitung

und ihre Forschungsbemühungen ins Leere laufen. Nach diesen Vorüberlegungen, welche ebenso eine komprimierte kritische Überprüfung der Haupterkenntnisse derzeitiger Weisheitsforschung beinhalten, lässt sich dann viel eher einsehen, dass man eben nur auf philosophischem Terrain einen wirklichen Zugang zur Weisheit findet, woraus allerdings keineswegs folgt, dass alles, was gemeinhin als Philosophie bezeichnet wird, automatisch Weisheit mit sich bringt: »Beschäftigung mit Philosophie ist […] keine hinreichende Bedingung für Weisheit« (Menne 1984, S. 156); denn »es gibt Philosophen, die keine Weisen waren, und Weise, die nie mit philosophischer Gründlichkeit, geschweige schulgerecht gedacht haben« (Bloch 1969, S. 387). Schon bei Philosophielehrern sucht man ja auch nicht selten vergeblich nach Weisheit (cf. Seneca 108. Brief, 36).

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Am Ende der Weisheit?

Wenn man bedenkt, dass bereits vor mehr als 30 Jahren ein sehr beachtenswertes Buch mit dem vielsagenden Titel »Am Ende der Weisheit? Menschlichkeit jenseits von Computern und Ideologen« (Kaltenbrunner 1984) erschienen ist, dann stellt sich angesichts der seitdem weiter fortgeschrittenen Technisierung und Kommerzialisierung menschlichen Daseins heute eher die Frage, ob inzwischen nicht ebenso der gesunde Menschenverstand vielerorts langsam, aber sicher seinem Ende entgegengeht (Lauxmann 2004, S. 86). Den vielgepriesenen (wissenschaftlichen) Fortschritt ausführlicher kritisch zu beleuchten, würde hier jedoch zu weit führen, weil man eben lange und trefflich darüber streiten kann, welche Fortschritte wirkliche Fort- und keine Rückschritte sind (siehe Wetz 2000, S. 81 f.); außerdem fallen sie ja nicht einfach so vom Himmel, sondern sind allesamt menschengemacht, und da der irdische Zukunftsglaube vielen geradezu heilig ist, weswegen nebenbei bemerkt die moderne Vermarktungsindustrie mit all ihren weltlichen Heilsversprechen leichtes Spiel hat, ihre scheinbar durchweg segensreichen Produkte an die Frau oder den Mann zu bringen, läuft jede Fortschrittskritik im Endeffekt immer auch auf eine Kritik am Wesen des Menschen hinaus, die ebenfalls recht umfangreich werden dürfte, wie ein aufrichtiger Blick in die lange Menschheitsgeschichte zeigt. 1 Im Übrigen wissen alle, die noch nicht In ihr spiegelt sich nämlich das Wesen des Menschen am deutlichsten wider, das sich, nebenbei bemerkt, auch nicht mit feierlichen Aufsätzen über die sog. Würde des Menschen beschönigen lässt, weil letztlich unge-

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ganz vom Zeitgeist ge- bzw. verblendet sind, hinlänglich über das menschliche Torheitspotential Bescheid. Zur weitverbreiteten Fortschrittsgläubigkeit trägt aber genauso die zunehmende »Sekundärverwissenschaftlichung des modernen Alltags« (Rosenmayr 1991, S. 413) bei, deren Erkenntnisse dadurch, dass sie sozusagen wissenschaftlich beglaubigt sind, stets ein echter Gewinn zu sein scheinen und deshalb nur selten angezweifelt werden. Heutzutage gibt es kaum noch einen Bereich menschlichen Lebens, der nicht zum Forschungsthema auserkoren wurde: »Von der Wiege bis zur Bahre sind wir Forschungsobjekte« (Chargaff 1984, S. 74). 2 So hat auch die Erforschung des Alter(n)s aufgrund demographischer Entwicklungen an Bedeutung gewonnen. Diejenigen, die sich mit diesem Lebensabschnitt wissenschaftlich befassen, bezeichnen sich bekanntlich als Alter(n)swissenschaftler: Beflügelt von der Hochkonjunktur des Faches begibt man sich beispielsweise auf die Spur sogenannter »ewiger Gesundheit« oder »ewiger Jugend«, führt zu diesem Zweck großangelegte, von der Pharmaindustrie finanziell geförderte Studien durch, die suggerieren sollen, als ginge jener Wunschtraum durch reichliche Einnahme von Vitamin-D-Präparaten und Omega-3-Fettsäuren sowie mit Hilfe spezieller Trainingsprogramme in Erfüllung. Doch wen erstaunt die sensationelle Erkenntnis solch superkluger Untersuchungen, dass gesunde Ernährung und ausreichende körperliche Bewewiss bleibt, worauf denn jene angeblich allen Menschen innewohnende Würde beruhen soll – trotz aller spitzfindigen und spekulativen Erklärungsversuche, die ad absurdum zu führen genügend Stoff für eine eigene Arbeit böte. 2 Hier müßte man obigen Buchtitel eigentlich mit dem Zusatz »Menschlichkeit jenseits von Wissenschaft und Forschung« versehen, wenn dadurch nicht der Eindruck entstünde, als ob es hier keinerlei Menschlichkeit gäbe. Dennoch scheint sich in vielen Fällen Schopenhauers bekanntes Diktum weiterhin zu bestätigen: »Wohin Denken ohne Experimentieren führt, hat uns das Mittelalter gezeigt; aber dies Jahrhundert ist bestimmt, uns sehn zu lassen, wohin Experimentieren ohne Denken führt […]« (Paralipomena, Kap. 6, § 77).

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gung den Gesundheitszustand von Menschen auch im Alter positiv beeinflussen? Wer hätte dann eigentlich noch teure, künstlich hergestellte Nahrungsergänzungsmittel nötig? Ist es wirklich so aufsehenerregend, wenn Gerontopsychologen zu dem Schluss kommen, dass populäre Aussprüche (»Wer rastet, der rostet«) 3 »ganz offensichtlich einen rationalen Kern« (Kaiser 2008, S. 116) haben? Wird nicht in der Gerontologie Altbekanntes immer wieder neu aufgetischt? Bereits im Jahr 1968 schrieb Munnichs ja in seinem Aufsatz, »wer ruht, der rostet« (S. 264). Diese gerontologische »Neuigkeit« hätte man übrigens schon aus Ciceros Cato maior de senectute erfahren können – einem immerhin über 2000 Jahre alten philosophischen Werk! Insofern bestehen durchaus berechtigte Zweifel, ob angesichts »des fast explodierenden Fortschritts der wissenschaftlichen Erkenntnisse« (Oswald 2008, S. V) auch in grundlegender Hinsicht wirkliche Fortschritte erzielt wurden. Darf man die vielfältigen Forschungsarbeiten diesbezüglich nicht sogar als kontraproduktiv betrachten, da sie den Blick für das Wesentliche versperren, also dafür, worauf es im Leben bzw. Alter(n) letztendlich ankommt, nämlich geistig reifer und weiser zu werden? Besteht durch eine derartig hohe »intellektuelle Inflation« (Chargaff 1984, S. 68) nicht ferner die Tendenz, das Alter(n) in zunehmendem Maße zu trivialisieren, womit gleichzeitig die Gefahr wächst, dass Alter(n)swissenschaftler nur noch Handlangerdienste für die grassierende Kommerzialisierung, »die marktkonforme Schönfärberei des Alters« (Rosenmayr 2007, S. 43) leisten? Und ist es nicht ein geistiges Armutszeugnis und entlarvend zugleich, wenn Gerontopsychologen es allen Ernstes als Aufwertung des Altersbildes verstehen, dass ältere Menschen »mittlerweile als kaufkräftiges Segment des Marktes erkannt« werden, »also einen interessanten und potenten WirtschaftsfakWeitere Binsenweisheiten z. B. bei Oswald 2007, S. 283 f., sowie Oswald 2008, S. 1: »Gebrauche täglich Deinen Kopf und Deinen Körper oder verliere!«

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tor« (Kaiser 2008, S. 83) repräsentieren und deshalb von allen möglichen Geschäftemachern kräftig umworben werden? In Anbetracht all dieser bedenklichen Entwicklungen sieht man sich regelrecht gezwungen, etwas genauer in Augenschein zu nehmen, wie es in weisheitlicher Hinsicht um die Alter(n)swissenschaften bestellt ist.

Wissenschaft ohne Weisheit? Bezeichnenderweise fristet das Thema Weisheit bzw. Altersweisheit in der Gerontologie abgesehen von einigen Studien psychologischer Weisheitsforschung eher ein Schattendasein. Selbst in wissenschaftlichen Standardwerken taucht jener Begriff oft nur sporadisch auf und wird dann meist auch nicht näher erläutert, so als verstünde er sich ganz von selbst. 4 Diese Kalamität rührt aber nicht nur von einer allgemeinen Nachlässigkeit her, sondern ist auch Folge eines systematischen Verdrängungsprozesses: Es spricht geradezu Bände, wenn in einem neubearbeiteten gerontologischen Handbuch (Oswald et al. 2006) ein beachtenswertes Kapitel über Gerontophilosophie (Rosenmayr 1991) aus der vorherigen Auflage (Oswald et al. 1991) durch zeitgeistgemäßere Beiträge ersetzt wird, die etwa den kakophonischen Modeausdruck »Anti-Aging« zum Inhalt haben oder in denen gar das Alter ganz unverhohlen als Wirtschaftsfaktor propagiert wird: Dazu müsse man nur die als »reichste Generation aller Zeiten« proklamierte Zielgruppe der Älteren genauer unter die Lupe nehmen, um möglichst viel Gewinn aus diesem Wissen ziehen zu können. Derartige, in erster Man belässt es z. B. bei der lapidaren Bemerkung, dass der »bis ins höchste Senium hinein« mögliche Zuwachs an »Erfahrungen […] und diesbezüglich an ›kristalliner Intelligenz‹ […] manchmal auch als ›Altersweisheit‹« charakterisiert wird (Rupprecht 2008, S. 15/16) und ihre »Untersuchung […] ein modernes Feld der empirischen psychologischen Alternsforschung« darstellt (Oswald & Kaiser 2006, S. 213).

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Linie auf kommerziellen Profit ausgerichtete Aufsätze sind m. E. jedoch gerade in wissenschaftlichen Veröffentlichungen schon deswegen völlig fehl am Platz, weil sie aller Mitmenschlichkeit hohnsprechen und eindeutig dem gerontologischen Ethos entgegenstehen, welches Rosenmayr (2007, S. 20) auf den Punkt brachte: »Es geht in der Alternsforschung schließlich ›ums Leben‹, um dessen Schutz und Förderung in der Gesamtsicht des Menschlichen«. Dennoch scheinen sich einige Alter(n)swissenschaftler wenig daran zu stören, zusammen mit Marketingstrategen zu publizieren. Diese fragwürdige Kooperation geht sogar so weit, dass man bereitwillig Begriffe aus dem Werbejargon übernimmt: In wissenschaftlichen Artikeln (Kaiser 2002, S. 172/173) werden dann alte Menschen unumwunden als »Kunden« bzw. »Zielgruppe« bezeichnet; schließlich gelte es, ihnen »Produkte«, d. h. »Angebote der Interventionsgerontologie« zu verkaufen; jene »angebotenen Produkte« müssten deshalb »zielgruppenorientiert entwickelt und vermarktet werden«, um davon profitieren und sich auf dem Geronto-Markt behaupten zu können; hierbei handele es sich allerdings nicht um Produkte im herkömmlichen Sinn, sondern um etwas, das erst von der Zielgruppe hervorgebracht werden müsse, nämlich »Selbstständigkeit, Lebensqualität, Kompetenz usw.«; Interventionsgerontologie wolle also nur »Informationen darüber« weiterverkaufen, wie sich diese Ziele verwirklichen lassen, so dass man sie im Erfolgsfall »als Produkte der alten Menschen« betrachten könne; »ein gutes (›erfolgreiches‹) Leben im Alter« sei dabei oberstes Ziel gemäß »dem Erkenntnisstand der Gesellschaft«, obschon trotz aller »Ratschläge zum guten oder erfolgreichen Leben im Alter« (ebenda, S. 170), die sich Interventionsgerontologen zu erteilen rühmen, letztendlich unklar bleibt, was darunter zu verstehen ist. 5 Nühlen-Graab (1990, S. 37) wählt dagegen die nicht minder nebulöse Formulierung: »ein gutes (gelingendes) Leben […] im Alter«. Der Begriff »er-

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Wie die Definition auch lauten mag, so gibt es hier doch noch viele grundsätzliche Fragen: Führen wirklich nur diejenigen ein gutes, erfolgreiches Leben im Alter, die noch selbstständig, gesund und zufrieden sind, die sich also demgemäß »vernünftig« verhalten, alle interventionsgerontologischen Anweisungen artig befolgen und sich »den Interessen der Gesellschaft« (Kaiser 2002, S. 169/170) unterordnen? Welche sind das eigentlich? Sollen ihr Ältere nicht vor allem deswegen nicht zur Last fallen, weil man ja »aus Systemperspektive […] steigende Kosten und finanzielle Belastungen befürchtet« (Baltes & Carstensen 1996, S. 200)? Falls sie aber trotz aller »Kunst des erfolgreichen Alterns« (Kaiser 2002, S. 178) irgendwann doch auf die Hilfe anderer angewiesen sind, ist ihr Leben dann weniger gut und erfolgreich? Bereits diese Einwände lassen die Vorstellung vom sogenannten »erfolgreichen« Alter(n) als unausgereift erscheinen und nähren obendrein den Verdacht, dass man dadurch hauptsächlich der von wirtschaftlichen Interessen gelenkten »Vernunft von Interventionsmaßnahmen« (ebenda, S. 177) Vorschub leisten möchte, damit sich ihr möglichst viele beugen. Ob das jedoch im gewünschten Ausmaß gelingt, bleibt äußerst fraglich, blickt man auf die von gerontopsychologischer Seite anempfohlenen Alternativinterventionen. 6 Was für ein krudes Menschenbild wird hier überhaupt vermittelt, wenn Menschen mit einer Lebenserfahrung und -reife von 70, 80 oder mehr Jahren wie Kleinkinder behandelt werden! Kann dies wirklich »Bafolgreiches Altern« (»successful aging«) geht übrigens auf Havighurst (1963) zurück und findet seitdem in alter(n)swissenschaftlichen Publikationen immer wieder Verwendung, siehe z. B. Baltes & Carstensen (1996) oder Mechling & Eichberg (2006, S. 363). 6 Lasse sich ein älterer Mensch nicht zu den gängigen Gedächtnisübungen bewegen, solle man beispielsweise den Versuch unternehmen, ihn zum Jonglieren zu animieren, weil dadurch in ähnlicher Weise das Gehirn trainiert werde; etwaigen Trübsinn bei der Zielgruppe könne man daneben mit ein wenig Humor aus der Welt schaffen, was ebenfalls Körper und Seele guttäte (Kaiser 2002, S. 180/181) – allerdings nur, so wäre zu ergänzen, wenn man darüber tatsächlich lachen könnte.

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sis einer Vorstellung vom Menschen« sein, die als »angemessen« (ebd., S. 179) zu bezeichnen ist? Man wäre m. E. gut beraten, diese »Infantilisierung der Alten« (Gronemeyer 1989, S. 114) schleunigst zu beenden und auch einmal in Erwägung zu ziehen, welche tiefere Bedeutung das Alter(n) im menschlichen Lebenslauf haben könnte. Dafür genügt es eben nicht, alle wissenschaftlichen Fachrichtungen, die das Alter(n) heute für sich entdeckt haben, gleichsam in einen Topf zu werfen und von diesem multidisziplinären Wissensallerlei und Stimmengewirr Aufschluss in grundlegender Hinsicht zu erwarten, wenn es also um die Beantwortung fundamentaler Fragen zum Alter(n) geht. 7 Diese können in solch einem lockeren Zweckverband ganz unterschiedlicher Disziplinen kaum Gehör finden, da jeder Vertreter seines Faches in einer anderen Sprache spricht und oftmals nur seine jeweiligen fachspezifischen Interessen im Auge hat: »Mit anderen Worten, wo Spezialwissen vorherrscht, verschwindet mit der Gelehrsamkeit auch die Weisheit« (Chargaff 1984, S. 60). Man muss ohnehin mit Erstaunen feststellen, wie viele Fächer sich mittlerweile zu den Alter(n)swissenschaften zählen. Selbst die Erziehungswissenschaften sind in der sogenannten »Expansionsperiode« (Oswald 2008, S. 8) der Gerontologie noch hinzugekommen, aus denen dann die »Wissenschaftsdisziplin Geragogik« (Veelken 2006, S. 121) wurde, welche wiederum möglichst vielen älteren Menschen »eine lebensbegleitende und lebensaltersgemäße Förderung einer glückenden Lebensmeisterung« (ebenda, S. 120) angedeihen lassen möchte, wobei man sich wie beim gerontologischen Hauptinterventionsziel in Schweigen hüllt, was darunter in concreto zu verstehen ist. Gelingt es tatsächlich nur denen besser, ihr Leben – was auch imInsofern überrascht es keineswegs, dass die verschiedenen gerontologisch ausgerichteten Disziplinen mehr oder weniger aneinander vorbeireden (Rosenmayr 2007, S. 91) und man nach wie vor um die »Förderung der Interdisziplinarität in der Alternsforschung« (Kaiser 2007) bemüht ist.

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mer das heißen mag – glückend zu meistern, die an allerlei Angeboten der Altenbildung teilnehmen und wie Abc-Schützen wieder brav die Schulbank drücken? Obwohl nichts dagegen spricht, sich im Alter weiterzubilden, so darf mit Seneca (36. Brief, 4) doch sehr bezweifelt werden, ob allein die »Teilnahme an Bildungsprozessen« bereits eine »aktive Lebensbewältigung« darstellt (Kolland 2003, S. 194). Sich als alter Mensch fortzubilden, ist eher Ausdruck davon, sich beschäftigen zu wissen, als davon, dass man sein Leben in toto sowie die condicio humana, d. h. die Akzeptanz des Alter(n)s und der Endlichkeit des Daseins zu bewältigen vermag. Dafür bedarf es hingegen eines hohen Maßes an geistiger Reife und Weisheit (Ebeling 1999, S. 48), die eben nicht aus irgendeinem Zeitvertreib erwächst, sondern Ergebnis eines bewusst geführten, langen Lebens ist. Jener fundamentale Aspekt wird in den Alter(n)swissenschaften viel zu wenig bedacht, betrachten doch ihre Disziplinen, da sie »letztlich alle auf die Bewältigung von Problemen gemünzt sind«, das Alter(n) schwerpunktmäßig als problembelasteten Lebensabschnitt und beanspruchen gleichzeitig für sich das Vorrecht, probate »Problemlösemittel« zur Aufrechterhaltung von »Kompetenz und Selbstständigkeit« parat zu haben, während der alte Mensch hierbei lediglich als »Gegenstand« fungiert (Kaiser 2007, S. 249); auch wenn ihm großzügigerweise zugestanden wird, »Konstrukteur und Dirigent seines je individuellen Alterns« (ebenda, S. 250) zu sein, so läuft man bei einer derartig problemorientierten Sichtweise stets Gefahr, ältere Menschen gleichsam zu entmündigen und zu behandlungsbedürftigen Statisten einer autoritär betriebenen Gerontologie zu degradieren. 8 Damit dies nicht passiert, müssten Alter(n)sVgl. Hillman (2004, S. 109): »Eine Wissenschaft des Alterns, die bei physiologischen Veränderungen anfängt, statt sich primär deren Bedeutung für das Individuum zuzuwenden, geht am alternden Menschen vorbei.« Schon Gronemeyer (1989, S. 115) hat sich ähnlich kritisch geäußert: »Dies ist das vertrackte Grundmuster der Reparaturgesellschaft, die immer mehr Menschen durch die Mühle von Diagnose und Therapie mahlt«.

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wissenschaftler weitaus mehr die subjektive Seite ihres sogenannten Forschungs-»Objekts« berücksichtigen und sich viel öfter fragen, ob ihre Sicht der Dinge mit der alter und vielleicht sogar geistig reiferer Menschen überhaupt kompatibel ist; was Jüngeren am Alter(n) problematisch erscheint, muss im Alter(n) keineswegs genauso empfunden werden. Anstatt vorwiegend von Problemen des Alter(n)s zu sprechen, 9 sollte das wissenschaftliche Interesse immer auch von solchen Grundfragen begleitet sein; möglicherweise würde dann dem einen oder anderen ins Bewusstsein dringen, dass man gegen ein Problem zu Felde zieht, das für Ältere gar keines ist. Versteht sich Gerontologie hingegen vornehmlich als eine auf Alter(n)sprobleme ausgerichtete Wissenschaft, so befindet sie sich in der Verlegenheit, ihre problembezogene Perspektive ihrer Zielgruppe näherzubringen – eine heikle Aufgabe, die Wissenschaftler deshalb anderen überlassen (Kaiser 2002, S. 174), während sie sich damit begnügen, Belehrungen zu erteilen (ders. 2007, S. 256). Das gerontologische Grunddilemma ist geradezu mit Händen zu greifen: Einerseits konzentriert man sich auf problematische Verläufe und Auswirkungen des Alternsprozesses, die den Menschen in seiner Kompetenz und Selbstständigkeit bedrohen bzw. einschränken können, und sucht nach geeigneten Mitteln und Wegen, wie sich das entweder verhindern oder hinauszögern lässt; andererseits sollen ausgerechnet jene wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die vorzugsweise physische und psychische Erkrankungen des höheren Lebensalters zum Inhalt haben, dem Vorurteil den Boden entziehen, »alt ist gleich krank« – eine »landläufig zu hörende Meinung«, die freilich nicht erst von der zeitgenössischen Gerontopsychologie »gründlich widerlegt« (Oswald 2008, S. 1) wurde, sondern – das zeigt Hoppe & Wulf (1996, S. 8) sprechen gar von »einem zentralen Problem der Menschheit«. Man beachte nur, wie häufig der Begriff »Problem« in wissenschaftlichen Aufsätzen (z. B. Kaiser 2007) verwendet wird, obwohl man gleichzeitig den Eindruck vermeiden möchten, »das Altern mache nur Probleme« (Kaiser 2002, S. 167).

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»Erfolgreiches Altern« – älter werden ohne Weisheit?

sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit – schon von Denkern wie Cicero oder Schopenhauer, die zu Zeiten lebten, als es diese Wissenschaft noch gar nicht gab. Erschwerend kommt heute hinzu, dass sich Alter(n)sforscher in ihrer Beurteilung des Alter(n)s offenbar nicht ganz einig sind: Etliche von ihnen haben aufgrund neuerer gerontopsychologischer Forschungsergebnisse das lange in der Wissenschaft vorherrschende Defizitmodell des Alter(n)s, wonach Altern ein genereller Abbauprozess wäre, durch das sogenannte Kompetenzmodell ersetzt, welches der Multidimensionalität sowie -direktionalität des Alternsvorgangs Rechnung trägt und die noch im Alter nachweislich vorhandenen Kompetenzen herausstellt (siehe Oswald & Kaiser 2006, S. 211); 10 andere sprechen indes wieder recht undifferenziert von »einem kognitiven und körperlichen Abbau«, der mit dem Alter(n) »oft« einhergehe (Lang 2007, S. 318). Jenes Hin und Her ist ein klares Indiz dafür, dass man sich in der Gerontologie viel zu stark auf physiologische Aspekte des Alternsprozesses konzentriert und damit eine seit langem von Rosenmayr (1991, S. 403) geforderte »Basisreflexion auf Alter (und damit auf Endlichkeit) und Leben (und damit auf Prozess, Reversibilität und weitere Entfaltung)« bereits im Keime erstickt. Diese würde unweigerlich auch die Frage nach der tieferen Bedeutung des Alter(n)s in den Vordergrund rücken, so dass es gar nicht dazu käme, »ein entweder propagandistisch-optimistisches oder ein düster-bedrohliches Weltbild« (Rosenmayr 2003, S. 12) zu zeichnen.

»Erfolgreiches Altern« – älter werden ohne Weisheit? Weisheit spielt im bereits erwähnten gerontopsychologischen Denkmodell »erfolgreichen, gelingenden Alterns« (Baltes & Carstensen 1996, S. 201) ebenfalls kaum eine Rolle. Statt dessen 10

Zu beiden Modellen siehe auch Rupprecht 2008.

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werden in der wissenschaftlichen Literatur »bis zu 50 Indikatoren für erfolgreiches Altern« (Baltes et al. 1989, S. IX) aufgezählt, weil man es »auch nicht« als »wünschenswert« ansieht, »nach einer monokriterialen Lösung« (ebenda) hierfür zu suchen. Dabei wäre eigentlich zuallererst zu überlegen, ob das Leben eines Menschen überhaupt von umfassendem Erfolg im Sinne von geistiger Reife gekrönt sein kann, wenn sich im Alter keine Spuren von Weisheit zeigen. Würden somit nicht alle sonstigen Kriterien »erfolgreichen Alterns« an Bedeutung verlieren? Man muss ohnehin sehr skeptisch sein, ob ein derart theorielastiges Konzept menschlichem Leben bzw. Alter(n) in seiner Komplexität überhaupt gerecht werden kann. Schon Rosenmayr (1989, S. 100) hat diesbezüglich erhebliche Bedenken angemeldet und den Ausdruck »erfolgreiches Altern« vehement zurückgewiesen – m. E. völlig zu Recht, denn damit wird schließlich suggeriert, als wäre leben und altern »insgesamt planbar oder lenkbar«. 11 Auch wenn es heute üblich ist, das Dasein als erfolgs- und profitorientiertes Unternehmen anzusehen und dem Erfolg, in welcher Form auch immer, hinterherzulaufen, so entpuppt sich das wissenschaftliche Konzept »erfolgreichen Alterns« genauer betrachtet vielmehr als kontraproduktiv für ein selbstbestimmtes Leben im Alter: Nicht ältere Menschen, sondern Alter(n)swissenschaftler bestimmen hiermit ja, unter welchen Kriterien man »erfolgreich« altert. Daneben überrascht es mitnichten, dass man sich bei dieser »Kriterienvielfalt« 12 uneinig ist »über deren Zusammenhang und Gewichtung« (Baltes & Baltes 1989, S. 6). Jede wissenschaftliche FestLieße sich das Leben wirklich bis ins kleinste Detail planen und lenken, was hieße dann »erfolgreich« zu leben bzw. zu altern? Etwa dass man, wie Schopenhauer (Paralipomena Kapitel 9, § 128) in anderer Beziehung sarkastisch bemerkt, »ohne Mühe und Not vollauf fressen, saufen, sich propagieren und krepieren« könnte? 12 Baltes & Baltes (1989, S. 6) nennen beispielsweise »Lebenslänge, biologische und mentale Gesundheit, psychosoziale Funktionstüchtigkeit, Lebenszufriedenheit und Selbstwirksamkeit«. 11

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legung würde sowieso an den interindividuell höchst unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben scheitern: Dem einen mag z. B. die Lebenslänge wichtiger erscheinen als qualitative Aspekte des Daseins, während für den anderen Lebensqualität Priorität hat. Somit erweist sich allein der Versuch, eine »umfassende Definition erfolgreichen Alterns« (ebenda, S. 7) aufzustellen, als die Quadratur des Kreises. Trotzdem gebe es laut Wissenschaft (Baltes & Baltes 1989, S. 8) »eine Reihe allgemeiner Richtlinien für erfolgreiches Altern«, wie »ein ›gesunder‹ Lebensstil« oder »Aktivitäten im Familien-, Freizeit- und Arbeitsbereich«, die »zum Aufbau von Kapazitätsreserven und somit zu einer Verlangsamung negativer Altersprozesse« beitragen, wobei man von folgendem Grundsatz ausgeht: »Je höher die allgemeine biologische, mentale und soziale Kapazitätsreserve, desto wahrscheinlicher wird auch erfolgreiches Altern, gleich nach welchen Kriterien man es bestimmt«; doch »aufgrund des Verlustes an biologischen, mentalen und sozialen Kapazitätsreserven« im Alter, worauf Wissenschaftler (Baltes & Baltes 1989, S. 9) gleichfalls hinweisen, würde es mit zunehmendem Alter immer unwahrscheinlicher werden, »erfolgreich« zu altern; zwar scheint das von ihnen ins Feld geführte »Prinzip der selektiven Optimierung mit Kompensation« (ebenda) eine gute Strategie zu sein, den Herausforderungen des Alter(n)s zu begegnen, es ist aber keine Garantie dafür, dauerhaft »erfolgreich« zu altern; »Ziele haben und diese verfolgen« – so die widersinnige wissenschaftliche Definition »erfolgreichen, gelingenden Alterns« (Baltes & Carstensen 1996, S. 201/202) 13 – bedeutet eben noch lange nicht, sie auch allesamt zu erreichen; außerdem darf sehr bezweifelt werden, ob Von Erfolg spricht man sinnvollerweise nur dann, wenn ein (selbst) gesetztes Ziel tatsächlich erreicht wurde; ist das nicht der Fall, so war die Bemühung eben nicht erfolgreich; genau genommen müsste »erfolgreich« altern also bedeuten, sich ständig neue Ziele zu setzen und diese auch immer zu erreichen, was freilich vollkommen illusorisch ist; bestenfalls könnte Altern demnach nur teilweise erfolgreich sein. Dies zeigt schon, dass sich

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diejenigen, die immerzu fast zwanghaft »erfolgreich leben wollen«, wirklich ein »gutes Leben im Alter« (ebenda, S. 210) führen. Wer möchte sich schon freiwillig einem solch gewaltigen Erfolgsdruck aussetzen, der von wissenschaftlicher Seite auf (alte) Menschen ausgeübt wird? Müsste man im höheren Alter nicht vielmehr aufgrund seiner Lebenserfahrung, wie Rosenmayr (2007, S. 229) bemerkt, »die Illusion fahren lassen, das Leben könne durchgehend eine Erfolgsgeschichte sein und bis zuletzt bleiben«? Die Hauptkritik am gerontopsychologischen Konzept des sogenannten »erfolgreichen Alterns« beruht also weder auf der Verleugnung der Tatsache, dass sich das Alter(n) gestalten lässt, noch auf der Fehleinschätzung, dass es einem generellen Abbauprozess unterliegt, sondern schlicht und einfach auf der Entwertung menschlichen Lebens bzw. Alter(n)s, indem man es einem Erfolgsdiktat unterwirft und »auf eine gewinnorientierte Bilanzierung« (Baltes & Baltes 1989, S. 5) reduziert. Wenn die wissenschaftlichen Vertreter der Theorie des »erfolgreichen Alterns« Erfolg mit dem Verfolgen von Zielen gleichsetzen, »die darauf gerichtet sind, im Lebenslauf und im Alter Verluste zu minimieren und Gewinne zu maximieren« (Baltes & Carstensen 1996, S. 201), dann dürfte es eigentlich niemanden in Erstaunen versetzen, dass sie sich damit den berechtigten Vorwurf einhandeln, Alter(n) »zu sehr in die Nähe der Börsenspekulation« (Gronemeyer 1989, S. 113) zu rücken. Wundern muss man sich hingegen darüber, wie leichtfertig (alten) Menschen unterstellt wird, all ihre Ziele seien nur auf Gewinnmaximierung bzw. Verlustminimierung gerichtet (Baltes & Carstensen 1996, S. 210). Zweifellos geben viele Menschen vom Zeitgeist geblendet materiellem Gewinnstreben Vorrang und fügen dabei nicht selten anderen erheblichen Schaden zu, um ihre selbstsüchtigen Ziele zu erreichen, nehmen dafür aber letzten Endes große Verluste in der Begriff Erfolg kaum eignet, um qualitative Aussagen über menschliches Leben bzw. Altern zu machen.

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Weisheitsforschung ohne Weisheit?

Kauf, die spätestens dann eintreten, wenn die condicio humana dem Tanz um das goldene Kalb ein Ende bereitet. Hier drängt sich geradezu die Frage auf, ob es nur durch irgendwelche selbst gesetzten Ziele ohne das nötige Quäntchen Weisheit überhaupt möglich ist, sein Dasein zu meistern, d. h. nicht nur seine Zeit zu vertreiben. Oder anders gefragt: Kann man auch noch selbstgenügsam und zufrieden leben für den Fall, dass sich trotz aller Hilfsmittel und klugen Anpassung an das Alter(n) Gewinne nicht mehr maximieren bzw. Verluste nicht mehr minimieren lassen, die Zielsetzungen daher bescheidener werden müssen? An diesem Punkt stünde einer weiseren Auseinandersetzung mit dem Alter(n) im Grunde nichts mehr im Wege.

Weisheitsforschung ohne Weisheit? Obwohl der Zeitgeist »mit seiner Machbarkeitsideologie« kaum etwas mit Weisheit »anfangen« kann (Förster 1993, S. 2), so scheint weiterhin Interesse für solch ein eher unzeitgemäßes Thema zu bestehen. Dass Weisheit im Zeitalter der Hochleistungstechnologie, wo es ständig neue, scheinbar bahnbrechende Erfolgsmeldungen aus Wissenschaft und Forschung zu verkünden gibt, noch nicht gänzlich in Vergessenheit geraten ist und es nach wie vor Menschen gibt, die sich ihr wieder zuwenden, liegt vermutlich auch daran, dass sie im Laufe der Zeit dahintergekommen sind, »im Schutt der Informationen und unter dem Steinschlag vorfabrizierter, […] herunter hagelnder Aufregungen« (Rosenmayr 2007, S. 9) weder wirkliche Orientierung finden noch zu sich selbst kommen zu können, geschweige denn Aussicht haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auch das enorme Suggestionspotential moderner Massenmedien hat bekanntermaßen dazu geführt, dass sich viel zu viele durch eine ungefilterte Wissensaufnahme allzu leicht manipulieren und hinters Licht führen lassen: Jedes »Stückchen Information wird für genauso gut wie ein anderes gehalten« (Chargaff 1984, 33 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Am Ende der Weisheit?

S. 62). Wenn neuerdings Stimmen laut werden, die jenen bedenklichen Zeiterscheinungen eine auf Weisheit basierende Grundhaltung entgegensetzen, ist das m. E. nur zu begrüßen. 14 Unterdessen wurde auch die Wissenschaft auf das Thema »Weisheit« aufmerksam, wie die Zahl der in letzter Zeit erschienenen wissenschaftlichen Beiträge zeigt. 15 Ob sie alle hierzu wirklich Substanzielles beisteuern, sei dahingestellt – schon deswegen, weil Weisheit bei einigen Wissenschaftlern eigentlich weniger im Zentrum ihrer Betrachtungen steht, sondern mehr Mittel zum Zweck ist, da sie sich primär »mit der Entwicklung verschiedener psychologischer Funktionsbereiche über die Lebensspanne beschäftigen« (Staudinger & Baltes 1996, S. 58) oder aber beabsichtigen, »die positiven Potentiale des Alters darzustellen« (Kaiser 1994, S. 25). Insofern ist schon im Voraus zu befürchten, dass eine solche intentional verwässerte und eher nebenbei betriebene Weisheitsforschung mehr Verwirrung stiftet als den Kern der Sache trifft, was sich nach genauerer Überprüfung der Resultate heutiger Weisheitsforschung dann leider auch oft bestätigt: Weisheit sei »Expertentum, d. h. höchstes Wissen und höchste Urteilsfähigkeit im Umgang mit fundamentalen Problemen der Lebensplanung, Lebensgestaltung und der Lebensdeutung« (Staudinger & Baltes 1996, S. 59). 16 Besonders Bartling (1996) muss man Dank zollen für sein Buch »Die Dynamis der Weisheit. Selbstsorge wider den Zeitgeist«, auch weil hier die Fehlentwicklungen unserer Zeit sehr deutlich zur Sprache kommen. 15 Z. B. Holzhey & Leyvraz (1988), Sowarka (1989), Oelmüller (1989), Sternberg (1990, 2004), Förster (1993), Kaiser (1994), Borsche & Kreuzer (1995), Hahn (1996), Staudinger & Baltes (1996), Ardelt (1997, 2000, 2004), Achenbaum (2004), Baltes & Kunzmann (2004), Rösing (2006), Gloy (2005, 2007). 16 Diese fragwürdige Weisheitsdefinition ist regelrecht zum Credo führender Weisheitsforscher geworden, siehe z. B. Baltes & Smith 1990, S. 87, 95, 112; Staudinger, Smith & Baltes 1994, S. 9 oder Baltes & Kunzmann 2004. Vereinzelte kritische Stimmen, die es unter diesen Wissenschaftlern durchaus gibt (siehe etwa Ardelt 2004), haben es dagegen schwer, Gehör zu finden. 14

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Weisheitsforschung ohne Weisheit?

Dass diese Definition nie und nimmer stimmen kann, wird jedem klar, der sie einer grundlegenden Überprüfung unterzieht: Wäre Weisheit wirklich »höchstes Wissen und höchste Urteilsfähigkeit, eben […] Expertise, in […] der fundamentalen Pragmatik des Lebens« (ebenda, S. 60), dann könnte man sie sich genauso aneignen, wie man auch Lehrbücher auswendig lernen kann; weise sein hieße dann lediglich, spezielles theoretisches Wissen zu besitzen, ohne in der Praxis davon Zeugnis ablegen zu müssen, oder wie es Chargaff (1984, S. 61) prägnanter formuliert: »Experte« zu sein »mit der Lizenz zur Ausübung von Fähigkeiten«, welche man »nicht hat«. Da aber niemand ernsthaft derartige Buchgelehrsamkeit, so außergewöhnlich sie auch sein mag, mit Weisheit gleichsetzen würde, muss diese Weisheitsdefinition also falsch sein. Der Gipfel der Absurdität ist jedoch erreicht, wenn Wissenschaftler ihre Probanden dahingehend aushorchen, ob bzw. wie viele solcher Buchweisheiten sie momentan parat haben, wenn sie mit konstruierten Lebensproblemen fiktiver Personen konfrontiert werden (siehe Staudinger & Baltes 1996, S. 63 f.). Mögen ihre Antworten gemäß jener wissenschaftlichen Methode auch »als weise« (Staudinger, Smith & Baltes 1994, S. 21) zu bezeichnen sein, so sagt diese Befragung noch nichts über die tatsächlich gelebte Weisheit der Befragten aus, da jeder halbwegs Vernunftbegabte so antworten kann, dass es möglichst »weise« klingt. 17 Was bedeutet im Übrigen »höchstes Wissen und höchste Urteilsfähigkeit«? Lässt sich davon überhaupt ein Begriff machen oder denkt man bei derartig übersteigerten Formulierungen genau genommen gar nichts mehr? Es drängt sich regelrecht der Eindruck auf, dass heutige Weisheitsforscher einen Vgl. Keckes (1983, S. 286): »A fool can learn to say all the things a wise man says, and to say them on the same occasions. The difference between them is that the wise man is prompted to say what he does, because he recognizes the significance of human limitations and possibilities, because he is guided in his actions by their significance, and because he is able to exercise good judgment in hard cases, while the fool is mouthing cliches«.

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Weisen nach dem Vorbild des stoischen Weisen basteln wollen, der, wie Schopenhauer im 1. Band der Welt als Wille und Vorstellung (1. Buch § 16, S. 147) treffend bemerkt, »ein hölzerner, steifer Gliedermann bleibt, mit dem man nichts anfangen kann, der selbst nicht weiß, wohin mit seiner Weisheit, dessen vollkommene Ruhe, Zufriedenheit, Glückseligkeit dem Wesen der Menschheit geradezu widerspricht und uns zu keiner anschaulichen Vorstellung davon kommen läßt«. Ein solcher allwissender Weise aus dem Laboratorium müsste buchstäblich platzen vor lauter Fakten- und Strategiewissen, womit ihn Wissenschaftler (Staudinger & Baltes 1996, S. 61) ausstatten möchten. Wie abwegig diese wissenschaftliche Weisheitsdefinition als sogenanntes Expertentum ist, wird des Weiteren durch die Tatsache deutlich, dass sich Menschen stark voneinander unterscheiden und ihre Leben schon deshalb auch völlig verschiedenartig verlaufen. Für all jene Lebensläufe der Experte zu sein, was etwa Lebensplanung, -gestaltung und -deutung betrifft, dürfte selbst das Fassungsvermögen eines Weisen – sofern er noch von dieser Welt ist – überfordern, so sehr ihn auch die Weisheitsforscher mit allen möglichen Superlativen ausstaffieren mögen. Angesichts ebendieser individuellen Verschiedenheit würde es, beiläufig bemerkt, weisen Menschen nicht im Traum einfallen, oberlehrerhaft das Leben anderer zu begutachten, weil sie wüssten, dass jeder sein Dasein eigenständig deuten, planen und gestalten muss; 18 die dafür nötige innere Kraft zu finden und zu kultivieren, wäre vermutlich einer der wenigen wichtigen Ratschläge, die sie anderen geben würden, denn als Alleswisser bräuchten sie nicht nur ein exorbitantes Repertoire an Kenntnissen, sondern müssten, um sich in jedes einzelne menschliche

Man kann deshalb dem nur zustimmen, was Hübscher (1973, S. 281) mit Blick auf die »Grundtatsachen« des Lebens bemerkt; diese »sind mit den Mitteln der Massenpsychologie, der Wirtschafts- und der politischen Wissenschaften nicht zu beantworten. Sie werden an jeden einzelnen für sich gerichtet, und jeder für sich selber muss mit ihnen fertig werden«.

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Leben ganz hineinversetzen und ihre außerordentliche Urteilsfähigkeit unter Beweis stellen zu können, es per impossibile selbst schon einmal gelebt haben. Auch auf Seiten der Wissenschaftler wurde in der Vergangenheit immer wieder Kritik am wissenschaftlichen Konzept laut (z. B. Rosenmayr 1991, S. 413, Ardelt 2004), Weisheit als Expertentum oder als ein bestimmtes Wissen und Urteilen zu verstehen. Um der lebenspraktische Komponente von Weisheit eher gerecht zu werden, hat man den Versuch unternommen, Weisheit »als Klugheit des Handelns« (Kaiser 1994, S. 32) zu interpretieren. Natürlich äußert sich Weisheit ebenso in der Lebensführung, wenngleich man sie nicht auf »kluges und vernünftiges Handeln« (ebenda, S. 31) einengen darf. Ist etwa der weise, der aus seiner Klugheit seinen Vorteil zu ziehen weiß? Wäre dem so, dann dürften sich sicherlich sehr viele weise nennen! Klug und vernünftig zu handeln, heißt zwar, sich seines Verstandes bedienen zu können, aber keineswegs, dass man allein deswegen schon weise ist. 19 Der bloße Hinweis auf die Lebenspraxis bringt also überhaupt nichts, wenn dabei Weisheit begrifflich nicht präzise von Klugheit abgegrenzt wird und daher das Wesensmerkmal weiser Menschen weiter im Dunkeln bleibt. Genau diese unzureichende Begriffsunterscheidung ist auch der Hauptgrund, warum Weisheit und Klugheit in der wissenschaftlichen Literatur oft recht gedankenlos durcheinandergeworfen werden, obwohl bereits die Erfahrung lehrt, dass klug sein und weise sein im Grunde zwei völlig verschiedene Verhaltensweisen sind:

Wäre all das, was dem menschlichen Verstand nützlich zu sein scheint, mit Weisheit identisch, dann gäbe es, wie Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik (VI, 7, 1141 a 25 ff.) richtigerweise bemerkt, sehr viele Weisheiten; weil aber Philosophen wie Thales oder Anaxagoras nicht mehr im Nützlichkeitsdenken des Alltagsmenschen gefangen sind, sondern ihr Augenmerk auf Höheres richten, d. h. auf das, was die Welt ursächlich im Inneren gleichsam zusammenhält, bezeichnet man sie als weise.

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»Wird ein Kopf klug genannt, so meint das noch wenig. Das kann ein Lump sein, trotz und sogar wegen seines Witzes. Es gibt gerissene Klugheit, wendige und besonders auch rein formale. Immer muss hier noch der Mann angesehen werden und das Wozu, das Worin, in dem er klug ist. Der helle Kopf an sich verpflichtet noch zu nichts, und der ausgekochte Rat ist gewiss nicht dasselbe wie ein weiser. Durchaus lassen sich kluge Betrüger finden, aber es hat noch nie einen weisen gegeben« (Bloch 1969, S. 355).

Natürlich bedeutet klug sein nicht von vornherein, sich z. B. auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen und daraus seinen Nutzen zu ziehen; 20 als eine dem Verstand zugeordnete Eigenschaft und Fähigkeit ist Klugheit im positiven Sinn sogar unerlässlich, um sich in einer materialistisch und hedonistisch geprägten Welt wie der unseren einigermaßen zurechtfinden zu können und nicht unter der Schlauheit anderer leiden zu müssen oder in den Strudel kollektiven Strebens nach Glück in Form von Genuss und materiellem Gewinn zu geraten; dafür benötigt man entweder eigene Lebenserfahrungen oder das Wissen, wie man sich in bestimmten Situationen klugerweise zu verhalten hat; weitblickende Menschen werden sich neben ihren eigenen Kenntnissen somit immer auch das Erfahrungswissen anderer zunutze machen; je mehr Erfahrungswissen sie besitzen und es auch anzuwenden wissen, desto klüger sind sie, wenngleich »Klugheit, Vorsicht«, worauf Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 2, Kap. 46, S. 739) mit Recht hinweist, auch ihre Grenzen hat, weil sich schlicht und einfach aufgrund der Komplexität der Welt nicht alles wissen lässt, abgesehen von der dafür nötigen, beinahe übernatürlichen Fähigkeit, in der jeweiligen Situation sich intuitiv immer klug zu verhalten (ebenAuch wenn Klugheit »im heutigen Sprachgebrauch eine durchgängig negative Konnotation« haben mag (Gloy 2007, S. 88), sollte man nicht übersehen, dass sie diese eigentlich erst dann erhält, wenn sie ausschließlich selbstsüchtigen Interessen dient und damit zur Schlauheit oder Gerissenheit wird.

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da, Kap. 7, S. 101). Wiewohl demzufolge eine gute Portion solch positiver Lebensklugheit vonnöten ist, um lebenstüchtig zu bleiben und den alltäglichen Herausforderungen unserer Zeit gewachsen zu sein, so muss einen Weisen allemal weit mehr auszeichnen als jemanden, der nur klug und erfahren ist. Würfe man Weisheit und Klugheit dagegen, ohne lange zu überlegen, in einen Topf, dann erübrigten sich damit auch alle weiteren Betrachtungen und man bräuchte sich weder mit Begriffen, noch mit der Wirklichkeit länger befassen: Weisheit wäre als besondere Art von Wissen so etwas wie Klugheit und jeder, der dafür aufnahmefähig ist, könnte es sich relativ rasch aneignen; ob jene, die solches Wissen besitzen, tatsächlich weise sind, stünde allerdings in den Sternen. Wer jedoch die Abwegigkeit, aus klugem Verhalten einfach auf Weisheit zu schließen, erkannt hat, muss gewissenhafter der Frage nachgehen, wodurch sich Weisheit und Klugheit voneinander unterscheiden, um wenigstens eine leise Ahnung davon zu bekommen, was Weisheit letztlich für den Menschen bedeutet.

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Philosophische Wegweiser zur Weisheit

Die bisherigen Darlegungen haben zwei Fehlentwicklungen ans Licht gebracht: einerseits wie weit man sich in den Alter(n)swissenschaften von Weisheit bzw. einer weiseren Sicht auf das Alter(n) entfernt hat, andererseits wie sehr es heutigen Weisheitsforschern an einem tieferen Verständnis für Weisheit mangelt. 1 Letzteres überrascht wenig, wenn man sich die bereits eingangs getroffene Feststellung ins Gedächtnis zurückruft, dass Weisheit »sich nicht objektiv messen« (Nahodil 1984, S. 33) lässt; ebendeswegen können ihr diejenigen, die sie trotzdem mit wissenschaftlichen Methoden zu erforschen trachten, überhaupt nicht in vollem Umfang gerecht werden. Dass Weisheitsforschung ohnedies eher unter Vorbehalt betrieben wird, belegen im Übrigen die häufig und gern verwendeten, schwammigen Formulierungen wie »Bestandteile weisheitsbezogenen Wissens« (Staudinger, Smith & Baltes 1994, S. 21) oder »weisheitsbezogene Leistungen« (Staudinger & Baltes 1996, S. 67). Doch aus der Tatsache, dass sich Weisheit wissenschaftlichen Quantifizierungsversuchen entzieht, folgt freilich nicht, dass es sie gar nicht gäbe. Obgleich es den allwissenden Weisen niemals gegeben hat und geben wird, 2 so gab und gibt es zweifellos zu allen Mit Ebeling (1999, S. 64) könnte man das auch umgekehrt formulieren: »Medizinische und psychologische Gerontologie ebenso wie die Soziallehren des Alters […] dienen vielem, aber nicht dem Ende der Torheit«. 2 Der Weise in höchster Vollendung, der alles wüsste oder den nichts und niemand mehr aus seiner stoischen Ruhe bringen könnte, muss – Gott sei Dank! – immer ein Ideal bleiben. Wenn solch vollkommene Weisheit nicht von dieser Welt ist, kann sie somit auch kein realistisches Lebensziel sein. 1

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Philosophische Wegweiser zur Weisheit

Zeiten in allen Völkern schon immer weise Menschen, die sich trotz aller mit ihrem Menschsein verbundenen Fehlern und Schwächen bereits durch ihr gesamtes Auftreten und Benehmen von den übrigen abheben; sie selbst würden sich mit Sicherheit nicht als weise schlechthin, d. h. als allwissend, bezeichnen, hat doch bereits einer der berühmtesten Weisen ganz offen bekannt, dass er nichts wisse; höchstwahrscheinlich betrachteten sie sich nur als weiser im Vergleich zur breiten Masse und dies nicht aus einem Überlegenheitsgefühl – da prinzipiell jeder weiser werden kann, der im Laufe seines Lebens geistig reifer wird –, sondern aufgrund einer veränderten Verhaltensweise, die wiederum Ausdruck einer anderen Lebenseinstellung ist. Vermeintlich weises Denken und Urteilen für sich allein, das nicht selten bloß Ausdruck selbstgefälligen Gehabes ist, sagt natürlich noch nichts darüber aus, ob jemand auch danach lebt; und selbst wenn dies auf den ersten Blick der Fall sein sollte, kann es sich dabei, worauf bereits Schopenhauer im 5. Kapitel seiner Aphorismen zur Lebensweisheit hingewiesen hat, um eine »durch lange Gewohnheit erlangte Selbstdressur« (S. 544) handeln, die, weil sie nicht dem jeweiligen Naturell entspricht, »stets als ein von außen gekommener Zwang« wirkt. Weisheit, wenn sie von innen kommt, harmoniert hingegen mit der eigenen Lebensführung – ungekünstelt und ohne jegliche temporäre Effekthascherei, von der selbst so mancher Betagte nicht ganz frei ist. Weisheit schwebt demzufolge nicht, wie heutige WissenDass es lebensnahe Weisheit dagegen sehr wohl gibt, wird sich in Ciceros De senectute zeigen – ein Werk, das ebenso den Titel De sapientia tragen könnte –, soll doch gerade Cato, die Hauptfigur des Dialogs, für die Leserschaft auch Ansporn sein, nicht bis zum letzten Tag zu warten, sich um eine weisere Lebensführung zu bemühen, d. h. nicht erst dann zu leben zu beginnen, wenn man aufhören muss (cf. Seneca De brevitate vitae 3, 5: Quam serum est tunc vivere incipere cum desinendum est!). Denn nur so kann Weisheit zum positiven Potential des Alter(n)s, zur potentiellen »Kraft der Hochaltrigen« (Veelken 2006, S. 120) werden, die sie in die Lage versetzt, die Endlichkeit des Lebens zu akzeptieren und damit auch den letzten Abschnitt ihres Daseins zu bewältigen.

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Philosophische Wegweiser zur Weisheit

schaftler glauben machen wollen, gleichsam im luftleeren Raum, indem sie sie zu einer schier übermenschlichen Urteilsund Wissenskraft hochstilisieren; sie muss sich vielmehr erst in der Lebenspraxis beweisen (Jost 1984, S. 21). Das Denken eines weisen Menschen, das sich von der gewöhnlichen Lebensanschauung unterscheidet, steht daher im Einklang mit seinem Tun und Handeln, welches damit ebenfalls keinem Allerweltsverhalten mehr entspricht. Dieser Kontrast ist es, der Weisheit in aller Deutlichkeit hervortreten lässt – wenngleich erst nach vielen Jahren, weil dem ein langer Reifungsprozess vorangeht, den auch Schopenhauer im letzten Kapitel seiner Aphorismen zur Lebensweisheit so genau zur Darstellung bringt. Wenn nun Wesensart und Lebensweise den Ausschlag dafür geben, ob jemand als weise zu bezeichnen ist oder nicht, so bleibt noch offen, wie sich im Laufe der Zeit eine weisere Lebenseinstellung und -führung zu entwickeln vermag. Dahinter steht freilich kein Automatismus, selbst wenn man wüsste, was das Charakteristische einer weisen Lebensführung bzw. -einstellung ist; denn dies zu wissen, ist eine Sache, danach respektive darauf hin zu leben, jedoch eine andere. Neben Schopenhauers bereits erwähnten Aphorismen kann uns in dieser Beziehung vor allem Ciceros Cato maior de senectute sehr gute Dienste leisten – besonders mit Blick auf die mit dem Alter(n) verbundenen Herausforderungen, wenn es also darum geht, aus eigener Kraft eine immer höhere geistige Reife zu erlangen und damit der Weisheit näher zu kommen. Cicero möchte nicht, wie in der Sekundärliteratur leider immer wieder behauptet wird, 3 das Alter(n) schönreden, sondern dazu ermutigen, die Potentiale von Körper und Geist zu nutzen, damit gar keine »Stimmung des Grams« aufkommt weSiehe z. B. Hübener 1957, S. 46, Dönni 1996, S. 9, 11, 99, 102, 122, sowie Ebeling 1999, S. 70. Wirklich »unerträglich« ist nicht, wie Welsch (2001, S. 30) meint, »Ciceros Lob des Alters« – weil Cicero das Alter an sich genau genommen gar nicht lobpreist –, sondern die zum x-ten Mal geäußerte, aber sich letztlich als haltlos erweisende Kritik, De senectute sei eine »Eloge des Alters«.

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Philosophische Wegweiser zur Weisheit

gen der mit den Jahren scheinbar schwindenden »körperlichen und geistigen Kräfte« sowie eines dann angeblich fehlenden »Lebensziels, einer zu erstrebenden Erfüllung« (Gsell 1968, S. 3); doch ihm ist keineswegs, wie heute allgemein üblich, am »dürren und einzigen Ziel körperlicher und geistiger Fitness« (Gronemeyer 1989, S. 114) gelegen; ebendieses Bemühen, gleichsam nicht einzurosten, stellt in De senectute kein Selbstzweck dar; es dient vielmehr dazu, eine möglichst hohe Lebensreife in Form einer tiefgreifenden Lebenssättigung (satietas vitae) zu erreichen; 4 sie ist das eigentliche, allumfassende Lebensziel, weil dadurch alles andere nebensächlich wird: Je mehr vermeintlich Wichtiges an Bedeutung verliert, desto größer ist auch der Zuwachs an innerer Freiheit und Weisheit, weil man lebensgesättigt eher zu sich selbst zu kommen und ein geistig unabhängigeres Leben zu führen vermag. Wie und auf welchen Wegen es dem Menschen gelingt, sich diesem Ziel im Lebenslauf zu nähern, soll die nun folgende, möglichst klare, authentische Darstellung von Ciceros und Schopenhauers Werken aufzeigen. Dafür ist es geboten, nicht nur die darin geäußerten relevanten Gedanken und Argumente präzise herauszuarbeiten, um Fehlinterpretationen vorzubeugen, sondern beide Philosophen ebenso gegen ungerechtfertigte Kritik zu verteidigen, die zur voreiligen Schlussfolgerung geführt hat, ihre Schriften, die ja für sich genommen schon literarische Meisterwerke sind, wären ohne Relevanz und bräuchten deshalb nicht weiter beachtet werden. 5 Es wäre freilich viel zu kurz gedacht, wenn man meinte, es ginge Cicero im Cato maior nur darum, »dem hohen Alter ein großes Maß an geistiger Kompetenz« zuzuschreiben, und diese »Ciceronische (d. h. stärker kompetenzorientierte) Auffassung des seelischen Alterns« (Thomae 1991, S. 208) dann lediglich als Vorläufer einer die Kompetenzen des Alter(n)s betonenden Gerontologie ansähe; wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit zeigen wird, würde eine solche Sichtweise Ciceros Werk stark vereinfachen. 5 Allein aufgrund ihrer Aktualität, also mit Blick auf die gegenwärtige, von demographischen Veränderungen geprägte Zeit (siehe Kocka 2008), wäre es gerechtfertigt, den gedanklichen und argumentativen Gehalt beider Texte, 4

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Ciceros Cato maior de senectute

Cicero (106–43 v. Chr.) hat mit seinem Werk Cato maior de senectute nicht nur eine der umfangreichsten, sondern auch aussagekräftigsten Schriften über das Alter(n) verfasst, die aus der Antike überliefert sind. Seiner Form nach kommt es einem längeren Vortrag (schola) nahe, den ein Lehrer (magister) als Antwort auf die Fragen des Schülers (discipulus) bzw. Hörers (auditor) hält, 1 ähnlich einer philosophischen Disputation (disder heute kaum noch bekannt ist, wieder in Erinnerung zu rufen. Wenn aber selbst die wissenschaftliche Literatur von diesen zeitlosen Werken so gut wie keine Notiz mehr nimmt und sogar Fachleute sich nur noch an »der Buntheit solcher Äußerungen« zu erfreuen wissen im Glauben, sie mit solch aufsehenerregenden Erkenntnisse, wie: »wir altern als Tiere, nicht als Menschen«, hinter sich gelassen zu haben (Welsch 2001, S. 20/21), dann ist eine intensivere Beschäftigung mit diesen philosophischen Grundlagen zum Alter(n) m. E. gebotener denn je. Danach wird man auch Ebelings speziell gegen Ciceros Cato maior gerichtete Polemik (1999, S. 13: »Das eher leichtfüßige Predigergerede über das Alter reicht spätestens von Ciceros Cato maior de senectute bis zu den himmlischen Versprechungen der christlichen Religionsbetreiber. Das alles hat sein Verfallsdatum lange überschritten«) als völlige Fehleinschätzung ansehen müssen. 1 Cf. De finibus 2, 2: Die Zuhörer äußern vorab eine Meinung, gegen die der Lehrer argumentiert, wobei sie von den Hörern möglichst lange verteidigt wird. In der Schulpraxis der Akademie ergreift derjenige, der eine Frage aufgeworfen hat, indes nicht mehr das Wort; er stellt nur noch pro forma eine Behauptung auf, um einen fortlaufenden Vortrag dagegen hervorzurufen. Auch im Cato maior bleibt Cicero akademischer Skepsis verpflichtet (Koch 2006, S. 21 ff., 29 ff.): Die Erörterung soll es ermöglichen, sich am Glaubhaften, Wahrscheinlichen (πιϑανόν, probabile, veri simile) zu orientieren (siehe Glucker 1995, S. 115–143). »Allerdings ist der als probabile gefundene Satz nicht Endzweck der Überlegungen, sondern so wie es

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Widmung und Einleitung (I, 1–2)

putatio) wie Ciceros Gespräche in Tuskulum (Tusculanae disputationes), deren fünf Bücher auf ebenso vielen Vorträgen basieren (Powell 1995, S. 21), wo aber nicht wie im Cato maior historische Figuren auftreten (vgl. Douglas 1995, S. 198). Dennoch sind weder die Tuskulanen, noch der Cato maior mit einem schlichten, langweiligen Schulvortrag gleichzusetzen; Catos lebensnahe Rede (I, 3: oratio) »vereint Sachkompetenz mit sprachlicher Eloquenz« (Koch 2006, S. 44); hinzu kommt, dass besonders die in den Argumentationsgang eingeflochtenen Zitate, Beispiele und Metaphern dem Ganzen noch mehr Lebendigkeit geben.

Widmung und Einleitung (I, 1–2) Als 62-Jähriger schreibt Cicero den Cato maior nieder und widmet ihn seinem drei Jahre älteren Freund Titus Pomponius Atticus (109–32 v. Chr.) – einem Epikureer, dessen Beiname auf seine Vorliebe für griechische Kultur sowie seinen langen Athen-Aufenthalt zurückgeht (Fuhrmann 2006, S. 51); Cicero pflegte mit ihm einen regen Briefwechsel und hat ihm ebenfalls seine Schrift Laelius de amicitia gewidmet. Beide haben ein Alter erreicht, wo körperliche Veränderungen spürbarer werden. Cicero spricht in der Einleitung (I, 2) explizit von der Last des Alters (onus senectutis), 2 mit der jeder früher oder später konfrontiert wird, so dass man ihm schon deswegen nicht unterstelbei einer ethischen Reflexion darauf ankommt, die Zustimmung (Billigung) zu einer These ins Leben und Handeln zu übertragen, so geht es […] darum, durch diese Zustimmung innere, d. h. seelische, Ordnung zu schaffen« (Koch 2006, S. 44). 2 Cato maior I, 2: »Von dieser Last des entweder schon drückenden oder herannahenden Alters, die mir mit dir gemeinsam ist, will ich sowohl dich, als auch mich selbst befreien« (Hoc enim onere, quod mihi commune tecum est, aut iam urgentis aut certe adventantis senectutis et te et me etiam ipsum levari volo).

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Ciceros Cato maior de senectute

len darf, »keine Beziehung zu den altersbedingten Veränderungen« (Dönni 1996, S. 55) gehabt zu haben. 3 Gäbe es sie nicht, würde sich doch jede intensivere Auseinandersetzung mit dem Alter erübrigen; 4 alle Älteren sind körperlich gesehen nicht mehr dieselben, die sie früher waren, d. h., jeder von ihnen spürt mehr oder weniger zumindest die physische »Last« des Alters. Diese Beschwerlichkeiten des Alters (molestiae senectutis) teilen Cicero und Atticus mit allen alten Menschen und sind so gesehen keineswegs privilegiert. 5 Im Rückblick auf den Cato maior schreibt Cicero daher im Laelius (I, 5): »Aber wie ich damals als alter Mann über das Alter geschrieben habe, […]« (Sed ut tum ad senem senex de senectute, […] scripsi […]). Der Ausgangspunkt der Schrift liegt somit im Erkennen und Wahrnehmen altersbedingter, körperlicher Veränderungen. Wenn Cicero darüber hinaus die wohltuende Wirkung hervorhebt, welche das Schreiben auf ihn hatte, was nicht nur alle AltersbeschwerlichSchon der Blick auf die biographischen Umstände lässt die Behauptung fragwürdig erscheinen, Cicero habe mit seiner im Frühjahr 44 v. Chr. vollendeten Schrift »das idyllische Bild des Greisenalters« (Dönni 1996, S. 236) entworfen; völlig abwegig wäre es, im vermeintlich guten Gesundheitszustand des Adressaten den Grund dafür sehen zu wollen, »dass Cicero, ohne geschmacklos oder verletzend zu sein, ein Werk voll heiterer Leichtigkeit verfassen konnte« (Dönni 1996, S. 97). Berechtigterweise kritisiert Sigismund (2003, S. 16) die Vorstellung, »die pagane Antike habe das Alter als bonum angesehen«; dies ist in der Tat »viel zu pauschal und bedarf der Korrektur«; gerade bei Cicero schimmert die antike Diskussion über das Für und Wider des Alters durch. 4 Völlig zu Recht erkannte daher schon Powell (1988, S. 3/4): »He [sc. Cicero] stresses the attractive side of old age and plays down its unpleasant features, not because he was unaware of the evils of old age, but because he was only too well aware of them and was trying to counteract them in his writing. One does not usually write consolations unless there is something about which one needs to be consoled«. 5 Entgegen Dönnis (1996, S. 97) Zweifel sind also »wirklich alle Betagten« angesprochen, »unabhängig ihrer Gesundheit und ihres sozialen Standes«. Keiner kann sich allgemeinen Alternsveränderungen entziehen; jeder muss damit fertig werden; selbst günstigere Rahmenbedingungen führen, wie sich zeigen wird, nicht automatisch zur besseren Bewältigung des Alterns. 3

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Widmung und Einleitung (I, 1–2)

keiten beseitigt, sondern wodurch sich ihm sogar eine angenehme und erfreuliche Seite des Alters offenbart hätte (Cato maior I, 2), so darf man dies gewissermaßen als pointierte Vorwegnahme des Ergebnisses seiner Arbeit ansehen, um Interesse zu wecken und zum Philosophieren anzuspornen (Koch 2006, S. 52 f., 61 ff.). Cicero möchte damit aber nicht nur das therapeutische Potential seines philosophischen Schaffens, sondern auch das von Philosophie insgesamt betonen, welche die menschliche Seele zeitlebens stärkt und ihre Leidenschaften (perturbationes animi) zu heilen oder wenigstens zu lindern vermag (vgl. Hadot 2005); im Vordergrund steht also das Bemühen, nicht nur sich selbst und seinem Freund Atticus, sondern auch den Lesern vor Augen zu führen, dass die Philosophie ihre Anhänger sogar im höheren Alter nicht im Stich lässt; ihr gilt deshalb Ciceros Lob, so dass der Cato maior genau genommen eine laudatio philosophiae ist. Bereits der Kernsatz des Proömiums klingt wie der Nachhall der in den Tuskulanen (5,5 f.) auf die Philosophie gehaltenen Laudatio (siehe Koch 2006, S. 79): Niemals könne man die Philosophie genügend dafür preisen, dass sie jedem, der sich von ihr leiten lässt, jederzeit ein beschwerdefreies Dasein ermöglicht (I, 2: numquam igitur digne satis laudari philosophia poterit, cui qui pareat omne tempus aetatis sine molestia possit degere). Eine reine Trostschrift (consolatio) ist der Cato maior aber nicht (vgl. Sigismund 2003, S. 68); charakteristisch für den Cato maior ist vielmehr der Aufruf und Ansporn (adhortatio), mittels Philosophie das eigene Alter(n) zu meistern. 6 Sonst hätte Cicero im Proömium nämlich kaum schreiben können: »Gleichwohl weiß ich es genau, dass du diese [i. e. die Last des Alters] gelassen und weise wie alles andere sowohl trägst als Auch in einem Brief an Atticus vom 11. Mai 44 appelliert Cicero an sich selbst, den Cato maior öfter zur Hand zu nehmen, um sich wieder geistig aufzurichten: »Ich muss öfter den Cato maior lesen, den ich Dir geschickt habe. Das Alter macht mich nämlich reizbarer und empfindlicher. Ich ärgere mich über alles« (14, 21, 3: legendus mihi saepius est ›Cato maior‹ ad te missus. amariorem enim me senectus facit; stomachor omnia).

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Ciceros Cato maior de senectute

auch tragen wirst« (I, 2: etsi te quidem id [sc. onus senectutis] modice ac sapienter sicut omnia et ferre et laturum esse certo scio).

Die Figuren (I, 3) Unübersehbar orientiert sich Cicero an griechischen Vorbildern. Ausdrücklich erwähnt er Ariston von Keos, der im 3. Jahrhundert v. Chr. eine verlorengegangene Abhandlung zu diesem Thema verfasst hat. 7 Dieser lässt darin Tithonos sprechen – einen von Eos, der Göttin der Morgenröte, auserwählten trojanischen Prinzen, dem zwar auf ihr Flehen von Zeus Unsterblichkeit zuteilwurde, der aber, weil sie es versäumt hatte, gleichzeitig ewige Jugend für ihn zu erbitten, ewiglich alternd dahinvegetieren musste; das Verlangen nach Unsterblichkeit erweist sich so auf sehr anschauliche Weise als Sackgasse. Platons Politeia (328 d – 330 a) wird ein weiterer wichtiger literarischer Bezugspunkt gewesen sein, wo zu Beginn des 1. Buches der greise Kephalos in einem fiktiven Dialog mit Sokrates ebenfalls die üblichen Klagen gegen das Alter entkräftet. Cicero übernimmt nicht nur einige der dort geäußerten Gedanken (cf. II, 6 – III, 8, XIV, 47), sondern auch die Methode, bekannte Persönlichkeiten aus der Vergangenheit ein Gespräch führen zu lassen. Im Cato maior legt er seine Worte dem 84-jährigen M. Porcius Cato (234–149 v. Chr.), auch Censorius genannt, in den Mund; 8 ein Jahr vor Mit Fink (2004, S. 232 f.) ist davon auszugehen, dass hier eher die negativen Seiten des Alterungsprozesses im Vordergrund standen, dessen Schwere durch die mythologisierende Steigerung ad infinitum noch drastischer vor Augen geführt werden sollte. Zur Quellenfrage sowie zur Unterscheidung zwischen dem Peripatetiker Ariston von Keos und dem Stoiker Ariston von Chios siehe Powell 1988, S. 12–16 und S. 269–272. 8 Trotz aller Feindseligkeit gegenüber griechischem Einfluss hat sich Cato natürlich gründlich mit der griechischen Kultur auseinandergesetzt (Powell 1988, S. 103). Vgl. auch Cato maior I, 3: »Wenn es den Anschein hat, er [Cato] führe das Gespräch auf gebildetere Weise, als er es in seinen Büchern 7

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seinem Ableben – Cicero datiert die Unterredung in das Jahr 150 v. Chr. – steht Cato dem damals 35-jährigen Scipio Africanus Minor (185–129 v. Chr.) sowie seinem älteren Freund Gaius Laelius (um 190–129 v. Chr.) Rede und Antwort über das Alter. Mit Catos Worten kommt also Ciceros Sicht des Alters zum Ausdruck (I, 3: iam enim ipsius Catonis sermo explicabit nostram omnem de senectute sententiam). Hierfür ließ sich freilich kein Geeigneterer als Cato denken, der selbst sehr alt geworden ist und dessen große Lebenserfahrung ihm den Beinamen sapiens (der Weise) einbrachte. 9

Vorgespräch (II, 4 – V, 14) Scipio eröffnet das Gespräch, indem er seine sowie des Laelius Bewunderung für Catos Weisheit (excellentem perfectamque sapientiam) ausdrückt; am meisten beeindrucke sie aber, dass sich Cato vom Alter nicht niederdrücken lasse, wo es doch vielen alten Menschen geradezu hassenswert erscheine, weil ihnen damit eine immense Last zugemutet werde, welche bildlich gezu tun pflegte, so schreibe dies griechischem Schrifttum zu, mit dem er sich im Alter sehr intensiv befasst hat« (qui si eruditius videbitur disputare quam consuevit ipse in suis libris, id tribuito litteris Graecis, quarum constat eum perstudiosum fuisse in senectute). 9 Cicero Laelius I, 4: »Aber wie ich im ›Cato Maior‹, der für dich über das Alter niedergeschrieben worden ist, den betagten Cato als Diskussionsredner auftreten ließ, weil keine andere Persönlichkeit tauglicher schien, über jenen Lebensabschnitt zu sprechen, als ebenderselbe, der sowohl sehr lange als Betagter gelebt hat als auch in seinem eigenen Alter in höherem Grade als die übrigen erblühte« (sed ut in Catone Maiore, qui est scriptus ad te de senectute, Catonem induxi senem disputantem, quia nulla videbatur aptior persona, quae de illa aetate loqueretur, quam eius, qui diutissime senex fuisset et in ipsa senectute praeter ceteros floruisset, […]). Cato maior II, 5: »Wenn ihr daher meine Lebensweisheit zu bewundern pflegt (möchte sie doch eurer hohen Meinung und meines Beinamens würdig sein!)« (quocirca si sapientiam meam admirari soletis (quae utinam digna esset opinione vestra nostroque cognomine!), […]). Cf. Laelius I, 5, sowie II, 6.

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sprochen sogar den Ätna an Gewicht übertreffe. Catos Antwort fällt verblüffend einfach aus: »wem die innere Kraft fehlt, gut und glücklich zu leben, dem ist jedes Lebensalter beschwerlich; wer aber alles Gute von sich selbst zu erlangen sucht, dem kann nichts als ein Übel erscheinen, was die Naturnotwendigkeit mit sich bringt« (II, 4: quibus enim nihil est in ipsis opis ad bene beateque vivendum, eis omnis aetas gravis est; qui autem omnia bona a se ipsi petunt, eis nihil malum potest videri, quod naturae necessitas adferat). Es liege also vor allem an der inneren Einstellung, wie man dem Alter begegne; werde es als Naturgesetz erkannt und anerkannt, gehe das eigene Denken mit dem natürlichen Verlauf der Dinge konform, dann erscheine der naturnotwendige Alternsvorgang nicht mehr als beklagenswert. Die Natur (natura) stellt für Cato primär den Maßstab für die Bewertung des Alter(n)s dar. Weil ihren Gesetzmäßigkeiten alles unterworfen sei und auch der Mensch nicht aus ihrem Kreislauf ausbrechen könne, bleibe ihm vernünftigerweise nur die Möglichkeit, ein tieferes Verständnis für den natürlichen Vorgang des Alterns zu entwickeln und über seine Bedeutung im Lebenslauf Klarheit zu gewinnen, wolle man nicht »wie Giganten gegen die Götter kämpfen« (II, 5: […] Gigantum modo bellare cum dis […]). Damit knüpft Cato an Scipios vorherige bildhafte Formulierung (II, 4: […] ut onus se Aetna gravius dicant sustinere) an und verwendet sie für seine Argumentation: Der Ausgang der Gigantomachie ist natürlich wohlbekannt; zur Strafe wurden die Aufrührer in den Ätna verbannt; der Sage nach soll dort im Inneren des Berges auch der vom Blitz Jupiters halbverbrannte Körper des Giganten Enkelados liegen, der sich unter dem schweren Druck von Zeit zu Zeit auf die andere Seite drehen muss, was ganz Sizilien beben und Rauch in den Himmel aufsteigen lässt (vgl. Vergil Aeneis III, 578). Im übertragenen Sinne bedeutet dies, dass das Alter(n) an sich besonders dann zur Last wird, wenn man sich darüber hinwegsetzen möchte. Mit dem Begriff natura ist aber weit mehr gemeint als nur eine weltimmanente Kraft; sie wird mit einer Gottheit gleich50 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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gesetzt, der es als bester Führerin (optima dux) zu folgen und zu gehorchen gilt, 10 gemäß dem Leitsatz stoischer Geisteshaltung: secundum naturam vivere (cf. Cicero De finibus 3, 73). Da sie alle anderen Lebensabschnitte gut geordnet habe, könne auch der letzte nicht aus diesem von ihr geschaffenen Ordnungszusammenhang herausgefallen sein; in jedem Naturkreislauf müsse es notwendigerweise einen Schlussakt geben. Die Argumentation Catos – das gilt es zu unterstreichen – bezieht sich dabei vorrangig auf das Alter als einen zeitlichen Abschnitt im menschlichen Leben, also nicht schon auf »dessen häufige Begleiterscheinungen« (Dönni 1996, S. 104). 11 Erst mit Laeliens und Scipios Bitte, taugliche Bewältigungsstrategien negativer Begleitumstände des Alter(n)s (II, 6: ingravescentem aetatem) aufzuzeigen – wiederum ein Beleg dafür, dass man Cicero kein »Verschweigen oder Wegreden der offensichtlich negativen Aspekte« (Dönni 1996, S. 104/105) unterstellen kann –, wird der Blick auf das Alter konkreter. Cato geht dabei zunächst etwas näher auf häufige Klagen seiner Altersgenossen ein: Sie sähen Cato maior XII, 40: »Und da entweder die Natur oder ein Gott dem Menschen nichts Ausgezeichneteres als die Vernunft gegeben habe« (cumque homini sive natura sive quis deus nihil mente praestabilius dedisset, […]). Cf. Laelius V, 19. 11 Hier (II, 4/5) steht das Alter(n) als zeitlicher Vorgang zur Debatte: »alle hegen den Wunsch, dass sie es [das Alter] erreichen, beklagen sich aber darüber, wenn es erreicht ist: so groß ist die Unbeständigkeit und Verkehrtheit törichter Menschen« (II, 4: quam ut adipiscantur omnes optant, eandem accusant adeptam: tanta est stultitiae inconstantia atque perversitas). Man klagt also zunächst über die Schnelligkeit der Zeit; das Alter sei unerwartet rasch eingetreten. Doch objektiv betrachtet verrinnt die Zeit im Gleichmaß, so dass auch die verschiedenen Altersstufen gleichmäßig aufeinander folgen. Catos Argument läuft darauf hinaus, dass selbst eine noch so weite Ausdehnung der Lebenszeit all diejenigen nicht trösten könnte, die sich von ihrem subjektiven Zeitgefühl täuschen lassen; ihre Klagen werden sodann ad absurdum geführt: »Inwiefern wäre ihnen weiterhin das Alter, wenn sie sich im achthundertsten Lebensjahr befänden, weniger beschwerlich als im achtzigsten?« (II, 4: deinde qui minus gravis esset eis senectus, si octingentesimum annum agerent, quam si octogesimum?). 10

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sich nicht nur sinnlicher Vergnügen beraubt, mangels derer das Leben nicht mehr lebenswert erscheine – übrigens einer der vier Hauptvorwürfe gegen das Alter (cf. V, 15) –, sondern müssten noch dazu einen schmerzlichen Ansehensverlust hinnehmen. Nach Cato lässt sich das nicht verallgemeinern, weil es außer ihm viele andere Betagte gebe, denen weiterhin Respekt entgegengebracht werde und die über die Befreiung von sinnlichen Verlockungen gar nicht betrübt seien. Solche Vorwürfe fußen also weniger auf dem Alter, sondern eher auf der Individualität des einzelnen: »Einen erträglichen Lebensabend verbringen nämlich die besonnenen alten Menschen, die weder launisch noch unkultiviert sind; Schroffheit und Rohheit stellen hingegen für jedes Lebensalter eine Belastung dar« (III, 7: moderati enim et nec difficiles nec inhumani senes tolerabilem senectutem agunt, importunitas autem et inhumanitas omni aetati molesta est). Bevor Cato seinen ausführlichen Vortrag über das Alter hält, mit dem schließlich auch Ciceros Werk De senectute endet, stellt Laelius eine kritische Zwischenfrage: 12 Beruhe Catos Standpunkt, so ließe sich vermuten, vielleicht nicht doch nur auf seiner privilegierten gesellschaftlichen Stellung; vielen fehle es schlicht an den damit verbundenen Mitteln und Möglichkeiten sowie an Ansehen, was ja das Leben im Alter erheblich erleichtere. Diesen Zusammenhang will Cato prinzipiell gar nicht in Abrede stellen; überbewerten dürfe man denselben jedoch nicht, und zwar aus folgendem Grund: »Wie nämlich das Alter in schlimmster Armut nicht einmal für einen Weisen leicht sein kann, so kann es auch dem Toren selbst im größten Wohlstand Diese Textstelle (III, 7/8) erinnert natürlich an das 1. Buch von Platons Politeia (328d-330a), wo Sokrates mit dem greisen Kephalos ebenfalls über das Alter spricht und Kephalos auf ganz ähnliche Weise argumentiert; ohne Zweifel hat Cicero das Gespräch im Cato maior nachgebildet, siehe dazu en détail Powell 1988, S. 111–113. Wie Sigismund (2003, S. 227 ff.) zeigen konnte, wurde die Frage, welche Bedeutung materieller Wohlstand für das Leben im Alter habe, in der Antike immer wieder diskutiert.

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nicht unbeschwerlich sein« (III, 8: nec enim in summa inopia levis esse senectus potest ne sapienti quidem, nec insipienti etiam in summa copia non gravis). Der Vorwurf, Cicero hätte das Problem der Altersarmut einfach beiseitegeschoben oder auf die leichte Schulter genommen (Dönni 1996, S. 231 ff.), ist daher völlig ungerechtfertigt. Wie lässt sich die essentielle Bedeutung materieller Grundversorgung stärker zum Ausdruck bringen als durch die Bemerkung, dass selbst ein Weiser das Alter im Falle bitterer Armut nicht leicht bewältigen kann! Andererseits reicht ein gewisser Wohlstand allein auch nicht aus, um das Alter zu meistern; geistige Betätigungen und die Ausübung der Tugenden (III, 9: artes exercitationesque virtutum) 13 müssen vielmehr hinzukommen, und zwar aus zwei Gründen: Einerseits würden sie sich zeitlebens, d. h. auch im fortgeschrittenen Alter, als förderlich erweisen, zum anderen bereite dem Menschen der Rückblick auf ein tugendhaftes und somit gut geführtes Leben die größte Freude (cf. Tusc. disp. 3, 61). Diese Überlegungen werden noch anhand einer Reihe bedeutender Persönlichkeiten weitergeführt, deren Lebensabend alles andere als beklagenswert erscheint. Gleichzeitig findet damit auch Catos vorherige Feststellung praktische Bestätigung, dass es vor allem von der Individualität des Einzelnen abhängt, wie man das Alter bewertet und inwieweit man die verbleibende Lebenszeit zu nutzen weiß. Hier geht es also weder um eine reine Verherrlichung jener historischen Vorbilder noch um eine Idealisierung des Alters, sondern um die Widerlegung der auf der gängigen Meinung beruhenden Ausgangsthese des Dialogs, das Alter wäre an sich ein elender und unglücklicher Lebensabschnitt. Cicero möchte ganz einfach die häufig unterschätzten oder oft kaum wahrgenommenen Potentiale des Alters hervorheben, von denen Menschen aus ganz unterschiedlichen gesell-

Damit ist natürlich mehr gemeint als nur »die praktischen Übungen« (Hübener 1957, S. 49), siehe dazu auch Powell (1988, S. 120/121).

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schaftlichen Bereichen immer wieder Zeugnis ablegen. 14 Ihre Lebensläufe lassen zudem eine Konstanz hinsichtlich des Charakters und der Lebensweise erkennen, der selbst das Alter keinen Abbruch tun konnte, so dass man es eigentlich nicht isoliert betrachten darf, sondern im »organischen Zusammenhang des ganzen Lebens« (Alfonsi 1971, S. 211) sehen muss.

Hauptteil: Vier Hauptvorwürfe gegen das Alter (V, 15 – XXII, 84) Aus der im Proömium dargelegten allgemeinen Altersklage lassen sich Cato zufolge vier Gründe ableiten, die, wie Sigismund (2003) gezeigt hat, als »traditionelle Motive« (Alfonsi 1971, S. 211) gegen das Alter sprechen: Der erste betrifft den verminderten Tätigkeitsspielraum, der zweite die reduzierten Körperkräfte, der dritte den fast vollständigen Genussentzug und der vierte die Nähe des Lebensendes (V, 15: unam quod avocet a rebus gerendis, alteram quod corpus faciat infirmius, tertiam quod privet omnibus fere voluptatibus, quartam quod haud procul absit a morte). Die nun folgende Untersuchung über die Bedeutsamkeit und Triftigkeit dieser vier Anklagepunkte bildet das Kernstück von Ciceros Cato maior: »Überlegen wir, wenn es euch recht ist, wie bedeutend und triftig ein jeder dieser Gründe

Einerseits wird hier der bedeutende römische Staatsmann und Feldherr, Q. Fabius Maximus (um 285–203 v. Chr.) angeführt, andererseits – als exempla für »das friedliche und gelassene Alter eines ruhig, rechtschaffen und stilvoll geführten Lebens« (V, 13: est etiam quiete et pure atque eleganter actae aetatis placida ac lenis senectus, […]) – Platon (427–347 v. Chr.), die griechischen Rhetoren Isokrates (436–338 v. Chr.) und Gorgias (um 483 – um 375 v. Chr.), aber auch der römische Dichter Ennius (239–169 v. Chr.). Dönni (1996, S. 219) meint darin nur »ehrenvolle Beschäftigungen« für Ältere zu erkennen und übersieht damit »das ideale unauflösliche Band, das zwischen dem Alter und dem übrigen vorangegangenen Leben besteht« (Alfonsi 1971, S. 211).

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ist« (V, 15: earum si placet causarum quanta quamque sit iusta una quaeque, videamus).

Vorwurf 1: Eingeschränkter Handlungsspielraum im Alter (VI, 15 – VIII, 26) Zum ersten Anklagepunkt, infolge des Alters wäre man zum Nichtstun verdammt, werden gleich mehrere rhetorische Fragen gestellt, die bereits die Haltlosigkeit dieser Behauptung belegen: Demnach müsste jeder ältere Mensch einer lebenden Mumie gleichen, was aber de facto nicht stimmen kann, wie die von Cato ins Feld geführten verdienstvollen Persönlichkeiten aus der Politik belegen; gerade sie sind lebende Beispiele dafür, was man im Alter noch alles leisten kann. Ebenso lässt sich an ihnen sehen, welch entscheidende Rolle jene eben erwähnte Stetigkeit in der Lebensführung für die Bewältigung des Alters spielt. Mit einem trefflichen Vergleich wird das potenzielle Leistungsvermögen des Alters hervorgehoben: »Diejenigen, die bestreiten, dass das Alter noch etwas zu leisten vermag, haben dafür also keinerlei Beweise, ähnlich wie wenn sie sagten, ein Steuermann tue auf der Seefahrt nichts, während die einen die Masten besteigen, andere durch die Schiffsgänge laufen, wieder andere Kielwasser schöpfen würden, jener aber sitze, das Steuerruder haltend, ruhig auf dem Achterdeck: Er tut freilich nicht dasselbe, was junge Menschen tun, er tut aber fürwahr viel Wichtigeres und Verdienstvolleres. Große Dinge werden nicht durch physische Kräfte, Geschwindigkeit oder Schnelligkeit vollbracht, sondern durch vorausschauende Überlegung, durch eine besonnene, würdevolle Haltung sowie durch Urteil; hieran pflegt das Alter nicht nur nicht beraubt zu werden, sondern sogar zuzunehmen«. 15 15

Cato maior VI, 17: Nihil igitur adferunt, qui in re gerunda versari se-

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Als Beleg für die hier mit den Begriffen consilium, auctoritas, ratio und sententia wiedergegebenen Potentiale des Alters führt Cato seine eigene politische Laufbahn an sowie die von Scipios Großvater: Auch sie sind in ihrem Alter zwar nicht mehr an allem aktiv beteiligt, votieren aber als politische Navigatoren für oder gegen Krieg und geben den Kurs bei militärischen Auseinandersetzungen vor (VI, 18). Daneben komme die Wertschätzung kumulierten Erfahrungswissens (VI, 20: prudentia) Älterer im römischen Senat 16 bzw. in der Gerusia, dem Ältestenrat Spartas (vgl. Link 1994, S. 76 ff.), zum Ausdruck – beides für den Staat geradezu lebenswichtige Einrichtungen, bringe doch die Unbesonnenheit und Unüberlegtheit (VI, 20: temeritas) junger Leute denselben eher ins Wanken, wie historische Beispiele zeigen.

Einwand: Abnehmende Gedächtniskraft (VII, 21) Als kurzer Einwurf zu Catos Widerlegung des ersten Anklagepunktes wird die mit dem Alter scheinbar zwangsläufig einhergehende Abnahme der Gedächtnisfähigkeit angesprochen, welche unweigerlich den Handlungsspielraum eines alten Menschen beeinträchtige: »Aber das Gedächtnis lässt nach« (VII, 21: At memoria minuitur). Doch diese weit verbreitete Ansicht nectutem negant, similesque sunt ut si qui gubernatorem in navigando nihil agere dicant, cum alii malos scandant, alii per foros cursent, alii sentinam exhauriant, ille autem clavum tenens quietus sedeat in puppi: non facit ea quae iuvenes, at vero multo maiora et meliora facit. non viribus aut velocitate aut celeritate corporum res magnae geruntur, sed consilio auctoritate sententia; quibus non modo non orbari, sed etiam augeri senectus solet. 16 Cato maior VI, 19: »Wenn diese Eigenschaften [Einsicht, Überlegung und Urteil] nicht bei Alten zu finden wären, hätten unsere Vorfahren die höchste Ratsversammlung nicht als Senat bezeichnet« (quae [sc. consilium, ratio, sententia] nisi essent in senibus, non summum consilium maiores nostri appellassent senatum).

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kann Cato so pauschal nicht gelten lassen: Das Gedächtnis nehme nämlich mit den Jahren insbesondere dann ab, »wenn man es nicht übt« (VII, 21: […] nisi eam exerceas […]). Den Zusatz, »oder auch wenn man wesensbedingt geistig träger ist« (ib.: aut etiam si sis natura tardior), darf man selbstverständlich nicht als »patzige Bemerkung« (Dönni 1996, S. 106) 17 abtun, sondern muss dies im Kontext mit einer früheren Textstelle sehen, wo die für die Bewältigung des Alters entscheidende Rolle der Individualität bzw. des Charakters hervorgehoben wurde (cf. III, 7). Cato zufolge sind also vor allem diejenigen von Gedächtniseinbußen im Alter betroffen, die sich ihr Leben lang geistig kaum betätigten, diesbezüglich wenig Übung hatten und dadurch ihren Geist verkümmern ließen. Erneut dienen dabei – neben ihm selbst – viele andere namhafte Personen aus Politik, Kunst und Wissenschaft, die zeitlebens geistig rege waren, als menschliche Vorbilder, an denen sich auch die Trainierbarkeit des Gedächtnisses belegen lässt. Durch entsprechendes geistiges Training kann daher prinzipiell jeder seine Gedächtniskraft im Alter aufrechterhalten: »Alten Menschen bleibt ihre geistige Beweglichkeit erhalten, wenn sie sich nur eifriges Interesse und regen Fleiß erhalten, und dies nicht nur bei berühmten und ehrenvollen Persönlichkeiten, sondern auch bei einem gewöhnlichen und zurückgezogenem Leben« (VII, 22: manent ingenia senibus, modo permaneat studium et industria, neque ea solum in claris et honoratis viris, sed in vita etiam privata et quieta). Damit ist abermals der erste Anklagepunkt entkräftet, welcher sich auf den vermeintlich eingeschränkten Tätigkeitsspielraum im Alter bezog. Der Eintritt ins Alter erscheint bei den von Cato genannten Persönlichkeiten nämlich nicht als Zäsur, sondern aufgrund Abgesehen davon, dass Dönni (1996, S. 106/107: »nur Faulheit oder Beschränktheit führten zur Schwächung des Gedächtnisses« oder »Wer hinfällig wird, ist selber schuld«) hier Cicero fingierte Worte in den Mund legt, ist seine Polemik auch insofern haltlos, als er selbst auf den wissenschaftlich längst bestätigten »Zusammenhang zwischen geistigem Training und Erhaltung der Gedächtnisleistung« (S. 106, Fußnote 337) hinweist.

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ihres ungebrochenen geistigen Interesses als unmerklicher Übergang; zumindest in dieser Hinsicht änderte sich nichts an ihrer bisherigen Lebensweise. 18 Auffällig ist hier, dass es Cicero an einem »Ausgleich« (Alfonsi 1971, S. 213) zwischen der politischen Tätigkeit für das alles Denken und Trachten des Römers bestimmende Gemeinwesen (negotium) und dem Freisein von jedem äußeren Anspruch an die eigene Person, i. e. der Muße (otium) für »erhabene Studien« (VII, 24: divina studia) gelegen ist. Jene beiden Bereiche, zwischen denen sich Ciceros eigenes Leben bewegte, werden noch durch die Agrikultur ergänzt, wo ein alter Mensch aufgrund seiner Erfahrung geradezu unersetzlich ist und als landwirtschaftlicher »Steuermann« (gubernator) über den eigenen Nutzen hinaus ans Werk geht, damit die unter seiner Anleitung kultivierte Erde auch noch nachfolgenden Generationen zur Verfügung stehen kann. 19

Allgemeine Altersklagen (VIII, 25/26) In diesem Zusammenhang werden zwei Verse des römischen Dichters Caecilus Statius (um 180 v. Chr.) zitiert, welche das Cato maior VII, 23: »Währte nicht bei all diesen Persönlichkeiten die Beschäftigung mit den Studien ihr Leben lang?« (an in omnibus his studiorum agitatio vitae aequalis fuit?), sowie VIII, 26: »Aber ihr seht, dass das Alter nicht nur nicht untätig und schwach ist, sondern sogar tätig ist, indem es immer etwas in Bewegung setzt und auf etwas hinarbeitet, natürlich so, wie das Interesse eines jeden in früheren Jahren gewesen ist« (sed videtis, ut senectus non modo languida atque iners non sit, verum etiam sit operosa et semper agens aliquid et moliens, tale scilicet, quale cuiusque studium in superiore vita fuit). Ebenso XI, 38. 19 Das kommt in einem Vers des Dichters Caecilius Statius zum Ausdruck: »Er pflanzt Bäume, die einem anderen Jahrhundert nützen« (VII, 24: serit arbores quae alteri saeculo prosient). Wie aus dem 1. Buch (31) der Tuskulanen hervorgeht – wo übrigens dasselbe Zitat verwendet wird –, sieht Cicero in jener Sorge um die Nachwelt den wichtigsten Beleg für die Unsterblichkeit der Seele; ginge diese nämlich mit dem Tod zugrunde, würden viele Menschen kein derartiges, weitblickendes Verhalten an den Tag legen. 18

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Alter in einem weitaus ungünstigeren Licht erscheinen lassen: Ein langes Leben sei allein deswegen beklagenswert, weil man viel unschöne Dinge mit ansehen müsse; desgleichen bekomme der alte Mensch die ablehnende Haltung seitens der Umwelt zu spüren. Dem ersten Punkt entgegnet Cato, dass dem Menschen während eines langen Lebens vermutlich (VIII, 25: fortasse) auch viel Erfreuliches begegne; außerdem müsse man schon in jungen Jahren nicht selten Unangenehmes ertragen. Die Antwort auf die zweite Klage fasst Catos bisherige Beweisführung zusammen: Widerwärtig oder lästig (odiosus) werden Menschen in erster Linie aufgrund ihres Wesens bzw. Charakters und weit weniger durch ihr Alter. Wie dieses Gespräch im Übrigen zeige, sei der Gedankenaustausch zwischen Jung und Alt für beide Seiten »eher angenehm« (VIII, 26: iucundum potius). Das verbindende Element besteht dabei in einem auf die Kultivierung des Geistes ausgerichteten Leben, wobei sich Cato – neben Solon, der zu sagen pflegte, »dass er alt werde und täglich etwas dazulerne« (VIII, 26: qui se cotidie aliquid addiscentem dicit senem fiere, cf. auch Cato maior XIV, 50), und Sokrates, der sich als betagter Mann im Saitenspiel übte (siehe Diogenes Laertius II, 32) – selbst als Vorbild für eine den menschlichen Geist kultivierende Lebenshaltung sieht (VIII, 26: litteras Graecas senex didici): Junge Menschen mit solchen Naturanlagen bereiten älteren, geistig reiferen Leuten viel Freude, während sich diese Jüngeren von ebenjenen wiederum gerne Rat für ihre Geistesund Tugendentwicklung erteilen lassen.

Vorwurf 2: Körperliches Alter(n) (IX, 27 – XI, 38) Mit der Widerlegung des zweiten Anklagepunktes wird direkt an das zuvor Gesagte angeknüpft. Den beklagten Zwang zur Untätigkeit kann man nämlich auch als Folge schwindender Körperkräfte sehen – ein mit dem Alter(n) offenkundig einhergehender Prozess. Cicero scheut sich also nicht davor, körper59 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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liches Altern anzusprechen. 20 Dass sich der menschliche Organismus im Laufe der Zeit verändert, hat bereits das Beispiel des Steuermanns (cf. Cato maior VI, 17) gezeigt, der eben keine körperlich schweren Arbeiten an Bord eines Schiffes verrichtet, dafür aber die höhere Kunst des Navigierens ausübt. Mit diesem Hinweis auf jene geistigen Potentiale des Alter(n)s könnte Cicero den Vorwurf der Inaktivität im Grunde als widerlegt betrachten. Aber gerade dadurch, dass er Cato an dieser Stelle explizit physisches Altern erörtern lässt, kommt seine Sicht des Menschen »als compositum aus Leib und Seele« (Alfonsi 1971, S. 215) klar zum Ausdruck. Cato beginnt seine Argumentation mit der Bemerkung, dass er sich in seinem Alter gar nicht mehr nach den Kräften eines jungen Menschen sehnt; in seiner Jugend wäre er schließlich auch nicht auf übermenschliche Kräfte erpicht gewesen. Physische Stärke darf man also nicht überschätzen: »es ziemt sich, das zu gebrauchen, was gegeben ist, und alles, was man tut, seinen Kräften entsprechend zu tun« (IX, 27: quod est, eo decet uti et, quicquid agas, agere pro viribus). Steht während des gesamten Lebens hingegen der Körper im Mittelpunkt des Interesse, so gestaltet sich die Bewältigung des Alters viel schwieriger, wie das Beispiel des berühmten Athleten Milon aus Kroton (6. Jh. v. Chr.) zeigt: Als alter Mann brach er beim Betrachten sportlicher Wettkämpfe in Tränen aus und hatte, auf seine Arme blickend, diese als »tot« bezeichnet – eine für Cato an Torheit nicht zu überbietende Aussage: Milon müsste nämlich eher sich selbst beklagen als seine Muskelkraft, um die er sich ausschließlich gekümmert hatte; dadurch habe er sich ja als Person, d. h. als Cicero hat den körperlichen Alterungsprozess sehr wohl »als Faktor angesehen, der den Menschen vielfältig einschränkt« (Dönni 1996, S. 105); genau genommen stand körperliches Altern ja schon im ersten Anklagepunkt zur Debatte. Cicero möchte hier natürlich den Vorrang des Geistes vor Augen führen; darauf läuft seine ganze Beweisführung heraus, da mit dieser Feststellung auch die Erörterung des zweiten Vorwurfs zum Abschluss kommt (cf. Cato maior XI, 36).

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Einheit aus Körper und Geist, aufgegeben. In solche Klagen würden all diejenigen kaum ausbrechen, die, wie etwa bedeutende Rechtsgelehrte, ihr geistiges Potential ein Leben lang zu nutzen wussten, weil sie – so Catos Begründung – erkannt haben, was den Menschen als Menschen letztendlich auszeichnet.

Einwand: Körperkraft auch im Alter als conditio sine qua non (IX, 28) Bei diesem Einwand steht weiterhin die enge Verbindung zwischen Seele und Körper zur Debatte. Trotz der herausragenden Stellung des menschlichen Geistes, kann man demzufolge die physische Seite nicht völlig ausklammern – auch bei Personen, die sich überwiegend geistig betätigen, wie Redner oder Staatsmänner, die z. B. genauso auf die Kraft ihrer Stimme angewiesen sind: »Der Redner, fürchte ich, wird durch das Alter träge; seine Aufgabe ist nämlich nicht nur eine des Verstandes, sondern auch eine der Lungenkraft und physischer Kräfte« (IX, 28: Orator metuo ne languescat senectute; est enim munus eius non ingeni solum, sed laterum etiam et virium). Cato sieht sich selbst jedoch als bestes Beispiel dafür, dass jener Wohlklang in der Stimme (IX, 28: canorum illud in voce) im Alter nicht verlorengeht. Ferner habe die ruhige, gelassene Sprechweise eines älteren Menschen etwas Ehrenhaftes, was auch vom Auditorium anerkannt werde. Sollte man infolge des Alters körperlich nicht mehr imstande sein, eine längere Rede zu halten, so bliebe zumindest noch so viel Energie übrig, um seine Erfahrung an die jüngere Generation weitergeben zu können: »was kann erhabener sein als diese Tätigkeit?« (IX, 29: quo quidem opere quid potest esse praeclarius?). Durch die Tatsache, dass gerade in der damaligen Gesellschaft die Lebenserfahrung älterer Menschen »ein wichtiger Wissensfundus« (Dönni 1996, S. 211) war, bekommt Catos Argumentation natürlich viel mehr Überzeugungskraft. 61 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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Die schon zuvor festgestellte, enorme Auswirkung der bisherigen Daseinsgestaltung auf das Leben im Alter wird hier noch auf den Aspekt körperlichen Alterns ausgedehnt. Cato verweist darauf, dass die frühere Lebensweise ebenfalls im betagten Körper nachwirkt; man muss somit nicht nur von »psychologisch sehr starken Bindungen« (Alfonsi 1971, S. 215) zwischen den Lebensaltern ausgehen. Ein allzu sorgloser und nachlässiger Umgang mit körperlichen Ressourcen in der Jugend kann demnach die physische Widerstandsfähigkeit so weit schwächen, dass Alternsveränderungen viel stärker ins Gewicht fallen, als dies normalerweise der Fall gewesen wäre. Dagegen lasse sich nicht zuletzt an ihm selbst, Cato, belegen, dass man auch noch im Alter rüstig sein könne: Wenngleich er nicht mehr über dieselbe Körperkraft wie in seinen jungen Jahren verfügt, so hat ihn das Alter keineswegs vollkommen physisch zu Boden geworfen; nach wie vor könne er in den verschiedensten Bereichen aktiv sein. Nie hätte er sich mit dem Sprichwort einverstanden erklärt, »das ermahnt, frühzeitig alt zu werden, wenn man lange alt sein möchte« (X, 32: quod monet mature fieri senem, si diu velis senex esse); ihm wäre es ganz im Gegenteil lieber, weniger lange alt, d. h. nicht schon im Voraus altersschwach zu sein. Mitnichten ist daher seine »Wertung des Alters […] eine durch und durch positive« (Schmitz 2012, S. 110); 21 denn nur kraft seiner selbst vermag der Mensch sein Alter(n) in die Hand zu nehmen und diesem Lebensabschnitt Bedeutung zu verleihen.

Einwand: Nachlassende Körperkräfte als Folge des Alters (X, 33) Jener Einwand zielt auf die mit dem Alter natürlicherweise verbundenen Veränderungen des Körpers: »Aber, wird man einCicero berührt hier (IX, 30/X, 31; item XVI, 55) auch die alten Menschen oft nachgesagte Redseligkeit.

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wenden, ich habe weniger physische Kräfte als jeder von euch beiden« (X, 33: At minus habeo virium quam vestrum utervis). Cato räumt zwar ein, gegenüber seinen jüngeren Gesprächspartnern in puncto physischer Stärke unterlegen zu sein, gibt aber gleichzeitig zu bedenken, dass auch sie es nicht immer mit anderen aufnehmen könnten, wie etwa dem kraftstrotzenden Zenturio T. Pontius. Körperkräfte allein sind also weder ein vernünftiger Bewertungsmaßstab eines Menschen noch ein erstrebenswertes Ziel für denselben, wie das Beispiel des Kraftmenschen Milon von Kroton beweist. Da der Geist die menschliche Persönlichkeit in weitaus höherem Maße prägt (Alfonsi 1971, S. 216), muss man ihm den Vorzug geben; deshalb stellt Cato die rhetorische Frage: »Was hättest du lieber, diese Körperkräfte [eines Milon] oder die Geisteskräfte eines Pythagoras?« (X, 33: utrum igitur has corporis [sc. Milonis] an Pythagorae tibi malis vires ingeni dari?). Trotzdem werden Körperkräfte (vires) prinzipiell positiv beurteilt: »Kurz: Gebrauche dieses Gut, solange es vorhanden ist« (X, 33: denique isto bono utare, dum adsit). Doch es handelt sich dabei um ein relatives Gut: Der Weg der Natur (via naturae) – also zunächst die Unselbstständigkeit der Kinder (infirmitas puerorum), dann die Unbändigkeit junger Leute (ferocitas iuvenum), hierauf das Verantwortungsbewusstsein und der (sittliche) Ernst des Erwachsenenalters (gravitas iam constantis aetatis) und schließlich die geistige Reife des hohen Alters (senectutis maturitas) – ist der allgemeine Lauf des Menschenlebens (cursus aetatis); diesen Entwicklungsgang gilt es zu akzeptieren, um nicht im Alter in Versuchung zu geraten, frühere Lebensjahre zu idealisieren; in der Jugend oder als Erwachsener verlange man ja ebenfalls weder die Kindheit noch die Jugendzeit zurück. Das Leben besteht somit aus verschiedenen, von der Natur festgelegten Reifestadien, die man durchlaufen, aber auch annehmen muss, will man nicht in eine ähnlich missliche Situation wie Milon kommen. An Catos Aufforderung, das Beste aus jedem Lebensabschnitt mit den jeweils gegebenen Körperkräf63 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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ten zu machen, ohne dem vorhergegangenem nachzutrauern, knüpft sich sein Aufruf – wobei ihm der numidische Fürst Masinissa als Vorbild dient –, auch noch im Alter durch entsprechende Körperertüchtigung die Leibeskräfte zu trainieren und sie so möglichst lange zu erhalten. Bei aller Naturnotwendigkeit kann prinzipiell jeder etwas für seine körperliche Verfassung tun: »Leibesübung und Selbstbeherrschung tragen also dazu bei, auch im Alter etwas von der früheren Kraft zu bewahren« (X, 34: potest igitur exercitatio et temperantia etiam in senectute conservare aliquid pristini roboris).

Einwand: Keine Körperkräfte im Alter (XI, 34) Die lapidare Behauptung, im Alter gäbe es keine körperliche Kraft mehr (XI, 34: Non sunt in senectute vires), setzt die Reihe der bisherigen Einwände fort. Catos Antwort fällt dementsprechend kurz aus: »Körperkraft wird vom Alter auch nicht verlangt« (XI, 34: ne postulantur quidem vires a senectute). Dank entsprechender gesetzlicher Verordnungen und sittlicher Bestimmungen würden Älteren keine so großen Kraftanstrengungen mehr abverlangt wie der Jugend, womit zweifellos »eine gesellschaftlich tief verankerte Norm und die historische Realität« (Sigismund 2003, S. 192) angesprochen ist. Mit Blick auf die eigene Altersgruppe resümiert Cato: »Daher werden wir nicht nur nicht zu etwas gezwungen, was wir nicht mehr können, sondern man verlangt von uns nicht einmal so viel, als wir noch können« (XI, 34: itaque non modo quod non possumus, sed ne quantum possumus quidem cogimur). Hilfestellungen für Ältere können also zuweilen auch das erforderliche Maß überschreiten und der bereits zur Sprache gebrachten Möglichkeit (cf. X, 34) im Weg stehen, mittels eigener, maßvoller Körperertüchtigung den Alternsprozess günstig zu beeinflussen.

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Einwand: Drohender Kräfteverfall im Alter (XI, 35) Dieser innerhalb des zweiten Anklagepunktes letzte Einwand bezieht sich auf die möglichen Folgen altersbedingter Veränderungen, die bis zur Pflegebedürftigkeit führen können: »Aber, wird man einwenden, viele alte Menschen sind so gebrechlich, dass sie keine Aufgabe ihres Berufs oder überhaupt des Lebens mehr ausführen können« (XI, 35: At multi ita sunt imbecilli senes, ut nullum offici aut omnino vitae munus exsequi possint). Wenngleich ein Teil der Alten davon betroffen ist, so kann körperliche Hinfälligkeit für Cato kein spezifisches Merkmal des Alters an sich sein, eben weil nicht alle im Alter pflege- oder hilfsbedürftig werden. Am Beispiel Masinissas war ja zu sehen, dass selbst Hochbetagte noch sehr rüstig sein können. Im Übrigen lässt sich der Jugend genauso wenig von vornherein physische Stärke beilegen, wie Cato am kränklichen und früh verstorbenen Sohn des P. Africanus zeigt; von Krankheit und Schwäche bleiben selbst junge Menschen nicht verschont – man denke an das Schicksal von Ciceros eigener Tochter (siehe Fuhrmann 2006, S. 218 f.) – und niemandem, so wäre zu ergänzen, käme deswegen in den Sinn, Jugend mit Gebrechlichkeit gleichzusetzen: »Was ist also sonderbar bei alten Menschen, wenn sie einmal schwach sind, da nicht einmal junge Menschen dem entgehen können?« (XI, 35: quid mirum igitur in senibus, si infirmi sint aliquando, cum id ne adulescentes quidem effugere possint?). Gute körperliche Verfassung ist daher weniger eine Frage des Alters, sondern vielmehr eine des individuellen Gesundheitszustandes, so dass prinzipiell jeder die Chance positiver Einflussnahme auf sein Altern hat und sie auch nutzen sollte: »Man muss, Laelius und Scipio, dem Alter Widerstand leisten und seine Gebrechen durch Achtsamkeit ausgleichen; man muss gegen das Alter kämpfen gleichwie gegen eine Krankheit, man muss Rücksicht auf die Gesundheit nehmen, in maßvoller Weise Sport treiben, nur so viel essen und trinken, dass die Kräfte wiederhergestellt, aber nicht niedergedrückt werden« (XI, 35/36: 65 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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resistendum, Laeli et Scipio, senectuti est, eiusque vitia diligentia compensanda sunt; pugnandum tamquam contra morbum sic contra senectutem, habenda ratio valetudinis, utendum exercitationibus modicis, tantum cibi et potionis adhibendum, ut reficiantur vires, non opprimantur). 22 Catos Worte lassen Ciceros Intention wieder klar und deutlich erkennen: Seine Schrift soll eine Aufmunterung sein, sich geistig wie körperlich gegen degenerative Entwicklungen im Alter(n), so gut es geht, zu wappnen.

Über den Vorrang des menschlichen Geistes (XI, 36) Zum Abschluss des zweiten Anklagepunktes wird noch die herausragende Bedeutung des menschlichen Geistes hervorgehoben: »Man muss aber nicht nur den Körper unterstützen, sondern noch viel mehr den Geist und die Seele« (XI, 36: Nec vero corpori solum subveniendum est, sed menti atque animo multo magis). Die Übung und Erhaltung des Geistes hat auch im fortgeschrittenen Alter Vorrang, nicht nur weil jener im Vergleich Dies darf man selbstverständlich nicht als Gleichsetzung des Alters mit Krankheit missverstehen; weder der lateinische Text (Dönni 1996, S. 107, Fußnote 340) noch der Sinnzusammenhang ließen eine solche Interpretation zu, weil dies im Widerspruch zu dem vorher Gesagten stünde, cf. XI, 35: at id [sc. imbecillitas] quidem non proprium senectutis vitium est, sed commune valetudinis (»Aber dies [die physische Schwäche] ist kein eigentümlicher Makel des Alters, sondern ein allgemeiner des Gesundheitszustandes«). Siehe dazu auch Sigismund (2003, S. 267): »Alter bedeutet nach dem Verständnis des Autors also keineswegs automatisch ein Leben in Krankheit«. Genauso verkehrt wäre die Ansicht, wonach hier »der verbissene Kampf (exercitatio) gegen die physiologisch bedingten Altersfolgen« (Dönni 1996, S. 107) im Vordergrund stünde. Cicero verwendet den Begriff exercitatio, mit dem »die Übung« bzw. speziell in diesem Zusammenhang »die Leibesübung« gemeint ist, nicht isoliert; er schreibt vielmehr, utendum exercitationibus modicis (XI, 36), d. h., man solle maßvolle Leibesübungen betreiben. Gegen das Alter als Naturnotwendigkeit (II, 4: naturae necessitas) ankämpfen zu wollen, wäre, wie bereits eingangs betont (cf. II, 5), ein höchst törichter Gedanke. 22

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zum Körper viel wichtiger sei (cf. X, 33), sondern weil er wie der Körper ohne entsprechende Pflege und Unterstützung mit den Jahren vorzeitig seinen Dienst einstelle, einer Öllampe gleich, deren Leuchtkraft mangels Brennstoffs ebenfalls abnehme, was dann zu »komischen, törichten Alten« (XI, 36: comicos stultos senes; cf. Laelius XXVI, 99) führe, über die sich der Komödiendichter C. Statius Caecilius lustig macht, indem er sie als leichtgläubig, vergesslich und energielos darstellt; solche Defizite lägen allerdings weniger am Alter an sich, sondern seien vielmehr Folge einer bestimmten Wesensart. 23 Dass man hingegen durch konstante Übung und Pflege des Geistes in der Lage ist, Ansehen und Einfluss (auctoritas) z. B. als pater familias im Alter aufrechtzuerhalten, zeigt Cato an Appius Claudius: Geistig aufgeweckt führte dieser hochbetagt trotz Blindheit ein Leben in Anstand und Würde und wurde von allen verehrt; selbst eine so gravierende Behinderung kann einem achtbaren Alter also nichts anhaben: »Auf diese Weise ist das Alter nämlich ehrenvoll, wenn man sich selbst verteidigt, wenn man sein Recht behauptet, wenn man sich niemandem überantwortet, wenn man bis zum letzten Atemzug über die Seinen waltet« (XI, 38: ita enim senectus honesta est, si se ipsa defendit, si ius suum retinet, si nemini emancupata est, si usque ad ultimum spiritum dominatur in suos). 24 Das gilt übrigens für jung und alt gleichermaßen: »Wie Frechheit, wie Zügellosigkeit mehr ein Charakterfehler junger als alter Menschen ist, jedoch nicht aller jungen, sondern nur der missratenen, so ist jene Alterstorheit, die gewöhnlich als Albernheit bezeichnet wird, ein Makel kopfloser alter Menschen, aber nicht aller« (XI, 36: ut petulantia, ut libido magis [sc. vitium] est adulescentium quam senum, nec tamen omnium adulescentium, sed non proborum, sic ista senilis stultitia, quae deliratio appellari solet, senum levium est, non omnium). 24 Nicht körperliche Rüstigkeit, wie Dönni (1996, S. 208) meint, sondern vor allem geistige Vitalität ist Cicero zufolge »conditio sine qua non« für ein geachtetes Alter (»honorata senectus«). Vgl. damit das 5. Buch der Tuskulanen: »Demokrit konnte freilich, nachdem er seine Sehkraft verloren hatte, nicht Weißes und Schwarzes unterscheiden, aber fürwahr Gutes und 23

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Für Cato beweist dies, dass selbst körperlich Beeinträchtigte im Alter geistig beweglich bleiben können: »wie ich nämlich den jungen Menschen als tüchtig anerkenne, in dem sich eine gewisse Reife findet, so erkenne ich den alten Menschen an, in dem etwas von einem jungen Menschen ist« (XI, 38: ut enim adulescentem, in quo est senile aliquid, sic senem, in quo est aliquid adulescentis, probo). Das hat wiederum enorme Auswirkungen auf das Leben insgesamt: »wer dies befolgt, wird körperlich ein Greis sein können, geistig wird er es niemals sein« (ebenda: quod qui sequitur, corpore senex esse poterit, animo numquam erit). Jemand, der geistig interessiert und rege bleibt, gewinnt an »hoher Reife« (Alfonsi 1971, S. 217) 25: Der Eintritt ins Alter geht dann unmerklich vonstatten, so dass auch das Dasein nicht abrupt endet, sondern nach langer Zeit. Deshalb haben für Cato die Übungen des Geistes Priorität: das Verfassen von Geschichtsbüchern, die Aufzeichnung früherer Gerichtsreden, das Studium verschiedener Rechtsgebiete, die Beschäftigung mit griechischer Literatur sowie Gedächtnistraining nach Art der Pythagoreer, indem man alle Ereignisse des Tages am Abend rekapituliert; ohnehin fordere ihn seine Tätigkeit im Senat und Schlechtes, Recht und Unrecht, Tugendhaftes und Schimpfliches, Zuträgliches und Abträgliches, Großes und Kleines, und ohne die Verschiedenheit der Farben war es möglich, glücklich zu leben, ohne Begriff von den Dingen war es nicht möglich« (114: Democritus luminibus amissis alba scilicet discernere et atra non poterat, at vero bona mala, aequa iniqua, honesta turpia, utilia inutilia, magna parva poterat, et sine varietate colorum licebat vivere beate, sine notione rerum non licebat). 25 Alfonsi (1971, S. 217/218) sieht hier einen starken Gegensatz zwischen Ciceros und Senecas Denken. Wenn Seneca (36. Brief, 4) einen unreifen Greis als schändlich und lächerlich bezeichnet, so ist damit nicht dasselbe gemeint, was Cicero hier (XI, 38) an alten Menschen lobt, sondern was auch er bereits zuvor (XI, 36) als Fehlentwicklung im Lebenslauf getadelt hatte. Im Übrigen hebt auch Seneca diese positive Form von »Jugendlichkeit« hervor, die man sich im Alter erhalten sollte: »Aber wie es für jedes Alter schicklich ist, sich weiterzubilden, so ist es nicht jedem Alter würdig, unterwiesen zu werden« (36. Brief, 4: sed quemadmodum omnibus annis studere honestum est, ita non omnibus institui).

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sein Einsatz für seine Freunde mehr geistig als körperlich. Der Zusatz, falls er an sein heimisches Schreib-/Studierlager (lectulus) gebunden wäre, könne er sich dort immerhin geistig beschäftigen (XI, 38), klingt zwar reichlich überspitzt, soll aber noch einmal dazu anspornen, den Geist weiterhin zu fördern und zu fordern, auch wenn der Körper schwächer werden sollte.

Vorwurf 3: Verlust sinnlicher Freuden im Alter (XII, 39 – XVIII, 66) Den dritten Vorwurf wehrt Cato mit einem Gegenvorwurf (vituperatio voluptatis) ab. Bereits der Hinweis auf die fatalen Folgen sinnlicher Lust – ist sie doch laut Cato gerade in der Jugend am lasterhaftesten –, schwächt den Vorwurf. 26 Aus dieser günstigen Ausgangsposition kann Cato nun an die weitere Widerlegung gehen und seinen Standpunkt konsolidieren. Als Gewährsmann für seine Überzeugung zitiert er den Pythagoreer Archytas von Tarent (um 400 v. Chr.), der sich keine gefährlichere, von der Natur gegebene Seuche vorstellen konnte als die Wollust (XII, 39: nullam capitaliorem pestem quam voluptatem corporis hominibus dicebat a natura datam): Der damit infizierte Mensch werde, wie an L. Flaminius (XII, 42) zu sehen sei, in seiner Gier danach vollkommen plan- und zügellos; selbst ihren Gegenspieler, den menschlichen Geist, gleichsam ein Geschenk des Himmels, könne sie, die Wurzel allen Übels sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben (cf. XII, 40), völlig unterjochen, sofern ihre Intensität und Dauer überhandnehme; Tugend (virtus) und Selbstbeherrschung (temperantia) wären Gleichwohl werden die voluptates keineswegs, wie man meinen könnte (z. B. Dönni 1996, S. 225 ff.), vollkommen in Bausch und Bogen verurteilt: »damit ich nicht den Anschein erwecke, der Lust ganz und gar den Krieg erklärt zu haben, an der ein gewisses Maß bzw. eine gewisse Form vermutlich naturgemäß ist« (XIV, 46: ne omnino bellum indixisse videar voluptati, cuius est fortasse quidam naturalis modus).

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dann machtlos: »daher sei nichts so verabscheuenswert wie die sinnliche Lust, da sie ja, wenn sie größere Ausmaße annehme und länger andauere, des Geistes ganzes Licht auslösche (XII, 41: quocirca nihil esse tam detestabile quam voluptatem, siquidem ea, cum maior esset atque longinquior, omne animi lumen exstingueret). 27 Hierin sieht Cato hinreichende Gründe, froh zu sein, dass die voluptates im Alter an Stärke verlieren, gerade dann, wenn man »durch Vernunft und Verstand« (XII, 42: ratione et sapientia) davon nicht loskommen konnte. 28 Die negativen Folgen eines allzu exzessiven Genusslebens sind bekannt: Ist das Dasein dagegen frei von Gelagen, so gibt es dann auch keine Trunksucht, keine Magenbeschwerden und keine schlaflosen Nächte mehr (XIII, 44: caret ergo etiam vinolentia et cruditate et insomniis). 29 Die mit den Jahren hingegen wachsende Empfänglichkeit für geistige Freuden gibt dem Leben sogar eine positive Wende: Geselligkeit und interessante Tischgespräche mit Personen unterschiedlichen Alters sind Cato nun wichtiger als ein Cato maior XIII, 44: »vortrefflich bezeichnet etwa Platon die sinnliche Lust als Köder der Laster, weil die Menschen nämlich wie Fische von ihr gefangen werden« (divine enim Plato escam malorum appellat voluptatem, quod ea videlicet homines capiantur ut pisces). Siehe auch Hortensius fr. 84 I, sowie Platon Timaios 69 d. 28 Die versteckte Kritik an Epikur (XIII, 43) zeigt, dass Lust und sinnliches Vergnügen nicht das Maß aller Dinge sein können, weil das menschliche Dasein weitaus Höherwertigeres zu bieten habe; von der Gier danach nicht mehr behelligt zu werden, müsse man somit dem Alter verdanken: »Wozu also so vieles über die sinnliche Lust? Weil es nicht nur kein Tadel, sondern sogar des Alters größter Vorzug ist, dass es sinnliche Freuden nicht mehr sonderlich begehrt« (XIII, 44: Quorsus igitur tam multa de voluptate? quia non modo vituperatio nulla, sed etiam summa laus senectutis est, quod ea voluptates nullas magno opere desiderat). 29 Damit wird Dönnis Behauptung (1996, S. 224: »Bei den Rahmenbedingungen dieser Schrift wäre es allerdings erstaunlich, etwa Diätvorschriften vorzufinden. Es hätte einer Lobschrift wenig gut angestanden, Einschränkungen beim Essen und Trinken zu erwähnen oder gar nahe zu legen«) gegenstandslos. 27

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opulentes Festmahl. 30 Die generelle Behauptung, das Alter ließe keinerlei Freuden mehr übrig, wurde somit zurückgewiesen, auch wenn, wie Cato bemerkt, im Alter peu à peu alles etwas ruhiger wird (XIII, 45: qua progrediente omnia fiunt in dies mitiora).

Einwand: Sinkende voluptas-Intensität im Alter (XIV, 47–50) Der folgende Einwand moniert die geringere Intensität sinnlicher Vergnügen im Alter: »Aber, wird man einwerfen, bei alten Menschen ist gewissermaßen das Kitzeln der Genüsse nicht mehr so groß« (XIV, 47: At non est voluptatum tanta quasi titillatio in senibus). Ein wirklich triftiger Anklagepunkt gegen das Alter liegt für Cato allerdings nicht vor, da seine Haltlosigkeit offensichtlich ist: »Ich glaube das, aber man sehnt sich auch nicht mehr danach [sc. nach einem so großen Kitzel]. Nichts bereitet Verdruss, was man nicht mehr vermisst« (XIV, 47: credo, sed ne desideratur quidem. nihil autem est molestum, quod non desideres). 31 Aus der Perspektive eines jungen Menschen, der vom Verlangen danach noch ganz erfüllt ist, wäre ein VerDas Gastmahl werde als convivium (wörtl. »das Zusammenleben«) bezeichnet, weil aus einer Tischgesellschaft von Freunden eine coniunctio vitae (Lebensverbindung) hervorgehe (VIII, 45). Cf. XIV, 46: »Und ich bin dem Alter überaus dankbar, dass es mir die Lust nach Gedankenaustausch gesteigert, die nach Trank und Speise beseitigt hat« (habeoque senectuti magnam gratiam, quae mihi sermonis aviditatem auxit, potionis et cibi sustulit). 31 Mit den Worten des greisen Sophokles (496–406 v. Chr.) bringt Cato seine große Erleichterung über die Befreiung von der Lust zum Ausdruck: »Gott bewahre!« sagte er, »gerne bin ich von dort wie von einem wilden und rasenden Herrn entflohen« (XIV, 47: ›di meliora!‹ inquit; ›libenter vero istinc sicut a domino agresti ac furioso profugi.‹). Siehe dazu Tuskulanen (1, 87–90), sowie Senecas 78. Brief, 11: »Alles sehnsüchtige Verlangen selbst stirbt ab; es ist aber nicht bitter, etwas zu entbehren, was man nicht mehr leidenschaftlich begehrt« (Desideria ipsa moriuntur; non est autem acerbum carere eo quod cupere desieris). 30

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zicht freilich nur mit Widerwillen zu ertragen; ein alter Mensch hingegen, der die Sinnenlust über viele Jahre hinweg zur Genüge auskosten konnte, empfinde aufgrund dieser Sättigung das Freisein davon »angenehmer« (XIV, 47: iucundius) als ihren Genuss. Ausdrücklich wird noch einmal betont, dass mit dem Alter kein vollständiger Verlust sinnlicher Freuden verbunden ist, wenngleich ein gewisser Abstand zu ihnen eintritt, da man sie ja in der Jugend sattsam genießen konnte, was Cato an den verschiedenen Sitzplätzen im Theater verdeutlicht: Die Jugend belegt die vordersten Reihen, von wo aus sich das Bühnenschauspiel in unmittelbarer Nähe abspielt; gleichwohl findet das auf den hinteren Rängen platzierte ältere Publikum trotz der größeren Distanz zur Bühne noch ausreichend Gefallen daran. Dieser Abstand hat den ungemeinen Vorteil, dass der Mensch dadurch zu sich selbst kommen kann, wenn alle Leidenschaften, wie Wollust, Prunksucht, Streitereien und Feindseligkeiten, abgelegt wurden (cf. XIV, 49: At illa quanti sunt, animum tamquam emeritis stipendiis libidinis ambitionis, contentionum inimicitiarum, cupiditatum omnium secum esse secumque, ut dicitur, vivere!). Jene positive Entwicklung zusammen mit der Voraussetzung, dass man sich zu beschäftigen weiß, aufgeschlossen bleibt und gleichsam über geistige Nahrung verfügt (XIV, 49: tamquam pabulum studi atque doctrinae), lasse das von sonstigen Verpflichtungen freie Alter zu einem angenehmen Lebensabschnitt werden; 32 die gewöhnliche Sinnenlust (XIV, 50: epularum aut ludorum aut scortorum voluptates) sei mit diesen Vgl. Tuskulanen 1, 75, sowie Senecas 58. Brief, 32: »es ist angenehm, möglichst lange mit sich zu sein, wenn man sich würdig gemacht hat, den Umgang mit sich selbst zu genießen« (iucundum est secum esse quam diutissime, cum quis se dignum quo frueretur effecit). Viele Persönlichkeiten bewahrten laut Cato ihre Schaffensfreude im Alter (cf. Cato maior XIV, 49/ 50); siehe auch De officiis I, 34, 123: »Vor nichts muss sich das Alter aber mehr hüten, als sich der Trägheit und dem Müßiggang hinzugeben« (Nihil autem magis cavendum est senectuti quam ne languori se desidiaeque dedat).

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geistigen Genüssen (voluptates animi) gar nicht zu vergleichen. Wächst im Alter das Interesse daran wie bei Solon (XIV, 50: senescere se multa in dies addiscentem; item VIII, 26), dann nehmen auch geistige Vergnügen zu, die alle anderen in den Schatten stellen.

Zu den Freuden eines Lebens in und mit der Natur (XV, 51 – XVII, 60) Cicero läßt Cato, von dem bekanntlich ein Werk mit dem Titel »Über den Ackerbau« (De agricultura) bzw. »Über die Landwirtschaft« (De re rustica) erhalten ist (cf. XV, 54), nun etwas länger über seine große Leidenschaft berichten, 33 die jener mit anderen tugendhaften, betagten Männern teilt, wie etwa dem römischen Staatsmann und Feldherrn M. Valerius Corvinus, der sein Land bis ins 100. Lebensjahr kultiviert haben soll (XVII, 60). Catos Ausführungen dürfen jedoch nicht als bloße Trostworte missverstanden werden (Dönni 1996, S. 223), möchte er doch neben der Freude an der Natur vor allem die geistigen Freuden einer auf die Natur ausgerichteten Lebensweise darstellen; auch wenn Aufgrund der Altersredseligkeit (loquacitas senectutis), für Cato ein Makel (XVI, 55: vitium), kommt hier all das Erfreuliche an der Landwirtschaft (XVI, 55: oblectamenta rerum rusticarum) ausführlich zur Sprache. Von reiner »Freude an der sichtbaren Mehrung des materiellen Wohlstandes« (Dönni 1996, S. 224) kann allerdings keine Rede sein: »Die Landwirtschaft bereitet aber nicht allein Freude durch die Saatfelder, Wiesen, Weinberge und Baumpflanzungen, sondern auch durch die Gemüse- und Obstgärten, ferner durch die Viehweide und Bienenschwärme und durch die Farbenpracht aller Blumen« (XV, 54: nec vero segetibus solum et pratis et vineis et arbustis res rusticae laetae sunt, sed hortis etiam et pomariis, tum pecudum pastu et apium examinibus, florum omnium varietate). Hinzu kommt die Freude, in der Natur zu leben: »Wo nämlich kann sich jenes Alter besser wärmen, sei es durch ein Sonnenbad oder durch das Herdfeuer, oder umgekehrt sich heilsamer abkühlen an schattigen Orten oder Quellen?« (XVI, 57: ubi enim potest illa aetas aut calescere vel apricatione melius vel igni aut vicissim umbris aquisve refrigerari salubrius?).

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es scheint, als werde das Landleben generell verklärt, als gelte seine Argumentation nur für eine Elite (siehe Powell 1988, S. 207), so ist es gewiss kein Vorrecht bestimmter Persönlichkeiten, sich an der Natur zu erfreuen sowie sie als Maßstab zu nehmen und ein Leben in Weisheit zu führen.

Auctoritas als Krone des Alters (XVII, 61 – XVIII, 64) Folgender Abschnitt hängt noch mit dem vorherigen Einwand (XIV, 47) zusammen. Alle Jugendfreuden (XVII, 61: […] omnes adulescentiae voluptates) würden nämlich übertroffen, wenn man im Alter auctoritas genießen kann: »Welche leiblichen Genüsse lassen sich mit den Vorzügen des Ansehens, Gewichts und der Würde einer Person vergleichen?« (XVIII, 64: quae sunt igitur voluptates corporis cum auctoritatis praemiis comparandae?). Cicero, der sich ja ganz bewusst für Cato als Hauptfigur entschied (I, 3), um der Schrift mehr Nachdruck zu verleihen, geht es hier nicht darum, »allfällige Nachteile im körperlichen Bereich zu überspielen« (Dönni 1996, S. 207), sondern um die Darstellung der für ihn als Römer höchsten Form geistiger Freude (Alfonsi 1971, S. 221). Auctoritas, dieser kaum übersetzbare Begriff, kommt keineswegs dem Alter oder dem alten Menschen an sich zu: »Nicht graues Haar oder Runzeln können auctoritas plötzlich an sich reißen« (XVIII, 62: non cani nec rugae repente auctoritatem adripere possunt, […]). Sie entsteht also nicht von heute auf morgen, sondern resultiert aus einem ihr würdigen Dasein, so dass nur »ein vorangegangenes ehrenhaft geführtes Leben die Früchte der auctoritas am Ende empfängt« (XVIII, 62: […] honeste acta superior aetas fructus capit auctoritatis extremos). 34 Daher betont Cato: »Aber bei dem ganzen Vortrag sollt Obschon hier (XVII, 61 ff.) »größtenteils Politiker und Feldherrn« als Vorbilder dienen, lässt sich daraus nicht schließen, dass »weniger innere Werte – wie etwa besondere Lebenserfahrung und Lebensklugheit – als

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ihr daran denken, dass ich ein solches Alter lobe, das auf den Fundamenten der Jugend errichtet worden ist« (ib.: Sed in omni oratione mementote eam me senectutem laudare, quae fundamentis adulescentiae constituta sit). 35 Folgender Vergleich soll dies nochmals unterstreichen: All diejenigen, die im Alter das Ansehen und Gewicht ihrer Persönlichkeit geltend machen können, »scheinen das Schauspiel des Lebens durchgespielt zu haben und nicht wie ungeübte Mimen im Schlussakt durchgefallen zu sein« (XVIII, 64: […] videntur fabulam aetatis peregisse nec tamquam inexercitati histriones in extremo actu corruisse).

Einwand: Negative Eigenheiten alter Leute (XVIII, 65) Mit der Antwort auf den Einwurf – »Aber, wird man einwenden, alte Menschen sind mürrisch, ängstlich, jähzornig und eigensinnig« (XVIII, 65: At sunt morosi et anxii et iracundi et difficiles vielmehr sichtbare Leistungen« (Dönni 1996, S. 209/210) ins Gewicht fallen. Auctoritas kommt bei jenen Persönlichkeiten nur am deutlichsten zum Vorschein. Für Cato steht fest: Je gewissenhafter eine Gesellschaft die auctoritas Älterer zu würdigen weiß, was schon bei einfachen Höflichkeitsbezeigungen beginnt (XVIII, 63), desto höher ist ihre sittliche Beschaffenheit, wobei hier natürlich Sparta ein Vorbild darstellt. Dort waren Betagte besonders geachtet (Schmitz 2012, S. 116 ff.). Nicht ohne Grund hielt Lysander Sparta für den »ehrenvollsten Wohnsitz für alte Menschen« (XVIII, 63: […] honestissimum domicilium senectutis): Bei einer Theateraufführung wären in Athen einzig und allein die Gesandten aus Sparta von ihren, eigens für sie reservierten Plätzen aufgestanden, damit sich ein betagter Mann, der keine Sitzgelegenheit mehr fand, niedersetzen konnte. Nachdem sie vom Publikum für diese vorbildliche Geste Achtungsapplaus erhielten, bemerkte einer der Spartaner süffisant, die Athener hätten zwar Kenntnis darüber, was sich gezieme, wollten es aber nicht in die Tat umsetzen (XVIII, 63/64). 35 Der Cato maior kann also schon deswegen keine »locker aufgebaute Erbauungsschrift« (Dönni 1996, S. 229) sein, weil expressis verbis nur derjenige gelobt wird, der im Alter auctoritas erlangt hat und sie durch seine Persönlichkeit ausstrahlen kann, ohne darüber viele Worte verlieren zu müssen, was Cato zufolge doch recht armselig wäre. Cf. Seneca De brevitate vitae 7, 10 sowie De constantia sapientis 12, 1

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senes) – kommt die Widerlegung des dritten Anklagepunktes zum Abschluss, wobei an ein bereits eingangs (III, 7) verwendetes Argument angeknüpft wird; trotz ihrer Kürze ist diese Textpassage für das Verständnis des Werkes sehr aufschlussreich. Zunächst geht Cato nicht daran, den Einwand zu entkräften, sondern fügt den eben genannten, Älteren oft nachgesagten negativen Eigenheiten noch eine weitere an (XVIII, 65). Für ihn ist eine solche Auflistung schlicht und einfach irrelevant, zumal es sich hierbei um Unarten handelt, die altersunabhängig sind und sich genauso bei Jüngeren finden; derartige Fehler dürfen deshalb nicht dem Alter an sich zugeschrieben werden (cf. III, 7: sed omnium istius modi querelarum in moribus est culpa, non in aetate), wiewohl es für deren Entstehen durchaus plausible Gründe gibt, 36 wenn man z. B. neben der großen psychischen Belastung durch etwaige körperliche Einschränkungen im Alter noch Geringschätzung vonseiten der Gesellschaft erfahre; doch ein guter Charakter hätte jene negativen Eigenschaften zumindest abgeschwächt. Da sich Menschen aber charakterlich sehr voneinander unterscheiden (XVIII, 65: quanta in altero diritas, in altero comitas!), so werde nicht jeder, wie auch nicht jeder Wein, »ungenießbar«. Ein maßvoll ernstes Wesen im Alter ließe sich noch billigen; Bitterkeit (acerbitas) oder gar Geiz (avaritia) sind für Cato dagegen völlig inakzeptabel: »Kann denn überhaupt etwas widersinniger sein, als sich mehr Reisegeld zu verschaffen suchen, je weniger Reiseweg übrig bleibt?« (XVIII, 66: potest enim quicquam esse absurdius quam, quo viae minus restet, eo plus viatici quaerere?). 37 Cicero trägt hier nicht bloß »Entschuldigungen« (Dönni 1996, S. 229) vor, sondern sagt, dass Untugenden im Alter etwas Entschuldigendes (XVIII, 65: aliquid excusationis) haben können; seine Absicht ist übrigens genauso wenig, »alle Entschuldigungsgründe« vorzutragen, »um so die persuasive Wirkung zu verstärken«; vielmehr lässt seine differenziertere Sicht eben nicht nur diese »Passage wirklichkeitsnäher« (ebenda) erscheinen. 37 Cf. Senecas 77. Brief (3/4): »Wie wenig ich hätte, bliebe mir dennoch schon mehr an Reisegeld übrig als an Reiseweg, […] Eine Reise wird un36

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Vorwurf 4: Das mit dem Alter näher rückende Lebensende (XIX, 66–84) Da die Rüge eines geizigen Wesens das im Alter näher rückende Lebensende ins Blickfeld brachte, kann sich Cato nun dem vierten und letzten Vorwurf (adpropinquatio mortis) widmen – diesem »obersten Problem, welches die Bedeutung unserer Existenz selbst betrifft« (Alfonsi 1971, S. 223) und uns daher am stärksten belastet. Cicero hat sich bereits in den Tuskulanen sehr intensiv damit befasst, deren 1. Buch eine praemeditatio mortis darstellt (siehe Koch 2006, S. 136–151); so überrascht es nicht, dass sich im Cato maior einiges wieder findet, jedoch mit einer etwas anderen Intention (vgl. Alfonsi 1971, S. 223/224): Während in den Tuskulanen das tröstende Moment vorherrscht, wird im Cato maior die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit als Lebensaufgabe angesehen, die im Alter weitestgehend abgeschlossen sein sollte: »O armseliger alter Mensch, der in einem so langen Leben nicht zu der Erkenntnis gelangt ist, dass der Tod geringzuschätzen ist!« (XIX, 66: o miserum senem, qui mortem contemnendam esse in tam longa aetate non viderit!). Cicero setzt also diese geistige Reife 38 gewissermaßen schon voraus, vollendet sein, wenn man mittendrin oder vor dem Ziel stehen bleibt: Das Leben ist vollendet, wenn es sittlich vollkommen ist; wo auch immer man aufhört, wenn man gut aufhört, ist es ein Ganzes« (quantulumcumque haberem, tamen plus iam mihi superesset viatici quam viae, […] Iter inperfectum erit si in media parte aut citra petitum locum steteris: vita non est inperfecta si honesta est; ubicumque desines, si bene desines, tota est). 38 Seneca 61. Brief, 2: »Ich schreibe Dir diesen Brief in der Stimmung, als ob mich der Tod gerade jetzt beim Schreiben abberufen würde. Ich bin bereit abzumarschieren und daher genieße ich das Leben, weil ich nicht sonderlich viel Gewicht darauf lege, wie lange es noch andauern wird. Vor dem Alter habe ich mich darum gekümmert, rechtschaffen zu leben, im Alter ehrenhaft zu sterben; ehrenhaft zu sterben bedeutet aber bereitwillig zu sterben« (Hoc animo tibi hanc epistulam scribo, tamquam me cum maxime scribentem mors evocatura sit; paratus exire sum, et ideo fruar vita quia quam diu futurum hoc sit non nimis pendeo. Ante senectutem curavi ut bene viverem, in senectute ut bene moriar; bene autem mori est libenter mori).

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um die Anklage gegen das Alter zu entkräften. Deshalb lässt er Cato weitere Gründe vortragen, warum der Tod nach einem langen Leben geringzuschätzen ist; zunächst gebe es nur zwei Möglichkeiten: Bedeute der Tod auch den Untergang der Seele, könne man denselben, der gemäß Epikurs Lehre (Brief an Menoikeus 125) dann nicht mehr erlebt wird, als gleichgültig betrachten (Koch 2006, S. 148); sollte der Seele hingegen Unsterblichkeit beschieden sein, wäre der Tod als Tor zur ewigen Seligkeit sogar wünschenswert. Eine dritte Alternative komme schlicht nicht in Betracht, d. h. man wird nach dem Tod entweder nicht unglücklich oder sogar glücklich sein (XIX, 67: […] aut non miser post mortem aut beatus etiam futurus […]). 39 Dadurch, dass zumindest für einen weisen, alten Menschen wie Cato die Furcht vor dem nahen Lebensende abnimmt, erweist sich auch der gegen das Alter vorgebrachte Anklagepunkt als unbegründet, wobei nach Cato noch ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen ist: Niemand könne sich vor dem Tod in Sicherheit wähnen; im Unterschied zu Älteren sei es gerade für Jüngere völlig ungewiss, ob sie überhaupt ein hohes Alter erreichen werden; den Verlust junger Familienangehöriger hatten sowohl Siehe dazu Tuskulanen 1, 25. Seneca hat das im 65. Brief (24) auf ähnlich Weise zusammengefasst: »Was ist der Tod? Entweder ein Ende oder ein Übergang. Ich fürchte weder aufzuhören (nicht begonnen zu haben ist nämlich dasselbe) noch hinüberzugehen, weil ich nirgends in einer so bedenklichen Lage sein werde« (Mors quid est? aut finis aut transitus. Nec desinere timeo (idem est enim quod non coepisse), nec transire, quia nusquam tam anguste ero). Ebenso 24. Brief, 18: »Entweder vernichtet uns der Tod oder er macht uns frei; lässt er uns frei, bleibt Besseres übrig, weil eine schwere Last wegfällt, zerstört er uns, bleibt nichts übrig, Gutes und Schlechtes wurde ohne Unterschied weggeschafft« (Mors nos aut consumit aut exuit; emissis meliora restant onere detracto, consumptis nihil restat, bona pariter malaque summota sunt). Wie Cicero möchte also auch Seneca aufzeigen, »dass die Furcht vor dem Tod in jedem Fall unberechtigt ist, auch dann, wenn die Seele nach dem Tod nicht mehr existiert« (Ricken 2007, S. 327). Landläufige Jenseitsmythen sind zumindest für (philosophisch) Gebildete keine ernsthafte Alternative (cf. Tusc. disp. 1, 10/11, sowie Seneca, 24. Brief, 18).

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Cato am eigenen Sohn als auch Scipio an seinen Brüder schmerzlich erfahren müssen. 40 Angesichts der in der Antike sehr niedrigen durchschnittlichen Lebenserwartung wird verständlich, warum Tod und Krankheit eher mit jungen als mit alten Menschen in Verbindung gebracht wird. 41 Sehr alt zu werden, war bekanntermaßen zu jener Zeit nur einer Minderheit vergönnt – ein Umstand, der im Vergleich zu heute auch nur wenigen die Chance eröffnete, eine hohe geistige Reife zu erlangen und ein weiseres Leben zu führen.

Einwand: Reduzierte Lebenszeit im Alter (XIX, 68) Obschon das Ende in Catos Augen nichts Furchterregendes mehr hat, so ließe sich doch dagegen ins Feld führen, dass Junge wenigstens Aussicht auf eine lange Lebenszeit hätten: Alten wäre durch das bald bevorstehende Lebensende jegliche Hoffnung genommen (XIX, 68: at sperat adulescens diu se victurum, quod sperare idem senex non potest). Dabei handelt es sich aber um reines Wunschdenken; darauf zu bauen, was noch in den Sternen steht, ist für Cato ein Unding: »Was ist nämlich törichter als Ungewisses für gewiß, Luftschlösser für wirklich zu halten?« Cf. Tuskulanen 1, 91, sowie Seneca (12. Brief, 6): »›Es ist misslich‹, sagst du, ›den Tod vor Augen zu haben.‹ Erstens muss dieser ebenso sehr dem alten wie dem jungen Menschen vor Augen sein (wir werden nämlich nicht nach Alterslisten aufgerufen); ferner ist niemand so alt, dass es übertrieben wäre, noch einen Tag zu erwarten.« (›Molestum est‹ inquis ›mortem ante oculos habere.‹ Primum ista tam seni ante oculos debet esse quam iuveni (non enim citamur ex censu); deinde nemo tam senex est ut inprobe unum diem speret). 41 Cato maior XIX, 67: »Junge Menschen werden leichter krank, sind schwerer krank und es ist trauriger, sich um sie zu kümmern« (facilius in morbos incidunt adulescentes, gravius aegrotant, tristius curantur). Zu Recht bemerkt Powell (1988, S. 240): »and before the development of modern medicine, to survive to old age at all implied an originally strong constitution«. Siehe dazu auch Schmitz 2012, S. 110 40

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(XIX, 68: quid enim stultius quam incerta pro certis habere, falsa pro veris?). Aufgrund eines vermeintlich viel längeren, vor ihm liegenden Zeitraumes befindet sich somit der junge Mensch gegenüber dem alten keineswegs in einer günstigeren Lage, ganz im Gegenteil: Jener sei vielmehr im Vorteil, weil er auf ein langes Leben zurückblicken könne, was bei diesem nur eine vage Wunschvorstellung bleibe. Auch hier muss man natürlich die damals sehr geringe durchschnittliche Lebenserwartung in Rechnung stellen.

Quantitative Aspekte des Lebens (XIX, 69/70) An diese Widerlegungen schließen sich nun Gedanken über die Länge des menschlichen Lebens an. Sie sind allerdings nicht als »probates Mittel gegen die Todesfurcht des betagten Lesers« (Dönni 1996, S. 110) 42 eingefügt – dieselbe wurde ja bereits als unbegründet nachgewiesen, sondern sie stehen noch im Zusammenhang mit der Gegenbehauptung, im Alter gäbe es keine Zukunftsperspektive mehr. Deshalb wird hier, ähnlich wie im 1. Buch (94) der Tuskulanen, nicht nur auf die Relativität des Begriffs »lange« (diu) hingewiesen, sondern auch dem Verlangen des Menschen nach maximaler Lebensdauer Einhalt geboten. 43 Selbst im Hinblick auf ein so hohes Alter, das ArganthoEs muss überhaupt bezweifelt werden, ob der Cato maior, wie Dönni meint, ausschließlich für ein älteres Publikum geschrieben wurde. Hatte Cicero nicht vorher (XIX, 66) den alten Menschen getadelt, bei dem der Tod Angst und Schrecken auslöst? Gerade mit Blick auf Catos jüngere Gesprächspartner, Scipio und Laelius, dürfte Cicero wohl eher eine jüngere Leserschaft im Auge gehabt haben. 43 Vgl. Tuskulanen 5, 12 ff., Seneca 77. Brief, 20: »Jedes Leben ist kurz; denn wenn du das Wesen des Ganzen überdacht hast, ist auch das Leben eines Nestor und einer Sattia kurz, die auf ihr Grabmal als Inschrift setzen ließ, sie habe neunundneunzig Jahre gelebt. Du siehst, dass sich jemand mit einem hohen Alter brüstet: Wer hätte jene ertragen können, wenn es ihr gelungen wäre, das hundertste Jahr zu vollenden? Wie das Schauspiel, so 42

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nius (um 670–550 v. Chr.), König der südspanischen Stadt Tartessos, erreicht haben soll, ließe sich nicht von einem langen Leben sprechen – wie bei allem, was ein Ende habe, da auch mit diesem die vergangene Zeit, und wäre sie noch so lange gewesen, unwiederbringlich verflossen sei. In diesem Strom der Zeit mit allmählich verschwindender Vergangenheit und offener Zukunft könne sich der Mensch letztlich nur »durch Tugend und sittlich gute Handlungen« (XIX, 69: […] virtute et recte factis […]) bleibende Werte schaffen; daran müsse sich jeder orientieren, nicht nur Ältere. Angesichts dieser Flüchtigkeit und Ungewissheit sollte man sich deshalb mit der zur Verfügung gestellten Lebenszeit zufrieden geben (XIX, 69: quod cuique temporis ad vivendum datur, eo debet esse contentus) und um tugendhaftes Verhalten bestrebt sein, was, wie das Beispiel eines guten Schauspielers zeigt, im Prinzip kein langes Dasein erfordere, da jener ebenfalls nicht bis zum Schlussakt auftreten brauche, um sein Können unter Beweis zu stellen. Ebenso wenig müssten Weise (sapientes) bis zuletzt auf der Bühne des Lebens stehen, zeige sich doch schon an kurzen Auftritten ihre Qualität: »Für ein sittlich gutes Leben ist nämlich eine kurze Lebenszeit lang genug« (XIX, 70: breve enim tempus aetatis satis longum est ad bene honesteque vivendum). Man darf sich also nicht der als trügerisch entlarvten Hoffnung hingeben, lange zu leben (diu vivere); Ziel muss vielmehr sein, tugendhaft zu leben (bene honesteque vivere), dann wird auch die Lebensdauer nebensächlich (cf. De finibus 3. Buch, 46); sittliche Vollkommenheit (virtus) genüge, um gut zu leben (ad bene vivendum). Ein langes Leben dürfe aber auch keinen Trübsinn auslösen; dem Landwirt komme es ja ebenfalls nicht in den Sinn, den Wandel das Leben: es kommt nicht darauf an, wie lange, sondern wie gut es vorgetragen wird« (Nulla vita est non brevis; nam si ad naturam rerum respexeris, etiam Nestoris et Sattiae brevis est, quae inscribi monumento suo iussit annis se nonaginta novem vixisse. Vides aliquem gloriari senectute longa: quis illam ferre potuisset si contigisset centesimum implere? Quomodo fabula, sic vita: non quam diu, sed quam bene acta sit, refert).

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der Jahreszeiten zu beklagen und sich über den Herbst oder Winter zu grämen. Dieser ist für Cato ein Vorbild, weil er seinen Blick eben nicht auf eine bestimmte Jahreszeit einengt, sondern jede als integralen Bestandteil des ganzen Jahres betrachtet und somit ihren Sinnzusammenhang erkennt. In gleicher Weise müsse jeder die einzelnen Altersstufen stets als notwendige Teile eines Ganzen begreifen, und sein Augenmerk auf die Früchte eines tugendhaften Lebens richten, die im Alter geerntet werden können, in Form der Erinnerung an sittlich gute Leistungen: »Der Ertrag des Alters aber ist, wie ich oft gesagt habe, eine reiche Erinnerung an die früheren Tugendhaftigkeiten« (XIX, 71: fructus autem senectutis est, ut saepe dixi, ante partorum bonorum memoria et copia). 44

Alter und Reife (XIX, 71 – XX, 72) Das natürliche Lebensende im Alter gehört nach Cato fraglos zum Guten: »Alles aber, was gemäß der Natur geschieht, muss man zum Guten rechnen« (XIX, 71: Omnia autem, quae secundum naturam fiunt, sunt habenda in bonis). Da das Leben im Alter an seine natürliche Grenze stößt, stellt er die rhetorische Frage: »was aber ist so gemäß der Natur als für alte Menschen dahinzuscheiden?« (ebenda: quid est autem tam secundum naturam quam senibus emori?). Die Akzeptanz des eigenen Lebensendes ist in jungen Jahren noch nicht gegeben: Das Sterben Dönni (1996, S. 110) sieht darin ein »typisch epikureisches« Trostargument. In der Tat war für Epikur die Erinnerung an vergangene Freuden ein Trost, als ihn am Lebensende starke körperliche Schmerzen quälten (siehe Diogenes Laertius X, 22), was jedoch in Ciceros Tuskulanen eindeutig kritisiert wird: »ich begreife nämlich nicht, wie vergangene Freuden gegenwärtige Leiden hemmen können« (5, 74: non enim video, quo modo sedare possint mala praesentia praeteritae voluptates). Schon deswegen kann es nicht im Sinne Ciceros sein, lediglich eine »verklärt-nostalgische« (Dönni 1996, S. 111) Rückschau im Alter anzuempfehlen.

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gleiche hier mehr dem gewaltsamen Ersticken der Lebensflamme, die bei alten Menschen allmählich von selbst ausgehe. 45 Diese hohe geistige Reife (maturitas) dient nicht allein der Bewältigung der Endlichkeit, sondern kommt auch der Lebensführung im Alter zugute, was Cato im Folgenden in aller Deutlichkeit herausstellt: Dank seiner geistigen Reife sei er trotz des näher rückenden Endes heiter-gelassen, weil er nach einem langen Leben nun den Zielhafen vor Augen habe (cf. Tuskulanen 1, 118). 46 Trotz aller Unsicherheit bezüglich des genauen Zeitpunktes, an dem man die Anlegestelle erreicht und dann von Bord geht, lasse sich doch von einer dem Alter angemessenen inneren Einstellung sprechen, nämlich seine »(moralische) Pflicht zu erfüllen« (munus offici exsequi) »und doch den Tod geringzuschätzen« (et tamen mortem contemnere); 47 so könnten betagte Menschen junge Leute sogar an Courage übertreffen (cf. Seneca 104. Brief, 2–4); auch Solon habe im Übrigen seinen mutigen Widerstand gegen den Tyrannen Peisistratos auf sein Alter zurückgeführt; am besten ende das Leben für den Menschen, wenn es ihm von der Cf. Seneca 30. Brief, 14: »Ein Feuer, das sich eines brennbaren Stoffes bemächtigt hat, muss mit Wasser und mitunter durch den Einsturz des Gebäudes gelöscht werden; jenes, dem es Nahrung mangelt, verglimmt von selbst« (Ignis qui alentem materiam occupavit aqua et interdum ruina extinguendus est: ille qui alimentis deficitur sua sponte subsidit). 46 Cf. Cato maior (XIX, 71): »und wie sich das Obst, wenn es unreif ist, kaum von den Bäumen abreißen lässt und wenn es reif und von der Sonne ausgedörrt ist, abfällt, so entzieht die Gewalt jungen Menschen das Leben, alten hingegen die Reife« (et quasi poma ex arboribus, cruda si sunt, vix evelluntur, si matura et cocta, decidunt, sic vitam adulescentibus vis aufert, senibus maturitas). »Durch den Vergleich mit dem Pflücken einer reifen Frucht«, so meint Dönni (1996, S. 223), »verliert der Tod viel von seinem Schrecken«. Cicero war sicherlich nicht so naiv, das zu glauben. Dieses Sinnbild ist im Cato maior vielmehr Ausdruck geistiger Reife im Alter, um die man sich im Laufe seines Lebens erst bemühen muss. 47 Siehe dazu Powell (1988, S. 245): »i. e. one should keep on with the occupations of one’s life, and at the same time one should not be so attached to them that one is afraid to let them go in the event of death«. 45

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Natur langsam wieder entzogen werde: 48 »Wie ein Schiff, wie ein Gebäude am leichtesten der gleiche abbaut, der es erbaut hat, so löst die Natur, die den Menschen zusammengefügt hat, ebenso am besten wieder auf« (XX, 72: ut navem, ut aedificium idem destruit facillime qui construxit, sic hominem eadem optume quae conglutinavit natura dissolvit); Conditio sine qua non für maturitas im Alter ist natürlich ein intakter Geist, sonst könne sich kein distanzierteres Verhältnis zum körperlichen Dasein herausbilden. Um Missverständnisse hinsichtlich der mit der maturitas einhergehenden contemptio mortis zu vermeiden, ergänzt Cato seine Ausführungen mit der Bemerkung, dass sich alte Menschen weder an die restliche Lebenszeit festklammern noch ihrem Leben grundlos (sine causa) ein Ende setzen dürfen. In der Tat ist die Gefahr gegeben, ins andere Extrem abzugleiten, insbesondere dann, wenn sich die Lebenssättigung (satietas vitae) bis zum Lebensüberdruss (taedium vitae) steigert. Deshalb wird an dieser Textstelle Pythagoras angeführt, der es als verboten ansah, »ohne Befehl des Feldherrn, i. e. Gottes, seinen Posten und Standort im Leben zu verlassen« (XX, 73: […] iniussu imperatoris, id est dei, de praesidio et statione vitae decedere). 49 Cato maior XX, 72: »Ferner wird jede neue Verbindung mit Mühe getrennt, jede alte mühelos« (iam omnis conglutinatio recens aegre, inveterata facile divellitur). Tuskulanen 1, 93/94: »Das Schicksal derjenigen aber, die hochbetagt sterben, wird gepriesen. Warum? Niemandem, glaube ich, könnte es nämlich angenehmer sein, wenn ein längeres Leben gewährt werden würde; denn nichts ist wahrlich angenehmer für den Menschen als die Einsicht, die doch sicherlich das Alter herbeiführt, selbst wenn es das Übrige nimmt« (eorum autem, qui exacta aetate moriuntur, fortuna laudatur. cur? nam, reor, nullis, si vita longior daretur, posset esse iucundior; nihil enim est profecto homini prudentia dulcius, quam, ut cetera auferat, adfert certe senectus). 49 Cf. Tuskulanen 1, 74, De officiis 1, 112, De re publica 6, 15 (somnium Scipionis), sowie Senecas Epistulae morales (z. B. 24. Brief, 24/25, 58. Brief 33 ff., 77. Brief, 5 ff. und 78. Brief, 1 ff.). Vgl. auch Platons Phaidon 61 d ff.: erst die von der Gottheit verhängte Notwendigkeit (ἀνάγκη) rechtfertige die Selbsttötung; siehe dazu wiederum Platons »Gesetze« IX, 873 c. Natürlich darf man hier Cicero nicht unterstellen, er hätte die Gründe für die 48

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Praemeditatio mortis (XX, 74/75) Cato schickt seinen Reflexionen zunächst Sentenzen berühmter Männer voraus. 50 Danach kann er mit seiner praemeditatio mortis beginnen und von seiner geistigen Reife weiter Zeugnis ablegen, die sich in der contemptio mortis bzw. der Akzeptanz der Vergänglichkeit manifestiert – ein Ziel, auf das seine jüngeren Gesprächspartner hinarbeiten sollen. Er will sie aber weniger mit seinen Worten trösten oder ihnen gar ein »Heilmittel Selbsttötung im Alter ganz bewusst verschwiegen, um nicht weiter auf die negativen Seiten des Alters eingehen zu müssen (Dönni 1996, S. 114). Zumindest müsste man ihm zugestehen, dass für eine detaillierte Darlegung des Für und Wider eine eigenständige Abhandlung nötig gewesen wäre, die sich obendrein nicht nur auf das Alter beziehen dürfte. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht jedoch die maturitas des Alters, die dem Menschen ermöglicht, seine körperliche Vergänglichkeit zu akzeptieren. Obwohl in seinem Denken der Suizid im Alter auf keine rigorose Ablehnung stößt, steht er doch dem Reifungsprozess aufgrund des hierin sich manifestierenden Konflikts zwischen der partikulären Natur des Menschen und der als göttlich aufgefassten Allnatur entgegen (siehe Long 2000, S. 478), was nur auf gewaltsame, unnatürliche Weise (contra naturam) geschehen kann, ähnlich wie das Sterben junger bzw. unreifer Menschen. 50 Dieselben Zitate finden sich in den Tuskulanen (1. Buch, 117) wieder: Solon erwartete, dass sein Ableben bei seinen Freunden Trauer und Schmerz auslöse, als Beleg für deren Wertschätzung ihm gegenüber; Ennius hingegen wünschte sich ein Begräbnis ohne Tränen, folge doch dem Tod Unsterblichkeit, was keineswegs zu beklagen sei. Während im Cato maior offen bleibt, welche von beiden Positionen vorzuziehen sei (XX, 73: […] sed haud scio an melius Ennius: […]), wird in den Tuskulanen letztere präferiert, auch ohne Jenseitsperspektive: »Denn wenn jener letzte Tag nicht Vernichtung, sondern Veränderung des Ortes bringt, was ist wünschenswerter? Wenn er aber zerstört und völlig vernichtet, was ist besser als mitten in den Anstrengungen des Lebens einzuschlafen und so die Augen schließend in einen tiefen, immerwährenden Schlaf zu fallen? Wenn dies geschieht, sind die Worte des Ennius besser als die von Solon« (1, 117: nam si supremus ille dies non extinctionem, sed commutationem adfert loci, quid optabilius? sin autem perimit ac delet omnino, quid melius quam in mediis vitae laboribus obdormiscere et ita coniventem somno consopiri sempiterno? quod si fiat, melior Enni quam Solonis oratio).

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gegen (Todes)angst« (Dönni 1996, S. 112) an die Hand geben, sondern möchte sie vielmehr als einen Leitfaden verstanden wissen, woran sie sich orientieren und ihre geistige Entwicklung ausrichten sollen: »Aber dies soll von Jugend an bedacht sein, dass man den Tod geringschätzt, ohne diese geistige Vorbereitung kann niemand im Innern gelassen sein« (XX, 74: sed hoc meditatum ab adulescentia debet esse, mortem ut neglegamus, sine qua meditatione tranquillo esse animo nemo potest). Jeder ist folglich nur durch eigene geistige Anstrengungen imstande, im Laufe des Lebens mit seiner Endlichkeit fertig zu werden und eine hohe maturitas zu erlangen, wobei die praemeditatio mortis abermals ausdrücklich auf die Lebenspraxis bezogen wird: 51 »Wie wird man also innerlich die Fassung bewahren, wenn man den Tod, der zu jeder Stunde droht, fürchtet?« (ib.: mortem igitur omnibus horis impendentem timens qui poterit animo consistere?). Gleichwohl nähert sich Cicero diesem schwierigen Thema im Cato maior, wie in seinen Tuskulanen, »immer mit Alternativen und auffallender Behutsamkeit, mit einer sehr menschlichen Unschlüssigkeit« (Alfonsi 1971, S. 223), was sich hier wie dort schon daran zeigt, dass zwischen Tod und Sterben differenziert wird. Mit einem amüsanten Vers des griechischen Komödiendichters Epicharm (5. Jh. v. Chr.) bringt dies Cicero in den Tuskulanen auf den Punkt: Émori noló, sed esse mórtuum nihil aéstimo (1. Buch, 15: Sterben will ich nicht, aber tot zu sein, achte ich für nichts). Im Cato maior wird allerdings nicht näher darauf eingegangen, sondern nur kurz erwähnt, dass gerade im Alter die Empfindung des Sterbens zeitlich sehr begrenzt sei – sicherlich ein weiterer Beleg dafür, dass es sich hierbei um keine reine Trostschrift handelt; außerdem wurde ja Wenn selbst junge Leute todesmutig und entschlossen in die Schlacht zogen, wie zahlreiche historische Beispiele belegen, dann dürften, so Cato, gerade gebildete alte (XX, 75: docti senes) keine übermäßige Angst vor dem Tod haben und dem eigenen Ende gefasst entgegenblicken. Cf. Senecas 26. Brief, sowie 82. Brief, 21/22.

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zuvor der Unterschied zwischen dem Sterben junger, unreifer und alter, reifer Menschen ausführlich erläutert: Das Lebensfeuer fand bei letzteren so gut wie keine Angriffsfläche mehr. Desgleichen lässt es Cicero auch im Cato maior dahingestellt sein, was nach dem Tod folgt: Entweder eine wünschenswerte oder überhaupt keine Empfindung (XX, 74: […] post mortem quidem sensus aut optandus aut nullus est). 52

Satietas vitae (XX, 76) Cato kommt nun auf einen entscheidenden Aspekt zu sprechen, den die Reife des Alters mit sich bringt, nämlich satietas vitae, i. e. Lebenssättigung, die zu der vorher dargelegten contemptio mortis führt; dazu bemerkt Cicero im 1. Buch der Tuskulanen Folgendes: »wenn daher die Überlegung selbst es nicht erreicht, dass wir den Tod geringschätzen können, dürfte doch ein bewusst geführtes Leben bewirken, dass wir übergenug gelebt zu haben scheinen« (109: quare si ipsa ratio minus perficiet, ut mortem neglegere possimus, at vita acta perficiat, ut satis superque vixisse videamur). 53 Lebenssättigung stellt ebenso im Tuskulanen 1, 118: »Wir aber, wenn sich etwas derartiges ereignet, dass es von Gott angekündigt zu sein scheint, dass wir sterben, wollen froh und dankerfüllt gehorchen und glauben, dass wir, aus einem Gefängnis entlassen und von Fesseln befreit, entweder zum ewigen und gänzlich uns gehörigen Wohnsitz zurückkehren oder von aller Empfindung und Beschwerlichkeit frei sind« (nos vero, si quid tale acciderit, ut a deo denuntiatum videatur ut exeamus e vita, laeti et agentes gratias pareamus emittique nos e custodia et levari vinclis arbitremur, ut aut in aeternam et plane in nostram domum remigremus aut omni sensu molestiaque careamus). 53 Cf. Seneca, 30. Brief, 12: »Wird es einem nun gar zuteil, dass ihn das Alter sanft freigibt, nicht gewaltsam vom Leben getrennt, sondern nach und nach weggezogen, dann ist jener fürwahr allen Göttern zu Dank verpflichtet, dass er gesättigt zu der dem Menschen notwendigen, dem Erschöpften willkommenen Ruhe geführt worden ist« (Iam vero si cui contigit ut illum senectus leviter emitteret, non repente avulsum vitae sed minutatim subductum, o ne ille agere gratias diis omnibus debet quod satiatus ad 52

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Ciceros Cato maior de senectute

Cato maior das Ergebnis eines bewusst gelebten, erfüllten und langen Daseins dar, in dem alle Altersstufen durchlaufen und alle jeweils mit ihnen verbundenen studia (Interessen, Beschäftigungen) gesättigt wurden. Das Gefühl von Lebenssättigung am Lebensende wird dabei mit dem Sättigungsempfinden verglichen, welches sich nach Vollendung eines Lebensabschnittes in Hinsicht auf die damit einhergegangenen studia einstellt: Junge Menschen sehnten sich nicht mehr nach den studia der Kindheit, Erwachsene nicht mehr nach denen der Jugend und Alte nicht mehr nach denen des Erwachsenenalters. Die eigentliche Reife im Sinne der satietas vitae trete aber erst mit Verschwinden der letzten Interessen des Alters ein; dann ist eben nicht, wie Dönni (1996, S. 120) irrtümlicherweise meint, der Zeitpunkt gekommen, ab dem sich der Mensch »nur noch den Tod« wünschen würde, sondern dieser markiert den Höhepunkt einer lebenslangen geistigen Entwicklung, die sich vor allem in der mentalen Akzeptanz des eigenen Endes bzw. der Vergänglichkeit des Lebens überhaupt äußert. 54

De immortalitate animorum (XXI, 77 – XXIII, 84) Jene, durch satietas vitae herbeigeführte Akzeptanz schärft Cato zufolge aber auch gleichzeitig den Blick dafür, was der Tod für den Menschen bedeutet (cf. Platon Politeia 330 e). Deshalb lässt Cicero ihn seine eigene Sicht vortragen, wobei bereits die Wortwahl zeigt, dass es eigentlich ein Wagnis darstellt, mit jüngeren, unreiferen Menschen darüber zu sprechen, bei denen sich noch nicht das gleiche Maß an satietas vitae eingestellt hat. Angerequiem homini necessariam, lasso gratam perductus est), sowie 61. Brief, 4: Vixi, Lucili carissime, quantum satis erat; mortem plenus expecto. 54 Auch Alfonsi (1971, S. 226) interpretiert satietas vitae fälschlicherweise als »Überdruss am Leben«, wo doch gerade vor dem Hintergrund des Pythagoras-Zitats (cf. XX, 73) eine neutralere Übertragung mit dem Begriff »Lebenssättigung« viel angebrachter gewesen wäre.

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Hauptteil: Vier Hauptvorwürfe gegen das Alter (V, 15 – XXII, 84)

sichts der Aufgeschlossenheit und Wissbegier seiner Zuhörer hat Cato jedoch keine Bedenken: »Ich sehe nämlich nicht, warum ich es nicht wagen soll, euch zu sagen, was ich selbst über den Tod denke, weil ich, je näher ich ihm bin, desto deutlicher zu sehen glaube« (XXI, 77: Non enim video cur, quid ipse sentiam de morte, non audeam vobis dicere, quod eo cernere mihi melius videor, quo ab ea propius absum). 55 So enthalten die nun folgenden Passagen hauptsächlich Argumente für die Unsterblichkeit der Seele, wie sie sich auch im 1. Buch der Tuskulanen (53, 71) finden (siehe Ricken 2007, S. 324 ff.), allerdings weniger, um zu trösten, sondern als Ausdruck geistiger Reife im Alter (cf. Platon Symposion 219 a). Cato verwundere es im Übrigen keineswegs, dass weise Menschen ihr Leben äußerst gelassen vollendeten, recht törichte hingegen mit dem heftigsten Widerwillen; bedingt durch ihre Reife hätten erstere einen viel weiteren geistigen Horizont. Ihn selbst erfülle der Gedanke, hochgeschätzte Persönlichkeiten im Jenseits zu treffen, mit großer Freude; sogar eine in Aussicht gestellte wundersame Verjüngung wäre dafür kein gleichwertiger Ersatz. Außerdem würde er sich vehement dagegen wehren, nach vollendetem Leben dasselbe von neuem bestehen zu müssen; denn trotz aller mit dem Leben verbundenen Widrigkeiten stelle sich doch im Laufe der Jahre ein Gefühl der Sättigung und Mäßigung ein. 56 Insofern möchte er im Gegensatz zu vielen anNach Catos fester Überzeugung existiere die menschliche Seele nach dem Tod weiter, und zwar auf eine viel bessere Weise als vorher: Im Körper wäre sie nämlich eingesperrt und hätte gewissermaßen Zwangsarbeit zu verrichten bzw. eine gewaltige Anstrengung zu überstehen. Die Seelen, an sich himmlischen Ursprungs, seien von den Göttern auf menschliche Körper ausgestreut worden, damit diese Geschöpfe die Erde unter ihren Schutz nähmen sowie den Kosmos über ihnen durch eine besonnene Lebensführung nachahmend darstellten (cf. Platon Timaios 47 c). 56 Die Fragen, quid habet enim vita commodi? quid non potius laboris? (XXII, 84: Was hat denn das Leben Angenehmes zu bieten? Was nicht eher Mühevolles?), darf man nicht mit Dönni (1996, S. 112) einseitig als Abwertung des Alters interpretieren, sondern eher als dessen Aufwertung, weil es 55

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deren das Dasein gar nicht bejammern, zum einen aufgrund der Gewissheit, nicht umsonst gelebt zu haben, andererseits weil er sich immer im Klaren darüber war, dass das Diesseits nur ein zeitweiliges Quartier und kein dauerhafter Wohnsitz der Seele ist. 57

Schluss (XXIII, 85) Cato beschließt seine Ausführungen, indem er noch einmal den Ausgangspunkt des Gesprächs in Erinnerung ruft, als Scipio sein sowie Laeliens Erstaunen über Catos offensichtlich mühelose Bewältigung des Alters zum Ausdruck brachte (cf. II, 4). Sein Vortrag war somit der Versuch, ihnen darzulegen, warum dem Menschen satietas vitae ermöglicht und seinem Leben damit ein allumfassendes Ziel gibt. 57 Cato geht dabei sogar so weit, seinen letzten Tag zu lobpreisen (XXII, 84: o praeclarum diem […]), der ihn von allem irdischen Wirrwarr befreit und in den göttlichen Kreis der Seelen bringt, cf. Seneca 102. Brief, 23/24: »Durch diese Aufenthalte des irdischen Lebens wird man für ein besseres und längeres Leben vorbereitet. Wie der Mutterbauch uns zehn Monate festhält und uns vorbereitet, nicht für sich, sondern für jenen Ort, in den wir offenbar freigelassen werden, alsbald wir fähig sind, zu atmen und im Freien zu leben, so reifen wir im Verlauf dieses Zeitraumes, der sich von der Kindheit bis zum Alter erstreckt, für eine andere Geburt. Ein anderer Ursprung, eine andere Beschaffenheit der Dinge erwartet uns. Noch nicht können wir den Himmel ertragen außer von fern. Daher schaue unverzagt auf jene entscheidende Stunde: Sie ist nicht die letzte für die Seele, sondern für den Körper. Betrachte alles, was um dich herumliegt, gleich wie das Inventar einer Gaststätte: Man muss daran vorbeigehen« (Per has mortalis aevi moras illi meliori vitae longiorique proluditur. Quemadmodum decem mensibus tenet nos maternus uterus et praeparat non sibi sed illi loco in quem videmur emitti iam idonei spiritum trahere et in aperto durare, sic per hoc spatium quod ab infantia patet in senectutem in alium maturescimus partum. Alia origo nos expectat, alius rerum status. Nondum caelum nisi ex intervallo pati possumus. Proinde intrepidus horam illam decretoriam prospice: non est animo suprema, sed corpori. Quidquid circa te iacet rerum tamquam hospitalis loci sarcinas specta: transeundum est).

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Schluss (XXIII, 85)

ihm sein Alter »nicht nur nicht beschwerlich, sondern sogar angenehm« (XXIII, 85: […] nec solum non molesta, sed etiam iucunda) ist. Aus gutem Grund lässt Cicero jedoch Scipio und Laelius nun nicht mehr zu Wort kommen; noch jung an Jahren können sie Catos Position weder gutheißen noch zurückweisen; sie müssen erst sein Alter erreichen und eine ähnlich hohe maturitas erlangen – was ihnen Cato auch zum Abschied wünscht –, um das Gesagte selbst bestätigen zu können. Dieser offene Ausgang widerlegt abermals die übliche Gleichsetzung des Werkes mit einer »Eloge auf das Alter« (Wagner-Hasel 2012, S. 57), wobei hier erneut dessen aufrufender Charakter hervortritt: »Das Alter aber ist der Ausklang des Lebens wie der Schlussakt eines Bühnenstücks, wo wir völlige Ermüdung vermeiden müssen, zumal wenn damit Sättigung verbunden ist« (XXIII, 85: senectus autem aetatis est peractio tamquam fabulae, cuius defetigationem fugere debemus, praesertim adiuncta satietate). 58 Zudem zeugt es von Weisheit, wenn sich Cicero im Cato maior ähnlich zurückhaltend wie in seinen Tuskulanen (vgl. Ricken 2007, S. 326) über die Unsterblichkeit der menschlichen Seele äußert: »Aber selbst wenn ich mich, der ich die Seelen der Menschen für unsterblich halte, darin irre, irre ich mich gerne und will mir diesen Irrtum, an dem ich Gefallen finde, nicht nehmen lassen, solange ich lebe; wenn ich aber nach dem Tod nichts mehr empfinden werde, wie einige unbedeutende Philosophen 59 meinen, trage ich keine Bedenken, dass tote Philosophen diesen meinen

Was Dönni (1996, S. 239) zu Senecas De brevitate vitae bemerkt, lässt sich auch auf De senectute übertragen: In beiden Werken steht das Bemühen im Vordergrund, »den Leser zum Philosophieren anzuregen, weil nur das Leben des Philosophen wirklich lang sei, nämlich mit sinnvoller Beschäftigung ausgefüllt«. 59 Zweifellos als Seitenhieb gegen die Epikureer zu verstehen (siehe Powell 1988, S. 265). 58

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Ciceros Cato maior de senectute

Irrtum verspotten. Wenn wir aber wirklich nicht unsterblich sein werden, ist es dennoch für den Menschen wünschenswert zu seiner Zeit ausgelöscht zu werden«. 60

Cato maior XXIII, 85: quodsi in hoc erro, qui animos hominum immortales esse credam, libenter erro nec mihi hunc errorem, quo delector, dum vivo, extorqueri volo; sin mortuus, ut quidam minuti philosophi censent, nihil sentiam, non vereor ne hunc errorem meum philosophi mortui irrideant. quod si non sumus immortales futuri, tamen exstingui homini suo tempore optabile est. Vgl. damit die bekannte Textstelle aus dem 1. Buch (39) der Tuskulanen: errare mehercule malo cum Platone, […], quam cum isti vera sentire (»Irren will ich bei Gott lieber mit Platon, […], als mit diesen [sc. den Epikureern resp. Materialisten] die richtige Ansicht zu haben«).

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Arthur Schopenhauers Vom Unterschiede der Lebensalter

Neben Cicero hat einer der tiefsinnigsten Denker überhaupt, nämlich Arthur Schopenhauer (1788–1860), wichtige Gedanken zum Thema Weisheit und Alter(n) beigetragen, und zwar vor allem mit dem 6. Kapitel seiner berühmten Aphorismen zur Lebensweisheit, das den Titel Vom Unterschiede der Lebensalter trägt. Als diese Aphorismen im Jahr 1851 in den Parerga und Paralipomena erscheinen, ist Schopenhauer bereits ebenfalls über sechzig Jahre alt. Gleichwohl sind sie genau genommen kein genuines Alterswerk: Wie Schopenhauers handschriftlicher Nachlass belegt, hat sich der Philosoph schon in der Entstehungsphase seines Hauptwerkes, Die Welt als Wille und Vorstellung, auch mit Fragen praktischer Lebensweisheit beschäftigt, was darauf hindeutet, dass beide Werke gedanklich eng miteinander zusammenhängen (vgl. Spierling 1998, S. 205). Dennoch tut man sich nach wie vor recht schwer, Schopenhauers Schriften als »inniges Ganzes« (Gespräche, S. 240) zu begreifen – insbesondere deswegen, weil bisher kaum jemand daran interessiert war, »die Fragestellung nach dem Verhältnis von Hauptwerk und Aphorismen zu vertiefen« (Spierling 1998, S. 218). 1 Die Aphorismen – »dieser weise-gelassene und zuMan wollte sogar Schopenhauers Spätwerk insgesamt für nebensächlich, dem Verständnis seines Denkens weniger zuträglich erklären (Hamlyn 1980, Preface, S. vii), obwohl der Philosoph immer wieder betont hat, dass jedes seiner Werke hierfür relevant ist, siehe Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, 4. Buch, Kapitel 40 (S. 589: »Überhaupt mache ich die Anforderung, daß, wer sich mit meiner Philosophie bekanntmachen will, jede Zeile von mir lese«), sowie Gespräche, S. 302; am 8. August 1858 schreibt er

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gleich blendende Rechenschaftsbericht über die Erfahrungen eines ganzen Lebens« (Hübscher 31988, S. 119/120), in dem noch dazu eine mutige und unverzagte Lebenseinstellung zum Ausdruck kommt (z. B. Maxime 53) – scheinen zum sogenannten »Meister des Pessimismus« (Volpi 2009, S. 7) mit seiner »pessimistischen Lebenshaltung« (Hauke 2007, S. 230) nicht passen zu wollen; deshalb hat man sie kurzerhand als »Pessimismus zum halben Preis« bzw. »Als-ob-Ethik« (Safranski 1998, S. 47 f.) hingestellt. 2 Dabei wäre jedoch zuallererst Folgendes zu bedenken: Hätte ein Erzpessimist den gleichen Lebensmut an den Tag legen und genauso tatkräftig sein können wie Schopenhauer, der bekanntermaßen sehr lange um sein Werk kämpfen musste, bis er die ihm gebührende Beachtung bekam! Obenan seinen Verleger F. A. Brockhaus: »Ich denke, es wäre an der Zeit, eine Auflage meiner sämmtlichen Werke zu machen, um so mehr, als solche im engsten Zusammenhange unter einander stehn, und ich längst erklärt habe, daß man, um mich recht zu fassen, jede Zeile von mir gelesen haben muß«. Vgl. auch Hübscher (1973, S. 275): »Wer Schopenhauer verstehen, und mehr noch: wer sein Weltbild in das eigene Leben aufnehmen, wer Trost und Kraft aus ihm gewinnen möchte, der wird nicht daran denken, es in seine Teile zu zerlegen und in den Teilen Aufschlüsse zu suchen, die nur das ungeteilte Ganze geben kann«. Kapriziert man sich dagegen auf den 1. Band des Hauptwerkes (z. B. Hauke 2007), so fällt die Interpretation Schopenhauerscher Philosophie unweigerlich recht einseitig aus. 2 Ebenso Safranski 1989, S. 34 f. In Safranskis (42006, S. 494 ff.) Bemerkungen zu den Aphorismen spiegelt sich die allgemeine Konfusion wider, was deren Beurteilung sowie ihre Einordnung in das Gesamtwerk betrifft: Erst wird erklärt, sie würden »den metaphysischen Skandal« (S. 495) außen vor lassen, was dann wieder folgende Einschränkung erfährt: »Insofern setzt Schopenhauer in gewissem Sinne doch jenen ›höheren metaphysisch-ethischen Standpunkt‹ voraus, den er eigentlich ausklammern möchte« (S. 496). Hätte er dann nicht besser davon Abstand genommen, seinen sogenannten »Philosophen für die Welt« (Brief vom 3. September 1850) zu schreiben? Volpi (32005, S. 10) behilft sich hier immerhin mit einer strikten Trennung zwischen Theorie und Praxis (»Mit anderen Worten: das philosophische System ist eine Sache, die praktische Lebensweisheit eine andere«), womit aber der Vorwurf der Doppelbödigkeit nicht beseitigt wäre. Zu Schopenhauers Aphorismen, siehe auch Spierling 1989, sowie Zimmer 2009 und 2010, S. 223–240.

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drein lässt sich der in diesem Zusammenhang gegen die Aphorismen erhobene Vorwurf der »Doppelbödigkeit« (Safranski 4 2006, S. 500) sehr leicht entkräften, wenn man Schopenhauers Unterscheidung Rechnung trägt zwischen dem höchst seltenen Weg »der Auserwählten, der Heiligen«, »der mittels bloßer Erkenntnis und demnächst Aneignung der Leiden einer ganzen Welt«, also durch vorsätzliche Askese zur Willensverneinung führt, und dem »Weg der Sünder, wie wir alle sind« (Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 49, S. 819). Wird dies in die Überlegung miteinbezogen, so erscheinen die Aphorismen eben nicht mehr als »Verlegenheitslösung« (Zimmer 2010, S. 231), richten sie sich doch an all jene, die nur durch die Erfahrungen eines langes Lebens zur Verneinung des Willens – für Schopenhauer übrigens »die größte Weisheit« – gelangen können, so dass »an die Stelle der faktisch unerreichbaren Figur des weltentsagenden Weisen« hier eher »die des weltklugen Weisen« (Spierling 1998, S. 203) tritt (vgl. Gespräche, S. 153); zu schlichten »Klugheitsregeln« (Zimmer 2009, S. 56) dürfen die Aphorismen aber ebenso wenig erklärt werden, da sie dann im Dienste des Willens stünden, seine Bejahung zementieren und damit den im Menschen schon vorhandenen Egoismus nur noch steigern würden; eine solch eudämonistische, willensbejahende Denk- und Lebensweise wäre – das betont Schopenhauer sicherheitshalber schon in der Einleitung zu den Aphorismen – mit seiner Philosophie gänzlich unvereinbar, weil man in den Fängen des Willens nicht dauerhaft glücklich sein kann; insofern ist es abwegig, aus den im handschriftlichen Nachlass niedergelegten Lebensregeln im Nachhinein eine Schopenhauersche »Kunst, glücklich zu sein« bzw. »Kunst der Glückseligkeit« (Volpi 2005, S. 9/13) zu konstruieren und somit seine Willensmetaphysik zu unterminieren. Dieselbe bleibt in den Aphorismen weiterhin präsent; 3 auch wenn Schopenhauer Siehe Aphorismen, Kapitel 5, Paränesen und Maximen, A. Allgemeine, 1., S. 488: »Wer aber vollends die Lehre meiner Philosophie in sich auf-

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hier, wie er eingangs bemerkt, einen »gewöhnlichen empirischen« (S. 375) Ausgangspunkt wählt, kommt er im letzten Kapitel dann wieder zum »höheren metaphysisch-ethischen Standpunkte« zurück, wo gleichsam die Reiseroute der sogenannten zweiten Fahrt (δεύτερος πλοῦς) 4 nachgezeichnet wird, auf der man nicht nur zur »selbstgenügsamen Partialverneinung des Willens zum Leben« (Spierling 1989, S. 15) gelangen kann. Ginge es hier lediglich »um die Möglichkeiten des Menschen, sich mit der Welt zu arrangieren« (Zimmer 2010, S. 223), wäre es freilich kaum zu verstehen, warum gerade im letzten Kapitel der Aphorismen zur Lebensweisheit die Unterschiede der Lebensalter dargelegt und gründlicher untersucht werden. Schopenhauer hätte jenes Thema ja ebenso gut in einem separaten Kapitel z. B. innerhalb der Parerga und Paralipomena behandeln können; 5 weil aber die Verneinung des Willens ihm zugenommen hat und daher weiß, daß unser ganzes Dasein etwas ist, das besser nicht wäre, und welches zu verneinen und abzuweisen die größte Weisheit ist, der wird auch von keinem Dinge oder Zustand große Erwartungen hegen, nach nichts auf der Welt mit Leidenschaft streben noch große Klagen erheben über sein Verfehlen irgendeiner Sache; […]«. 4 Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch, § 68, S. 533; 2. Band, Kapitel 48, S. 808, Kapitel 49, S. 816, 819; Paralipomena Kapitel 14, § 170, S. 377. Der Ausdruck δεύτερος πλοῦς bedeutet ursprünglich die Fahrt, bei der man mangels Fahrtwind keine Segel setzen konnte, sondern sich mit Rudern fortzubewegen hatte. Diese von der Seefahrt übernommene, sprichwörtlich gewordene Bezeichnung bezieht sich also auf all diejenigen, die mit dem Zweitbesten vorlieb nehmen müssen, cf. Platon Phaidon 99d, aber auch Marc Aurel Τὰ εἰς ἑαυτόν 9. Buch, 2: Χαριεστέρου μὲν ἦν ἀνδρὸς ἄγευστον ψευδολογίας καὶ πάσης ὑποκρίσεως καὶ τρυφῆς καὶ τύφου γενόμενον ἐξ ἀνϑρώπων ἀπελϑεῖν. τὸ δ᾽ οὖν κορεσϑέντα γε τούτων ἀποπνεῦσαι δεύτερος πλοῦς (»Es wäre zwar das Ziel eines sittlich anmutigeren Menschen, aus der Welt zu gehen, unerfahren in Lügnerei, in jeder Art von Verstellung, Schwelgerei und Aufgeblasenheit. Die zweite Fahrt ist nun aber, dieser Dinge überdrüssig sein Leben auszuhauchen«). 5 Schopenhauer hat sich ja bereits frühzeitig mit den verschiedenen Lebensaltern philosophisch auseinandergesetzt: Siehe Der handschriftliche Nachlaß z. B. Band 3, S. 233/234 (Quartant 1826), 276 (Foliant II 1826),

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Schopenhauers Philosophie – ein Weg zur Weisheit?

folge die höchste Form von Lebensweisheit darstellt, galt es in den Aphorismen zu klären, wie und auf welchem Wege sich dieses Ziel im Laufe des Lebens erreichen lässt. 6

Schopenhauers Philosophie – ein Weg zur Weisheit? Um den gedanklichen Inhalt des 6. Kapitels der Aphorismen zur Lebensweisheit besser verstehen zu können, sollte man vorab wenigstens in ganz groben Zügen der Frage nachgehen, wie sich Schopenhauers Lehre, die bekanntlich für gewöhnlich als tiefpessimistisch (Cartwright 1985, S. 157: »extremely pessimistic«) bzw. als Pessimismus in Reinkultur (Janaway 1999, S. 322: »all-encompassing pessimism«) eingeschätzt wird, 7 u. a. wegen einer scheinbar gänzlichen Abwertung menschlichen Lebens (ebenda, S. 319: »extremely negative evaluation of ordinary human life«), überhaupt mit Weisheit in Verbindung bringen lässt. Dafür ist gerade eine genauere Betrachtung ebenjenes Begriffs Pessimismus in Schopenhauers Werk m. E. sehr gut geeignet, wenngleich dieses Wort hier nur sehr selten vorkommt: Von 370 (Foliant II 1827), 387/388 (Foliant II 1828) 554/555, 625 (Adversaria 1829), sowie Band 4, I, S. 70 (Cogitata I 1831), 186 (Pandectae II 1834). 6 Schon Lütkehaus (1985, S. 196) überraschte es, dass Schopenhauers Philosophie des Alters »bisher noch nicht die Beachtung« fand, »die ihr gebührt«; steht das Kapitel doch ganz »in der Tradition der philosophischen Gerontologie« und hat »höchst Originäres« zu bieten, indem es »Alter und Philosophie in einer substantiellen, inneren Verbindung sieht und mit zentralen Gedanken des Systems verknüpft ist«. 7 Für Dörpinghaus (1997, S. 44) »steht fest: Arthur Schopenhauer ist Pessimist. Seine philosophische Lehre ist eine pessimistische«. Man will sogar persönliche Lebensumstände für diese Weltanschauung verantwortlich machen (Safranski 42006, S. 209/210, 292), wogegen sich der Philosoph freilich schon zu seinen Lebzeiten verwahrt hatte (Gespräche, S. 131); siehe dazu auch Grün 2000, S. 88. Andererseits ist Schopenhauers Diktion alles andere als pessimistisch, wie Murdoch (1992, S. 79) zu Recht betont: »Schopenhauer’s relation to his reader is relaxed, amicable, confiding, that of a kindly teacher or fellow seeker. He tells stories and makes jokes«.

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Pessimismus ist nämlich erst neun Jahre nach Erscheinen des 1. Bandes des Hauptwerkes im handschriftlichen Nachlass (Band 3, S. 463 f.) die Rede (vgl. Spierling 2003, S. 170); Schopenhauer konnte somit sein philosophisches Lehrgebäude errichten, ohne explizit von Pessimismus zu sprechen! Dabei muss man wissen, dass es ihm im 1. Band der Welt als Wille und Vorstellung auch gar nicht um Pessimismus geht, sondern vielmehr darum, einen »platten Optimismus« (4. Buch, § 70, S. 551) 8 ad absurdum zu führen und aufzuzeigen, dass die auf Leibniz zurückgehende Lehrmeinung der sogenannten besten aller möglichen Welten (»meilleur des mondes possibles«) angesichts des kolossalen Leids auf Erden nicht nur unhaltbar ist, sondern auch »als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart erscheint, als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit« (4. Buch, § 59, S. 447). 9 Erst im 17. Kapitel (S. 219/220) des viel später erscheinenden 2. Bandes seines Hauptwerkes findet sich das Begriffspaar Optimismus-Pessimismus respektive optimisEbenso Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 3. Buch, § 51, S. 354, sowie 4. Buch, § 68, S. 529 (»optimistische Plattheit«), aber auch 2. Band, Kapitel 38, S. 568 und Kapitel 48, S. 800. Schon Voltaire hatte in seinem Roman Candide ou l’optimisme (1759) das optimistischen Welt- und Fortschrittsmodell auf die Schippe genommen, weshalb Schopenhauer im 2. Band seines Hauptwerkes auch vom »unsterblichen ›Candide‹ des großen Voltaire« spricht (Kapitel 46, S. 746), vgl. Dörpinghaus 1997, S. 54 ff. und S. 60 ff. 9 Siehe Gespräche, S. 113/114, sowie Über den Willen in der Natur, S. 476: »Aber nachdem jene [die eine optimistische Weltsicht verkündenden philosophischen Systeme] sämtlich ihre Demonstrationen vollendet und dazu ihr Lied von der besten Welt gesungen haben; da kommt zuletzt, hinten im System […] die Frage nach dem Ursprung des Übels, des ungeheueren, namenlosen Übels, des entsetzlichen, herzzerreißenden Jammers in der Welt – und sie verstummen oder haben nichts als Worte, leere, tönende Worte, um eine so schwere Rechnung abzuzahlen«. Diese »grundlegende Erfahrung des Leidens«, jenes fundamentale Daseinsproblem, wurde »zum Hauptgegenstand seines Denkens«, so dass »seine Lehre« durchaus als »ein neuartiger und eigenständiger Versuch«, als »ein neues Kapitel« in der abendländischen Geistesgeschichte betrachtet werden darf (Weiner 2000, S. 13). 8

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Schopenhauers Philosophie – ein Weg zur Weisheit?

tisch-pessimistisch als Hauptunterscheidungskriterium der Religionen, 10 wo Schopenhauer dann auch im 48. Kapitel seine Geistesverwandtschaft mit den von ihm als pessimistisch bezeichneten Religionen bekundet (S. 801) und den Optimismus, »in den Religionen wie in der Philosophie«, schließlich als »Grundirrtum« (S. 803) bewertet. 11 All die Argumente für einen weltanschaulichen Optimismus sind ihm natürlich wohlbekannt; vehement weist er sie im 2. Band (46. Kapitel, S. 744 ff.) zurück; doch er kritisiert diesen Optimismus nicht allein für dessen »lahme excuse für die Übel dieser Welt« (S. 746) sowie deren Verharmlosung, sondern auch deswegen, weil damit dem allen Menschen »angeborenen Irrtum« Vorschub geleistet wird, wonach man auf Erden wäre, »um glücklich zu sein« (Kapitel 49, S. 813), und somit »Anspruch auf Glück und Genuß« hätte (Kapitel 46, S. 749); läßt sich dies nicht realisieren, so meint der Einzelne, »ihm geschehe Unrecht, ja er verfehle den Zweck seines Daseins […]« (ebenda), und bleibt in seinem unentwegten und unerfüllten Streben nach Glück gefangen trotz all der damit untrennbar verbundenen leidvollen Erfahrungen. Für Schopenhauer ist es daher kaum nachvollziehbar, »wie man dies hat verkennen können und sich überreden lassen, es [i. e. das Leben] sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich zu sein« (S. 734). 12 Hinter einer solchen naiv-optimistischen WeltVgl. damit Kapitel 48 des 2. Bandes (S. 773/774), wo auch zwischen dem »Geist« des Alten und Neuen Testaments (S. 796: »jener optimistisch, dieser pessimistisch«) differenziert wird. Die Gemeinsamkeiten pessimistischer Religionen werden im 2. Band des Öfteren unterstrichen, z. B. Kapitel 38, S. 569, Kapitel 46, S. 743, 749, Kapitel 48, S. 786/787, 799, 801, 806, 813, Kapitel 50, S. 825, 828; ebenso Paralipomena Kapitel 15, § 179, S. 449, 451–453. Zu den optimistischen und pessimistischen Religionen siehe auch Paralipomena Kapitel 15, § 174, S. 382–466, wobei der Pantheismus hier zum Optimismus gezählt wird (Kapitel 5, § 69, S. 121). 11 Cf. Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch, § 70, S. 550, sowie 2. Band, Kapitel 50, S. 827 f. 12 Diese Formulierung zeigt, dass es hier um die Illusion fortwährenden 10

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anschauung verbirgt sich also »nicht nur eine falsche, sondern auch eine verderbliche Lehre« (ebenda, S. 748/749), die später im 5. Kapitel der Aphorismen ausdrücklich als »Quelle vielen Unglücks« (S. 485) bezeichnet wird, da sie Glück als Ziel des Daseins erscheinen lässt, obwohl man dadurch immer weitere Enttäuschungen erlebt. 13 Aber worin liegt die Hauptursache dafür, den Zweck menschlichen Daseins – von einem oberflächlichen, optimistischen Weltbild befördert – im Glück zu sehen? Schopenhauer hatte diese Schimäre 14 ja als angeboren bezeichnet. Sie muss also Glücks und nicht um Glücksmomente oder glückliche Augenblicke geht. Janaways Einwand (1999, S. 323: »Willing sometimes is satisfied. So it is not an illusion that happiness happens«) läuft damit ins Leere; eine dauerhafte Befriedigung des Willens ist schlicht unmöglich, so dass auch »ein echtes, bleibendes Glück nicht möglich ist« (Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch § 58, S. 439/440); Young (2005, S. 209) hat dies wieder richtiggestellt: »Schopenhauers’s point is that if one is looking for positive value in one’s life one will not find it in the state of willing«. 13 Bis heute moniert man, dass es in Schopenhauers Denken »no positively felt satisfactions« (Janaway 1999, S. 333) gäbe. Wenn der Philosoph jedoch auf der »Negativität des Wohlseins und Glücks im Gegensatz zur Positivität des Schmerzes« (Paralipomena Kapitel 12, § 149, S. 344) beharrt, heißt das, dass alles, was für das Wollen des Menschen ein Hindernis darstellt, ihn daher quält und als positiv – im Sinne von daseiend, wirklich vorhanden – empfunden wird, und zwar in zunehmendem Maße, solange es nicht beseitigt wurde. Die angenehmen Momente der Hindernisbeseitigung (Janaway, ebenda: »positive feelings of satisfaction«) sind dagegen zeitlich sehr begrenzt und insofern negativ, als man sie auf lange Sicht gar nicht mehr wahrnimmt (siehe z. B. Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 46, S. 735/736); daher fällt das Leiden so massiv ins Gewicht und lässt sich nicht durch kurze glückliche und genussreiche Augenblicke ausgleichen; auch Young (2005, S. 206) hat den gegen Schopenhauer erhobenen Vorwurf der Einseitigkeit (Janaway 1999, S. 332) entkräftet: »In making this claim Schopenhauer does not of course mean that moments of pleasure, happiness, joy never occur«. 14 Obwohl in Zitaten wie »Alles im Leben gibt kund, dass das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden« oder »Das Glück liegt demgemäß stets in der Zukunft oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen dunkeln Wolke zu vergleichen, welche

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im Wesen des Menschen liegen, d. h. im Willen bzw. im Willen zum Leben, 15 der, wie im 1. Band des Hauptwerkes dargelegt, gleichfalls »das Ding an sich, der innere Gehalt, das Wesentliche der Welt ist« (4. Buch, § 54, S. 380). Dieser Wille zum Leben erscheint als blinder, universeller, nicht zu befriedigender, grund- und grenzenloser Drang; nicht dieser ist Folge der Welt, sondern die Welt ist Folge desselben. Blind ist er insofern, als er keinen Zweck verfolgt außer dem des Daseins »und so im heftigen Drange die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt, nicht wissend, dass er immer nur sich selbst verletzt« (ebenda § 63, S. 484). Anhand eines ergreifenden zeitgenössischen Reiseberichts, den Schopenhauer sodann, nota bene!, »als Argument zum Pessimismus« wertet, wird im 28. Kapitel des 2. Bandes der sinnlose, leidvolle Kreislauf des Willens zum Leben, der unerbittliche Überlebenskampf in der Natur, jener brutale bellum omnium contra omnes verdeutlicht, welcher der Natur dämonische Züge verleiht. Was das für den Menschen heißt, hat Schopenhauer im handschriftlichen Nachlass (Band 4, II, S. 2) auf den Punkt gebracht: »Alle Menschen wollen leben, aber keiner weiß, weshalb er lebt«, oder anders formuliert: »Ich kann mir zwar klarmachen, warum ich dies und nicht jenes will, ich kann aber nicht begründen, warum ich überhaupt will« (Schulz 1987, S. 19). Zu beachten ist, dass, wie aus dem 19. Kapitel des 2. Bandes seines Hauptwerkes hervorgeht, der Intellekt nur etwas Sekundäres darstellt, quasi »ein bloßer Sklave und Leibeigener des Willens« (S. 274); 16 der Wille als »ein prius des Inder Wind über die besonnte Fläche treibt« (Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band Kapitel 46, S. 733/734) von Pessimismus keine Rede ist, glaubt Janaway (1999, S. 323) darin »an essential element in Schopenhauer’s pessimism« zu erkennen. 15 Zur Bedeutungsgleichheit dieser beiden Grundbegriffe, siehe Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch § 54, S. 379 ff. Eine detaillierte Erörterung würde den Rahmen dieser Arbeit zweifellos sprengen. 16 Siehe dazu Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch, § 60, S. 448, sowie Über den Willen in der Natur, (Physiologie und Pathologie), S. 340.

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tellekts« (S. 311) bildet hingegen das Primäre, den Kern des Menschen. Für Schopenhauer »ist das treffendeste Gleichnis für das Verhältnis beider der starke Blinde, der den sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt« (S. 269). 17 Doch dieser Wille gleicht, wie es im 4. Buch (§ 65) des 1. Bandes heißt, dem »Faß der Danaiden: es gibt kein höchstes Gut, kein absolutes Gut für ihn; sondern stets nur ein einstweiliges« (S. 494). Als Subjekt des Wollens verrichtet man die »Zuchthausarbeit des Wollens« (3. Buch, § 38, S. 280/281), ist im »Sklavendienste des Willens« gefangen und geradezu zum Leiden prädestiniert: 18 Sollte auch ein Mangel behoben oder ein Wunsch befriedigt sein, was zwar temporäre Befreiung von dem als schmerzlich empfundenen Mangel, aber zugleich Wegfall des Wunsches samt des erwarteten Genusses bedeutet, so währt dieser Zustand nur kurze Zeit: »Sogar aber ist die endliche Befriedigung nur scheinbar: der erfüllte Wunsch macht gleich einem neuen Platz; jener ist ein erkannter, dieser ein noch unerkannter Irrtum« (3. Buch, § 38, S. 279). Selbst für den eher selteneren Fall, dass sich die Wünsche allzu leicht erfüllen lassen und es infolgedessen fortlaufend an Objekten des Wollens mangelt, macht sich der Wille zum Leben in Form von Langeweile bemerkbar und lässt das Dasein buchstäblich zur Qual werden. 19 Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 19, S. 288/289: »Zu glauben, dass die Erkenntnis wirklich und von Grund aus den Willen bestimme, ist wie glauben, dass die Laterne, die einer bei Nacht trägt, das primum mobile seiner Schritte sei«. 18 Siehe Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch, § 56, S. 425: »Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist«, sowie 3. Buch, § 38, S. 280: »Ob wir jagen oder fliehn, Unheil fürchten oder nach Genuß streben, ist im wesentlichen einerlei: die Sorge für den stets fordernden Willen, gleichviel in welcher Gestalt, erfüllt und bewegt fortdauernd das Bewußtsein; ohne Ruhe aber ist durchaus kein wahres Wohlsein möglich«. Vgl. Gespräche, S. 126. 19 Die bittere Konsequenz daraus ist, »dass die allermeisten, ja eigentlich alle Menschen so beschaffen sind, dass sie nicht glücklich sein könnten, in welche Welt auch immer sie versetzt werden möchten. […] Zu einem glück17

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Gleichwohl kann der Mensch als »die vollkommenste Objektivation jenes Willens« (Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch § 57, S. 428) die Willensbejahung als Hauptursache seines Leidens erkennen und sich in ihm der »zur Besinnung« (ebenda 2. Band, Kapitel 45) gekommene Wille durch diese seine Selbsterkenntnis wenden: »Ein Wanderer verfolgt, mit einer Laterne in der Hand, einen Weg; plötzlich sieht er sich an einem Abgrund stehen und kehrt um. Der Wanderer ist der Wille zum Leben, die Laterne der Intellekt; beim Lichte dieser sieht der Wille, dass er auf einem Irrwege sich befindet, an einem Abgrunde steht, und er wendet sich, er kehrt um …« (Gespräche, S. 93). So lassen sich die Fesseln egoistischen Verlangens und geistiger Beschränktheit allmählich abstreifen auf dem langen, bisweilen recht leidvollen zweiten Weg des Lebens (δεύτερος πλοῦς), den Schopenhauer im 6. Kapitel seiner Aphorismen zur Lebensweisheit abschreitet.

Altern als geistig-seelischer Entwicklungsprozeß Gleich am Anfang des 6. Kapitels wird Voltaire (Stances à Mme du Châtelet: Qui n’a pas l’esprit de son âge, De son âge a tout le malheur) zitiert, um die lebenslange geistig-seelische Entwicklung des Menschen hervorzuheben: Wenn diese bzw. der Geist – so Voltaire – nicht mit dem Alter übereinstimmt, so wird dasselbe zu einem einzigen Malheur. Ein erster Schritt zur Lebensweisheit wäre also, um eine geistige Reife bestrebt zu sein, die seligen Zustande des Menschen wäre also keineswegs hinreichend, dass man ihn in eine ›bessere Welt‹ versetzte, sondern auch noch erfordert, dass mit ihm selbst eine Grundveränderung vorginge, also dass er nicht mehr wäre, was er ist, und dagegen würde, was er nicht ist« (Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 41, S. 628 f.). Siehe dazu auch das 12. Kapitel (§ 152, S. 345) der Paralipomena, sowie Gespräche, S. 113. Von einer angeblichen »Allmachtsphantasie« (Hauke 2007, S. 113) ist Schopenhauer daher weit entfernt.

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dem jeweiligen Alter angemessen ist. Dafür muss man sich aber zunächst die einzelnen Entwicklungsstufen des menschlichen Intellekts vor Augen führen, die ebendeswegen im weiteren Verlauf des Kapitels ausführlich erörtert werden. Der Unterschied zwischen den Altersgruppen besteht neben »Veränderungen« im »Temperament« erst einmal darin, dass Jüngere einen großen Zeitraum vor sich sehen, Betagte hingegen auf eine lange Zeitspanne zurückblicken können, obgleich sie alle »immer nur die Gegenwart inne« (S. 569) haben.

Die geistig-seelischen Entwicklungsstufen menschlichen Lebens Schopenhauer hat sich den geistig-seelischen Entwicklungsstufen bereits im 31. Kapitel seines Hauptwerkes (2. Band, S. 508– 511) kurz gewidmet. Dort wurde gezeigt, dass die Kindheit gemeinhin mehr vom Erkennen als vom eigentlichen Wollen geprägt ist, da der Intellekt aufgrund des schon frühzeitig voll ausgebildete Gehirns über das sich erst später entwickelnde »Genitalsystem«, gleichsam der »Brennpunkt des Willens«, 20 dominiert; das Kind kann sich noch weitgehend ungehindert seiner Umwelt zuwenden, so dass es, ähnlich dem Genie, als jemand erscheint, der unbefangen das Wesen der ihn umgebenden Dinge zu ergründen sucht. Darum werde die Kindheit retrospektiv oft als glücklich empfunden und wecke wie die Erinnerung an eine unternommene Entdeckungsreise nostalgische Gefühle. Gleichzeitig entsteht durch die in der Kindheit auf dem Wege der Anschauung und Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse, wie Schopenhauer dann im 6. Kapitel seiner Aphorismen schreibt, »die feste Grundlage unserer Weltansicht« (S. 570); mit der Erziehung kämen dann aber vorgefertigte, mehr oder Siehe dazu auch Kapitel 19 (Vom Primat des Willens im Selbstbewußtsein) des 2. Bandes (S. 273) – derselbe Ausdruck findet sich bereits im 1. Band (4. Buch § 60, S. 452) des Hauptwerkes.

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weniger aufoktroyierte »Begriffe« hinzu, die dem Heranwachsenden jedoch nicht den Zugang zum Wesentlichen öffneten, was nur aus eigener Kraft mittels »der anschaulichen Auffassung der Welt« geschehen könne; insofern ist auch Schopenhauer davon überzeugt, dass moralische wie intellektuelle Qualitäten »aus der Tiefe unsers eigenen Wesens« (S. 571) entspringen und nicht von außen, z. B. mit pädagogischen Maßnahmen beigebracht werden können. Aufgrund jener in jungen Jahren vorherrschenden Erkenntnistätigkeit 21 bleiben auch Kindheitserinnerungen so lange im Gedächtnis haften; hier konnte man sich in die noch neuen Dinge vertiefen, die zudem den Eindruck erweckten, als seien sie etwas Singuläres. Daraus geht ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Kindheit bzw. Jugend und Erwachsenenalter hervor: Schon im 30. Kapitel des 2. Bandes der Welt als Wille und Vorstellung wurde dargelegt, dass die zur Verklärung und Poesie neigende Anschauungsweise junger Menschen auf einer mehr objektiven Sicht der Dinge beruht, deren anziehende Wirkung sich dem Umstand verdankt, dass man mit ihnen noch nicht subjektiv in Beziehung stand; diese Unkenntnis verleite deshalb Jüngere dazu, persönliche Bekanntschaft mit all dem zu machen, was in der bloßen Vorstellung so reizvoll erscheint (S. 483: »melanchoDie in der Kindheit erlangte Einsicht und Kenntnis bilde, wie es im 2. Band des Hauptwerkes heißt (Kapitel 31, S. 509), in toto sogar »die Grundlage aller menschlichen Erkenntnisse«. Ebenda, S. 488: »Die Anschauung nun aber ist es, welcher zunächst das eigentliche und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingterweise, sich aufschließt und offenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte sind ja nur Abstraktionen, mithin Teilvorstellungen aus jener und bloß durch Wegdenken entstanden. Alle tiefe Erkenntnis, sogar die eigentliche Weisheit wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge; […] Eine anschauliche Auffassung ist allemal der Zeugungsprozeß gewesen, in welchem jedes echte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern. Aus Begriffen hingegen entspringen die Werke des bloßen Talents, die bloß vernünftigen Gedanken, die Nachahmungen und überhaupt alles auf das gegenwärtige Bedürfnis und die Zeitgenossenschaft allein Berechnete«. Siehe ebenso Paralipomena Kapitel 28, § 372 ff.

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lische Jünglingsschwärmereien«). Den Gegensatz zwischen jenen, lediglich von der Vorstellung ausgehenden Verlockungen und dem, was man subjektiv, gleichsam am eigenen Leib als ein Wollender erfährt, bringt Schopenhauer im 6. Kapitel der Aphorismen folgendermaßen auf den Punkt: »alle Dinge sind herrlich zu sehn, aber schrecklich zu sein«; daher »hält der junge Intellekt alle jene Gestalten, welche Wirklichkeit und Kunst ihm vorführen, für ebenso viele glückselige Wesen: er meint, so schön sie zu sehn sind, und noch viel schöner, wären sie zu sein«; die Kehrseite der Medaille, »die des Seins, d. i. des Wollens« wird erst mit der Zeit erkennbar, je mehr man sich »ins Weltgetümmel« stürzte (S. 571). 22 Dann muss man aber nach und nach schmerzlich erfahren, dass es unmöglich ist, dauerhaftes Glück zu erlangen.

»L’âge des illusions est passé« – das Ende der Illusionen Mit zunehmendem Alter stellt sich somit immer mehr Ernüchterung ein, 23 Ernüchterung über das, was aus der Entfernung gesehen so verlockend erschien, dessen schöner Schein aber durch die unmittelbare Nähe des hautnahen Er- bzw. Durchlebens entlarvt wurde; 24 dieses Geschehen wird laut Schopenhauer übrigens auch dadurch begünstigt, dass es im Kindesalter weniger interindividuelle Unterschiede gibt und man deshalb besser miteinander auskommt als nach Einsetzen der Pubertät; von da an beginnen die Menschen jedoch immer mehr zu diverSiehe auch Aphorismen zur Lebensweisheit Kapitel 5, S. 487 ff. und Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 30, S. 483: »Alles ist nur so lange schön, als es uns nicht angeht«. 23 Vgl. damit Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 49, S. 814, Paralipomena Kapitel 12, § 156, S. 353, sowie Der handschriftliche Nachlass Band 4, I, S. 267. 24 Siehe dazu das Gleichnis aus dem 30. Kapitel (Vom reinen Subjekt des Erkennens) des Hauptwerkes (2. Band), S. 478. 22

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gieren. 25 Jene Desillusionierung dauere bis zur Lebensmitte, weil hier das Streben nach dem vermeintlichen Glück prädominiere, zusammen mit zunehmender Enttäuschung darüber, dass sich die vormals schönen Eindrücke nach näherer Bekanntschaft nun als Gaukeleien entpuppten; so seien oft junge Erwachsene mit ihrer persönlichen Situation unzufrieden, wenngleich jene erste Lebenshälfte, »so viele Vorzüge vor der zweiten hat« (S. 572). Obwohl hier nicht näher auf die eben erwähnten Vorzüge der ersten Lebenshälfte eingegangen wird, so sind darunter wohl vor allem physische zu verstehen. Bereits zu Beginn des 2. Kapitels der Aphorismen hatte Schopenhauer ja auf die fundamentale Bedeutung körperlicher Gesundheit hingewiesen, deren Bewahrung von vorrangiger Bedeutung ist. 26 In jungen Jahren ist man sich dessen oft kaum bewusst und setzt seine Gesundheit durch die Gier nach Glücksmomenten sogar aufs Spiel, anstatt sie sich durch eine gesündere Lebensweise möglichst lange zu bewahren – gerade mit Blick auf die Veränderungen in der zweiten Lebenshälfte.

Zum Hauptunterschied zwischen Jugend und Alter Nachdem Schopenhauer den geistigen Entwicklungsprozess im menschlichen Lebenslauf im Kern skizziert hat, ist es ihm nun möglich, den Hauptunterschied zwischen Jugend und Alter zusammenzufassen: »Ist sonach der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte Sehnsucht nach Glück; so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück« (S. 573). Ab der zweiten Lebenshälfte komme es – zumindest bei einigen Menschen – zu Denselben Gedanken äußert Schopenhauer auch in seinen Gesprächen (S. 264): »Man »divergirt« immer mehr, je älter man wird. Zuletzt steht man ganz allein«. 26 »Folglich sollten wir vor allem bestrebt sein, uns den hohen Grad vollkommener Gesundheit zu erhalten, als dessen Blüte die Heiterkeit sich einstellt« (S. 388). 25

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einem Gesinnungswandel, so dass man sich, von der vergeblichen Glückssuche ernüchtert und in Kenntnis der Lebensrealität, jetzt verstärkt Gedanken über drohendes Unheil mache, aufgrund allgemeiner Erfahrung, dass das menschliche Glücksstreben auf einer Täuschung beruht, das Leiden hingegen sehr wohl real existiert, nämlich dann, wenn man es leibhaftig zu spüren bekommt. Je deutlicher dies erkannt wurde, desto weniger werde man chimärischen Glück und flüchtigen Vergnügen nachlaufen, sondern sich viel eher um weitgehende Schmerzfreiheit bemühen. Diese Erkenntnis wirkt sich auch darauf aus, wie das jeweilige Lebensalter empfunden wird; hierbei hat die zweite Lebenshälfte einen klaren Vorteil gegenüber der ersten: Hatte in jungen Jahren mangels Lebenserfahrung und im Glauben, abseits zu stehen oder zu kurz gekommen zu sein, die Glücksjagd Priorität, so lösen sich mit zunehmender Erfahrung solche Luftschlösser Stück für Stück auf, so dass der ältere Mensch nicht mehr davon getrieben wird und zur Ruhe kommen kann; damit werde das Dasein im Allgemeinen erträglicher, da man schon an kleinen Dingen des Lebens Gefallen finden könne und sie erst jetzt richtig zu schätzen wisse. Das Alter führt demzufolge nicht nur zu mehr geistiger Klarheit, sondern bereichert das Leben auch in praktischer Hinsicht – allerdings nicht für alle Menschen gleichermaßen: »Hinsichtlich der Menschenwelt gibt es für ausgezeichnete und begabte Individuen, die eben als solche nicht so ganz eigentlich zu ihr gehören und demnach mehr oder weniger, je nach dem Grad ihrer Vorzüge, alleinstehn, ebenfalls zwei entgegengesetzte Empfindungen: in der Jugend hat man häufig die, von ihr verlassen zu sein; in spätern Jahren hingegen die, ihr entronnen zu sein. Die erstere, eine unangenehme, beruht auf Unbekanntschaft, die zweite eine angenehme, auf Bekanntschaft mit ihr« (S. 573).

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Reife und Lebenserfahrung Dass die mit den Jahren wachsende geistige Reife und gewonnene Lebenserfahrung eine Bereicherung darstellt, wird nun detaillierter erläutert. Schopenhauer umschreibt dies mit dem Begriff »Unbefangenheit« (S. 574), als Folge geistiger Weitsicht, die Jüngeren noch fehlt, zu der man sie aber recht bald erziehen sollte, was jedoch kein leichtes Unterfangen wäre (vgl. Paralipomena Kapitel 28, § 376). Unbefangenheit stelle sich im Alter gerade deshalb ein, weil man retrospektiv erkennen könne, dass sich das wirkliche Leben mit seinen für den einzelnen wesentlichen Ereignissen und wichtigen Personen eher im Stillen und Verborgenen vollzog: In der Jugend stellt sich das Leben dar wie die Vorderseite einer Stickarbeit; im Alter wird dagegen auch die weniger schöne, dafür aber aufschlussreichere Rückseite erkennbar, auf der sich der »Zusammenhang der Fäden« (S. 574) offenbart. 27 Wie hoch »die Reife der Jahre und die Frucht der Erfahrung« von Schopenhauer eingestuft wird, zeigt seine Bemerkung, dass beides durch »geistige Überlegenheit« zwar »vielfach übertroffen, jedoch nie ersetzt werden« kann; so sei es sogar für die klügsten Köpfe nicht möglich, Reife und Erfahrung durch ihre Intelligenz völlig auszugleichen; selbst bei den »gewöhnlichsten Menschen« bildeten erlangte Reife und Lebenserfahrung »ein gewisses Gegengewicht gegen die Kräfte des größten Geistes, solange dieser jung ist« (S. 575). Ernüchterung, von der bereits vorher gesprochen wurde, stellt sich aber auch bei der Beurteilung anderer Menschen ein: 27 In den Paralipomena (26. Kapitel § 329, S. 695 f.) wird dies mit einem Mosaik verglichen, das man auch erst mit einem gewissen Abstand erkennen kann: »Ebenso nun versteht man den wahren Zusammenhang wichtiger Vorgänge im eigenen Leben oft nicht während ihres Verlaufs noch bald darauf, sondern erst geraume Zeit nachher«; ob das an »der vergrößernden Brille der Phantasie«, den nachlassenden »Leidenschaften« oder der »Schule der Erfahrung« liege, bleibt offen; möglicherweise spielen sogar alle Faktoren eine Rolle.

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All diejenigen, die nicht zum Durchschnitt gehörten, gäben sich ab dem 40. Lebensjahr keiner Illusion mehr hin und entwickelten eine eher misanthropische Haltung. 28 Natürlich geht es Schopenhauer hier nicht um Menschenhass, spricht er doch »von einem gewissen Anfluge von Misanthropie« (ebenda); zudem verweist er explizit auf Kant, der ebenfalls auf eine besondere Form der Misanthropie hindeutet, bei der es sich um eine nach zahlreichen Enttäuschungen, im Laufe der Jahre aufkommende innere Abkehr bzw. Distanzierung von Menschen handelt. 29 Diese Lebenserfahrung und das zunehmende Bewusstsein um die Endlichkeit des Lebens führt ferner zu einem Stimmungsumschwung: Schopenhauer sieht die Ursache jugendlichen Frohsinns vor allem darin, dass das zu erklimmende Zukunftsmassiv dem jungen Menschen die Sicht auf sein Lebensende versperrt; erst nach Überschreiten des Gipfelpunktes körperlicher Leistungskraft sowie durch die danach beginnenden physischen Veränderungen wird man sich seiner Zeitlichkeit realiter bewusst, was ebenso Auswirkungen auf die Psyche hat; die vormals heitere Gestimmtheit kehrt sich nun mehr ins Gegenteil, wie der Gesichtsausdruck vieler älterer Menschen zeigt (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, 4. Buch, Kapitel 49, S. 814).

Alltagsmenschen erkenne man Schopenhauer zufolge übrigens daran, dass sie bereits frühzeitig allzu gesellig sind, während bei denjenigen, die sich schon in jungen Jahren weniger gut in der Gesellschaft zurechtzufinden wissen, »eine Natur edlerer Art« (S. 575) sichtbar wird. 29 Kritik der Urteilskraft § 29, 126/127: »Gleichwohl gibt es eine (sehr uneigentlich sogenannte) Misanthropie, wozu die Anlage sich mit dem Alter in vieler wohldenkenden Menschen Gemüt einzufinden pflegt, welche zwar, was das Wohlwollen betrifft, philanthropisch genug ist, aber vom Wohlgefallen an Menschen durch eine lange traurige Erfahrung weit abgebracht ist; […]«. 28

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Subjektives Zeitempfinden Anders als Jugendliche, die noch im Glauben gefangen sind, ihr Leben währe ewiglich, und deshalb mit ihrer Zeit oft allzu verschwenderisch umgehen, können sich alte Menschen wirklich ein Bild von der Kürze des Lebens machen: »Wenn das Leben zu Ende geht, weiß man nicht, wo es geblieben ist« (S. 576). Die subjektive Wahrnehmung der Lebenszeit verändert sich also von einer vermeintlich unendlichen Zukunft in jungen Jahren zu einer retrospektiv kurz erscheinenden Vergangenheit im Alter. Ebenso wird die Geschwindigkeit der Zeit je nach Lebensalter subjektiv unterschiedlich empfunden: Für Jüngere vergeht die Zeit um einiges langsamer als für Ältere, ähnlich wie die Tage im Frühling länger erscheinen als die im Herbst, welche dann zwar »kurz, aber heiterer und beständiger« werden; da das erste Lebensviertel für den Menschen somit »das längste« und voller »Erinnerungen« ist, bezeichnet Schopenhauer dasselbe auch als »das glücklichste« (ebenda), wenngleich sich das langsamere Zeittempo auf Dauer eher als störend erweist. Wie es zu dieser veränderten Zeitwahrnehmung kommt bzw. warum die vergangene Lebenszeit im Alter auffallend kurz erscheint, wird folgendermaßen erklärt: Die scheinbar so kurze Vergangenheit ergibt sich aus der begrenzten Aufnahmefähigkeit des menschlichen Gedächtnisses, d. h., es ist schlichtweg unmöglich, sich alle Erlebnisse eines langen Lebens auf einmal zurückzurufen; so manches verblasste ja auch allmählich, sofern man es sich nicht immer wieder in Erinnerung bringt, oder fiel durch den Gedächtnisfilter, 30 wie beispielsweise unbedeutende oder unerfreuliche Dinge. Vieles verliert aber genauso durch Vgl. damit Paralipomena Kapitel 26, § 351, S. 712: »Dabei gleicht unser Gedächtnis einem Siebe, das mit der Zeit und durch den Gebrauch immer weniger dicht hält; sofern nämlich, je älter wir werden, desto schneller aus dem Gedächtnis, was wir ihm jetzt noch anvertrauen, verschwindet, hingegen bleibt, was in den ersten Zeiten sich festgesetzt hat. Die Erinnerungen eines Alten sind daher um so deutlicher, je weiter sie zurückliegen, und 30

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die ständige Wiederholung im Laufe der Zeit an Bedeutung; es wird nicht mehr im Gedächtnis aufbewahrt und gerät in Vergessenheit. Die Folge davon ist, dass man sich im Alter besser an frühere Lebensereignisse aufgrund ihrer zum damaligen Zeitpunkt höheren Bedeutsamkeit erinnert als an spätere. Je älter man wird, desto weniger Gedächtnisspuren bleiben zurück, 31 desto kürzer erscheint die Vergangenheit und umso schneller scheint wiederum die Zeit zu vergehen. Mitunter kann im Alter sogar der Eindruck entstehen, eine lange zurückliegende Begebenheit habe sich erst vor kurzem zugetragen, weil der lange Zeitraum dazwischen nicht »in einem Bilde« zu erfassen ist; ebendeshalb komme alten Menschen ihr hohes Alter zuweilen regelrecht unwirklich vor, zumal sie »noch immer dieselbe stehende Gegenwart vor« sich haben (S. 577). 32 Junge Menschen sind dagegen voller Illusionen; alles erscheint ihnen neu und kann daher gut erinnert werden, weswegen sie unbegrenzte Zeit vor sich zu haben glauben.

werden es immer weniger, je näher sie der Gegenwart kommen; so dass, wie seine Augen, auch sein Gedächtnis fernsichtig (πρέσβυς) geworden ist«. 31 Siehe auch Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, 2. Buch, Kapitel 19, S. 309. 32 »Dergleichen innere Vorgänge beruhen aber zuletzt darauf, daß nicht unser Wesen an sich selbst, sondern nur die Erscheinung desselben in der Zeit liegt und daß die Gegenwart der Berührungspunkt zwischen Objekt und Subjekt ist« (S. 577/578). Damit ist die »Identität der Person« gemeint, die »auf dem identischen Willen und dem unveränderlichen Charakter desselben« basiert, siehe Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 19, S. 309: »[…] denn wenn man auch noch so alt wird; so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als denselben, der man war, als man jung, ja als man noch ein Kind war. Dieses, was unverändert stets ganz dasselbe bleibt und nicht mitaltert, ist eben der Kern unsers Wesens, welcher nicht in der Zeit liegt«. Auch die im Alter manchmal aufkommende Sehnsucht, an einem früheren Lebensort sein zu wollen, beruht auf einer »Täuschung« (Aphorismen zur Lebensweisheit 6. Kap., S. 578); erst dort merkt man nämlich, dass die Zeit eine andere ist.

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Alter(n) und Lebenskraft Die diätetische Grundregel für ein langes Leben erläutert Schopenhauer mit Hilfe eines Gleichnisses: Das menschliche Leben kann demnach mit einer brennenden Öllampe verglichen werden; eine lange Brenndauer ist nur dann gewährleistet, wenn Dochtumfang und Ölmenge einander entsprechen, d. h. bei feinem Docht wenig Brennstoff bzw. bei dickem Docht viel Öl. 33 Andernfalls verkürzt sich die Brennzeit, da ein dünner Docht in Verbindung mit viel Öl zu schnell abbrennen bzw. ein dicker Docht mit wenig Brennstoff zu schnell verlöschen würde. Auf den menschlichen Organismus übertragen heißt das, dass man den Körper – sofern er gesund ist – weder über- noch unterfordern darf; damit derselbe lange seinen Dienst erfüllen kann, muss also der Energieverbrauch auf die jeweils gegebene Energiemenge (»Lebenskraft«, S. 578) abgestimmt sein. Warum man allerdings gerade in der Jugend oft viel zu verschwenderisch mit der eigenen Lebenskraft umgeht, zeigt ein weiterer Vergleich: Die physischen Kräfte des Menschen gleichen in der ersten Lebenshälfte einer Geldanlage, bei der schon die Zinserträge zum Leben völlig ausreichen; bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter lassen sich sogar Rücklagen bilden, welche die Anlage insgesamt vergrößern. Doch etwa ab dem 36. Lebensjahr können die Zinsen den Bedarf nicht mehr decken, so dass nun allmählich, anCicero verwendet im Cato maior (XI, 36) ein ähnliches Gleichnis, um zu zeigen, dass Körper und Geist allmählich ihren Dienst einstellen, sofern man sie nicht fordert. Schopenhauer erweitert dasselbe, indem er dafür auch der individuellen körperlichen Beschaffenheit des Menschen Rechnung trägt; schon Aristoteles (»Politik« 1039a 1–10), der zitiert wird, hat auf die negativen Folgen körperlicher Überanstrengung in der Jugend hingewiesen. Geistige Überbeanspruchung in jungen Jahren wirkt sich aber ebenso nachteilig auf die spätere geistige Leistungskraft aus, vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 19, S. 272: »Nach anhaltender Kopfarbeit fühlt man die Ermüdung des Gehirnes wie die des Armes nach anhaltender Körperarbeit«; Cicero scheint im Cato maior (XI, 36) davon etwas abzuweichen.

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fangs noch unbemerkt, die gesamte Anlage angegriffen und dadurch immer mehr aufgebraucht wird, weswegen »mit dem Alter die Liebe zum Besitze« (S. 579) zunimmt, gleichsam als Kompensation für die schwindenden Körperkräfte (vgl. auch S. 588).

Zur Bedeutung des Charakters Schopenhauer wendet sich nun nochmals kurz dem menschlichen Charakter zu; zu Beginn des 6. Kapitels hatte er ja bereits dessen Unveränderlichkeit betont. Dazu sollte man Folgendes festhalten: Alle Menschen haben ihren ganz eigenen Charakter, der ihnen angeboren ist und sich ihr Leben lang nicht ändert, weil jeder ja »schon ist, was er will« (Über die Freiheit des Willens V. Kap., S. 623); und »wie einer ist, so muß er handeln« (Über die Grundlage der Moral § 10, S. 707). Jener individuelle Wille bleibt also von frühester Kindheit bis ins hohe Alter derselbe, weswegen Schopenhauer mit Seneca (81. Brief, 13) sagt: Velle non discitur, d. h. wollen lernt man nicht (Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch, § 55, S. 405). Allein die Erkenntnis lässt sich erweitern und verbessern, was erklärt, warum die Entfaltung des Charakters schrittweise erfolgt und sich seine Eigentümlichkeiten erst mit der Zeit zeigen, nämlich wegen des »großen Einflusses der Erkenntnis auf das Handeln bei unveränderlichem Wollen« (Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch, § 55, S. 407); deshalb tritt auch der Charakter in den verschiedenen Lebensaltern unterschiedlich hervor; »auf eine heftige, wilde Jugend kann ein gesetztes, mäßiges, männliches Alter folgen« (ebenda), weil die den Leidenschaften entgegengesetzten Motive erst dann wirklich erkannt werden. Aber genauso können schlechte Eigenschaften durch die allmählich in die Erkenntnis tretenden Motive immer mehr zum Vorschein kommen. Erst im höheren Alter lernt man also sich selbst bzw. seinen tatsächlichen Charakter kennen anhand der Taten, die 114 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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dem Einzelnen den Spiegel seines individuellen Willens vorhalten. 34 Und selbst wenn die geistigen Kräfte dann dahinschwinden sollten, so bleiben doch die individuellen Charakterzüge weiterhin bestehen. 35 Im 6. Kapitel der Aphorismen ergänzt Schopenhauer, »daß der Charakter fast jedes Menschen einem Lebensalter vorzugsweise angemessen zu sein scheint; so daß er in diesem sich vorteilhafter ausnimmt«, was daran liegt, »daß der Charakter selbst etwas Jugendliches, Männliches oder Ältliches an sich hat« (S. 579). 36 Passt das jeweilige Alter indes nicht dazu, dann arbeitet es wie ein »Korrektiv« (S. 580) dagegen. 37 Ließ sich ein Mensch während seines bisherigen Lebens zu keinen kriminellen Handlungen bewegen, so wird es auch im Alter für ihn kaum Motive zu solchen Taten geben. Ein zu Verbrechen geneigter Charakter zeigt sich dagegen schon frühzeitig in praxi (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 43, S. 675); daher hat für Schopenhauer die Achtung vor dem Alter ihren Ursprung darin, dass »ein Alter die Prüfung eines langen Lebens bestanden und seine Unbescholtenheit bewahrt hat: denn dies ist die Bedingung jener Achtung« (Über die Grundlage der Moral § 20, S. 790). Altersschwäche allein gäbe, wie in den Aphorismen zur Lebensweisheit (Kapitel 4, S. 434/435) konstatiert wird, »mehr auf Schonung als auf Achtung Anspruch«. Ebenso Der handschriftliche Nachlass Band 4, 1 (Pandectae II 1834), S. 186. Vgl. hiermit Cicero Cato maior XVIII, 62. 35 Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 19, S. 305: »Die Güte des Herzens macht den Greis noch verehrt und geliebt, wann sein Kopf schon die Schwächen zeigt, die ihn dem Kindesalter wieder zu nähern anfangen. Sanftmut, Geduld, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Uneigennützigkeit, Menschenfreundlichkeit usw. erhalten sich durch das ganze Leben und gehen nicht durch Altersschwäche verloren: in jedem hellen Augenblick des abgelebten Greises treten sie unvermindert hervor wie die Sonne aus Winterwolken. Und andererseits bleiben Bosheit, Tücke, Habsucht, Hartherzigkeit, Falschheit, Egoismus und Schlechtigkeit jeder Art auch bis ins späteste Alter unvermindert«. 36 Folgende Wesenszüge zeichnen daher das jeweilige Lebensalter idealerweise aus: Liebenswürdigkeit die Jugend, Tatkraft das Erwachsenenalter und Milde das Alter als Folge von Erfahrung und Gelassenheit. 37 Cicero scheint eine andere Position vertreten zu haben: »Wie ich nämlich einen jungen Menschen als tüchtig anerkenne, in dem sich eine gewisse Reife findet, so zolle ich einem alten Lob, in dem etwas Jugendliches ist« (Cato maior XI, 38: ut enim adulescentem, in quo est senile aliquid, sic 34

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Die »besten Jahre« In den folgenden Passagen steht mehr das Altern an sich zur Debatte, d. h. abgesehen von den damit einhergehenden körperlichen und geistigen Veränderungen. Älter werden heißt demnach zuallererst, einer zeitlichen Veränderung unterworfen zu sein, die unterschwellig vonstattengeht, stellen die Lebensjahre allein doch nur eine abstrakte Größe dar; oft wird man sich erst mit Blick auf Jüngere seines Alter(n)s bewusst, wenn also »Leute von immer höhern Jahren einem jung vorkommen« (S. 580). Schopenhauer vergleicht dies mit einer Schiffsreise: Die Vorwärtsbewegung des Schiffes wird für die Passagiere vor allem dadurch sichtbar, dass von ihnen aus gesehen die Küste nach dem Ablegen immer mehr schrumpft. Ebenso tritt das Alter(n) für den Menschen erst in der Retrospektive in aller Deutlichkeit zutage. Ein Aspekt wird hier wieder aufgegriffen: Während der menschliche Intellekt in der Jugend noch mit viel Neuem konfrontiert und daher sehr aufnahmebereit ist, nimmt diese Aufnahmebereitschaft im Laufe des Lebens aufgrund sich wiederholender Sinneseindrücke, Begebenheiten und Handlungen allmählich ab; das Leben läuft somit zunehmend unbewusster ab, so dass die Zeit subjektiv betrachtet immer schneller zu verrinnen scheint, mit dem positiven Nebeneffekt weitgehender Beseitigung von Langeweile, der Kinder und Jugendliche, weil ihnen die Zeit oft nicht schnell genug vergeht, stärker ausgesetzt sind als Ältere. 38 Wenn sich dann noch dazu die quälenden Leisenem, in quo est aliquid adulescentis, probo). Ähnlich hatte sich auch schon Epikur geäußert in seinem Brief an Menoikeus (122). Schopenhauers Standpunkt ist, wie man sehen wird, von dem beider Denker gar nicht so weit entfernt. 38 Das gilt freilich nicht für alle alten Menschen, wie Schopenhauers drastische Ausdrucksweise an dieser Stelle (S. 581) zeigt (siehe auch Gespräche, S. 126, Nr. 212). Cf. Senecas 93. Brief: »Was helfen jenem achtzig in Untätigkeit verbrachte Jahre? Dieser da hat nicht gelebt, sondern sich eine Zeit lang im Leben aufgehalten, er ist nicht spät gestorben, sondern lange. »Achtzig Jahre hat er gelebt.« Es kommt darauf an, von welchem Tag du

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denschaften so weit abschwächen, dass das Dasein insgesamt erträglicher wird, könne man diese Lebensphase, eine gute Konstitution vorausgesetzt, sogar als »die besten Jahre« (S. 581) bezeichnen. Schopenhauer, der hier Platon und Cicero folgt, geht es selbstredend nicht darum, das Alter zu verklären, was schon seine ausdrückliche Feststellung zeigt, dass Gesundheit für das Wohlbefinden im Alter unabdingbar ist. Zudem hatte er bereits im 1. Band seines Hauptwerkes (4. Buch § 67, S. 514) deutlich gemacht, dass »das Leben« im Alter durch gravierende Gebrechen zur »Qual« werden und die daraus resultierende »Hülflosigkeit« für die Pflegenden »eine schwere Bürde« sein kann. Mit jenen besten Jahren (cf. Seneca 70. Brief, 2: […] senectutis optimos annos) ist also vor allem die Zeit gemeint, in der keine schwerwiegenden körperlichen und/oder geistigen Einbußen vorliegen.

Das Alter – die Zeit für Philosophie Um im Alter geistig reifer werden zu können, bedarf es der Kindheit und Jugend, wo der menschliche Intellekt, durch die anschauliche Auffassung gleichsam befruchtet, eine für seine weitere Entwicklung unentbehrliche Grundlage erhält:

seinen Tod zählst. […] »Achtzig Jahre hat er gelebt.« Er ist vielmehr achtzig Jahre dagewesen, es sei denn, du sagst vielleicht, er habe so gelebt, wie man sagt, dass Bäume leben« (3: Quid illum octoginta anni iuvant per inertiam exacti? non vixit iste sed in vita moratus est, nec sero mortuus est, sed diu. ›Octoginta annis vixit.‹ Interest mortem eius ex quo die numeres. […] 4: ›Octoginta annis vixit.‹ Immo octoginta annis fiut, nisi forte sic vixisse eum dicis quomodo dicuntur arbores vivere); it. De brevitate vitae 7, 8/9. Vgl. Condrau 1991, S. 261: »Lebende Menschen, die eigentlich schon lebend gestorben sind, erstarrt in Abgestumpftheit und Langeweile«, sowie Ebeling 1999, S. 64: »Ein Leben ohne Einsicht, Erinnerung und Einkehr ist […] belanglos«.

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»In den späteren [i. e. Lebensjahren] können wir mehr auf andere, ja auf die Welt einwirken; weil wir selbst vollendet und abgeschlossen sind und nicht mehr dem Eindruck angehören: aber die Welt wirkt weniger auf uns. Diese Jahre sind daher die Zeit des Tuns und Leistens; jene aber die des ursprünglichen Auffassens und Erkennens« (S. 582).

Dass die Jugendzeit mehr von der Anschauung geprägt ist und somit verstärkt Züge von Poesie aufweist, wurde bereits am Anfang des 6. Kapitels der Aphorismen festgestellt. 39 Dadurch, dass Schopenhauer auch schon skizziert hat, wie sich der menschliche Intellekt im Laufe der Zeit weiterentwickelt, kann er nun den Grundcharakter des Alters herausstellen: Im Gegensatz zur Jugend ist es eher die Zeit des Denkens und daher mehr als philosophischer Lebensabschnitt zu bewerten – natürlich nur, sofern man während eines langen Lebens die Chance nutzte, ein möglichst hohes Maß an geistiger Reife und Lebenserfahrung zu erlangen. Der Übergang von einer eher schwärmerischen zu einer mehr philosophischen Haltung wird noch einmal kurz zusammengefasst: In der Jugend lasse man sich aufgrund unzureichender Weltkenntnis und eigener Unerfahrenheit vor allem von Äußerlichkeiten bzw. vom schönen Schein beeindrucken; ebendeswegen spiele hier die »Außenseite der Dinge« eine viel größere Rolle, was sich allerdings mit den Jahren dank zunehmender Lebenserfahrung sowie wiederholter und tieferer Einblicke in das irdische Geschehen ändere; erst dann könne »den Begriffen […] volle Bedeutung, Gehalt und Kredit« zukommen und sich der »Eindruck der Anschauung« abschwächen (S. 582).

Siehe dazu Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, 3. Buch, Kapitel 37, S. 548.

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Lebenserfahrung und geistige Leistungskraft Da also im Alter das Denken die Oberhand gewinnen kann, steht noch die Frage im Raum, wie sich die geistigen Kräfte im Laufe des Lebens verändern. Obschon sie in ihrer »Energie« bzw. »Spannung« ab dem 35. Lebensjahr, »wiewohl sehr langsam« nachlassen, bleibt dies »nicht ohne geistige Kompensation«, nehmen doch »Erfahrung und Gelehrsamkeit« (S. 582) bis ins Alter zu. 40 Diese Veränderung gereicht dem menschlichen Intellekt sogar zum Vorteil: Im Vergleich zur Jugend habe man im Alter nämlich nicht nur mehr Erfahrung, sondern erfasse auch die Dinge in ihrem Zusammenhang, so dass erst der alte Mensch »eine vollständige und angemessene Vorstellung vom Leben« erlangen, aber auch dessen »Nichtigkeit« in vollem Umfang erkennen könne und damit nicht mehr »dem Wahne« unterliege, »das Rechte werde noch erst kommen« (S. 583). 41 Diese Textstelle der Aphorismen bestätigt abermals deren enge Verbindung mit Schopenhauers Hauptwerk: In der »Lehre der Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, 2. Buch, Kapitel 19, S. 303. 41 Um eine Idealisierung des Alters kann es sich hier schon deswegen nicht handeln, weil die Jugend eine für die Entwicklung des Intellekts geradezu tragende Rolle spielt: Sie ist »die Wurzel des Baumes der Erkenntnis; wenngleich erst die Krone die Früchte trägt« (S. 583), und gleicht einer Phase der Aufnahme und des Sammelns, wogegen der Intellekt im Alter in qualitativer Hinsicht mehr zu leisten vermag, und zwar durch ein vergleichsweise höheres Maß an »Urteil, Penetration und Gründlichkeit« (S. 583), was Schopenhauer mit Blick auf sein eigenes Werk ebenfalls bestätigen kann (siehe Der handschriftliche Nachlass 4, 1 (Spicilegia), S. 267). Auch die mahnende Zwischenbemerkung im 6. Kapitel der Aphorismen, »die Leistungen wie die Urteile unserer jungen Jahre« nicht gänzlich abzuwerten, zeugt von einer differenzierten Sichtweise, neige man doch besonders in Zeiten zunehmender Körper- und Geisteskräfte dazu, alles Frühere geringzuschätzen, was zur Gewohnheit werden könne, sich dann bis ins hohe Alter fortsetze und selbst im Falle wieder absinkender Geisteskräfte beibehalten werde, wo es gerade dann viel angebrachter wäre, »mit Verehrung auf das Gestern« (S. 583) zurückzublicken. 40

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Nichtigkeit des Daseins« liegt somit die Chance, zu wahrer Lebensweisheit zu gelangen, d. h. sich vom Gaukelspiel des Glücks nicht mehr irreführen zu lassen oder ad interim zu leben. 42 Auch wenn jedem Menschen Charakter und Intellekt angeboren ist (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung Band 2, Kapitel 43, S. 660 ff.), verändert sich letzterer im Laufe des Lebens mit einer gewissen Regelmäßigkeit, weil er einerseits auf physischen Prozessen beruht (ebenda Kapitel 15, S. 182), andererseits, wie es im 6. Kapitel der Aphorismen heißt, »einen empirischen Stoff hat« (S. 584). Dass seine Kräfte in der ersten Lebenshälfte zunächst zunehmen und dann wieder nachlassen, entspricht somit dem natürlichen Verlauf. Hingegen nehme der diese Geisteskräfte in Bewegung setzende und haltende »Stoff« stetig zu, »also der Inhalt des Denkens und Wissens, die Erfahrung, die Kenntnisse, die Übung und dadurch die Vollkommenheit der Einsicht«, solange die »physische Grundlage« intakt bleibe (ebenda); erst wenn dieselbe zusammenbricht, geht mit ihr auch jener Erfahrungsschatz zugrunde. Trotzdem muss das Alter(n) nicht automatisch zur Geistesschwäche führen; sofern man seine geistigen Kräfte zu fördern weiß, ohne sie zu überfordern, ist es, wie Schopenhauer bereits im 5. Kapitel (B.) der Aphorismen unterstrich, durchaus möglich, »bis ins hohe und höchste Alter geisteskräftig und geistestätig« (S. 530) zu blei-

Siehe Aphorismen Kapitel 5 B., S. 495, sowie Paralipomena Kapitel 11, § 145, S. 337: »Daher heißt ›etwas Ersehntes erlangen‹ dahinterkommen, daß es eitel ist, und leben wir allezeit in der Erwartung des Besseren, auch oft zugleich in reuiger Sehnsucht nach dem Vergangenen. Das Gegenwärtige hingegen wird nur einstweilen so hingenommen und für nichts geachtet als für den Weg zum Ziel. Daher werden die meisten, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, daß sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert sein, zu sehn, daß das, was sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehn ließen, eben ihr Leben war, eben das war, in dessen Erwartung sie lebten. Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen in der Regel dieser, daß er, von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt«.

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ben. 43 Die Individualität jedes Menschen setzt sich demzufolge zusammen aus einer Konstante, nämlich seinem Charakter, und einer Variable, seinem sich »auf zweifache und entgegengesetzte Weise« mit dem Altern verändernden Intellekt; daraus lasse sich »des Menschen […] Verschiedenheit seiner Erscheinung und Geltung in verschiedenen Lebensaltern« erklären (S. 584). 44 Der mit den Jahren einhergehende Erfahrungszuwachs vollzieht sich aber nicht nur auf einer objektiven, das Leben allgemein betreffenden Ebene; auch in subjektiver Hinsicht, bezüglich seines eigenen Lebens gewinnt der Mensch mehr Klarheit: In den ersten vier Jahrzehnten werde der Lebensweg gleichsam protokolliert, während man in späteren Jahren denselben auch zunehmend kommentieren und damit »den wahren Sinn und Zusammenhang des Textes, nebst der Moral und allen Feinheiten desselben« (S. 584) begreifen könne. 45 Schon im Zum »Angriff des Alters auf die geistigen Kräfte«, wodurch des Menschen Wille ungehinderter hervortreten kann, siehe auch Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, 2. Buch, Kapitel 19, S. 303 f., sowie Der handschriftliche Nachlass Band 3 (Quartant 1825–1826), S. 233 und Band 4, 1 (Cogitata I 1831), S. 70. 44 Abgesehen davon, dass der individuelle Charakter mit dem Alter deutlicher zutage tritt, lerne man aber nicht nur sich selbst, d. h. »sein eigenes Ziel und [seine] Zwecke« (S. 584), an dem kennen, was während des Lebens getan und geleistet wurde, sondern ebenso all die anderen Menschen, die man im Leben traf, und könne sich erst jetzt im Vergleich zu ihnen und der Welt richtig einschätzen: Häufig müsse man sich niedriger als bisher einstufen, zuweilen aber auch höher, besonders wenn »man von der Niedrigkeit der Welt keine ausreichende Vorstellung gehabt hatte und demnach sein Ziel höher steckte als sie« (S. 585). 45 Ein langes Leben wäre im Übrigen von unerträglicher Langeweile erfüllt, »wenn nicht das beständige Fortschreiten der Erkenntnis und Einsicht im ganzen und großen und das immer bessere und deutlichere Verständnis aller Dinge und Verhältnisse noch immer seinen Fortgang hätte, teils als Frucht der Reife und Erfahrung, teils auch infolge der Veränderungen, welche wir selbst durch die verschiedenen Lebensalter erleiden und dadurch gewissermaßen auf einen immer neuen Gesichtspunkt gestellt werden, von welchen aus die Dinge uns noch nicht erkannte Seiten zeigen und anders erscheinen; wodurch dann trotz der Abnahme der Intensität der Geis43

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5. Kapitel (Paränesen und Maximen) der Aphorismen wurde der für ein besonnenes Leben unerlässliche Lebensrückblick herausgestellt: »Um mit vollkommener Besonnenheit zu leben und aus der eigenen Erfahrung alle Belehrung, die sie enthält, herauszuziehn, ist erfordert, daß man oft zurückdenke und, was man erlebt, getan, erfahren und dabei empfunden hat, rekapituliere, auch sein ehemaliges Urteil mit seinem gegenwärtigen, seinen Vorsatz und [sein] Streben mit dem Erfolg und der Befriedigung durch denselben vergleiche. Dies ist die Repetition des Privatissimums, welches jedem die Erfahrung liest. Auch läßt die eigene Erfahrung sich ansehn als der Text; Nachdenken und Kenntnisse als der Kommentar dazu. Viel Nachdenken und Kenntnisse bei wenig Erfahrung gleicht den Ausgaben, deren Seiten zwei Zeilen Text und vierzig Zeilen Kommentar darbieten. Viel Erfahrung bei wenig Nachdenken und geringen Kenntnissen gleicht den bipontinischen Ausgaben ohne Noten, welche vieles unverstanden lassen« (B. Unser Verhalten gegen uns selbst betreffend, Nr. 8, S. 499).

Glückliche Jugend, trauriges Alter? Nach dieser grundlegenden Erörterung kann Schopenhauer nun dazu übergehen, ein weit verbreitetes Vorurteil zu widerlegen, wonach das Alter im Gegensatz zur Jugend ein durchweg trauriger Lebensabschnitt sei. Auch wenn er hierin mit Platon, der explizit genannt wird, und Cicero übereinstimmt, leitet sich seiteskräfte das ›Dies diem docet‹ noch immer unermüdlich anhält und einen stets neuen Reiz über das Leben verbreitet, indem das Identische stets als ein anderes und neues sich darstellt. Daher hat jeder irgend denkende Alte das Solonische Γηράσκω δ’ἀεὶ πολλὰ διδασκόμενος [Ich werde alt, lerne aber immer noch vieles] zu seinem Wahlspruch« (Paralipomena Kapitel 3, § 41, S. 70).

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ne Position doch primär von seinem philosophischen System ab, was in der nochmaligen Betonung, »daß aller Genuß negativer, der Schmerz positiver Natur ist« (S. 585), zum Ausdruck kommt. Die von diversen Leidenschaften beherrschte und vom Streben nach sinnlichen Genüssen geprägte Jugendzeit kann nach Schopenhauers Lehre gar nicht glücklicher sein, weil all das, was man gemeinhin unter Glück versteht, keine dauerhafte Glückseligkeit verspricht, sondern vielmehr – wie gesehen – einem ziel- und endlosen Streben gleicht, einem permanenten Hin- und Herpendeln zwischen Wollen und Erreichen, aber auch zwischen Schmerz einerseits, wenn sich der Wunsch nicht erfüllen lässt oder sich die Erfüllung des Wunsches als Mogelpackung erweist, und Langeweile bzw. leerem Sehnen andererseits, sofern noch kein neuer Wunsch sogleich zur Stelle ist (siehe Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch § 57). Außerdem wird man mit zunehmender Erfüllung der Sinnenfreuden immer weniger für sie empfänglich, für Leid und Schmerz hingegen immer mehr; zur Gewohnheit geworden, bedürfen sie ferner ständig der Steigerung und Erweiterung und werden – abgesehen von der Sorge um ihren Verlust – im Falle ihres Wegfalls dann umso schmerzlicher vermisst (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 46, S. 736). Diese Erkenntnisse setzt Schopenhauer in den Aphorismen zur Lebensweisheit als bekannt voraus und beschränkt sich hier deshalb auf das Wesentliche: Die Leidenschaften 46 können mit den Jahren so weit nachlassen, dass das Leben im Alter ruhiger wird und die ErkenntUnter Leidenschaft versteht Schopenhauer »eine so starke Neigung, daß die sie anregenden Motive eine Gewalt über den Willen ausüben, welche stärker ist als die jedes möglichen ihnen entgegenwirkenden Motivs, wodurch ihre Herrschaft über den Willen eine absolute wird, dieser folglich gegen sie sich passiv, leidend verhält« (Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 47, S. 759). Schon daran zeigt sich das den Leidenschaften stets anhaftende Moment des Leidens bzw. die Unmöglichkeit, durch sie zu dauerhafter Glückseligkeit zu gelangen.

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nistätigkeit dann die Oberhand gewinnen kann; dann erhalte das Alter »einen kontemplativen Anstrich«; »das Bewußtsein« werde durch das Überwiegen des Intellekts sogar »glücklicher« (S. 585). 47 Während Jüngere Unglücksfälle leichter verkraften könnten, wüssten Ältere sie eher zu verhindern. Daneben kommt ein klassisches Argument zur Anwendung (cf. Cato maior XIV, 47–50): Wenn sinnliche Genüsse zur Genüge ausgekostet werden konnten und im Alter das Bedürfnis danach gestillt ist, dann können Sinnenfreuden auch nicht mehr schmerzlich vermisst werden; ihr Verlust »ist sowenig beklagenswert wie daß einer nach Tische nicht mehr essen kann und nach ausgeschlafener Nacht wach bleiben muß« (S. 585); deswegen müsse man das Alter in Anlehnung an das 1. Buch von Platons Politeia vielmehr als einen glücklichen Lebensabschnitt erachten, weil es ebenso den Geschlechtstrieb reduziere, stellt doch dieser die stärkste, über die Selbsterhaltung hinausgehende Willensbejahung dar (siehe Die Welt als Wille und Vorstellung Band 1, 4. Buch, § 60). Schopenhauer fällt also ein ähnlich negatives Urteil über sinnliche Lust wie Cicero im Cato maior (cf. XII, 39 ff.); dem altersbedingten Abklingen jenes fundamentalen Lebenstriebes, der besonders jüngere Menschen beherrsche und für deren Unausgeglichenheit bzw. Launenhaftigkeit verantwortlich sei, kommt somit hier wie dort die gleiche positive Bedeutung zu. Deshalb zieht Schopenhauer die Schlussfolgerung, »daß im allgemeinen und abgesehen von allen individuellen Umständen und Zuständen der Jugend eine gewisse Melancholie und Traurigkeit, dem Alter eine gewisse Heiterkeit eigen ist« (S. 585). 48 47 Siehe Die Welt als Wille und Vorstellung Band 2, Kapitel 30 (Vom reinen Subjekt des Erkennens). 48 Gleichwohl sollte man die Zurückhaltung beachten, die schon aus diesem Zitat hervorgeht, ganz besonders deutlich aber in Folgendem zutage tritt: »Andrerseits jedoch ließe sich sagen, daß nach erloschenem Geschlechtstrieb der eigentliche Kern des Lebens verzehrt und nur noch die Schale desselben vorhanden sei, ja daß es einer Komödie gliche, die von Menschen

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Unstrittig bleibt für Schopenhauer aber, dass das Dasein im höheren Alter verglichen mit der Jugendzeit spürbar ruhiger und insofern auch angenehmer wird. Wirkliche Seelenruhe tritt aber erst durch die hohe geistige Reife nach einem bewusst geführten, langen Leben ein; diese bewusst »gelebte und erlebte Zeit« stellt in den Aphorismen »das Organon der Lebenserkenntnis« (Lütkehaus 1985, S. 198) dar: Während der junge Mensch, angezogen und fasziniert »von der bunten Welt und ihren vielfältigen Gestalten«, in dieselbe hinausstrebt, ist der alte von dort ernüchtert zurückgekehrt, sowie »vom Koheletischen ›Es ist alles eitel‹ durchdrungen und weiß, daß alle Nüsse hohl sind, wie sehr sie auch vergoldet sein mögen« (S. 586), was man erst ab dem 70. Lebensjahr richtig nachvollziehen könne. Diese Entzauberung des irdischen Gaukelspiels muss aber nicht zwangsläufig zu Verbitterung oder Lebensüberdruss führen, sondern kann sich geradezu befreiend und beruhigend auf den Menschen auswirken; obgleich diese Desillusionierung, wie eingeräumt wird, »dem Alter einen gewissen grämlichen Anstrich gibt« (S. 589), muss man mit Lütkehaus (1985, S. 199) »die große lebenspraktische Bedeutung« jener »Ent-Täuschung« hervorheben, die ebenso »lebens- und auch relativ glücksförderlich sein« kann, da sie zum relativen Quietiv (Beruhigungsgrund, Gegensatz zum Motiv) des Willens werden kann, was freilich für die auf dem zweiten Weg (δεύτερος πλοῦς) Voran-

angefangen, nachher von Automaten in deren Kleidern zu Ende gespielt werde« (S. 586). Jene Aussage ist freilich nicht als Dementi von Schopenhauers bisherigen Ausführungen zu verstehen; die relativierende Anmerkung trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, dass die Aphorismen für all diejenigen geschrieben sind, die sich auf der sogenannten zweiten Fahrt (δεύτερος πλοῦς) fortbewegen. Eine vorsätzliche, umfassende und dauerhafte Willensverneinung ist für die meisten Menschen gar nicht möglich. Daher würde man m. E. sicherlich etwas zu weit gehen, wollte man dieses Zitat mit Lütkehaus (1985, S. 196) schon als »Selbstkritik« verstanden wissen, beweist es doch auch, dass Schopenhauer die menschliche Wirklichkeit nicht aus den Augen verloren hat.

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schreitenden noch keine vorsätzliche Brechung des Willens mittels Askese bedeutet, sondern eher Ausdruck einer vom Willen gelösteren und damit weiseren Lebensführung (ars vivendi) ist; 49 deshalb erblickt der in den Aphorismen beschriebene desillusionierte, alte Mensch das Leben als »ein Dasein, dessen wahrer Wert jedesmal nur nach der Abwesenheit der Schmerzen, nicht nach der Anwesenheit der Genüsse noch weniger des Prunkes zu schätzen ist« (S. 588). 50

Krankheit und Langeweile als Schicksal des Alters? Weitere gängige Vorurteile (cf. Cicero Cato maior IX, 27 ff.) stehen hier noch zur Debatte. Dem ersten, der Gleichsetzung des Das kommt auch durch Schopenhauers Hinweis (S. 588: »nil admirari«) auf Horaz (Epistulae 1, 6, 1) zum Ausdruck. Siehe dazu auch Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, Anhang, S. 696: »›Nil admirari‹ mit ›nichts bewundern‹ zu übersetzen ist ganz falsch. Dieser Horazische Ausspruch geht nicht sowohl auf das Theoretische als auf das Praktische und will eigentlich sagen: ›Schätze keinen Gegenstand unbedingt, vergaffe dich in nichts, glaube nicht, daß der Besitz irgendeiner Sache Glückseligkeit verleihen könne: jede unsägliche Begierde auf einen Gegenstand ist nur eine neckende Chimäre, die man ebensogut, aber viel leichter durch verdeutlichte Erkenntnis als durch errungenen Besitz loswerden kann‹.« 50 Wiederum verweist Schopenhauer hier auf einen Brief von Horaz an Iccius (siehe Horaz Epistulae 1, 12, 1–6), dessen Anfangspassagen folgendermaßen lauten: Fructibus Agrippae Siculis, quos colligis, Icci, si recte frueris, non est ut copia maior ab Iove donari possit tibi. Tolle querellas; pauper enim non est, cui rerum suppetit usus. si ventri bene, si lateri est pedibusque tuis, nil divitiae poterunt regales addere maius. [Wenn du die sizilischen Erzeugnisse des Agrippa, die du einsammelst, richtig gebrauchst, Iccius, kann dir nicht einmal von Jupiter ein größeres Vermögen geschenkt werden. Beendige die Klagen! Arm ist nämlich nicht, wer genügend zum Leben hat. Wenn es dem Magen, der Lunge und deinen Füßen gut geht, werden königliche Schätze nichts mehr hinzufügen können.] 49

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Alters mit Krankheit, entgegnet Schopenhauer mit einem bereits aus Ciceros Cato maior (XIX, 67) bekannten Argument, nämlich dass das Alter eher Kennzeichen hoher körperlicher Widerstandkraft ist; um alt werden zu können, bedarf es eher einer guten körperlichen Verfassung. Natürlich war auch noch im 19. Jahrhundert die durchschnittliche Lebenserwartung weit niedriger als heute, so dass seine Argumentation aus damaliger Sicht plausibel erscheint. Aufgrund medizinischer Fortschritte erhalten gegenwärtig hingegen immer mehr Menschen – auch kränklichere bzw. krankheitsanfälligere – die Chance, ein höheres Alter zu erreichen. Das hier zitierte lateinische Diktum, »crescente vita crescit sanitas et morbus« (S. 587: mit zunehmendem Alter nehmen Gesundheit und Krankheit zu), behält aber weiterhin seine Gültigkeit; geändert haben sich lediglich die äußeren Umstände, so dass man heute dank moderner Medizin trotz Krankheit höhere Überlebenschancen hat und somit im Vergleich zu früher älter werden kann. Auch Langeweile, eine anderes Vorurteil, kann schon deshalb nicht im Wesen des Alters liegen, weil die Zeit im Alter subjektiv gesehen schneller als in jüngeren Jahren verrinnt; wie sich gezeigt hat, war eher die Jugend für Langeweile prädestiniert. Selbst Einsamkeit im Alter muss nicht unbedingt Langeweile nach sich ziehen. 51 Schopenhauer steht auf demselben Standpunkt wie Cicero: Insbesondere denen wird es im Alter langweilig, die zeitlebens ihr Vergnügen aus Geselligkeit und sinnlichen Genüssen zogen, dabei aber ihre geistigen Fähigkeiten und Potentiale verkümmern ließen; Langeweile ist demnach nicht primär Folge des Alters, Siehe Aphorismen Kap. 2, S. 395: »Denn in der Einsamkeit, als wo jeder auf sich selbst zurückgewiesen ist, da zeigt sich, was er an sich selber hat: da seufzt der Tropf im Purpur unter der unabwälzbaren Last seiner armseligen Individualität; während der Hochbegabte die ödeste Umgebung mit seinen Gedanken bevölkert und belebt«. Ähnliches bemerkt Cicero im 5. Buch der Tuskulanen: etenim, qui secum loqui poterit, sermonem alterius non requiret (117: »Denn wer mit sich selbst sprechen kann, wird nicht das Gerede des anderen verlangen«).

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sondern resultiert aus der Individualität des Einzelnen selbst. Ebenso führen die dargelegten normalen altersbedingten Veränderungen geistiger Leistungskraft nicht automatisch zu innerer Leere, da die gleichfalls nachgewiesene Zunahme an Erfahrung einen Ausgleich dafür schafft. 52 Mit Langeweile haben also in erster Linie diejenigen zu kämpfen, die ihr mangels äußerer Ablenkung auf geistiger Ebene nichts entgegensetzen können; schon im 2. Kapitel (Von dem, was einer ist) der Aphorismen wurde betont, dass es im Alter von großer Bedeutung ist, »was einer an sich selber habe« (S. 398); 53 so fällt es vor allem Menschen, die viel an sich selbst haben, mit zunehmendem Alter immer leichter, allein, d. h. mit sich selbst zu sein. Aufgrund der Desillusionierung im Alter »Sodann nimmt, wie oben gezeigt worden, durch Erfahrung, Kenntnis, Übung und Nachdenken die richtige Einsicht immer noch zu, das Urteil schärft sich und der Zusammenhang wird klar; man gewinnt in allen Dingen mehr und mehr eine zusammenfassende Übersicht des Ganzen: so hat dann durch immer neue Kombinationen der aufgehäuften Erkenntnisse und gelegentliche Bereicherung derselben die eigene innerste Selbstbildung in allen Stücken noch immer ihren Fortgang, beschäftigt, befriedigt und belohnt den Geist. Durch dieses alles wird die erwähnte Abnahme in gewissem Grade kompensiert« (S. 587). 53 Siehe S. 589: »Was einer ›an sich selbst hat‹ kommt ihm nie mehr zugute als im Alter«. Vgl. auch Aphorismen Kapitel 1, S. 384, sowie den Anfang von Kapitel 2 mit dem Hinweis auf »das Englische ›to enjoy oneself‹« (S. 386) und S. 402, Fußnote F: Die intellektuellen Genüsse setzen nicht mehr den Willen in Gang und verursachen keine Schmerzen: »Im Reich der Intelligenz waltet kein Schmerz, sondern alles ist Erkenntnis«; andererseits wächst »mit dem Grad der Intelligenz die Fähigkeit zum Schmerze« – eine Entwicklung, die im Menschen ihren Höhepunkt erreicht (Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, § 56), kann es doch erst hier zur Wendung des Willens kommen (Paralipomena Kapitel 12, § 154). Paralipomena Kapitel 22, § 267: »Im Reiche der Wirklichkeit, so schön, glücklich und anmutig sie auch ausgefallen sein mag, bewegen wir uns doch stets nur unter dem Einfluß der Schwere, welcher unaufhörlich zu überwinden ist: hingegen sind wir im Reiche der Gedanken unkörperliche Geister, ohne Schwere und ohne Not. Daher kommt kein Glück auf Erden dem gleich, welches ein schöner und fruchtbarer Geist zur glücklichen Stunde in sich selbst findet«. Cf. Cicero Cato maior XII, 39 ff. 52

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wird ab dem 60. Lebensjahr, wie es später im 5. Kapitel (Parenesen und Maximen, B. Unser Verhalten gegen uns selbst betreffend) heißt, »der Trieb zur Einsamkeit ein wirklich naturgemäßer, ja instinktartiger« (S. 511; siehe auch S. 507/508). »Nur höchst dürftige Naturen« legten dagegen auch im fortgeschrittenen Alter die gleiche Geselligkeit wie ehedem an den Tag, was ihnen dazu noch folgenden sozialen Nachteil bringt: »sie sind der Gesellschaft, zu der sie nicht mehr passen, beschwerlich und bringen es höchstens dahin, toleriert zu werden, während sie ehemals gesucht wurden« (S. 512/513). In diesem Fall findet dann das zu Beginn des 6. Kapitels zitierte Voltaire-Diktum seine Bestätigung. Wenngleich Einsamkeit hier in einem ungewohnt positiveren Licht erscheint (Lütkehaus 1985, S. 197), so ist Schopenhauer deshalb nicht zu unterstellen, er hätte ein Leben in völliger Abgeschiedenheit im Alter propagiert, werden doch in den Aphorismen zur Lebensweisheit (siehe Kapitel 5 B., S. 513) ebenso die schädlichen Folgen sozialer Isolierung in Betracht gezogen – abermals ein Indiz dafür, dass sich seine Argumentation innerhalb des zweiten Weges (δεύτερος πλοῦς) bewegt. Sofern man also viel an sich selbst hat und weiterhin geistig interessiert bleibt, »kann das Alter ein sehr erträglicher Teil des Lebens sein« (S. 588), jedoch nur unter der Voraussetzung einer guten Konstitution und einer ausreichenden materiellen Grundversorgung, darin stimmt Schopenhauer (S. 587: »Armut im Alter ist ein großes Unglück«) mit Cicero (Cato maior III, 8/9) vollkommen überein. Seine Bemerkung, »Abnahme der Körperkräfte schadet wenig, wenn man ihrer nicht zum Erwerbe bedarf« (S. 587), muss man mit Lütkehaus (1985, S. 196) »als unausgesprochenes Komplement« folgenden Satzes sehen: »Die Abnahme der Körperkräfte schadet sehr, wenn man ihrer zum Erwerbe bedarf!«. Summa summarum lässt sich Folgendes festhalten: Wie Cicero im Cato maior geht es Schopenhauer im 6. Kapitel seiner Aphorismen zur Lebensweisheit nicht darum, das Alter schönzureden, werden doch auch von ihm negative Entwicklungen 129 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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aufs deutlichste zur Sprache gebracht, wenngleich sie nicht generell mit dem Altern einhergehen: Im 4. Kapitel (S. 425) der Aphorismen wurde neben »Eitelkeit und Hochmut« infolge verminderter »Fähigkeit zu sinnlichen Genüssen« ebenso der Geiz genannt, welcher, wie im 6. Kapitel (S. 588) weiter ausgeführt, als ausgeartete Liebe zum Geld dann »den Ersatz für die fehlenden Kräfte« bildet. Solch eine übersteigerte Willensbejahung im Alter stellt nicht anderes als einen Rückschritt in die Infantilität dar, 54 so dass es keiner weitschweifigen Ausführungen bedarf, das Dasein desjenigen zu bewerten, der sich während eines langen Lebens geistig kaum oder gar nicht weiterentwickelte und daher nur wenig an sich selbst hatte: »Ein Greisentum dieser Art ist dann freilich nur das caput mortuum [der tote Kopf] des Lebens« (S. 589). 55

»Euthanasie des Willens« Abgesehen von den ausführlich beschriebenen kognitiven Veränderungen gehen mit dem Alter(n) ebenso körperliche einher; das zeigte schon der vorherige Öllampen-Vergleich, an dem aber auch eine gewisse Beeinflussbarkeit des Alterns deutlich wurde. 56 Körperliches Altern ist für Schopenhauer zwar bitter, gewissermaßen ein notwendiges Übel (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch § 57, S. 432), andererseits aber »wohltätig«, »weil sonst der Tod zu schwer werden würde, dem Gerade vor dem Hintergrund der Willensmetaphysik bzw. der Erlösungsbedürftigkeit vom Willen sind solche Entwicklungen fatal, siehe Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 49, S. 819: »[…] dann hat sich im Geiz oder in der Ehrsucht der Wille sublimiert und vergeistigt, dadurch aber sich in die letzte Festung geworfen, in welcher nur noch der Tod ihn belagert. Der Zweck des Daseins ist verfehlt«. 55 Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 19, S. 300, 303. 56 Diätetische Regeln für den Erhalt der Gesundheit finden sich an mehreren Stellen in den Aphorismen, siehe Kapitel 2, S. 388, sowie Kapitel 5 B., Nr. 20, S. 528 f. 54

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es vorarbeitet« (S. 589). Daher erscheine »die Euthanasie« als »der größte Gewinn, den das Erreichen eines sehr hohen Alters bringt« (ebenda). Doch was ist mit dem Begriff Euthanasie (eigentlich »guter, schöner Tod«) hier gemeint? Für ein besseres Verständnis nicht nur jenes Begriffes in diesem Kontext, sondern der Aphorismen überhaupt, ist es unerlässlich, sich zunächst Schopenhauers Erläuterungen aus dem 41. Kapitel (Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich) seines Hauptwerkes (2. Band) zu vergegenwärtigen, worauf er auch explizit verweist: Wie schon Cicero im Cato maior (XX, 74) bzw. in den Tuskulanen (1. Buch, 15) wird hier zwischen dem »Ende des Lebens« und der »Zerstörung des Organismus« (S. 579) unterschieden, wobei vor allem auf Letzterem der Schrecken vor dem Tod beruht, weil sich der durch den menschlichen Leib sichtbar gewordene, objektivierte Wille gegen seine Zerstörung sträubt. Massive, abrupte körperliche Zerstörung wird, so Schopenhauer, vor allem »in den Übeln der Krankheit oder des Alters« (ebenda) empfunden, womit zweifellos in erster Linie degenerative Prozesse – im Falle des Alters ist hier sicherlich z. B. an Schlaganfall zu denken – gemeint sind, worunter das natürliche Alter(n) aber nicht fällt, da ein paar Sätze weiter »der eigentlich naturgemäße Tod, der durch das Alter« als »Euthanasie« bezeichnet wird, welcher »ein allmäliges Verschwinden und Verschweben aus dem Dasein auf unmerkliche Weise« darstellt (S. 598). 57 Hieran knüpft Schopenhauer am Ende des 6. Kapitels der Aphorismen wieder an, wenn er über die Euthanasie bemerkt, sie sei »das überaus leichte, durch keine Krankheit eingeleitete, von keiner Zuckung begleitete und gar nicht gefühlte Sterben« (S. 589); sie wäre, wie es in einer eingefügten Fußnote heißt, weniger als Sterben anzusehen, eher als bloßes Aufhören des Lebens und werde vorwiegend hochbetagten Menschen ab Vgl. Cicero Cato maior XIX, 71 – XX, 72, Tuskulanen 1, 93/94, sowie Seneca 30. Brief, 14.

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90 Jahren zuteil, die nicht mehr wie 70- oder 80-Jährige »an Krankheiten« sterben, sondern zumeist »vor Alter« (S. 590). 58 Idealerweise geht nach Schopenhauer die Euthanasie des Leibes mit der des Willens einher (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 49, S. 818). Nachdem die dargelegten Entwicklungsstufen des menschlichen Intellekts durchlaufen wurden, kann es im Alter zur Wendung des Willens kommen und somit das Ziel des Daseins, i. e. Erlösung vom Willen zum Leben bzw. vom Kreislauf des Willens zum Leben, auf der zweiten Fahrt (δεύτερος πλοῦς) erreicht werden: »In der Stunde des Todes entscheidet sich, ob der Mensch in den Schoß der Natur zurückfällt oder aber dieser nicht mehr angehört, sondern – – –« (Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 48, S. 780); völlig zu Recht weist daher Lütkehaus (1985, S. 199) auf das bei Schopenhauer vorherrschende »Wechselverhältnis« zwischen »Alter und Philosophie« hin: »Indem das Alter über die Nichtigkeit des Lebens belehrt und die Wendung des Willens lehrt, erfüllt es die zentrale Doppelaufgabe, die er seiner Philosophie und der Philosophie stellt«. Schopenhauer bringt dies am Ende des 6. Kapitels auf den Punkt: »das Leben, welches in der Jugend als fest und stabil vor uns stand, zeigt sich uns jetzt als die rasche Flucht ephemerer Erscheinungen: die Nichtigkeit des Ganzen tritt hervor« (S. 590). Bereits in Kapitel 49 seines Hauptwerkes (2. Band) hatte er die Willenseuthanasie konzis zur Darstellung gebracht: »Die Illusionen, welche Chimären als höchst wünschenswerte Güter darstellten, verschwinden, und an ihre Stelle tritt die Erkenntnis der Nichtigkeit aller irdischen Güter. Die Selbstsucht Ähnliches äußerte Schopenhauer mit Blick auf sein eigenes Ende: »Ich möchte 90 Jahre werden. Selbst bei den Achtzigern hat der Tod noch etwas Gewaltsames. Bei den Neunzigern gehen Leben und Tod ruhig ineinander über. Ein Neunziger in Aschaffenburg wollte eine Weintraube vom Gelände schneiden, als er tot umfiel. So möchte ich sterben. Nur nicht lange leiden« (Gespräche, S. 225 f.).

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wird durch die Liebe zu den Kindern verdrängt, wodurch der Mensch schon anfängt, mehr im fremden Ich zu leben als im eigenen, welches nun bald nicht mehr sein wird. Dieser Verlauf ist wenigstens der wünschenswerte: es ist die Euthanasie des Willens« (S. 818).

Die Analyse des 6. Kapitels der Aphorismen hat damit erwiesen, wie eng dieselben mit Schopenhauers Hauptwerk verknüpft sind und welch wichtigen Beitrag sie zum Verständnis seiner Philosophie, vor allem in lebenspraktischer Hinsicht, leisten, stellen sie doch gleichfalls eine herausragende philosophische Orientierungshilfe auf der sogenannten zweiten Fahrt (δεύτερος πλοῦς) dar, um nicht den Zweck des Daseins – Selbsterkenntnis des Willens und somit seine Verneinung – zu verfehlen, nebst aller Belehrung durch das Leben selbst: 59 »Er [i. e. der Wille zum Leben] selbst kann durch nichts aufgehoben werden als durch Erkenntnis. Daher ist der einzige Weg des Heils dieser, dass der Wille ungehindert erscheine, um in dieser Erscheinung sein eigenes Wesen erkennen zu können. Nur infolge dieser Erkenntnis kann der Wille sich selbst aufheben und damit auch das Leiden, welches von seiner Erscheinung unzertrennlich ist, endigen: nicht aber ist dies durch physische Gewalt wie Zerstörung des Keims oder Tötung des Neugeborenen oder Selbstmord möglich« (Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Band, 4. Buch, § 69, S. 544). Siehe Paralipomena Kapitel 14, § 172a, S. 380: »Das Leben ist durchaus anzusehn als eine strenge Lektion, die uns erteilt wird, wenngleich wir mit unsern auf ganz andere Zwecke angelegten Denkformen nicht verstehn können, wie wir haben dazu kommen können, ihrer zu bedürfen. Demgemäß aber sollen wir auf unsere hingeschiedenen Freunde zurücksehn mit Befriedigung, erwägend, daß sie ihre Lektion überstanden haben, und mit dem herzlichen Wunsch, daß sie angeschlagen habe; und vom selben Gesichtspunkt aus sollen wir unserm eigenen Tode entgegensehn als einer erwünschten und erfreulichen Begebenheit – statt, wie meistens geschieht, mit Zagen und Grausen«.

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In der Tat dürfen wir daher die Aphorismen zur Lebensweisheit mit Malter (1985, S. 242) als »unerschöpflichen Quell von Anleitungen zur sinnvollen Lebensführung angesichts des allerorts sinnlos rasenden Willens« betrachten. Außerdem wurde die Nähe zur antiken Tradition erkennbar, insbesondere durch die Willenseuthanasie, welche dem Ciceronischen Begriff satietas vitae sehr nahe kommt. Zum Ausklang des 6. Kapitels legt Schopenhauer mit Blick auf das Leben an sich noch eine zutiefst menschliche Skepsis an den Tag, die schon Ciceros Cato maior de senectute ausgezeichnet hatte, und beschließt seine Aphorismen nach einem trefflichen Vergleich zwischen den einzelnen Planeten und Lebensaltern mit der tragikomischen Bemerkung: »Daher also, daher, aus dem Orkus kommt alles, und dort ist schon jedes gewesen, das jetzt Leben hat – wären wir nur fähig, den Taschenspielerstreich zu begreifen, vermöge dessen das geschieht, dann wäre alles klar« (S. 592).

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Nach der Analyse von Ciceros Cato maior de senectute und Schopenhauers Vom Unterschiede der Lebensalter muss man die scheinbare »Schwäche«, die Rosenmayr (2007, S. 241) in »der europäischen Philosophie hinsichtlich bedeutender Denkentwürfe zu Lebenslauf und Alter« zu erkennen glaubt, relativieren. Denn Cicero und Schopenhauer haben »die großen Impulse für eine Reflexion des Alterns« (Rosenmayr 2003, S. 315) gegeben, »die zu souveränen Lebensformen führen oder diese zumindest anregen« (ebenda, S. 323). Cicero will ja, wie gesehen, mit seinem Werk dazu anspornen, Körper und Geist auch im Alter(n) zu fördern und fordern, um damit bessere Voraussetzungen zu schaffen für einen möglichst hohen Grad an Lebenssättigung (satietas vitae), so dass man sich von seiner körperlichen Gebundenheit geistig zu lösen und seine Endlichkeit anzunehmen vermag; ohne diese Reife wäre menschliches Dasein nichts weiter als ein blindwütiger und zum Scheitern verurteilter Kampf gegen die eigene Vergänglichkeit, welche sich dann weder akzeptieren noch bewältigen ließe, und Altern wäre somit ein im Grunde völlig sinn- und zweckloser Vorgang. Hierin liegt der Hauptberührungspunkt mit Schopenhauer, denn auch seine Philosophie »ist, wie es die großen Denker der Antike wollten, als Wegweiser zur Lebensgestaltung und Lebensmeisterung gemeint« (Hübscher 1973, S. 284); bei ihm bleiben jene »großen alten Fragen der Philosophie, die Fragen nach den ersten und letzten Dingen der Welt und des Menschenlebens« (ebenda, S. 281) nicht außen vor. Das Ziel des sich über das ganze Leben erstreckenden, geistigen Reifungsprozesses wird im 135 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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6. Kapitel seiner Aphorismen zur Lebensweisheit genauso gut erkennbar wie bei Cicero: Im Alter lebensgesättigt zu sein, bedeutet, eben nicht mehr das zu wollen, was man für gewöhnlich in der Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter gewollt hat. Lebens- und Willenssättigung sind geradezu identische Begriffe: Willensgesättigt vermag der Mensch von einer vom grenzenlosen Wollen beherrschten Welt Abstand zu nehmen, »die den Einzelnen in den Strudel von Glücksillusionen treibt und ihm die Einheit seines eigenen, wenn auch flüchtigen Bewußtseins zu spalten, zu zerkleinern, einzuebnen, zu überfremden droht« (Spierling 1998, S. 219). Um sich auf dem gewohnten Entwicklungsgang des Lebens – von Schopenhauer als zweite Fahrt versinnbildlicht, dieser für ihn höchsten Form von Lebensweisheit nähern zu können, muss Altern und geistiges Reifen allerdings Hand in Hand gehen, was jedoch, wie beide Philosophen immer wieder ausdrücklich betonen, nur aus eigenem Vermögen zu schaffen ist. Daher können sie gerade uns, die wir mittlerweile in einer Epoche leben, in der dieses Lebensziel durch ausufernde Kommerzialisierung, Verwissenschaftlichung und Quantifizierung menschlichen Daseins immer weiter aus dem Blickfeld rückt, 1 »Orientierungen für Lebensentwicklungen, für eine Philosophie der Langlebigkeit«, wie sie Rosenmayr (2007, S. 233) fordert, geben. Ebenso können sie uns Wege zur Lebenskunst weisen und uns dabei unterstützen, eine philosophische Haltung aufzubauen, um schöpferisch zu altern und die dafür nötigen Kräfte zu entfalten. Ihre Schriften zeigen klar und deutlich, dass das Leben des Die Gefahr, die mit dieser Entwicklung einhergeht, hat Hillman (2004, S. 67) sehr prägnant dargestellt: »Wenn ein langes Leben nur nach Jahren zählt und damit zum Selbstzweck wird, können andere Bedeutungen des Begriffs »Ende« wie »Vollendung« und »Ab-schluß« abgewehrt und in den Schatten verbannt werden. Und wenn die Idee des Bleibens auf die Anzahl von Jahren und Tagen reduziert werden kann, dann hat die Medizin eine Rechtfertigung für ihre radikalen Verfahren zur Verlängerung eines Lebens, das vielleicht gar nicht länger gewollt wird«.

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Menschen im Alter nicht einfach nur an seine biologische Grenze stößt, lehren sie uns doch mit deutlichen Worten, wie fundamental dieser Lebensabschnitt für die Bewältigung und tatsächliche Voll-Endung des Daseins überhaupt ist, weil man sich eben erst im Laufe der Zeit sowohl vom eigenen Leben als auch vom Dasein an sich zu lösen vermag. Tatsächlich lebensgesättigt zu sein und nicht etwa nur des Lebens überdrüssig – ein Gemütszustand, der begünstigt durch eine unreflektierte Lebensweise bzw. geringe Lebensreife unbestreitbar fatale Folgen 2 haben kann –, dafür bedarf es eines hohen Maßes an geistiger Reife, die aus all den Erfahrungen eines bewusst geführten, alle Altersstufen umfassenden langen Lebens hervorgeht, und nicht allein der Anhäufung von Lebensjahren; 3 dies ist der Grundgedanke ihrer philosophischen Werke. Die nach vielen Jahren, als Folge von Lebenserfahrung und -erkenntnis sich einstellende Lebenssättigung (satietas vitae), die Schopenhauer vor allem mit der zunehmenden Desillusionierung hinsichtlich weltlicher

2 Schon Cicero (Cato maior XXIII, 85) warnte eindringlich vor völliger Erschöpfung (defatigatio) im Alter, weil sie zum Lebensüberdruss (taedium vitae) werden kann. Heutige Studien belegen, dass »Anzeichen von Lebensüberdruss« bei alten Menschen u. a. ein deutlicher Indikator »für das Vorliegen einer Suizidgefährdung« sind (Schmidtke & Schaller 2006, S. 384), die mit dem Alter signifikant zunimmt (ebenda, S. 379), wobei hier auch objektive Faktoren eine Rolle spielen, weshalb man es als eine gesellschaftliche Aufgabe ansehen muss, für angemessenere Lebensbedingungen im Alter zu sorgen: »Daher könnte es sich als suizidpräventiv erweisen, älteren Menschen eine ausreichende ökonomische Sicherung zu gewähren und ihnen vermehrt Anerkennung entgegenzubringen, verbunden mit der allgemeinen Verpflichtung, das Altwerden in Freiheit und Würde zu ermöglichen« (Wächtler 1991, S. 603). 3 Seneca 93. Brief, 7: »Wie lange ich existiere, liegt nicht bei mir; dass ich wirklich lebe, so lange ich sein werde, ist von mir abhängig. Dies fordere von mir, damit ich nicht eine unbedeutende Zeit in geistiger Umnachtung verlebe, auf dass ich ein Leben führe und nicht daran vorbeigehe« (Quamdiu sim alienum est: quamdiu ero, vere ut sim, meum est. Hoc a me exige, ne velut per tenebras aevum ignobile emetiar, ut agam vitam, non ut praetervehar).

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Gaukelspiele begründete, ist auf keinen Fall mit Eskapismus oder Lebensuntauglichkeit zu verwechseln, ganz im Gegenteil: Je weiter man in seinem geistig-seelischen Reifungsprozess dank einer bewussteren, reflektierteren Lebensführung vorankommt, desto besser gelingt es, sein Dasein zu meistern und den Anforderungen praktischer Lebensweisheit (ars vivendi) zu entsprechen – das fand schon Cicero: Die geistige Reife (maturitas) war für Cato deswegen überaus angenehm (iucunda), weil sie satietas vitae, sowie contemptio mortis, d. h. die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit mit sich brachte; 4 darauf basierte ebenfalls Solons couragiertes Auftreten (cf. XIX, 71-XX, 72). Desgleichen konnte man dem 6. Kapitel von Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit entnehmen, wie positiv sich geistige Reife auch auf die Lebenspraxis im Alter auswirkt und wie bedeutsam die gewonnenen Erfahrungen für das Verständnis des eigenen Lebens sowie des Lebens an sich sind; solch umfassende Lebensweisheit mit einer heiter-gelassenen und lebensgesättigten Haltung, die auf den lebenspraktischen Grundsätzen carpe diem sowie nil admirari basiert und es vermeidet, ad interim zu leben, 5 ist aber genaugenommen nicht der Ertrag des Alter(n)s – lässt er sich doch nicht ohne eigenes Bemühen erzielen –, sonAuch Seneca betont dies im 21. Brief: »Wenn du willst, dass Pythokles alt bzw. reif werde und sein Leben vollende, darf man nicht seine Lebensjahre erhöhen, sondern muss seine Begierden herabsetzen« (8: Si vis Pythoclea senem facere et implere vitam, non annis adiciendum est sed cupiditatibus detrahendum). Es bedarf also einer veränderten Einstellung zum Leben, cf. 111. Brief: nam nemo illam [i. e. vitam] bene rexit nisi qui contempserat (5: Denn niemand hat das Leben gut geführt außer derjenige, der gelernt hat, es geringzuschätzen). Dazu (vitam contemnere) gelangt man erst nach vielen Jahren – Seneca zufolge reicht dafür sogar ein ganzes Leben kaum aus (ib.: cum vix tota vita sufficiat). 5 Bereits im 5. Kapitel (S. 494 f.) der Aphorismen wurde auf jene lebensweisheitlichen Prinzipien hingewiesen, gelten sie doch für jung und alt gleichermaßen: Jüngere neigen ja dazu, zu sehr in der Zukunft zu leben, indem sie »immer vorwärts sehn und mit Ungeduld den kommenden Dingen entgegeneilen, als welche allererst das wahre Glück bringen sollen«; Ältere tendieren dagegen eher zur »Sehnsucht nach der Vergangenheit«. 4

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dern sie ist die Frucht eines wirklich philosophischen Lebens, deren Ernte im Alter stattfindet (fructus senectutis). Um ebenjenen geistig-seelischen Entwicklungsgewinn des Alter(n)s geht es Cicero und Schopenhauer, so dass eine ernsthafte Lektüre ihrer Schriften eigentlich niemanden in Versuchung führen kann, beiden Philosophen zu unterstellen, sie hätten das Alter von vornherein idealisieren wollen; sie haben sich ja genauso wenig dazu verleiten lassen, dasselbe vorschnell mit Krankheit oder Langeweile gleichzusetzen. Unerlässlicher Kompass, um nach einem langen Leben zu dieser hohen Lebensreife zu gelangen, ist für jeden Menschen Philosophie, also eine nach Weisheit strebende Lebensführung: Ciceros Schrift, der man zu Unrecht immer wieder eine »idealisierende« bzw. »optimistische Sicht« (Rosenmayr 2007, S. 251) unterstellt und sie deswegen scharf kritisiert (z. B. Welsch 2001, S. 30 f.), ohne sich davor zu scheuen, zentrale Erkenntnisse daraus zu übernehmen, hat sich nach eingehender Analyse als laudatio philosophiae erwiesen; 6 und auch wenn Schopenhauer sicherlich »keine Philosophie des Glücks entwickelt« hat, so lag ihm wie Cicero daran, »das Glück der Philosophie« (Safranski 1998, S. 48) aufzuzeigen, 7 welches bis heute all denjenigen zuteilwerden kann, die Philosophie im wortgetreuen Sinn, nämCf. Senecas laudatio philosophiae (50. Brief, 9): Aliorum remediorum post sanitatem voluptas est, philosophia pariter et salutaris et dulcis est. (»Bei anderen Heilmitteln stellt sich (erst) nach der Gesundung Freude ein, die Philosophie ist heilsam und erfreulich zugleich«). Ebenso Epikur Gnom. Vat., 27. 7 Dies kommt im 24. Kapitel (§ 296 a, S. 658) seiner Paralipomena sehr schön zum Ausdruck: »Es gibt doch keine größere Erquickung für den Geist als die Lektüre der alten Klassiker: sobald man irgendeinen von ihnen, und wäre es auch nur auf eine halbe Stunde, in die Hand genommen hat, fühlt man alsbald sich erfrischt, erleichtert, gereinigt, gehoben und gestärkt; nicht anders, als hätte man an der frischen Felsenquelle sich gelabt. Liegt dies an den alten Sprachen und ihrer Vollkommenheit oder an der Größe der Geister, deren Werke von den Jahrtausenden unversehrt und ungeschwächt bleiben? Vielleicht an beidem zusammen«. 6

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lich als Streben nach Lebensweisheit begreifen und ihr Dasein darauf ausrichten; im Grunde wird sie, was schon Jaspers (61991, S. 162) betonte, »nie am Ende sein, solange Menschen existieren«, unterstützt sie doch uns dabei, mit den Grundbedingungen unserer Existenz – »angefangen bei den Sorgen des Alltags über Grenzerfahrungen […] bis zur Erkenntnis der eigenen Unerheblichkeit oder der Erfahrung der Banalität der Wirklichkeit insgesamt« (Wetz 2000, S. 37) – in praxi fertig zu werden sowie die condicio humana zu bewältigen, wozu eben auch das Alter(n) und die Vergänglichkeit des Daseins gehören. Insofern darf man »alles Philosophieren« durchaus als »ein Weltüberwinden, ein Analogon der Erlösung« (Jaspers 61991, S. 43) betrachten, jedoch nicht, wie bereits erwähnt, im Sinne von gänzlich der Welt abgewandt, sondern als eine lebensnahe, auf Weisheit ausgerichtete Form aktiver Daseinsgestaltung und -bewältigung, die sich gleichzeitig eine gewisse »innere Unabhängigkeit« (ebenda, S. 125) bewahrt, wodurch sich in der Tat »ein eigentümliches Verhalten zur Welt« offenbart, d. h. »dabeisein und zugleich nicht dabeisein, in ihr zugleich außer ihr sein« (ebd., S. 100). Je deutlicher uns »die rätselhafte Existenz der Welt« (Wetz 2000, S. 181) ins Bewusstsein dringt, je weniger wir bereit sind, »in der Welt Genüge zu finden« (Jaspers 61991, S. 42) und uns mit all den Oberflächlichkeiten zufriedenzugeben, die unser modernes, hochtechnisiertes und zukunftsgläubiges Zeitalter tagein, tagaus hervorbringt und anpreist, desto mehr werden uns die tiefer gehenden »Probleme, welche unser so unendlich rätselhaftes Dasein uns von allen Seiten entgegenhält« (Schopenhauer, Parerga, Über die Universitätsphilosophie, S. 235), zu denken geben, 8 d. h. desto intensiver werden wir Welt und Im Bewußtwerden der condicio humana liegt ja der Ursprung aller Philosophie, siehe dazu z. B. Jaspers 61991, S. 41, sowie Wetz 2000, S. 11. Das Erstaunen, die Verwunderung (τὸ ϑαυμάζειν) galt bekanntlich bereits in der Antike als Anfang der Philosophie (vgl. Platon Theaitetos 155 d und Aristoteles Metaphysik 982 b 10 ff.), wobei man mit Schopenhauer (Die 8

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Dasein hinterfragen und uns insbesondere mit denjenigen Philosophen beschäftigen, die, von denselben Grundfragen des Lebens beseelt, der Nachwelt, so wie großartige Künstler, unersetzliche und einzigartige Werke hinterließen. 9 Als »Pfadfinder des philosophischen Denkens« (Capelle 1968, S. VII), als »wirkliche Wegweiser« (Jaspers 61991, S. 62) geben sie uns nicht nur Denkanstöße zum eigenen Philosophieren, sondern können auch philosophische Orientierung für unseren eigenen Lebensweg bieten und uns dabei zur Seite stehen, mit den Jahren aus eigener Kraft geistig reifer und somit weiser zu werden (cf. Seneca 39. Brief, 2), was in »unserer ruhelosen Zeit« (Wetz 2004, S. 20) dringlicher denn je zu sein scheint, die von zunehmender Selbstentfremdung bzw. Fremdbestimmung des Menschen und geistiger Verarmung geprägt ist (vgl. Lauxmann 2004, S. 20/ 21). 10 Man blicke doch nur auf die traurige Tatsache, »wie gegängelt von Markt und Medien wir leben (müssen), und wie unfrei und bestimmungs-ohnmächtig, wie wenig individualisiert im Grunde die meisten von uns sind« (Rosenmayr 2007, S. 2)! Welche tiefsinnige lebenspraktische Orientierung könnten wir auch in einer mit künstlichen Bedürfnissen und multimedialen Belanglosigkeiten aller Art übersäten Konsum- und Spaßgesellschaft finden, in der sich fast alles um GewinnmaxiWelt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 17, S. 222/223) »das philosophische Erstaunen« insbesondere als »ein bestürztes und betrübtes« aufzufassen hat, da es »offenbar aus dem Anblick des Übels und des Bösen in der Welt« hervorgeht, weswegen auch »das Böse, das Übel und der Tod« jenes philosophische ϑαυμάζειν »qualifizieren und erhöhen«. 9 Siehe Jaspers (61991, S. 118): »Daher lieben wir die alten Texte, wie wir Kunstwerke lieben, wir versenken uns in die Wahrheit der einen wie der anderen, greifen zu ihnen, aber es bleibt […] schließlich etwas, in dem wir den Absprung gewinnen zum gegenwärtigen Philosophieren«. 10 Dieser fortschrittliche Rückschritt war übrigens bereits für Jaspers (61991, S. 114) absehbar: »Seit dem zwanzigsten Jahrhundert steigerte sich das Vergessen jener tausendjährigen Grundlagen zugunsten eines zerstreuten technischen Wissens und Könnens, eines Wissenschaftsaberglaubens, illusionärer Daseinsziele, passiver Gedankenlosigkeit«.

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mierung, wirtschaftliches Wachstum und den letzten technischen Schrei dreht! In diesem kollektiven Dämmerzustand »läßt sich nicht wirklich Lebensbewältigung betreiben« (Prisching 2003, S. 259). Derjenige, der dennoch die Seelenstärke hat, aus jenem geistigen Halbschlaf zu erwachen, muss obendrein ernüchtert eingestehen, dass ihm das vom Informationszeitalter feilgebotene, stetig wachsende (wissenschaftliche) Faktenwissen weder »Erkenntnis des Seins im Ganzen« noch »Ziele für das Leben« (Jaspers 61991, S. 176) zu geben vermag; 11 übrigens genauso wenig wie all die auf Dauer nicht minder einschläfernd wirkenden »computergesteuerten Milchmädchenrechnungen« (Lauxmann 2004, S. 45), welche man gegenwärtig an allen Ecken und Enden präsentiert bekommt, denn »die Statistik gibt uns auch keine Auskunft über die Frage, was wir tun sollen in einer Situation, in der man ständig älter wird – und in der es keine kulturell eingelebten oder vorgeprägten Muster und Vorbilder für ein Leben im Alter gibt« (Brenner & Zirfas 2002, S. 21). Die Spätfolgen dieser geistig-seelischen Zivilisationsschäden bleiben nicht aus: »Im letzten Jahrhundert haben wir quantitativ relativ viel an Lebenserwartung gewonnen, aber wir haben diese gewonnenen Jahre qualitativ noch nicht wirklich zu gestalten vermocht« (Böhmer 2003, S. 97). Doch wie soll überhaupt eine »Basis für eine neue Alternskultur« (Rosenmayr 2007, S. 43) oder gar eine »philosophische Basis für eine ›Ars vivendi‹ des verlängerten Lebens« (Rosenmayr & Böhmer 2003, S. 11) entstehen in einer »von Konsum und UnterhaltungsLauxmann (2004, S. 82) hat diese Fehlentwicklung auf den Punkt gebracht: »Unser Datenreichtum führt zur Denkverarmung«. Schon Petrarca klagte in seinem Werk De sui ipsius et multorum ignorantia II: Nam quid, oro, naturas beluarum et volucrum et piscium et serpentum nosse profuerit, et naturam hominum, ad quod nati sumus, unde et quo pergimus, vel nescire vel spernere? (»Denn was bitte hülfe es, die Natur der Tiere, Vögel, Fische und Schlangen zu kennen, und dabei die Natur der Menschen entweder nicht zu kennen oder zu verwerfen, wozu wir geboren sind, woher wir kommen und wohin wir gehen?«), siehe dazu auch Petrarcas »Mein Geheimnis« (De secreto conflictu curarum mearum II).

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industrie rosa vernebelten Lebenswelt (mit geschickt vermarkteten Täuschungen)« (ebenda, S. 13), die heute viele fest im Griff hat und sogar schon auf die zeitgenössische Gerontologie übergreift: Jene »in Werbung und Regenbogenpresse stets lächelnden polierten Gesichter und beglückt Händchen haltenden alten Paare« (Rosenmayr 2004, S. 21) zieren inzwischen werbewirksam Buchdeckel alter(n)swissenschaftlicher Publikationen (Oswald et al. 2008), während die Themen im Innenteil zu dieser inszenierten heilen Alterswelt nicht passen wollen. Wo ist überhaupt noch Platz für eigenes »Denken und Nach-denken« (Rosenmayr & Böhmer 2003, S. 13), wenn sich der Reflexionsradius durch das »immer enger werdende Netzwerk von Konsum, Medien und medizinischer Restitution« (Rosenmayr 2007, S. 9) zusehends verkleinert? Dürfen wir angesichts dessen wirklich überglücklich sein und uns maßlos darüber freuen, dass dem Leben heutzutage mehr Jahre zukommen? Wenn nicht alle Zeichen trügen, werden unter all diesen Umständen wahrscheinlich nur wenige »wirkungsvoll mit dem Alter und in ihm leben« (Rosenmayr 2003, S. 317) können, denn bereits jetzt ist es bei vielen lediglich die »traurig-aussichtslose Fortsetzung der Jugend« (Achenbach 2003, S. 141): Immer öfter muss man entsetzt feststellen, wie jene »lebenslänglich Infantilen« (Ebeling 1999, S. 57) an ihrem von »atemloser Hast und Eile« geprägten Lebenswandel festhalten, dadurch eine »oberflächliche Betriebsamkeit« bekunden und dann z. B. »der Gier nach Gewinn« (Wetz 2000, S. 179) unterliegen, dabei aber schon lange den Blick für das Wesentliche verloren oder, genauer gesagt, ihn gar nicht gefunden haben, nämlich für das, worauf es im Leben im Endeffekt ankommt (Lauxmann 2004, S. 18/19). Deshalb liegt auch die Vermutung nahe, dass viel zu viele weiterhin »in der relativ passivierenden Konsumwelt und in den Wellness-Ghettos« (Rosenmayr 2003, S. 317) verharren werden, anstatt sich dem für eine ars vivendi unerlässlichen »Spiel freier Nachdenklichkeit« (Wetz 2000, S. 179) zu öffnen. Auf diesem Weg nach einem weisheitsvolleren Leben 143 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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zu streben, also wirklichem »Philosophieren« nachzugehen, das Jaspers (61991, S. 39) zu Recht als »ein Erwachen aus der Gebundenheit an die Lebensnotdurft« bezeichnet, wird man somit nach wie vor eher als »Sache Einzelner« (Jaspers 61991, S. 199) betrachten dürfen. Doch für ebenjene, die aus den vielen Verirrungen und Verwirrungen der modernen Alltagswelt zu sich kommen (wollen), hat Philosophie, geradezu existentielle Bedeutung, weil sie, was übrigens alle großen Denker seit jeher stets hervorgehoben haben, 12 die nötige weisheitliche OrientieCf. Seneca 20. Brief: facere docet philosophia, non dicere, et hoc exigit, ut ad legem suam quisque vivat, ne orationi vita dissentiat vel ipsa inter se vita (2: »Handeln lehrt die Philosophie, nicht reden, und dies verlangt, dass jeder ihrer Ordnung gemäß lebe, damit das Leben nicht der Rede oder sich selbst widerspricht«) und 82. Brief: Sciat quo iturus sit, unde ortus, quod illi bonum, quod malum sit, quid petat, quid evitet, quae sit illa ratio quae adpetenda ac fugienda discernat, qua cupiditatum mansuescit insania, timorum saevitia conpescitur (6: »Der Mensch soll wissen, wohin er gehen wird, woher er gekommen ist, was für ihn gut, was schlecht ist, was er erstreben, was er meiden soll, was jene Vernunft leistet, die unterscheidet, was zu erstreben, was zu meiden ist, wie die Raserei der Leidenschaften milder und die Wucht der Ängste gebändigt wird«). Ferner beklagt Seneca im 95. Brief eine allzu theorielastige Philosophie: simplex enim illa et aperta virtus in obscuram et sollertem scientiam versa est docemurque disputare, non vivere (13: »Jene einfache und leicht zugängliche Tugend hat sich nämlich in eine unklare und gekünstelte Lehre verkehrt und wir lernen zu disputieren, nicht aber zu leben«), 106. Brief: Apertior res est sapere, immo simplicior: paucis satis est ad mentem bonam uti litteris, sed nos ut cetera in supervacuum diffundimus, ita philosophiam ipsam. Quemadmodum omnium rerum, sic litterarum quoque intemperantia laboramus: non vitae sed scholae discimus (12: »Weise zu sein, ist eine klarere, ja sogar einfachere Sache; für einen guten Geist genügt es, weniger gelehrte Kenntnisse zu besitzen, aber wie das Übrige, so dehnen wir die Philosophie selbst ins Überflüssige aus. Wie in allen Dingen, so leiden wir auch in den Wissenschaften an Maßlosigkeit: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir«), 108. Brief, 5 ff., 35–38, sowie 111. Brief. Siehe auch Kant: »Wann willst du anfangen Tugendhaft zu leben, sagte Plato zu einem alten Mann, der ihm erzählte, dass er die Vorlesungen über die Tugend anhörte. – Man muß doch nicht immer speculiren, sondern auch einmal an die Ausübung denken. Allein heut zu Tage hält man den für einen Schwärmer, der so lebt wie er lehrt. […] Man muß suchen weise zu seyn und nicht bloß speculative

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rung fürs Leben bietet und, wie aus der Analyse von Ciceros Cato maior de senectute und Schopenhauers Vom Unterschiede der Lebensalter deutlich wurde, auch »Daseinsmöglichkeiten im späten Leben« (Rosenmayr 2007, S. 31) aufzeigt, die wir allerdings nur selbst verwirklichen können. Abgesehen vom philosophischen Orientierungswert ihrer Schriften, der bis heute unverändert hoch ist, sind gerade diese beiden Werke zugleich Zeugnisse dafür, dass man der Philosophie mitnichten gerecht werden würde, wollte man sie auf eine theoretisch-abstrakte Komponente einengen. 13 Philosophia autem et contemplativa est et activa: spectat simul agitque, schreibt schon Seneca im 95. Brief (10: »Philosophie aber hat sowohl eine kontemplative, als auch eine praktische Seite: sie betrachtet und handelt zugleich«). Deshalb kann man Hadot (22005, S. 9) grundsätzlich nur zustimmen, wenn er betont, dass »Philosophie nicht nur eine bestimmte Art, die Welt zu sehen, ist, sondern eine Art zu leben und dass alle theoretischen Diskurse nichts sind im Vergleich mit dem konkreten gelebten philosophischen Leben«. 14 Reines Erkenntnis- oder Wissensstreben Kenntniße sammeln, denn das Wißen läßt eine große Leere« (Kleinere Vorlesungen, Philosophische Enzyklopädie 1775). 13 Siehe Schopenhauer, Paralipomena Kapitel 1, § 9: »Daher läßt eine wahre Philosophie sich nicht herausspinnen aus bloßen abstrakten Begriffen, sondern muß gegründet sein auf Beobachtung und Erfahrung, sowohl innere als äußere. […] Philosophie ist kein Algebra-Exempel«. In seiner prägnanten σοφία-Definition wird ebenso wieder die lebenspraktische Seite von Weisheit sichtbar, siehe Paralipomena Kapitel 26, § 339, S. 705. 14 Daher bezeichnet Seneca im 75. Brief (8 ff.) all diejenigen, die in ihrem Streben nach Weisheit praktische Fortschritte machen (wollen) als proficientes, zu denen er sich übrigens selbst zählte, ohne sich dabei irgendeiner Schule unterzuordnen (45. Brief, 4: Non enim me cuiquam emancipavi, nullius nomen fero); cf. De vita beata 17, 3: non sum sapiens […] (»Ich bin kein Weiser«), De tranquillitate animi 11, 1: Ad inperfectos […] hic meus sermo pertinet, non ad sapientem (»Diese meine Worte beziehen sich auf Nicht-Weise […], nicht aber auf einen Weisen«) und Consolatio ad Helviam matrem 5, 2: sapientem esse me dico? Minime (»Sage ich, dass ich ein Weiser bin? Keineswegs«).

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(Philomathie) ohne lebenspraktische Ausrichtung, ohne ein Interesse an gelebter Weisheit hätte sowieso bestenfalls nur Vielwisserei (Polymathie) zur Folge, die ja laut Heraklit nicht einmal den menschlichen Geist bildet (cf. Diogenes Laertius IX, 1: πολυμαϑία νοῦν οὐ διδάσκει). Eine solche zur »reinen Theorie« (Nehamas 2000, S. 15) gewordene »Philosophie« würde obendrein buchstäblich maß- und ziellos werden, weil kein Sterblicher allweise im Sinne von allwissend sein kann. Fasst man Weisheit noch dazu als tugendhafte Vollkommenheit – was auch immer das heißen mag – auf, dann wäre es für den Menschen genauso wenig möglich, sie zu erreichen (siehe Hadot 22005, S. 40, 165); Weisheit dennoch als »unerreichbares, aber immer anzustrebendes Ideal« (Bien 1988, S. 43) interpretieren zu wollen, würde außerdem unweigerlich die Frage provozieren, warum gerade das so erstrebenswert sein sollte, was eindeutig ins Reich der Phantasie gehört und damit für jeden ein Ding der Unmöglichkeit bleiben muss; ist solch ein Streben nach Allwissenheit und vollkommener Tugendhaftigkeit nicht vielmehr ein untrügliches Zeichen größter Torheit, da man krampfhaft etwas zu erreichen sucht, von dem man eigentlich schon vorher weiß, dass es ein Luftschloss ist und für immer bleiben wird? Im Gegensatz dazu lässt sich Weisheit verstanden als Lebensweisheit sehr wohl erreichen, weil sie ausschließlich auf all den Erfahrungen beruht, die prinzipiell jeder im Laufe des Lebens erwerben kann, sofern man über das Dasein zu reflektieren vermag und dasselbe mit Besonnenheit führt. Andernfalls gäbe es weder lebenskluge oder -weise Menschen, noch könnte sich eine ars vivendi entfalten, welche, wenn sie denn mit Weisheit einhergeht, genau genommen keine Lebenskunst im herkömmlichen Sinn ist, sondern eher einer »Lebenskönnerschaft« (Achenbach 2001, 2003) entspricht. 15 »›Weisheit‹ und ›Lebensweisheit‹« mit Bien (1988, S. 35) als »tautologische Benennungen« zu begreifen, Völlig zu Recht hat Achenbach (2003, S. 11) daher Weisheit als Ziel der »Lebenskönnerschaft« erklärt.

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würde somit viel dazu beitragen, dass Weisheit nicht zum Objekt weltfremder, überirdischer Spekulationen wird, sondern in ihrer ursprünglichen Bedeutung sichtbar bleibt, nämlich als »eine besondere Form von Lebensführungskompetenz« (ebenda), d. h. als »die seltene Könnerschaft, ein besonnenes, womöglich gelöst und heiter versonnenes Leben zu führen« (Achenbach 2003, S. 142) sowie der condicio humana gewachsen zu sein, 16 an der sich trotz des ganzen wissenschaftlich-technischen Fortschritts bis dato natürlich nichts Grundlegendes geändert hat. Wie Hadot (22005, S. 10) zu Recht bemerkt, war ja bereits »die antike Philosophie« primär »eine Art zu leben«, während »moderne Philosophie mehr und mehr zu einem Diskurs eines Professors geworden ist«. Wie bei jeder anderen Wissenschaft, so steht nun auch bei ihr der Wissenserwerb an erster Stelle; für Lebensweisheit bleibt da kaum Platz; man braucht sich somit auch weniger darum kümmern, was Philosophie respektive Philosophieren für den Menschen im Grunde bedeutet. Nun ist es sicherlich gutes Recht eines jeden Wissenschaftlers, von Amts wegen statt nach Weisheit nach wissenschaftlich fundiertem Wissen zu streben (Weder 2008); doch wer könnte sich seine Freude an Philosophie überhaupt bewahren, wenn sie ihre lebenspraktische Seite völlig aus den Augen verloren hätte und damit auch nicht mehr auf Lebensweisheit bzw. Daseinsbewältigung ausgerichtet wäre? Wer möchte Philosophie allen Ernstes dauerhaft wie eine lebensferne, professorale Disziplin betreiben und sich dann nur noch mit dem beschäftigen, was jene theorielastige »Wissensindustrie« (Chargaff 1984, S. 75) zu Papier brächte? Wer würde schon die Werke bedeutender Philosophen dagegen eintauschen wollen? Mit Philosophieren im eigentlichen Sinn – also dem Streben nach gelebter Weisheit, bei dem man sich auch auf die Werke großer Denker stützt und deren Auch für Cicero (cf. Tusc. disp. 3, 34) ist die meditatio condicionis humanae eine zentrale Aufgabe beim Streben nach Weisheit, weil im Bedenken des menschlichen Loses der Schlüssel zu dessen Überwindung liegt.

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Einsichten in die eigene Lebensführung mit einbezieht – hätte solch eine rein »abstrakte Tätigkeit des Denkens« (Bartling 1996, S. 45) freilich nur wenig zu tun, weil dies ohne lebensweisheitliche Bedeutung geschähe. Diejenigen hingegen, die Philosophie »als lebenspendende Kraft, nicht als bloße Gelehrtenangelegenheit« (Kranz »Die Griechische Philosophie«, Vorwort) erkannt haben, denen bleibt gar nichts anderes übrig, als sie in den Dienst der eigenen Lebensführung zu stellen, damit sie ihrer ursprünglichen Aufgabe, nämlich geistige Reife und Lebensweisheit zu fördern, gerecht werden kann und eben nicht in der »Höhle der Philosophie-Gelehrsamkeit« (Bartling 1996, S. 136) verlorengeht.

Lebenspraktische Zugänge zur Weisheit Nachdem die lebenspraktischen Bedeutung von Philosophie im allgemeinen und besonderen, also mit Bezug auf Ciceros Cato maior de senectute und Schopenhauers Vom Unterschiede der Lebensalter, hervorgehoben wurde, gilt es jetzt, die Gedankenfülle beider Werke gleichsam auf einen Nenner zu bringen und anhand der daraus gewonnenen Einsichten lebenspraktische Zugänge zur Weisheit zu erschließen. Dies dient nicht nur der weiteren Klarstellung des Begriffs Weisheit, sondern damit wird auch begreiflich, warum gerade diese lebensweisheitlichen Grundgedanken »das Wachstum einer stützenden, aber auch fordernden Alterskultur« (Rosenmayr 2007, S. 28) 17 anregen könnten, was allein aus demographischen Gründen 18 nötiger denn je zu sein scheint – hier gibt es keinerlei Zweifel. Äußerst Ohne das Streben nach Weisheit ließe sich weder der menschliche Geist kultivieren, noch könnte sich eine Kultur des Alter(n)s entfalten, cf. Cicero Tusc. disp. 2, 13: cultura autem animi philosophia est. 18 Das »Altern der Bevölkerung« ist längst als »globales Phänomen« zu betrachten – unbestreitbar »eine Situation, die in der Menschheitsgeschichte noch nicht da war« (Amann 2003, S. 302), Cicero konnte schließlich noch 17

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fraglich ist hingegen, ob ein solcher, von Rosenmayr (ebenda) berechtigterweise postulierter »Kulturumschwung« auf gesellschaftlicher Ebene tatsächlich gelingen kann, in einem so jugendfixierten, weisheitsarmen Zeitalter wie dem heutigen, das »sich dem Kult der Jugendlichkeit verschrieben hat« (Bien 1988, S. 35) und damit auch immer weiter auf das intellektuelle Niveau Halbwüchsiger herabsinkt. 19 Für den Zeitgeist bedeutet altern ohnehin kaum etwas anderes als Lebensjahre anhäufen, ansonsten scheint dem Alter »kein positiver Punkt auf der ›Haben-Seite‹« (Förster 1993, S. 88) zuzukommen, geschweige denn ein tieferer Sinn; ebendeshalb werden Ältere, wenn nicht als (zahlungskräftige) Konsumenten, dann eher als (finanzielle) Belastung angesehen. Unter derart ungünstigen, ja fast schon inhumanen Bedingungen müssten Menschen höheren Alters, ehe sagen: itaque pauci veniunt ad senectutem (Cato maior XIX, 67: »Daher erreichen wenige ein hohes Alter«). 19 Vgl. Jost 1984, S. 18: »In einer Epoche […], in der die Jugend ein höchster Wert ist, demaskiert sich die Verlogenheit in jedem ›Lob des Alters‹ leicht von selbst«. Baltes & Staudinger (1996, S. 327), die »davon ausgehen, dass die Kultur des Alters ebenfalls noch in der Jugendphase steckt«, scheinen sich der Ironie ihrer Bemerkung gar nicht bewusst zu sein. Ist es nicht reichlich naiv, schon den baldigen »Höhepunkt« einer »Kultur des Alters« zu prophezeien (ebenda, S. 354), wenn sich bis jetzt noch nicht einmal deren Anfang erkennen lässt! Berechtigterweise stellt Rosenmayr (2007, S. 25) die kritische Frage, ob »wir uns nicht ein geistiges Grab durch so viel – zu viel – nacktes, ungestaltetes bzw. ›außengeleitetes‹, den Medien und dem Konsumappell überlassenes Leben« ausheben. Die Vermarktung des Alters ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung; hier »kommt es auf den Absatz an« (ebenda, S. 90): »Die Psycho-Kosmetik ist wichtig. Glücklich wird, wer im Alter auf Reisen, im Garten und bei Festivals reichlich konsumiert, das ist die herrschende Botschaft. Ein solches konsumadäquates Image schafft vorfabrizierte Täuschungen. Das vom Markt produzierte Image scheint die Anstrengungen um Weiterentwicklung zu erübrigen« (ebd., S. 281). Wie schnell sich jene captatio benevolentiae ins Gegenteil umkehrt, belegen die im Zusammenhang mit dem demographischen Wandel geführten Debatten und dabei oft verwendeten Wortschöpfungen (siehe Prisching 2003, S. 250/ 251). Schon Jaspers (61991, S. 127) hat vor der Prädominanz kommerzieller Interessen gewarnt, deren Folgen heute immer sichtbarer werden.

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sie überhaupt »zu mitgestaltenden Teilnehmern in der Kultur, auch in der neu entstehenden, werden« könnten (Rosenmayr 2007, S. 28) und »ernst zu nehmen« wären (ders. 2003, S. 329), erst aus eigener Kraft versuchen, in unserer »schönen, neuen Informationsgesellschaft« (Prisching 2003, S. 259) respektive »Turbo-Gesellschaft« (ebenda, S. 266), in der sich noch dazu die »Kompetenzzuschreibungen zwischen Alten und Jungen« (ebd., S. 248) längst umgekehrt haben, geistig nicht völlig zu verkümmern. Sodann müssten sie der mittlerweile massenmedial betriebenen Volksverdummung eine souveränere Lebensanschauung sowie lebensweisheitliche ars vivendi entgegensetzen, was aber, wie bereits angedeutet, vielen wahrscheinlich schon deswegen sehr schwerfallen dürfte, weil sie aus reiner Gewohnheit gar nicht »gegen den Strom schwimmen« (Rosenmayr 2007, S. 27) und z. B. »Informationsaskese« (ebenda, S. 228) betreiben können oder wollen. Ob sogenannte »Grundlagenforschung« beim Bemühen »um eine bessere Kultur des Alters« wirklich so bedeutsam ist, wie man aus alter(n)swissenschaftlicher Perspektive (Baltes & Staudinger 1996, S. 354) suggerieren möchte, darf bezweifelt werden, denn letzten Endes hat es niemand anderer als der einzelne Mensch in der Hand, mit den Jahren geistig reifer bzw. weiser zu werden und dadurch immerhin eine individuelle Alter(n)skultur zu begründen. Dabei können uns – wenngleich wir zugegebenermaßen keine »historischen Vorbilder für eine der späten Moderne angemessene Alterskultur« (Rosenmayr 2007, S. 87) haben – so bedeutende Denker wie Cicero und Schopenhauer gleichsam »als Existenzberater« (Wetz 2004, S. 37) bzw. philosophische Wegweiser zur Seite stehen, »setzten« doch auch sie »so etwas wie eine Fermate, über das, was sie gedacht und geschrieben hatten, so dass die angeschlagenen Saiten noch in unser verarmtes Jahrhundert herübertönen« (Chargaff 1984, S. 61).

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Älter werden als Naturnotwendigkeit Bei aller Rätselhaftigkeit und Ungewissheit unseres Daseins gibt es etwas, das absolut sicher ist, nämlich unsere eigene Zeitlichkeit. Anzeichen dafür ist das Alter(n) – jene Conditio sine qua non des Lebens: »Bereits mit der Geburt beginnen die Prozesse des Alterns« (Hoppe & Wulf 1996, S. 7). Führt man sich obendrein vor Augen, dass »Alterung« sogar »ein universelles Phänomen« (Rosenmayr 2007, S. 36) darstellt, erscheint es umso paradoxer, dass gerade diese, zu den wenigen Gewissheiten unseres Lebens zählende Grundbedingung allen Daseins anscheinend viel zu wenig bedacht wird; oder möchte man sie ganz bewusst nicht wahrhaben? Wie wäre sonst zu erklären, dass sich heutzutage viele mit der Tatsache des Alterns, auch wenn sie niemand ernsthaft anzweifeln würde, so schwertun? Was für ein Zirkus wird derzeit veranstaltet, damit Menschen jünger erscheinen! 20 Am bloßen Übersehen jener condicio humana kann das kaum liegen. Tut die im Gegenwartsdenken fehlende Alter(n)skultur nicht ein Übriges, dass man die Unumgänglichkeit des Alterns und die Vergänglichkeit allen Lebens nicht gutheißen kann oder versucht, sie zu verdrängen? Der moderne, fortschrittsgläubige Mensch, dem offenkundig mehr »an […] elementarer Vitalität« als an »Weisheit und Gelassenheit« (Hoppe & Wulf 1996, S. 11) gelegen ist, muss sich sowieso fragen, was es heute noch für einen tieferen Sinn hat, älter zu werDas beginnt im Grunde schon mit der heute weitverbreiteten Rede von den sogenannten »jungen Alten« (Prisching 2003, S. 254), die in Wirklichkeit meist doch nur »alte Junge« sind. Mit Blick auf diese und andere moderne Verjüngungsvarianten »gäbe es«, wie Wetz (2000, S. 178) ironisch bemerkt, übrigens »viel einfachere Mittel, um jünger zu erscheinen: Wer in die Jahre komme, brauche bloß früh ins Altenheim zu gehen, denn je früher man darin eintrete, umso länger gehöre man dort wenigstens noch zu den Jüngeren«. Aber bereits der allseits propagierte, kosmetische Kleinkrieg gegen das Alter(n) (»Anti-Aging«, »Forever young« etc.) hat seinen Preis: Man tauscht seine Natürlichkeit gegen eine Maske ein. Siehe auch Achenbach 2003, S. 139 f.

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den, wo, kurz gesagt, »als Standard für Lebensbewältigungsqualifikationen das aktuelle Computer-Know-How genommen wird« (Prisching 2003, S. 257). Einige möchten sogar, ganz in ihrem Zukunftsglauben gefangen und von unverbesserlichen Machbarkeitsideologen geblendet, ihr Leben einzig um des Lebens willen verlängert sehen 21 oder am besten gleich ganz unsterblich werden, wie es die Göttin Eos für Tithonos im Mythos durchgesetzt hatte; hier trifft sich antikes und neuzeitliches Wunschdenken: »Die Endlichkeitsakzeptanz wird aufgekündigt«, wie man mit Prisching (2003, S. 267) nicht ohne ein Gefühl von Beklemmung feststellen muss. Denn damit erscheint auch alles, was in dieser Beziehung machbar ist bzw. sein wird, als gerechtfertigt und wünschenswert (vgl. Hillman 2004, S. 64 f.). Das wäre dann in der Tat die Grundsteinlegung »einer Kultur der Mumifizierung zu Lebzeiten« (Ebeling 1999, S. 48). Doch trotz aller wissenschaftlich-technischen Anstrengungen ist und bleibt Altern letztendlich »ein irreversibler Vorgang« (Brenner & Zirfas 2002, S. 21), der den verbreiteten Fortschrittsglauben wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückbringt. Deshalb verwundert es wenig, dass Altern, da es sich weder umkehren noch dauerhaft aufhalten lässt, mehr als Rückdenn als Weiterentwicklung empfunden wird. 22 Wie Ciceros Cato maior, so zeigt auch Senecas De brevitate vitae, dass eine Verlängerung der Lebenszeit, die über das natürliche Maß hinausginge, keinen lebenspraktischen Gewinn brächte. Zur aktuellen Debatte zwischen »apologism« und »prolongevitism« siehe Overall (2003). Obwohl es Overall, die einen »affirmative prolongevitism« (S. 22) favorisiert, nicht um Lebensverlängerung um jeden Preis geht, so muss letztlich auch sie ihr Buch mit der apologetischen Bemerkung schließen: »a time will come in my own existence when I feel that I have lived long enough« (S. 218). 22 Dass das Alter an sich dem heutigen Zeitgeist eher ein Dorn im Auge ist, zeigt sich ja schon daran, dass es primär unter negativen Vorzeichen gesehen wird, vgl. Hillman (2004, S. 52): »Der moderne Fortschritt schmälert den Wert alter Menschen, während er gleichzeitig die Anzahl unserer Jahre vermehrt. Je länger wir leben, desto weniger sind wir wert, und wir werden länger leben!« Siehe auch Rosenmayrs (2007, S. 15) Hinweis auf die paradoxe Situation, »dass die Langlebigkeit, geschichtlich gesehen, jetzt, in der 21

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Lebenspraktische Zugänge zur Weisheit

Ein produktiverer, reiferer Umgang mit dem eigenen Alter(n) kann dagegen nur dann entstehen, wenn zunächst die Endlichkeit des Lebens als Naturnotwendigkeit (necessitas naturae) akzeptiert wird: »Erst der Verzicht auf die Phantasien einer unbegrenzten Daseinsverlängerung des einzelnen macht die Kräfte frei für die möglichen Erneuerungen im Individualleben« (Rosenmayr 1990, S. 7). Ebendeswegen hat Cicero schon im Vorgespräch von De senectute (II, 4 ff.) das Nicht-akzeptieren-Wollen des Alter(n)s an sich, d. h. als zeitliches Geschehen, mit einer Gigantomachie gleichgesetzt – mit katastrophalen Folgen für die Aufrührer. Will man also von vornherein die Augen vor jener necessitas naturae verschließen oder gar mit aller Gewalt dagegen aufbegehren, rückt eine geistig-seelische Bewältigung des Alters in weite Ferne, ja das ganze Leben wird sinnund ziellos. 23 Ähnliches möchte Schopenhauer mit dem Voltaire-Zitat am Anfang des 6. Kapitels der Aphorismen zum Ausdruck bringen: Erst eine altersgemäße geistige Reife ermöglicht es dem Menschen, das Alter an sich als natürlichen und für seine geistig-seelischen Entwicklung notwendigen Lebensabschnitt anzunehmen, weil er im Altern eben auch und vor allem einen geistigen Reifungsprozess erkennt, der zur Lebensweisheit führt; ohne die damit einhergehende ars vivendi wäre Abwertung von Erfahrungswissen menschlicher Träger, hervortritt«. Ebenso Ehmer (2012, S. 426/427): »Der aktuelle Diskurs ist von einem Paradoxon geprägt: Fast alle Menschen streben ein möglichst langes Leben an […]. Auf der anderen Seite wird ein hoher Anteil an älteren Menschen überwiegend negativ und als Problem oder gar als Bedrohung gesehen – sei es des Sozialstaats, sie es der globalen wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit«. 23 Ciceros Cato maior soll daher Denkanstoß sein, das Alter(n) an sich als naturnotwendig zu erkennen sowie als naturgegeben zu akzeptieren, und gleichzeitig ermutigen, Altern als Chance zu dieser geistigen Reife zu begreifen und sie auch zu ergreifen, um letztlich die condicio humana annehmen zu können. Cf. Seneca 37. Brief, 3: »Entfliehen kann man der Notwendigkeit nicht, aber man kann sie bewältigen […] und diesen Weg wird dir die Philosophie weisen« (Effugere non potes necessitates, potes vincere […] et hanc tibi viam dabit philosophia).

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das Alter(n) indes ein einziges Desaster: Würde man nämlich »die sterbliche Essenz des Menschseins« (Hillman 2004, S. 67) ignorieren oder sich über dieses eherne Naturgesetz hinwegsetzen wollen, »wie die mikrobiologischen Umkonstrukteure des Lebens es vorhaben« und schon »das »Ende des Alterns« […] in Aussicht stellen« (Rosenmayr 2007, S. 26), 24 dann wäre auch jede vernünftige Auseinandersetzung mit dem Alter(n) jäh zu Ende, weil es sich weder als ein integrierender Bestandteil menschlichen Lebens annehmen noch bewältigen ließe; »eine aktive Bewältigung« (ebenda, S. 8) setzt sich bei allem Bemühen um körperliches und geistiges Wohlbefinden im Alter weder über »limitierende Faktoren« (ebd., S. 353) hinweg, noch verlangt man hierbei nach sogenannter ewiger Jugend, was einem Verdrängen oder Negieren der Naturgegebenheiten gleichkäme, oder nach dem ganzen Anti-Aging-Rummel, um den sich inzwischen ganze Heerscharen von Wissenschaftlern und Quacksalbern aller Couleur gebildet haben; der Blick bleibt stets auf die necessitas naturae gerichtet, weil jene »Konfrontation mit dem Unvermeidlichen« bereits als »Teil von dessen Überwindung« (ebd., S. 321) anzusehen ist. Zu Recht weist daher auch Prisching (2003, S. 255 ff.) auf die Gefahren »einer allenthalben durchdringenden und aufdringlichen Jugendlichkeitsideologie« Rosenmayr führt hier mit Recht den Tithonos-Mythos ins Feld, in dem die Ausweglosigkeit des Strebens nach Unsterblichkeit am deutlichsten zum Vorschein kommt. Vgl. Hillman 2004, S. 66. Solchem Unsterblichkeitsstreben fehlt es freilich nicht »nur« an Weisheit: Wenn sich heutige Wissenschaftler allen Ernstes sogar anschicken, Altern »umzukehren«, weil es manchen nicht mehr genügt, dasselbe »bloß aufzuhalten«, dann zeigt das übrigens auch, wohin einer von allen guten Geistern verlassener Forschungstrieb führt, und wie Recht Schopenhauer mit folgender Feststellung hatte: »Denn natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand« (Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 7, S. 104). Bildung, d. h. reiner Wissenserwerb, wird nach wie vor als Patentrezept für alle möglichen Probleme gesehen, im naiven Glauben, sie führe schon irgendwie zu gesundem Menschenverstand, obwohl die »Wirkungen« dieses engstirnigen Bildungsideals »nun vor aller Augen liegen« (Jost 1984, S. 20).

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hin: Ältere, die diesem »Infantilisierungsdruck« unterliegen und sich dem Joch des Zeitgeistes beugen, wenigstens »so zu tun, als ob sie noch jung wären«, nehmen sich damit nicht nur die Chance, geistig zu reifen, sondern tragen m. E. in gewisser Weise auch zur »Stigmatisierung« und »Entwertung« des Alter(n)s mit bei, da sie ja keinen sonderlich würdigen, souveränen »Alterslebensstil« an den Tag legen. 25

Zur Steuerbarkeit allgemeiner Alternsprozesse Das Alter(n) an sich als necessitas naturae anzunehmen, bedeutet jedoch keineswegs, sich gehenzulassen, d. h. Körper und Geist zu vernachlässigen und dadurch in Lethargie oder Passivität zu verfallen. Auch wenn es wie die Endlichkeit des Lebens etwas Naturgegebenes darstellt, so ist nicht jede Veränderung im Alter(n) naturnotwendig und gänzlich unbeeinflussbar ist. 26 Um aber auf das Altern Einfluss nehmen und es steuern zu können, ohne dabei Gefahr zu laufen, es als Naturgesetz entweder nicht wahrhaben oder schlimmstenfalls ganz außer Kraft setzen Was »ein würdiger Alterstil« (Prisching 2003, S. 256) ist, lässt sich natürlich nicht leicht beantworten. Für Cicero wäre dieser ohne auctoritas unvorstellbar (cf. Cato maior XVII, 61-XVIII, 64); ebenso stehen jenem, wie in De senectute gesehen, negative Charaktereigenschaften grundsätzlich im Weg (Cato maior XVIII, 65). Nach Schopenhauer haben ältere Menschen zwar ausnahmslos ein Anrecht darauf, rücksichtsvoll behandelt zu werden; Achtung im Vollsinn des Wortes kann man ihnen jedoch nur dann entgegenbringen, wenn sie ein rechtschaffenes Leben geführt sowie eine ihrem Lebensalter entsprechende geistige Reife erlangt haben und infolgedessen schon durch die eigene Person würdevoller auftreten. Ebenso Ebeling 1999, S. 64. 26 Man kann mit Rosenmayr (2007, S. 229) nicht oft genug auf folgende Grundwahrheit hinweisen: »Altern ist nicht an sich gestaltbar, das Handeln, die Aktivitäten sind gestaltgebend und wirken so auf den Alternsprozess ein. Sie vermögen ihn zu modifizieren«. Siehe ebenso Kuhlmey, Mollenkopf & Wahl 2007, S. 266: »Auch wenn Altern ein physiologisches Geschehen ist, heißt das nicht, dass dieser Prozeß unveränderlich ist«. 25

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zu wollen, muss man zuerst Einblick in die Gesetzmäßigkeiten allgemeiner Alternsprozesse gewinnen. 27 In der Kenntnis grundlegender physiologischer Gesetzmäßigkeiten sowie im Wahrnehmen und Erkennen der »Steuerungsprozesse« (Rosenmayr 2004, S. 15) liegt daher ein weiterer wichtiger Aspekt für eine reifere Einstellung dem Alter(n) gegenüber. Erst die »Einsicht in die Macht der ›Natur in uns‹«, ihre »Anerkennung und letztlich die Einwilligung in die Prozesse des Alterns« ermöglicht somit eine »auf Gestaltung hin orientierte Grundhaltung« (ders. 2007, S. 36). Hierbei geht es selbstverständlich nicht darum, mit allen Mitteln gegen einen vermeintlichen physischen wie psychischen Niedergang anzukämpfen: Dass sich Menschen im Laufe ihres Lebens verändern und im Alter dann nicht mehr über die gleiche körperliche Widerstandskraft wie in ihrer Jugend verfügen (Dichgans 2008), darf im Allgemeinen als necessitas naturae bezeichnet werden; 28 fest steht aber seit langem ebenso, dass »innere und äußere Bewegung« (Rosenmayr 2007, S. 2), also »kontinuierliche körperliche und geistige Aktivität«, sowie »ausgewogene Ernährung« negative Entwicklungen im Alter so weit eindämmen können (Viidik 2003, S. 21), dass überhaupt neue Kräfte entstehen können, sonst würden sich heutige Alter(n)swissenschaftler weder wieder auf jene »alte Weisheit« (Oswald 2008, S. 4) berufen – was ja im Grunde weniger eine Frage von Weisheit ist, sondern vielmehr eine des gesunden Menschenverstandes –, noch suchten sie nach geeigneten Möglichkeiten zur positiven Beeinflussung der Alternsprozesse und erforschten die Potentiale des Alters, obschon, wie gesehen, eine

Obgleich es Menschen auszeichnet, »reflektieren zu können« (Welsch 2001, S. 21), so kann sich niemand der condicio humana entziehen; auch als animal rationale bleibt jeder den Naturgesetzen unterworfen, oder anders formuliert: Erst durch ihre Akzeptanz legt man Zeugnis von seiner »Vernünftigkeit« (ebenda) ab. 28 Zur Multidimensionalität und -direktionalität bzw. zur Unterscheidung zwischen normalem und pathologischem Altern siehe Gunzelmann 2008. 27

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weisheitliche Betrachtungsweise dabei viel zu weit ins Hintertreffen geraten ist. Dass sich Alterungsprozesse positiv beeinflussen lassen – wenngleich das Alter(n) an sich als Naturnotwendigkeit zu akzeptieren ist, um es überhaupt bewältigen zu können – und sie bis zu einem gewissen Grad steuerbar sind, älter werden also keinesfalls von vornherein bedeutet hinfällig zu werden, wurde sowohl von Cicero (cf. Cato maior X, 34 – XI, 38) als auch von Schopenhauer mit Nachdruck herausgestellt, der ja selbst »bis zum Schluss hochproduktiv war« (Appel 2007, S. 240). Ihre Werke sind auch deshalb so wegweisend, weil sie ebenso jüngeren Lesern die Potentiale des Alter(n)s deutlich vor Augen führen und daneben Auskunft darüber geben, wie es schon vor dem Alter möglich ist, sein Leben »selbstschöpferisch« (Bartling 1996, S. 14) zu führen, damit sich ein geistiger Reifungsprozess entfalten kann, der im höheren Alter in Weisheit, d. h. in der Kraft des Geistes gipfelt, das Daseins überwinden zu können. Man sollte ohnehin dem Umstand mehr Beachtung schenken, dass die Lebensweise vor dem Alter eine genauso große Rolle spielt: Trieb jemand beispielsweise zeitlebens mit seiner Gesundheit Raubbau, ließ Körper und Geist verkümmern, werden negative Folgen für den gesamten Organismus nicht ausbleiben und spätestens im Alter hervortreten (Rosenmayr 2007, S. 87); dann gestaltet sich auch die Bewältigung des Alter(n)s mit all seinen vielfältigen Veränderungen schwieriger. 29 Deswegen haben Cicero und Schopenhauer das Alter nicht isoliert betrachtet, sondern als Teil des ganzen Lebens gesehen und mit der bisherigen Lebensführung des Menschen in Beziehung gesetzt, die stets auch Ausdruck seiner Individualität bzw. seines Charakters ist. Wie gut man mit dem eigenen Alter(n) zurechtkommt, hängt folglich nicht nur vom jeweiligen Lebenswandel Böhmer (2003, S. 101) fordert daher, »mit entsprechenden Aufklärungsaktionen […] bereits in jüngeren und mittleren Lebensjahren […] zu beginnen«. Vgl. Rieder 2003, S. 80–82, sowie Rott & Wozniak 2008, S. 220 ff.

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im Alter ab, sondern ebenfalls von früheren Lebensgewohnheiten. Dass Körper und Geist ein Leben lang gefordert sein wollen, um leistungsfähig zu bleiben, stand schon für beide Philosophen außer Frage und wird heute von niemandem mehr in Zweifel gezogen. 30 Cicero gibt konkrete Ratschläge, die wissenschaftlicherseits als Primärprävention – d. h. Gesundheitsförderung und -vorsorge vor dem Eintritt einer Erkrankung (Böhmer 2003, S. 100 f.) – bezeichnet werden: Gedächtnistraining (Cato maior VII, 21), maßvolle Leibesübungen und gesunde Ernährung (ib. XI, 35/36). Wenn es somit durch eigenes Bemühen möglich ist, auch im höheren Alter körperlich wie geistig beweglich zu bleiben, und jeder selbst etwas zum Erhalt seiner körperlichen wie geistigen Kräfte beitragen kann, dann muss man mit Rosenmayr (2007, S. 4) die Frage, ob dahinter lediglich »ein Idealismus für Eliten« steckt, eindeutig verneinen – Catos Vortrag richtete sich ja auch nicht an einen elitären Kreis (cf. Cato maior III, 8) – und gleichzeitig die »Selbstverantwortung des Einzelnen nicht nur für die Gestaltung seines Lebens, sondern auch für die Erhaltung seiner geistigen und körperlichen Gesundheit« (Böhmer 2003, S. 101) betonen. 31 Obwohl das Defizitmodell des Alter(n)s längst widerlegt ist, wird leider weiter recht undifferenziert von einer generellen Abnahme der Kräfte im Alter gesprochen (z. B. Welsch 2001, S. 23), was nicht nur falsch ist, da man weder der intra- und interindividuellen Variabilität (Oswald 2008, S. 3) noch der Möglichkeit von Kompensation (Gunzelmann 2008, S. 73/74) Rechnung trägt, sondern m. E. sogar kontraproduktiv, weil dadurch die Chancen des Alter(n)s verdeckt werden, die es zu bedenken bzw. zu ergreifen gilt. 31 Vgl. Lang 2007, S. 308: »Die Selbstverantwortung des Alters bezieht sich hier auf das Wissen über und die Einsicht in die Willkürlichkeit vieler Bedingungen des eigenen Alterns und die damit verbundenen Implikationen und Folgen für die eigene Lebensgestaltung«. Obgleich »die gegebenen Ressourcen für ein möglichst gesundes Altern noch nie so gut gewesen« sind »wie heute« (Kuhlmey, Mollenkopf & Wahl 2007, S. 269), heißt das allerdings noch lange nicht, dass diese auch genutzt bzw. in angemessener Weise genutzt werden, siehe dazu Rosenmayr 2007, S. 90: »Trotzdem wird durch die Unfähigkeit, hinsichtlich Ernährung, Genussmittelkonsum und 30

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Altern als geistige Weiterentwicklung Bis jetzt ging es vorwiegend darum, körperliche wie geistige Grundfunktionen durch entsprechende Verhaltensweisen und vorbeugende Maßnahmen auch im höheren Alter aufrechtzuerhalten, also allgemeine Alternsprozesse zugunsten des »Gesamtorganismus, seiner Erhaltung und laufenden Reparatur« (Rosenmayr 2007, S. 15) positiv zu beeinflussen; doch selbst wenn »die neurologischen Funktionen einigermaßen intakt bleiben«, »Schmerzen und Krankheit oder psychosomatische Leiden nicht Denken und Fühlen blockieren« (ebenda, S. 210) sowie damit eine ausreichende alltagspraktische Kompetenz gewährleistet ist, befähigt das Menschen noch längst nicht dazu, ihr Leben geistig reifer zu führen. Zu Recht unterstreichen daher Kolland & Rosenmayr (2007, S. 215), »dass Gesundheit kein Ziel an sich, sondern ein Mittel ist, um Ziele und Zustände zu erreichen und um so innerlich bejahte Wege überhaupt oder besser gehen zu können«. Hierzu gehört notwendigerweise mehr als nur die Bewahrung von »Selbstständigkeit und Alltagskompetenz« (Oswald 2006, S. 333). 32 Neben der »ÄnderungsfähigBewegung kontrolliert zu leben, die individuelle Gesundheit massenhaft missachtet. Bei aller, z. T. mediengestützten Aufklärung, dauern schwere Schädigungen an. Die Konsumwelt überrollt asketische Tendenzen mit salutogenem Charakter«. Kuhlmey, Mollenkopf & Wahl (2007, S. 265 ff.) weisen zudem ausdrücklich darauf hin, dass »die Reduktion von Gesundheitsrisiken (wie z. B. Nikotinverzicht, Abbau von Übergewicht) das Krankheitsrisiko […] selbst dann« verkleinert, »wenn eine solche Änderung des Gesundheitsverhaltens erst im höheren Lebensalter stattfindet« (S. 269). Ebenso Rott & Wozniak 2008, S. 228. 32 Zur Alltagskompetenz im Alter siehe z. B. Wahl 2002, S. 67 ff. Gegen eine simple Altersaktivität hat auch Prisching (2003, S. 267) plädiert: »Aber der Aktivismus der Älteren darf nicht als Verallgemeinerung des Leistungsprinzips bis in die letzte Lebensminute verstanden werden, nicht als Prinzip des vollzuhaltenden Terminkalenders, bis man in den Sielen umfällt. Diese ›vita activa‹ ist durchaus getragen von einer ›vita contemplativa‹, in der auch ein leises Gefühl erwachsen kann, man hätte vielleicht schon ein wenig früher inmitten all der Hektik Inseln der Besinnung aussparen sollen.

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keit«, die zweifellos »eine wichtige Voraussetzung für die Gestaltungsfähigkeit« (Rosenmayr 2007, S. 44) darstellt, muss ebenso die Fähigkeit »zu nachhaltiger Selbstbesinnung und meditativer Grundhaltung« (ders. 2004, S. 16) hinzukommen, was allerdings schon im Keime erstickt wird aufgrund »der vergnügungsorientierten Erlebniskultur unserer Zeit«, wo eine Vielzahl von »Menschen mehr nach gefühlsintensiver Abwechslung und äußeren Zerstreuungen suchen als nach innerer Sammlung und einsamer Muße« (Wetz 2004, S. 43). 33 Ohne dieses kontemplative Moment säße man jedoch seine Lebenszeit lediglich in geistiger Passivität ab, würde gleichsam gelebt werden, anstatt selbst zu leben (vgl. Achenbach 2003, S. 64), und wäre zudem viel eher der Langeweile ausgesetzt, was sich sogar bis zum Lebensüberdruss (taedium vitae) steigern kann – ein Gemütszustand, der keine ars vivendi zulässt, ganz zu schweigen von der Aussicht, im Laufe der Jahre reifer zu werden. Dies ist sicher mit ein Grund, warum heute viele Menschen in eine regelrechte »Zeitfalle« geraten, denn die durch die demographische Entwicklung gewonnenen Jahre »werden nur an das bißchen Diesseits angestückelt« (Prisching 2003, S. 268). Prisching (ebenda) spricht deshalb zu Recht von »einer unglaublichen Verkürzung der Lebenszeit« trotz gestiegener Lebenserwartung. Um wertvolle Lebenszeit so zu nutzen, dass jene gewonnenen Jahren zur wirklichen geistigen Weiterentwicklung werden, muss man auch im Alter etwas mit sich anzufangen wissen oder, wie es Schopenhauer formuliert, viel an sich selbst haben, um Das bedeutet, dass man wohl den Anschluss an diese Gesellschaft nicht verpassen soll, dass man aber in gewissem Sinne – und das ist keine Altersfrage – gegen diese Gesellschaft auch anleben muss«. 33 Mit »unersättlichem Weltverlangen« geht selbstredend ein »Gefühl wachsender Leere« und »ein emotionales Vakuum« (Wetz 2004, S. 45) einher. Rosenmayr (2007, S. 27) erinnert daher an »die doppelte asketische Kompetenz als Übung und Einschränkung« in körperlicher wie geistiger Hinsicht, die spätestens im höheren Alter schon »um unserer Gesundheit und Lebensfreude willen« vonnöten ist.

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eben das tun zu können, was der eigenen Reifung dient; wer hingegen wenig an sich selbst hat, wird sich nicht nur öfter langweilen, sondern kann geistig kaum reifen; so wird, wie in Ciceros Cato maior zu sehen war, schon das Alter an sich mehr als Last (onus senectutis) empfunden; auch mögliche Beschwerlichkeiten des Alters (molestiae senectutis) fallen dann umso stärker ins Gewicht: Das Beispiel Milons zeigte ja, wie sehr eine auf den Körper fokussierte Lebensweise die Akzeptanz der eigenen Vergänglichkeit verhindert und damit eine umfassende Bewältigung des Alter(n)s unmöglich macht; die Gefahr, ein ähnliches Schicksal wie Milon zu erleiden, ist, nebenbei bemerkt, durch den neuzeitlichen Körperkult heute keineswegs geringer geworden (Ebeling 1999, S. 79). Wenngleich es etliche »Beispiele von Kompetenzgewinn im Alter« gibt (siehe Lehr 2002, S. 47 ff.), können Lebensjahre allein kein Maßstab für geistige Reife und Lebensweisheit sein. 34 »Aus der Tatsache, dass man lebt, folgt«, Cf. Seneca De brevitate vitae 3, 2/3: »Ich will daher aus der Menge der Älteren irgendeinen herausgreifen: ›Wir sehen, du hast die äußerste Grenze menschlichen Lebens erreicht, hundert Lebensjahre oder mehr lasten auf dir. Wohlan, rufe dein Leben zur Berechnung zurück! Überschlage, wie viel von dieser Zeit der Gläubiger, die Geliebte, der Patron, der Klient geraubt hat, wie viel der eheliche Streit, die Bestrafung der Sklaven, das diensteifrige Hin- und Herlaufen durch die Stadt; füge die selbstverschuldeten Krankheiten hinzu; füge auch hinzu, was ohne Nutzen liegen blieb: du wirst sehen, dass du wenigere Jahre hast als du zählst. Erinnere dich wieder daran, wann du eines Planes sicher gewesen bist, wie wenige Tage abgelaufen sind, wie du es dir fest vorgenommen hattest, wann du Umgang mit dir selbst gehabt hast, wann der Gesichtsausdruck unverstellt, wann das Gemüt unverzagt gewesen ist, was du in einem so langen Leben tatsächlich zustande gebracht hast, wie viele dein Leben zerrissen haben, ohne dass du den Verlust bemerktest, wie viel vergeblicher Groll, törichter Freudentaumel, leidenschaftliches Verlangen, schmeichlerischer Umgang geraubt hat, wie wenig dir von dem Deinigen übrig geblieben ist: du wirst einsehen, dass du unreif stirbst‹« (Libet itaque ex seniorum turba comprendere aliquem: ›pervenisse te ad ultimum aetatis humanae videmus, centesimus tibi vel supra premitur annus: agedum ad computationem aetatem tuam revoca. Duc quantum ex isto tempore creditor, quantum amica, quantum rex, quantum cliens abstulerit, quantum lis uxoria, quantum servorum coerci-

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wie Wetz (2000, S. 27) richtig bemerkt, »nicht bereits, dass man es auch kann: Zu leben will gelernt sein«. Inwieweit dies im Alter gelingt, hängt natürlich ebenfalls ganz erheblich vom bisherigen Lebensstil ab, in dem sich ja die jeweilige Wesensart eines Menschen widerspiegelt: Cicero führt im Cato maior eine Reihe z. T. recht unterschiedlicher Persönlichkeiten im Sinne von »real gelebten Vorbildern« (Rosenmayr 2007, S. 212) ins Feld, die dank ihrer Individualität auch noch im Alter viel an sich selbst hatten, was sie wiederum vor Lethargie und Abstumpfung bewahrte; ihr Geist blieb rege und aufnahmefähig; neben Catos war insbesondere Solons Lebensweise das Musterbild eines auf geistige Fortentwicklung und Reifung ausgerichteten Daseins. Seine bekannte Maxime entspricht somit einer Geisteshaltung, welche erst zur »Freisetzung eigener Kräfte im Lebenslauf« (Rosenmayr 2007, S. 219) führt. 35 Von einer reiferen Lebensgestaltung sind dagegen diejenigen, die ihre Zeit mit irgendwelchen Albernheiten sinnlos verschwenden, sehr weit entfernt: Immanuel Kant berichtet etwa in seinem Antwortschreiben an Hufeland von alten Leuten, deren einziger Zeitvertreib »bloße Tändeleien« waren und »die mit dem Nichtstun immer vollauf zu tun haben«; ohne dieselben überfällt sie aber große Langeweile; wenngleich solche Leute laut Kant »gemeitio, quantum officiosa per urbem discursatio; adice morbos quos manu fecimus, adice et quod sine usu iacuit: videbis te pauciores annos habere quam numeras. Repete memoria tecum quando certus consilii fueris, quotus quisque dies ut destinaveras cesserit, quando tibi usus tui fuerit, quando in statu suo vultus, quando animus intrepidus, quid tibi in tam longo aevo facti operis sit, quam multi vitam tuam diripuerint te non sentiente quid perderes, quantum vanus dolor, stulta laetitia, avida cupiditas, blanda conversatio abstulerit, quam exiguum tibi de tuo relictum sit: intelleges te inmaturum mori.‹). 35 In dieser Beziehung geht es freilich weniger um »nutzenorientiertes Lernen«, sondern mehr um »eine Tätigkeit und Seelenorientierung als Selbstzweck« (Rosenmayr 2007, S. 230). Vgl. Veelken (2007, S. 224): »Wir lernen nicht für andere, eigentlich auch nicht für das Leben, sondern für unseren eigenen Entwicklungsprozeß, vom Beginn des Lebens bis zum Ende. Lernen und Reifen sind aneinander gebunden, das gilt lebenslang«.

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niglich auch alt« werden, 36 so kann in ihrem Fall von einer souveränen Daseinsgestaltung und geistigen Reife keine Rede sein, geschweige denn von einer wirklichen Lebensbewältigungskompetenz, wird ihnen doch ihr Dasein buchstäblich zur unerträglichen Last (taedium vitae), sobald sie es mangels äußerer Ablenkung nur mit sich selbst zu tun haben und dann nichts als innere Leere vorfinden. Zu solch einer zeitvergeudenden, ziellosen Lebensweise werden Menschen heutzutage mit dem »Potenzieren der Bedürfnisse im technischen Kanon der Erfüllungsmöglichkeiten« (Gessmann 1997, S. 5/6) tendenziell noch stärker animiert: Unverkennbar schüttet der Zeitgeist »ständig Öl in das Feuer des noch mehr Wollens« (Spierling 1998, S. 218). 37 Daher ist Rosenmayr (2007, S. 206/207) sicherlich beizupflichten, wenn er die »Auseinandersetzung des Ich mit sich selbst« gegenwärtig »durch Außeneinflüsse der Konsumwelt zurückgedrängt« sieht; dem modernen Menschen bleibt ja gar nichts anderes übrig, als »Spaß zu suchen«; doch die ihm »von der Konsumwelt und der Werbung« offerierten »Elemente von neuen Pseudo-Ich-Idealen« können weder lebensweisheitliche Orientierung bieten, noch geben sie ihm die »für die Metamorphosen, die Anpassungen und Umgestaltungen nötigen Kontinuitäten, die das Ich reifen lassen«, obwohl dies mit den Jahren immer wichtiger wird, damit das Dasein eben keine reine Zeitverschwendung darstellt und sich im Alter eine hohe geistige Reife herausbilden kann. Cicero hatte diesen wesentlichen Aspekt bereits mit der Widerlegung des ersten Anklagepunktes gegen das Alter im übertragenen Sinne zum Ausdruck gebracht (cf. Cato maior VI, 17): Spätestens im höheren Alter sollte man gleichsam zum Steuermann seines Lebens geworden sein und sich nicht mehr auf der Siehe Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Dritter Abschnitt, S. 102/103. 37 So wird man nach wie vor nicht so leicht jemanden finden, der wüsste, wie er anfing zu wollen, was er will (cf. Seneca 37. Brief, 5: Neminem mihi dabis qui sciat quomodo quod vult coeperit velle). 36

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Stufe unerfahrener Matrosen befinden, die »auf dem Oberdeck stehen und Befehle brüllen« (Hillman 2004, S. 125), dabei aber weder die höhere Kunst des Navigierens, d. h. die Lebenskunst (ars vivendi), beherrschen noch das Reiseziel kennen, 38 ein Grundgedanke, der schon im Motto des 6. Kapitels von Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit zum Ausdruck kam: Ohne entsprechende geistige Reife wird das Alter zum misslichen Lebensabschnitt, vor allem deswegen – so wäre zu ergänzen –, weil dann das eigentliche Daseinsziel weiterhin im Unklaren bleibt, die Lebensführung sich darauf auch nicht ausrichten lässt und man mangels Kultivierung des Geistes dessen Früchte in Form von Lebensweisheit (sapientia) und -sättigung (satietas vitae) nicht ernten kann; konnte man dagegen nach langen Jahren eine hohe geistige Reife erlangen, vermag man sein Leben eigenständiger, sinngerechter zu gestalten und hält im Alter sozusagen das Ruder selbst in der Hand, so kann Kurs auf den Zielhafen des Lebens genommen werden. Beide Philosophen haben außerdem gezeigt, dass mit dieser Reife ebenso geistige Freuden an Bedeutung gewinnen, 39 was sich auf die LebensfühCf. Seneca De brevitate vitae 9, 4/5: »Immer noch kindisch im Geist überrascht sie das Alter, das sie unvorbereitet und ungerüstet erreichen. Nichts wurde nämlich im Voraus bedacht: Ahnungslos sind sie plötzlich in das Alter hineingeraten; dass es Tag für Tag näher rückte, merkten sie nicht. Wie eine Unterhaltung, Lektüre oder angestrengtere Überlegung Reisende die Zeit vergessen lässt und sie nicht merken, dass sie sich ihrem Reiseziel nähern, bevor sie angekommen sind, so ist den mit Oberflächlichkeiten Beschäftigten dieser ununterbrochene und äußerst schnelle Weg des Lebens, den wir als Wache und im Schlaf gleichen Schrittes durchlaufen, nicht bewusst außer am Lebensende« (Quorum puerilis adhuc animos senectus opprimit, ad quam inparati inermesque perveniunt. Nihil enim provisum est: subito in illam necopinantes inciderunt, accedere eam cotidie non sentiebant. Quemadmodum aut sermo aut lectio aut aliqua intentior cogitatio iter facientis decipit et pervenisse ante sciunt quam adpropinquare, sic hoc iter vitae adsiduum et citatissimum, quod vigilantes dormientesque eodem gradu facimus, occupatis non apparet nisi in fine.). Vgl. dazu auch Ebeling 1999, S. 11 ff. 39 Das gilt natürlich insbesondere für die Philosophie, siehe Geyer (112006, 38

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rung positiv auswirkt, weil herkömmliches Genuss- und Glücksstreben den Menschen erwiesenermaßen nicht dauerhaft zufriedenstellen kann, ihn vielmehr hinters Licht führt oder, um im Sinnbild zu bleiben, aufs offene Meer hinaustreibt; Schopenhauer hat dieses Gaukelspiel, bei dem der »Glücksfall« schnell zur »Glücksfalle« wird (Wetz 2004, S. 44), zweifellos am prägnantesten entlarvt.

Lebenssättigung als Ziel geistiger Reifung Bislang standen die Vorbedingungen für eine reifere Denk- und Lebensweise zur Debatte: die Akzeptanz des Alter(n)s an sich als Naturnotwendigkeit und integrierender Bestandteil des Lebens, die Pflege von Körper und Geist durch gesundheitsbewussteres und überlegteres Verhalten sowie eine selbstständige, geistige Reifungsprozesse begünstigende Lebensgestaltung. Diejenigen, die dies in den Wind schlagen oder wenig bis gar kein Verständnis dafür haben, nehmen im Laufe ihres Lebens zwar an Jahren zu, aber nicht an geistiger Reife; hier muss man mit Rosenmayr (2003, S. 326) dann lediglich von sogenannten »langlebigen Menschen« sprechen, die es gewiss schon immer gab und geben wird. 40 Doch angesichts des heute grassierenden Jugendwahns S. 237): »Die Beschäftigung mit der Philosophie ist nicht wegen der ihrem Jünger zuteil werdenden wirklichen Erkenntnis so wesentlich für jeden, der sich selbst einmal zum Objekt des Staunens und des Zweifelns geworden ist. Das Ziel ist unerreichbar; der Jünger der Weisheitslehre aber lernt verstehen, warum es unerreichbar ist, und wirft mit seinen Irrtümern und Vorurteilen einen erfreulich hohen Lebensballast über Bord. Nicht das Ziel, der Weg zum Ziel, die Wanderung dem Höhengrat menschlicher Geistesklarheit entgegen, diese sind es, die unverlierbaren Gewinn und die sublimste innere Glücksempfindung schenken können, in der Form des intellektuellen Genusses«. 40 Cf. Seneca De brevitate vitae 7, 10: »Man darf daher nicht glauben, jemand habe wegen seines grauen Haares oder seiner Falten lange gelebt: jener hat nicht lange gelebt, sondern ist nur lange da gewesen« (Non est

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und anderer verheerender Volksverdummungen ist es künftig nicht mehr »nur« zu befürchten, dass sich diese Spezies so stark ausbreitet, dass »der Homo sapiens durch den Homo longaevus« immer mehr »als neuer Typus abgelöst« wird (Rosenmayr 2007, S. 351); der drohende Verlust jenes den Menschen eigentlich auszeichnenden Adjektivs (sapiens) lässt sich – sofern selbiges nicht längst verlorenging – m. E. schon deswegen schwerlich verhindern, weil das heute offenkundige Missverhältnis »zwischen Weltbindung und Weltdistanz« (Wetz 2004, S. 37), d. h. viel zu viel gedankenlose vita activa und viel zu wenig vita contemplativa, »nicht nur ein Problem der Älteren, sondern auch eines in den Jahrzehnten davor« ist (Prisching 2003, S. 266). Das Vorherbedenken des Alters (praemeditatio senectutis), das Bedenken des Alterns (memento senescere) müsste daher im Interesse eines jeden liegen, denn die »Fähigkeit«, »sein Leben als ein begrenztes zu sehen und auf diese Einsicht mit Selbstbegrenzung zu reagieren« (Rosenmayr 1990, S. 37), entsteht natürlich nicht von heute auf morgen; dafür bedarf es eines bereits im Erwachsenenalter mit mehr Selbstbesinnung und Nachdenklichkeit geführten Lebens, ja überhaupt eines schon frühzeitig entwickelten, tiefgründigeren Bewusstseins dafür, »dass ein sorgenfreies Leben auf Erden unmöglich ist«, um wenigstens »die Balance zu finden auf dem schmalen Grat zwischen Lebenslust und Weltverzicht« (Wetz 2004, S. 38/39). Ist das nicht der Fall, dann können in dieser Hinsicht auch all die »basalen« und »erweiterten« Kompetenzen (Kruse 2006, S. 32/33), um deren Förderung sich die Gerontologie bemüht, kaum Abhilfe schaffen und auf die Schnelle eine höhere geistige Reife im Alter herbeiführen, die man ja dann längst erreicht haben sollte. Denn trotz aller Anstrengungen, die »Wahrscheinlichkeit« möglicher »Einschränkungen eines selbständigen, sinnerfüllten und befriedigenden Lebens im Alter« (Kaiser 2008, S. 116) zu itaque quod quemquam propter canos aut rugas putes diu vixisse: non ille diu vixit sed diu fuit).

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verringern sowie die Bedingungen für solche »Muster«-Existenzen wie das »erfolgreiche Altern« zu erforschen und Ältere dazu zu animieren – obwohl sie sich als wirklichkeitsfremd erweisen –, bleibt es letzten Endes jedem selbst überlassen, sein Leben so zu führen, dass es für ihn wirklich erfüllend und erfüllt ist; 41 im Übrigen darf man doch erwarten, dass jeder einigermaßen Besonnene nach einem längeren Leben selbst am besten weiß, was ihm persönliche Zufriedenheit verschafft, und mancher den »vielleicht sogar […] sehr guten und tiefen« Sinn des Alter(n)s »zu verstehen und sich um seine Verwirklichung zu bemühen« gelernt hat (Guardini 101986, S. 90), sich also diesbezüglich von (jüngeren) Alter(n)swissenschaftlern nicht eines Besseren belehren lassen braucht. Dann ist es auch irrelevant, was man aus wissenschaftlicher Sicht alles unter »Lebensqualität, Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden« (Rupprecht 2006) im Alter en détail versteht, zumal dabei der Kerngedanke einer allumfassenden Bewältigung des Lebens bzw. Alter(n)s durch satietas vitae und sapientia meist fehlt. Doch auf ebenjene »Einsicht und […] Einwilligung in die Endlichkeit« (Rosenmayr 1990, S. 79) kommt es letztendlich an; nur so kann »die Wahr»Wir sind auf uns selbst angewiesen«, wie Imhof (1996, S. 213) mit Blick auf eine ars moriendi betont, die eigentlich eine ars vivendi ist, weil es primär darum geht, »erfüllt zu leben« (ebenda, S. 216). Rosenmayrs (2003, S. 13) Appell richtet sich deshalb an den Einzelnen: »Versuche trotz aller möglicher Einschränkungen, die Dir im Alter durch körperliche Gebrechen, durch Enttäuschungen und Schwächen auferlegt werden mögen, Dein Leben zu gestalten. Du sollst Dein Leben selber »führen« und diese Führung weder konkreten Anderen noch anonymen sozialen Kräften überlassen. Führungskräfte über sich selber im späten Leben zu erhalten, kostet bei Krankheit oder Unfällen oft enorme Energie. Aber so bleibt Dir ein Stück Autonomie, bleibt Dir innere Freiheit, die Dich beglückt oder zumindest stützt. Dies kann man durchaus auch im Rahmen persönlicher innerer Bescheidenheit kultivieren«. Allerdings ist ohne »gewisse soziale Grundbedingungen und Sicherungen« (Rosenmayr 2007, S. 239) weder ein würdevolles Alter(n) möglich (vgl. Loewy 2003, S. 126), noch kann eine umfassende Bewältigung des Alter(n)s gelingen, worauf sowohl Cicero, als auch Schopenhauer hingewiesen haben.

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nehmung dieser unserer Endlichkeit zugelassen und ins Selbstgefühl aufgenommen« werden (ebenda, S. 28); darin liegt vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet das Lebensziel schlechthin und niemand als der Einzelne selbst besitzt die geistige Kraft, auf seinem ganz persönlichen Lebensweg und durch seine ureigenen Erfahrungen zu jener höchsten Form menschlicher Reife zu gelangen. Dies hat auch die Analyse von Ciceros und Schopenhauers Werken ans Licht gebracht: Das Leben bietet grundsätzlich jedem die Möglichkeit, im Laufe der Jahre lebensweiser zu werden und somit lebensgesättigter zu sein, was unbestritten seine Zeit dauert; Menschen benötigen, bildlich gesprochen, die »Jahre des Alterns, um zu packen und sich auf den Weg zu machen« (Hillman 2004, S. 243); in jenem geistigen Loslösungsprozess, der uns zur Lebensweisheit und -sättigung führt, liegt demzufolge die zentrale »Chance der Langlebigkeit« (Rosenmayr & Böhmer 2003, S. 10), die man erkennen und nutzen muss, um nicht auf halber Strecke stehenzubleiben, sondern in Weisheit zu altern; altern, ohne sich geistig allmählich vom Dasein zu lösen, wäre nur zielloses Anhäufen von Lebensjahren, was heute aber zum Hauptdaseinszweck zu werden droht, ist doch schon jetzt in der Lebensweise viel zu vieler weder eine Spur von sapientia noch von satietas vitae erkennbar. Der Cato maior und die Aphorismen weisen dagegen einen Ausweg aus dieser Sackgasse bzw. einen Weg zum philosophischen Lebensziel – auch und gerade Jüngeren, die dahintergekommen sind, dass menschliches Leben mehr als nur physische Bedeutung hat, und denen es um tiefgründigere lebenspraktische Orientierung geht, so dass sie bereits vor dem Alter ihre Lebensführung darauf ausrichten und allmählich eine weisheitliche ars vivendi an den Tag legen können. 42 Die Aphorismen zur Lebensweisheit gehören selbstDamit ist die Fähigkeit gemeint, sein Leben mit allen Höhen und Tiefen meistern zu können, anstatt es sich nur möglichst angenehm und glücklich gestalten zu wollen wie gewöhnliche Lebenskünstler (siehe Achenbach

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redend nicht nur »zu den literarischen Glanzstücken des älteren Schopenhauer« (Spierling 1998, S. 205), sondern sind auch zusammen mit Ciceros Cato maior ohne Frage noch immer als Standardwerk in puncto Lebensweisheit zu bezeichnen; abgesehen davon, welch entscheidende Rolle insbesondere das 6. Kapitel (Vom Unterschiede der Lebensalter) für das Verständnis der Aphorismen sowie der Philosophie Schopenhauers insgesamt spielt und was Ciceros Intention in De senectute ist, hat die vorherige Untersuchung ebenso gezeigt, wie eng die Begriffe Lebensweisheit (sapientia) und Lebens- bzw. Willenssättigung (satietas vitae resp. voluntatis) miteinander verbunden sind, dass sie sich gegenseitig ergänzen und bedingen: Ohne diese, im Laufe des Lebens zunehmende Sättigung könnte man genauso wenig lebensweiser werden wie lebensgesättigt sein ohne ein hohes Maß an Lebensweisheit; man wäre höchstens des Lebens überdrüssig (cf. taedium vitae). Schopenhauers großes Verdienst ist es dabei, die in den Aphorismen dargelegten Maximen in Beziehung zur lebenslangen geistigen Entwicklung des Menschen gesetzt zu haben, die im Alter ihren Gipfelpunkt finden kann. Hiermit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die menschlichen Lebensalter eine in sich geschlossene Entwicklungseinheit darstellen und erst die Erfahrungen eines langen Lebens sowie die damit einhergegangenen, langjährigen Lernprozesse zur Weisheit in Form von einer hohen geistigen Reife im Alter führen, was sich eben auch und vor allem durch Willenssättigung äußert; von dieser lebens- respektive willensgesättigten Grundhaltung sind junge, unreife Menschen noch meilenweit entfernt (siehe Prisching 2003, S. 258), sollten sie noch so intelligent, begabt und gebildet sein; sie können aber auch 2010, S. 105–113). Wer dagegen durch eigene, langjährige und sicherlich auch leidvolle Erfahrungen den Lauf des Lebens immer mehr zu durchschauen lernt, dessen Lebenshunger wird sich, sofern er dann auf keine irdischen Blendwerke mehr hereinfällt und sich in ihm ein geistiger Reifungsprozess in Gang gesetzt hat, so weit in Grenzen halten, dass er spätestens im Alter innerlich freier und daseinsgesättigter leben kann.

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schon deswegen nicht als lebensweise bezeichnet werden, weil ihnen die Erfahrungen eines ganzen, alle Altersstufen umfassenden Lebens fehlen, um einen tieferen Einblick nicht nur in das eigene, sondern ins Daseins überhaupt zu haben. Diesem, für das Verständnis von Weisheit so wesentlichen Zusammenhang zwischen Lebensweisheit und -sättigung schenkt die heutige wissenschaftliche Literatur so gut wie keine Beachtung. Nur Rosenmayr (2007, S. 35) kommt, wenngleich mehr indirekt, darauf zu sprechen in seiner 1. These zu einer Philosophie des Alterns (»Das ›Sein-Lassen-Können‹ führt so zur ›Gelassenheit‹«) und verweist auf den daraus hervorgehenden lebenspraktischen Gewinn (»Nur wer einiges – vielleicht vieles – sein lassen kann, und das schließt Verzicht ein, gewinnt Gestaltungskraft«), der im »unbeirrbaren Bei-sich-Sein« besteht. Erfahren und lebensgesättigt ist man nämlich viel eher imstande, ein den Prinzipien praktischer Lebensweisheit gemäßes und damit geistig unabhängigeres Leben zu führen (ars vivendi). Für diese ausgewogene Form von Gelassenheit 43 bedarf es ohne Zweifel einer gewissen Illusionslosigkeit oder, anders ausgedrückt, einer innerlich gefestigten Abgeklärtheit, von der Ebenso Rosenmayr 2004, S. 17. Prisching (2003, S. 252/253) hat diese Grundhaltung folgendermaßen zusammengefasst: »Denn Gelassenheit ist weder Ignoranz noch Passivität; der Gelassene bewahrt den Gleichmut, weist Beharrlichkeit auf, wehrt sich gegen die großen emotionellen Pendelschläge; er setzt vielen Dingen auch verminderten Widerstand entgegen: nicht weil sie ihm gleichgültig wären, nicht weil er nicht betroffen würde von den Ereignissen, nicht weil er die Sicherheit der jederzeitigen Überlegenheit hat, nicht weil er in den Fatalismus gleitet; – sondern weil er weiß, dass er zwar in mannigfacher Gefährdung steht, aber auch die Gefährdungsabwehr ihre Grenzen hat; weil er weiß, dass Freude und Jubel irgendwann erlöschen und nicht auf Dauer zu stellen sind; weil er den Unterschied zwischen gerechtfertigter Beunruhigung und leerer Aufgeregtheit, zwischen nachhaltiger Freude und propagandistischer Übertreibung kennt«. Siehe dazu auch Rosenmayr 2003, S. 315, sowie Kolland & Rosenmayr 2007, S. 219: »Es scheint, wenn man über bloß oberflächliches ›Wellbeing‹ hinausgehen will, dass man dann ein Modell braucht, welches sowohl Gelassenheit als auch Selbstbestimmung einschließt«.

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bereits Schopenhauer im letzten Kapitel seiner Aphorismen sprach – ein zentraler Grundgedanke, der wiederum viel zu selten beachtet wird: »›Hinter der Welt‹, also jenseits der Täuschungen anzugelangen, ist der Anfang einer neuen Reifung« (Rosenmayr 2007, S. 45); denn nur dann können eigene Kräfte für ein geistig freieres und fruchtbares Alter(n) erwachsen, ohne dass man »in Gleichgültigkeit, Resignation oder Hedonismus« (ebenda, S. 226) abzugleiten droht oder aus Langeweile in die Verblödungsmaschinerie moderner Massenmedien gerät, die den menschlichen Geist buchstäblich zugrunde richtet. Zu sich selbst zu kommen, geistig reifer, lebensgesättigter und -weiser zu werden, ist somit die »große Aufgabe der späten Jahre« (Rosenmayr 2004, S. 23), ja des Daseins überhaupt, was man mit Bartling (1996, S. 20) nicht als »hartes und verbissenes Bemühen um die vernunftgemäße Gestaltung des eigenen Lebens« missverstehen darf, weil es sich eben um ein von »Zeit-Geduld« (ebenda, S. 18) geprägtes, »tat-sächliches Philosophieren« (ebd., S. 14) handelt, d. h. »aus einer Einheit von Philosophie und eigenem Leben heraus« (ebd., S. 46). Diese universelle Lebensaufgabe ist restlos erfüllt, wenn selbst die extrema studia senectutis so weit an Bedeutung verloren haben und nebensächlich geworden sind (cf. Cato maior XX, 76), dass das Lebensende im Alter nicht mehr als gewaltsamer Eingriff der Natur empfunden wird und keinen inneren Widerwillen mehr hervorruft (ibidem XXIII, 85), sondern als necessitas naturae oder vielleicht sogar, wie es Seneca (cf. Consolatio ad Marciam 20, 1) formuliert, als beste Erfindung der Natur (optimum inventum naturae) angenommen werden kann. Eine derart hohe geistige Reife ist keineswegs »unerreichbar« (Rosenmayr 2003, S. 323), wiewohl allgemeine, nur auf Wissen basierende Lern- und Bildungsprozesse, die eher Solons Wahlspruch zuzurechnen sind, natürlich niemals ganz zum Abschluss gelangen. 44 Denn ohne jene im Vgl. Schopenhauer, Paralipomena Kap. 28, § 376: »Für den praktischen Menschen ist das nötigste Studium die Erlangung einer genauen und

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fortgeschrittenen Alter erlangte Reife wäre es dem Menschen weder möglich, einen »Sättigungspunkt« (Rosenmayr 21991, S. 535) im Leben zu erreichen noch seine eigene Vergänglichkeit zu akzeptieren und sein Dasein infolgedessen tatsächlich zu voll-enden. 45 Sofern man also sein Leben so zu gestalten weiß, dass es im Alter von satietas vitae und sapientia gekrönt ist, dann ist es auch am Ende voller Sinn und Bedeutung.

gründlichen Kenntnis davon, wie es eigentlich in der Welt hergeht: aber es ist auch das langwierigste, indem es bis ins späte Alter fortdauert, ohne daß man ausgelernt hätte«. 45 Cf. Seneca 61. Brief, 1: »Wir müssen aufhören zu wollen, was wir gewollt haben. Ich bemühe mich doch wenigstens, als alter Mann nicht mehr dasselbe zu wollen, was ich als Knabe gewollt habe« (Desinamus quod voluimus velle. Ego certe id ago ne senex eadem velim quae puer volui), 93. Brief, 2: »Nicht dass man lange, sondern dass man genügend lebt, soll man Sorge tragen; denn um lange zu leben, bedarf es eines günstigen Schicksals, um gesättigt zu leben, ist Geist vonnöten. Das Leben ist lang, wenn es erfüllt und gesättigt ist; erfüllt und vollendet ist es aber, wenn der Geist sich sein eigenes Gut zurückgegeben und die Macht sich selbst übertragen hat« (Non ut diu vivamus curandum est, sed ut satis; nam ut diu vivas fato opus est, ut satis, animo. Longa est vita si plena est; impletur autem cum animus sibi bonum suum reddidit et ad se potestatem sui transtulit).

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In Weisheit altern – eine Lebensaufgabe

Aus den soeben aufgezeigten Wegen zur Lebensweisheit konnte man ersehen, dass es geradezu eine Lebensaufgabe darstellt, in Weisheit zu altern. Wir haben damit jetzt zwar Zugänge zur Weisheit aufgefunden, müssen es aber aus eigenem Vermögen fertig bringen, auf unseren unterschiedlichen Lebensläufen zu ihr zu gelangen, damit sie zur gelebten Weisheit bzw. Lebensweisheit wird. Wäre sie reines Wissen, ohne dass wir sie uns durch unsere eigenen Lebenserfahrungen selbst er-leben müssten, so hätten wir jene existenzielle Aufgabe längst erfüllt und bräuchten nicht mehr älter zu werden. Doch so verhält es sich natürlich keineswegs, denn auch wenn man diese Wege zur Weisheit eingeschlagen hat, dann wird man mit den Jahren zweifellos reifer und vermag sein Leben besonnener zu führen, hat aber allein dadurch noch nicht schon jene hohe geistige Reife erreicht, an der sich Weisheit in Form von Lebenssättigung erkennen lässt. Dafür muss unsere geistige Entwicklung nicht nur mit unserem Altern Schritt halten und unser Geist unserem jeweiligen Alter entsprechen, sondern es sind auch alle Altersstufen zu durchlaufen, bevor unsere weisheitlichen Bemühungen Früchte tragen können und sich im Alter ein heiter-gelöster, lebensgesättigter Gemütszustand einstellt. Wenngleich dies nicht in kurzer Zeit zu schaffen und hierfür vielmehr ein ganzes Menschenleben vonnöten ist, können und müssen wir, wie gesehen, viel selbst dazu beitragen, um im Laufe des Daseins weder allzu lebenshungrig zu bleiben noch das Leben irgendwann übersatt zu haben; im Grunde liegt es an uns, Lebensüberdruss zu vermeiden, wie bereits folgende rhetorische Fragen zeigen: Kann 173 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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etwa derjenige lebensgesättigt sein, der sich unter keinen Umständen von der trügerischen Hoffnung abbringen lässt, dass der Mensch irgendwann imstande sein wird, die Natur zu überlisten und das Alter(n) außer Kraft zu setzen? Oder vermag das der, dessen geistige Entwicklung frühzeitig stehengeblieben ist und der sich dann sein Leben lang auf dem Niveau eines jungen, unreifen Menschen befindet? Und ist es überhaupt sehr wahrscheinlich, dass derjenige ein höheres Alter erreichen wird, der die Steuerungsprozesse des Alter(n)s kurzerhand in den Wind schlägt? Um unsere Chancen zu erhöhen, im Alter Weisheit und Lebenssättigung zu erlangen, müssen wir also die vorher dargelegten, lebensweisheitlichen Kerngedanken in uns aufnehmen (cf. Seneca 59. Brief, 9) und »wirklich ernsthaft den Versuch machen, danach zu leben« (Capelle 1992, S. 77). Mit irgendwelchen Lebensüberdrussvermeidungsstrategien durch »irgendeine rasch aufgegriffene Beschäftigung« (Rosenmayr 1990, S. 97) oder (geronto-)psychologische Aktivierungsmaßnahme wird das auf längere Sicht allerdings kaum gelingen, schon deswegen nicht, weil niemand dauerhaft tätig sein kann und es im Leben immer wieder Zeitabschnitte geben wird, in denen man es nur mit sich selbst zu tun hat und sich dann sofort wieder Langeweile oder sogar Lebensüberdruss breitmacht, wenn der eigene Geist nicht viel hergibt. Dieses nach wie vor weitverbreitete ad interim-Leben ist m. E. eines der größten Hindernisse für ein Altern in Weisheit: »Das Leben jener ist am kürzesten und voller Unruhe, die Vergangenes vergessen, die Gegenwart vernachlässigen und denen angst und bange vor der Zukunft ist: Sind sie ans Lebensende gekommen, sehen diese armseligen Menschen zu spät ein, dass sie so lange beschäftigt gewesen sind, ohne etwas zu tun, ohne wirklich zu leben. […] denn wenn sie einmal keine Beschäftigung mehr haben und über Freizeit verfügen, dann geraten sie in Wut und wissen nicht, wie sie diese freie Zeit einteilen und verbringen

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sollen. Daher suchen sie irgendeine Beschäftigung und die ganze Zeit dazwischen ist ihnen eine schwere Last, […]«. 1

So verwundert es nicht, wenn Menschen, die jahraus, jahrein ad interim gelebt haben und somit »in falscher Weise alt geworden« sind, im Alter dann z. B. »Groll gegen das Leben« hegen oder voller »Neid gegen die Jugend« sind (Guardini 101986, S. 91). Man kann also nicht früh genug im Leben damit beginnen, die lebensweisheitliche Aufforderung carpe diem! zu beherzigen, um spätestens im Erwachsenenalter mit seiner Lebenszeit bewusster und achtsamer umzugehen. Je intensiver wir dabei die condicio humana bedenken (cf. Cicero Tusc. disp. 3. Buch, 30) und uns mit dem Alter(n) sowie unserer eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzen, umso besser können wir dies in die Tat umsetzen. Mit gutem Recht wendet sich daher Rosenmayr (2007, S. 1) bereits im Vorwort seines beachtenswerten Buches ebenso an all jene, »die sich in der Mitte des Lebens Gedanken über ihre eigene Zukunft machen«. Jeder wird nolens volens älter, niemand kann sich dem Prozess des Alterns entziehen, der allgemein betrachtet »ein normales, das heißt physiologisches Geschehen« (Kuhlmey, Mollenkopf & Wahl 2007, S. 265) darstellt. Wie aber das Altern nicht nur ein naturbedingter Vorgang ist, der in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Veränderungen mit sich bringt, so darf man es deswegen nicht auf »die Phase nach Beendigung der Erwerbstätigkeit« oder »die Phase der Gebrechlichkeit« (Prisching 2003, S. 254) reduzieren, weil sonst die Reifungspotentiale des Alter(n)s völ-

Cf. Seneca De brevitate vitae 16, 1, 3: Illorum brevissima ac sollicitissima aetas est qui praeteritorum obliviscuntur, praesentia neglegunt, de futuro timent: cum ad extrema venerunt, sero intellegunt miseri tam diu se, dum nihil agunt, occupatos fuisse. […] nam si quando illos deseruerunt occupationes, in otio relicti aestuant, nec quomodo id disponant aut extrahant sciunt. Itaque ad occupationem aliquam tendunt et quod interiacet omne tempus grave est, […].

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lig verwischt werden; 2 Lebensweisheit und -sättigung stellen ja, wie gesehen, den Höhepunkt geistig-seelischer Entwicklung dar. Sich mit der Frage zu beschäftigen, »ob das Alter nur eben der Schluß des Lebens sei, nach dem nichts mehr kommt, oder ob es einen eigenen Sinn habe« (Guardini 101986, S. 90), ist damit für alle unumgänglich, die in Weisheit altern möchten. Im Übrigen wäre es dadurch ebenfalls Jüngeren möglich, ältere, geistig reifere Menschen besser verstehen zu lernen und mehr Empathie für sie zu entwickeln, so dass »Empfindungen der Überlegenheit und Nichtachtung« wahrscheinlich gar nicht aufkommen könnten, die Guardini (ebenda) zu pauschal als »Geisteshaltung des Jüngeren« sieht; man würde sich dann nämlich weit weniger zu der irrigen Meinung verleiten lassen, »wertvoll sei nur das junge Leben«, wogegen das alte »nicht mehr produktiv sei, die Allgemeinheit belaste und daher beseitigt werden müsse« (Guardini 101986, S. 91). Je deutlicher also der philosophische Sinn des Alter(n)s an sich zutage träte und je mehr infolgedessen dasselbe als natürlicher und sinnvoller Teil des Lebens Akzeptanz bekäme, desto stärker würde auch das Alter eine allgemeine Aufwertung erfahren und umso besser könnten sich die für die Bewältigung des Alters erforderlichen »Kräfte« (Rosenmayr 1990, S. 8) entfalten, was wiederum das Selbstbild alter Menschen positiv mit beeinflussen und es nachhaltig festigen würde, da, wie Guardini (101986, S. 92) richtigerweise bemerkt, »die Stellungnahme des jüngeren Menschen zum Alter mit davon abhängt, wie dieses selbst sich versteht und lebt«. 3 EbendesDies hat schon Rosenmayr (21991, S. 536) kritisiert: »Entwicklung hingegen bedeutet, dass jemand sich aufgrund bestimmter Voraussetzungen von etwas her und auf etwas – eine bestimmte Fähigkeit, einen bestimmten Zustand – hin bewegt. Der Sprachgebrauch von ›Altern‹ besagt nicht, dass jemand auf etwas hin gealtert ist, sondern wir lassen diesen Begriff in einer gleichsam unpersönlichen Schwebe, anerkennend, dass der Alternde von bestimmten Gesetzmäßigkeiten biologisch bestimmt wird und außerdem noch ›Zuwächse‹ durch Erfahrung und Lernen erhalten mag«. 3 Vgl. Rosenmayr (2007, S. 340): »Viele Forschungen zeigen eine Reihe relativ weitverbreiteter negativer Altersstereotypen in unserer Gesell2

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wegen war es auch Absicht vorliegender Arbeit, das Ziel geistiger Reife im Alter mit Hilfe ausgewählter philosophischer Texte herauszuarbeiten: Durch Ciceros und Schopenhauers Schriften sowie die daraus hervorgegangenen gerontophilosophischen Erkenntnisse hat nun der in der Tat etwas diffuse Begriff Alter(n) an Substanz und Tiefe gewonnen. Auch wir können uns jenen philosophischen Sinn des Alter(n)s gleichsam selbst er-leben, 4 d. h. unserem Dasein mehr Gewicht verleihen und in Weisheit altern, indem wir uns in unserer Lebensführung besonders an diesen ihren Werken orientieren; sehr schön sagt Seneca: »Wenn du dich philosophischer Literatur zuwendest, wirst du dem ganzen Lebensüberdruss entfliehen, weder wirst du aus Überdruss am Tageslicht wünschen, dass Nacht eintrete, noch wirst du dir lästig oder anderen überflüssig« (De tranquillitate animi 3, 6: Si te ad studia revocaveris, omne vitae fastidium effugeris nec noctem fieri optabis taedio lucis, nec tibi gravis eris nec aliis supervacuus). Solche wahrhaft philosophischen Bücher haben zweifellos »etwas ungemein Lebhaftes, von aller akademischen Langeweile Grundverschiedenes« (Capelle 1992, S. 220), weswegen sie »auch dem Menschen von heute noch mächtige Impulse geben«, »spricht« doch aus ihnen kein »gedankenblasser Dozent des akademischen Katheders zu seinen gelangweilten Hörern, sondern der Philosoph des menschlichen Lebens selbst« (ebenda, S. 215/216). Aber nur schaft. Wenn es auch kleine Anzeichen des Abbaus dieser Vorurteile gibt, werden diese gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber den älteren und alten Menschen nach wie vor als Entmutigung wirksam. Die Abwertung des Alters ist indirekt auch eine Sache der Älteren und Alten und ihrer gesellschaftlichen Selbsteinschätzung geworden. Die Abwertung von außen wird zur eigenen Abwertung, der Abwertung von innen«. Siehe auch Rosenmayr 1990, S. 51 ff., sowie Lehr & Niederfranke 21991, S. 42: »Die von Vorurteilen betroffenen alten Menschen integrieren diese Stereotype häufig in ihr Selbstbild, in ihre Identität«. 4 Für Rosenmayr (2007, S. 287) ist das sogar eine der zentralen Herausforderungen: »Die Zukunft wird einen mehr um die eigene Sinnfindung und Daseinsgestaltung bemühten Menschen verlangen«.

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wenn wir mit deren Hilfe aus all unseren Lebenserfahrungen die entsprechenden praktischen Konsequenzen ziehen, wird Philosophie – das betont Cicero in seinen Tuskulanen immer wieder – zum »Heilmittel« für die Seele (medicina animi): 5 Ohne Philosophie kann es kein Seelenheil geben (3. Buch, 13: Illud quidem sic habeto, nisi sanatus animus sit, quod sine philosophia fieri non potest, finem miseriarium nullum fore); Weisheit bedeutet demzufolge Wohlbefinden der Seele (3. Buch, 10: ita fit ut sapientia sanitas sit animi), obschon nicht wenige, mit denen Cicero übrigens ins Gericht geht (cf. 2. Buch, 11 ff.), Philosophie für ihre Prahlerei mit auswendig gelerntem Wissen missbrauchen, anstatt in ihr ein Lebensgesetz (lex vitae) bzw. eine bestimmte Lebensart zu sehen; 6 trägt Philosophie im Leben keine Früchte, liegt das nicht an ihr, sondern am Wesen des Menschen: Wie nämlich von Natur aus die Fruchtbarkeit der Erdböden ungleich verteilt ist, so sind auch Menschen auf sehr unterschiedliche Weise für Philosophie empfänglich; ihre Heilkraft kann Cicero Tusculane disputationes 2. Buch, 11, 43; 3. Buch, 1, 6, 13, 40, 77, 79, 82, 84; 4. Buch, 24, 58, 83/84; 5. Buch, 5; cf. Seneca 8. Brief, 2/3: »Ich schreibe einiges auf, was der Nachwelt nützlich sein kann; heilsame Mahnungen, gleichsam Zusammenstellungen wirksamer Heilmittel zeichne ich schriftlich auf […] Den rechten Weg, den ich spät und vom Irren müde erkannt habe, weise ich anderen« (Illis aliqua quae possint prodesse conscribo; salutares admonitiones, velut medicamentorum utilium compositiones, litteris mando, […] Rectum iter, quod sero cognovi et lassus errando, aliis monstro), sowie 64. Brief, 8: »Die Heilmittel für die Seele haben die Alten gefunden; wie sie aber anzuwenden sind oder wann, das müssen wir zu ergründen suchen« (Animi remedia inventa sunt ab antiquis; quomodo autem admoveantur aut quando nostri operis est quaerere). 6 Cf. Seneca 94. Brief, 39: philosophia non vitae lex est? und 52. Brief, 9: »Was ist schändlicher als eine Philosophie, die auf Beifallsgeschrei aus ist? (Quid enim turpius philosophia captante clamores?), 11: »Wie groß ist die Torheit desjenigen, den das Beifallsgeschrei von Schafsköpfen heiter aus dem Hörsaal gehen läßt! Warum freut man sich, von diesen Menschen gelobt zu werden, die man selbst nicht loben kann?« (Quanta autem dementia eius est quem clamores inperitorum hilarem ex auditorio dimittunt! Quid laetaris quod ab hominibus his laudatus es quos non potes ipse laudare?). 5

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sich folglich nicht bei allen gleich entfalten; diese ist insbesondere bei denen am stärksten, die selbst eine philosophische Disposition haben (2. Buch, 11: sed haec eius vis non idem potest apud omnis: tum valet multum, cum est idoneam complexa naturam) 7 und die sich vorzugsweise von jenen alten, tiefgründigen Philosophen (3. Buch, 40: a gravibus illis antiquis philosophis) führen lassen; so kann ein geistig-seelischer Selbstheilungsprozess in Gang kommen (cf. 3. Buch, 6), der sich, da sich Heilungserfolge erst mit den Jahren zeigen, über das ganze Leben erstreckt. Auch Philosophische Praxis (Achenbach 2010) kann, sofern sie an dieser Tradition festhält und sich bemüht, »Menschen beim eigenen Philosophieren zu unterstützen und voranzubringen« (Thurnherr 1998, S. 372), eine Orientierungshilfe sein in unserer »modernen Welt, die unendlich komplex und unübersichtlich ist und mit beschleunigter Veränderungsgeschwindigkeit ständig komplexer und unübersichtlicher wird« (Achenbach 2003, S. 66). Bei aller Unterstützung durch Philosophie, zu der ebenfalls Seneca fortwährend aufruft (z. B. 103. Brief, 4: Quantum potes autem in philosophiam recede), respektive »durch echte und alte Philosophen« (Seneca De brevitate vitae 10, 1: veris et antiquis [sc. philosophis]), die uns auf unserer Lebensreise leiten und begleiten, gewinnen wir mit zunehmendem Alter auch immer mehr Einblick in die Flüchtigkeit und Nichtigkeit unseres Daseins; schaut man dann auf sein Leben zurück, so kommt es einem fast wie ein flüchtiger Traum vor; die Zeit hat alles in der Vergangenheit verschwinden lassen, ja selbst das, was uns schwer zu schaffen machte, erscheint, als wäre es nie gewesen; diese Alter(n)serfahrung wirft ein ganz neues Licht auf unser Dasein und sie hilft dem Menschen dabei, das, was ihm widerfährt, aus einer höheren Perspektive zu betrachten, woraus sich »eine wundersame Gelassenheit« (Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kapitel 49, S. 815) ergibt. Doch 7

Vgl. hiermit Senecas 38. Brief, 2.

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genau hier trennt sich die Spreu vom Weizen: Bei vielen ist heute ein ad interim-Leben zur festen Gewohnheit geworden; selbst im fortgeschrittenen Alter haben sie für den lebensweisheitlichen Grundsatz carpe diem keinen Sinn; 8 »Wettbewerb, Nützlichkeitsdenken und Konsumbestimmtheit« (Rosenmayr 2007, S. 222) dominieren dagegen das Dasein, so dass die Zunahme an Lebensjahren keinen Zuwachs an geistiger Reife bringen konnte; man müht sich weiter ab, beim »Tanz um die Jugend« (Achenbach 2003, S. 141) mitzumachen, verschließt vor der eigenen Endlichkeit die Augen oder klammert sich im Bewusstsein derselben umso fester ans Dasein, ist zunehmend deprimiert und verbittert und weiß am Ende nichts mehr mit sich anzufangen. Was bleibt einem dann noch anderes übrig, als allmählich den Verstand zu verlieren? Ist die steigende Zahl von Demenzen zu einem gewissen Teil nicht auch symptomatisch für unsere geistlose Zeit, die ja ebenso dem Alter(n) keine tiefere Bedeutung beimisst? Findet deswegen beim modernen Menschen nicht auch auf diesem Wege eine Art unfreiwillige Ablösung von sich selbst statt? »Die eigentliche Gefahr des Alterns« sieht Rosenmayr (1990, S. 20) deshalb völlig zu Recht »darin, selbstaufgebauten (und von anderen nahegelegten) Zwängen zu erliegen«; denn dann verfestigt sich der menschliche Wille zusehends und verfällt irgendwelchen Objekten, die ihm das trügerische Gefühl geben, fortwährend so weiterleben zu können; auch negative Charaktereigenschaften treten zusamSeneca 23. Brief, 10/11: »Man muss darauf hinarbeiten, genug gelebt zu haben: Diese Aufgabe erfüllt niemand, der eben erst zu leben beginnt. Du darfst nicht glauben, dass diese wenige sind: Es sind beinahe alle. Einige fangen erst dann damit an, wenn sie aufhören müssen. Wenn dir das sonderbar vorkommt, werde ich etwas hinzufügen, was du noch erstaunlicher finden wirst: Etliche haben schon zu leben aufgehört, ehe sie anfingen« (Id agendum est ut satis vixerimus: nemo hoc praestat qui orditur cum maxime vitam. Non est quod existimes paucos esse hos: propemodum omnes sunt. Quidam vero tunc incipiunt cum desinendum est. Si hoc iudicas mirum, adiciam quod magis admireris: quidam ante vivere desierunt quam inciperent).

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men mit dieser übersteigerten Willensbejahung deutlicher hervor (siehe Rosenmayr 1990, S. 8), was man im beruflichen und privaten Umgang mit Älteren leider immer wieder feststellen muss: Menschen werden im Alter dann beispielsweise gleichgültiger, herrischer, hartherziger, geiziger, eigen- und gewinnsüchtiger oder haben ein gesteigertes Geltungsbedürfnis, das sich u. a. im verstärkten Rededrang äußert; angesichts solch unreifer Verhaltensweisen kann man mit Petrarca (Mein Geheimnis, 3. Buch, S. 342) durchaus den Eindruck bekommen, dass ein Geist imstande ist, viele Körper zu verbrauchen, bis er zur Reife kommt. Letzten Endes steckt dahinter stets der Urzwang des Nicht-akzeptieren-Wollens der eigenen Vergänglichkeit bzw. des Nicht-lassen-Könnens vom Dasein, der »alles psychische und geistige Leben in einem Menschen zu ersticken droht« (Rosenmayr 1990, S. 34). Bei Weisen, auch das lehrt uns die Erfahrung, hängt der Wille hingegen nicht mehr an materiellen Dingen oder anderen Ersatzobjekten; solche Trivialitäten könnten ihnen nur ein müdes Lächeln abringen. »Eitles, Wendiges, gar zum Bösen Brauchbares hat dann keinen Platz« mehr, Weise sind »weder eine Beute fahriger Triebe wie der Narr noch eitler Blindheit wie der Tor«, sie befinden sich »über dem Nebel, so entsteht der gesättigte Eindruck von Ruhe und Licht« (Bloch 1969, S. 356). Ebendiese innere Befreiung führt zu einer eher heiteren, erleichterten, ruhigeren Gestimmtheit; es ist gleichsam eine Freude höherer Art, die jener vom unbedingten Wollen gelösten Gemütsverfassung entspringt, was sich schon am Gesichtsausdruck geistig reifer, älterer Menschen erkennen lässt. Dieser ist nicht berechnend, neidisch, zänkisch, wichtigtuerisch, hochnäsig, herablassend, rücksichtslos etc., sondern in ihm spiegeln sich die Erfahrungen eines langen Lebens. Auch zeigt ihr Verhalten, dass die vielfältigen Belehrungen durch das Leben auf fruchtbaren Boden gefallen sind; 9 allein hieran lässt sich erahnen, »wie an9

Dass Altern ebenso eine positive Entwicklung nehmen kann, belegt z. B.

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genehm es ist, nichts zu verlangen, wie erhebend es ist, lebensgesättigt und vom Schicksal unabhängig zu sein« (Seneca 15. Brief, 9: quam iucundum sit nihil poscere, quam magnificum sit plenum esse nec ex fortuna pendere). Sein Schicksal gelassener und distanzierter betrachten zu können, führt, als ein weiteres wesentliches Weisheitsmerkmal, damit gleichfalls zu einem Zuwachs an innerer Freiheit: »[…] wise elders tend to be satisfied with their life because they are able to accept the reality of the present moment with equanimity, which helps them to deal with life’s uncertainty and the physical, social, and emotional losses that often accompany old age« (Ardelt 2004, S. 281); ab einer gewissen Lebensreife ist sich ohnehin jeder im Klaren darüber, dass wir letztendlich so gut wie keinen Einfluss darauf haben, welchen vom Schicksal vorgegebenen Lebensweg wir gehen müssen und welche Steine uns hierbei in den Weg gelegt werden; lediglich wie wir ihn gehen und inwieweit wir nicht nur diese Hürden höherer Gewalt, die unter Umständen

die Äußerung des bekannten Autors Luciano De Crescenzo (2005, S. 72): »Und trotz meiner mehr als siebzig Jahre fühle ich mich absolut nicht als Wurm, ganz im Gegenteil. Je älter ich werde, desto attraktiver fühle ich mich. Wenn ich mich mit dem jungen Kerl vergleiche, der ich mit achtzehn war, denke ich, ein besserer Mensch geworden zu sein, intelligenter, feinfühliger. So vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht von irgendeiner Kleinigkeit anrühren lasse«. Rosenmayr (1990, S. 34) hält »Entfaltung« für »möglich, selbst bei schweren Einbußen gesundheitlicher Art«. Ob und wie weit dies gelingt, hängt natürlich ebenso von den jeweiligen Lebensumständen ab: Cicero und Schopenhauer haben ja mit Nachdruck herausgestellt, dass eine ausreichende materielle Grundversorgung im Alter unverzichtbar ist, um in Weisheit und Würde altern zu können. Noch heute wird vielen Menschen ein würdevolles Alter(n) praktisch unmöglich gemacht: Man denke hier vor allem an die z. T. gravierenden Missstände in so manchen Pflegeheimen, die leider an der Tagesordnung bleiben werden, solange nicht der Mensch, sondern wirtschaftliche Interessen im Mittelpunkt stehen. Um nicht auf die schönen Werbesprüche dieser primär profitorientierten Unternehmen hereinzufallen, ist, wie in der Einleitung bereits angedeutet wurde, Lebensklugheit erforderlich, die man auch für die Suche nach neuen, alternativen Wohnformen im Alter braucht.

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sehr wohl wegweisend sein können, sondern auch unser Schicksal selbst zu überwinden lernen, das liegt weitgehend in unserer Hand. Aus diesem Grunde sollten wir uns viel mehr darauf konzentrieren, wie wir unser Dasein führen und welche Lehren wir daraus ziehen, denn nur dann kann es uns gelingen, in Weisheit zu altern und im Alter lebensgesättigt zur geistigen Reife zu gelangen, die den Namen Weisheit zu Recht trägt. 10

Natürlich sind weise Menschen nach wie vor eher die Ausnahme. Dass man sich bei der Suche nach ihnen mindestens genauso schwer tut wie Diogenes von Sinope (siehe Diogenes Laertius VI, 41), der »am hellichten Tage unter der gleißenden Sonne Attikas mit einer angezündeten Laterne« (Weeber 2003, S. 141) in der Hand ja »nur« nach Menschen suchte, liegt schlicht und einfach daran, dass sie sich nicht, wie sogenannte Experten, in den Vordergrund stellen und große Reden schwingen; ebenso käme es ihnen gar nicht in den Sinn, z. B. mit ihrem Werdegang zu prahlen oder das, was sie in ihrem Leben alles geleistet haben, an die große Glocke zu hängen, und sie werden mit Sicherheit auch nicht so unbedarft sein, ihre geistige Reife mittels eines psychologischen Tests »messen« zu lassen.

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Die vorangegangene detaillierte Analyse der Werke Ciceros und Schopenhauers sowie die daran anknüpfenden lebensweisheitlichen Überlegungen haben genügend Licht ins Verhältnis von Weisheit und Alter(n) gebracht, so dass sich Weisheit, wenngleich nicht exakt »beschreiben« – was wie gesehen ohnehin ein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen wäre –, nun besser »umschreiben« (Jost 1984, S. 15) lässt und es hierdurch endlich möglich ist, die auch von wissenschaftlicher Seite über Weisheit verbreiteten Irrtümer ein für alle Mal ad absurdum zu führen. Dass Weisheit »auf einseitig theoretisierende Weise nicht wirklich zu erfassen« (Gloy 2007, S. 99) ist, das hat sich schon in den einleitenden Bemerkungen bewahrheitet; sie wäre in der Tat etwas recht Armseliges, ließe sie sich verwissenschaftlichen und z. B. durch einen psychologischen Persönlichkeitstest einfach so berechnen; wie sie die rein rationale, zweckgebundene Denkweise eines Wissenschaftlers haushoch übersteigt, so wird sie für den im Nützlichkeitsdenken gefangenen Alltagsmenschen stets ein Buch mit sieben Siegeln bleiben; sie würde sich, humorvoll ausgedrückt, auch komplett kompromittieren, wollte sie tatsächlich in jeden menschlichen Kopf hinein. Dies ist m. E. einer der Hauptgründe, warum Weisheit mit Bien (1988, S. 37) »in erster Linie nicht« als »etwas« zu betrachten ist, »was man in Sätzen und Feststellungen buchmäßig niederlegen können muss«, wenngleich es sehr wohl weise Werke gibt, wie etwa die Aphorismen zur Lebensweisheit oder den Cato maior de senectute, durch deren Lektüre allein allerdings noch niemand automatisch der Weisheit teilhaftig wurde. Nur belesen zu sein, 184 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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reicht eben auf keinen Fall aus, um lebensweise zu sein; selbst die weisesten Abhandlungen könnten nicht die eigenen Lebenserfahrungen ersetzen, die dafür vonnöten sind. 1 Weiser zu werden, ist daher ein höchst individueller Prozess (vgl. Freund 1983, S. 83/84), der viele Jahre dauert und der das ganze Wesen eines Menschen mit erfasst, weil es eben nur so möglich ist, gewohnte, scheinbar tief verwurzelte Denk- und Lebensweisen abzulegen sowie seinem Dasein dadurch eine völlig andere, d. h. nicht alltägliche Richtung zu geben. Dennoch hat sich die Auffassung, Weisheit mit Wissen gleichzusetzen, so weit verbreitet, dass sie kaum mehr hinterfragt und angezweifelt wird; ja man ist mit Chargaff (1983, S. 69) fast geneigt, sie zu den »Platitüden« zu zählen, die »hypnotische Wirkung« haben, sind doch, wie der Einleitung zu entnehmen war, selbst heutige Wissenschaftler felsenfest davon überzeugt, obwohl jedem schon der bloße Verstand sagt, dass Weisheit etwas anderes als »spezialisiertes Vielwissen« (Bolch 1969, S. 386) ist und sie deswegen »das Gegenteil von Spezialwissen« (Prisching 2003, S. 258) sein muss. 2 Denn trotz aller ausgeklügelten Erklärungsversuche, sie als »eine besondere Wissensform«, ein »Sonderwissen«, »Richtigkeits- und Wichtigkeitswissen« oder gar als »Wissenwissen« (Hahn 1996, Man muss, wie Schopenhauer im 22. Kapitel (§ 258) seiner Paralipomena treffend bemerkt, vielmehr »unmittelbar im Buche der Welt gelesen haben«. Auch er selbst konnte schon in jungen Jahren durch Europa-Reisen bzw. längere Aufenthalte im europäischen Ausland »im Buche der Welt lesen« (Gespräche, S. 264) und eine umfangreiche Welt- und Menschenkenntnis erlangen, die eigentlich als Schlüsselqualifikation für eine kaufmännische Karriere gedacht war, siehe auch Hübscher 31988, S. 16. Das manifestiert sich auch in seinem philosophischen Schaffen, welches man durchaus »als eine Folge dieses nüchternen und unverzerrten Blicks auf die Tatsachen« (Birnbacher 2001, S. 663) ansehen darf. 2 Unverständlicherweise halten auch diejenigen Wissenschaftler daran fest, Weisheit als Wissen aufzufassen, welche die Hauptschwierigkeit ihrer Hypothese im Grunde längst erkannt haben, siehe Hahn 1996, S. 119: »Wissen kann man auch etwas, ohne sich danach zu richten, aber nicht weise sein«. 1

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S. 112 ff.) zu definieren, haftet ihnen immer folgendes Grundproblem an: Jeder, der dieses Wissen besäße, könnte sich seiner Weisheit rühmen, ohne wirklich weise sein, also ohne danach leben zu müssen, was allen Regeln der Vernunft widerspräche. Aber noch weitere, triftige Gründe stehen dem entgegen: Angenommen, Weisheit wäre ein wie auch immer geartetes Wissen, so könnte eigentlich niemand (dauerhaft) weise sein, weil man das gesamte, dafür erforderliche Wissen nicht ständig und in toto gegenwärtig haben kann, sondern höchstens nur zeitweilig und dann auch nicht mehr als in Ausschnitten. 3 Darüber hinaus müsste sich Weisheit als Wissen anderen beibringen lassen, was freilich genauso wenig möglich ist, wie jemanden durch ethischen Unterricht oder Moralpredigten auf dem Pfad der Tugend zu bringen. Weisheitliches Wissen könnte zwar weitergegeben werden, hätte aber weder direkten Einfluss auf die Entstehung von Weisheit beim Wissensempfänger, noch würde es etwas darüber aussagen, ob der darin Unterrichtete tatsächlich weise ist; wenn also »Weisheit typischerweise nicht einfach als Wissensvermittlung lehrbar« ist (Hahn 1996, S. 18), dann kann sie überhaupt kein Wissen sein. Schließlich gibt es sogar einen empirischen Beleg dafür, dass Weisheit nichts mit theoretischem Wissen zu tun hat, nämlich das gegenwärtige »Informationszeitalter«, welches sich zwar rühmt, dem Menschen »so viele Informationen in solcher Fülle in so kurzer Zeit und in so leichter Zugänglichkeit« (Gloy 2005, S. 7) bereitzustellen, wo aber gleichzeitig eine »Denkverarmung« ungeahnten Ausmaßes entstanden ist und die Gefahr von »Denkinfarkten« (Lauxmann 2004, S. 19, 82) zugenommen hat. Wie sollte sich auch der menschlichen Geist bei dieser »Überinformation« bzw. »Informationssintflut« (Marquard 2000, S. 76) frei entfalten können, wenn ihn der wachsende Datenmüll, den heutige Medien tagein, So gesehen hätte Sternberg (2004, S. 287) mit seiner Bemerkung Recht: »Some people may be wise more often than others, but no one is wise all the time, anymore than anyone always is intelligent«.

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tagaus produzieren, jeden Moment zu erdrücken droht? Je mehr Wissen dazukommt, desto größer wird die allgemeine Orientierungslosigkeit, was wiederum dazu führt, dass man ständig neues Wissen gleichsam als Orientierungsersatz braucht und sich daher immer bereitwilliger von Informationen allerlei Art berieseln lässt, entweder aus ängstlicher Sorge, irgendetwas zu verpassen und nicht mehr auf dem Laufenden zu sein, oder in der trügerischen Hoffnung, irgendwann doch noch auf etwas wirklich Wichtiges zu stoßen; dabei ließe sich jener Circulus vitiosus ausufernder Wissensproduktion und -konsumierung am schnellsten und einfachsten durchbrechen, indem man einen alten, aber sehr heilsamen Rat befolgte, der im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt: »Das ist nämlich Weisheit, […] sich in den Zustand zurückzuversetzen, von wo uns die allgemeine Verblendung vertrieben hat. Ein großer Schritt zum geistigen Wohlbefinden besteht darin, denjenigen, die zur Raserei anstacheln, den Rücken gekehrt zu haben und von einer solchen Gesellschaft ferngeblieben zu sein, wo einer den anderen verdirbt«. 4

Wem gibt es nicht zu denken, wenn ein großer Freund der Weisheit wie Seneca, der dies bereits vor 2000 Jahren geschrieben hat, mit seinem philosophischen Werk noch immer zuverlässige Orientierung fürs Leben bietet, obwohl damals all das (wissenschaftliche) Wissen, das heute zur Verfügung steht und auf das man sich heute so viel einbildet, völlig unbekannt war. Seine philosophischen Schriften sind und bleiben von Bestand im Gegensatz zu den Datenunmengen, die sich unablässig über die modernen Massenmedien ausbreiten – ohne jeglichen tieferen Gehalt, sind sie doch meist materiellen Interessen entsprungen, Seneca 94. Brief, 68/69: Hoc est enim sapientia, […] eo restitui unde publicus error expulerit. Magna pars sanitatis est hortatores insaniae reliquisse et ex isto coetu invicem noxio procul abisse.

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sowie dem Tagesgeschmack unterworfen und stehen daher einer weiseren Lebensauffassung bzw. -führung direkt im Weg. Wäre Seneca hingegen ein Zeitdiener gewesen aus dem Heer der Wichtigtuer, Geschäftsleute und deren Marionetten, dann hätte er uns in weisheitlicher Hinsicht vermutlich ebenso wenig zu sagen und seine Texte müssten über kurz oder lang als antiquiert gelten. Weil aber Weisheit keine Zeiterscheinung ist und damit auch an kein temporäres Wissen gebunden ist, »können Weise in jeder Zeit leben, und die der Vorzeit bleiben es für alle kommenden Geschlechter«, wie Schopenhauer im 2. Band seines Hauptwerkes (Kap. 7, S. 107) zu Recht bemerkt. So alt ihre überlieferten Aussprüche und Schriftstücke auch sein mögen, nie werden sie veraltet sein. Nun ließe sich dagegenhalten, dass Weisheit trotz allem von Erfahrung, namentlich Lebenserfahrung abhängig ist, welche ebenfalls ein Wissen zu sein scheint. Doch selbst wenn ein Mensch dank jahrelanger Lebenserfahrung viele Kenntnisse erworben hat und diese auch anderen mitzuteilen vermag, ist er dadurch zwar klüger, aber nicht unbedingt weiser geworden. So steht noch die Frage im Raum, wie »Erfahrung zur Quelle der Weisheit« (Freund 1984, S. 87) wird; bliebe Erfahrung nämlich auf der Stufe abstrakten Wissens, dann dürfte sie aus den genannten Gründen keinesfalls mit Weisheit gleichgestellt werden. Deshalb kann es im Alter(n) gar nicht darauf ankommen, Erfahrung in Form von bloßem Wissen zu sammeln bzw. gesammelt zu haben, woraus, nebenbei gesagt, nur eine sehr oberflächliche Welt- und Lebensanschauung hervorginge, wie sie unter Alltagsmenschen üblich ist, sich zwischenzeitlich aber auch bei etlichen Fachwissenschaftlern eingebürgert hat; 5 aus»Der Fachgelehrte hat tausend Meriten, doch die Sophia kommt nicht aus dem Verdienst seines Werkes, sondern aus seiner philosophischen Natur und nachdenklichen Muße« (Bloch, 1969, S. 386). Schopenhauers Prophezeiung (Paralipomena § 254) ist deshalb schon längst eingetreten: »Demgemäß haben die Wissenschaften eine solche Breite der Ausdehnung erlangt, daß, wer etwas ›darin leisten‹ will, nur ein ganz spezielles Fach betreiben

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schlaggebend ist vielmehr das jeweilige Anschauungs- bzw. Betrachtungsniveau, von dem aus man die Welt, sowie sein Dasein darin förmlich höchstselbst durch-schaut und sich seine Erfahrungen somit im wahrsten Sinne des Wortes leibhaftig er-lebt hat; 6 je höher dieses Niveau im Laufe der Zeit ausfällt, das freilich weder wie irgendein Schulwissen einfach so erlernbar oder übertragbar, noch für jeden Menschen jeden Alters nachvollziehbar ist, desto eher und öfter lässt sich die weltumspannende »Zwangsanstalt des Nutzens« (Jost 1984, S. 15) verlassen, in der Weise eigentlich fehl am Platz sind. Ist man jedoch außerstande, geistig darüber zu stehen und sich in ebendiesem Sinne gleichsam über sich selbst zu erheben, dann können auch all die während eines langen Lebens angehäuften Erfahrungen nicht zu mehr Weisheit verhelfen, selbst wenn man »dadurch die Übereinstimmungen und Widersprüche, die Zusammenhänge und die Verschiedenheiten zu begreifen« (Freund 1984, S. 83) vermöchte. Es geht somit weniger darum, das respektive sein Leben restlos zu verstehen oder bis aufs letzte I-Tüpfelchen verstandesmäßig zu erfassen, was m. E. schon deswegen völlig illusodarf, unbekümmert um alles andere. Alsdann wird er zwar in seinem Fache über dem Vulgus stehn, in allem übrigen jedoch zu demselben gehören.« Die Fähigkeit, sich einen großen Wissensvorrat anlernen und davon dann Kostproben coram publico abgeben zu können, beeindruckt freilich vor allem diejenigen, die Vielwisserei bzw. Gedächtniskraft mit geistiger Größe oder gar Weisheit verwechseln, und das sind leider nicht wenige, wenn man auf den weitverbreiteten Glauben an einen stetigen Fortschritt der Wissenschaften blickt, obwohl sich, was abermals schon Schopenhauer (Paralipomena Kap. 23, § 273, S. 593) feststellen musste, »oft der Gang der Wissenschaften« als »ein retrograder« erweist. 6 Nach Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kap. 31, S. 488) kommt daher auch der Anschauung in dieser Beziehung eine Schlüsselposition zu: »Alle tiefe Erkenntnis, sogar die eigentliche Weisheit wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge«; siehe dazu ebenso Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band, Kap. 7, S. 103: »Aber auch die Weisheit, die wahre Lebensansicht, der richtige Blick und das treffende Urteil gehn hervor aus der Art, wie der Mensch die anschauliche Welt auffaßt; nicht aber aus seinem bloßen Wissen, d. h. nicht aus abstrakten Begriffen«.

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risch ist, weil alles Dasein ja auf einer irrationalen, d. h. nicht weiter begründbaren Lebenskraft beruht, sondern eher um das Vermögen, sich geistig von einer beschränkten, auf eigennützigen Interessen beruhenden Allerweltsperspektive zu emanzipieren und dadurch immer weniger zum Spielball eines materialistischen Zweckdenkens zu werden, von dem unsere ach so hochentwickelte und zivilisierte Welt geradezu heimgesucht wird. Trotz aller freiheitlichen Errungenschaften, deren man sich heute rühmt, sind solche Verwirrungen und Verirrungen des menschlichen Geistes heutzutage keineswegs geringer geworden – ganz im Gegenteil, blickt man auf die vielen, von Wissenschaft, Wirtschaft oder Technik unaufhörlich erzeugten und von der breiten Masse bereitwillig angenommenen, meist künstlichen Bedürfnisse, die den Menschen fest am Gängelband haben, weswegen es ein Leben lang viel geistige Eigeninitiative und Beharrlichkeit erfordert, um den Niederungen des Zeitgeistes dauerhaft zu entfliehen und sich allmählich auf den Weg zur Weisheit begeben zu können, den man natürlich erst dann eingeschlagen hat, wenn man anfängt, sein Leben nicht mehr nach herkömmlichen, trivialen Beweggründen zu führen, um die sich das Sinnen und Trachten allzu vieler dreht. Jener Richtungswechsel in der eigenen Lebensführung kommt, wie es vor allem Schopenhauers 6. Kapitel der Aphorismen zur Lebensweisheit zu entnehmen war, eben dadurch zustande, dass der Einzelne mit den Jahren von einer immer höheren, geistigen Betrachtungsebene aus auch hinter die Kulissen des ganzen weltlichen Treibens blicken kann und dank dieser seiner durchdringenderen und profunderen Lebenserfahrung oder, noch genauer formuliert, Lebensentlarvung in der Lage ist, das Dasein als Ganzes unmittelbar zu erfassen und davon schrittweise geistig Abstand nehmen zu können. Dann ist man buchstäblich im Bilde, dass sich nicht nur die Welt selbst, sondern ebenso alles Leben darauf unentwegt im Kreis dreht bzw. dass man auch als Mensch trotz aller klugen Anpassung an die dort herrschenden Daseinsbedingungen in diesem ständigen 190 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

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Kreislauf gefangen bleibt, also in weisheitlicher Hinsicht keinen Millimeter vorankommt, bevor man nicht zu jener höheren, immer weniger zweckgebundenen Bewusstseinsebene gelangt sowie dem Ganzen, ja sogar dem eigenen Schicksal gegenüber eine distanziertere Haltung zu entwickeln beginnt. Genau diese geistige Lebensdistanz ist es, die weise Menschen in ihrem Tun und Handeln auszeichnet – das war die Quintessenz der Analyse von Ciceros und Schopenhauers Werken. Damit wurde nun der Nachweis erbracht, dass Weisheit nichts mit Buchgelehrsamkeit oder Alleswisserei zu tun hat, weil, wie es schon Schopenhauer im 7. Kapitel (S. 100) des 2. Bandes seines Hauptwerkes treffend formulierte, »das Abstrakte nie das Anschauliche ersetzen kann«. Jetzt wird auch verständlich, warum Weisheit sich jeder Verwissenschaftlichung entzieht: Sie ist gleichsam immer am Ziel und hat stets einen Sättigungspunkt erreicht, während die (wissenschaftlichen) Wissensproduktionsstätten in ihrem Tun zu Maß- und Ziellosigkeit neigen, da sie »faustisch, das heißt, immer wieder, in großer Breite, hinter neuem Wissen her« sind (Bloch 1969, S, 361), wie es eben normalerweise dem menschlichen Wesen entspricht. Wie groß hier der Mangel an Weisheit aufgrund der Überschätzung des heute zur Verfügung stehenden (wissenschaftlichen) Wissens tatsächlich ist – dem man fast gezwungenermaßen zu viel Wichtigkeit beilegen muss, um dessen Wert zu erhöhen –, davon lässt sich freilich nur in praxi eine Vorstellung machen, sofern der eigene Wissensdrang nicht chronisch wurde und man noch imstande ist, all jenes Wissen auf den Prüfstand zu stellen und kritisch, also vor allem auf dessen lebensweisheitliche Bedeutung zu hinterfragen. Es bedarf ohnehin einer gewissen Leidensfähigkeit, um »das sinnlose Klappern der Wissensfabriken« (Chargaff 1984, S. 69) in natura zu ertragen, was wahrscheinlich in jungen Jahren leichter gelingt als im höheren Alter, wenn man nämlich immer mehr zu der Erkenntnis gelangt, dass ein solch blindgläubiger, unbändiger Forschungs- und Wissenseifer den Menschen in die Irre, d. h. an 191 https://doi.org/10.5771/9783495807873 .

Abschließende Betrachtungen: Was ist Weisheit?

kein echtes Ziel führt. Daher kann es durchaus als ein erster, großer Schritt in Richtung Lebensweisheit angesehen werden, sich spätestens dann an bedeutenden Denkern der Menschheitsgeschichte zu orientieren, welche gemäß einer prägnanten Formulierung Schopenhauers ja eigentlich nur für diejenigen geschrieben haben, die für die Philosophie leben. Wie soll man auch noch Zeit und Verständnis für Weisheit haben, wenn man all seine geistigen Kräfte auf theoretisches, lebensfernes, oberflächliches Wissen konzentriert! Sich dagegen mit ganzer Seele und aus tiefstem Herzen auf den Weg zur Lebensweisheit zu begeben, das lässt sich weder auf den Feier- noch auf den Lebensabend verschieben, ist doch dafür ein ganzes Menschenleben erforderlich. Obgleich es auf den ersten Blick einträglicher erscheint, Weisheit zu verwissenschaftlichen oder ihr gar keine Beachtung zu schenken, so stellt ein wahrhaft philo-sophisches, d. h. nach Weisheit strebendes Dasein auf längere Sicht jeden kurzfristigen Gewinn in den Schatten. Denn es öffnet uns dauerhaft die Augen über ebensolche weltlichen Nichtigkeiten, so dass wir uns davon befreien und letzten Endes unser eigen werden können, was man mit Seneca (75. Brief, 18) ohne Zweifel als unschätzbares Gut (inaestimabile bonum) erachten muss.

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